Grenzen des Hörens: Noise und die Akustik des Politischen 9783839455166

Was ist der Klang der Macht? Wie verschafft sich Widerstand Gehör? David Wallraf widmet sich jenen verdrängten Seiten de

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Grenzen des Hörens: Noise und die Akustik des Politischen
 9783839455166

Table of contents :
Inhalt
1 Netze und Zwischenräume
2 Noise: Das Ende der Musik
3 Noise: Differenzen und Definitionen
4 Übertragungen: Vom Unhörbaren zur Metapher
5 Sound: Ökonomie und Ökologie des Schalls
6 Das Auditive: Politische Akustik
7 Grenzen des Hörens
8 Literatur- und Quellenverzeichnis
9 Diskografie

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David Wallraf Grenzen des Hörens

Musik und Klangkultur  | Band 51

David Wallraf studierte systematische Musikwissenschaften an der Universität Hamburg und zeitbezogene Medien an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, wo er 2019 zu Noise promovierte. Seit 2016 kuratiert er das NoisexistanceFestival in der Kulturfabrik Kampnagel und ist als Noise-Musiker in einer Vielzahl von Projekten aktiv.

David Wallraf

Grenzen des Hörens Noise und die Akustik des Politischen

Dissertation an der Hochschule für bildende Künste Hamburg Gutachter: Prof. Dr. Hans-Joachim Lenger und Prof. Dr. Marcus Steinweg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Markus Izzo Lektorat: Katha Schulte Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5516-2 PDF-ISBN 978-3-8394-5516-6 https://doi.org/10.14361/9783839455166 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

1

Netze und Zwischenräume .......................................................... 7

2 2.1 2.2 2.3

Noise: Das Ende der Musik .......................................................... 15 Genealogie des Lärms ............................................................... 15 Taxonomie und Topografie .......................................................... 34 Ethik und Ästhetik .................................................................. 47

3 3.1 3.2 3.3 3.4

Noise: Differenzen und Definitionen ............................................... 57 Ein semantisches Netz – Etymologie und Transliteration ............................. 57 Lärm ............................................................................... 62 Das Geräusch in Sprache und Musik ................................................. 65 Rauschen und Störung.............................................................. 80

4 4.1 4.2 4.3

Übertragungen: Vom Unhörbaren zur Metapher .................................... 89 Das Unhörbare: Lärm und Stille ..................................................... 89 Das Hörbare und die Sprache ....................................................... 94 Die Metapher: Grenzen und Übertragungen ......................................... 103

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Sound: Ökonomie und Ökologie des Schalls ........................................ 119 Lexikologie des Schalls ............................................................. 119 Sound Studies ......................................................................127 Sounddesign ...................................................................... 130 Die Soundscape: Ein konservatives Areal ........................................... 142 Geophonie, Biophonie und Anthropophonie .......................................... 151

6 6.1 6.2 6.3 6.4

Das Auditive: Politische Akustik .................................................. Topografie des Auditiven .......................................................... Transgressionen: Lärm und Gewalt ................................................. Ingressionen: Schrecken und Nutzen der Stille ..................................... Delimitationen: Musik und Macht ...................................................

159 159 168 187 194

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Grenzen des Hörens................................................................215

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Literatur- und Quellenverzeichnis................................................. 231

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Diskografie ....................................................................... 243

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Netze und Zwischenräume

»[…] Erst wenn man in einem Gefühl des Verlorenseins auf die Einfachheit des Unvermeidlichen zurückgeworfen ist, tritt ein äußerster Wert hervor, ähnlich der Schönheit, die in dem Augenblick, da der Tod droht, das vergängliche Leben noch einmal umgibt. Es geht weniger um Werke, in denen diese Schönheit Gestalt annehmen könnte; vielmehr geht es um eine Kraft, die besitzen muß, wer von ihr nicht einen Augenblick getrennt sein möchte. Und weiter: vorausgesetzt, daß die Wenigen, die das angeht, das Bewußtsein dieser Kraft haben, werden Chaos und Dissonanzen, vom Ausmaß einer Welt, nicht aufhören, den Durst zu löschen, an dem die Menschheit ewig leiden wird.«1 Georges Bataille Das Thema dieser Arbeit ist Noise: ein Konzept, das mit einem Wort aus der englischen Sprache bezeichnet wird, welches sich als ›Lärm‹, ›Rauschen‹, ›Störung‹ oder ›Geräusch‹ ins Deutsche übersetzen lässt. Je nach Kontext kann noise in einem englischen Text jede dieser Bedeutungen annehmen und dabei so unterschiedliche Diskurse und Wissenssysteme wie Akustik, Informationstheorie, Kybernetik, Politik und Ökologie durchqueren. Noise ist darüber hinaus Bestandteil einer Akustik des Alltagslebens und zugleich die Bezeichnung für ein Bündel von Genres, die sich an den Grenzen des Musikalischen bewegen. Die Verwendung des einen Wortes noise ermöglicht im Englischen polyvoke Bedeutungsverschiebungen und etymologische Schwebezustände zwischen Lärm, Geräusch, Rauschen und Störung, die sich in der deutschen Sprache so nicht realisieren lassen. Beginnt man nun mit dem Versuch, Noise zu beschreiben, zu systematisieren, Konzepte aufzustellen oder einen Begriff aus den verschiedenen Phänomenen abzuleiten, die mit diesem Wort bezeichnet werden, so stößt eine formallogische oder wissenschaftlich exakte Sprache an ihre Grenzen. Als Begriff weist Noise eine Tendenz auf, in Einzelaspekte zu zerfallen, die Mehrdeutigkeiten erzeugen. Er eröffnet ein Feld von Differenzen und Widersprüchen; er produziert einen Überschuss an Bedeutungen und produktiven Unsicherheiten. 1

Bataille, Georges: Die psychologische Struktur des Faschismus/Die Souveränität, Berlin: Sammlung unter der Hand 1980, S. 86.

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Grenzen des Hörens

In den letzten zehn Jahren sind, vor allem im englischen Sprachraum, einige Publikationen zu Noise erschienen, die als gemeinsamen Bezugsrahmen die audioästhetische Praxis von Noise-Musik teilen. Trotz oder gerade aufgrund ihrer sehr unterschiedlichen Entwürfe von Noise-Theorien haben diese Arbeiten eine Kartografie des terminologischen Feldes von Noise angelegt, auf das sich die vorliegende Arbeit beziehen kann. Auch hier finden sich produktive Widersprüche, Ambiguitäten und Unschärfen. Das Spektrum der aufgestellten Definitionen reicht von einer dem Begriff immanenten Negativität2 über eine Deutung als ontologische Konstante3 bis zu einer Affekttheorie,4 um hier nur einige Beispiele zu nennen. Stets müssen dabei die Mehrdeutigkeiten und Unsicherheiten berücksichtigt werden, die durch die Übertragung von einer Sprache in die andere entstehen. Das Netz von Überlegungen, das der vorliegende Text zu den Grenzen des Hörens ausbreitet, bewegt sich somit zwischen Knotenpunkten, die von anderen Autor*innen geknüpft wurden – und unternimmt den Versuch, eigene Knoten hinzuzufügen. Um ihrem Gegenstand gerecht zu werden, kann sich diese Arbeit nicht auf die Theorien einzelner Philosoph*innen oder auf ein bestimmtes Wissensfeld (z.B. die Akustik, die Informationstheorie oder auch eine politische Theorie des Aufstands) beschränken. Sie würde so Gefahr laufen, durch die Konzentration auf eine einzelne Perspektive gerade die immanente Unschärfe ihres Forschungsgegenstands aus dem Blick zu verlieren – wobei bereits die Logik des Visuellen, die sich in dieser Metapher andeutet, in eine falsche Richtung weist. Rauschen, Lärm und Geräusche machen sich im Register des Auditiven bemerkbar und zwingen der Sprache, die sie beschreiben will, eine Bewegung ins Uneindeutige und Metaphorische auf. Diese Arbeit wird von einer Metaphorik des Räumlichen durchzogen, sie spricht von Arealen, Territorien, Feldern und Topografien, um das Hörbare als einen Faktor in der Strukturierung sozialer Räume beschreibbar zu machen. Noise und Musik, Sounds, Geräusche und Lärm durchqueren und strukturieren das Soziale, ihre Analyse ermöglicht die Formulierung einer politischen Akustik, die über die politischen Inhalte, die mit Musik transportiert werden können, hinausweist. Noise leistet einem Denken Vorschub, das in Komplizenschaft zu Theorien der Differenz, der Überschreitung und der Subversion tradierter Wissenssysteme steht. Als ein in sich differenzielles Konzept unterhält es ein intimes Verhältnis zur Differenzphilosophie, und die hier in Angriff genommene Arbeit kann als Versuch gelesen werden, Noise als einen differenzphilosophischen Begriff zu konstruieren. Einen wichtigen Bezugsrahmen für dieses Unterfangen bilden dabei

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Vgl. Hegarty, Paul: Noise/Music. A History, London/New York: Continuum Books 2007. Vgl. Hainge, Greg: Noise Matters. Towards an Ontology of Noise, New York/London: Bloomsbury 2013. Vgl. Thompson, Marie: Beyond Unwanted Sound. Noise, Affect and Aesthetic Moralism, New York: Bloomsbury 2017.

1 Netze und Zwischenräume

jene Theorien, die sich der Auflösung fester Strukturen gewidmet haben; jenes Denken, das unter der Bezeichnung ›Poststrukturalismus‹ subsumiert wird. In einer paradoxen Bewegung ist die Dezentrierung zentral für das Experiment einer Noise-Theorie. Das hörende Subjekt ist notwendig, damit Noise stattfinden kann – als Hörerfahrung, Geschmacksurteil, Störung und Verstörung oder als Objekt des Genießens. Zugleich werden seine Grenzen, ohne die es kein Zentrum geben könnte, in Frage gestellt, überschritten und durchlässig gemacht. Von Michel Foucault übernimmt Grenzen des Hörens eine Theorie der Macht, die ihren Fokus auf ein Ensemble von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen richtet: »Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.«5 Die historischen Formationen, in denen sich diese Kräfteverhältnisse entfalten, werden im Verlauf der Arbeit auf ihre je spezifische Akustik überprüft, um eine Machttheorie des Auditiven zu entwickeln, in der Musik, Sounddesign und die Klangflächen des Alltagslebens als Schauplätze von Machtkämpfen und Widerstandsbewegungen gedacht und die Übergänge von Souveränitäts- zu Disziplinar- und Kontrollgesellschaft im Register des Hörbaren untersucht werden. Der Begriff der Kontrollgesellschaft ist dem Spätwerk Gilles Deleuzes entnommen. Neben seiner Kritik einer quasiideologischen Doxa der Philosophie als einer Art Naturwüchsigkeit des Denkens, wie er sie in Differenz und Wiederholung ausgearbeitet hat, haben auch Ideen aus den von ihm gemeinsam mit Félix Guattari verfassten Tausend Plateaus Einfluss auf die Denkbewegungen dieser Arbeit genommen.6 Die Schwierigkeit, über das Hörbare anders als in metaphorischen, d.h. uneindeutigen Begriffen zu sprechen, findet ihr philosophisches Pendant in den Arbeiten Jacques Derridas, speziell in seinen Untersuchungen zur Metapher im philosophischen Text.7 Die Theorien Derridas bilden darüber hinaus einen Ausgangspunkt für die Untersuchung der Unruhe, die Noise in verschiedenen Diskursen und Wissenssystemen auslösen kann, sowie der Differenzen, Übergänge und Verzerrungen, die bei der Übertragung von Ideen aus einer Sprache in eine andere entstehen können. Von Jean-Luc Nancy schließlich übernimmt diese Arbeit die Konzeption einer singulär-pluralen Ontologie mit ihrer Betonung von Abständen und Zwischenräumen, die konstitutiv für ein Denken des Mit-Seins, und damit

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7

Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 114. Hier ist vor allem die Auseinandersetzung mit den »Postulaten der Linguistik« zu nennen (vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1992, S. 106-153), ebenso wie das Konzept der rhizomatischen Kartografie von Wissenssystemen (ebd., S. 23 f.). So der Untertitel von »Die weiße Mythologie« (in: Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1999, S. 229-290).

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Grenzen des Hörens

für den Sinn, wie er sich aus dem Sozialen ergibt, ist (ob in der ›sinnlichen‹ oder ›sinnhaften‹ Konnotation des Wortes).8 Es ist verfänglich, im Zusammenhang mit Noise von einem Forschungsgegenstand zu sprechen. Das Wort suggeriert eine manifeste Gegenständlichkeit, die im Widerspruch zu den differenzierten und diskrepanten Bedeutungsgefügen von Noise steht. In der ursprünglichen Bedeutung von ›Gegenstand‹ ließe sich vielleicht von einem Gefüge sprechen, das dem Versuch entgegensteht, es auf einen einzelnen und eindeutigen Begriff zu bringen. Noise durchzieht diese Arbeit zwar als Thema, im Kontext des Auditiv-Musikalischen jedoch könnte der Begriff des ›Themas‹ wiederum missverständliche Assoziationen von Leitmotiven oder Melodieführungen wecken. Im Zentrum von Grenzen des Hörens steht vielmehr ein Interesse, im Wortsinn: ein inter-esse, ein Dazwischen-Sein. Eine Noise-Theorie, wie sie hier in Angriff genommen wird, muss sich in ihrer Methodik interdisziplinär verhalten. Das inter– bzw. das Dazwischen-Sein – bezeichnet ein besonderes Verhältnis zu Grenzen und Grenzgebieten: eine besondere Aufmerksamkeit für den Zwischenraum, den Spalt oder die Kluft, die sich zwischen Definitionen, Wissensfeldern und Disziplinen auftun, und eine Aufmerksamkeit für Differenzen, die sich nicht durch das Hinüberreichen, das in dem Präfix trans- anklingt, überbrücken lassen. Grenzen des Hörens beharrt auf den Zwischenräumen und verhält sich bis zu einem gewissen Grad oppositionell zu dem in aktuellen Arbeiten zu Noise im Besonderen und dem Hörbaren im Allgemeinen beliebten Modus des Transdisziplinären9 – womit nicht

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»Das Mit, seine irreduzible Struktur der Nähe und des Abstands, seine irreduzible Spannung, die es zwischen dem Einen und dem Anderen erzeugt, steht uns erneut bevor und muss gedacht werden: Denn nur mit ergibt Sinn«, schreibt Nancy im Vorwort von singulär plural sein (Nancy, Jean-Luc: singulär plural sein, Berlin: Diaphanes 2004, S. 12). Der Abstand des ›Mit‹ ist die Grundvoraussetzung der Spannung und damit des ›Chaos und der Dissonanz‹, die Bataille beschworen hat – Noise als ein Objekt des Begehrens, das stets auch über das sozial Gegebene hinausweist. Cécile Malaspina schreibt über Noise als Paradigma: »Das offensichtlichste Problem besteht darin, dass der Noise-Begriff, um eine transdisziplinäre Analogie […] zu erlauben, ein möglichst breites Spektrum an Theorien und Praktiken umfassen muss.« (Malaspina, Cécile: »The Noise Paradigm«, in: Goddard, Michael/Halligan, Benjamin/Hegarty, Paul (Hg.): Reverberations. The Philosophy, Aesthetics and Politics of Noise, London/New York: Continuum Books 2012, S. 58-72, hier S. 59, aus dem Englischen: David Wallraf. Im Folgenden werde ich den größten Teil der englischsprachigen Quellen übersetzen, abgesehen von Textstellen, in denen die Polysemie von noise sich entweder nicht übertragen lässt oder eine spezifische Zone der semantischen Unbestimmtheit eröffnet, die sich im Deutschen nicht wiedergeben lässt.) In diesem Sinne zwingt Noise der Theorie einen analogischen und transdisziplinären Ansatz förmlich auf. Auch die Sound Studies folgen diesem Anspruch: »Sie liegen als Forschungsfeld […] quer zu etablierten Disziplinen und Ausdrucksformen. Ähnlich den transdisziplinären und methodisch bis heute nachhaltigen Projekten der Cultural Studies […] sehen sich auch die Sound Studies als ein offenes Feld von Desideraten, die sich anders verstehen und anders angelegt

1 Netze und Zwischenräume

gesagt sein soll, dass im vorliegenden Text keine Übertragungen zwischen verschiedenen Wissensfeldern und Theorien stattfinden. Der Forschungsgegenstand Noise und die von ihm aufgeworfenen Turbulenzen und Konfusionen verlangen durchaus nach einem transdisziplinären Vorgehen. Einige Zwischenräume bleiben jedoch besser ungeschlossen, manche Kluft muss unüberbrückt bleiben, um die für eine Darstellung von Noise nötige Spannung, Dissonanz und Unruhe in den Text einzuführen. Im Kontext dieser Arbeit ist Sprache das einzige zur Verfügung stehende Mittel, um sich Noise anzunähern. Linguistische Reflexionen durchziehen den gesamten Text, sei es um etymologischen Verweisen nachzugehen (ohne jemals ursprüngliche Bedeutungen fixieren zu können), sei es um Schwierigkeiten der Übersetzung herauszuarbeiten oder den lexikologischen Gefügen von Wortfeldern, Antonymien, Analogien und Metaphern nachzuspüren. Noise als Signifikant übt in der Sprache genau jene Wirkungen aus, die das Wort bezeichnet: Es produziert Uneindeutigkeiten, Ambiguitäten und Rauschen. Diesen Verschiebungen lässt sich nur mit einer Aufmerksamkeit für die Strukturen der Sprache folgen. Immer muss dem Gegenstand ein Ort zugewiesen werden, und auch der Zwischenraum ist ein Ort. Er besetzt Koordinaten zwischen verschiedenen Körpern, Themenfeldern, Disziplinen oder Registern, ohne ihnen jeweils zugehörig zu sein, und garantiert so ihre Unterscheidbarkeit. Dass der Zwischenraum einen Ort hat und damit auch ein Ort ist, bedeutet nicht, dass er Substanz oder Konsistenz besitzt. Er ist mehr als ein Schauplatz zu verstehen, als die Bedingung der Möglichkeit eines Ereignisses – oder einer Begegnung. Um diesen Ort aufzusuchen, bedarf es eines Dazwischengehens, einer Intervention. Jean-Luc Nancy hat sich dem Charakter des ›Zwischen‹ so angenähert: »Alles spielt sich also unter bzw. zwischen uns […] ab: dieses ›Zwischen‹ hat, wie sein Name es andeutet, weder eine eigene Konsistenz noch Kontinuität. Es führt nicht von einem zum anderen, es bildet keinen Stoff, keinen Zement, keine Brücke. […] Das ›Zwischen‹ ist die Distanzierung und die Distanz, die vom Singulären als solchem eröffnet wird, und eine Verräumlichung seines Sinns. Was nicht die Distanz des ›Zwischen‹ hält, ist nichts als in sich verschmolzene Immanenz und sinnentleert.«10 Spannend, sowohl im Sinne einer Anspannung, die sich nur durch eine Differenz, einen Abstand oder ein Dazwischen aufbauen kann, als auch im Sinne eines gespannten Wartens auf ein Ereignis, ist ein Verständnis des Zwischenraums als desjenigen, was sich jenseits einer Grenze von Körpern (auch Textkörpern) befindet.

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sind als traditionelle Disziplinen im engeren Sinne […].« (Schulze, Holger (Hg.): Sound Studies. Traditionen – Methoden – Desiderate, Bielefeld: Transcript 2008, S. 10 f.) J.-L. Nancy: singulär plural sein, S. 25.

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Grenzen des Hörens

Da das inter- zwischen zwei oder mehreren Körpern sich immer auch mit verschiedenen Perspektiven konfrontiert sieht und sich damit in verschiedene Richtungen spannt, ist es auch ein Bereich der Ambiguität und der Ambivalenz. Vom Ort des inter- aus ist der Blick auf Außengrenzen in verschiedene Richtungen möglich. Diese Arbeit stellt Noise als ein Objekt, einen Effekt und ein Agens des Hörens in ihr Zentrum – ein Objekt insofern, als Noise hörend erfahren wird, ›draußen‹ ist und auf das hörende Subjekt einwirkt; ein Effekt, da es im Akt des Hörens selbst produziert, verarbeitet und bewertet wird; und ein Agens, da es das Hören an seine Grenzen und in unbekannte Zonen führen kann –, und sie beschäftigt sich mit den informationstheoretischen und kybernetischen Definitionen des Begriffs nur insoweit sie unverzichtbar für die Entwicklung ihrer Thesen sind. Grenzen des Hörens ist ein Versuch, Grundzüge einer Akustik des Politischen zu entwerfen. Noise im Sinne der Kybernetik und Informationstheorie gehört nicht unmittelbar in den Forschungsbereich dieses Buches, dennoch haben Veröffentlichungen zu diesem Themenfeld Einfluss auf den Text genommen, sie bilden eine Art Unterströmung, die manchmal implizit, manchmal explizit die Arbeit durchzieht.11 Auch jene ästhetische Praxis, die sich unter dem Namen ›Sound Art‹ in den letzten Jahrzehnten an der Schnittstelle von experimenteller Musik und bildender Kunst herausgebildet hat, ist nur am Rande Thema dieser Arbeit. Zwar lassen sich vielfältige thematische und ästhetische Bezugspunkte zwischen Noise und Sound Art aufweisen, eine tiefschürfende Beschäftigung mit außermusikalischen Organisationsformen des Hörbaren in den bildenden Künsten hätte aber den Rahmen dieser Arbeit gesprengt – die Auseinandersetzung mit Noise versperrt in gewisser Hinsicht den Blick auf die Klangkunst jenseits der Musik.12 In Kapitel 2 der Arbeit wird zunächst die Genese von Noise als einem musikalischen Genre, das die herkömmlichen Definitionen von Musik in Frage stellt, anhand ihres historischen Verlaufs untersucht, wobei speziell die Überschneidungen zwischen ethischen und ästhetischen Urteilen eine Rolle spielen. Die Wortfel-

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Hervorzuheben sind hier die Arbeiten: Tiqqun: Kybernetik und Revolte, Zürich: Diaphanes 2007; Dany, Hans-Christian: Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft, Hamburg: Edition Nautilus 2013; und Mersch, Dieter: Ordo ab chao. Order from Noise, Zürich: Diaphanes 2013. Eine eigene Auseinandersetzung mit diesem Thema habe ich in meiner 2015 fertiggestellten Masterarbeit Noise und die Differenzen des Negativen vorgenommen, ein PDF dieser Arbeit kann abgerufen werden unter: https://davidwallraf.files.wordpress.com/2015/0 2/noise-und-die-differenzen-des-negativen.pdf Die Bezüge zwischen Musik, Noise und Sound Art wurden in den letzten Jahren von verschiedenen Autor*innen untersucht, u.a. von Hegarty (Noise/Music, S. 169-178); Salomé Voegelin (Listening to Noise and Silence. Towards a Philosophy of Sound Art, New York/London: Continuum 2010); Caleb Kelly (Hg.) (Sound. Documents of Contemporary Art, London/Cambridge MA: MIT Press 2011) und Brandon LaBelle (Background Noises. Perspectives on Sound Art, New York: Bloomsbury 2015).

1 Netze und Zwischenräume

der, Sinnzusammenhänge und Diskurse, die sich von dem zentralen Lexem Noise aus in verschiedene Richtungen zerstreuen, zu Definitionen verdichten und Übersprechungseffekte erzeugen, werden in Kapitel 3 behandelt.13 Die Grenzbereiche der menschlichen Hörfähigkeit, Klang und Sprache als Organisationsformen jenes Feldes, welches sich aus dieser Eingrenzung ergibt, und die metaphorischen Uneindeutigkeiten, die die Sprache selbst bei jedem Versuch, das Auditive zu beschreiben, produziert, sind Gegenstand von Kapitel 4. Im Anschluss wird das vermeintliche Antonym von Noise – Sound – zum Thema, das in der akademischen Disziplin der Sound Studies und im Sounddesign zu einem etablierten Begriff geworden ist, der bei näherer Analyse allerdings ähnliche Tendenzen zu einer Dezentrierung der eigenen Bedeutung aufweist wie das vergleichsweise minoritäre Konzept Noise. Mit dem theoretischen Entwurf der Soundscape wird im fünften Kapitel eines der zentralen Konzepte der Sound Studies vorgestellt. Ausgehend von einer Kritik der naturwüchsigen ›Klanglandschaft‹ wird schließlich in Kapitel 6 die Idee eines auditiven Feldes des Sozialen entworfen, das die Prozesse und Strukturen einer Akustik des Politischen besser fassbar machen soll. Ausgangspunkt und Abschluss der Arbeit (in Kapitel 7) bildet Noise als Genre, als audioästhetische Praxis, die sich an den Rändern des Musikalischen bewegt, die Rauschen, Lärm, Geräusche und Störungen in Szene setzt, die die hier versammelten Theorien und Denkansätze immer wieder aufs Neue in Bewegung versetzt und dazu nötigt, ihre Grenzen zu überschreiten.

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Zur Übersetzung des englischen Wortes: Um im Deutschen einen möglichst neutralen Gebrauch des Wortes Noise zu ermöglichen, wird es im Folgenden grundsätzlich mit dem neutralen Artikel ›das‹ versehen oder als ›es‹ bezeichnet. ›Der Noise‹ etwa würde eine zu große Nähe zu ›der Lärm‹ suggerieren und andere Übersetzungsmöglichkeiten wie ›Rauschen‹ oder ›Störung‹ ebenso in den Hintergrund treten lassen wie die Ambivalenzen, die in den meisten englischsprachigen Originaltexten gegeben sind. Die neutrale Schreibweise wurde daher auch bei den Übersetzungen englischer Quellen verwendet, um die häufig ambivalente Verwendung von noise im Originalkontext zu unterstreichen.

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2 Noise: Das Ende der Musik »Man müßte einmal – ich weiß nicht, ob ich je die Zeit haben werde – von der Musik sprechen, soweit das möglich ist.«1 Jacques Lacan

2.1

Genealogie des Lärms »Listening to Merzbow’s album 1930 in a closed and darkened room I enter this tight reciprocity willingly. It is a direct hit, right between the eyes. The shards of glass enter my ears blinding me. The bit of light that manages to come in through the blinds only emphasizes the sharpness of the sound: piercing and enveloping me at the same time, weighing down on me and lifting me up into a most acute hearing. […] Maybe this is what it is like just before an alien abduction.«2

Salomé Voegelin   »The opening track ›Ananga Ranga‹ starts with lumpy pulses and shrieking flanged sounds. Layers cut in and out; piercing notes drown out the rest for brief moments. As it goes on, coloured noise vies with busy electronic sounds, as slices of high pitched blocs of sound interfere. The middle section sees several layers taking over and falling back, seeming to, because there is no background from which specifics emerge, however much the listener might conceive it that way.«3 Paul Hegarty   »The track begins with a one-second blast of sound, which shifts sharply downward in pitch before abruptly cutting out, as if taking a breath before releasing the long, harsh, continuous scream of Noise that follows. […] The distorted feedback begins to break up as some amplifier in the chain reaches the limit of its capacity. 1 2 3

Lacan, Jacques: Encore. Das Seminar, Buch XX, Wien: Turia + Kant 2015, S. 125. S. Voegelin: Listening to Noise and Silence, S. 67. P. Hegarty: Noise/Music, S. 159.

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Grenzen des Hörens

[…] A final burst blasts through the system, as if I’ve been unplugged from myself. But none of this really describes it all: the overwhelming feeling of it, the shocking effect of the transitions between sounds, the shiver that runs up your spine when the Noise cuts out. It’s been three minutes, forty seconds – or a decade of listening, depending on how you look at it – and I am still struggling to hear what is going on.«4 David Novak   »A darkened room is filled with noise. It bounces off the walls, invades my body, sweeping me up with its pulsating waves. The extremes of frequencies push my hearing to its limits but I am excited, my heart racing with anticipation, or is it fear? Where will the noise take me? When will it brake? What comes next?«5 Marie Thompson   »I recognize […] that any attempt to render Merzbow’s music in words will necessarily be insufficient, and I would therefore exhort any reader who has not heard a Merzbow CD or track to do so before proceeding further.«6 Greg Hainge   Diese fünf Zitate weisen Gemeinsamkeiten auf. Sie stammen aus geisteswissenschaftlichen Buchveröffentlichungen der letzten zehn Jahre, in denen je eigene Noise-Theorien entwickelt wurden. Die Autor*innen, deren Professionen von Kulturwissenschaften und Philosophie über Klangkunst bis zu Musikwissenschaften reichen, schildern Höreindrücke, die Veröffentlichungen und Konzertbesuche japanischer Noise-Projekte bei ihnen hinterlassen haben. Aus diesen Ohrenzeugenberichten spricht eine schwer zu fassende Faszination, die sich an einem unbestimmten Ort zwischen ästhetischem Wohlgefallen, Lust an der eigenen Überwältigung und Überforderung sowie einem diffusen Gefühl der Bedrohung abspielt. Beschreibungen des Sensorischen treten in einen synästhetischen Schwebezustand, in dem die Schärfe eines Geräuschs auf das durch einen Lichtstrahl ausgelöste Stechen in den Augen überspringt und wo in den Zwischenräumen des Metaphorischen klumpige Klänge auf farbiges Rauschen treffen. Diese Erfahrung 4 5 6

Novak, David: Japanoise. Music at the Edge of Circulation, Durham/London: Duke University Press 2013, S. 4 f. Thompson, Marie: »Music for Cyborgs. The Affect and Ethics of Noise Music«, in: M. Goddard/B. Halligan/P. Hegarty (Hg.): Reverberations, S. 207-218, hier S. 207. G. Hainge: Noise Matters, S. 259.

2 Noise: Das Ende der Musik

lässt sich nicht eindeutig benennen und sprachlich nur in Bilder fassen. Die Zuhörer*innen werden im gleichen Maße mit den Grenzen ihrer Wahrnehmungsfähigkeit konfrontiert, wie die Hörerfahrung ihnen ihre Körpergrenzen bewusst macht. Schilderungen technischer Aufbauten vermischen sich mit denen von Körperzuständen, beide an den Rand ihrer Kapazität getrieben. Akustischer Vorder- und Hintergrund lassen sich nicht mehr voneinander trennen, die Zuhörer*innen werden mit Schockeffekten traktiert und letztlich erübrigt sich jeder Versuch, diese auditive Erfahrung mit Worten zu beschreiben. Die Auseinandersetzung mit Noise im Sinne eines musikalischen Genres wirft Probleme auf, die epistemologische und ästhetische Denkansätze vor neue Fragen stellen. Sie sehen sich mit einer musikalischen Praxis konfrontiert, die sich an den Rändern der Musik selbst bewegt. Noise überschreitet und unterläuft die traditionellen Parameter der musikalischen Organisation des Hörbaren. Harmonie, Melodie, Metrum und Rhythmik werden im Fall von Noise zugunsten einer Arbeit mit außermusikalischem Material suspendiert.7 Aus einer abstrakten Perspektive lässt Noise genau jene Dispositive wirksam werden,8 die sich aus dem Koordinatensystem seiner einzelnen Bedeutungen ergeben: Lärm, Geräusch, Rauschen und Störung. Konkret handelt es sich um eine Verwendung von Alltagsgeräuschen, von extramusikalischen, elektroakustischen oder umgenutzten Klangerzeugern und experimentellen Spieltechniken. Verzerrungen, Rückkopplungen, exzessive Lautstärke und all jene akustischen Artefakte, die in der Tradition professioneller Studio- und Konzertsituationen als Fehler, Defekte oder Störungen beseitigt würden, werden im Kontext von Noise zum Material einer ästhetischen Organisation, die exzessive und chaotische Formen annimmt. Was ein Noise-Stück mit den gängigen Definitionen von Musik teilt, ist seine Hörbarkeit und die minimale Struktur von Anfang und Ende. In seinen extremen Spielarten rührt Noise aber an die Grenzen des Hörbaren selbst. Es organisiert Schallereignisse, die kaum noch oder nicht mehr hörbar sind; ein Maximum an Lautstärke, das das Gehör an 7

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Dabei kann Material nicht im musikalischen Sinn als ›Tonvorrat‹ oder Ähnliches verstanden werden. Paul Hegarty definiert den Materialbegriff, der sich aus der Noise-Praxis ergibt, so: »Noise-Musik ist eher eine Intervention, um Material als Material zu belassen (oder es zurück in diesen Zustand zu versetzen, jetzt, zum wiederholten, zum ersten Mal), als eine idealisierte, organisierte Musikalität. Sie interessiert sich für Material als Zeug, nicht als Quelle.« (P. Hegarty: Noise/Music, S. 140, a.d. Engl.: DW) Der Begriff des Dispositivs soll im Sinne Michel Foucaults als ein »entschieden heterogenes Ensemble« verstanden werden, das »Diskurse, Institutionen […] Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische […] Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt«. (Foucault, Michel: Dispositive der Macht, Berlin: Merve 1978, S. 119 f.) Giorgio Agamben hat dem hinzugefügt, das Dispositiv sei jenes Netz, »das man zwischen diesen Elementen herstellen kann«. (Agamben, Giorgio: Was ist ein Dispositiv?, Berlin/Zürich: Diaphanes 2008, S. 9) Noise als Begriff und auch als Genre verweist im Kontext dieser Arbeit auf ein solches diskursives Netz.

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Grenzen des Hörens

die Schmerzgrenze führt, ebenso wie ein Minimum, das ein Rauschen in der Stille, jener vordergründigen Abwesenheit von Schall, entdeckt. Das späte 20. Jahrhundert hat einige verstreute Versuche hervorgebracht, einen Begriff von Noise zu definieren, der über einzel- und naturwissenschaftliche oder alltagssprachliche Bestimmungen hinausgeht; Versuche, ein Verhältnis zwischen Noise und Musik zu beschreiben oder Theorien aufzustellen, die Noise in ihr thematisches Zentrum stellen und dem mit diesem Begriff Bezeichneten eine positive ontologische Qualität zuschreiben (die Noise in seinem Verhältnis zur Musik also nicht als bloße Negativität des Musikalischen, Tonalen oder Harmonischen fassen).9 Ansätze zu einer dezidierten Noise-Theorie lassen sich allerdings erst seit Beginn der 2000er Jahre beobachten. In den letzten zehn Jahren sind einige Arbeiten erschienen, die von Noise ausgehend verschiedene Ansätze zu einer Theoriebildung verfolgt haben. Dieser schmale, aber differenzierte Textkorpus deckt ein breites Spektrum von kultur- und musikwissenschaftlichen Forschungsansätzen ebenso ab wie philosophische Fragestellungen, die von einer Ontologie bis zu Entwürfen einer Ästhetik, Epistemologie und Affekttheorie des Noise reichen.10 Diesen Theorien gemeinsam ist, dass sie Noise nicht streng entlang der Raster einer wissenschaftlichen Einzeldisziplin verhandeln (etwa als akustischen und/oder sozialen Lärm, als Rauschen im Sinne der Kybernetik und Informationstheorie oder Ähnliches), sondern einer Vielzahl von Bedeutungssträngen nachgehen, deren gemeinsamen Bezugspunkt Noise als Genre bildet. Es lässt sich die These aufstellen, dass, obwohl die differenziellen und in verschiedene Denk- und Forschungsrichtungen weisenden Bedeutungsstränge von Noise bereits weit vor der Jahrtausendwende angelegt waren, erst das (musik-)historische Faktum einer als

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Hier sind Michel Serres’ Arbeiten Der Parasit und Genesis hervorzuheben, ebenso wie Jacques Attalis Bruits (Serres, Michel: Der Parasit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987; ders.: Genesis, Ann Arbor: University of Michigan Press 1995; Attali, Jacques: Bruits, Paris: Presses universitaires de France, 1977). Serres und Attali waren während der 70er Jahre im Groupe des Dix aktiv, der sich mit den philosophischen Implikationen von Kybernetik und Informationstheorie auseinandersetzte, hieraus lässt sich ihr Interesse an Noise und der spezifischen Auslegung dieses Begriffs ableiten (vgl. M. Thompson, Beyond Unwanted Sound, S. 137 f.). Der 1995 erschienene Sammelband Das Rauschen kann als frühes Beispiel einer interdisziplinären Noise-Theorie angesehen werden (Sanio, Sabine (Hg.): Das Rauschen, Hofheim: Wolke 1995). 2007 erschien Paul Hegartys Noise/Music. A History, dieses Buch sollte zum Bezugspunkt für nachfolgende Veröffentlichungen werden. In den folgenden Jahren wurden die Sammelbände Noise & Capitalism (2009) und Reverberations. The Philosophy, Aesthetics and Politics of Noise (2012) veröffentlicht (Iles, Anthony/Mattin (Hg.): Noise & Capitalism, San Sebastian: Arteleku 2009; M. Goddard/B. Halligan/P. Hegarty (Hg.): Reverberations), ebenso wie Arbeiten von Greg Hainge (Noise Matters, 2013), David Novak (Japanoise, ebenfalls 2013) und in jüngster Zeit eine Affekttheorie des Noise (Beyond Unwanted Sound von Marie Thompson, 2017) und Cecile Malaspinas An Epistemology of Noise (London: Bloomsbury 2018). Diese Aufzählung ist kursorisch und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

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solche erkennbaren Noise-Musik diese Ideen in ein Wechselspiel eintreten ließ und für die Theoriebildung fruchtbar machte. Die uneinheitliche, differenzierte und interdisziplinäre Noise-Theorie bezieht sich also auf einen Kernbegriff, der als eine Art Vexierbild fungiert und sich wechselweise in Akustik, Kybernetik, Soziologie oder Technikgeschichte fundieren kann, während der gemeinsame Bezugspunkt eine ästhetische Praxis ist, die ebenso differenzielle Anknüpfungspunkte aufweist. Um einen Eindruck von den Differenzen zu bekommen, die eine vorgeblich so einheitliche Klassifikation wie ein musikalisches Genre durchziehen, wird es zunächst nötig sein, sich einen Überblick über die historischen Entwicklungslinien und Bezugspunkte von Noise zu verschaffen. Noise ist ein Genre, das sich in den 1980er Jahren herausgebildet und seitdem international in verschiedenen Spielarten, Subgenres und Hybridformen ausdifferenziert hat. Es entstand an einer Schnittstelle zwischen musikalischen Subkulturen und mehr oder weniger marginalen experimentellen Praktiken.11 Dabei lassen sich verschiedene Phasen dieser Entwicklung aufzeigen. Noise der 1980er Jahre war obskur und im Wortsinn underground, d.h. Produktion, Distribution und Aufführung von Noise fanden in selbstorganisierten Zusammenhängen und weitestgehend ohne Anbindung an Musikindustrie, Kunstmarkt oder Massenmedien statt. Noise schuf, ähnlich wie zuvor Punk, eine eigene Gegenöffentlichkeit. Während der 1990er Jahre tat sich ein kurzes Zeitfenster auf, in dem Noise zum Gegenstand einer medialen Aufmerksamkeit wurde (die jedoch im Vergleich zu anderen Genres, die zur gleichen Zeit musikalische Extreme ausloteten, marginal blieb). Seit Beginn der 2000er Jahre hat sich international eine Vielzahl von Subund Metagenres entwickelt, die in irgendeiner Form auf die Ästhetiken, Techniken und Theorien von Noise zurückgreifen. Dabei wurde Noise häufig nicht nur als eine ästhetische, sondern auch als eine politische Praxis verstanden, die zugleich Symptom von und Protest gegen den postindustriellen Kapitalismus in den Metropolen war. In dem 2009 erschienenen Sammelband Noise & Capitalism schreibt Csaba Toth: »In ihren zahlreichen Abwandlungen bricht Noise-Musik mit konventionellen Genregrenzen: Sie ist häufig gar keine Musik, sondern Lärm oder Schall, kombiniert mit visuellem Material […]. Aufgrund ihrer Vielgestaltigkeit entkommt sie 11

Da noise nicht eindeutig übersetzbar ist und die Verwendung des Wortes in diesem Kapitel möglichst offen gehalten werden soll, werde ich das Wort im Folgenden ohne bestimmten Artikel schreiben (›der‹, ›die‹ oder ›das‹ Noise würden zu sehr auf eine spezifische Übersetzung verweisen – ›das Geräusch‹, ›der Lärm‹ etc.). Ansonsten wird Noise durch das neutrale Pronomen ›es‹ vertreten. Die sächliche Ambiguität entspricht dem, was Roland Barthes über das Neutrum geschrieben hat: »Ich definiere das Neutrum als dasjenige, was das Paradigma außer Kraft setzt. […] Was ist das Paradigma? Es ist die Opposition zweier virtueller Terme […].« (Barthes, Roland: Das Neutrum, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 32)

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der Enge der (Theater-)Bühne. Sie wird häufig außerhalb kommerzieller Zusammenhänge aufgeführt und verbreitet […]. In ihren Anfängen ging Noise-Musik von verschiedenen kulturellen und politischen Annahmen die postindustrielle Gesellschaft betreffend aus. In musikalischer Hinsicht lag die prägende Erfahrung von Noise-Performer[inne]n in der Konfrontation mit dem von ihnen wahrgenommenen Niedergang der Rockmusik durch Kulturindustrie und Massenfertigung […]. Der anfängliche Impuls für Noise entsprang der Annahme, dass, da die industrielle Produktion die Rahmenbedingungen für Wiederholung innerhalb massenproduzierter Musik festlegt, jede kulturelle Form von Wiederholung innerhalb des Warenmarkts unter die allumfassende Logik der Industrialisierung fallen müsse. Daher erzeugten Noise-Musiker[innen] nicht wiederholbare Musik außerhalb des kommerziellen Zusammenhangs.«12 In diesem Sinne ist Noise eine Absage an die Warenförmigkeit von Musik, eine Absage an den Musikmarkt und damit, folgt man der Argumentation Toths, eine Distanznahme und Kritik innerhalb der kapitalistischen Ökonomie. Wenn Musik im weitesten Sinne als eine Ware im Marktsegment der Unterhaltung oder der Kulturindustrie angesehen wird (unabhängig davon, ob sie nun als Aufführung, für die Eintritt zu entrichten ist, als physischer Tonträger, gemietetes Datenpaket oder geistiges Eigentum verstanden wird), dann ist die effektivste Abgrenzung eine ästhetische Praxis des Auditiven, die nicht nach ihren Regeln funktioniert – sowohl ästhetisch als auch ökonomisch. Dabei ist nicht zu ignorieren, dass Noise sich aus einer Logik des Musikalischen selbst, aus seiner Geschichte, seiner Praxis und seinen sozioökonomischen Zusammenhängen entwickelt hat. Die Genealogie dieses Genres lässt sich auf verschiedene Arten nachzeichnen, ihre Darstellung steht dabei wie jede kulturhistorische Erzählung vor dem Problem der Auswahl. Es lassen sich aber über das 20. Jahrhundert verteilt einige Knotenpunkte aufzeigen, von denen Fäden ausgehen, die letztlich in der Entwicklung von Noise zu einem neuen Netz geknüpft worden sind. Die Aufzählung dieser Stränge und Verknüpfungen kann immerhin eine Übersicht über ein weitläufiges Terrain verschaffen, allerdings ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Douglas Kahn hat mit Noise Water Meat eine Geschichte der Avantgarde unter akustischen Gesichtspunkten verfasst, in der er eine Entwicklung des Hörbaren in der Kunst vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre nachzeichnet. In dieser Geschichte bilden Lärm, Geräusche und Störungen die zentralen Referenzen und Inspirationsquellen der westlichen Avantgardebewegungen: »Die Grenze zwischen Schall* und musikalischem Klang stand im Zentrum der Existenz von Avantgardemusik, sie lieferte ihr ein wegweisendes Moment 12

Toth, Csaba: »Noise Theory«, in: A. Iles/Mattin (Hg.): Noise & Capitalism, S. 25-37, hier S. 32, a.d. Engl.: DW.

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der Transgression und ihr künstlerisches Rohmaterial; diese Grenze musste überschritten werden, um brachliegende Ressourcen zu erschließen, die Schatzkammern des musikalischen Materials aufzufüllen und die westliche Kunstmusik zu verjüngen.«13 Noise hat in diesen Bewegungen an der Schnittstelle von Kunst, Politik und Alltagsleben verschiedene Rollen eingenommen: als Objekt des Begehrens (d.h. als ›das Andere‹ der ästhetischen, politischen und ökonomischen Rationalität, als Medium einer exzessiven Verausgabung), als Waffe (sei es als Mittel der Provokation und des épater la bourgeoisie, sei es als akustische Mimesis von Krieg und Gewalt) oder als Metapher für ein chaotisches und unstrukturiertes Feld der Wahrnehmung, aus dem sich neue signifikante und ästhetische Formen bilden lassen. Um den Ersten Weltkrieg waren es Dada und Futurismus, die eine ästhetische Auseinandersetzung mit Noise suchten. Im Cabaret Voltaire entdeckten Richard Huelsenbeck und seine Mitstreiter*innen Bruitismus und Simultangedichte, um Militär, Bürgertum und Geistlichkeit lautstark zu attackieren. »Was sie hören wollten, wußten sie nicht, und so produzierten sie einen Sound, den sie ›mittelalterlichen Bruitismus‹ oder ›Geräusch in imitatorischer Form‹ nannten, ein Simultangedicht, bei dem alle Darbietungen auf einmal stattfanden, jedoch keine Darbietungen mehr waren.«14 In der Verwendung von Lärm und der Sehnsucht nach einer Artikulation des Asignifikanten hat Greil Marcus einen Wesenszug von Dada herausgearbeitet, der später im 20. Jahrhundert in der Punkbewegung wiederauftauchen sollte. Huelsenbeck selbst hob seinerzeit das vitalistische Element von Lärm und Aufruhr hervor; die von den Dadaist*innen produzierten Geräusche stellten für ihn ein Spiegelbild des Alltagslebens dar: »Aus den mich gleichzeitig umgebenden Ereignissen des Alltags, der Großstadt, des Zirkus Dada, Gepolter, Schreien, Dampfsirenen, Häuserfronten und Kalbsbratengeruch erhalte ich den Impuls, der mich auf die direkte Aktion, das Werden, das große X hinweist und -stößt. […] Simultaneität ist direkter Hinweis aufs Leben und sehr eng mit dem Problem des Bruitismus verwandt. So wie die Physik

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Kahn, Douglas: Noise, Water, Meat. A History of Sound in the Arts, Cambridge MA: MIT Press 2001, S. 69, a.d. Engl.: DW. – * Kahn schreibt »sound«, was ich an dieser Stelle mit ›Schall‹ übersetze. Es handelt sich um jenen Teil des Hörbaren, der nicht unmittelbar in den Relationen des Musikalischen aufgeht (und z.B. nicht tonal organisierbar ist): »In der Geschichte der westlichen Kunstmusik waren Geräusche [noises] nicht per se außermusikalisch; sie waren einfach nur die Klänge [sounds], welche die Musik nicht nutzen konnte.« (Ebd., S. 68, a.d. Engl.: DW) – Sound kann sowohl den Schall als Allgemeines als auch den Klang als Besonderes bezeichnen. Die Übersetzungsschwierigkeiten, die noise und sound aufwerfen, werden die folgenden Seiten als andauerndes Thema, als ein Drone oder Grundrauschen durchziehen. Marcus, Greil: Lipstick Traces, Frankfurt: Rogner & Bernhard 1992, S. 233.

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Klänge (die sie in mathematischen Formeln aussprechen kann) und Geräusche unterscheidet, welch letzteren ihre Symbolik und Abstraktionskunst hilflos gegenübersteht, weil sie direkte Objektivation der dunklen Lebenskraft sind, so drückt hier der Unterschied ein Nacheinander und eine ›Simultaneität‹ aus, die der Formulierung spottet, weil sie direktestes Symbol der Handlung, der Aktion ist. Ein Simultangedicht heißt also am Ende nichts anderes als ›Es lebe das Leben‹.«15 Zur gleichen Zeit wie die Dadaist*innen entwarf der Futurist Luigi Russolo seine Intonarumori, um mit diesen mechanischen Lärminstrumenten eine neue »Geräuschkunst« zu kreieren, die den Konzertsaal sprengen und sich dem Lärm des modernen Lebens zuwenden sollte: »Vom Morgen bis zum Abend muss man Geräusche hören, immer Geräusche!«16 In der Sowjetunion verwandelte der Komponist Arseny Avraamov 1922 die gesamte Hafenstadt Baku, einschließlich Arbeiterchören, Eisenbahnzügen, Flugzeugen, einer Batterie schwerer Artillerie und Schiffen der Schwarzmeerflotte, in ein gigantomanisches industrielles Geräuschorchester.17 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die akustischen Experimente dieser Strömungen systematisiert und in den Studios und Laboren der akademischen Avantgarde in den westlichen Metropolen zu neuen Formen einer experimentellen elektronischen Musik umgewandelt. In Paris entwickelte der Radiotechniker Pierre Schaeffer die Musique concrète, in der mit Hilfe von Tonbandaufnahmen und deren Manipulation alle erdenklichen Klänge und Geräusche zum Material einer neuen Musik werden konnten. Während die traditionelle (oder, in Schaeffers Terminologie, abstrakte) Musik von der geistigen Konzeption eines Werks über seine Niederschrift bis zu dessen instrumentaler Umsetzung fortschritt, sollte die konkrete Musik mit dem Bereitstellen von Material beginnen, um über Experimente schließlich zu einer Komposition zu gelangen. Mit Hilfe der technologischen Innovation der Bandmaschine konnte jedes Schallereignis beliebig oft kopiert und geschnitten sowie in Tonhöhe, Abspielrichtung, Geschwindigkeit und Dynamik manipuliert werden. In der elektronischen Musik, deren theoretisches und institutionelles Zentrum in Westdeutschland lag, wurde versucht, die Kompositionstechniken der seriellen Musik auf das Klangmaterial selbst – die Synthese von Klangfarben – anzuwenden. Jeder Klang sollte idealerweise aus den an sich unmusikalischen und nur elektronisch herstellbaren Basiselementen Sinuswelle, weißes Rauschen und

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Huelsenbeck, Richard: En Avant Dada, Hamburg: Edition Nautilus 1976, S. 29 f. Russolo, Luigi: Die Geräuschkunst, Basel: Akroama/The Soundscape Newsletter Europe Edition 1999, S. 36. Es existiert keine Originalaufnahme dieses Spektakels, im Internet ist allerdings eine digitale Reproduktion des Klangkünstlers Sergey Khismatov zu finden (vgl. Khismatov, Sergey: Arsenej Avraamov – Symphony of Industrial Horns, Stream, 2009, online auf: http://khismatov. com/The_Symphony_of_Industrial_Horns.html, abgerufen 1.7.2020).

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Impuls zusammengesetzt werden. Während sich beide Richtungen in ihren Anfängen erbitterte Abgrenzungskämpfe lieferten, sollten sie im Laufe der 60er Jahre mehr und mehr zu einer gemeinsamen Praxis der elektroakustischen Musik verschmelzen.18 Zur gleichen Zeit erforschte der Komponist Iannis Xenakis in Paris die Möglichkeiten zufallsbasierter und nach den Regeln der Statistik funktionierender stochastischer Kompositionsmethoden (die schließlich in der Erstellung des Computerprogramms GENDYN gipfeln sollten19 ). In den USA vollzog John Cage eine vordergründig doppelte Bewegung, indem er die Grenzbereiche der Musik zugleich erweiterte und reduzierte. Sein Jahrzehnte umspannendes Gesamtwerk widmet sich der makroakustischen Erforschung von Schall in seiner Totalität, ohne eine Trennung von Klang und Geräusch vorzunehmen. Zugleich drang er in die mikroakustischen Randzonen des Hörbaren ein und fand in der Stille neue Möglichkeiten der Perzeption. Der Pianist und Cage-Mitarbeiter David Tudor erforschte ab den 1970er Jahren das Potenzial elektronischer Rückkopplungen, um die »intentionale Rolle des individuellen Interpreten so weit wie möglich zu reduzieren«.20 Abseits der avantgardistischen Strömungen und ihrer Zentren vollzogen sich parallele und transversale Entwicklungen, die diese Experimente in neue Kontexte überführten und sie an unvorhergesehenen Stellen wiederauftauchen ließen. Die Techniken der Avantgarde drangen nach und nach in die Massenmedien ein und wurden damit einem breiteren Publikum zugänglich.21 Im gleichen Zeitraum ent18

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Zu den knapp zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg stark nationalistisch geprägten Auseinandersetzungen zwischen beiden Schulen schreibt André Ruschkowski: »Leider scheinen die Auseinandersetzungen zwischen Musique concrète und Kölner elektronischer Musik ein wenig auch ideologischer Natur gewesen zu sein; das läßt sich an entsprechenden Äußerungen der Protagonisten ablesen. Bereits das seinerzeit benutzte Schlagwort vom ›Waterloo der Musique concrète‹ 1953 in Donaueschingen weist in diese Richtung.« (Ruschkowski, André: Elektronische Klänge und musikalische Entdeckungen, Stuttgart: Reclam 2010, S. 215) – Bei den Donaueschinger Musiktagen 1953 fiel das von Schaeffer präsentierte Werk bei der Kritik durch. Génération Dynamique Stochastique, ein Computerprogramm, das autonom Klänge und musikalische Strukturen generiert. Die Ergebnisse dieser Technik, speziell Xenakis’ letzte Komposition aus den 90er Jahren, S. 709, haben die traditionellen Parameter des Musikalischen weit hinter sich gelassen. Abseits von den jeweiligen soziokulturellen Kontexten dürfte es schwerfallen, einen qualitativen Unterschied zwischen S. 709 und zeitgleich erschienenen NoiseTracks festzustellen. Auf diese Ähnlichkeitsbeziehung hat insbesondere Ryo Ikeshiro in GENDYN and Merzbow. Xenakis’s Dynamic Stochastic Synthesis as Noise hingewiesen (vgl. Ikeshiro, Ryo: GENDYN and Merzbow. Xenakis’s Dynamic Stochastic Syntheses as Noise, 2014, https:// ryoikeshiro.files.wordpress.com/2015/02/ecmst_2014_ikeshiro.pdf, abgerufen 1.7.2020). D. Novak: Japanoise, S. 156, a.d. Engl.: DW. Ein herausragendes Beispiel für diese Entwicklung bietet der BBC Radiophonic Workshop, der mit den Mitteln der elektronischen und konkreten Musik ab 1958 Soundtracks für Radiound Fernsehprogramme erstellte. Delia Derbyshires Titelmusik für die Science-Fiction-

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standen im Jazz avancierte musikalische Innovationen, die sich im ökonomischen Kontext der populären Musik behaupteten und dabei kaum auf die Infrastruktur der staatlich geförderten Rundfunk- und Experimentalstudios zurückgreifen konnten. Der US-amerikanische Free Jazz erforschte die Potenziale der kollektiven Improvisation; eine schwarze Avantgarde, die zu einer Inspirationsquelle für vielfältige musikalische Entwürfe werden sollte. An der Schnittstelle von weißer und schwarzer Avantgarde entstand u.a. die freie Improvisation, die die kollektivistischen Ansätze des Free Jazz weiterführte und eine Kritik an dem Technizismus und Geniekult der akademischen Avantgarde formulierte.22 Im Laufe der 60er und 70er Jahre wurden die Grenzen zwischen Avantgarde und Pop, zwischen ›ernster Musik‹ und ›Unterhaltungsmusik‹ immer durchlässiger. Es entwickelten sich Hybridformen von Rockmusik und Avantgardetechniken, die nach und nach die Unterscheidung zwischen beiden Bereichen unmöglich machen sollten.23 Ausgehend von diesen Hybriden bildeten sich neue Verzweigungen, die im Laufe der Jahrzehnte zu einem unüberschaubaren Geflecht von Mikro-, Subund Metagenres angewachsen sind.24 Zwei Achsen technologischer Entwicklung

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Fernsehserie Doctor Who erreichte ein Millionenpublikum, das mit der Musik von Karlheinz Stockhausen oder Iannis Xenakis niemals in Berührung gekommen wäre. Cornelius Cardew, Mitbegründer des Improvisationskollektivs AMM und ehemaliger Assistent von John Cage und Karlheinz Stockhausen, wandte sich in den 1970er Jahren dem Maoismus zu und veröffentlichte 1974 die Kampfschrift Stockhausen Serves Imperialism: »Stockhausen’s Refrain, the piece I have been asked to talk about, is a part of the cultural superstructure of the largest-scale system of human oppression and exploitation the world has ever known: imperialism.« (Cardew, Cornelius: Stockhausen Serves Imperialism, New York: ubuclassics 2004, S. 47) – Cardews Kritik richtete sich u.a. gegen die Finanzierung der Komponisten durch staatliche Institutionen und die Reduzierung von Musiker*innen auf die Rolle seelenloser Automaten (d.h. als ausführende Organe und nicht als Interpret*innen der Stücke). Dies betrifft in der Hauptsache das musikalische Material. Auf institutioneller Ebene wird die Trennung von E- und U-Musik bis heute aufrechterhalten. Die Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte schreibt auf ihrer Website: »Um möglichst detailliert auf die besonderen Arten der Musiknutzung in den verschieden [sic] Musikverwertungsgebieten einzugehen und somit eine jeweils sachgerechte Verteilung vorzunehmen, gibt es bei der GEMA mehrere Verteilungssparten, in denen unterschiedliche Abrechnungsregeln gelten. So unterscheidet die GEMA für das Aufführungs- und Senderecht zwischen E- und U-Musik.« (O.V.: »E- und U-Musik«, o.D., https://www.gema.de/aktuelles/eund-u-musik, abgerufen 1.7.2020) Dies gilt insbesondere für das ›rhizomatische Wuchern‹ der elektronischen Musik ab den 1980er Jahren. Im Kontext der Rockmusik lassen sich einige Namen aufzählen, die bestimmte Knotenpunkte in dieser Entwicklung aufzeigen: The Velvet Underground verbanden Rock mit Minimal Music, Drone und Atonalität, die Beatles verwendeten Methoden der konkreten Musik, Frank Zappa führte Techniken der seriellen Komposition in die populäre Musik ein, Captain Beefheart & His Magic Band schufen einen Hybrid aus Blues, Free Jazz und Rockmusik, Kraftwerk verbanden Pop und elektronische Musik etc. pp. Hervorzuheben ist Lou Reeds

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waren dabei ausschlaggebend: die Manipulation, Umnutzung, Erfindung und ›Dekonstruktion‹25 von Medien, Technologien und Instrumenten durch Musiker*innen und die allmähliche Demokratisierung des Zugangs zu Technologien als Ergebnis von Massenfertigung, Miniaturisierung und Digitalisierung. Der ersten Achse entspricht gemäß Trevor Pinch und Frank Trocco die soziale Konstruktion von Technologie. Diesem Konzept zufolge wird die Entwicklung eines beliebigen technologischen Artefakts von den sozialen Gruppen bestimmt, die an ihr beteiligt sind. In den Anfangsstadien solcher Entwicklungen kann es zu einer großen »interpretativen Flexibilität zwischen den relevanten sozialen Gruppen« kommen, was dazu führt, dass es »radikal verschiedene und miteinander konkurrierende Bedeutungen einer Technologie«26 geben kann. Der Abschluss dieses Prozesses wird von Pinch und Trocco als eine »interpretative Schließung« definiert,27 von der aus sich das jeweilige Artefakt mit einem weiter gefassten kulturellen Milieu verbinden kann. Ein paradigmatischer Fall für eine solche Entwicklung im soziokulturellen Feld der Musik ist die Entwicklung des Synthesizers. Von den raumgreifenden und kostspieligen Varianten der 60er Jahre, die hauptsächlich im akademischen Bereich oder von seriösen Komponist*innen genutzt wurden, bis zu den erschwinglicheren Modellen der 70er Jahre, die in vielen Bereichen der populären Musik Verwendung fanden, spannt sich eine Entwicklung, in der die Potenziale und Anwendungsbereiche des Synthesizers immer wieder neu verhandelt wurden.28 Ein integraler Bestandteil der sozialen Konstruktion von Technologien sind auch die Situationen, in denen die interpretative Schließung eines gegebenen Artefakts wieder aufgebrochen wird, indem eine Funktionsweise entdeckt wird, die ursprünglich nicht intendiert war. In diesem Bereich lassen sich die verschiedenen Ansätze eines Do-it-yourselfEthos verorten: die Schaffung neuer Potenziale zur Klang- und Geräuscherzeugung mit begrenzten finanziellen oder technischen Mitteln, eine Kultur des Bas-

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1975 erschienenes Doppelalbum Metal Machine Music, vermutlich der direkteste Vorläufer von Noise. Dekonstruktion ist hier, ohne allzu direkten Bezug auf die Theorien Jacques Derridas, ›wörtlich‹ gemeint: als Ambiguität von Zerstören und Zusammenbauen, die in dem Neologismus aus Destruktion und Konstruktion zum Ausdruck gebracht wird. Pinch, Trevor/Trocco, Frank: »The Social Construction of the Early Electronic Music Synthesizer«, in: Braun, Hans-Joachim (Hg.): ›I Sing the Body Electric‹. Music and Technology in the 20th Century, Hofheim: Wolke 2000, S. 67-83, hier S. 67, a.d. Engl.: DW. Ebd. Diese Entwicklung wird von Trevor Pinch und Frank Trocco detailliert in Analog Days. The Invention and Impact of the Moog Synthesizer (Cambridge MA: Harvard University Press 2004) beschrieben. Einen Eindruck von der interpretativen Flexibilität der frühen Synthesizer vermittelt die Tatsache, dass bis zur erfolgreichen Vermarktung des Minimoogs Anfang der 1970er Jahre keine Klarheit darüber herrschte, ob ein Synthesizer ein Tasteninstrument sein sollte oder nicht.

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telns, Improvisierens und Experimentierens. Die Protagonist*innen der sozialen Konstruktion von Technologie entdecken neue Möglichkeiten zur Klangerzeugung in den Defekten gegebener Unterhaltungs- und Musikelektronik. Eines der nachhaltig wirksamsten Beispiele aus diesem Bereich ist die Verwendung von Verzerrungen und Rückkopplungen der elektrischen Gitarren und Verstärker, die seit den 1950er Jahren zu einer unüberschaubaren (und unüberhörbaren) Vielzahl von Experimenten und Innovationen geführt hat. Was einmal als unvorhergesehener Defekt der Audiotechnik begann, hat unzählige Modelle von Verstärkern und Verzerrern sowie Spieltechniken hervorgebracht. Ein ebenso wirkmächtiges Beispiel für die Umnutzung von Technologien ist die Verwendung von Plattenspielern als Instrument zur Manipulation von Tonträgern und nicht als das bloße Abspielgerät, als das sie ursprünglich intendiert waren. Caleb Kelly hat in Cracked Media drei Modi dieser Umnutzung unterschieden: »manipulated«, »cracked« und »broken«. Die Manipulation erforscht die Möglichkeiten von Geräten oder Medien, die nicht ihrer ursprünglich intendierten Nutzung entsprechen; ein crack (Riss, Sprung, Knackser etc.) hinterlässt dauerhafte Spuren oder Beschädigungen und bringt Technologien an ihre Grenze, ohne ihre Funktion gänzlich zu beeinträchtigen; während ihre Zerstörung ein einmaliges Schallereignis hervorruft, das unwiederholbar den Moment markiert, an dem ein Medium, Abspielgerät oder Instrument ›zerbricht‹.29 In den letzten Jahrzehnten hat sich gerade im Bereich der elektronischen Klangerzeugung eine Grauzone gebildet, in der sich ein selbstbewusster Dilettantismus der Manipulation massengefertigter Musikelektronik (das sogenannte circuit bending), semiprofessionelles Ingenieurshandwerk im analogen und digitalen Bereich (hardware hacking, die Maker-Szene und Open-Source-Software) und professionelles Design mehr oder weniger auf Augenhöhe begegnen und austauschen.30 Die zweite Achse ergibt sich aus der Logik des technologischen Fortschritts unter kapitalistischen Bedingungen. Während in den 1950er und 60er Jahren die Produktionsmittel für elektronische Musik aufgrund ihrer exorbitanten Kostspieligkeit einem vergleichsweise kleinen Kreis von Spezialist*innen vorbehalten blieben, sollten sich die finanziellen Zugangsvoraussetzungen für experimentelle Klanggestaltung in den folgenden Jahrzehnten zusehends demokratisieren. Mitte der 60er Jahre ließ sich die Anschaffung eines Modularsynthesizers mit der Investition in ein eigenes Haus vergleichen, Anfang der 70er entsprach diese Relation der zwischen einem Minimoog Model D und einem Neuwagen, und zu Beginn

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Vgl. Kelly, Caleb: Cracked Media. The Sound of Malfunction, London/Cambridge MA: MIT Press 2009, S. 32-36. Diese verschiedenen Ansätze werden u.a. von Nicolas Collins (Handmade Electronic Music, New York/London: Routledge 2009) und Reed Ghazala (Circuit Bending, Indianapolis: Wiley Publishing 2005) ausgiebig behandelt.

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der 80er hatte sich dieses Verhältnis auf die Entscheidung zwischen dem Kauf einer Gitarre oder eines Keyboard-Synthesizers verschoben. Ab den 70ern ermöglichte es die Audiokassette, die eigene Musik dezentral und ohne Rückgriff auf die Infrastruktur von Major-Labels oder Presswerken zu verbreiten. Unabhängige Plattenfirmen veröffentlichten Musik, die nicht den Geschmack des Mainstreams bediente, während in Eigenregie hergestellte Zeitschriften, deren Produktionskosten durch Fotokopierer allgemein erschwinglich waren, eine Gegenöffentlichkeit zu den etablierten und von Anzeigenkund*innen abhängigen Musikzeitschriften aufbauten. Heute hat jede Person, die sich einen Computer und einen Internetanschluss leisten kann, Zugriff auf ein unüberschaubares Archiv von Aufnahmen und auf Möglichkeiten der Schallmanipulation, die die technologischen Gegebenheiten der analogen Ära weit in den Schatten stellen. Auf ähnliche Weise haben sich die Produktions- und Distributionsmöglichkeiten von Musik verändert. Experimentelle und abseitige Genres, die unter den Bedingungen der Musikindustrie niemals veröffentlicht worden wären, haben seit Jahrzehnten in verschiedenen DIY- und Underground-Communitys eigene Vertriebsmöglichkeiten gefunden. Die Kassetten- und Mail-Art-Netzwerke der 70er und 80er Jahre nahmen dabei einige der Strukturen, die heute für das Internet typisch sind, in der analogen Ära vorweg: eine internationale und dezentrale Vernetzung von Individuen, in der die Trennung zwischen Produzent*innen und Konsument*innen weitestgehend aufgehoben wurde und in der die Vervielfältigung einer Veröffentlichung keine großen finanziellen Hürden mehr mit sich bringt.31 Von mindestens ebenso großer Wichtigkeit für die Genese von Noise wie die technologischen Fortschritte des 20. Jahrhunderts waren jene politischen, sozialen und künstlerischen Entwicklungen, die sich in diesem Zeitraum als Sub- oder Gegenkulturen manifestiert haben. In diesen untergründigen Strömungen wurde eine Gleichzeitigkeit von Ästhetik und Politik erprobt, die den soziokulturellen Mainstream aus verschiedenen Stoßrichtungen radikal in Frage stellte. Noise kann, was seine ›Genre-Ideologie‹ angeht, als eine Weiterführung von Punk und Industrial betrachtet werden, an deren Ästhetik es historisch unmittelbar anschloss. Das ästhetische Projekt von Punk hat Jon Savage, selbst Protagonist der britischen Punkbewegung, Anfang der 90er Jahre so zusammengefasst: »Punk war eine internationale Außenseiter-Ästhetik: dunkel, entfremdet, fremd, voll schwarzen Humors. Er breitete sich 1975 von den Vereinigten Staaten über

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Die Distribution von Audioinhalten ist online nahezu kostenlos, die Veröffentlichung auf Kassette (ein traditionelles Lieblingsmedium der Noise-Szene) bietet den Vorteil, die Auflage jeweils anpassen und ihre Verpackungen individuell gestalten zu können. Einen Überblick über die Bedeutung der Audiokassette in den frühen Tagen von Noise und ihr Revival seit den 2000er Jahren gibt David Novak in Japanoise, S. 198-226.

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Großbritannien und Frankreich nach Europa, Japan und Australien aus. […] Indem man zum Alptraum wurde, konnte man seinen eigenen Träumen begegnen.«32 Es lassen sich einige verbindende Elemente zwischen Punk und Noise aufzählen: die selbstbewusste Verwendung einer abwertenden Bezeichnung als Eigenname und Emblem, die Absage an Virtuosität, die Minimierung von Zugangsvoraussetzungen als Weg zu einem eigenen Ausdruck, eine negativistische Haltung gegenüber allem, was der ›gesunde Menschenverstand‹ als schön, harmonisch oder ›ästhetisch‹ bezeichnet. In einem kurzen historischen Zeitfenster gelang es Punk, einen Spannungszustand zwischen widersprüchlichen Positionen aufzubauen; zwischen Obskurität und Vermarktbarkeit, zwischen Nihilismus und utopischer Revolte, zwischen der Zerstörung von Rock und dessen Wiedergeburt. Die von Punk aufgeworfenen Widersprüche haben in den letzten 40 Jahren eine unüberschaubare Masse an Literatur produziert, sodass die musikhistorische, soziologische, politische und ökonomische Aufarbeitung dieses Genres als weitestgehend abgeschlossen betrachtet werden kann.33 Als Bindeglied zwischen Punk und Noise lässt sich die Industrial-Szene der späten 70er und frühen 80er Jahre bestimmen. Savage hat 1983 die Charakteristika dieser Bewegung zu einer Art Checkliste kondensiert. Die von ihm genannten Punkte umfassen »organisatorische Autonomie« (Aufbau eigener Studios, Plattenfirmen und Vertriebsstrukturen), die »Verwendung von Synthesizern und AntiMusik« sowie »außermusikalischen Elementen« (Performancekunst, Film und Video) und »Schock-Taktiken« (echte und simulierte Gewalt gegen sich selbst und das Publikum, öffentliche Darstellung von Sexualität, Übernahme von Techniken der Performance-Art).34 Industrial übernahm die Aggressivität und den Primitivismus von Punk, während die stilistischen Verbindungen zur Rockmusik weitestgehend gekappt wurden, um elektronische Klangerzeugung und experimentelle Techniken in das ästhetische Arsenal der Bewegung zu übernehmen. Von seinen Stilistiken her war Industrial nicht weit von Noise entfernt, auch wenn hier noch einige musikalische Elemente, insbesondere Rhythmik und verständlicher Gesang, im Vordergrund standen. Als einen für Industrial zentralen Begriff haben einige Autor*innen die Transgression herausgearbeitet, wobei gleichermaßen ästhetische wie moralische Grenzen überschritten wurden:

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Savage, Jon: England’s Dreaming. Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock, Berlin: Edition Tiamat 2001, S. 10. Es lassen sich zwei wichtige Bücher nennen, in denen die dem Punk immanenten Widersprüche, etwa derjenige zwischen dem Wunsch nach Zerstörung ›von allem‹ bei gleichzeitiger Existenz als Popstar/Produkt der Kulturindustrie oder der zwischen Nihilismus und bestimmter Negation mit revolutionärem Anspruch, eindrücklich behandelt werden: das bereits zitierte England’s Dreaming von Jon Savage und Lipstick Traces von Greil Marcus. Vgl. Vale, V./Juno, Andrea: Industrial Culture Handbook, San Francisco: Re/Search 1983, S. 5.

2 Noise: Das Ende der Musik

»Die Verbindung von akustischer und sozialer Transgression unterstreicht den herausfordernden und schockierenden Status, den Noise innehat. Dies war insbesondere bei Noise-Subgenres wie Industrial […], Power Electronics […] und Harsh Noise […] der Fall. Verstörende Klanglandschaften, polternde Bässe, sirrende Elektronik, kreischende Rückkopplungen und extreme Frequenzen und/oder Lautstärken werden mit gewalttätigen, blutigen, faschistischen, okkulten oder sexuellen Bildwelten verbunden. […] In dieser Hinsicht ist Noiseals-Überschreitung häufig mit einem ästhetischen Amoralismus verbunden.«35 Die Negativitätsästhetik von Punk und Industrial wurde von Noise aufgenommen und weitergeführt, wobei zugleich eine Reduktion und eine Maximierung einiger Elemente erfolgte. Der gemeinschaftsstiftende Aspekt mehr oder weniger tanzbarer Rhythmen verschwand ebenso wie verständliche Texte oder Parolen, während die antimusikalischen Tendenzen zunehmend mehr Raum einnahmen, bis sie denselben buchstäblich ausfüllten:36 Die Über- bzw. Unterschreitung der ästhetischen Parameter und politischen Ansprüche von Genres, die als Protestmusik charakterisiert werden können, hat Toth in Bezug auf Noise als Dekonstruktion ebendieser Parameter charakterisiert: »Noise-Musik in ihrer kompromisslosesten Form unterscheidet sich von anderen widerständigen Genres wie Punk, New Wave, Hardcore oder Dark Metal. In diesen Musikstilen bildet die Stimme, der Logos als Wahrheit, den idealen Ort eines Sprachrohrs der Politischen, indem sie geltend macht, die Wahrheit über die Situation des Publikums auszusprechen. Noise verfolgt keine Ansprüche dieser Art, es ist eine radikale Dekonstruktion des Status von Künstler*innen, Publikum und Musik.«37 Um Noise produzieren zu können, bedarf es nicht einmal minimaler musikalischer Kenntnisse, Fähigkeiten oder Talente. Ausschlaggebend ist die Motivation, die Möglichkeiten der zur Verfügung stehenden Elemente, Technologien und Klangerzeuger auszureizen, sie an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit zu bringen und ›gegen die Gebrauchsanweisung‹ zu verwenden. Die ersten Personen, die ihre spezifische Produktion von Lärm-als-Musik (oder umgekehrt) mit der Genrebezeichnung Noise versahen, fanden sich im Japan der 1980er Jahre. David 35 36

37

M. Thompson, Beyond Unwanted Sound, S. 140, a.d. Engl.: DW. Diese Entwicklung lässt sich exemplarisch in der Diskografie von Merzbow nachvollziehen. Die 50 CDs umfassende Sammlung Merzbox umspannt einen Zeitraum von 1980 bis 2000. Während einige Stücke aus den 80er Jahren wie etwa Mechanization Takes Command noch musikalische Elemente, z.B. deutlich erkennbare Rhythmen, aufweisen, lässt sich in darauffolgenden Veröffentlichungen eine fortschreitende Reduktion dieser Elemente feststellen, die ab den 90er Jahren in kompromisslose Lärmkompositionen übergehen. C. Toth, »Noise Theory«, S. 27, a.d. Engl.: DW.

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Grenzen des Hörens

Novak hat in seinem Buch Japanoise diese Entwicklung detailliert nachgezeichnet. Über die Wahl von Noise als Bezeichnung für die eigene Praxis schreibt er: »[D]ie Übernahme des englischsprachigen Noise, transliteriert als Noizu, erlaubte es japanischen Performer*innen, die Universalität ihrer Arbeit zu unterstreichen. Es gibt eine Anzahl spezifischer japanischer Begriffe für Lärm, Geräusche oder störende Situationen – sô-on, zatsuon, nigiyaka, urusai und andere –, die anstelle von ›Noizu‹ hätten verwendet werden können. Aber ein japanischer Name hätte einen japanischen Produktionskontext impliziert, während das japanische Lehnwort das Genre in einem breiter angelegten Umlauf hielt.«38 Diese Namensgebung verweist nicht nur auf eine Abgrenzung vom eigenen kulturellen Hintergrund oder auf den Versuch, jenseits der eigenen Landesgrenzen wahrgenommen zu werden, sie deutet auch auf ein spezifisches Problem der Übersetzung in der japanischen Sprache hin. In einer Fußnote beschreibt Novak diese Schwierigkeit so: »Die Konzepte ›Noise‹ und ›Musik‹ stellen in der japanischen Taxonomie des Schalls* keine Opposition dar, […] sô-on (Noise) und ongaku (Musik) haben beide dieselbe Wurzel für Schall (on). Die Verwendung von ›Noizu‹ ermöglichte eine Unterscheidung von ›Musik‹, die in der japanischen linguistischen Taxonomie von ›Schall‹ nicht möglich ist.«39 Was japanischen Noise in seiner Entstehung ausgezeichnet hat, war ein eklektischer Zugriff auf andere musikalische Formen und Genres, die von seinen Protagonist*innen hauptsächlich unter Gesichtspunkten des Marginalen, Fremdartigen und Extremen ausgewählt wurden. Die diversen Stränge einer Genealogie der musikalischen Grenzverschiebungen des 20. Jahrhunderts wurden in den Zentren des japanischen Noise (in der Hauptsache Tokio, Kyoto und Osaka) zu einem neuen Knotenpunkt verflochten. Noise speiste sich gleichermaßen aus Free Jazz und freier Improvisation, elektronischer Musik, Progressive Rock und Metal, Punk und Industrial. In free spaces – einer Mischung aus informellen Kulturzentren und Clubs – wurden experimentelle Formen des Musikkonsums erprobt. »Man hörte nicht per se ›experimentelle Musik‹, vielmehr wurde experimentell gehört.«40 Entscheidend für diese Experimente war die Selektion des Materials. Hiroshige Jojo, Gitarrist der Noise-Band Hijokaidan, hat den Modus dieser Auswahl wie folgt beschrieben: 38 39

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D. Novak : Japanoise, S. 130, a.d. Engl.: DW. Ebd., S. 248, a.d. Engl.: DW. – * Im Original sound, was auch als (musikalischer) ›Klang‹ übersetzt werden könnte. Die neutrale und umfassendere Bedeutung ›Schall‹ ist an dieser Stelle wahrscheinlicher. Zu den Schwierigkeiten der Übersetzung von sound vgl. Kapitel 5 dieser Arbeit. Ebd., S. 105, a.d. Engl.: DW.

2 Noise: Das Ende der Musik

»Ich liebte den Moment, wenn Jimi Hendrix seine Gitarre zerschmetterte – aber der Rest seiner Musik ist so normal. Ich wollte nur die ›Hochspannungsszenen‹ spielen. Ich machte ein Tonband von all diesen Momenten, den Geräuschen zerbrechender Gitarren, alle auf einer Kassette zusammengeschnitten.«41 Die Möglichkeiten, Noise hervorzubringen, sind vielfältig. Sie reichen von den klassischen Instrumenten und Besetzungen einer Rockband über die elektrisch verstärkte Zerstörung von Einrichtungsgegenständen und die Verwendung von Baumaschinen bis zu elektronischen Aufbauten, die wissenschaftlichen Versuchsanordnungen gleichen. Die verwendete Elektronik kann von Laptops mit entsprechender Software bis zu selbstgelöteten Rauschgeneratoren oder Mischformen all dieser Ansätze reichen. Innerhalb des Spektrums dieser in viele Richtungen ausufernden Experimente hat sich eine Spielart herausgebildet, die heute die paradoxe Gestalt einer klassischen oder ›orthodoxen‹ Noise-Produktion angenommen hat. Für diese Technik, sowohl im Sinne einer Spieltechnik als auch synonym für die verwendeten technischen Geräte, sind Rückkopplungsschleifen charakteristisch. Novak hat diese Feedbackloops zur zentralen Metapher in seiner Noise-Theorie gemacht und ihre Funktionsweisen detailliert beschrieben. Nicht nur waren kulturelle Rückkopplungen zwischen verschiedenen Stilen, Szenen, Kulturen und Kontinenten für die Genese von Noise ausschlaggebend, die Rückkopplung im Audiobereich ist der basale und zentrale Baustein in den klassischen Noise-Setups. Der simpelste Weg, eine solches System zu erzeugen, ist die Verbindung von Ausgang und Eingang eines Verstärkers oder Mischpults. Das System schaukelt sich bis zu dem Punkt der Selbsterregung auf und es entsteht ein charakteristisches pfeifendes Geräusch. Mehrere dieser Schleifen lassen sich miteinander kombinieren oder durch verschiedene Effektgeräte manipulieren, das hörbare Ergebnis solcher Verschaltungen ergibt chaotische und kaum kontrollierbare Audiogebilde. »Ein klassisches Noise-Setup besteht aus einem Aufbau miteinander verschalteter Unterhaltungselektronik-Elemente*, oftmals einer Gruppierung kleiner Gitarreneffektgeräte, die durch ein Mischpult verbunden sind«;42 dabei wird »Feedback nicht durch eine lineare Kette von Ursachen und Wirkungen gebildet«, vielmehr ist es Resultat »einer Schleife, die Sound durch die Wechselwirkungen aller einzelnen Effektgeräte generiert. Eine Veränderung eines einzelnen Effekts verändert den gesamten Energiekreislauf durch das System.«43 Novak weist darauf hin, dass in einem typischen Noise-Setup Geräte zu einer Generierung von Schall eingesetzt werden, die ihrem ursprünglichen Design nach für dessen Manipulation entworfen wurden – das Equipment wird also ›gegen die Gebrauchsanweisung‹ verwendet. Auch wenn Noise-Musiker*innen oder noisicians 41 42 43

Ebd., S. 177, a.d. Engl.: DW. Ebd., S. 141, a.d. Engl.: DW. – * Im Original »consumer electronics«. Ebd., S. 143, a.d. Engl.: DW.

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Grenzen des Hörens

eine intime Kenntnis der von ihnen verwendeten Systeme entwickeln können, bleiben die Vorgänge innerhalb der Setups undurchschaubar und unvorhersehbar, sie verhalten sich ähnlich wie die Blackboxes der Nachrichtentechnik. Das Innenleben des Geräts bleibt unbekannt, es lassen sich nur Relationen von Ein- und Ausgangssignal feststellen (wobei im Falle eines Feedbackloops faktisch auch das Eingangssignal wegfällt). Dieser simple Umstand, der auf die meisten alltäglichen und unter Umständen auch musikalischen Verwendungen von elektronischen Geräten zutrifft, wird im Noise zur eigentlichen ›musikalischen‹ Technik. Der persönliche oder künstlerische Ausdruck von Noise-Performer*innen zeigt sich weniger in der Kontrolle über ihre Instrumente als in einem Kampf mit denselben. Im Gegensatz zu der stabilisierenden auditiven und taktilen Rückkopplung zwischen Musiker*innen und deren Instrumenten, die sich entlang der Grenzen von Material und Talent bewegt, geschieht hier eine Entgrenzung von beiden. »Persönlicher Ausdruck wird im Konflikt mit dem System umgesetzt, in einem Prozess, den japanische Künstler[innen] als ›außer Kontrolle‹ (bôsô suru) bezeichnen. Dies ist kein Verhältnis, das eine ausgewogene Klangumgebung produziert. […] Noisicians bemühen sich vorsätzlich, ihr Instrument nicht zur Selbstdarstellung zu verwenden. Um ihren eigenen Kontrollverlust als gebieterische menschliche Subjekte performen zu können, dürfen sie ihre Systeme nicht vollständig erlernen. Hierin weicht die techne des Noise-Feedbacks von der Epistemologie musikalischer Intentionalität ab. Die Techniken und Methoden von Noise sehen von Selbstausdruck ab, sehen sogar von so dehnbaren Konstrukten wie Improvisation und Experimentalklang ab. Noise ist mehr als nur unbestimmt: Es ist außer Kontrolle.«44 Was in den 80er Jahren noch als eine von den Massenmedien ignorierte Subkultur funktionierte, die sich mehr in einem internationalen Austausch zwischen verstreuten Einzelpersonen zwischen Japan, Europa und den USA organisierte, als dass sie größere Zusammenschlüsse an einem Ort hervorbrachte, sollte in den 90er Jahren einen vergleichsweise immensen Popularitätsschub erhalten. Die Aufmerksamkeit, die japanische Noise-Produktionen im Ausland erregten, strahlte zurück an ihren Ursprungsort, führte dort zu einer Konsolidierung des Genres und damit wiederum zu verstärkter Beachtung außerhalb Japans – eine kulturelle Rückkopplung, ein sich selbst verstärkendes System. Anfang der 90er Jahre geriet Japan in eine Wirtschaftskrise, das Platzen der Bubble Economy der 80er zog das Land in eine Deflationsspirale. In dieser Situation entdeckten die japanischen Medien die Noise-Subkultur und begannen über sie zu berichten. Noise wurde zum Soundtrack einer auseinanderbrechenden Gesellschaftsordnung:

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Ebd., S. 159, a.d. Engl.: DW.

2 Noise: Das Ende der Musik

»Die sozial zurückgezogenen Fälle von hikikomori (Eingeschlossene, die sich völlig vom öffentlichen Leben absondern) waren kennzeichnend für eine demoralisierte und fragmentierte Kultur, deren technologischer Solipsismus davon zeugte, dass die japanische Modernisierung höchstwahrscheinlich in eine Sackgasse geraten war. […] Die moralische Panik angesichts des Zustands der japanischen Gesellschaft bildete sich ab in Zyklen rezessionsbedingten Niedergangs, in denen auf die sozioökonomische Gewalt ungezügelter neoliberaler Spekulation jeweils Zusammenbruch und anschließende Rettungsaktionen folgten […]. Angesichts dieses endzeitlichen Moments der Jahrtausendwende ist es nicht überraschend, dass die kurze und traurige Berühmtheit von Noise in Japan ihren Höhepunkt gegen Ende der 1990er Jahre erreichte. Dies war ein Japan, in dem Noise endlich Sinn machte. […] Mitte der 90er Jahre nahm der Hype um Japanoise furiose Ausmaße an.«45 Für eine kurze Zeitspanne war Noise Gegenstand eines Hype-Zyklus und wies die Merkmale des entsprechenden Kurvenverlaufs medialer Beachtung mit mathematischer Präzision auf: ein Ansteigen der Aufmerksamkeit bis zu einem Gipfel der überzogenen Erwartungen, dem unweigerlich ein Abflauen derselben bis in das ›Tal der Enttäuschung‹ folgte.46 Noise konnte die Erwartung an ein neues, extremes und kompromissloses Genre nur für die Dauer eines Schocks erfüllen; sobald das Erschrecken nachließ, stellten sich Gewöhnung und Überdruss ein. Dieser Prozess lässt sich symptomatisch an einigen Plattenkritiken ablesen, die Martin Büsser während der 90er Jahre in der Anthologie zu Popgeschichte und -theorie Testcard veröffentlichte. Aus einer 1995 veröffentlichten Merzbow-Rezension lässt sich noch einiges an Begeisterung herauslesen. »Man könnte ›Venerology‹ mit ›eine weitere Lärmplatte‹ abtun, wäre sie nicht so extrem verdichtet, so kompromißlos verzerrt, daß sie einen Großteil des bisherigen Merzbow-Œuvres komprimiert in sich faßt. […] Sein Lärm bleibt kompromißlos abweisend, schmerzhaft ohne irgendwelche Abfederungen […]. ›Venerology‹ ist eine Apokalypse, eine Art Endpunkt.«47 Von einem solchen Endpunkt aus ist kein Weiterkommen, die ästhetische Sackgasse lässt kaum eine andere Bewegung als die Umkehr zu. Ein Jahr und einige NoiseVeröffentlichungen später sprach aus Büssers Rezensionen ein gewisser Unwille:

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Ebd., S. 189, a.d. Engl.: DW. Die Begrifflichkeit und Formalisierung des Hype-Zyklus wurde Mitte der 90er Jahre von der Technikberaterin Jackie Fenn geprägt (vgl. Fenn, Jackie: Mastering the Hype Cycle, Cambridge MA: Harvard Business Press 2008). Büsser, Martin: Rezension zu Merzbow: Venerology, in: Testcard #1: Pop und Destruktion, Mainz: Testcard-Verlag 1995, S. 263.

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Grenzen des Hörens

»Man kann sich ärgern, daß Akita aka Merzbow auf einer einzigen Welle reitet und also all seine Platten ständig gleich klingen […], aber das hat natürlich alles Konzept, das ist (Vorsicht Zeigefinger!) Kunst. […] Die Aneinanderreihung des Immergleichen macht musikalisch keinen Sinn, höchstens als Konzeptkunst […], was dann aber wirklich nur noch für Galeristen und Sammler von Interesse ist.«48 Und schließlich, in einer Art Rückschau auf die Geschichte von japanischem Noise im Jahr 2007 und anlässlich der Wiederveröffentlichung eines frühen HijokaidanAlbums, wird das Problem der Sackgasse in Verbindung mit einer stetig anwachsenden Masse von Noise-Produkten, die keine Anstalten machen, aus ihrer ästhetischen Nische herauszutreten, von Büsser so dargestellt: »Ein allumfassendes Auskotzen, das in Gitarrenkakophonien, Feedback und quäkendem Saxophon ungezügelt um sich schlägt und im Laufe der Jahre immer radikaler, nämlich lärmiger wurde, je besser die lärmerzeugenden Gerätschaften in Bezug auf ihre Technik wurden. Und natürlich spiegelt die Entwicklung von Hijokaidan von einer Lärm-Kapelle zu einer Ultra-Lärm-Kapelle, die nach wie vor davon träumt, einmal eine Ultra-Ultra-Lärmkapelle zu werden, etwas vom Überbietungszwang wider, der die ganze Japan-Noise-Entwicklung kennzeichnet und leider ab einem gewissen Punkt auch hat redundant werden lassen. Historisch bedeutsam ist das, was uns dieses Reissue bietet, allemal, doch es ist ein Zeugnis der frühen Vollendung eines ›Stils‹, der nicht noch achthundert Merzbow-Masonnaetc-Veröffentlichungen nach sich hätte ziehen müssen. Die größtmögliche LärmVerdichtung nämlich ruft keinen Schock oder in irgendeiner Form intensive Empfindungen mehr hervor, sondern gerinnt zum bloßen Gimmick, zum SammlerApercu [sic].«49

2.2

Taxonomie und Topografie

Auf dem Feld der Musikkritik und der Genese von Genres der populären Musik lässt sich Noise relativ trennscharf einordnen – eine Gattung, die sich entwickelt hat, den Zenit ihrer ästhetischen Potenziale erreichte und sich als abgeschlossene Einheit oder katalogisiertes Fossil in den Stammbäumen der Musikgeschichte einordnen lässt. Was aber, wenn die Historie eines Genres sich nicht einfach linear nachzeichnen lässt; wenn de facto so viele Stammbäume ineinanderwuchern, dass sich eine andere Struktur ergibt, die sich mehr in der Form eines Geflechts 48 49

Ders.: Rezension zu Merzbow: Locomotive Breath, in: Testcard #3: Sound, Oppenheim: TestcardVerlag 1996, S. 281. Ders.: Rezension zu Hijokaidan: 2nd Damaskus/Zouroku no kibyou, in: Testcard #16: Extremismus, Mainz: Ventil Verlag 2007, S. 220.

2 Noise: Das Ende der Musik

abzeichnet? In einem solchen Fall ist es nicht mehr hilfreich, den familiären Verzweigungen der betreffenden Genealogie linear auf der Zeitachse nachzugehen. Vielmehr muss eine Karte gezeichnet werden, die die räumlichen Verästelungen des Geflechts grafisch darstellt. Dieses Konzept einer verflochtenen räumlichen Ausdehnung ohne festen Ursprung und ohne Zielpunkt findet sich in Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Tausend Plateaus. In der Figur des Rhizoms entdecken die Autoren eine Anordnung, die sich dem ›Baum-Modell‹ der okzidentalen Wissensorganisation entzieht: »Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie.«50 Für Deleuze und Guattari ist das Rhizom etwas, das radikal mit dem Bild des Baumes und des Stammes bricht. Wissen, Geschichte und Denken lassen sich für sie nicht linear nachzeichnen, ihre räumliche Ausdehnung muss kartografiert werden: »Die Karte ist offen, sie kann in all ihren Dimensionen verbunden, zerlegt und umgekehrt werden, sie kann ständig neue Veränderungen aufnehmen. Man kann sie zerreißen oder umkehren; sie kann sich Montagen aller Art anpassen; sie kann von einem Individuum, einer Gruppe, einer gesellschaftlichen Organisation angelegt werden.«51 Wie aber lässt sich das Terrain fassen, das hier kartografiert werden soll? Ein musikalisches Genre mit seinen Anknüpfungspunkten an die Musik- und Technikgeschichte, an soziale Strukturen, an Makro- und Mikropolitik ist in seiner Beschreibung immer auch in einen metaphorischen Bezugsrahmen eingelassen: Schon begrifflich verweisen Genre und Gattung unwillkürlich auf biologische Bezüge: etwas, das sich in einer Taxonomie fassen lässt, ein natürlicher Stammbaum der Entwicklung der Arten. Das Bild einer solchen quasi naturwüchsigen Musikgeschichte beinhaltet die Gefahr, seinen Gegenstand zu verfehlen und ein Dickicht von Bezügen mit dem Gefüge zu verwechseln, das eigentlich beschrieben werden soll – entlang einer biologischen Metapher, die suggeriert, dass eine bestimmte Entwicklung determiniert sei; dass sie nur so und nicht anders habe verlaufen können –, und verliert damit die Kontingenz sozialer und ästhetischer Entwicklungen aus dem Blick.52 Statt der Verwendung von biologischen Metaphern und ihrer suggestiven Wirkung hinsichtlich der Stringenz, Determiniertheit und Unausweichlichkeit von (musik-)historischen Entwicklungen soll hier eher das Konzept der Karte aus einer politischen, geografischen oder geopolitischen Perspektive Anwendung finden. Was die Karte nachzeichnen soll, ist das Modell eines sozialen oder ästhetischen Terrains, das unterschiedlich besetzt werden kann, indem zum einen 50 51 52

G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 21. Ebd., S. 24. Die Idee des Rhizoms bei Deleuze und Guattari ist natürlich selbst eine biologische Metapher: ein Wurzelgeflecht, der Bau eines Tieres, die ›Orchidee und die Wespe‹ (vgl. ebd., S. 23).

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Grenzen des Hörens

verschiedene Areale oder Territorien abgegrenzt werden, deren Grenzen zum anderen aber durchlässig gemacht oder überschritten werden können; ein Feld also, das von einer komplexen Dynamik der Bewegungen durchzogen ist, aus der sich Abspaltungen, Zusammenschlüsse, Fragmentierungen und Defragmentierungen ergeben. Einen Hinweis darauf, wie sich ein solches Modell einer sozioästhetischen Kartografie auf die Problematik musikalischer Genres und speziell auf Noise beziehen lässt, gibt ein Abschnitt aus Ray Brassiers 2009 erschienenem Text Genre Is Obsolete: »›Noise‹ ist zu einem zweckmäßigen Namen für eine zusammengewürfelte Reihe von akustischen Praktiken geworden – akademischen, künstlerischen und gegenkulturellen –, die jenseits einer vordergründigen Widerspenstigkeit gegenüber den Konventionen, welche die klassische und populäre Musik beherrschen, wenig miteinander gemein haben. ›Noise‹ bezeichnet nicht bloß das Niemandsland zwischen elektroakustischen Forschungen, freier Improvisation, Avantgardeexperimenten und Sound Art; interessanterweise bezieht es sich auch auf anomale Zonen der Interferenz zwischen Genres: zwischen Post-Punk und Free Jazz; zwischen Musique concrète und Folk; zwischen stochastischer Komposition und Art brut. Indem der Name aber benutzt wird, um alle Formen akustischen Experimentierens zu beschreiben, die vordergründig einer musikwissenschaftlichen Definition trotzen – seien sie nun paramusikalisch, antimusikalisch oder postmusikalisch –, ist ›Noise‹ zu einem allgemeinen Etikett geworden, von dem angenommen wird, es würde etablierte Genres subvertieren.«53 Brassier spricht von Noise als einer »nominellen Anomalie«54 – es ist ein Genre, das selbst die Negation des Genrebegriffs prädiziert, es nimmt in der Kartografie der musikalischen Gattungen den Platz des Niemandslandes ein. Das Niemandsland ist ein Gebiet, auf das keiner Anspruch erhebt oder das durch konkurrierende und sich gegenseitig aufhebende Ansprüche für einen Moment unbeherrscht ist.55 Im übertragenen Sinne kann das Wort auch für ein unwirtliches Areal verwendet werden, in einem architektonisch-urbanen Kontext z.B. eine Brachfläche (ein der städtischen Verwertungslogik zeitweilig entzogenes Areal, das sich alternativen Nutzungen anbietet, die offiziell nicht vorgesehen sind: als Schlafplatz, als Ort für Spiele, Begegnungen, Drogenkonsum oder als Müllhalde). Im engeren Sinne bezieht sich der Begriff des Niemandslandes auf staatsrechtlich herren-

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Brassier, Ray: »Genre Is Obsolete«, in: Iles/Mattin (Hg.): Noise & Capitalism, S. 60-71, hier S. 62, a.d. Engl.: DW. Ebd. Im Gegensatz zu den commons, der Allmende oder dem Gemeingut, das ›allen gehört‹ (vgl. Marx, Karl: Das Kapital, 1. Bd., in: MEW, Bd. 23, Berlin: Dietz 1962, S. 752 f.). Das Niemandsland ist für gewöhnlich ein Terrain, das nicht genutzt wird oder werden kann.

2 Noise: Das Ende der Musik

lose Zonen, etwa ein Territorium zwischen den Frontlinien eines Schlachtfelds. Als juristischer Begriff wurde die terra nullius (ein Niemandsland in dem Sinne, dass kein Rechtssubjekt bisher darauf Anspruch erhoben hatte) im 18. Jahrhundert zur Rechtsgrundlage für die Kolonisation.56 Das Niemandsland liegt zwischen den Fronten, es ist ein umkämpftes Gebiet oder der Schauplatz eines Konflikts. Es ist der übrig gebliebene Zwischenraum, der sich ergibt, wenn die Grenzen zwischen verschiedenen Formen starr geworden sind, und es ist dasjenige, was sich nicht eindeutig dem einen oder anderen Territorium zuschlagen lässt: keine elektroakustische Forschung, weder ein musikalisches Avantgardeexperiment noch Sound Art. Das Niemandsland wird so zu einer Figur des ausschließenden Einschlusses, es bildet einen Zwischenraum (das inter- zwischen etablierten Genres) und ein Gebiet, in das man nicht ohne Risiko von dem einen oder anderen ›Außenbereich‹ (Musique concrète, Free Jazz etc.) hinüberwechseln kann. Die militärischen Metaphern von Fronten, Verschanzungen und Territorien, innerhalb derer sich ein Niemandsland bilden kann, stoßen allerdings schnell an die Grenzen ihrer Anwendbarkeit. Nicht nur würden sie einer bestimmten Schnittmenge von Noise- und Industrial-Bands mit einer Faszination für alles Martialische zu sehr das Wort reden, die topografische Karte mit ihren militärischen Ursprüngen selbst bleibt als statische Momentaufnahme eines Territoriums aus der Vogelperspektive ein starres Gebilde. Aber auch auf politischen Karten, die weniger der möglichst genauen Darstellung von Geländeformen als der zumeist farblich abgesetzten Kennzeichnung von Nationalstaaten dienen, gibt es Überschneidungszonen oder schraffierte Flächen, und in der Ambiguität dieser Zonen vollzieht sich ein Übergang von Topografie zu Topologie. Ein Thema topologisch zu organisieren, bietet die Möglichkeit, Schnittmengen zu bilden und zu betrachten, wie es etwa mit den Venn-Diagrammen der Mengenlehre möglich ist. Das einfachste Beispiel für ein solches Diagramm sind zwei Kreise, die sich schneiden. Es lässt sich z.B. auf Genres anwenden, die an der Schnittstelle zweier anderer entstehen, so wie die »anomale Zone der Interferenz zwischen Genres«, von der Brassier spricht.57 Das

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Zur historischen Verwendung der juristischen Fiktion der terra nullius bei der Kolonisierung Australiens vgl. Lindqvist, Sven: Terra Nullius. A Journey through No One’s Land, New York: The New Press 2007. Diese Idee lässt sich auch auf die von Marx beschriebene »sogenannte ursprüngliche Akkumulation« oder auf Landnahme als Einhegung von Gemeingut beziehen (vgl. K. Marx: Das Kapital, 1. Bd., S. 741-791). Im übertragenen Sinne findet eine ›Landnahme‹ bis heute statt, etwa wenn natürliche Ressourcen oder personenbezogene Daten, die zuvor nicht als Waren angesehen wurden, von Unternehmen verwertet werden (zur Verwertung von Daten und Informationen vgl. Zuboff, Shoshana: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt/New York: Campus 2019). Vgl. R. Brassier: »Genre Is Obsolete«, S. 62. Eine Anwendung des Diagramms auf die Stimme als Schnittmenge zwischen Körper und Sprache findet sich beispielsweise in: Dolar, Mladen: His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 100.

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Grenzen des Hörens

Bild des Niemandslandes, wie es von Brassier skizziert wird, kann so als Schnittmenge verschiedener Definitionen betrachtet werden; eine Relation, innerhalb derer Noise zu einer überdeterminierten Zone wird, in der sich die Charakteristika von elektroakustischer Forschung, freier Improvisation etc. überschneiden und die die traditionellen Grenzziehungen in Frage stellt.58 Die Bezeichnung von Noise als Niemandsland in der Topografie musikalischer Genres wirft dabei einige Probleme auf. Das Versprechen eines herrschaftsfreien und von Fragen der Ökonomie, der medialen Aufmerksamkeit oder der kulturellen Kapitalbildung unberührten Feldes hat sich im Fall von Noise als trügerisch herausgestellt. Die Zurückweisung der Kulturindustrie oder die Etablierung von Strukturen außerhalb des »kommerziellen Bereichs« (Toth59 ) hat im Fall von Noise nicht vor ›Genrefizierung‹ und Hype-Bildung geschützt. Auch aus dem Inkommensurablen lässt sich kulturelles Kapital schlagen. Wenn von Noise als von einem Genre gesprochen werden kann, dann ist es bereits zu einer klassifizierbaren Einheit geronnen. Zwar erweist sich Noise häufig als zu sperrig, um vollständig in die Konsumkreisläufe der Kulturindustrie aufgesogen zu werden, oder aber als zu flüssig, um in die mehr oder weniger starren Raster einer Genreklassifikation gepresst werden zu können. Es hat aber dennoch den Weg aller Genres genommen: Es hat sich ausdifferenziert, es blickt auf eine Geschichte zurück, in der es mehr oder weniger klassische bzw. ›orthodoxe‹ Formen hervorgebracht hat, und es ist zu einem Etikett geworden, das sich anderen musikalischen Formen anheften lässt, um ihnen eine Aura von Kompromisslosigkeit und ästhetischer Radikalität zu verleihen. Der Online-Musikdienst Bandcamp bietet die Möglichkeit, Musik nach Genre-Tags zu sortieren und damit eine gestaffelte Übersicht der Vorlieben seiner Nutzer*innen zu erhalten. Im Juli 2020 findet sich Noise an zehnter Stelle, weniger beliebt als Hip-Hop, Metal, Punk oder ›Experimental‹, aber noch vor Jazz, Techno und Folk.60 Noise ist zugleich ›fest‹ genug, um zu einem Genre geworden zu sein, und ›flüssig‹ genug, um sich mit anderen Gattungen zu verbinden und Hybridformen zu bilden. Ein Hinweis auf die vollzogene ›Genrefizierung‹ einer musikalischen Praxis oder

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Die Grenze ist ein zentraler Begriff für dieses räumliche Verständnis der Verhältnisse zwischen kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Feldern. Noise als eine kulturelle Praxis, die sich bis zu einem gewissen Grad gegen ihre Definition sträubt, wirft Fragen über die Organisation und Eingrenzung dieser Felder auf. Ein topografisches Verständnis der Grenze ermöglicht, auch die Dynamik der Entgrenzung zu denken, ohne in der Logik von Tabubrüchen oder Transgression zu verharren. Die Überwindung solcher Denkmuster spielt in aktuellen Forschungen zu Noise eine zentrale Rolle, vgl. hierzu insbesondere M. Thompson: Beyond Unwanted Sound; C. Malaspina: »The Noise Paradigm«; sowie dies.: An Epistemology of Noise. Ein topologisches Verständnis der Grenze fragt mehr nach Überschneidungen und Schnittmengen als nach starren Definitionen oder Grenzverläufen. Vgl. C. Toth: »Noise Theory«, S. 32. Vgl. https://bandcamp.com/tags, abgerufen 1.7.2020.

2 Noise: Das Ende der Musik

Subkultur ist häufig gerade ihre Ausdifferenzierung in verschiedene Subgenres.61 Heute wird ›klassische‹ Noise-Musik, wie sie in den 90er Jahren in Japan entstand, für gewöhnlich als Harsh Noise bezeichnet, nicht zuletzt um sie von ›weicheren‹ oder durchlässigeren Spielarten abzugrenzen, die sich mit anderen Genres vermischen lassen und außerhalb von subkulturellen Zusammenhängen Anknüpfungspunkte für eine Vermarktung anbieten. Aktuell existieren ebenso viele verschiedene Spielarten von Noise-Rock, wie sich Bindestrichgenres zwischen Noise und Hip-Hop, Noise und Techno etc. gebildet haben. Noise hat sich in verschiedene Richtungen entwickelt, in denen Verfestigung und Auflösung seiner Charakteristika ineinander übergehen. Die Suche nach einer weiteren Radikalisierung, ausgehend von einer bereits ans Extrem rührenden musikalischen Praxis, hat zu einer Erforschung des Stillstands geführt. Eine Tendenz dieses Jenseits von Noise ist das Genre onkyô, in dem die Lautstärke und Ereignisdichte von Noise durch eine Arbeit mit Stille und der Privilegierung von Leerstellen ersetzt wurde.62 2007 wurde diese Entwicklung von Paul Hegarty so beschrieben: »Die Bestimmung des japanischen Noise könnte in der Stille liegen – oder nah daran, in onkyo. Elektronische Musiker[innen] haben, insbesondere in Japan und Europa, angefangen, mit ›kleinen Geräuschen‹ [small sounds] und dem Einsatz von Stille als Element der Komposition zu experimentieren […]. In dieser Musik ist Lautstärke […] ein Werkzeug […]. Sie ist genauso eine Vorrichtung für Noise wie Gitarrenrückkopplungen, selbst dann, wenn es sich statt um eine Anhäufung von Schall, Lautstärke und Geräuschen um Noise als Auflösung und Verflüchtigung handelt.«63 Onkyô entspricht weniger dem Herausschieben einer Grenze oder einer weiteren Überschreitung jenseits derjenigen, die bereits überschritten wurde, als dem Aufspüren einer noch nicht erforschten Zone innerhalb eines Grenzbereichs. Die Verwendung von Lücken, Leerstellen und Stille wendet sich dabei weniger von dem Akt der Transgression ab, als dass sie eine Form der Oszillation um einen Grenzbereich erforscht, in dem die Grenzen des Hörens unter ästhetischen Gesichtspunkten immer wieder aufs Neue befragt werden, ohne zu einem abschließenden Resultat zu gelangen. Ein anderer Ansatz, Noise zu radikalisieren, findet sich in 61

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Metal als eine Art Metagenre ist symptomatisch für diese Entwicklung. Es lassen sich endlos viele Spielarten aufzählen: Heavy Metal, Thrash Metal, Speed Metal, Death Metal, Black Metal etc. Novak notiert zu der Namensgebung dieses Genres: »Dieser aufkommende Stil war eng mit diversen Formen zeitgenössischer improvisierter und experimenteller Musik verbunden, wurde aber schnell unter dem Namen onkyô bekannt, der sich einfach als ›sound‹ [Schall] übersetzen lässt.« Novak, David: »Playing Off Site. The Untranslation of Onkyô«, in: Asian Music 41, 10 (Herbst/Winter 2010), S. 36-59, hier S. 36, a.d. Engl.: DW. P. Hegarty: Noise/Music, S. 148, a.d. Engl.: DW.

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der Praxis des Harsh Noise Wall (HNW). »Harsh Noise Wall hat eine umstrittene Geschichte, teilweise aufgrund des Problems, zu definieren, was es eigentlich ist. In seiner reinsten, traditionellsten Erscheinungsform lässt es sich einfach als eine ›Wand aus statischem Rauschen‹ definieren.«64 Das chaotische und exzessive Element von Harsh Noise wird in HNW zugleich minimiert und maximiert. Die makroskopische Ebene der Geräuschproduktion wird bis zum Nullpunkt verdichtet, es findet keine wie auch immer geartete ›musikalische‹ Bewegung statt. Keine Andeutung eines Tempos, Rhythmus oder tonalen Verlaufs, kein Wechsel von verschiedenen Geräuschebenen unterbricht das zeitliche Verstreichen der statischen Lärmwand. Diese Bewegungslosigkeit bei vergehender Zeit lässt den mikroskopischen Charakter des Rauschens hervortreten.65 Sowohl onkyô als auch HNW bilden in der Genealogie von Noise ästhetische Sackgassen oder dead ends. Sie haben jeweils ein bestimmtes Potenzial zur Geräuschproduktion so weit ausgeschöpft, dass in diesen Richtungen kein weiterer Schritt mehr möglich ist. Diesseits dieser Extreme breitet sich das Feld der endund uferlosen Hybridbildungen von Noise aus, auf dem immer neue rhizomatische Verknüpfungen von Genres, Praktiken, Formen und Stilen stattfinden. »NoiseMusik kann in allen Stilen auftreten, auf alle anderen Genres Bezug nehmen, ähnlich wie dies Science-Fiction tut, aber sie stellt das Genre als Kategorie entschieden in Frage – was bedeutet es, kategorisiert zu werden, kategorisierbar, definierbar zu sein?«66 Diese Frage wurde von Hegarty 2007 aufgeworfen. Zehn Jahre später kam er mit deutlich pessimistischerem Grundton auf das gleiche Spannungsfeld zurück: »Seit dem Beginn des Jahrhunderts findet eine fortschreitende Kommodifizierung von Noise in jeglicher Hinsicht statt – als symbolisches Kapital der Extreme, als Sammlerkapital oder Gedankenkapital. In dem Maße, in dem sich der Konsum von Noise normalisierte, wurde es zu einem Genre, ob uns das gefällt oder nicht. Wo immer man über Noise recherchiert, findet man Leute, die endlos darüber theoretisieren, philosophieren und Unsinn reden. Wie bei jeder Antikunst bedeutet Erfolg Scheitern – und ich meine das nicht auf eine dekonstruktive Weise –, die

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Henry, Clive: »Listening to the Void. Harsh Noise Walls«, in: Wallis, Jennifer (Hg.): Fight Your Own War. Power Electronics and Noise Culture, London: Headpress 2016, S. 138, a.d. Engl.: DW. Rauschen lässt sich physikalisch als Bewegung oberhalb des absoluten Nullpunkts definieren: »[…] das thermische Rauschen: In jedem Material, das sich nicht am absoluten Nullpunkt (-273,15° = 0 Kelvin) befindet, sind die Moleküle in einer dauernden ungeordneten Bewegung begriffen.« (Riedler, Willibald: »Techniken des Nachrichtenrauschens. Serenata per un satellite«, in: S. Sanio (Hg.): Das Rauschen, S. 108) – HNW scheint, was den Bewegungscharakter von Musik angeht, diesen Nullpunkt anzustreben. P. Hegarty: Noise/Music, S. 133, a.d. Engl.: DW.

2 Noise: Das Ende der Musik

Ausbreitung von Noise als Idee in den Mainstream, die Aufmerksamkeit für NoiseMusik, der einfache Zugang zu Aufnahmen, all das bedeutet offensichtlich, dass jegliche radikale Aufladung einer Anpassung weicht. Das sollte uns nicht überraschen: Falls sich Noise von anderen Genres unterscheidet, dann erzählt uns seine Normalisierung viel über jeden anderen ›authentischen‹ neuen Stil, der in irgendeiner Art und Weise ausverkauft wird.«67 Seit dem Jahrtausendwechsel hat Noise nicht nur in den Geisteswissenschaften, sondern auch in den Informationskreisläufen der neuen Massenmedien einiges an Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es ist zu vermuten, dass es sich bei diesen Vorgängen nicht um getrennte Phänomene, sondern um eine gegenseitige transmediale Beeinflussung handelt. Noise-als-Genre hat es möglich gemacht, Thesen der Informationstheorie und Kybernetik mit Problemen der Geisteswissenschaften zusammenzuführen und damit Interferenzen zwischen Diskursen zu bilden, als deren Bindeglied häufig ästhetische Fragestellungen dienen. Die ›Genrefizierung‹ von Noise hat währenddessen zwei gegenläufige Bewegungen vollzogen. Zum einen eine Konsolidierung, die es möglich gemacht hat, zu wissen, wovon die Rede ist, wenn Noise als Etikett für eine bestimmte Praxis verwendet wird. Diese Verfestigung kann als Grundlage für die von Hegarty beklagte Normalisierung und Überführung in den Mainstream angesehen werden (wobei das von Noise besetzte Aufmerksamkeitsfeld vergleichsweise marginal geblieben ist). Zum anderen eine Streuung von ästhetischen Entwürfen, in denen die Frage, was Noise sein könnte, immer wieder aufs Neue verhandelt werden muss: »[E]s ist sehr schwierig, von einer klar definierten Noise-›Szene‹ zu sprechen, insofern Noise-Musik größtenteils aus einem Netzwerk von fragmentierten und örtlich begrenzten ›Mikro-Szenen‹ besteht, die ideologisch und ästhetisch stark variieren. […] Noise-Musik gehört keiner gattungsmäßigen Abstammungslinie an, sondern bezieht sich auf ein vielfältiges und idiosynkratisches Spektrum von Methoden.«68 Noise spielt sich heute in einem Spannungsverhältnis zwischen einer Makroform – Gegenstand des medialen Interesses, vermarktbares Genre und theoretisierbarer Begriff – und einer Vielzahl an Mikroformen ab, die ihrer Definition tendenziell durch immer wieder neue Zerstreuungen entgehen. Den Moment eines Durchbruchs in die Kreisläufe des Musikgeschäfts und seiner Aufmerksamkeitsökonomie hat David Novak in der Form eines kurzen Erfahrungsberichts zusammengefasst:

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Ders.: »Noise Hunger, Noise Consumption. The Question of How Much Is Enough«, unveröffentlichter Vortrag, gehalten auf dem Noisexistance-Festival am 25.6.2016 in der Schwankhalle Bremen, S. 6 f., a.d. Engl.: DW. M. Thompson: Beyond Unwanted Sound, S. 130, a.d. Engl.: DW.

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»›Jetzt, wo es überall ist – wie soll man da entscheiden, ob ein Noise-Rock-Stück gut ist oder schlecht?‹ Das war die Frage, die ›Aestheticizing Noise‹ aufwarf, ein Panel des 2005er CMJ Music Marathon in New York, einer Konferenz der Independent-Musikindustrie, auf der sich Kritiker[innen], Labelbetreiber[innen] und Veranstalter[innen] trafen, um über die Zukunft von Noise zu diskutieren. Für die Diskussionsteilnehmer[innen], die zum großen Teil seit Jahren Konzerte veranstalteten und Platten vertrieben, war die wachsende Anerkennung von Noise zugleich aufregend und verwirrend. Alle waren sich einig, dass das Genre immer populärer wurde, obwohl anscheinend niemand so genau wusste, wie man es nennen sollte – ›Noise-Rock‹, ›Noise-Musik‹ oder einfach nur ›Noise‹ – und ob die Aufregung zu mehr als bloßem Geplapper führen würde. Wolf Eyes aus Detroit waren nun auf den Titelseiten internationaler Musikmagazine, das New Yorker No Fun Fest zog bis dahin ungekannte Zuschauermengen an. Für manche bedeutete das rapide Tempo seiner Ausbreitung, dass der Zeitpunkt für Noise als neue Form extremer Musik endlich gekommen war. Für andere wiederum bedeutete all die Öffentlichkeit sein sicheres Ende. Die Leute würden es nicht verstehen, und Noise würde nicht länger auf eine Art existieren, die in irgendeiner Weise relevant war. Was auch immer gerade geschah, es war nicht wirklich Noise.«69 Was dieses Narrativ durchzieht, ist nicht bloß die Frage nach den Grenzen, Definitionen und Überschreitungen, die durch ein spezifisches Genre etabliert und problematisiert werden, sondern auch das Motiv einer Relation zwischen Noise und Musik als zwei Formen der ästhetischen Organisation des Hörbaren. Dieses Verhältnis kann verschiedene Gestalt annehmen: sich gegenseitig ausschließend, eine Schnittmenge bildend, den »Raum eines Verweises teilend«.70 Diese Relation soll im Folgenden näher untersucht werden, wobei es unumgänglich sein wird, auch die Idee der Musik selbst, ihren Begriff und ihre Definitionen genauer zu überprüfen. Musik kann durch Noise verunreinigt und unmusikalisch werden, aber die Umkehrung dieses Vorgangs beansprucht genauso Gültigkeit. Über das Verhältnis von Noise und Musik aus der Perspektive eines Noise-Praktikers schreibt Novak: »Die Genre-Ideologie von Noise entstand in einer Rückkopplung zwischen zwei scheinbar unvereinbaren Positionen: ›Noise ist Musik‹ und ›Noise ist Noise‹. Shimomoto Taku, ein Musiker aus Kyoto, der 2001 begonnen hat, Noise zu machen, hat einmal gesagt, dass Noise nicht im selben Raum existieren könne wie Musik. In Anwesenheit von Musik würde die elementare Reinheit von Noise zerstört: ›Es ist entweder purer Noise oder es ist Musik. Wenn man Noise mit Musik vermischt 69 70

D. Novak: Japanoise, S. 3, a.d. Engl.: DW. Nancy, Jean-Luc: Zum Gehör, Zürich/Berlin: Diaphanes 2010, S. 17.

2 Noise: Das Ende der Musik

oder in Noise Musik verwendet, wird das Ganze zu Musik; und dann ist alles Musik, und nicht Musik mit Noise. [Noise] ist ein Ding mit einer eigenen Existenz – anderenfalls wird es zu einem ›Effekt‹ (wie ein ›Klangeffekt‹ oder musikelektronisches Gerät), als würde man mitten in einem Song ein Wah-Wah-Pedal spielen.‹ Shimomoto besteht darauf, dass Noise in der Abgrenzung von Musik seine Reinheit behalten muss. Jegliche Vermischung würde Noise zu einem musikalischen Effekt machen, was die Möglichkeit seiner eigenen, unabhängigen Bedeutung korrumpieren würde.«71 Noise ist aus der Musikgeschichte hervorgegangen, es lässt sich bis zu einem gewissen Grad in die Taxonomien der musikalischen Genres einordnen und es wird genauso wie Musik und als Musik produziert und konsumiert (d.h., es werden Konzerte veranstaltet und besucht, Aufnahmen angefertigt und verbreitet, Tonträger hergestellt und verkauft etc.). Zugleich bezeichnet Noise ein Ende der Musik bzw. ihrer klassischen Parameter. Es gibt darin keine Töne, nichts, was sich notieren ließe, und kein Vokabular, mit dem es sich präzise beschreiben lässt. Noise benötigt keine Musikinstrumente und keine musikalischen Fähigkeiten oder Talente seitens seiner Produzent*innen. ›Noise-Musik‹ suggeriert einen aufgehobenen Widerspruch zwischen den antagonistischen Konzepten von reinem Lärm und purer Musik. Wenn die Möglichkeit dieser reinen Unterscheidung existiert, dann wird jedes Eindringen der einen Sphäre in die andere mindestens eine Verunreinigung, wenn nicht eine Zerstörung darstellen. Unsauber gespielte Töne, Fehler oder Störgeräusche ergeben schlechte Musik, während die ästhetische Autonomie von Noise durch das Einfügen musikalischer Strukturen bedroht wird. Dieses Verhältnis kann sich nur behaupten, wenn von der Möglichkeit einer reinen Differenz ausgegangen wird. ›Musik‹ wäre in dieser Denkart eine klare Architektur von tonalem Material, Noise eine Ruine, ein akustischer Trümmerhaufen oder eine Brache. Zwischen beiden Formen gibt es Unterschiede, die sich benennen, kategorisieren und sogar physikalisch messen lassen. Es stellt sich nur die Frage, ob Noise und Musik als extreme Pole eines gemeinsamen definitorischen Minimums – der ästhetisch motivierten Organisation von auditivem Material – auftreten und wie sich die Distanzen und Differenzen zwischen beiden Extremen vermessen lassen. Es können verschiedene Beispiele für extreme Formen von Noise aufgezählt werden,72 die Frage nach den Extremen der Musik aber verstrickt sich in widersprüchliche 71 72

D. Novak: Japanoise, S. 120, a.d. Engl.: DW. Es lassen sich grob drei extreme Richtungen unterscheiden, in die Noise tendieren kann: 1. die Tendenz zum Verstummen, der Leerstelle und Ereignisarmut, wie sie etwa für das Werk von Sachiko M charakteristisch ist, 2. das Chaos und die konstante volatile Variation von Noise-Acts wie Merzbow oder Hijokaidan und 3. die monotonen, maximal variationslosen Blöcke von verzerrtem Rauschen, die von Harsh-Noise-Wall-Künstlern wie Vomir und The Rita realisiert werden.

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Definitionen: Ist Noise nicht unter Gesichtspunkten der Intensität ein Extrem des Musikalischen? Oder ist das Extrem der Musik in der virtuosen Beherrschung eines festgelegten tonalen Materials zu suchen? Ist das musikalische Extrem durch eine hohe Ereignisdichte oder durch ein Minimum an Variation gekennzeichnet, ist es extrem hässlich oder von extremer Schönheit? Was sich in diesen Fragen andeutet, ist das in sich differenzielle Verhältnis, das Musik, Noise und ›Noise-Musik‹ zueinander unterhalten. Wie Hegarty schreibt: »Dies könnte unausweichlich sein: Wenn Noise und Musik von Anfang an aufs Engste verknüpft sind, dann wird jeder Versuch, zum Kern der Funktionsweise des einen vorzudringen, uns etwas über die des anderen sagen – als ob das eine das andere wäre.«73 Soweit sich Noise als spezifische ästhetische Praxis mit einem Set von Definitionen überhaupt eingrenzen lässt, kann es als eine Konzentration an Abweichungen von den etablierten musikalischen Regeln gefasst werden. Sämtliche Formen von Störungen, die in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts die Aufführung, Produktion und Reproduktion von Musik heimgesucht haben, wurden im Noise – bzw. in den historischen Avantgardeformationen, die ihm vorausgingen – zu künstlerischen Ausdrucksmitteln umgedeutet. Noise bewegt sich jenseits von falschen oder schlechten musikalischen Spielweisen, jenseits von verstimmten Instrumenten, Rauigkeiten in der Intonation oder Unsauberkeiten im Spiel. In diesem Sinne gibt es keine Fehler in ›Noise-Musik‹ – ihr einziger Fehler wäre es, Musik zu werden und nicht mehr Noise zu sein. Daraus ergibt sich ein in verschiedene Richtungen ausuferndes Feld von Spannungen oder Tendenzen.74 Marie Thompson hat dieses Verhältnis mit dem Grenzbereich zwischen Land und Meer verglichen: »Noise-Musik im Allgemeinen kann im Wortsinn als Musikalisierung der Ununterscheidbarkeit verstanden werden. Noise-Musik speist sich aus der Grauzone der Widersprüchlichkeit; sie tut dies auf der Verwerfungslinie zwischen Musik und Nichtmusik, zwischen Gewünschtem und Unerwünschtem, dem Angenehmen und dem Grotesken und so weiter, und sie drängt in verschiedene miteinander widerstreitende Richtungen. Strebt sie zu sehr in Richtung Noise, verliert sich Noise-Musik auf dem Meer, sie wird zu nichts als Noise. Geht sie zu weit in Richtung Musik, läuft sie auf Grund; sie wird völlig von der Musik assimiliert und zu etwas anderem.«75

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Hegarty, Paul: »A Chronic Condition. Noise and Time«, in: M. Goddard/B. Halligan/P. Hegarty (Hg.): Reverberations, S. 15-25, hier S. 22, a.d. Engl.: DW. Verfolgt man die Etymologie von Tendenz bis zum lateinischen tendo zurück, stößt man auf ein Wort, das u.a. das Stimmen bzw. das Spannen der Saiten einer Laute bezeichnet (vgl. »tendo«, in: Langenscheidt. Taschenwörterbuch Latein, Berlin/München: Langenscheidt 1963, S. 518). M. Thompson: »Music for Cyborgs«, S. 215, a.d. Engl.: DW.

2 Noise: Das Ende der Musik

Die ungelöste Schwierigkeit in diesem Bild ist, dass einiges an zeitgenössischer Noise-Produktion genau diese Küstenlinie hinter sich gelassen hat und sich jenseits der Grenzlinie, des Bindestrichs bzw. der ambigen Definition bewegt, welche die Formulierung ›Noise-Musik‹ impliziert, bzw. den identitätsstiftenden Abstand zwischen beiden aufgegeben hat. Praktiken wie Harsh Noise Wall oder onkyô strapazieren selbst den weitesten Musikbegriff über seine Grenzen hinaus und lassen nur die Minimaldefinition einer audioästhetischen Praxis übrig – eine begriffliche Sumpf- und Nebelregion, in der sich keine scharfe Trennung zwischen Wasser und Land vornehmen lässt. Im Kontext von Noise oder ›Noise-Musik‹ erscheint Musik selbst als ein irreführendes Konzept. Zwar wird vermutet, dass es keine menschliche Kultur ohne irgendeine Form musikalischer Praxis gibt oder gegeben hat, aber die Definition eines universellen Konzepts von Musik bereitet Schwierigkeiten. Die griechische Antike etwa, von deren τέχνη μουσική (tēchne mousikē) das Wort abgeleitet ist, kannte keine autonome ästhetische Praxis, die sie als Musik hätte bezeichnen können. Musik war in dieser Kultur immer an andere Formen von Darbietung (Theater, Lyrik, Liturgie) gekoppelt. ›Die‹ Musik dagegen, bzw. die Rede von der ›einen‹ Musik, suggeriert ihre Einheit, ein umfassendes Konzept und mehr oder weniger eindeutige Funktionen derselben. Einige grundlegende Parameter wie Metrum oder Tonalität mögen auf ontologischer Ebene das sein, was gregorianische Choräle mit ghanaischen Talking Drums, Free Jazz mit Gabber-Techno oder Dodekafonie mit Trap-Hip-Hop verbindet, ansonsten lassen sich zwischen diesen Genres kaum Gemeinsamkeiten feststellen. Ihre Genese, ihre ästhetische Organisation und ihr soziokultureller Hintergrund, bzw. ihre Funktion innerhalb desselben, sind zu vielfältig. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner ist, dass es sich um Organisationspraktiken des Hörbaren handelt, die in einen soziokulturellen Kontext eingebettet sind, aber an diesem Punkt muss nicht mehr zwangsläufig von Musik gesprochen werden. Vor einer allgemeingültigen Definition dessen, was Musik ist, kapituliert nicht zuletzt die Musiktheorie selbst. Im Standardwerk Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG) findet sich zu diesem Problem folgender Eintrag: »Eine Enzyklopädie, die über 40 Stichwörter bietet, in denen die Begriffe Musik oder musica enthalten sind […], kann sich einer als allgemein gültig gesetzten Definition des Phänomens nur enthalten. Zu unterschiedlich sind in dieser Stichwortgruppe allein die Begriffsverständnisse der einzelnen Fachdisziplinen, zu verwickelt ist das Ineinander von Wortgeschichte, Definitionen, Einteilungen und Bedeutungen. Auch die relativ spärlichen bisherigen Versuche lexikalischer Art schränken den definitorischen Rahmen entweder a priori ein (etwa als Kunstmusik europäischer Prägung) oder werden dem Wunsch nach einer wirklich enzyklopädisch umfassenden Annäherung nicht gerecht. […] Es gibt trotz der zahlreichen Versuche in der Geschichte, einen allgemeinen und grundlegenden Begriff von

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Musik begrifflich zu fassen, bis zur Gegenwart keine gültige Definition. Vielmehr lassen alle Begriffsbestimmungen immer nur eine ganz bestimmte Seite des Gesamtphänomens in den Vordergrund treten. Es ist jene Seite, die jeweils als bedeutsam und bemerkenswert angesehen wird.«76 Es scheint, als würde sich Musik dem Versuch ihrer Einhegung oder Eingrenzung in eine fixe Definition, der von einem bestimmten – und bestimmenden – Artikel angezeigt wird, widersetzen, indem sie in viele Richtungen auseinanderstrebt. Der Versuch einer Ab- oder Eingrenzung schlägt in sein Gegenteil um, in eine ›AntiDefinition‹, die sich als Entgrenzung zeigt und statt einer bündigen Formel ein Lexikon mit einem neun Bände umfassenden Sachteil hervorbringt. Aber bereits die Definition selbst hat als Begriff kein wirkliches Antonym. Das Gegenteil einer Abgrenzung ist die Entgrenzung bzw. die Aufhebung der Grenze. Das Lexem Definition aber beinhaltet bereits sein eigenes Gegenwort. Das lateinische finis bezeichnet die Grenze, das Suffix -ion dient als Ableitungsmorphem zur Substantivierung von Verben (von lat. definire – ›abgrenzen‹), während das Präfix de- sich als ›ab von‹, ›weg von‹ oder ›herab von etwas‹ übersetzen lässt. Die Definition als Abgrenzung grenzt also nicht nur einen Bereich ab oder ein, sie zieht sich in der gleichen Bewegung auch von einem anderen zurück. Während sie sich auf einen zu definierenden Gegenstand zubewegt, entfernt sie sich von einem anderen. Von ›der‹ Musik als einem festen Gegenstand oder Begriff lässt sich nur sprechen, wenn man sich von anderen, ähnlichen abkehrt. Der differenzielle Charakter von Musik, der sich einer eindeutigen Bestimmung entzieht, lässt sich mit einem typografischen Effekt darstellen. In Entwendung einer Idee Jacques Lacans könnte der bestimmte, bestimmende Artikel durchgestrichen und als ›die Musik‹ geschrieben werden, um so den umfassenden Anspruch eines Begriffs zu durchkreuzen, der letztlich keine universelle Gültigkeit für sich reklamieren kann.77 Es bietet sich an, dieses détournement auf ein Konzept wie Musik anzuwenden, wobei es aus seinem ursprünglichen Anwendungsbereich in der lacanschen Psychoanalyse herausgelöst werden muss. In Anwendung dieser Operation lässt sich eine Aufteilung des Klanglichen denken, die nicht mehr entlang der Grenzen deutlich unterschiedener oder gar miteinander unvereinbarer Konzepte operiert, sondern ein Verhältnis von Beweglichkeiten, transversalen Überschneidungen, Resonanzen, Übersprechungen, Verzerrungen und Harmonisierungen in Szene setzt. Es lässt sich von einer Relation der 76 77

Riethmüller, Albrecht: »Musiké – musica – Musik«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6, Kassel: Bärenreiter 1997, Sp. 1195-1196. Im 20. Seminar Lacans ist diese Schreibweise auf ›die Frau‹ bezogen: »Das ist es, was definiert die … die was? – die Frau justament, bis auf dies, daß Die Frau, das kann sich schreiben nur indem Die gebarrt wird. Es gibt nicht Die Frau, bestimmter Artikel, um zu bezeichnen das Universale. Es gibt nicht Die Frau, denn […] ihrem Wesen nach ist sie nicht alle.« (Lacan, Jacques: Encore. Das Seminar, Buch XX, Wien: Turia + Kant 2015, S. 80)

2 Noise: Das Ende der Musik

›Extimität‹ zwischen Noise und Musik sprechen. Auch dieser Begriff ist der psychoanalytischen Theorie Jacques Lacans entlehnt. Er bezeichnet dort eine »intime Exteriorität«, einen unbestimmbaren Übergang zwischen innen und außen, wie er sich etwa in der geometrischen Figur des Möbiusbands antreffen lässt. Das Möbiusband ist eine »Figur, die unsere gewohnte (euklidische) Vorstellung von Raum untergräbt, da sie zwar zwei Seiten zu haben scheint, tatsächlich aber nur eine Seite hat […]. Die einander entgegengesetzten Begriffe werden so nicht als einzelne, sondern als zusammenhängende Begriffe betrachtet.«78 So können Noise und Musik, von außen betrachtet oder erlauscht, zwar als Kehrseiten füreinander dienen, es ist aber unmöglich, einen eindeutigen Punkt des Übergangs von einem Konzept zum anderen festzustellen: Ihre Relation zeichnet sich dadurch aus, nichts anderes als ein endloser Übergang zu sein, das Ende des einen ist der Anfang der anderen, ohne dass Ende und Anfang eine exakte Koordinate oder einen Ort bestimmen würden.

2.3

Ethik und Ästhetik

In der Alltagssprache aber gibt es die Musik ganz natürlich, jede und jeder versteht, was damit gemeint ist. Das zu Grunde liegende ›Denkbild‹ folgt für gewöhnlich Postulaten, die Musik ausgehend von einer Doxa des Schönen und Harmonischen definieren (wobei die Definition des Schönen immer den Fluktuationen von kulturellem Hintergrund, Klassenzugehörigkeit und Distinktion unterworfen bleibt). Die grundlegenden Mechanismen dieser Doxa lassen sich mit jener Kritik beschreiben, die Gilles Deleuze in Differenz und Wiederholung dem ›Bild des Denkens‹ gewidmet hat: »Dieses Bild des Denkens können wir dogmatisches oder orthodoxes Bild, moralisches Bild nennen.«79 Deleuzes Intervention richtet sich gegen eine Vorstellung des Denkens in der abendländischen Philosophie, die von einer quasi naturalisierten Vernunft ausgeht, einem »vorphilosophische[n] und naturwüchsige[n] Bild des Denkens«.80 Dieses Bild geht von impliziten Voraussetzungen aus, die sich auf den »gesunden Menschenverstand« und den »Gemeinsinn« als »komplementäre Instanzen« berufen: »Sie beide allein bilden die beiden Hälften der Doxa. Für den Augenblick genügt es, die Voreiligkeit der Postulate selbst zu kennzeichnen: Das Bild eines von Natur aus richtigen Denkens, das zudem weiß, was Denken bedeutet; das reine Element des Gemeinsinns, das sich daraus ›von Rechts wegen‹ herleitet; das Modell der Rekognition oder bereits die Form der Repräsentation, die sich ihrerseits daraus 78 79 80

Evans, Dylan: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien: Turia + Kant 2002, S. 192. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink Verlag 1992, S. 172. Ebd.

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ergibt. Es wird angenommen, das Denken sei von Natur aus richtig, weil es kein Vermögen wie die anderen ist, sondern, bezogen auf ein Subjekt, die Einheit aller anderen Vermögen, die bloß seine Modi darstellen und von ihm auf die Form des Selben im Modell der Rekognition hin ausgerichtet werden.«81 Die Rekognition bildet für Deleuze dabei das transzendentale Modell für das Bild des Denkens. Im Wiedererkennen werden alle Vermögen des menschlichen Subjekts auf ein Objekt hin ausgerichtet und in Einklang versetzt; das gleiche Ding ist zu sehen, hören, riechen, ertasten oder zu schmecken, es kann Gegenstand von Vorstellung und Erinnerung sein, es kann begriffen und auf den Begriff gebracht werden: »Zweifellos hat jedes Vermögen seine besonderen Gegebenheiten, das sinnlich Erfahrbare, das Erinnerbare, das Vorstellbare, das Intelligible …, und seinen besonderen Stil, seine besonderen Akte, das Gegebene zu besetzen. Ein Objekt aber wird erkannt, wenn es von einem Vermögen als identisch mit dem eines anderen angesehen wird […].«82 Als Hinweis auf ein solches Wiedererkennen, das eine Aufteilung in Empirisches und Transzendentales auf Grundlage von Gemeinsinn und gesundem Menschenverstand möglich macht, lässt sich auch der bestimmte Artikel erkennen, der vor ›die‹ Musik gesetzt wird. Der Artikel verweist auf ein bestimmtes Bild von Musik, auf ihr Denkbild oder ihre Doxa. Man weiß ganz natürlich, wovon die Rede ist, da man es wiedererkennt. In den meisten Fällen handelt es sich um einen Bezug auf die abendländische Kunstmusik bzw. auf Organisationsformen des Hörbaren, die sich aus dem ästhetischen Regelwerk der europäischen Musiktradition erklären lassen. Ähnlich wie bei dem von Deleuze kritisierten ›Bild des Denkens‹ lässt sich von einem ›Bild der Musik‹ sprechen, das letztlich aus ideologischen Vorannahmen über ihr Wesen besteht. Wenn die Philosophie sich ›der‹ Musik gewidmet hat, dann meistens unter dieser Voraussetzung. Auch die Arbeiten von Deleuze und Guattari sind nicht frei von dieser Doxa. In einem Kapitel aus Tausend Plateaus, das einen Bogen vom Gesang der Vögel bis zu den Funktionsweisen von Musik spannt, findet sich dieser Abschnitt: »Man kann also sagen, daß der musizierende Vogel von Traurigkeit zu Freude übergeht oder den Sonnenaufgang begrüßt […]. Keine dieser Formulierungen hat etwas mit Anthropomorphismus oder Interpretation zu tun. Es handelt sich eher um einen Geomorphismus. […] Auch die Musik des Menschen funktioniert so. […] Die Entdeckung der im eigentlichen Sinne melodischen Landschaft und der im

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Ebd., S. 175. Ebd., S. 174.

2 Noise: Das Ende der Musik

eigentlichen Sinne rhythmischen Figur markiert jenen Moment in der Kunst, in dem sie aufhört, eine stumme Malerei auf einem Schild zu sein.«83 Hier wird eine Gleichsetzung von Natur (dem Gesang der Vögel, mit dem ein Territorium abgesteckt oder die aufgehende Sonne begrüßt wird) und Musik im Sinne von Tonkunst vorgenommen, die sich gegen den impliziten Vorwurf des Anthropomorphismus wendet, weil sie harmonische Strukturen in der Natur nicht auf Musik bezieht, sondern beides miteinander gleichsetzt. Allerdings schafft Musik »melodische Landschaften«, in denen sich Musik und Natur in einer Ordnung des Schönen vermischen. Musik, Kunst und Natur ergeben einen Gleichklang, in dem der gesunde Menschenverstand die Doxa ›der‹ Musik vernehmen kann und wiedererkennt.84 Als ›die‹ Musik wird von der westlichen Musiktheorie zumeist etwas verstanden, das sich mit dem traditionellen Notationssystem aufschreiben lässt. Die Codierungsform der ›Kunstmusik europäischer Prägung‹ hat sich so nachhaltig in den musikwissenschaftlichen Diskurs eingeschrieben, dass sie auch für musikalische Formen Anwendung findet, die nicht dieser Tradition entstammen. Die rhythmischen, klanglichen oder geräuschhaften Aspekte, welche sich nicht mit diesem System codieren lassen, werden in der Musiktheorie abendländischer Tradition als Abweichungen bzw. als sekundäre Parameter qualifiziert. Der Musikwissenschaftler Philipp Tagg hat diese Systematik als eine ethnozentrische, eingeschränkte und einschränkende Perspektive kritisiert: »›Die primären Parameter – Melodie, Rhythmus, Harmonie – sind syntaktisch, da mit ihnen Schlüsse definiert werden können … Die sekundären Parameter – Tempo, Dynamik, Textur, Timbre – sind eher statistisch als syntaktisch, weil sie sich nur in ihrer Quantität ändern und daher keine Schlüsse schaffen können … Ein zentrales Thema [in Leonard Meyers Buch Style and Music. Theory, History, and Ideology] ist, dass sekundäre Parameter … im Laufe des 19. und bis ins 20. Jahrhundert hinein eine zunehmende Dominanz über primäre Parameter und syntaktische Prozesse gewonnen haben. […]‹ Das Concise Oxford Dictionary (1995) erklärt die erste Bedeutung von primär als ›von erster Wichtigkeit, hauptsächlich, fundamental‹, während sekundär primär (sic) definiert wird als ›nach oder unter dem kommend, was primär ist; abgeleitet von oder abhängig von oder ergänzend zu dem, was primär ist‹. Wenn das, was einmal als primär und sekundär erschien, im Licht der musikalischen Evidenz nicht mehr in so klare hierarchische Begriffe gekleidet werden kann, werden akkuratere, nicht hierarchische Konzepte zu einer Notwendigkeit. 83 84

G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 434 f. Die These von der territorialisierenden Wirkung von Musik wird in demselben Textabschnitt von Deleuze und Guattari mit der Funktion des Leitmotivs in den Opern Richard Wagners verknüpft, reiht sich also in die Tradition des klassischen Kanons ein.

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Vielleicht sollten wir von ›schreibbaren‹ und ›nicht schreibbaren‹ oder ›notierbaren‹ und ›nicht notierbaren‹ […] Parametern sprechen.«85 Die europäische Tonkunst hat also ein Notationssystem hervorgebracht, das musikalische Formen einer Hierarchie unterwirft. Tagg weist darauf hin, dass die westlichen Musikwissenschaften eine ganze Reihe von musikalischen Parametern unter Gesichtspunkten von ›Normalität‹ und ›Abweichung‹ gruppieren, etwa wenn Synkopierung als »eine beabsichtigte Störung des normalen metrischen Pulses, der Betonung und des Rhythmus«86 definiert wird. Auch in anderen musikalischen Parametern ist diese Logik anzutreffen. Über die Einteilung in konsonante und dissonante Intervalle ist der MGG Folgendes zu entnehmen: »Die Konsonanz ist von Natur gegeben, sofern nur die oberen Sonanzgrade Konsonanzen sein können; sie beruht auf Tradition und Geschichte, sofern die Zahl der Sonanzgrade, die als Konsonanzen gelten, und die Gründe, warum sie als Konsonanzen gelten, veränderlich sind. Die Bestimmung von Konsonanz und Dissonanz erfolgt im Verständnis westlich-europäisch bedingter Musik.«87 Zwar geht der Autor im Folgenden auf die Schwierigkeiten ein, die Relation von Konsonanz und Dissonanz auf Musik außereuropäischer Kulturen anzuwenden, aus der Argumentation ergibt sich aber eine weitere Facette des Bildes der Musik: Aus einer ersten Natur, der physikalischen Verhältnismäßigkeit eines schwebungsfreien Intervalls, wird eine zweite Natur der Tradition und Geschichte gebildet. Die europäische Musiktradition selbst aber hat diese zweite Natur immer weiter aufgelöst, die Grenzen ihres Außen hinausgeschoben und Formen hervorgebracht, die sich mit ihren eigenen kompositorischen Werkzeugen und begrifflichen Instrumenten nicht mehr fassen lassen. Mit Schönbergs Zwölftonmusik wurde eine Emanzipation der Dissonanz vollzogen; konkrete, elektronische und stochastische Musik bewegen sich jenseits der Möglichkeiten der Notenschrift oder der Einteilung in Konsonanz und Dissonanz. Jede dieser Entwicklungen hat dem Bild der Musik Sprünge hinzugefügt, es weiter facettiert und verzerrt. Das Aufbrechen dieser Ganzheit einer zweiten Natur hat sich in einer Serie von Schocks vollzogen. Hierin lässt sich abermals eine Parallele zwischen Deleuzes Bild des Denkens und dem Bild der Musik ziehen:

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Tagg, Philip: »Semiotics – The Missing Link between Music and the Rest of Human Knowledge«, Vortrag, 7.6.2014, S. 3, online unter http://tagg.org/articles/xpdfs/Kaunas1406b.pdf, abgerufen 1.7.2020, a.d. Engl.: DW. Ebd., S. 4, a.d. Engl.: DW, Herv. i. Orig. Dahlhaus, Carl: »Konsonanz-Dissonanz«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5, Kassel: Bärenreiter 1996, Sp. 565-577, hier Sp. 566.

2 Noise: Das Ende der Musik

»De facto läßt es sich nicht von selbst verstehen, daß Denken die natürliche Ausübung eines Vermögens sei, daß dieses Vermögen eine gute Natur und einen guten Willen besitze. ›Jedermann‹ weiß sehr wohl, daß die Menschen de facto selten und eher unter Einwirkung eines Schocks als im Eifer einer Vorliebe denken.«88 In den Beurteilungen des Hörbaren, speziell der Musik, und in besonderem Maße in der Gegenüberstellung von Noise und Musik, zeigen ethische und ästhetische Urteile eine Tendenz, sich zu vermischen oder zu einem gemeinsamen ›ethoästhetischen‹ Urteil zu verschwimmen. Diese Ethoästhetik des Auditiven wird im Verlauf der folgenden Untersuchungen immer wieder eine Rolle spielen, weshalb einige ihrer Grundcharakteristika an dieser Stelle genauer analysiert werden müssen. In ihrer vulgären Ausprägung lassen sich diese Urteile einfach auf den Punkt bringen: Schlechte Menschen hören schlechte Musik, die Produktion hässlicher, störender und lärmender Geräusche verweist auf eine bösartige Haltung (das transgressive Element extremer Musik, das den sozialen Status quo herausfordert), und schöne, harmonische Musik steht in Relation zu einem guten Geschmack bzw. einer harmonischen Ordnung sozialer Situationen. Die Metaphorik von Harmonie und Disharmonie, von Konsonanz und Dissonanz lässt sich auf beide Sphären anwenden. Ethik und Ästhetik verbindet eine grundlegende Relation des Sozialen: das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Die Nikomachische Ethik des Aristoteles kennt zwei Modi des sittlichen Verständnisses bzw. der ἠθική ἐπιστήμη (ēthike ēpistemē): den Ethos als Charakter oder Sinnesart, die den oder die Einzelne betrifft (ἔθος), und als die Gesamtheit von Gewohnheiten, Sitten und Bräuchen, die eine gesellschaftliche Formation auszeichnen (ἦθος).89 Zur Polyvalenz, die sich aus dieser Trennung für eine Ethik ergibt, findet sich in Lacans Ethik der Psychoanalyse folgende Passage: »Es ergibt sich das Problem, auf welche Weise diese Ordnung [des ἔθος] im Subjekt eingerichtet werden kann. Wie ist im Subjekt die Übereinstimmung zu erhalten, die es in diese Ordnung sich fügen und sich ihr unterwerfen lässt? Die Einrichtung des ἦθος soll das lebende Sein vom unbelebten, trägen Sein unterscheiden. Aristoteles weist darauf hin, dass ein Stein, Sie mögen ihn so lange in die Luft schmeißen, wie Sie wollen, seine Flugbahn nicht als Gewohnheit annehmen wird, während der Mensch die Gewohnheit annimmt – das ist das ἦθος. Und es dreht sich darum, dieses ἦθος dem ἔθος angepasst zu bekommen, das heißt einer Ordnung, die in der logischen Perspektive, die die von Aristoteles ist, in einem höchsten Gut zusammengefasst werden muss, einem Insertions-, Gelenk-, Konvergenzpunkt,

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G. Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 173. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, Hamburg: Felix Meiner 1972, 1103a-1103b.

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in welchem die partikulare Ordnung sich in einer universelleren Kenntnis vereinheitlicht, in welchem die Ethik in eine Politik mündet und darüber hinaus in eine Nachahmung der kosmischen Ordnung.«90 Kurz gesagt: Diese Ethik hypostasiert eine kosmische Ordnung, die gut, harmonisch und ausgewogen ist, der Charakter des Einzelnen ist ihr anzupassen, um einen guten Menschen zu erhalten. Musik spielt für Aristoteles dabei eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Seiner Politik ist dieses zu entnehmen: »Für die [charakterliche] Erziehung soll man […] die ethischen Melodien und entsprechenden Tonarten verwenden; ethisch ist die dorische, wie wir früher feststellten.«91 Gute Musik dient der Erziehung guter Menschen. Ein anderer, abstrakterer (und amusikalischer) Entwurf einer Grundlegung der Ethik findet sich in Immanuel Kants Kritik der praktischen Vernunft. Die vom kategorischen Imperativ aufgeworfene Forderung, sich stets so zu verhalten, dass die Maxime des eigenen Willens zur Maxime einer allgemeinen Gesetzgebung werden könnte, stellt das Individuum nicht mehr in Relation zu einer kosmischen Harmonie, deren Abbild in der Gesellschaft zu finden ist und der sich der bzw. die Einzelne anpassen könnte. Kants Sittengesetz hat kein reales Abbild, es lässt sich in keiner Konsonanz vernehmen, es ist tyrannisch in dem Sinne, dass es die Individuen in ihrem ethischen Verhalten sich selbst ausliefert, ohne die Stütze eines nachahmbaren Vorbilds. Deleuze schreibt über das kantsche Sittengesetz: »Das Gesetz kann keinen anderen Inhalt haben als sich selbst, da jeglicher Inhalt des Gesetzes es auf ein Gut zurückführen würde, dessen Imitation es wäre. Mit anderen Worten, das Gesetz ist reine Form und es hat kein Objekt, es ist weder sinnlich noch intelligibel.«92 Das Sittengesetz setzt die Individuen in ein Verhältnis zueinander allein dadurch, dass es auf sie alle wirkt, es lässt aber keinen Vergleich der eigenen Handlungen mit denen anderer zu. Ein Objekt und eine Relation zu den anderen (bzw. der Gesellschaft, sofern das Wort die anderen als Totalität beschreibt) finden sich in der Kritik der Urteilskraft. Das ästhetische oder Geschmacksurteil fußt auf Prinzipien a priori und es hat ei-

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92

Lacan, Jacques: Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch VII, Berlin: Quadriga 1996, S. 31. Aristoteles: Politik, Hamburg: Felix Meiner 1981, 1342a 35. – In der Nikomachischen Ethik taugt das Musikalische als Parabel für die »Anpassung des ἦθος an den ἔθος«: »Die Tugenden […] erlangen wir nach vorausgegangener Tätigkeit, wie dies auch bei den Künsten der Fall ist. Denn was wir tun müssen, nachdem wir es gelernt haben, das lernen wir, indem wir es tun. So wird man durch Bauen ein Baumeister und durch Zitherspielen ein Zitherspieler. […] Ferner entsteht jede Tugend aus derselben Ursache, durch die sie zerstört wird, gerade wie es bei den Künsten der Fall ist. Durch Zitherspielen wird man z.B. ein guter und auch ein schlechter Zitherspieler, und entsprechendes gilt vom Baumeister und jedem anderen Handwerker oder Künstler.« (Ders.: Nikomachische Ethik, 1103a-f) Deleuze, Gilles: Kants kritische Philosophie. Die Lehre von den Vermögen, Berlin: Merve 1990, S. 12 f.

2 Noise: Das Ende der Musik

nen Anspruch auf Allgemeingültigkeit,93 d.h., das von dem oder der Einzelnen getroffene Urteil steht in Relation zu dem aller anderen. Was diese Relation herstellt, trägt bei Kant den Namen sensus communis. Der Gemeinsinn ist das Medium, in dem sich verschiedene Urteile aufeinander beziehen können. »Unter dem sensus communis aber muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluß haben würde. Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urteil an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes anderen versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälligerweise anhängen, abstrahiert: welches wiederum dadurch bewirkt wird, daß man das, was in dem Vorstellungszustand Materie, d.i. Empfindung ist, so viel möglich wegläßt, und lediglich auf die formalen Eigentümlichkeiten seiner Vorstellung […] Acht hat. […] [A]n sich ist nichts natürlicher, als von Reiz und Rührung zu abstrahieren, wenn man ein Urteil sucht, welches zur allgemeinen Regel dienen soll.«94 Die ›formale Eigentümlichkeit‹ eines Urteils, das von den individuellen Empfindungen abstrahiert, steht in einem eigentümlichen Verwandtschaftsverhältnis zum Sittengesetz, insofern dieses »reine Form« ohne Objekt ist, wie Deleuze schreibt. In diesem Sinne taucht auch in Kants Philosophie eine die Form betreffende Ähnlichkeit zwischen Ethik und Ästhetik auf. Sie ist weniger, wie bei Aristoteles, auf ein metaphysisches, ordnendes und harmonisierendes Prinzip zurückzuführen, als dass sie die abstrakte Form ethischer und ästhetischer Urteile betrifft. Wenn der kategorische Imperativ den Vergleich der individuellen Handlung mit der Allgemeinheit untersagt, dann zwingt das Geschmacksurteil auf Basis des sensus communis dazu, das eigene Urteil mit jedem möglichen Urteil aller anderen allgemein zu vergleichen. Beiden Formen gemeinsam ist ihre kalte Abstraktheit, es fehlt ihnen das Halt stiftende Element einer zentrierenden und letztlich naturhaften Ordnung. Mit Hilfe von Deleuze lässt sich ein Bogen spannen, der von Kants Denken und den Problemen der Ethoästhetik zurück zur Musik und selbst zu der chaotischen Intensität von Noise führt. In der Einleitung zu Kants kritische Philosophie konstatiert Deleuze eine Hierarchie der subjektiven Vermögen, die in den ersten beiden Kritiken in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gesetzt wurden. In der ersten 93 94

Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 207. Ebd., S. 225.

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Kritik sei es der Verstand, der die anderen Vermögen dominiert, in der zweiten die Vernunft. In der Kritik der Urteilskraft aber lasse sich kein solches Dominanzverhältnis mehr antreffen: »Aber siehe da, Kant, als er ein Alter erreicht hat, in dem die großen Autoren sich selten erneuern, stößt sich an einem Problem, das ihn zu einer außergewöhnlichen Unternehmung hinreißen wird: Wenn die Vermögen in veränderbare, aber durch das eine oder andere von ihnen geregelte Beziehungen treten können, müssen sie alle zusammen zu freien Beziehungen ohne Regeln fähig sein, in denen jedes bis an seine Grenze geht, und dennoch seine Möglichkeit zu einer Art von Harmonie mit den anderen zeigt […]. Das Erhabene geht noch weiter in diese Richtung: Es läßt die verschiedenen Vermögen derart spielen, daß sie sich einander wie Kämpfer widersetzen, eins das andere an sein Maximum oder seine Grenze stößt, aber daß das andere reagiert, indem es das eine zu einer Eingebung treibt, die es nicht von selbst gehabt hätte. Das eine stößt das andere an seine Grenze, aber jedes führt zur Überschreitung der Grenze des anderen. Es ist ein furchtbarer Kampf zwischen der Einbildungskraft und der Vernunft, aber ebenso mit dem Verstand, dem inneren Sinn […]. Sturm im Innern eines offenen Abgrunds im Subjekt. Die Vermögen bieten sich die Stirn, jedes an seiner eigenen Grenze, und finden ihren Einklang in einem fundamentalen Mißklang: ein disharmonischer Einklang, das ist die große Entdeckung der Kritik der Urteilskraft, des letzten kantischen Umsturzes.«95 Deleuze führt musikalische Metaphern in den Begriffsapparat Kants ein. Will man den Einklang des radikalen Missklangs in Begriffe der Akustik übersetzen, so drängt sich das Rauschen auf: Es besitzt keine harmonischen Relationen, weil es alle hörbaren Frequenzen umfasst. Das Gefühl des Erhabenen zeigt sich als mit Noise verwandt. Diese Beziehung ist von einigen Autor*innen behandelt worden. Bei Kant haben die Phänomene, an denen sich das erhabene Gefühl entzündet, ein Ausmaß, das sich nicht unmittelbar fassen lässt. Für gewöhnlich wird Größe oder Menge als Merkmal dieser Gegenstände angegeben (das mathematisch Erhabene lässt sich bei Kant synonym mit Größe setzen). Dasjenige, für das kein Maßstab gesetzt werden kann, lässt sich aber ebenso im Bereich das Hörbaren als das unfassbar Laute oder Ungeordnete antreffen. Die Nichtquantifizierbarkeit des Erhabenen bewirkt einen Konflikt zwischen den Vermögen der Vernunft und der Einbildungskraft in ihren Funktionen der Kategorienbildung. Deleuze zufolge entsteht das Gefühl des Erhabenen, wenn die Einbildungskraft ein »Maximum an gleichzeitiger Zusammenfassung« erreicht. Sie wird von der Vernunft gezwungen, »das Große der Sinnenwelt in einem Ganzen zu vereinen […]. Die Einbildungskraft

95

G. Deleuze: Kants kritische Philosophie, S. 14 ff.

2 Noise: Das Ende der Musik

lernt also, daß es die Vernunft ist, durch die sie bis an die Grenzen ihrer Macht gestoßen wird […].«96 Das Motiv der Grenze ist von entscheidender Bedeutung für die Analytik des erhabenen Gefühls. In den Kant-Lektionen Jean-François Lyotards heißt es: »So, wie es exponiert und deduziert wird, […] läßt sich das erhabene Gefühl als eine doppelte Herausforderung analysieren: Die Einbildungskraft tut sich an den Grenzen dessen, was sie darstellen kann, Gewalt an, um zumindest darzustellen, daß sie nichts mehr darstellen kann […].«97 Und schließlich unternimmt Hegarty den Versuch, die Erfahrung eines Noise-Konzerts mit dem Begriff des Erhabenen zu beschreiben: »Der Zuhörer wird bei einem lauten Noise-Event aus dem Subjektkörper herausgenommen und in die Körperlichkeit zurückgeworfen, herabgesetzt auf so etwas wie den ekstatischen Konsum von Noise. Es wäre allerdings ein Fehler, zu glauben, dass aus dieser Ekstase eine andauernde Befreiung entstehen könnte. [Das Noise-Erleben] ist wohl eher ekstatisch als angenehm und näher am Erhabenen als am Schönen, mit dem es nichts gemein hat. Wie beim kantischen Erhabenen liegt dieses Erleben aber auch in der Rahmung des Moments des Selbstverlusts als rationale Reflexion über den Moment, in dem das Selbst verlorenging.«98 Noise kann als vorläufiger Endpunkt einer Geschichte des Aufbruchs, des Aufbrechens und der Verzerrung in der Sphäre des Musikalischen angesehen werden. Wenn es die Musik als Begriff oder als eindeutige Definition nicht geben kann, dann ist Noise-Musik ein schlagender Beweis für diese These: Noise als Musik wird produziert und konsumiert, als ob es Musik wäre, während es alle Regeln und Konventionen des Musikalischen (abgesehen von der Tatsache, eine ästhetische Organisation von Schallereignissen mit der minimalen Struktur von Anfang und Ende zu sein) außer Kraft setzt. Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich schlussfolgern, dass die theoretischen Werkzeuge, welche sich aus den Traditionen der europäischen Kunstmusik entwickelt haben, für dieses Genre keine Zuständigkeit beanspruchen können – es gibt nichts, was sich mit ihren Begriffsapparaten fassen ließe. Das Wort Noise verweist aber auf mehr als eine audioästhetische Praxis am Rand des Musikalischen, es fächert ein Spektrum auf, in dem eine Vielzahl von Bedeutungen dissonante, konsonante und asonante Resonanzrelationen eingehen.99

96 97 98 99

Ebd., S. 107. Lyotard, Jean-François: Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen, München: Wilhelm Fink 1994, S. 68. P. Hegarty: Noise/Music, S. 147, a.d. Engl.: DW. Zusammenklingend, auseinanderklingend, nicht klingend – die Resonanz, das Wiederklingen, tritt zumindest physikalisch nicht aus der Dialektik von Konsonanz und Dissonanz heraus. Ein resonierender Körper wird eher die Schwingungen aufnehmen und wiedergeben, die seiner eigenen Resonanzfrequenz entsprechen, sich also konsonant verhalten. Es bedarf

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Wenn Noise zu Musik, d.h. zu einem eindeutig definierbaren Genre, einer ästhetischen Einheit und zu einem mehr oder weniger verwertbaren Produkt der Musikindustrie wird, dann hört es bis zu einem gewissen Grad auf, als Lärm, Geräusch, Rauschen oder Störung aufzutreten. Als Begriffsobjekt wird Noise mit seinem eigenen Scheitern konfrontiert, soweit es mit all diesen Einzelbedeutungen prädiziert und gleichzeitig Musik sein soll: »[…] Noise wird immer scheitern, zumindest als Noise. Es kann sich niemals verwirklichen, da jeder Erfolg sein Scheitern bedeuten würde.«100 Das heißt, Noise als ein umfassendes Konzept von ästhetischer Praxis, Lärm, Rauschen, Überschreitung etc. lässt sich niemals total realisieren, es kann höchstens für die Dauer eines schockierenden und ekstatischen Moments Gestalt annehmen. Wenn von noise gesprochen wird, wenn dieser englischsprachige Signifikant in seiner Herkunftssprache auftaucht, ist eine Mehrdeutigkeit am Werk. Aus dieser Polyvalenz erwächst eine Ambiguität – das Wort produziert einen Schwebezustand unentschiedener Übertragungen. Störgeräusche in Informationskanälen, Rauschen, lärmende Störung des sozialen Lebens und asignifikante oder unmusikalische Geräusche treten in einen Zustand der ›gleichschwebenden Signifikanz‹. Ein Konzept wie Noise-als-Genre stellt diese Ambiguität vordergründig ruhig, es verfestigt sie zu einer Eindeutigkeit – nur um an der Basis seiner Signifikanz wieder von anderen Bedeutungen heimgesucht zu werden. Es bildet eine Ambiguität zweiter Ordnung. Die Polyvalenz von Noise ist das Ergebnis eines historischen Prozesses, der sich in der Sprachentwicklung niedergeschlagen hat. Manche Bedeutungen von Noise sind erst im Laufe des 20. Jahrhunderts entstanden, andere sind archaisch. Es wird im Folgenden nötig sein, diesen verschiedenen Bedeutungssträngen nachzuspüren und die Linien des semantischen Netzes von Noise nachzuzeichnen, mit all den Relationen, Differenzen, Definitionen und Widersprüchen, die sich daraus ergeben.

ungewöhnlicher Techniken und Anstrengungen, um eine dissonante Resonanz zu produzieren oder unter Bedingungen der Asonanz etwas Hörbares hervorzubringen. 100 P. Hegarty: Noise/Music, S. 146, a.d. Engl.: DW.

3 Noise: Differenzen und Definitionen »Noise kann in gewissem Sinne als das konstant knirschende Geräusch verstanden werden, das von der Bewegung zwischen dem Abstrakten und dem Empirischen verursacht wird.«1 Douglas Kahn

3.1

Ein semantisches Netz – Etymologie und Transliteration

Noise ist ein Wort aus der englischen Sprache, das sich nicht eindeutig ins Deutsche übersetzen lässt. Es zeichnet sich durch eine historisch gewachsene Polysemie aus, die heute vor allem Bedeutungen aus dem Bereich der Akustik und der Informationstheorie umfasst. Diese Mehrdeutigkeit ermöglicht im Englischen Überschneidungen zwischen verschiedenen Wissensfeldern, die sich im Deutschen so nicht zum Ausdruck bringen lassen. Die gegebenen Übersetzungsmöglichkeiten sind ›Lärm‹,2 ›Geräusch‹, ›Rauschen‹ und ›Störung‹, die in dieser Reihenfolge vermutlich auch einer diachronen Abfolge in der Bedeutungsgenese von Noise entsprechen. Die historische Entwicklung dieses Geflechts von Bedeutungen kann grob skizziert werden, um zu einer komplexeren Definition von Noise zu gelangen, die für die weiteren Schritte als tragfähiger Begriff dient. Dieses Geflecht bildet sich einerseits entlang der diachronen Achse einer historischen oder etymologischen Wortentwicklung, andererseits durch die Kontiguität der aktuellen oder synchronen Wortbedeutungen. Die metonymische Struktur von Verweisen, die in der Verwendung des Wortes Noise mit anklingen, bildet das terminologische Netz, das den Begriff tragfähig macht. Noise ist aus dem Altfranzösischen ins Englische migriert. Ursprünglich war es ein Homonym, das sowohl ›Lärm‹ als auch ›Streit‹ bedeuten konnte. Letztere Bedeutung findet sich noch im modernen Französisch, etwa in der Formulierung chercher noise – ›mit jemandem Streit suchen‹. Die Entsprechung von ›Lärm‹ und 1 2

D. Kahn: Noise, Water, Meat, S. 25, a.d. Engl.: DW. ›Lärm‹ kann als stellvertretend für seine diversen Synonyme gelesen werden: ›Krach‹, ›Radau‹, ›Tumult‹, ›Getöse‹ etc.

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›Streit‹ liegt auf der Hand, es herrscht jedoch Uneinigkeit darüber, von welcher etymologischen Wurzel Noise sich ableiten lässt. Dem Oxford English Dictionary kann entnommen werden, dass seine sprachlichen Wurzeln im Lateinischen zu finden sind. Sowohl nausea als auch noxia kommen demnach als Ursprung in Frage.3 Nausea bezeichnet die Seekrankheit oder Übelkeit, leitet sich von dem altgriechischen ναῦς (naus, ›Schiff‹) ab und wird heute in dieser Bedeutung im Englischen sowie dem Französischen verwendet. Noxia lässt sich als ›Schaden‹, ›Schuld‹ oder ›Vergehen‹ übersetzen. Von hier aus entwickelte sich das altfranzösische nuisance mit der Bedeutung ›Verletzung‹, ›Schmerz‹ oder ›Kränkung‹ ebenso wie die moderne englische Vokabel gleichen Wortlauts – von der ›Verletzung‹ hin zu ›Ärgernis‹, ›Ruhestörung‹ und ›Lärmbelästigung‹.4 Bereits hier zeichnet sich ab, dass sich das Etymon von Noise einer exakten Definition entzieht. Es verliert sich in einer linguistischen Grauzone, in der seine Bedeutung zwischen Meeresrauschen, Übelkeit, Schuld und Schmerz verschwimmt. Diese Ambiguität hat einige Autoren nicht davon abgehalten, eine mehr oder weniger eng gefasste Etymologie von Noise zu postulieren, die den nautischen Konnotationen zugeneigt ist. In seiner Genesis schrieb der Philosoph und ehemalige Seemann Michel Serres: »There, precisely, is the origin. Noise and nausea, noise and the nautical, noise and navy belong to the same family.«5 Eine ähnliche Erklärung findet sich in Die fraktale Geometrie der Natur von Benôit Mandelbrot, nämlich »daß der Ausdruck vom lateinischen nausea (nautes = Segler) kommt, wobei der semantische Zusammenhang im Geräusch besteht, welches Stöhnen und Erbrechen der Passagiere bei schlechtem Wetter auslöst«.6 Als Analogieschluss ist diese Verbindung naheliegend: Meeresrauschen produziert den in seinem Namen enthaltenen Höreindruck, die Bewegungen des Meers sind unruhig, geben keinen festen Halt und verursachen Schwindelgefühle. Diese Analogie wird auch von Greg Hainge in seiner Ontology of Noise herangezogen. Ausgehend von Serres schreibt er: »Noise bringt die Welt zum Stampfen, Rollen, Schaukeln und Schlingern wie ein Schiff in rauer See, dessen Bewegungen niemals ganz seine eigenen sind, sondern immer nur das Resultat einer Beziehung zwischen ihm und seiner Umgebung. […] In vielerlei Hinsicht steht Noise also in einer engen Beziehung zur Seekrankheit.«7 Die von Hainge postulierte Ontologie grün-

3

4 5

6 7

»noise: […] of uncertain origin: Latin nausea and noxia have been proposed, but the sense of the word is against both suggestions.« (»noise«, in: Oxford English Dictionary, 2nd. Edition, hg. V. Simpson, John Andrew/Weiner, E.S.C., Bd. X, Oxford: Clarendon Press 1989, S. 464) Vgl. »nuisance«, in: ebd., S. 585. M. Serres: Genesis, S. 13; hier wird eine englische Übersetzung des französischen Originaltexts zitiert. Serres verwendet das Wort noise auch im französischen Original, um eine Differenz zum französischen bruit zu eröffnen. Mandelbrot, Benôit: Die fraktale Geometrie der Natur, Basel: Birkhäuser 1991, S. 86. G. Hainge: Noise Matters, S. 68, a.d. Engl.: DW.

3 Noise: Differenzen und Definitionen

det auf einem Begriff von Noise, der einen Zustand des Unsteten und eine Übelkeit erregende Beweglichkeit der Materie beschreibt.8 Zugleich wird damit aber die begrifflich-etymologische Unstetigkeit von Noise als Begriff fixiert und ruhiggestellt. Eine ontologische Bestimmung von Noise sieht sich mit einer Gleichzeitigkeit von Bedeutungen konfrontiert, die, analog zu einem Begriff aus der Tontechnik, aufeinander übersprechen.9 Die Bevorzugung einer Konnotation oder einer etymologisch verwandten Reihe (›Ekel‹, ›Seekrankheit‹, Nautik) reduziert das terminologische Potenzial von Noise auf ein mehr oder minder festes Bedeutungsgefüge und nimmt ihm die Möglichkeit, seine unruhigen, destabilisierenden und lärmenden Wirkungen in den Systemen der Ontologie und der Sprache zu entfalten. Eine andere auf das Bild des Meeres zurückgreifende Metapher, die aber den unsteten, schwer fixierbaren Charakter von Noise zur Geltung bringt, findet sich in den Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand von Gottfried Wilhelm Leibniz. Er bezieht sich auf das Rauschen des Meeres, um das Vorhandensein einer unendlichen Menge unbewusster Wahrnehmungen zu beweisen: »Um die geringfügigen Wahrnehmungen, die wir in der Menge nicht unterscheiden können, noch besser zu fassen, bediene ich mich gewöhnlich des Beispiels vom Getöse oder Geräusch des Meeres, welches man vom Ufer aus vernimmt. Um dieses Geräusch […] zu hören, muß man sicherlich die dieses Ganze bildenden Teile, d.h. das Geräusch einer jeden Welle hören, obgleich jedes dieser geringen Geräusche nur in der verworrenen Gemeinschaft mit allen übrigen zusammen erkannt werden kann, und man es nicht bemerken würde, wenn die es verursachende Welle die einzige wäre. Denn man muß von der Bewegung dieser Welle ein wenig affiziert worden sein und von jedem dieser Geräusche, mögen sie auch noch so gering sein, einige Wahrnehmung haben, sonst würde man nicht die von hunderttausend Wellen haben, da hunderttausend Nichtse auch nichts wirken können.«10 Noise, Rauschen oder Getöse spielt sich in Leibniz’ Theorie an der Grenze zwischen bewusster Wahrnehmung (Apperzeption) und unbewusster Wahrnehmung, der bloßen Repräsentation von Außenweltdingen, ab. Dieser Bereich ist angefüllt 8

9

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Jean-Paul Sartres Ekel ist ein Bezugspunkt für diesen theoretischen Ansatz, vgl. G. Hainge: Noise Matters, S. 73: »[E]ine Vision des Rauschens der Welt wird Roquentin enthüllt, die ihn in die Lage versetzt, einen flüchtigen Blick auf das Dazwischen der Existenz zu werfen, sich mit der Expressivität des Seins zu befassen, die sich nur außerhalb ihrer selbst entwickelt. In dieser Vision ist Schwindel (nausea) gleichbedeutend mit Rauschen (noise).« (A.d. Engl.: DW). In einer Aufnahmesituation bedeutet Übersprechung, dass Klangquellen nicht effektiv voneinander separiert werden und so beispielsweise der Klang einer Gitarre auf einen Kanal ›überspricht‹, der für die Mikrofonierung eines Schlagzeugs vorgesehen war. Leibniz, Gottfried Wilhelm von: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Leipzig: Verlag der Dürr’schen Buchhandlung 1904, S. 11.

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von Mikroperzeptionen, die zwar nicht deutlich werden, aber Bedingung für einen überwältigenden Gesamteindruck sind. Diese Auffassung lässt sich auf den unsteten Charakter und das Geflecht von Ähnlichkeiten, Metaphern und deutlich-dunklen Übertragungen anwenden, die das semantische Netz von Noise bilden: ein Konzept, das nicht in einem einzelnen Begriff aufgeht und sich nicht in einer einzelnen Metapher fassen lässt.11 Noise-als-Genre, Noise-als-Rauschen, Noise-als-Lärm etc. transportieren, analog zu den leibnizschen Mikroperzeptionen, auch unbewusste Mikrobedeutungen, die ihre Plätze tauschen und ein Gespinst aus Analogien bilden. Das sich aus Noise entspinnende Netz von Mehrdeutigkeiten wird von den Fixpunkten Lärm, Geräusch, Rauschen und Störung gebildet, die jeweils auf eigene Diskursformationen verweisen. Jedes dieser Worte bildet eine der Möglichkeiten, Noise aus dem Englischen ins Deutsche zu übersetzen, was für den einzelnen Übersetzungsakt auf eine Reduktion von Mehrdeutigkeit hinausläuft. Englischsprachige Texte können mit dieser Polysemie spielen, indem sie darauf verzichten, das Unbestimmte des Begriffs zu fixieren. Spezifische Bedeutungen können sich aus dem jeweiligen Zusammenhang ergeben oder müssen gesondert markiert werden (etwa white noise für Rauschen in der Akustik, random noise in der Informationstheorie, harsh noise als Genrebezeichnung etc.). Je nach Kontext steht die Übersetzung vor verschiedenen Herausforderungen – nicht zuletzt jener der ständigen Wandlung von Bedeutungen in den verschiedenen Sprachen. In seinem Essay Die Aufgabe des Übersetzers schreibt Walter Benjamin über die Schwierigkeiten, die bei der Übertragung von Dichtung aus einer Sprache in die andere entstehen: »Um das echte Verhältnis zwischen Original und Übersetzung zu erfassen, ist eine Erwägung anzustellen, deren Absicht durchaus den Gedankengängen analog ist, in denen die Erkenntniskritik die Unmöglichkeit einer Abbildtheorie zu erweisen hat. Wird dort gezeigt, daß es in der Erkenntnis keine Objektivität und sogar nicht einmal den Anspruch darauf geben könnte, wenn sie in Abbildern des Wirklichen bestünde, so ist hier erweisbar, daß keine Übersetzung möglich wäre, wenn sie Ähnlichkeit mit dem Original ihrem letzten Wesen nach anstreben würde. Denn in seinem Fortleben, das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und

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Im Register des Visuellen kann Noise als »deutlich-dunkel« bezeichnet werden, ein Begriff, den Gilles Deleuze in Differenz und Wiederholung eingeführt hat. Der Begriff dient der Abgrenzung von einem ›Bild des Denkens‹, das die Idee im Licht des Klaren und Deutlichen verortet: »Die Restitution der Idee in der Lehre der Vermögen bringt eine Zersplitterung des Klaren und Deutlichen mit sich, oder die Entdeckung eines dionysischen Werts, demzufolge die Idee notwendig dunkel ist, sofern sie deutlich ist, umso dunkler, je deutlicher sie ist. Das Deutlich-Dunkle wird hier zur wahren Klangfarbe der Philosophie, zur Symphonie der diskordanten Idee.« (G. Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 190 f., Herv. i. Orig.)

3 Noise: Differenzen und Definitionen

Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original. Es gibt eine Nachreife auch der festgelegten Worte. […] Was damals jung, kann später abgebraucht, was damals gebräuchlich, kann später archaisch klingen. Das Wesentliche solcher Wandlungen wie auch der ebenso ständigen des Sinns in der Subjektivität der Nachgeborenen statt im eigensten Leben der Sprache und ihrer Werke zu suchen, hieße […] Grund und Wesen einer Sache zu verwechseln, strenger gesagt aber, einen der gewaltigsten und fruchtbarsten historischen Prozesse aus Unkraft des Denkens leugnen.«12 Abseits der Dichtung und auf ein einzelnes Wort konzentriert, das in einer gegebenen Sprache eine Vielzahl von Bedeutungen entfaltet und bei der Übertragung in eine andere Sprache mit einem andersartigen semantischen Netz interagiert, lässt sich Benjamins Ausführung auf die fruchtbare Schwierigkeit der Übersetzung eines Begriffs von einer Sprache in die andere beziehen. Die Übersetzung des einzelnen Wortes Noise vom Englischen ins Deutsche fächert sich wie gesagt in vier grob unterteilbare Lexeme mit jeweils eigenem Bedeutungsspektrum auf. Andere Sprachen ergeben andere semantische Netze,13 und sie alle unterliegen einem historischen Wandel – einem Fortleben, »das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung […] wäre«. Man hat es mit einem dynamischen Gefüge von Relationen und Differenzen zu tun, die über austauschbare Lexeme hinausweisen und einen Begriff bilden: einen Knotenpunkt in diesem Netz, von dem verschiedene Stränge der Bedeutung ausgehen, einen Knoten, der mit dem bezeichnenden Wort oder Lexem in Verbindung steht, aber über es hinausweist. In der linguistischen Untersuchung von Noise und den daran anschließenden Überlegungen in diesem Kapitel wird sich zeigen, dass das Wort zu einem Oszillieren zwischen archaischen und modernen Bedeutungen neigt. Benjamins Text ist der Übersetzbarkeit dichterischer Werke gewidmet, sein Fokus liegt nicht so sehr auf den Schwierigkeiten, die in der Übersetzung eines einzelnen Wortes liegen. Was den Kern des hier angestrebten Noise-Begriffs ausmacht (und was sich nicht zuletzt in der Unübersetzbarkeit bzw. Beibehaltung dieses englischen Wortes äußert), lässt sich mit diesem Gedanken Benjamins verdeutlichen: »Allein wenn der Sinn eines Sprachgebildes identisch gesetzt werden darf mit dem seiner Mitteilung, so bleibt ihm ganz nah und doch unendlich fern, unter

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Benjamin, Walter: »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV-1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 12 f. Das französische bruit weist z.B. einen semantischen Bezug zum deutschen Gerücht (vom niederhochdeutschen Geruche – ›Geschrei‹) auf. Es kann aber auch harmonisch, positiv oder neutral konnotierte Schallereignisse bezeichnen: »Die Franzosen sprechen immer noch vom ›bruit‹ der Vögel, vom ›bruit‹ der Wellen, vom ›bruit‹ des Straßenverkehrs.« (Schafer, R. Murray: Die Ordnung der Klänge, Mainz: Schott 2010, S. 299)

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ihm verborgen oder deutlicher, durch ihn gebrochen oder machtvoller über alle Mitteilung hinaus ein Letztes, Entscheidendes. Es bleibt in aller Sprache und ihren Gebilden außer dem Mitteilbaren ein Nicht-Mitteilbares [...].«14 Das Nicht-Mitteilbare, zumindest das nicht wörtlich Mitteilbare, ist dasjenige, was sich im Zentrum der Ausführungen zu den differenten Bedeutungen von Noise zugleich zeigt und verbirgt. In manchen Fällen ist eine eindeutige Übertragung unmöglich und es sind genau diese Situationen, in denen sich der hier anvisierte Noise-Begriff schärft – indem er auf der ihm spezifischen Unschärfe insistiert. Diese Unschärfe entfaltet eine Eigendynamik, indem sie Grenzen von Definitionen innerhalb verschiedener Wissensfelder und Diskursformationen überspringt. Als Diskursformationen sollen hier die mehr oder weniger deutlich voneinander abgrenzbaren und jeweils eigene etymologische Ketten eröffnenden Bedeutungsfelder verstanden werden, die sich aus den verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten ergeben und deren Konturen im Folgenden skizziert werden.

3.2

Lärm

Lärm ist eine zumeist abwertende Bezeichnung für lauten oder störenden Schall, die einem militärischen Kontext entstammt. Das Wort leitet sich, wie Alarm, von dem italienischen Ruf zu den Waffen, dem all’arme, ab.15 Im Wörterbuch der Gebrüder Grimm wird seine Etymologie so angegeben: »von den niederlanden her wurde dieser schlachtruf auch in deutschen heeren angenommen, theils in der form allerma, theils in der verstümmelten lerma und lerman, in letzterer form namentlich in liedern der landsknechte […]«.16 Die Verbindung von Konflikt und Lautstärke, von Lärm, Aufruhr und Kampf hat sich auch in anderen europäischen Sprachen niedergeschlagen. Das spanische ruido und das italienische rumore lassen sich sowohl mit ›Aufruhr‹ als auch mit ›Lärm‹ übersetzen (wobei, analog zu noise oder dem französischen bruit, auch die Bedeutungen ›Geräusch‹, ›Rauschen‹ etc. mitschwingen). Die Verbindung von beidem lässt sich auch in der Kunst, speziell in der europäischen Avantgardegeschichte, nachweisen. Das Manifest L’Arte dei rumori des italienischen Futuristen Luigi Russolo von 1916 entwickelt die Idee einer reinen Geräuschkunst, in der die abendländische Harmonik zugunsten einer Musikalisierung des Außermusikalischen aufgegeben wird. Russolos Geräusche waren von den Schallkulissen der Industrialisierung und 14 15 16

W. Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers«, S. 19. Vgl. »Alarm«, in: Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2011, S. 28. »Lärm«, in: Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, Leipzig: Verlag S. Hirzel 1885, S. 202.

3 Noise: Differenzen und Definitionen

Urbanisierung beeinflusst. Eine noch stärkere Inspirationsquelle, der er auch ein ganzes Kapitel seines Manifests widmete, war seine Fronterfahrung als Soldat im Ersten Weltkrieg. Zentral für dieses Erlebnis ist zum einen die akustische Reizüberflutung durch die »[w]underbare und tragische Symphonie der Geräusche des Krieges«,17 die bei ihm als Gegenreaktion eine genaue Analyse und Katalogisierung dieser Geräusche nach sich gezogen hat.18 Zum anderen die Feststellung, dass das Visuelle im modernen Kriegsgeschehen eine untergeordnete Rolle spielt und allein das Hören eine Orientierung ermöglicht: »Im modernen, mechanischen und metallischen Krieg ist das visuelle Element fast inexistent; unbegrenzt aber sind dort der Sinn, die Bedeutung und der Ausdruck der Geräusche. […] Am Geräusch erkennt man die verschiedenen Kaliber der Granaten und der Schrapnelle noch bevor diese explodieren [...].«19 In diesen kriegerischen und gewalttätigen Konnotationen ist ein erster Knotenpunkt im Bedeutungsnetz von Noise zu verzeichnen: Lärm, in seiner intensivsten Form, als akustische Gewalt. (Wobei angemerkt werden muss, dass Russolo seine poetische Vision eines modernen, erhabenen und überwältigenden Kriegslärms nur durch eine Zensur und Bereinigung des tatsächlichen Geschehens in Szene setzen konnte. Was in seinen Darstellungen nicht auftaucht, sind die Schreie der Verwundeten und Sterbenden. Kahn hat diesen Lapsus auf den Punkt gebracht: »Das Bemerkenswerteste an diesem Kapitel [»Die Geräusche des Krieges«] ist, dass es sich fast ausschließlich auf die Artillerie konzentriert und die Geräusche von sterbenden Menschen oder Tieren ignoriert; am nächsten kommt Russolo den durch Krieg in Gefahr gebrachten Spezies mit der Katzenmusik* des Schrapnell.«20 ) Für die Bewohner*innen jener Metropolen, in denen die Geräusche des Krieges seit geraumer Zeit keine Alltagserfahrung mehr darstellen, ist militärische Lärmentfaltung zu einer historischen Erinnerung geworden. Lärm bedeutet hier in der Hauptsache störenden, enervierenden oder deplatzierten Schall. Um welche Schallereignisse es sich genau handelt, ist dabei mehr oder weniger unerheblich. Der musikalische Genuss einer Person kann für ihre Nachbar*innen zu einer ernst zu nehmenden Lärmbelästigung werden und umgekehrt. In der englischen Sprache lässt sich diese Relation auf die einfache Formel one person’s noise is another

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L. Russolo: Die Geräuschkunst, S. 44. Nicht zuletzt mit diesem doppelten Drang zu Entgrenzung und Katalogisierung/Ordnung offenbart sich Russolo, der Vertreter des Futurismus, als Protofaschist. Klaus Theweleit hat die Psychologie dieses Typus in seinen Männerphantasien detailliert erforscht. Der faschistische oder soldatische Mann oszilliert zwischen den ihn überschwemmenden Gewaltausbrüchen und dem Zwang zur Anordnung ›von allem‹ in Blöcken, Formationen und Marschordnungen (vgl. Theweleit, Klaus: Männerphantasien, Bd. 2: Männerkörper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors, Hamburg: Rowohlt 1980, S. 44-74). L. Russolo: Die Geräuschkunst, S. 43 f. D. Kahn: Noise, Water, Meat, S. 63, a.d. Engl.: DW. – * Im Original deutsch.

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person’s music21 bringen. Diesen Zusammenhang hat bereits Immanuel Kant in seiner Kritik der Urteilskraft benannt. In einem Paragrafen über die »Vergleichung des ästhetischen Werts der schönen Künste untereinander« schreibt er: »Außerdem hängt der Musik ein gewisser Mangel an Urbanität an, daß sie, vornehmlich nach Beschaffenheit ihrer Instrumente, ihren Einfluß weiter, als man verlangt (auf die Nachbarschaft), ausbreitet, und so sich gleichsam aufdringt, mithin der Freiheit andrer, außer der musikalischen Gesellschaft, Abbruch tut; welches die Künste, die zu den Augen reden, nicht tun, indem man seine Augen nur wegwenden darf, wenn man ihren Eindruck nicht einlassen will. Es ist hiermit fast so, wie mit der Ergötzung durch einen sich weit ausbreitenden Geruch bewandt. Der, welcher sein parfümiertes Schnupftuch aus der Tasche zieht, traktiert alle um und neben sich wider ihren Willen und nötigt sie, wenn sie atmen wollen, zugleich zu genießen; daher es auch aus der Mode gekommen ist.«22 Wird Noise als störender Schall definiert, so kommen die kulturellen und ästhetischen Maßstäbe, an denen eine Kunstform wie Musik gemessen wird, schnell ins Wanken. Die ästhetischen Gesetzmäßigkeiten eines Musikstücks werden unerheblich, wenn es einer Person ohne deren Einwilligung präsentiert und als Störung empfunden wird. Der ungehinderten Ausbreitung von Schall müssen Grenzen gesetzt werden, da er sich ansonsten wie ein unangenehmer Geruch ausbreiten könnte (Schall und Gerüche teilen mit der Luft das Medium ihrer räumlichen Ausbreitung). Die von Kant gezogene Analogie zwischen Lärm und Gestank deutet auf ein besonderes Verhältnis zwischen den einzelnen Sinnesregistern hin: nicht bloß ein hierarchisches Verhältnis, wie es von Kant suggeriert wird,23 sondern ein Nebeneinander, in dem die Sinne einander berühren oder aufeinander übersprechen, was seinen sprachlichen Ausdruck in Analogien und Metaphern findet. Durch Geräuschproduktion und Klangkonsumption der anderen gestört zu werden, ist vermutlich seit jeher eine Begleiterscheinung des menschlichen Zusammenlebens, allerdings wird die Alltäglichkeit von Lärm, bzw. von störendem Schall, zumeist als akustische Signatur von Urbanisierung und schließlich der Moderne verstanden. Die Affirmation von Lärm ergab sich quasi als Begleiterscheinung aus dieser historischen Formation. Die Futuristen gehörten zu den Ersten, die die ›Symphonie der Großstadt‹ besangen. Russolo hat diese Geräuschkulisse in seinem Manifest eindrücklich beschworen:

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Goodman, Steve: Sonic Warfare. Sound, Affect and the Ecology of Fear, Cambridge MA: MIT Press 2010, S. 192. I. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 269 f. Dessen Spitze nimmt das Visuelle ein; das Gustatorische und Olfaktorische tauchen in Kants Vergleichung der schönen Künste gar nicht erst auf (vgl. die »Einteilung der schönen Künste«, I. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 257-264).

3 Noise: Differenzen und Definitionen

»Durchqueren wir eine grosse moderne Hauptstadt, die Ohren aufmerksamer als die Augen, und wir werden daran Vergnügen finden, die Wirbel von Wasser, Luft und Gas in den Metallrohren zu unterscheiden, das Gemurmel der Motoren, die unbestreitbar tierisch schnaufen und pulsieren, das Klopfen der Ventile, das Hinund-her-laufen [sic] der Kolben, das Kreischen der mechanischen Sägen, das Holpern der Tramwagen auf ihren Schienen, die Schnalzer der Peitschen, das Knistern der Vorhänge und Fahnen. Wir werden uns damit unterhalten, das Getöse der Rolläden der Händler in unserer Vorstellung zu einem Ganzen zu orchestrieren, die auf- und zuschlagenden Türen, das Stimmengewirr und das Scharren der Menschenmengen, die verschiedenen Getöse der Bahnhöfe, der Eisenhütten, der Webereien, der Druckereien, der Elektrozentralen und der Untergrundbahnen.«24 Urbanisierung, Industrialisierung, Mechanisierung und Elektrifizierung des Alltagslebens bringen seit Jahrhunderten immer neue Geräuschkulissen hervor, die, je nach Kontext und Perspektive, unterschiedlich bewertet werden. Die Verwendung des Wortes Lärm zeigt vor allem eine negative Bewertung von Schall an und ist die offensichtlichste der verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten von noise. Die Bedeutungsebene der Geräusche ist neutraler, aber auch komplexer und mehrdeutiger.

3.3

Das Geräusch in Sprache und Musik

Geräusche sind allgegenwärtig und deshalb schwierig zu definieren. So gut wie alle physikalischen Körper – Tiere, Menschen, Maschinen, die unbelebte Materie – produzieren aktiv Geräusche oder sie lassen sie sich entlocken. Das Geräusch fällt definitorisch aber nicht mit Schall, als Allgemeinheit des Hörbaren verstanden, zusammen. Sein Wesen offenbart es erst, wenn man es seinem Anderen gegenüberstellt: Ein Geräusch ist kein Klang, kein Ton und kein Wort; es ist kein direkter Bestandteil der ideellen Signifikationssysteme Sprache und Musik, die Möglichkeitsformen einer Strukturierung des Hörbaren darstellen. Laute sind jene Geräusche, die von menschlichen oder tierischen Stimmen hervorgebracht werden können. In der Bioakustik lassen sich, je nach Spezies, Systeme unterscheiden, in denen Laute zu Agenten der Kommunikation, der Mitteilung jedweder Art werden. Die Mitteilung wäre der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Schallereignisse vom Zirpen der Grillen und Vogelgezwitscher über Hundegebell und Walgesänge bis zu Diskussionsrunden und Regierungserklärungen bringen lassen. Im Fall der menschlichen Kommunikation werden aus an sich bedeutungslosen Lauten jene komplexen Gebilde, aus denen Sprache besteht. Diese

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L. Russolo: Die Geräuschkunst, S. 10.

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Laute verlieren – als Phoneme – ihren geräuschhaften Charakter, indem sie in die differenzielle Matrix der Signifikanten integriert und zu Morphemen und Wörtern verkettet werden.25 In seinem Buch His Master’s Voice charakterisiert Mladen Dolar die auf Ferdinand de Saussures Theorien zurückgehende Phonologie und ihre Idee der Phoneme folgendermaßen: »Phoneme bilden die einzige Sprachschicht, die sich zur Gänze aus rein negativen Quantitäten zusammensetzt; ihre Identität ist ›eine reine Alterität‹ […]. Sie sind die sinnfreien Atome, die, miteinander kombiniert, »Sinn machen‹.«26 Dafür musste die Phonologie allerdings den biologischen Ursprungsort der Stimme und deren individuell je verschiedene Überschüsse an Bedeutung ausklammern: »jenes Mehr […], das zu den rein phonematischen distinktiven Merkmalen notwendig hinzutritt – Prosodie, Intonation und Akzent, Melodie, redundante Elemente, Varianten und so weiter. Knochen, Fleisch und Blut der Stimme waren restlos in ein Gewebe struktureller Züge aufgelöst, in eine Checkliste von An- und Abwesenheit.«27 Die Verschränkung von asignifikanten, geräuschhaften Merkmalen und sinnhaften Worten in der menschlichen Stimme, die Differenz von φωνή (phonē) und λόγος (lógos) hat die Philosophie seit ihren Anfängen beschäftigt. Wenn sich vorsymbolische, asignifikante oder unartikulierte Laute und das vernünftige Sprechen beide der Stimme als einer Art Trägersubstanz bedienen, so muss stets eine strikte Trennung zwischen beiden vollzogen werden, damit der bzw. die Sprechende nicht in die Nähe des Geräusche produzierenden Tiers gerückt werden muss. In seiner Politik schreibt Aristoteles: »Nun ist aber einzig der Mensch unter allen animalischen Wesen mit der Sprache begabt. Die Stimme ist das Zeichen für Schmerz und Lust und darum auch den anderen Sinneswesen verliehen, indem ihre Natur so weit gelangt ist, dass sie Schmerz und Lust empfinden und beides einander zu erkennen geben. Das Wort aber oder die Sprache ist dafür da, das Nützliche und das Schädliche und so denn auch das Gerechte und das Ungerechte anzuzeigen. Denn das ist den Menschen vor den anderen Lebewesen eigen, dass sie Sinn haben für Gut und Böse, für Gerecht und Ungerecht und was dem ähnlich ist. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Ideen aber begründet die Familie und den Staat.«28 25

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Der untrennbare Zusammenhang von Geräusch und Sprache tritt auch in der Onomatopoesie deutlich hervor. Sie bezeichnet alle Akte der menschlichen Geräuschnachahmung und Verständigung, die nicht auf sprachliche Zeichen und damit die Trennung von Signifikant und Signifikat zurückgreifen. Die griechische Etymologie des Wortes teilt sich in ὄνομα (onoma, ›Name‹) und ποίησις (poiesis, ›Erschaffung‹) – die Namen und Worte wären so ursprünglich in Akten der geräuschhaften Nachahmung geschaffen worden (vgl. »ὄνομα«, in: Langenscheidt. Taschenwörterbuch Altgriechisch, Berlin/München: Langenscheidt 1986, S. 315; und »ποίησις«, in: ebd., S. 354). M. Dolar: His Master’s Voice, S. 29. Ebd., S. 30. Aristoteles: Politik, 1252b 26.

3 Noise: Differenzen und Definitionen

Ohne das Wort und die Sprache lassen sich die Ideen, auf denen alle Gemeinschaftlichkeit und damit das Menschsein an sich beruht, nicht anzeigen. Aber in der politischen Logik des Aristoteles tut sich ein Riss auf, wenn sich asignifikante Stimme und bedeutendes Wort einander annähern oder aus dem gleichen Mund kommen. Die Stimme muss beseelt sein, um Wort werden zu können: »denn die Stimme ist ein bedeutungsvoller Ton (Laut), und nicht der Ton der eingeatmeten Luft wie das Husten«.29 Mladen Dolar hat diese bedeutungsleeren Äußerungen als »Stimmen, die der Signifikation vorgelagert sind, […] physiologische Äußerungen, welche die menschliche Stimme an eine animalische Natur zurückzubinden scheinen«30 charakterisiert. Diese ›Nicht-Stimmen‹ können jedoch ebenfalls bedeutungstragend werden und, je nach Situation, einen Sinn artikulieren. Dolar hat in diesem Zusammenhang von einer »Semiotik des Hustens« gesprochen, in der das Geräusch signifikant wird und sich beispielsweise dazu eignet, die eigene Anwesenheit oder ein Missfallen kundzutun. »Das Nichtartikulierte verwandelt sich in einen Modus des Artikulierten; das Vorsymbolische bezieht seinen Wert allein aus seinem Gegensatz zum Symbolischen und ist folglich gerade als Nichtsymbolisches selbst bedeutungstragend.«31 Die Gefahr einer Nähe zum Animalischen aber bleibt, zumindest für Aristoteles, bestehen, und sie produziert zwangsläufig Ausschlüsse: Nicht alles, was wie ein Mensch aussieht, kann sich auch wie einer äußern. »Die so weit voneinander abstehen, wie die Seele vom Leibe und der Mensch vom Tiere […], die also sind Sklaven von Natur […]. Denn der ist von Natur ein Sklave, der eines anderen sein kann – weshalb er auch eines anderen ist – und der an der Vernunft nur insoweit teil hat, daß er sie in anderen vernimmt, sie aber nicht selbst hat. Die anderen Sinnenwesen vernehmen nämlich ihre Stimme nicht, sondern lassen sich ausschließlich durch Gefühlseindrücke und sinnliche Empfindungen regieren und leiten. Aber auch die Dienste, die man von beiden erfährt, sind nur wenig verschieden: beide, Sklave und Haustier, verhelfen uns zur Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse.«32 In dieser Argumentation bleibt ungeklärt, wie eine Person »eines anderen wird«, sie erschöpft sich in einer Tautologie. Auch was den Abstand zwischen Mensch und Tier ausmacht und wie er aufrechterhalten werden kann, muss, gerade unter dem Aspekt der Stimme und des Hörens, genauer untersucht werden. Es gibt einen spezifischen Ekel vor dem Animalischen, und Benjamin hat dessen Modalitäten in seiner Einbahnstraße geschildert:

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Aristoteles: Über die Seele, Hamburg: Felix Meiner 1995, 420b. M. Dolar: His Master’s Voice, S. 35. Ebd., S. 36. Aristoteles: Politik, 1254b 8.

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»Beim Ekel vor Tieren ist die beherrschende Empfindung die Angst, in der Berührung von ihnen erkannt zu werden. Was sich tief im Menschen entsetzt, ist das dunkle Bewußtsein, in ihm sei etwas am Leben, was dem ekelerregenden Tiere so wenig fremd sei, daß es von ihm erkannt werden könne. – Aller Ekel ist ursprünglich Ekel vor dem Berühren.«33 Seiner Funktion nach lässt sich das Gehörorgan als eine Art ultrasensibler, ins Körperinnere verlagerter Tastsinn verstehen.34 Die Berührung durch die Stimme kann ebenso intim wie die Berührung der Haut sein, und es ließen sich viele Beispiele für akustischen Ekel aufzählen (unter denen auch die Geräusche der Kreaturen vertreten wären).35 In diesem Sinne lässt sich die antike Abgrenzung von der animalischen φωνή (phonē) besser verstehen: Die in den Kopf eindringende Stimme des Tieres könnte einen Punkt berühren, an dem die Gefahr des Erkennens, der Identifikation besteht. Die Teilhabe an der Stimme kann den Status des Herren in Frage stellen. Der edle und vernünftige Mensch der Antike, der Besitzer von Tieren und Sklaven, war für Aristoteles vor solchen ekelhaften Berührungen durch einen weiten Abstand geschützt. Abstände, Hierarchien und Stratifizierungen durchziehen die gesamte aristotelische Politik. Tugend und Vernunft sind für ihn unter den Menschen ungleich verteilt, und daraus ergibt sich die ideale Rangfolge der Gesellschaft: »Denn auf jede Weise herrscht das Freie über das, was Sklave ist, und herrscht das Männliche über das Weibliche und herrscht der Mann über das Kind. […]. Der Sklave hat das Vermögen zu überlegen überhaupt nicht, das Weibliche hat es zwar, aber ohne die erforderliche Entschiedenheit, und das Kind hat es auch, aber noch unterentwickelt.«36 Man muss nicht bis zu den Sklavenhaltergesellschaften des antiken Griechenlands zurückgehen, um Beispiele für einen Ausschluss von Menschen aufzuspüren, die nicht am herrschenden λόγος (lógos) teilhaben. Es lassen sich endlos Fälle von rassistischen, sexistischen und anderen diskriminierenden Stereotypen eines ›falschen

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Benjamin, Walter: »Einbahnstraße«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV-1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 90 f. Der Gehörsinn ist so sensibel, dass er selbst geringste Luftdruckschwankungen registrieren kann. Im Frequenzbereich um die 20 Hz geht die auditive in die taktile Wahrnehmung über (vgl. Hall, Donald E.: Musikalische Akustik. Ein Handbuch, Mainz: Schott 2008, S. 110). Diese Beispiele hätten den Bezug auf die biologischen Funktionen des menschlichen Körpers gemeinsam: die unwillkürlichen Geräuschabsonderungen des Organismus, die mehr oder weniger starken sozialen Sanktionen unterliegen. Jene Geräusche, die peinlich sind und für die man sich entschuldigt: Schluckauf, Rülpsen, die Geräusche der Verdauung und der Atemwege, Geräusche, die mit Krankheit assoziiert sind, Husten, Erbrechen etc. Aristoteles: Politik, 1260a 5.

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Sprechens‹ oder kontextgebundenen Abweichungen von einer idealen Stimme aufzählen. Das Hören einer fremden Sprache ›im eigenen Land‹ ist ein Leitmotiv der aktuell um sich greifenden rassistisch eingefärbten oder offen rassistischen Diskurse über Migration.37 Für die Diskreditierung der weiblichen Stimme lassen sich eine große Zahl historischer Beispiele anführen. Was bei Aristoteles noch »des Weibes Schmuck ist Schweigen«38 hieß, ist in den Korintherbriefen des Apostels Paulus zu der Formel Mulier taceat in ecclesia geworden, in der Lutherübersetzung: »Wie in allen Gemeinden der Heiligen lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, daß sie reden, sondern sie sollen untertan sein, wie auch das Gesetz sagt.«39 Aber auch in der Ära der modernen Massenmedien lassen sich Beispiele für eine Ausgrenzung der weiblichen Stimme finden. Nina Power hat sich in dem Text Noise, Capitalism, Gender mit Vorbehalten gegenüber Rundfunksprecherinnen aus den Pioniertagen des Radios beschäftigt. Unter den von ihr angeführten Zeitzeugenberichten findet sich dieser: »Ein Berichterstatter des Londoner Evening Standard deutete an, dass schrille Frauenstimmen viele Hörer irritieren würden und dass sie zu schnell sprechen würden, unwichtige Worte überbetonten oder versuchen würden, Hörer durch schönes Sprechen zu beeindrucken. Hohe Stimmen wurden bei Frauen mit Sittsamkeit assoziiert, tiefe mit Sexualität, sodass – in einer Zwickmühle – die Stimme, die der Anschuldigung der Promiskuität entging, als nicht autoritativ genug für den Rundfunk angesehen wurde.«40 Bis in die frühen Tage des Radios hat sich eine letztlich aristotelische Einteilung der Geschlechter gehalten, in der Tugend und Vernunft durch das Attribut der sonoren 37

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Ein Beispiel aus dem Jahr 2018: Auf einem Parteitag der FDP im Mai äußerte deren Vorsitzender Christian Lindner Folgendes: »Man kann beim Bäcker in der Schlange nicht unterscheiden, wenn einer mit gebrochenem Deutsch ein Brötchen bestellt, ob das der hoch qualifizierte Entwickler künstlicher Intelligenz aus Indien ist, oder eigentlich ein sich bei uns illegal aufhaltender, höchstens geduldeter Ausländer. Damit die Gesellschaft befriedet ist, müssen die anderen, die in der Reihe stehen, damit sie nicht diesen einen schief anschauen und Angst vor ihm haben, müssen sich alle sicher sein, dass jeder, der sich bei uns aufhält, sich legal bei uns aufhält. Die Menschen müssen sich sicher sein, auch wenn jemand anders aussieht und noch nur gebrochen deutsch spricht, dass es keine Zweifel an seiner Rechtschaffenheit gibt.« (Kuzmany, Stefan: »Allzu kleine Brötchen«, Spiegel Online, 15.5.2018, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/christian-lindner-in-der-baeckereiallzu-kleine-broetchen-kommentar-a-1207539.html, abgerufen 1.7.2020) – Das ›gebrochene Deutsch‹ wird zur Analogie für bedrohliche Risse im Gesellschaftskörper. Aristoteles: Politik, 1260a30. 1 Kor. 14,34, Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart: Privilegierte Württembergische Bibelanstalt o.J. Power, Nina: »Noise, Capitalism, Gender«, in: Lerchenfeld 43 (April 2018), S. 9-23, hier S. 18, a.d. Engl.: DW.

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stimmlichen Autorität ersetzt wurden und die Vorstellung von einer angemessenen Repräsentation des λόγος (lógos) letztlich den gleichen Beschränkungen wie in antiken Zeiten unterworfen blieb. Die Präsenz von feminin konnotierten Stimmen im öffentlichen Raum und in den Massenmedien hat in den letzten hundert Jahren einen Strukturwandel erlebt. Neben der Durchsetzung weiblicher Stimmen im Rundfunk hat sich dabei eine spezifische Form von akustischer Feminität im öffentlichen und privaten Raum etabliert, die sich aus automatisierten Durchsagen und digitalen Sprachassistenzen zusammensetzt. In der Konsumsphäre, an öffentlichen Verkehrsknotenpunkten und in der elektronischen Kommunikation besetzen diese Stimmen eine Position, die zwischen den Zwecken Dienstbarkeit, Information und Steuerung changiert. Power hat die Funktion dieser Stimmen als »sanften Zwang« (soft coercion) charakterisiert, als eine Verkörperung von abstrakten Machtverhältnissen. Die »servile Weiblichkeit«, die in Anwendungen wie Siri, Alexa oder Cortana derzeit ihre auffälligste Ver- bzw. Entkörperung gefunden hat, wird von Power in den Kontext der politischen Repräsentation von Frauen gestellt: »Die Stimme des sanften Zwangs […] verkündet so etwas wie ein Paradox: Während die quantitative Repräsentation für Frauen in Machtpositionen noch aussteht, sind ihre Stimmen – wenn auch geisterhaft, entkörperlicht, für gewöhnlich aufgezeichnet und im Hinblick auf Herkunft, Klassenzugehörigkeit und Tonfall sehr eng gefasst – überall. Diese Überflutung der gewerblichen und Transportwirtschaft mit weiblich klingenden Stimmen verhält sich umgekehrt proportional zur Anzahl von Frauen im Parlament; die Zahl aufgezeichneter weiblicher Stimmen übersteigt die der männlichen im Verhältnis von fünf zu eins.«41 Hieraus ergibt sich, dass die Geräuschhaftigkeit einer Stimme keine statische, naturgesetzliche Angelegenheit ist, sondern dass die Bewertung von Stimmen, wie alles die Ästhetik Betreffende, einem soziohistorischen Wandel unterliegt. Soweit der λόγος (lógos) aber ein vernünftiges Sprechen im Sinne eines herrschenden Diskurses bezeichnet oder eine symbolische Ordnung, die eng mit den Herrschaftsverhältnissen und Machtstrukturen einer Gesellschaft verzahnt ist, unterliegt der Raum, den bestimmte Stimmen einnehmen dürfen, genau diesen Machtverhältnissen. Ihr spezifischer Diskurs lässt sich als ein Aspekt von Herrschaft identifizieren, der mit der symbolischen Ordnung der Sprache eine Schnittmenge bildet. In diese Ordnung aufgenommen zu werden, würde bedeuten, an der Herrschaft teilzuhaben. So lässt sich das Politische als ein Kampf um Anerkennung fassen, der darauf zielt, die eigene Stimme und das eigene Sprechen als einen Bestandteil des 41

Power, Nina: »Soft Coercion, the City and the Recorded Female Voice«, 2014, https:// ninapower.net/2017/12/07/soft-coercion-the-city-and-the-recorded-female-voice/#more-202, abgerufen 1.7.2020, a.d. Engl.: DW.

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herrschenden Diskurses durchzusetzen. Ein Beispiel für diesen Kampf hat Jacques Rancière in Das Unvernehmen anhand der Arbeiterstreiks des 19. Jahrhunderts (und im Rückgriff auf Aristoteles) herausgearbeitet: »Die Streiks dieser Zeit erhalten ihre einzigartige diskursive Struktur von der Ausreizung dieses Paradoxes: sie sind erpicht darauf zu zeigen, dass die Arbeiter gerade als vernünftig sprechende Wesen streiken, dass die Tat, gemeinsam die Arbeit niederzulegen, nicht ein Lärm, eine gewalttätige Reaktion auf eine unangenehme Situation ist, sondern dass sie einen Logos ausdrückt, der nicht einfach der Zustand eines Kräfteverhältnisses ist, sondern eine Demonstration ihres Rechts und des Rechten bildet, die von der anderen Partei verstanden werden kann.«42 Die Rechte der Arbeiter*innen bzw. ihr subjektiv erlebtes Unrecht sollen in diesem Fall so objektiviert werden, dass sie in die abstrakte Sprache des Rechtssystems passen – eine Sprache, die alle betreffen soll, deren Beherrschung aber in Frage gestellt wird. »Es ist die Frage, ob die gemeinsame Sprache, in der sie das Unrecht aufzeigen, wirklich eine gemeinsame Sprache ist«,43 schreibt Rancière, und unterhalb dieser Fragestellung lässt sich eine weitere Frage formulieren, nämlich die, inwieweit das den Deklassierten zugefügte Unrecht – seien sie nun Sklav*innen oder Proletarier*innen – sich überhaupt im Duktus der herrschenden Klasse adäquat zum Ausdruck bringen lässt. Hans-Joachim Lenger hat diese Frage in einer Auseinandersetzung mit Rancières Text zugespitzt, indem er die Forderung, welche die Unterdrückten an die Macht adressieren könnten, ausformuliert hat. In seinem Text Animalischer Lärm wird ein Appell um Anerkennung beschrieben, der letztlich einer Bitte um Aufnahme in die symbolische Ordnung entspricht: »Den Herren nämlich beweisen zu wollen, dass man kein lärmendes Tier, sondern ein sprechendes Wesen ist, ist deren Logik im gleichen Maß verfallen, in dem es der Struktur einer herrschenden Semiotik unterworfen bleibt. Erkennt an, so der Appell dieser Streiks an die Herren, dass wir uns als Sprechende in der Ordnung des lógos bewegen, erkennt an, dass ihr einen verhängnisvollen Fehler begeht, wenn ihr uns dem Animalischen zuordnet! Seht her, hört her, wir sind keine Tiere, die durch tierischen Lärm diskreditiert sind! Erkennt an, dass wir unsererseits die semiotische Ordnung vorbehaltlos anerkennen, die ihr errichtet habt, um uns in ihr in einem Unrechtsakt, wie durch einen Missgriff, deplatziert, weil als Tiere wiederzufinden!«44

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Ranciére, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 64, Herv. i. Orig. Ebd., S. 62. Lenger, Hans-Joachim: »Animalischer Lärm«, unveröffentlichter Vortrag vom 2.4.2015 im Golem, Hamburg, S. 8, Herv. i. Orig.

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In den Worten Lengers entspricht diese Haltung einem »Sozialdemokratismus«, der um eine Reform, aber nicht um die Revolutionierung der bestehenden Verhältnisse bemüht ist. Ähnlich wie die Allgegenwart einer femininen Akustik von automatischen Stimmen sich nicht in eine Veränderung von Machtverhältnissen übersetzen lässt, kann ein Appell um Aufnahme in die herrschende symbolische Ordnung diese nicht aufbrechen oder verändern. Dagegen könnten die scheinbar asignifikanten Geräusche, Laute und Stimmen, die jeweils eine besondere Subjektivität zum Ausdruck bringen, einen Schmerz oder ein Unrecht hörbar machen und ein dynamisches Element in die als starr angenommene Ordnung der Sprache und damit des Symbolischen einführen. Das Symbolische zeichnet sich grundsätzlich durch eine Trennung oder einen Riss aus, der das sprachliche Zeichen in Signifikat und Signifikant teilt. Lenger hat darauf hingewiesen, dass diese Aufteilung nicht als statisches Verhältnis anzusehen ist: »Nicht weniger zeichnet sich in diesem Riss etwas ab, was alles Symbolische wie ein Doppelgänger durchquert: jene Virulenz eines Dia-bolischen nämlich, das ich – um es von voreiligen theologischen Konnotationen freizuhalten – als Zerwürfnis übersetzen möchte.«45 In diesem Sinne ließe sich behaupten, dass Noise ein diabolischer, Unruhe stiftender, die symbolische Ordnung herausfordernder Charakter innewohnt: Das Symbolische – σύμβολον (sýmbolon) – bedeutet ursprünglich sowohl ›Erkennungszeichen‹ als auch ›das Zusammengesetzte‹.46 Als symbolische Ordnung kann es sowohl auf die Grundstruktur der Sprache als auch, wie hier in Lengers Lesart, auf die Verschränkung von Wahrheit und Herrschaft im λόγος (lógos) verweisen. Die Bedingung für beide Ordnungen ist der feste Bezug zwischen zwei Termen, etwa zwischen Signifikant und Signifikat, zwischen Sprache und Stimme oder zwischen Herr und Sklav*in. Das Diabolische leitet sich vom griechischen διαβάλλειν (diabállein) ab, was als ›entzweien‹ oder ›auseinanderwerfen‹ übersetzt werden kann. So kann das Diabolische als ein Zerwürfnis der symbolischen Ordnung gelesen werden, eine Unordnung oder ein Rauschen, das die Relation von Signifikant und Signifikat (oder von Herrschaft und Knechtschaft) durchmischt und neue Verhältnisse zu Tage treten lässt. Doch stets bemüht sich die Ordnung darum, sich gegen solche Einbrüche zu schützen, indem sie Unrecht und Schmerz nur in der Form vernünftiger Aussagen anerkennen will. »Unlautlich, unkörperlich, ohne stoffliche Substanz: jede Spur einer Genealogie des Zeichens wird auf diese Weise ausgelöscht, jeder Lärm des Materiellen, jeder Lärm des Realen getilgt. Und doch, wie alles, was derart verworfen wird, kehrt 45

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Ders.: »Die Differenz der Metapher. Zur Logik politischer Zerwürfnisse«, in: Ott, Michaela/Strauß, Harald: Ästhetik + Politik. Neuaufteilungen des Sinnlichen in der Kunst, Hamburg: Textem 2007, S. 69-80, hier S. 80. »Die Gastmarke des symbolon indes, in der die griechischen Gastfreunde ihrer Gastfreundschaft Ausdruck verliehen, war Ausdruck eines Risses. Er tritt in Erscheinung, sobald die Teile […] zusammengeworfen werden – symbolein.« (Ebd., S. 79)

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es als Rauschen des Realen, als Lärm des Nicht-Ökonomisierbaren nicht nur an den Rändern dieser Ökonomien wieder. Es bricht in ihrem Innerem auf. Und hier zeichnet sich ab, was einen Sozialdemokratismus elementar bedroht, der sich im ›Als-Ob‹ [sic] gleichberechtigter Sprecher zu bewegen sucht. […] Der animalische Lärm, den dieser Abschaum veranstaltet, kommt nämlich nicht ›von außen‹. In ihm wiederholt sich jenes Rauschen, das als Noise überall einsetzt, wo sich signifikante Ordnungen des Werts, des Begehrens oder idealer sprachlicher Bedeutung installieren. Der Lärm der Sklaven, der Frauen und Kinder erinnert an das, was aus diesen Ordnungen als Reales exkommuniziert wurde, um desto bedrohlicher in ihnen wiederzukehren.«47 Aber nicht nur in den Zerwürfnissen der symbolischen Ordnung und in den asignifikanten Heimsuchungen der Sprache machen sich Geräusche bemerkbar. Auch die Musik muss den Geräuschen einen Platz in ihren Gesetzmäßigkeiten zuweisen. Beide Systeme stellen Möglichkeiten einer Strukturierung, Organisation und Hierarchisierung des Hörbaren dar. Inwieweit Musik und Sprache ineinander übergehen können, was ihre Funktionen sind und wie sie sich voneinander unterscheiden; welche Formen von Sinnproduktion den beiden Systemen jeweils zu eigen sind und welche Resonanzen zwischen Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit auftreten können, wird in Kapitel 4.2 näher untersucht werden. Hier soll nun zunächst die besondere Rolle des Geräuschs im Bereich des musikalisch strukturierten Schalls behandelt werden. Dabei muss von einer Minimaldefinition des musikalischen Klangs ausgegangen werden, die sich aus der spezifischen abendländischen Geschichte der Tonkunst ergibt. Der Physiker Hermann von Helmholtz hat in seiner erstmals 1863 erschienenen Lehre von den Tonempfindungen eine Abgrenzung von Musik und Geräusch vorgenommen, für die bis heute Gültigkeit beansprucht wird. Die Dichotomie von Geräusch und Klang hypostasiert zwei Extreme, ein Spannungsfeld, das zwar Übergänge und Mischformen kennt, aber letztlich ein Ideal der grundsätzlichen Verschiedenheit beider festschreiben will:48 »Der erste und Hauptunterschied verschiedenen Schalls, den unser Ohr auffindet, ist der Unterschied zwischen Geräuschen und musikalischen Klängen. Das Sausen, Heulen und Zischen des Windes, das Plätschern des Wassers, das Rollen und Rasseln eines Wagens sind Beispiele der ersten Art, die Klänge sämtlicher musikalischen Instrumente Beispiele der zweiten Art des Schalls. Zwar können Geräusche und Klänge in mannigfach wechselnden Verhältnissen sich vermischen und durch 47 48

Ders.: »Animalischer Lärm«, S. 9. Ein 2015 von Christoph Haffter, Camille Hongler und Silvan Moosmüller in der Reihe Musik und Klangkultur bei Transcript veröffentlichter Sammelband trägt den Titel Geräusch – das Andere der Musik. Dieses Kapitel wird u.a. der Frage nachgehen, ob diese Trennung aufrechterhalten werden kann.

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Zwischenstufen in einander übergehen, ihre Extreme sind aber weit von einander getrennt.«49 Die von Helmholtz vorgenommene Differenzierung ist stichhaltig: Klänge sind von ihrer Struktur her einfache Schallereignisse mit einem periodisch wiederkehrenden Schwingungsmuster, während Geräusche einer komplexeren, aperiodischen Schwingung von Luftmolekülen entsprechen: »Die Empfindung eines Klanges wird durch schnelle periodische Bewegungen der tönenden Körper hervorgebracht, die eines Geräusches durch nicht periodische Bewegungen.«50 Es ist allerdings erstaunlich, dass in dieser Differenz der Hauptunterschied im Sinne einer Trennung oder Demarkationslinie des Hörbaren zu bestehen habe. Aus heutiger Perspektive würden sich eher die endlosen Mischungsverhältnisse zwischen Klang und Geräusch hervorheben lassen, die in musikalischen und außermusikalischen Kontexten eine Rolle spielen und beide tendenziell ununterscheidbar gemacht haben. In seinem Essay Zum Gehör hat Jean-Luc Nancy dieses Verhältnis so zusammengefasst: »Klang allgemein ist zunächst Mitteilung […]. Im schwächsten und am wenigsten artikulierten Grade wird man sagen, er sei ein Geräusch. (Geräusch gibt es im Anstieg und im Abklingen eines Klangs, und es gibt immer Geräusche im Klang selbst.) Doch jedes Geräusch hat auch eine Klangfarbe.«51 Geräusch und Klang berühren einander also in ihrem Timbre oder der Klangfarbe. Das so beschriebene Verhältnis ist das eines unteilbaren Übergangs und nicht das zweier »weit voneinander getrennter Extreme«, eher eine Extimität als eine Entfernung. Warum aber beharrt Helmholtz auf der Entgegensetzung der beiden Terme? Es ist anzunehmen, dass sich die durch Helmholtz vorgenommene strikte Trennung zwischen den beiden Polen Klang und Geräusch zumindest teilweise aus der ihm zur Verfügung stehenden Technologie erklären lässt. Er betätigte sich als Erfinder und entwarf die mechanischen Vorrichtungen, die ihm zur Schallmessung dienten, größtenteils selbst. Seine Helmholtz-Resonatoren, Sirenen und Vorrichtungen zur Erzeugung von Vokalen aus Stimmgabeln und Elektromagneten nehmen sich wie viktorianische Prototypen der Klangsynthesetechnologien des 20. Jahrhunderts aus.52 Ihr vergleichsweise geringes Auflösungsvermögen begünstigte dabei eine analytische Reduktion des Hörbaren auf dichotome Gegensätze. Zugleich haben die elektrischen und mechanischen Vorrichtungen der Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts allerdings Bilder erzeugt, die bis heute Gültigkeit beanspruchen und nach wie vor Verwendung finden.

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Helmholtz, Hermann von: Die Lehre von den Tonempfindungen, Braunschweig: Vieweg 1913, S. 13 f. Ebd., S. 15 f. J.-L. Nancy: Zum Gehör, S. 54 f. Vgl. H. v. Helmholtz: Die Lehre von den Tonempfindungen, S. 630-665.

3 Noise: Differenzen und Definitionen

Insbesondere die Visualisierung von Schallwellen und die damit verbundenen Vorstellungen davon, wie ein Klang ›aussehen‹ könnte, gehen auf diese Epoche zurück. Es handelt sich um die Darstellung von Schwingungsverläufen als Kurve, die sich einerseits mechanisch aufzeichnen und andererseits mathematisch berechnen lässt. Die Kurve als Abbild eines physikalischen Vorgangs stellte die Menschen vor ein neues epistemisches Problem. Wie der Medienwissenschaftler Stefan Rieger schreibt: »[S]ind die Formen akustischer Ereignisse erst einmal visualisiert, liegen sie in Doppelgestalt als akustisches Ereignis und zugleich als visuell zugängliche Form vor, ist die Frage nach deren Entsprechung virulent. In welchem Verhältnis steht das, was man hört, zu dem, was man sieht?«53 Die erste Maschine, die Schallwellen visualisieren konnte, wurde 1874 von Graham Bell und Clarence Blake konstruiert, dieser Phonautograph bildete die Vorstufe zur Erfindung von Telefon und Phonograph. Das Gerät verwendete ein exzidiertes und präpariertes menschliches Mittelohr – Trommelfell und Gehörknöchelchen –, an das ein Halm angeschlossen wurde, der Schallschwingungen auf eine rußgeschwärzte Glasplatte übertrug.54 Dieser makabre Schallschreiber übertrug weniger Schallereignisse in Schrift, als dass er ihre Spuren festhielt. Dabei fand eine Übersetzung von einem Medium in ein anderes statt. Die Darstellung als Kurvenform ermöglicht die Abbildung der Parameter Amplitude auf der y-Achse und Frequenz auf der x-Achse. Die Analogie zwischen Sicht- und Hörbarem funktioniert bei manchen basalen Wellenformen einfacher als bei anderen, der unnatürliche, obertonlose Klang der Sinuswelle beispielsweise produziert eine ideale Kurvenform, die genau dem Graphen ihrer mathematischen Funktion entspricht. Ideales weißes Rauschen gleicht einer mathematischen Zufallsverteilung, die eine gezackte Kurve ohne Wiederholungen produziert. Im Fall anderer basaler Wellenformen, die speziell bei der elektronischen Klangerzeugung eine Rolle spielen, ist dieses analogische Verhältnis weniger offensichtlich. Rechteck-, Sägezahn- oder Dreieckschwingung tragen ihre Namen aufgrund der sichtbaren Spuren, die sie hinterlassen, und nicht aufgrund einer mehr oder weniger intuitiv nachvollziehbaren Klanggestalt. Der alltäglichen, d.h. nicht mathematischen Wahrnehmung erschließt sich die Korrespondenz zwischen beiden nicht – man hört keine Rechtecke, sondern ein spezifisches Obertonspektrum, nämlich die ungeradzahligen Vielfachen der Grundfrequenz im Falle einer Rechteckschwingung. Die Erfindung Bells und Blakes bestimmt aber bis heute die technische Visualisierung von Schall. Im 20. Jahrhundert wurden die mechanischen Visualisierungsmaschinen durch Oszilloskope ersetzt, die den gleichen visuellen Eindruck mittels Elektronenröhren produzierten. Heute

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Rieger, Stefan: Schall und Rauch. Eine Mediengeschichte der Kurve, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 70. Vgl. Sterne, Jonathan: The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham/London: Duke University Press 2003, S. 31.

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Grenzen des Hörens

verfügt nahezu jede Software zur Audiobearbeitung über eine digitale Nachbildung jenes Prozesses, der ursprünglich mit einem sezierten menschlichen Ohr in Gang gebracht wurde. Helmholtz’ improvisierte Technologien gaben seinen Experimenten eine gewisse Richtung vor, da durch ihr Auflösungsvermögen simple Wellenformen leichter theoretisierbar waren als komplexe Klänge. Jene Schwingungsformen, die Helmholtz als musikalische Klänge definierte, waren im Gegensatz zu Geräuschen im Sinne der Physik systemfähig: Aus einfachen, harmonischen Schwingungen lassen sich komplexe Systeme erstellen. Hier sind die Tonleitern zu nennen, deren prototypische Form mit der halb mythischen Figur des Pythagoras am Anfang der okzidentalen Philosophie steht.55 Durch die Teilung der Saite eines Monochords in verschiedenen Proportionen lassen sich Skalen bilden, die Ton und Zahl, Musik und Arithmetik in ein harmonisches Verhältnis setzen. Diese Relation entspricht der Idee einer Sphärenharmonie: »Dieser Lehre gemäß steht die Zahl als Prinzip wie hinter dem Weltganzen, so hinter der einzelnen Seele; und immer wieder kehrt man zur Tonbewegung als der frappantesten Versinnlichung der Zahl zurück, zur Konsonanz als einer sinnlichen Offenbarung des Zahlenverhältnisses. Die Zahl ist also kosmisches Prinzip und Lebensprinzip, letzteres insofern, als die Welt, wie jedes einzelne Wesen, nur vermöge der ihm [sic] innewohnenden Harmonie wirklich Leben hat, die Harmonie […] aber durch das Zahlenverhältnis definiert wird. So ist die Zahl auch dasjenige, was bei der gegenseitigen Zuordnung von Dingen aus verschiedenen Lebensgebieten als gemeinsame Unterlage dient. Man sieht, in wie hohem Maße diese Weltanschauung nicht nur eine mathematische, sondern eine ›musikalische‹ ist.«56 Aus diesem Zusammenhang geht hervor, wie nah musikalischer Klang an der Wiege der okzidentalen Metaphysik gestanden hat. Die durch Helmholtz formalisierte Trennung entspricht einer Denkweise, die als Dichotomie des Schalls bezeichnet werden kann. Um eine Reinheit des Klangs hypostasieren zu können, muss ihm sein unreines Anderes gegenübergestellt werden. Das Geräusch wird aus der Ordnung des Klangs ausgeschlossen, um diese überhaupt erst zu ermöglichen: eine

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Pythagoras kann als semimythische Figur bezeichnet werden, es ist kaum etwas über sein Leben bekannt. In seiner Philosophie des Abendlandes hat Bertrand Russell auch den quasireligiösen Charakter seiner Theorie herausgestellt: »Die Mathematik, im Sinne des überzeugenden deduktiven Beweises, beginnt mit ihm und steht bei ihm in engem Zusammenhang mit einer besonderen Art von Mystizismus. Die Mathematik hat seither auf die Philosophie stets einen starken und verhängnisvollen Einfluß ausgeübt, was teilweise auf ihn zurückzuführen ist.« (Russell, Bertrand: Philosophie des Abendlandes, Zürich: Europa Verlag 1950, S. 51) Handschin, Jacques: Musikgeschichte im Überblick, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984, S. 49 f.

3 Noise: Differenzen und Definitionen

ursprüngliche Trennung, in der die Trennung als Ursprung fungiert.57 Dieser Vorgang folgt einem ähnlichen Impuls wie die Abgrenzung zwischen unartikulierter Stimme und vernünftiger Sprache oder jene zwischen Lärm und Musik. Sie öffnet einen Spalt, in dem sich ein Echo des ethoästhetischen Urteils vernehmen lässt. Dieses Urteil sieht sich aber der Frage ausgesetzt, inwieweit ein reiner Unterschied überhaupt denkbar ist bzw. ob sich eine Reinheit der Differenz irgendwo antreffen lässt. In einer Fußnote des 1966 veröffentlichten Vortrags Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation hat Jacques Derrida das Problem einer ›reinen Differenz‹ so charakterisiert: »Indem man eine Reinheit in den Begriff der Differenz einführen will, führt man ihn zur Differenzlosigkeit und zur vollen Fülle wieder zurück. […] Man entgeht dem, so scheint es, nur, wenn man die Differenz außerhalb der Bestimmung des Seins als Präsenz, außerhalb der Alternative der Präsenz und der Abwesenheit all dessen, was sie anleiten, denkt, indem man die Differenz als ursprüngliche Unreinheit, das heißt als ›différance‹ in der endlichen Ökonomie des Selben denkt.«58 Im Folgenden hoffe ich zeigen zu können, dass ein mehr oder weniger stabiles Verhältnis der Kontiguität zwischen Derridas Antikonzept der différance und der hier anvisierten Definition von Noise besteht. Wäre Noise nicht ein guter Name für jenen Rest, jene Unschärfe, welche die Vorstellung einer Reinheit der Differenz immer wieder durchkreuzt oder verunreinigt? Als Beimengung eines Rauschens in den Diskurs, das sich u.a. in einem schwierig zu ordnenden Geflecht von Analogien zwischen den verschiedenen Bedeutungen von Noise aufspüren lässt, ist es eine Heimsuchung für die Idee des reinen Unterschieds. Allerdings hat die abendländische Musiktradition im Bereich des Hörbaren ein Modell für Reinheit aufgestellt, das sich dem Geräusch quasi naturwüchsig entgegensetzen lässt, obwohl es sich um ein artifizielles System handelt. Hierbei geht es weniger um den konkreten Klang eines beliebigen Instruments oder einer Stimme, sondern um den Ton als abstraktes Notenzeichen und seine physikalische Entsprechung. Der Kammerton aˈ ist als Einzelschwingung mit einer Frequenz von 440 Hz definiert. Er ist kein naturwüchsiger Bezugspunkt für Tonhöhe, sondern entspricht einer kontingenten historischen Entwicklung, in der über Jahrhunderte regional verschiedene Stimmungssysteme koexistierten bzw. konkurrierten. Letztlich wurde er durch eine Kommission festgelegt, die sich ebenso gut auf eine andere, benachbarte Frequenz hätte einigen können.59 Ein reiner Ton, d.h. eine einzelne 57

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Diese Formel spielt u.a. im Denken Nancys eine wichtige Rolle: »Eine ursprüngliche Spaltung, das bedeutet gleichermaßen, dass ein Ursprung gespalten und dass eine Spaltung ursprünglich ist.« (Nancy, Jean-Luc: Der ausgeschlossene Jude in uns, Zürich: Diaphanes 2018, S. 79) Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 378. Vgl. Resolution (71) 16 des Europarats vom 30.6.1971, in der u.a. auch 440 Hz als Frequenz für das Freizeichen des Telefonnetzes festgelegt wurde: »Die Verbreitung der standardisierten

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Schwingung ohne jede Klangfarbe oder Komplexität, war vor der Erfindung elektronischer Sinusgeneratoren kaum zu realisieren (die durch Elektromagneten zum Schwingen gebrachten Stimmgabeln in der Versuchsanordnung von Helmholtz waren ein frühes Modell dieser Anordnung). Vor dem 20. Jahrhundert existierte die Sinusschwingung nur als mathematische Funktion bzw. als deren Graph. Die sterile, klanglich absolut ›farblose‹ Sinusschwingung ist die akustische Entsprechung zu den abstrakten Notenzeichen, welche die abendländische Musikkultur hervorgebracht hat: eine abstrakte Anweisung für die zu treffende Tonhöhe, die sich auf verschiedenen Instrumenten realisieren lässt (so können etwa Orchesterpartituren in Klavierfassungen umgewandelt werden; dabei wird sich der Klangcharakter einer beliebigen Komposition durch das jeweils verwendete Instrument oder die Fähigkeiten der jeweiligen Interpret*innen verändern. Eine exakte Reproduktion ist unmöglich, oder, in einem anderen Register: die Komposition existiert nur als Virtuelles, das in Aufführungen jeweils verschieden aktualisiert wird). Die Realität des Akustischen, und damit auch des Musikalischen, ist, dass perfekte Harmonie, Periodizität oder tonale Reinheit eher einer ideellen Vorstellung als einer konkreten Akustik entsprechen. Reale Schallereignisse und damit Hörerfahrungen sind immer von Geräuschen, d.h. Unreinheiten durchsetzt. Neben ihrem spezifischen Timbre lassen sich Musikinstrumente in ihrem Klang häufig gerade durch ihren Geräuschanteil unterscheiden. Es sind die Transienten und chaotischen Einschwingvorgänge, die etwa den Klangcharakter eines Klaviers auszeichnen. Wird die zeitliche Abfolge dieser Vorgänge manipuliert, lässt sich kaum noch ein bestimmtes Instrument identifizieren. Diese Hörerfahrung lässt sich exemplarisch an Karlheinz Stockhausens Étude Concrète von 1952 nachvollziehen. Das Stück wurde ausschließlich aus manipulierten Klavierklängen montiert. Ein- und Ausschwingvorgänge wurden entfernt oder vertauscht, der Höreindruck eines Klaviers lässt sich in diesem Stück kaum ausmachen. Obwohl Geräusch und Klang in den einzelnen Instrumentengruppen nicht säuberlich voneinander zu trennen sind, hat die europäische Musiktradition eine Trennung beider Sphären hervorgebracht, die nicht zuletzt entlang der Grenzen verschiedener Kulturen, Ethnien und Klassen verläuft. Soweit Klang und Geräusch bestimmten Personengruppen zugeordnet werden, muss von einem Rassismus des Musikalischen gesprochen werden. In einer Ausgabe des Großen Lexikons der Musik aus den 1970er Jahren findet sich unter dem Stichwort ›Geräusch‹ diese Stelle:

Tonhöhe A kann unterstützt werden durch ihre Verwendung als: (a) Amtszeichen des Telefonnetzes […].« (Council of Europe: Resolution (71) 16 – On the Standardisation of the Initial Tuning Frequency, 30.6.1971, https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectID=09000016 804e4fa2, abgerufen 1.7.2020, a.d. Engl.: DW) – Eine detaillierte Geschichte der europäischen Stimmungssysteme findet sich bei Bruce Haynes, in A History of Performing Pitch. The Story of ›A‹, Lanham: Scarecrow Press 2002.

3 Noise: Differenzen und Definitionen

»Obwohl der heutige Instrumentenbau eine bestimmte Perfektion erreicht hat, sind auf Instrumenten gewisse G.e. [sic] unvermeidlich: das Anblasen der Flöte etwa, der Anschlag bei Klavieren und das Anstreichen des Bogens auf Saiteninstrumenten. […] Darüber hinaus wird das G. in der Musik sogar gefordert: so weist z.B. die Musik der Neger eine Vorliebe für raue Klänge, für Nebenschwingungen und für belegte, gutturale oder nasale Stimmen auf.«60 In der durch Helmholtz vorgenommenen Definition erhält das Geräusch seine Bedeutung als ›das Andere der Musik‹ und wird so zum Gegenstand einer Audioästhetik, in der es hauptsächlich die Funktion einer negativen Abgrenzung einnimmt. Abseits dieser ästhetischen Definition kann mit Geräusch tendenziell alles Hörbare bezeichnet werden. Etwas Hörbares ein Geräusch zu nennen, impliziert zwar auch eine Wertung, aber in einem neutraleren Register als die Bezeichnung Lärm. Tendenziell besteht die gesamte hörbare Welt aus Geräuschen, die in verschiedenen Kontexten mit Bedeutung aufgeladen werden. So verstanden ist Noise eine ubiquitäre Begleiterscheinung der Existenz. Die Musik als audioästhetische Praxis, gerade in ihrer okzidentalen Ausprägung, hat aber die Idee einer tonalen Reinheit hervorgebracht, die sich von ihrer immanenten Geräuschhaftigkeit abgegrenzt und über Jahrhunderte auch die Dissonanz als zwar tonalen, aber unreinen Aspekt ausgegrenzt hat.61 Im Rückgriff auf die durch Helmholtz begründete Akustik und seine Lehre von den Tonempfindungen ist hinzuzufügen, dass eine perfekte Sinusschwingung kaum Gegenstand einer realen Hörerfahrung werden kann. Die technischen Apparaturen, die man zu ihrer Wiedergabe verwendet, werden sie zwangsläufig ›einfärben‹, indem sie minimale Verzerrungen hinzuaddieren. Der Raum, in dem sie erklingt, wird ihr spezifische Resonanzen hinzufügen. Sie lässt sich berechnen, aber nur unter Schwierigkeiten, wenn überhaupt, in ihrer mathematischen Abstraktheit zu Gehör bringen. Das Gegenteil der Sinusschwingung im Bereich des Hörbaren – genauer: in der Sphäre der an sich unmöglichen Hörerfahrungen – lässt sich in einer weiteren Bedeutungsnuance von Noise entdecken: im Rauschen. 60

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Brelet, Gisèle: »Geräusch«, in: Honegger, Marc/Massenkeil, Günther (Hg.): Das große Lexikon der Musik, Bd. 3, Freiburg/Basel/Wien 1978: Herder, S. 266. – Für die Herabsetzung, Ausgrenzung und Verfolgung abweichender musikalischer Praktiken lassen sich endlos historische Beispiele aufzählen, die allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden. Exemplarisch sei auf das Verbot von Trommeln durch US-amerikanische Sklavenhalter*innen und auf den Terminus ›entartete Musik‹ der Nationalsozialisten verwiesen. Dies hat in der abendländischen Musiktradition letztlich die Forderung Arnold Schönbergs nach einer »Emanzipation der Dissonanz« nach sich gezogen(»Schönberg sprach sich […] eine quasi gesellschaftspolitische Rolle zu, wenn er von der ›Emanzipation der Dissonanz‹ sprach, als seien seine Akkorde Jahrhunderte lang versklavte Völker gewesen.« Ross, Alex: The Rest Is Noise. Das 20. Jahrhundert hören, München: Piper 2009, S. 75). Luigi Russolos ›Geräuschkunst‹ und die Musique concrète nach Pierre Schaeffer forderten und verwirklichten an Schönberg anschließend eine Emanzipation des Geräuschs.

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Grenzen des Hörens

3.4

Rauschen und Störung

Rauschen, aus dem mittelhochdeutschen ruschen bzw. riuschen, ist, wie das Geräusch, eine Verbsubstantivierung, die ursprünglich eine schnelle Bewegung bezeichnete bzw. sich »in den älteren Sprachen vielfach von der ungestümen, wilden Bewegung lebender Wesen« ableitete.62 Als akustisches Phänomen63 lässt sich Rauschen auf diese archaische Bedeutung zurückführen. In seiner modernen Definition bezeichnet das Wort eine extreme Form des Geräuschs, eine maximal ungeordnete Wellenbewegung, die einer statistischen Zufallsverteilung entspricht. In seiner das weitestmögliche Spektrum umfassenden Form wird von einem ›weißen Rauschen‹ gesprochen. Diese Bezeichnung entspricht einer Analogie zwischen Lichtund Schallwellen. Weiß ist eine ›unbunte‹ Farbe, eine intensive Mischung von allen sichtbaren Frequenzen des Lichts. Analog dazu umfasst weißes Rauschen alle hörbaren Frequenzen zu gleicher Amplitude. Dass weißes (statistisches) Rauschen einer ähnlich idealisierenden Tendenz entspricht wie die reine (deterministische) Sinusschwingung, macht der Komponist Robert R. Höldrich in seinem Text Auf der Suche nach dem Rauschen deutlich: »Als Klang gehört, lässt weißes Rauschen jeden Tonhöheneindruck vermissen. Es stellt somit auch akustisch das Gegenteil einer starren Sinusschwingung dar. […] Wenn in weißem Rauschen keine Regelmäßigkeiten – keine Perioden – auftreten, welches Energiespektrum besitzt es dann? Es beinhaltet alle Frequenzen in gleicher Stärke mit zufällig verteilter Phasenlage, also ein kontinuierliches, ›glattes‹ Spektrum. [...] Streng genommen existiert weißes Rauschen gar nicht, da ein solches Signal unendliche Leistung besitzen müßte. Weißes Rauschen und die Sinusschwingung sind nur Modelle der Wirklichkeit, eine ›weiße Lüge‹.«64 In seiner weißen Form stellt Rauschen einen Grenzbereich des Akustischen dar, in dem ein konkretes Hörerlebnis und ein physikalisches Modell (bzw. eine Idealisierung der sinnlich erfahrbaren Realität) einander berühren. Während das Geräusch eher einen asignifikanten, störenden oder überflüssigen Rest an Schall bezeichnet, ist das Rauschen mit einer spezifischen Signifikanz aufgeladen. Jenseits der Beschreibung von Schallereignissen (Wellen, Wind, Verkehr etc.) bildet Rauschen als Begriff einen Knotenpunkt für die wissenschaftlichen Diskurse der Mo-

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J. Grimm/W. Grimm: »Rauschen«, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 8, S. 20. Diese Formulierung ist allerdings provisorisch. Das Phänomen gehört eigentlich der Ordnung des Sichtbaren an. Das altgriechische φαινόμενον (phainómenon) bedeutet ›ein sich Zeigendes, ein Erscheinendes‹ und nicht ›ein zu Hörendes, sich bemerkbar Machendes, Erklingendes‹ (vgl. J.-L. Nancy: Zum Gehör, S. 11). Höldrich, Robert: »Auf der Suche nach dem Rauschen«, in: S. Sanio (Hg.): Das Rauschen, S. 126146, hier S. 131.

3 Noise: Differenzen und Definitionen

derne, in welchem sich Akustik, Thermodynamik, statistische Mechanik und Informationstheorie ineinander verschränken. Erste Theorien des Rauschens entstanden im Zuge der Entwicklung von mathematisch-physikalischen Modellen im 19. Jahrhundert und ihrer darauffolgenden praktischen Implementierung in der Elektrotechnik des 20. Jahrhunderts und dienten nachfolgenden Theoriebildungen als Ausgangspunkt. Rauschen als quantifizierbares Phänomen wurde erstmals durch Technologien wie Elektronenröhren, Verstärker und Rundfunktechnik messbar, die selbst Rauschen produzierten oder verstärkten. Analog dazu ließ sich der erste Hauptsatz der Thermodynamik – aus einem geschlossenen System kann keine Energie entweichen – erst aufstellen, nachdem die Dampfmaschine als konkretes Anschauungsobjekt zur Verfügung stand. Erste funktionale Prototypen dieser Maschine entstanden zu Beginn des 18. Jahrhunderts, eine auf ihrer Beobachtung fußende Theoriebildung setzte aber erst circa hundert Jahre später ein. Ähnliches lässt sich zu der Zeitspanne zwischen der Erfindung der Telegrafie und dem Aufkommen wissenschaftlicher Kommunikationsmodelle feststellen.65 Der Begriff der Entropie, wie er in der Thermodynamik postuliert wurde, ist eng mit der akustischen Konzeption des weißen Rauschens verwandt. Der Neologismus wurde um 1850 von dem Physiker Rudolf Clausius geprägt: ἐντροπία (ēntropiā) aus ἐν für ›in‹ und τροπεω für ›Wendung‹, die ›Ineinanderwendung‹.66 Clausius stellte auch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik auf, der in einer allgemeinen Formulierung besagt, dass sich alle Naturprozesse auf einen Zustand des Gleichgewichts hin entwickeln.67 Energie kann aus einem idealen geschlossenen System zwar nicht entweichen, sie strebt aber dahin, sich gleichmäßig zu verteilen. Eine gleichmäßige Verteilung würde jeglichen Energiefluss zum Erliegen bringen, die ›Ineinanderwendung‹ beendet den Austausch von Energie (z. B. wenn warme und kalte Flüssigkeit sich zu einer gleichmäßig lauen Temperatur vermischt haben). Auch offene Systeme wie die Organismen unterliegen den Gesetzmäßigkeiten des zweiten Hauptsatzes. Durch Energiezufuhr und Stoffwechselprozesse müssen sie eine ständige Erhaltungsarbeit leisten, um einen ›metastabilen‹ Zustand aufrechterhalten zu können (d.h. den Fluss und Austausch von Energie zu gewährleisten). Norbert Wiener, einer der Gründerväter der Kybernetik, hat Entropie daher als den stabilsten Zustand beschrieben, den ein System erreichen kann: »Sicherlich sind die Enzyme und der lebende Organismus ähnlich metastabil: der stabile Zustand eines Enzyms ist, handlungsunfähig, und der stabilste Zustand eines lebenden Organismus ist, tot zu sein.«68 Ein Zuwachs an Entropie bedeutet die 65 66 67 68

Vgl. hierzu Rolt, Lionel: Thomas Newcomen. The Prehistory of the Steam Engine, Dawlish: David & Charles 1963, S. 158. Vgl. »ἐν«, in: Langenscheidt. Taschenwörterbuch Altgriechisch, S. 156, und »τροπεω«, in: ebd., S. 425. Vgl. Sachsse, Hans: Einführung in die Kybernetik, Braunschweig: Vieweg 1971, S. 15. Wiener, Norbert: Kybernetik, Düsseldorf: Econ Verlag 1963, S. 101.

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Abnahme von verfügbarer Energie; im Maßstab lebender oder gar kosmischer Systeme wohnt dem Entropiebegriff eine gewisse Apokalyptik inne. Ausgehend davon, dass eine Gleichverteilung von Energie statistisch gesehen der wahrscheinlichste Fall ist, schreibt der Chemiker und Technikphilosoph Hans Sachsse in seiner Einführung in die Kybernetik: »[I]m wahrscheinlichsten Zustand [sind] alle Differenzen von Temperatur, Druck und auch von Konzentrationen, elektrischer Spannung und chemischen Kräften ausgeglichen. Boltzmann hat diesen Zustand des Endgleichgewichtes, in dem alle Gefälle abgebaut sind, als Zustand der molekularen Unordnung bezeichnet. Es ist ein Zustand, in dem nur noch ungeordnete Molekülbewegung existiert, aber kein gerichteter Fluß mehr. Er umfaßt nur noch einen einzigen Makrozustand, in dem ein absolutes Maximum von Mikrozuständen realisiert ist. Strukturen, die auf Differenzen beruhen, existieren nicht mehr, da nichts mehr unterscheidbar ist. Es gibt kein Leben mehr, da Leben auf Gefälle, auf den Ausgleich von Spannungen angewiesen ist. Daher hat man diesen Endzustand der molekularen Unordnung auch als Wärmetod bezeichnet.«69 Die gleichmäßige Verteilung impliziert einen ähnlichen Zustand, wie ihn das weiße Rauschen in der Akustik ansatzweise hörbar macht. Natürlich kann akustisches Rauschen nur eine Analogie für diese Gleichverteilung sein: Schall impliziert einen gerichteten Fluss, in dem Moleküle zu einer Schwingung, abweichend von ihrem Ruhepunkt, angeregt werden, und eine Ausbreitung dieser Schwingungen im Raum, eine Übertragung der Schallenergie von einem Punkt zum anderen. Die Entropie in ihrer thermodynamischen Definition aber gehört nicht dem Register des Hörbaren an. Sie ist eines der grundlegendsten Naturgesetze, so grundlegend, dass sich aus ihr die Unidirektionalität der Zeit ableiten lässt. Wenn in einem Organismus kein Energiefluss mehr geschieht, wenn Enzyme oder Neuronen ihre Arbeit nicht mehr verrichten, tritt der Tod ein. »[D]ie Tendenz der physikalischen Systeme, weniger und weniger organisiert, immer perfekter ›vermischt‹ zu werden, ist so grundsätzlich, daß Eddington behauptet, daß in erster Linie diese Tendenz der Zeit ihre Richtung gibt – uns also zeigen würde, ob ein Film der physikalischen Welt vorwärts oder rückwärts läuft.«70 Diese Sätze finden sich in der erstmals 1949 einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemachten Untersuchung Mathematische Grundlagen der Informationstheorie von Claude E. Shannon und Warren Weaver. Das von der

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H. Sachsse: Einführung in die Kybernetik, S. 15. Shannon, Claude E./Weaver, Warren: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, München/Wien: Oldenbourg 1976, S. 22. – Die Tendenz zur endgültigen Vermischung, der »Wärmetod«, lässt sich auch auf kosmischer Ebene nachweisen. Unidirektionalität der Zeit bedeutet auch, dass die Sonne eines Tages ausbrennen wird und dass das gesamte Universum in einen Zustand entropischen Rauschens übergeht.

3 Noise: Differenzen und Definitionen

Informationstheorie postulierte Kommunikationsmodell bildet eines der für das 20. Jahrhundert grundlegenden und bis heute gültigen Paradigmen. Man könnte von einer Definition der Kommunikation vor und nach dieser Theorie sprechen, sie hat eine Zäsur eingefügt, die die Digitalität von Technologie, Wissen und Gesellschaft mit ermöglicht und nachhaltig geprägt hat. Noise, das Rauschen als Störung, bildet ein begriffliches Bindeglied zwischen thermodynamischer und informationstheoretischer Definition der Entropie. Der Ursprung dieses spezifischen und nicht als akustisch zu verstehenden Begriffs von Rauschen findet sich Mitte des 19. Jahrhunderts in der vom schottischen Botaniker Robert Brown beobachteten Molekularbewegung, dem thermischen Rauschen. Friedrich Kittler hat diese Entdeckung in dem Text Signal-Rausch-Abstand mit einer vielleicht nicht zufälligen Nähe zu der Todesmetaphorik in den Definitionen der Entropie so beschrieben: »Sicher rauscht die Materie seit unvordenklichen Zeiten; aber erst Browns Zufallsentdeckung führte diese stochastische Botschaft auch in ihren Begriff ein. 1872 inspirierten ihn seltsame Zickzackbewegungen, die in Wasser gelöste Pollen unterm Mikroskop ausführten, zum Glauben, […] das verborgene Geschlechtsleben lebender Materie erstmals erblickt zu haben. […] Doch leider zeigten Browns fortgesetzte Experimente dasselbe Phänomen auch bei toten Pollen, ja bei pulverisierten Steinen. Eine spontane Irregularität, ein Rauschen der Materie zersetzte den goethezeitlichen Grundbegriff Leben […].«71 Auf molekularer Ebene bewegt sich demnach alle Materie, ob organisch oder anorganisch, oberhalb des absoluten Nullpunkts auf chaotische Art und Weise, und zwar umso schneller, je höher die Temperatur steigt. Diese brownsche Bewegung lässt sich als ein Rauschen beschreiben; hörbar wurde es aber erst, nachdem zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ersten Elektronenröhren und Verstärker begannen, ein deutlich vernehmbares – und störendes – Rauschen zu produzieren. Die Geschichte der Audio- und Informationstechnologien des 20. Jahrhunderts ist die eines andauernden Kampfes gegen dieses Rauschen und des Versuchs seiner Minimierung. Das mit der Informationstheorie postulierte Kommunikationsmodell weist dem Rauschen dabei einen besonderen Platz zu: Die Nachrichtenquelle, z.B. eine Person, wählt aus einer Anzahl möglicher Nachrichten die gewünschte aus. Ob es sich dabei um Sprache, Schrift, Musik oder Bilder handelt, ist für die Theorie unerheblich, da sie von jeglichem semantischen Inhalt einer Botschaft absieht: »Information in der Kommunikationstheorie bezieht sich nicht so sehr auf das, was gesagt wird, sondern mehr auf das, was gesagt werden könnte. Das

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Kittler, Friedrich: »Signal-Rausch-Abstand«, in: ders.: Die Wahrheit der technischen Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 214-231, hier S. 226.

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heißt, Information ist ein Maß für die Freiheit der Wahl, wenn man eine Nachricht aus anderen aussucht.«72 Der Sender (ein Telefon, ein Rundfunksender oder auch die menschlichen Sprachorgane) codiert die Nachricht zu einem Signal, welches über einen Übertragungskanal zum korrespondierenden Empfänger weitergeleitet wird. Der Empfänger decodiert das Signal wiederum zur ursprünglichen Nachricht, die das Nachrichtenziel oder den Rezipienten erreicht. Der Übertragungskanal wird dabei als grundsätzlich störungsanfällig angenommen. Was in der deutschen Übersetzung der Mathematischen Grundlagen als ›Störquelle‹ bezeichnet wird, ist im englischen Original die noise source – ein Rauschen, das als Störung definiert wird (wobei Verzerrungen, Fehler, Leerstellen, digitale Artefakte und Glitches oder sonstige signalfremde Bestandteile, kurz: das gesamte Arsenal der technischen Fehlübertragungen, ebenfalls in Betracht kommen). Die Maßeinheit für eine Situation, in der zwischen genau zwei Nachrichten gewählt werden kann, ist nach Shannon das Bit bzw. binary digit, das sich durch die Ziffern 0 und 1 darstellen lässt. Diese abstrakte Reduktion von letztlich aller darstellbaren Information auf einen Code von An- und Abwesenheit geht auf den irischen Mathematiker George Boole zurück. Der binäre Code der booleschen Algebra aus dem 19. Jahrhundert ist die Urszene der Digitalisierung.73 Die Erzeugung von Nachrichten aus einem diskreten Zeichenvorrat ist dabei Wahrscheinlichkeiten unterworfen. So gibt es in einem englischen Wörterbuch kein einziges Wort, in welchem »dem Anfangsbuchstaben ›j‹ ein b, c, d, f, g, j, k, l, q, r, t, v, w, x, oder z folgt; damit ist die Wahrscheinlichkeit, daß dem Anfangsbuchstaben j einer dieser Buchstaben folgt, praktisch Null«.74 Daraus lässt sich ableiten, dass die Generierung von Information auf stochastischen Prozessen basiert, in denen Wahrscheinlichkeiten für die Auswahl eines bestimmten Zeichens zu jedem Zeitpunkt von der vorangegangenen Zeichenauswahl abhängen. Für die Informationstheorie ist dabei entscheidend, ob einer Nachricht ein Neuigkeitswert zukommt bzw. ob sie tatsächlich eine Information übermittelt. Die Übermittlung bereits bekannter Signale wäre eine Redundanz und keine Information. Als Maßeinheit für den Informationsgehalt hat Shannon die Entropie definiert: »Daß die Information durch die Entropie gemessen wird, ist letzten Endes natürlich, wenn wir uns erinnern, daß Information in der Kommunikationstheorie mit der Größe der Wahlfreiheit, die wir bei der Konstruktion der Nachricht haben, zusammenhängt. Daher kann man auch für eine Nachrichtenquelle sagen, ebenso wie man es von einem thermodynamischen System sagen würde: Diese Situation

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C.E. Shannon/W. Weaver: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, S. 18. Vgl. hierzu Burckhardt, Martin/Höfer, Dirk: Alles und Nichts, Berlin: Matthes & Seitz 2015. C.E. Shannon/W. Weaver: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, S. 20.

3 Noise: Differenzen und Definitionen

ist klar organisiert, sie ist nicht durch ein großes Maß an Zufälligkeit oder Auswahlmöglichkeit charakterisiert – das heißt, die Information (oder die Entropie) ist niedrig.«75 Entropie entspricht für Shannon also der Menge an Auswahlmöglichkeiten. Diese können an verschiedenen Stellen der Signalkette entstehen: Die Entropie steigt genauso, wenn der Sender bei der Codierung aus 26 Zeichen statt aus zweien auswählen kann, wie wenn der Empfänger aufgrund von Übertragungsfehlern vor der Wahl aus einer Vielzahl an möglichen Decodierungen steht. Shannons Verwendung des Entropiebegriffs ist jedoch nicht deckungsgleich mit dessen Definition in der Thermodynamik. Hier und in der statistischen Mechanik ist Entropie an die von Max Planck definierte Boltzmann-Konstante (k) gebunden, die ein Verhältnis von Energie zu Temperatur bestimmt. Als Formel lässt sich die Beziehung zwischen Entropie und dieser Naturkonstante so schreiben: S = kb ln Ω. S entspricht der Entropie eines Makrozustands, die proportional zum natürlichen Logarithmus von Ω ist, dem Volumen des Zustandsraums bzw. der Anzahl der möglichen Mikrozustände. Anders ausgedrückt: Die thermodynamische Entropie ist gleich dem natürlichen Logarithmus der möglichen Zustände. So weit deckt sich ihre Definition mit der Claude Shannons: Ein Zuwachs an Mikrozuständen oder Auswahlmöglichkeiten entspricht einer Zunahme der Entropie. Diese Analogiebildung ist für Shannon aber nur möglich, indem er die Boltzmann-Konstante nicht berücksichtigt bzw. die Anbindung an Temperatur und Energie fallen lässt. Der Entropiebegriff ist damit auf alles anwendbar geworden. In ihrer Epistemology of Noise beschreibt Cecile Malaspina diesen Vorgang so: »In Boltzmanns Definition dient der Algorithmus (k) dazu, den Fluss thermischer Ladungen anzuzeigen. Da Shannon diesen physikalischen Aspekt übergeht, transformiert er Boltzmanns mathematischen Ausdruck der Entropie in ein ontologisch willkürliches Wahrscheinlichkeitsmaß. Shannon löst Wahrscheinlichkeit von Boltzmanns empirischen Messungen der wärmeerzeugenden Umwandlung von Energie in einem physikalischen System ab. Obwohl er diese Formel nun auf das Problem der elektronischen Signalübertragung, sein Konzept der ›Informationsentropie‹ und damit auch auf Noise anwendet, ist sie nun ohne ontologischen Bezug: Sie könnte uns über jegliche Wahrscheinlichkeit von Phänomenen informieren, die große Zahlen beinhalten, seien es Ströme von Signalen, Menschen, Gütern oder Einhörnern – kurz gesagt, sie ist ontologisch willkürlich.«76 Entropie gleicht in der Definition Shannons einem Einbrechen des Zufalls in eine Ordnung, was die Anzahl der Wahlmöglichkeiten erhöht und damit die Unsi75 76

Ebd., S. 22 f. C. Malaspina: An Epistemology of Noise, S. 31, a.d. Engl.: DW.

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Grenzen des Hörens

cherheit darüber, welche Nachricht die richtige sei. Jeder Fehler, jedes Rauschen und jedes Artefakt erhöht die Wahlfreiheit, es liefert eine größere Menge an Information bzw. ›Informationsentropie‹ und steigert damit die Unsicherheit. Um eine Grenze in diese Zone der Unbestimmtheit von Information und Störung einführen zu können, setzt die Informationstheorie eine Unterscheidung: »Unsicherheit, die der Entscheidungsfreiheit des Senders entspricht, ist erwünschte Unsicherheit. Unsicherheit, die aus Fehlern oder durch den Einfluß von Störungen entsteht, ist unerwünschte Unsicherheit […].«77 Es lassen sich beliebig viele Beispiele für unerwünschte Unsicherheiten in der Kommunikation im weitesten Sinne anführen. In der digitalen Datenspeicherung wird die Analogie zwischen thermodynamischer und informationstheoretischer Definition der Entropie auf anschauliche Weise enggeführt: Das Phänomen der Datenverwesung (engl. data rot oder data decay) betrifft alle digitalen Informationsspeicher. Es genügt das ›Umkippen‹ eines einzelnen Bit, um komplette Datensätze unlesbar zu machen. Entropie im Sinne der Thermodynamik etwa kann die elektrischen Ladungen, die zur Informationsspeicherung auf Solid-State-Drives verwendet werden, durch die ›Tendenz zur Vermischung‹ verfallen lassen. Das einzige Mittel, der tendenziellen Endlichkeit aller elektronischen Speichermedien zuvorzukommen, ist das Einfügen von Wiederholungen und Redundanzen. Auch in der Kommunikation zwischen Menschen kann die Unleserlichkeit des einzelnen Konsonanten B einen Unterschied ums Ganze ausmachen, indem sie etwa ›Schreien‹ und ›Schreiben‹ ununterscheidbar macht. Was Shannon als »erwünschte Unsicherheit« bezeichnet, ist als Wahlfreiheit definiert: die Möglichkeit, überhaupt aus verschiedenen Informationen auszuwählen. Welche Unsicherheit erwünscht und welche unerwünscht ist, hängt jedoch vom jeweiligen Kontext ab. Ein konkretes Beispiel aus der Praxis der elektronischen Musik verdeutlicht die terminologischen Schwierigkeiten, in die Noise im Sinne von ›Rauschen‹, ›Zufall‹ (engl.: random noise) und ›Störsignal‹ in diesem Bereich führen kann. Eine zufällige Verteilung von Spannungswerten kann erwünscht sein, wenn etwa aus Rauschen eine sich ständig verändernde Abfolge von Tonhöhen erzeugt werden soll.78 Unerwünscht wäre ein Rauschen, das aus elektromagnetischen Ein-

77 78

C.E. Shannon/W. Weaver: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, S. 29. In der analogen Klangsynthese werden solche Vorgänge mit Hilfe einer Sample-and-HoldSchaltung realisiert. André Ruschkowski gibt in seiner umfassenden Veröffentlichung Elektronische Klänge und musikalische Entdeckungen diese Erklärung: »Diese Baugruppe liefert […] eine sich innerhalb eines festgelegten Bereiches zufällig ändernde Ausgangsspannung (engl. Random voltage). Deshalb hat sich auch die Bezeichnung Zufallsgenerator eingebürgert. Aus einem Rauschsignal, in dem alle Frequenzen und Amplituden enthalten sind, wird in regelmäßigen Abständen eine ›Probe‹ entnommen (engl. Sample) und bis zur nächsten Probenentnahme festgehalten (engl. Hold).« (A. Ruschkowski: Elektronische Klänge und musikalische Entdeckungen, S. 169)

3 Noise: Differenzen und Definitionen

streuungen in den Signalweg entsteht und das eigentlich gewünschte Schallsignal überdeckt. Die aus der Informationstheorie abgeleiteten Definitionen von Noise sind also nicht per se negativ, d.h. auf Störung oder Zerstörung von Information hinauslaufend. Rauschen, Zufall und Abweichungen können produktiv gemacht werden, Potenziale generieren und Innovationen ermöglichen. Dieser Aspekt von Noise trat in der ›Steuerungswissenschaft‹ der Kybernetik, die sich zeitgleich mit der Informationstheorie entwickelte, zunehmend mehr in den Vordergrund.79 Ein Aspekt des Programms der Kybernetik lässt sich in der von Heinz von Foerster aufgestellten Losung Order from noise (Ordnung durch Störung) zusammenfassen, in der Rauschen, Zufall und Störungen zu einem Rohstoff werden, aus dem sich beliebige Ordnungen – soziale, politische, biologische, ästhetische und technologische – extrahieren lassen.80 Dieser produktive Aspekt von Noise steht in einem dissonanten Verhältnis zu der destruktiven oder negativen Bedeutung der Übersetzungsmöglichkeiten ›Störung‹ und ›Lärm‹. Zwar handelt es sich ›nur um Worte‹: Ungenauigkeiten und Mehrdeutigkeit sind der Sprache wesenhaft eingeschrieben und das Lexem Noise stellt dabei keinen Sonderfall dar. Gerade in den Diskursen der Informationstheorie und, in ihrem Gefolge, der Kybernetik und Systemtheorie, ist Noise allerdings das Wort, mit dem genau diese Unsicherheit und Unbestimmtheit bezeichnet wird: ein Rauschen in den Begriffsapparaten.81 Die Etymologie von Noise gleicht einer Spurensuche in der Geschichte von wissenschaftlichen und kulturellen Systemen. Als Begriff entspricht Noise einer ›nominellen Anomalie‹ im Sinne Brassiers, es öffnet eine Überschneidungszone von Definitionen und Übersetzungsmöglichkeiten, die unterschiedliche Wissensgebiete und Kontexte umfasst. Tendenziell verschwimmen in diesem begrifflichen Niemandsland die Zeitebenen, da archaische und moderne Wortbedeutungen nebeneinander existieren und aufeinander übersprechen. Zusammenfassend lassen sich folgende Thesen aufstellen: Der Ursprung des Wortes verliert sich in einem historischen Dunkel. Sein ältester datierbarer Sinn 79

80 81

Kybernetik wurde von dem griechischen Wort κύβερνητήρ (kyberneter) für ›Kapitän‹ oder ›Steuermann‹ abgeleitet (vgl. »κύβερνητήρ«, in: Langenscheidt. Taschenwörterbuch Altgriechisch, S. 266). Lässt man nausea als etymologische Wurzel von Noise gelten, so wäre der Kybernetiker oder die Kybernetikerin diejenige Person, die der Seekrankheit widersteht und ein Schiff auf Kurs hält. Vgl. hierzu insbesondere D. Mersch: Ordo ab chao. Order from Noise, und Foerster, Heinz von: Wissen und Gewissen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. Die Systemtheorie nach Niklas Luhmann könnte als Erbin der Diskurse der Kybernetik bezeichnet werden. In Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie schreibt Luhmann: »Der Aufbau sozialer Systeme (und ebenso der Aufbau psychischer Systeme) folgt dem order from noise principle (von Foerster). Soziale Systeme entstehen auf Grund der Geräusche, die psychische Systeme erzeugen bei ihren Versuchen zu kommunizieren.« (Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 291 f.)

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ist in der Verwobenheit von Lärm und Konflikt zu finden, und von hier aus hat es eine Bandbreite von zumeist negativen Bedeutungen im Bereich des Akustischen angenommen – vom ›großen‹ Lärm der Katastrophen und Revolten bis zum ›kleinen‹ der alltäglichen und allgegenwärtigen Geräusche. Zwischen beiden Polen liegt das Rauschen als ein universales Schallereignis, das in mikroskopischer Form ein ›Grundrauschen der Materie‹ bildet und makroskopisch als umfassender Gesamteindruck wie beim Meeresrauschen auftreten kann. Die modernen Wissenschaften haben dieses Bedeutungsspektrum erweitert, das Rauschen mit Entropie assoziiert und schließlich mit der informationstheoretischen Definition von Noise eine Bedeutung geschaffen, die Rauschen mit Zufall, Störung und Information kurzgeschlossen hat. In einer Art räumlicher Projektion, die die vier Aspekte Lärm, Geräusch, Rauschen und Störung um Noise als ihr Zentrum gruppiert, würden sich verschiedene Bereiche der Unschärfe, Zonen der Berührung und Knotenpunkte ineinander verschränkter Bedeutungen festmachen lassen. Diese Unschärfen bilden sich aus den verschiedenen Analogien und Ähnlichkeitsbeziehungen, die sich zwischen den einzelnen Aspekten herstellen lassen. Das Hörbare nimmt sich in manchen der auf die Informationstheorie gründenden Diskurse wie eine bloße Fußnote aus. Eine Politik des Auditiven aber, die sich mit der Akustik von Macht und Widerstand beschäftigt, muss den kleinen Geräuschen und Störungen ebenso ihr Ohr leihen wie dem großen Lärm, den Herrschaft und Revolte produzieren können. Noise bietet sich als Schlüsselkonzept einer solchen Theorie an. Zu seinem begrifflichen Rauschen gehört, dass es dabei immer wieder von anderen möglichen Bedeutungen und Definitionen heimgesucht wird. Die Bedeutung von Noise steht nicht still. Sie besetzt zugleich die physiologischen Grenzen des Hörvermögens und schafft Metaphern: semantische Übertragungen und Grenzüberschreitungen zwischen den Definitionen. Im folgenden Kapitel werden Grenzen und Übertragungen ins Zentrum rücken, wobei die Schwierigkeit, über das Hörbare überhaupt eindeutige Aussagen zu treffen, eine Verbindung zwischen beiden herstellt.

4 Übertragungen: Vom Unhörbaren zur Metapher

»Man kann sich einen Menschen denken, der ganz taub ist und nie eine Empfindung des Tones und der Musik gehabt hat: wie dieser etwa die chladnischen Klangfiguren im Sande anstaunt, ihre Ursachen im Erzittern der Saite findet und nun darauf schwören wird, jetzt müsse er wissen, was die Menschen den ›Ton‹ nennen, so geht es uns allen mit der Sprache. Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen. Wie der Ton als Sandfigur, so nimmt sich das rätselhafte X des Dings an sich einmal als Nervenreiz, dann als Bild, endlich als Laut aus. Logisch geht es also jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material, worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkuckucksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge.«1 Friedrich Nietzsche

4.1

Das Unhörbare: Lärm und Stille

Noise bewegt sich als Lärm und Rauschen an den Extremen der menschlichen Hörfähigkeit, als Geräusch ist es alltäglich und allgegenwärtig. Es rührt dabei an Bereiche des menschlichen Handelns und Wahrnehmens, die sich sowohl ästhetisch (hässliche Geräusche vs. schöne Klänge) als auch ethisch (schlechter Lärm vs. gute Stille) bewerten lassen. Ethische und ästhetische Urteile können aufeinander verweisen oder in so intime Nähe zueinander rücken, dass sie ununterscheidbar werden. Der soziokulturellen Ethoästhetik vorgelagert sind die allgemeinen und unhintergehbaren Grenzen der Hörfähigkeit, deren physiologische Begrenzungen einer anthropologischen Konstante entsprechen. Das folgende Kapitel widmet sich

1

Nietzsche, Friedrich: »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne«, in: ders.: Werke, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Ullstein 1979, S. 1020 f.

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Grenzen des Hörens

diesen Grenzen des Hörens:2 Wo endet die Hörfähigkeit, wo verlaufen ihre Grenzen, und welcher Ausschnitt der Welt lässt sich hörend wahrnehmen? Welche Wellen, Schwingungen, Vibrationen entgehen dem Gehör? Und welche Rolle spielt Noise bei dieser akustischen Einrahmung (und Entgrenzung) der Welt? Die Grenzen des Hörens lassen sich mit der Zusammenstellung einiger weniger Gegensatzpaare erfassen: zu laut/zu leise, zu tief/zu hoch und zu viel/zu wenig. Die Hörfähigkeit des Menschen, die seine akustische Realität bildet, umfasst nur jenen Ausschnitt des Wellenspektrums, dem der Name Schall gegeben wurde. Schwingungen, Wellen und Vibrationen in Gasen, Flüssigkeiten und anderen elastischen Medien reichen weit über das hinaus, was die menschliche Hörwahrnehmung ausmacht. Was von Menschen gehört werden kann, bewegt sich grob in einem Spektrum zwischen 20 Schwingungen in der Sekunde (an dieser Schwelle geht auditive in taktile Wahrnehmung über, die Perzeption der kontinuierlichen Tonhöhe zerfällt in die Rhythmik der voneinander abgesetzten Einzelereignisse) und 20.000 Schwingungen im gleichen Zeitintervall. Wenn es eine physikalische Definition von Lärm gibt (als quantitativ bestimmbare Grenze, nicht als qualitatives Geschmacksurteil), dann ist sie in einem ›Zuviel‹ an Lautstärke zu finden. Zu laut wäre demnach ein Schallereignis, das intensiv genug ist, um die Hörfähigkeit temporär oder nachhaltig zu zerstören; ein Schall, der womöglich das Letzte wäre, was jemand jemals gehört haben würde. Lärm lässt sich synonym mit großer Lautstärke setzen, dem physikalischen Maß für Schallintensität. Ein Zuviel an Lautstärke verursacht Schmerzen und kann physiologische Schädigungen hervorrufen. Lautstärke ist eine Intensität, die physikalisch als eine Leistung gemessen wird, die auf einen Quadratmeter Fläche einwirkt (W/m²). Für menschliche Hörerfahrungen ist diese Maßeinheit in der Realität praktisch kaum anwendbar, denn »selbst die lautesten Klänge und Geräusche überschreiten kaum eine Intensität von 1 W/m²; trotzdem kann deren Energie um eine Billion mal größer sein als die der leisesten noch hörbaren Klänge […]. Es ist daher zum Standard geworden, stattdessen die Schallpegel-Skala zu benutzen, deren Einheit das Dezibel (dB) ist«,3 so der Akustiker Donald E. Hall. Die nach dem Erfinder des Telefons Alexander Graham Bell benannte dB-Skala gibt nicht die absolute Intensität eines Schalls an, sondern ist als logarithmisches Verhältnis zu einer Referenzlautstärke definiert. Diese liegt bei der unteren Grenze des menschlichen Hörvermögens, was einer Intensität 2

3

Ich widme mich hier den ›absoluten‹ Grenzen des menschlichen Hörsinns, ohne detailliert auf dessen biologische Funktionsweise einzugehen. Ein solches Vorgehen scheint mir gerechtfertigt, weil a) die Extreme dieses sensorischen Apparats fokussiert werden sollen, also kein Wert auf seine ›normalen‹ Funktionen gelegt wird, und b) eine sehr große Zahl von Schriften zu diesem Thema vorliegt, von denen ich hier lediglich zwei empfehle: Musikalische Akustik von Donald E. Hall (Mainz: Schott 2008) und Physikalische und psychoakustische Grundlagen der Musik von Juan G. Roederer (Berlin: Springer-Verlag 1995). D.E. Hall: Musikalische Akustik, S. 91.

4 Übertragungen: Vom Unhörbaren zur Metapher

von 10-12  W/m² oder 0 dB entspricht. Auf der anderen Seite gilt ein Schallpegel von 120 dB als Schmerzgrenze, eine dauerhafte Hörschädigung kann aber bereits nach längeren Einwirkzeiten von 80 bis 105 dB eintreten.4 Im Vergleich zum Auge reagiert das Gehör sensibler auf Geschwindigkeiten. Während 24 Einzelbilder in einer Sekunde den Eindruck einer kontinuierlichen Bewegung erzeugen, können 20 Schallsignale im gleichen Zeitraum als einzelne Ereignisse unterschieden werden: »Das Ohr kann auch noch Klangereignisse mit sehr kurzen Intervallen differenziert wahrnehmen [Fußnote: ca. 5 Millisekunden – zum Vergleich: das Auge benötigt 40 Millisekunden, um ein zeitliches Intervall zu erkennen]. Unser Hörsinn erkennt von allen Sinnesorganen am schnellsten zeitliche Muster und kann rhythmische Strukturen heraushören, wo für das Auge nur noch Chaos herrscht.«5 Die Sensibilität für Schall ist nicht gleichmäßig über das gesamte Frequenzspektrum verteilt. Bestimmte Frequenzen werden intensiver empfunden als andere. Das menschliche Gehör ist besonders empfindlich für Frequenzen um 4 kHz. Diese Schwingung bildet die Resonanzfrequenz des Trommelfells, die sich aus dessen materieller Beschaffenheit ableitet. Diese Sensibilität ist allen weiteren Vorgängen der Schallwahrnehmung vorgelagert, sie tritt in Erscheinung, bevor irgendeine Schwingung in den Organismus eingedrungen ist.6 Die Empfänglichkeit für hohe Frequenzen nimmt mit dem Alter ab oder kann durch zu hohe Schallpegel zerstört werden. Jeder Mensch ist einem konstanten Prozess unterworfen, im Zuge dessen er ›bestimmte Dinge nie wieder hören wird‹. Stille im Sinne einer absoluten Abwesenheit von Schall kann es für ein hörendes Wesen nicht geben. Als ›zu leise‹ ist dasjenige definiert, was jenseits der Schwelle liegt, an der Höreindrücke in dem Grundrauschen der brownschen Molekularbewegung und in den Bewegungsgeräuschen des eigenen Blutkreislaufs untergehen, in einer subtilen Leistung von 10-12  W/m². Diese subtile Intensität eines Rauschens, das den Hintergrund bildet, von dem sich alle Schallereignisse abheben müssen, um wahrgenommen werden zu können, war ausschlaggebend für einen Einschnitt in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts: die oft kolportierte Anekdote über den Besuch, den der Komponist John Cage 1952 dem schalltoten Raum der Harvard University abstattete und der ihn zu seinem ›stillen Stück‹ 4ʹ33″ inspirierte: 4 5 6

Vgl. Altmann, Jürgen: »Acoustic Weapons. A Prospective Assessment«, in: Science and Global Security 9, 3 (2001), S. 165-234, hier S. 178. Spehr, Georg: »Funktionale Klänge. Mehr als ein Ping«, in: H. Schulze (Hg.): Sound Studies, S. 185-208, hier S. 197. Hören könnte metaphorisch auch als ein ›Verschlucken‹ und ›Verdauen‹ von Schall aufgefasst werden: Luftschwingungen dringen in die Gehörgänge ein und werden über verschiedene Stationen in andere Medien überführt (›verdaut‹), bis sie schließlich in Nervenimpulse, den Rohstoff der Reizverarbeitung, umgewandelt werden.

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Grenzen des Hörens

»Nachdem ich nach Boston gegangen war, besuchte ich den schalltoten Raum der Harvard University. Jeder, der mich kennt, kennt diese Geschichte. Ich erzähle sie ständig. Jedenfalls hörte ich in diesem stillen Raum zwei Klänge, einen hohen und einen tiefen. Anschließend fragte ich den verantwortlichen Techniker, warum ich, da der Rregelkonformem Verhalten bewegt werden, es soll Kommunikationaum doch so still war, zwei Klänge gehört hätte. Er sagte: ›Beschreiben Sie sie.‹ Das tat ich. Er sagte: ›Der hohe Ton war Ihr Nervensystem bei der Arbeit. Der tiefe war Ihr Blutkreislauf.‹«7 Die unmögliche Stille, als tendenzieller Nullpunkt des Auditiven, ist, ähnlich wie das vorgeblich asignifikante Geräusch in der Sprache, mit einer für sie spezifischen und mächtigen Bedeutsamkeit aufgeladen. »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen«8 – in diesem Ausspruch Ludwig Wittgensteins klingt ein Paradoxon an, das umso deutlicher hervortritt, wenn man den Versuch unternimmt, es auf eine philosophische Theorie des Hörens anzuwenden. Sprache und Musik sind verschiedene Formen einer Organisation des Hörbaren und durch eine Kluft voneinander getrennt, die allerdings nicht unüberbrückbar ist. Nicht zuletzt kennen beide Formen die Pause, die Zäsur und das (beredte, ausdrucksstarke oder auch sinnstiftende) Schweigen. Das Schweigen muss nicht an sich Aussage sein, aber es stiftet potenziell Sinn – sei es als sinnhafter Bestandteil einer Information, sei es als sinnliche Zäsur in einem ästhetischen Vorgang. Schweigen, Pause und Stille erfüllen in Sprache und Musik die gleiche Funktion: die einer negativen Präsenz, die einen Raum schafft, in dem Differenzen, Spannung, Erwartung oder Zweifel entstehen können. Allerdings muss ein Schweigen als solches markiert werden, da man es sonst nicht wahrnehmen könnte, weil es im allgemeinen Hintergrundrauschen untergehen würde. In seiner Vorlesung über das Neutrum hat Roland Barthes die paradoxe Figur des beredten Schweigens so beschrieben: »Das Schweigen ist nicht ein Zeichen im eigentlichen Sinne, es verweist nicht auf ein Signifikat: es ist wie das tacet [Fußnote: In der Musik entspricht das lat. tacet (›er, sie, es schweigt‹) dem Schweigen eines Instruments oder einer Stimme während eines Teils eines Stücks.][...]; im Diskurs füge ich Leerstellen ein, nicht an sich, sondern im Verhältnis zu dem, was ich denke; der syntagmatische Wert in einer Polyphonie verfügt über mindestens drei Dimensionen: was ich denke + was ich

7 8

John Cage, zitiert nach D. Kahn: Noise, Water, Meat, S. 190, a.d. Engl.: DW. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, S. 111 resp. S. 7. – In der Einleitung schreibt Wittgenstein: »[W]ovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen«, auf der letzten Seite: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« Die Differenz von Rede und Sprache, von talk und speech, rahmt den Tractatus mit einer Uneindeutigkeit, einem minimalen Rauschen zwischen zwei Aussagen.

4 Übertragungen: Vom Unhörbaren zur Metapher

sage oder nicht sage + was beim anderen ankommt (denn mein ›Schweigen‹ wird nicht unbedingt als ›Schweigen‹ aufgenommen!).«9 Barthes unterscheidet zwei Formen der Stille: Das tacere als signifikantes Schweigen innerhalb eines Diskurses und das silere als metaphysische Ruhe: »… Tacere als Schweigen des Wortes steht also in Opposition zu silere als Schweigen der Natur oder der Gottheit.«10 In einer audioästhetischen Anordnung wie Cages 4ʹ33″ ist es schwierig bis unmöglich, diese beiden Positionen voneinander zu trennen. Silere entspricht einem Zustand ozeanischer Ruhe, einer Art von akustischem Ausdruck des Nirwanas, was mit Cages Beschäftigung mit fernöstlicher Mystik korrespondiert, die er in den 1940er Jahren aufnahm. Kahn hat Cages eklektische Beschäftigung mit Daoismus und Buddhismus untersucht und ihre wichtige Funktion bei der Herausbildung seiner Idee von Stille herausgearbeitet. Danach kommt dem Konzept der disinterestedness, der unbeteiligten oder gleichschwebenden Aufmerksamkeit von Komponist*in und Publikum gegenüber allen Schallereignissen eine Schlüsselrolle zu: »Der Begriff der disinterestedness wird so zu einer fassbaren Verbindung zwischen Cages Orientalismus und seiner ursprünglichen Formulierung von Stille.«11 Um als Komponist eine solche Interesselosigkeit in Aufführungssituationen durchsetzen zu können, musste Cage auf eine Technik zurückgreifen, die Kahn als silencing bezeichnet.12 Etwas muss also zum Schweigen gebracht werden, und im Fall von 4ʹ33″ ist es der Interpret des Stückes. Kahn schreibt: »Durch die stillschweigende Anweisung an den Interpreten, in jeder Hinsicht still zu bleiben, brachte 4'33'' den Schauplatz zentralisierter und privilegierter Äußerung zum Schweigen, durchkreuzte den unausgesprochenen Kodex des Publikums, sich ruhig zu verhalten, übertrug die Performance auf die Zuhörer[innen], sowohl in ihren Äußerungen als auch in der Verschiebung ihrer Wahrnehmung auf andere Klänge, und erklärte ein schlechtes Benehmen für rechtmäßig, das in allen möglichen anderen Zusammenhängen (einschließlich vieler musikalischer) vollkommen akzeptabel [sic] gewesen wäre. 4'33'' hat diese Rückbildung erreicht, indem der Interpret zum Schweigen gebracht wurde. Das heißt, Cages Stille folgte auf ein Zum-Verstummen-Bringen und war von ihm abhängig. In der Tat kann man auch der Auffassung sein, dass er die Konvention, Stille zu schaffen, ausweitete, indem er die über das Publikum verhängte Stille auf den Interpreten ausdehnte und vom Publikum verlangte, weiterhin gehorsam 9 10 11 12

R. Barthes: Das Neutrum, S. 59. Ebd., S. 56. D. Kahn: Noise, Water, Meat, S. 173, a.d. Engl.: DW. Silencing wird allgemein als ›zum Schweigen bringen‹ oder ›Schalldämpfung‹ übersetzt. Die eindeutige Übertragung dieser Desubstantivierung in die deutsche Sprache müsste eigentlich ›stillen‹ lauten, durch die eingebürgerte Bedeutung des Wortes bleibt diese Übersetzungsmöglichkeit aber versperrt.

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Grenzen des Hörens

zuzuhören und keine Lautäußerungen von sich zu geben, die es davon ablenken konnten, seine Wahrnehmung auf andere Klänge zu richten.«13 Die Stille, auf die Cage abzielt, kann also im Kontext seines ›stillen‹ Stücks nur durch ein Schweigen erreicht werden. Dieses Schweigen entfaltet sich im Fall von 4ʹ33″ in einem hochgradig codierten Setting, innerhalb der Situation eines Konzertbesuchs, die den Regeln der Hochkultur gehorcht. In diesem System können die Codes verschoben werden (etwa wenn das Schweigen als Erwartungshaltung und Verhaltensnorm vom Publikum auf die Aufführenden übertragen wird), aber es bleibt ein Schweigen als tacere: beredt und hochgradig signifikant. In einer realen ästhetischen Situation, d.h. bei einem Konzertbesuch als mit kulturellen Erwartungshaltungen verbundenem Anlass, kann nur auf tacere als diskursives, signifikantes Mittel zurückgegriffen werden. Silere ist im Zweifelsfall das, was sich entzieht, was unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle bleibt und keinen Rohstoff für die Kreisläufe von Diskursen bieten kann.

4.2

Das Hörbare und die Sprache

Als ›zu hoch‹ und ›zu tief‹ können Frequenzen unterhalb von 20 Hz bzw. oberhalb von 20 kHz verstanden werden. Diese Schwingungen verlassen den Bereich des Hörbaren. Im Bassbereich geht das Auditive dabei eine intime Verbindung mit dem Taktilen ein. Beide Register verschwimmen in der Wahrnehmung von Subbässen ineinander, und die Sinneszellen des menschlichen Ohres können als eine Art ultrasensibler Tastsinn im Schädelinneren verstanden werde. Infraschall und Ultraschall sind zwar nicht zu hören, haben aber Auswirkungen auf den Organismus. Das noch nicht oder nicht mehr Hörbare eröffnet damit einen unscharfen Bereich von sensorischen Überlagerungen und Übersprechungseffekten. Steve Goodman hat in seinem Buch Sonic Warfare diesem Bereich des Sinnlichen den Namen unsound gegeben. Goodman zufolge ist das Hörbare »die Bandbreite des menschlichen Hörbereichs […], eine Falte im schwingungsfähigen Kontinuum der Materie«. Diese Einfaltung lässt sich aber nicht scharf von anderen Sinnesregistern abgrenzen. »Wo Schallwahrnehmung intermodal wird oder erlischt, liegen die Wellenphänomene von Infraschall und Ultraschall. Der schmalbandige Kanal des Hörbaren taucht in die trüben Tiefen von Infraschall und Subbässen ein oder verengt sich zu den durchdringend hohen Frequenzen von Ultraschall.«14 Dieses Bild eines Grenzbereichs der Hörfähigkeit lässt sich mit Jean-Luc Nancy weiterführen. Aus seiner Perspektive sind die Grenzen des Hörens notwendig durch jene Bereiche definiert,

13 14

D. Kahn: Noise, Water, Meat, S. 166, a.d. Engl.: DW. S. Goodman: Sonic Warfare, S. 9, a.d. Engl.: DW.

4 Übertragungen: Vom Unhörbaren zur Metapher

wo es an die Demarkationslinien der anderen Sinne rührt, eine Abgrenzung von Feldern, die zugleich Möglichkeit der Berührung und Bedingung des Sinnlichen ist: »Hat man einmal erkannt, dass das Berühren die allgemeine Struktur oder der Grundton des Sich-Spürens ist, so berührt sich auf gewisse Weise spürend jeder Sinn (und rührt an die anderen Sinne). Zugleich stellt jeder sinnliche Modus oder jedes sinnliche Register eher einen Aspekt des ›(sich) Berührens‹ aus, Abstand oder Verbindung, Präsenz oder Absenz, Durchdringen oder Zurückziehen usw.«15 Dieser Aspekt der Berührung und des »Sich-Spürens« lässt sich auch in der Doppeldeutigkeit von Goodmans Begriff des unsound entdecken. Die Sinne müssen an ihre Grenzen gehen, um sich berühren zu können. Die traditionelle Einteilung in Visuelles, Auditives, Taktiles, Olfaktorisches und Gustatorisches gerät ins Schwanken und wird ›unvernünftig‹. Dieses unvernünftige Verhältnis, dem es an eindeutiger Abgrenzung mangelt, ist zugleich das, was sich mit Nancy als eine ontologische Bedingung des Sensorischen fassen lässt: ein Mit-Sein, das nicht bloß eine Ansammlung von Sinnen bezeichnet, sondern die Gleichzeitigkeit, Nähe und Abständigkeit, aus der sich ein ›Mit‹ konstituiert – ein einzelnes Vieles: »Die Struktur und die ›singulär plurale‹ Dynamik des Zusammenspiels der Sinne und eben ihre Weise, ›zusammen‹ zu sein und sich zu berühren, während sie sich voneinander unterscheiden, wären Gegenstand einer anderen Arbeit. Hier verlange ich nur, niemals aus den Augen zu verlieren, dass vom Klanglichen nichts gesagt ist, was nicht zugleich ›für‹ die anderen Register und ebenso ›gegen‹ sie gelten muss, und zwar ›ganz gegen‹ ebenso wie im Gegensatz, in einer Komplementarität und Inkompatibilität, die voneinander genauso wenig zu trennen sind wie vom Sinn selbst des sinnhaften Sinns …«16 In diesem Sinne ist das Hörbare als ein Einzelnes, und damit Musik und Sprache als je spezifische Formen der Strukturierung dieses Registers, immer auf eine Pluralität bezogen – ein Klang, der einen Geruch evoziert, ein Bild, dessen Erinnerung untrennbar mit einem bestimmten Lied verbunden ist, ein Geschmack, der eine Stimme heraufbeschwört etc. Musik in ihrer klassischen Definition lässt sich als ein System auffassen, dessen Parameter innerhalb der Grenzen einer ›ästhetischen Vernunft‹ funktionieren. Der traditionelle Tonumfang eines Symphonieorchesters entspricht ungefähr jenen Frequenzen, die von den obersten und untersten Tasten eines Klaviers produziert werden können. Er reicht von A2 (27,5 Hz) bis c5 (4,1 kHz), schöpft also das

15 16

J.-L. Nancy: Zum Gehör, S. 16. Ebd.

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Potenzial der menschlichen Hörfähigkeit nicht aus. »Es gibt auch periodische Klänge, die über den Tonumfang des Klaviers hinausgehen, aber sie haben keine musikalische Tonhöhe«,17 wie sich John R. Pierces Buch Klang. Musik mit den Ohren der Physik entnehmen lässt. Innerhalb eines so definierten Systems sind die Grenzen klar gezogen und ist ihre Überschreitung von vornherein ausgeschlossen. Dabei ist evident, dass diese strikte Einhegung eines ästhetischen Materials (der zur Verfügung stehende Vorrat an gestatteten/nutzbaren Tönen oder Frequenzen) nur auf eine bestimmte westeuropäische, okzidentale oder klassische Definition von Musik anwendbar ist. Philipp Tagg hat den Ethnozentrismus der »euroklassischen« Musikwissenschaften scharf kritisiert und herausgearbeitet, dass ihre Theorien kaum die Möglichkeit bieten, nichtwestliche musikalische Techniken begrifflich zu fassen: »Solange die tonalen und formalen Praktiken von jeder anderen als der euroklassischen Musik und ihren Ablegern unkodifiziert sind, bleibt die Terminologie der herkömmlichen euroklassischen Musiktheorie unangefochten, und sie wird weiterhin jegliche Art von Musik, die für ihre wesentlichen Merkmale unzulängliche oder gar keine Konzepte bereithält, marginalisieren, trivialisieren und verfälschen.«18 Jenseits der engen Grenzen des euroklassischen Kanons bewegen sich die diversen Strömungen audioästhetischer Praktiken, die heute einen Teil der »globalen Klangszene«19 bilden – ein Areal des Musikalischen, dessen Grenzen immer wieder aus Neue gezogen werden und das jeden Versuch der Einhegung in bestimmte Tonumfänge oder Frequenzspektren beständig überschreitet. ›Zu viel‹ und ›zu wenig‹ an Hörbarem lassen sich beide auf die Ereignisdichte auditiven Materials beziehen: etwa auf die Schwelle, an der aus einer Serie einzelner Impulse ein kontinuierliches und als Klang wahrnehmbares Schallereignis wird, oder auf jene, an der durch Addition einzelner, in traditioneller Weise durchaus musikalischer Klänge eine geräuschhafte Dissonanz oder ein Rauschen entsteht. Dieser Gegensatz unterhält eine enge Verbindung zu einem Zuviel oder Zuwenig an Lautstärke, deckt aber auch andere Bereiche des Hörbaren ab. Zu wenig Variation eines Schallereignisses kann zu seiner Nichtwahrnehmbarkeit führen, etwa im Fall eines konstanten Hintergrundgeräuschs, das erst ins Bewusstsein dringt, wenn es plötzlich aufhört. Den quantitativen Grenzen des Hörens begegnet man auch in den mathematischen Abstraktionen von Sinusschwingung und

17 18 19

Pierce, John R.: Klang. Musik mit den Ohren der Physik, Heidelberg: Spektrum 1985, S. 19. P. Tagg: »Semiotics – The Missing Link between Music and the Rest of Human Knowledge«, S. 31, a.d. Engl.: DW. Vgl. J.-L. Nancy: Zum Gehör, S. 20.

4 Übertragungen: Vom Unhörbaren zur Metapher

weißem Rauschen wieder. Zwischen diesen beiden Polen akustischer ›Farblosigkeit‹ entfalten sich die Möglichkeiten des Hörens, auch der Musik, die als solche zwangsläufig durch spezifische ›Klangfarben‹ gekennzeichnet ist. Dass Klänge keine Farbe im eigentlichen Sinne haben, ist evident. Niemand außer Synästhetiker*innen könnte unmetaphorisch von gelben oder grünen Klängen sprechen, und allgemein werden keine Farbnamen für die Bezeichnung musikalischer Klänge verwendet.20 Aus der Analogiebildung, die im Begriff der Klangfarbe wirksam ist, lässt sich eine Metaphorik ableiten, mit der Klänge beschrieben werden können. Die sprachlichen Übertragungen von Bildern aus anderen Sinnesbereichen auf das Hörbare ergeben dabei eine spezifische sensuelle Hierarchie der abendländischen Ästhetik. In dieser Hierarchie steht das Visuelle – und damit die Licht- und Raummetaphorik in den Beschreibungen des Musikalischen – über dem Taktilen und Viszeralen, also jenen Anteilen von Musik, die auf die niederen Körperregionen zielen. Das Primat und Privileg des Visuellen in der Tradition des abendländischen Denkens kann wie eine Schranke zwischen den verschiedenen sensorischen Registern wirken. Nancy verdeutlicht das am Begriff des Isomorphismus:21 »Figur und Idee, Theater und Theorie, Spektakel und Spekulation passen besser zueinander, überlagern, ja, ersetzen sich passender, als das Hörbare und das Intelligible oder das Klangliche und das Logische es vermögen. Zumindest gibt es tendenziell mehr Isomorphismus zwischen dem Visuellen und dem Begrifflichen, und wäre es nur deshalb, weil die morphé, die in der Idee des ›Isomorphismus‹ implizierte ›Form‹, von vornherein in der visuellen Ordnung gedacht oder erfasst ist. Das Klangliche dagegen trägt die Form fort.«22 Isomorphie als Gleichgestaltigkeit ist nicht das Gleiche wie eine Analogie, die auf einer Beziehung der Ähnlichkeit beruht. Das Hörbare und die Sprache sind auf verschiedene Weisen miteinander verknüpft. Die Verweise und Relationen, die sich zwischen beiden aufweisen lassen, ergeben ein Netz von Beziehungen, das sie zugleich bis zur Ununterscheidbarkeit aneinander annähern und in einem unüberbrückbaren Abstand halten kann. Als Gesprochenes kann sich die Sprache nur in der Materialität des Auditiven artikulieren, aber sie stößt an ihre Grenzen, wenn sie sich anschickt, Aussagen 20 21

22

Abgesehen von der blue note der afroamerikanischen Musiktradition, bei der es sich allerdings auch um eine Metapher handelt. Ein Isomorphismus, von ἴσος (›gleich‹) und μορφή (›Form‹), entspricht in der Topologie der Möglichkeit, zwei mathematische Strukturen bijektiv – umkehrbar eindeutig – aufeinander abzubilden. Im erweiterten Sinn können Isomorphien die molekulare Gleichgestaltigkeit von Kristallen bezeichnen oder, in den Sozialwissenschaften, die Anwendbarkeit einer Theorie auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche (vgl. »ἴσος«, in: Langenscheidt. Taschenwörterbuch Altgriechisch, S. 230; und »μορφή«, in: ebd., S. 296). J.-L. Nancy: Zum Gehör, S. 9.

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über das Hörbare selbst zu treffen.23 Es gibt Aspekte des Auditiven und der Musik, die sich einer formallogischen, begrifflichen und eindeutigen Sprache entgegenstellen. Derrida hat in Die Stimme und das Phänomen auf diesen Abstand hingewiesen: »In nicht-diskursiven Signifikationsformen (der Musik und den nicht-literarischen Künsten überhaupt) […] gibt es Sinnressourcen, die nicht einem möglichen Gegenstand entgegenweisen.«24 Musik als eine Signifikationsform des Hörbaren entzieht sich also der gegenstandsbezogenen Logik, das Klangliche sperrt sich gegen den Zugriff des λόγος (lógos) als Ideal des vernünftigen Sprechens. Aber Derrida hat eindrücklich darauf hingewiesen, dass φωνή (phōnē)́ und λόγος in der Sprache der Philosophie nicht bloß durch einen Abstand und eine Differenz charakterisiert sind, sondern dass zwischen ihnen auch eine intime Relation besteht. Eine ideale Sprache braucht die Stimme und damit das Klangliche nicht nur als subordinierte Trägersubstanz, denn die metaphysische Philosophie ist von einem ›Phonozentrismus‹ durchzogen. Derrida spricht von einer »[…] von der ganzen Geschichte der Metaphysik implizierte[n] notwendige[n] Privilegierung der phoné […]«.25 Dieses Privileg der Stimme, des Hörbaren und des Klanglichen gründet sich auf das Ideal der Selbstpräsenz der Sprechenden, das Sich-selbst-Vernehmen als »Minimaldefinition von Bewußtsein«.26 Sinnlicher und sinnhafter Sinn weisen einen bedeutenden Knotenpunkt an jener Stelle auf, an der Sprache und Hörbares sich ineinander verschränken und ein Feld von Übergängen, Überschneidungen und Entsprechungen eröffnen. Diese Wechselwirkungen sind nicht bloß Gegenstand philosophischer Debatten, sie bilden auch ein Forschungsfeld der empirischen Wissenschaften. Auch in den neurologischen Prozessen, die sich im menschlichen Gehirn bei der Verarbeitung von Schallsignalen abspielen, findet ein Wechselspiel von Trennungen und Vermischungen statt, das den Relationen von klanglicher Stimme und sinnhafter Sprache ähnelt. Aus der Perspektive der Neurophysiologie lassen sich zwei Verarbeitungsmodi von Schallereignissen unterscheiden, die auf die beiden Hirnhälften verteilt sind. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Erkenntnisse über die 23

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Dies gilt ebenso für die Schriftform. Mit der Notenschrift wurde zwar eine effiziente Codierungsform für Musik geschaffen. Die Schwierigkeit aber, musikalische Vorgänge sprachlich zu erfassen, lässt sich durch den Versuch verdeutlichen, einen Notentext in eine sprachliche Beschreibung zu übersetzen: Ein solches Vorgehen würde eine unüberschaubare und größtenteils redundante Textmenge erzeugen, die (nicht nur) für ausgebildete Musiker*innen zu einem frustrierenden Leseerlebnis führen würde. Derrida, Jacques: Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 159. Ebd., S. 66. Vgl. M. Dolar: His Master’s Voice, S. 54. In diesem Zusammenhang und im Rückgriff auf Derrida spricht Dolar von einem Vorurteil der Metaphysik und der Phonologie der Schrift gegenüber: »Es besteht in der einfachen und scheinbar selbstverständlichen Annahme, daß die Stimme das Grundelement der Sprache ist, ihre natürliche Verkörperung […], während die Schrift ihr abgeleitetes, behelfsmäßiges, parasitäres Supplement darstellt […].« (Ebd., S. 53 f.)

4 Übertragungen: Vom Unhörbaren zur Metapher

Verbindungen und Trennungen zwischen beiden Prozessen stark verändert. Der Physiker Juan G. Roederer hat die neuronale Arbeitsteilung im Rückgriff auf Forschungsergebnisse der 1950er, 60er und 70er Jahre so charakterisiert: »In der Entwicklung des menschlichen Gehirns führten die außergewöhnlichen Anforderungen an die Informationsverarbeitung, die die Entwicklung der sprachlichen Kommunikation mit sich brachte, zum Auftreten der hemisphärischen Spezialisierung. Bei der Aufteilung der Aufgaben wurden die analytischen und sequentiellen Funktionen der Sprache der ›dominanten‹ Hemisphäre zugeteilt […]. Die sog. untergeordnete Hemisphäre hingegen hat die Aufgabe, synthetische ganzheitliche Merkmale wahrzunehmen und zu verarbeiten.«27 Mit dem Vokabular der Sprachwissenschaft ließen sich die Grundzüge dieser Spezialisierung so formulieren, dass die ›dominante‹ Hirnhälfte der Abfolge der Phoneme bzw. der Signifikanten folgt und dabei ihr differenzielles Wechselspiel und ihre Interpunktionen vernimmt, während die ›untergeordnete‹ Hemisphäre den Stimmungen, der Stimme und ihren Modulationen lauscht. Das linguistische Postulat der Bedeutungslosigkeit der Phoneme bildet sich in dieser Beobachtung Roederers ab: »Sogar unsinniges Geschwätz, von einem Tonband rückwärts abgespielt, wird hauptsächlich in der dominanten Hemisphäre verarbeitet [...].« Der sequenzielle Charakter der Sprachverarbeitung wirkt nach Roederer »auf einer Stufe der akustischen Informationsverarbeitung, die vor der Erkennung des Begriffsinhalts kommt«.28 Eine Bedeutung lässt sich erst entschlüsseln, wenn eine Botschaft vervollständigt wurde: wenn die Phoneme sich zu einem Wort zusammengefügt haben oder wenn eine Kette von Signifikanten punktiert wurde. Eine Umkehrung des Verhältnisses von sequentieller und holistischer Sprachverarbeitung dagegen stellt sich ein, wenn die Sprachmelodie eigenständig wird, d.h. beim Gesang. »Man stellte fest, daß Patienten mit schweren Sprachstörungen (Aphasien) ein Lied mit klaren, verständlichen Worten singen können […]. Dies legt die Vermutung nahe, daß sprachliche Äußerungen musikalischen Inhalts vorwiegend von der untergeordneten Hemisphäre verarbeitet werden.«29 Neuere Forschungsergebnisse der Neurologie dagegen betonen eher die Gemeinsamkeiten zwischen neuronaler Musik- und Sprachverarbeitung und beharren nicht mehr auf der strikten Trennung von ›dominanter‹ und ›untergeordneter‹ Hirnhälfte. In einer Studie über Das Verstehen der Bedeutung von Musik des MaxPlanck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften hat der Neurologe Stefan Kölsch gezeigt, dass das Hören von Musik ähnliche neuronale Prozesse auslöst, wie sie für das Erkennen sprachlicher Bedeutung festgestellt wurden: 27 28 29

J.G. Roederer: Physikalische und psychoakustische Grundlagen der Musik, S. 227, Herv. i. Orig. Ebd., S. 231, Herv. i. Orig. Ebd., Herv. i. Orig.

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»Wir fanden, dass die semantische Verarbeitung von Wörtern systematisch durch vorhergehende Darbietung musikalischer Information beeinflusst werden kann: Die durch Wörter evozierte N400* variiert in ihrer Größe, abhängig von der Stärke der semantischen Beziehung zwischen dem Wort und einem vorher gehörten Musikstück. Die Ergebnisse zeigen, dass Musik Repräsentation semantischer Konzepte aktivieren kann, und dass daher Musik erheblich mehr semantische Information übermitteln kann als bisher angenommen. Die Befunde stimmen mit der Annahme überein, dass das menschliche Gehirn Musik ähnlich wie Sprache verarbeitet.«30 Diesem Beispiel lässt sich entnehmen, dass Sprache und Musik als Organisationsformen des Hörbaren zumindest auf neurologischer Ebene eine gewisse Schnittmenge aufweisen. Transponiert man dieses Wissen in eine philosophische Sprache, treten die Resonanzen zwischen beiden Registern deutlicher zutage. Zu dem Verhältnis von Musik und Sprache, von Klang und Sinn hat Nancy festgestellt, dass sie sich den Raum eines Verweises teilen. Bei der Sprache ist »das Zuhören zu einem jenseits des Klanges präsenten Sinn hin gespannt«, bei der Musik dagegen »bietet sich der Sinn direkt am Klang selbst der Auskultation dar«.31 Im Akt des Zuhörens vermischen sich beide tendenziell, der sinnhafte Sinn des Sprachlichen und der sinnliche Sinn des Musikalischen verweisen aufeinander. Der Gesang gibt diesem Verhältnis einen plastischen Bezugsrahmen. Die Stimme trägt sowohl das Gesprochene als auch das Gesungene, sie kann sinnhaften Sinn als Bedeutung und sinnlichen Sinn als Ausdruck simultan erfahrbar machen. Damit ermöglicht sie ein Wechselspiel von Beziehungen, in denen das eine zum Fluchtpunkt des anderen werden kann oder es überlagert, maskiert und verdeckt. Mladen Dolar hat dieses spezifische Verhältnis so charakterisiert: »Wovon man nicht sprechen kann, davon kann man singen: Ausdruck versus Bedeutung, Ausdruck jenseits der Bedeutung, Ausdruck, der mehr ist als Bedeutung, und doch Ausdruck, der nur im Spannungsverhältnis zur Bedeutung funktioniert […]. Indem er sich so stark auf die Stimme konzentriert, führt der Gesang eigene Codes und Standards ein. Sie sind schwerer zu fassen als die linguistischen, 30

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Kölsch, Stefan: Das Verstehen der Bedeutung von Musik, Tätigkeitsbericht 2004, Max-PlanckInstitut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig, https://www.mpg.de/827586/ forschungsSchwerpunkt, abgerufen 1.7.2020. – * N400 ist die Bezeichnung für ein mittels EEG nachweisbares Hirnpotenzial. »Die N400 wird z.B. zuverlässig durch nicht in den Kontext passende Wörter (Ich trinke meinen Kaffee mit Sahne und Hund) ausgelöst und zeigt generell die Schwierigkeit an, mit der ein Wort in den Kontext eingeordnet werden kann. Sie läßt sich auditorisch und visuell erhalten. Mit Hilfe der N400 können Vorgänge der Sprachverarbeitung […] untersucht werden.« (O.V.: »Lexikon der Neurowissenschaften – N400«, Spektrum.de, 2000, https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/n400/8183, abgerufen 1.7.2020) J.-L. Nancy: Zum Gehör, S. 14.

4 Übertragungen: Vom Unhörbaren zur Metapher

gleichwohl aber hochstrukturiert. Auch der Ausdruck jenseits der Sprache ist eine äußerst komplexe Sprache, die sich anzueignen einer langen technischen Ausbildung bedarf […].«32 Eine Sprache »jenseits der Sprache« lässt sich, dieser Überlegung folgend, als jene ästhetische Bedeutung verstehen, die innerhalb der diversen kulturellen Codierungen von Gesang entstehen kann. Entscheidend für Dolars Beispiel ist, dass eine unmittelbare, mühelose und keinen Codes unterworfene Verständigung nicht möglich ist. »[I]m Kern ist es die Phantasievorstellung, die Gesangsstimme vermöchte die von der Kultur geschlagene Wunde zu heilen […]. Dieses trügerische Versprechen leugnet die Tatsache, daß die Stimme ihre Anziehungskraft dieser Wunde verdankt und daß ihre angeblich wunderbare Macht gerade daher rührt, daß sie in dieser Kluft steckt.«33 Resonanzen, Übersprechungseffekte und Überschneidungen sind ohne einen Abstand oder eine trennende Kluft nicht denkbar. Die Zugriffsmöglichkeiten der Sprache auf das Hörbare deuten diesen Abstand an, der die Sprache, als Gesprochenes, von ihrem eigenen tragenden Medium trennt.34 Das, was sich hören lässt, kann fast nur mit Wörtern beschrieben werden, die aus anderen Sinnesbereichen entlehnt sind. Der genuine Wortschatz des Hörbaren bleibt überschaubar, in der deutschen Sprache gibt es nur ein einziges Gegensatzpaar von Adjektiven, mit dem sich Höreindrücke skalieren lassen: laut und leise. Andere Wörter, die zur Beschreibung des Auditiven dienen, sind aus anderen sensorischen Registern übertragen: helle und dunkle Klänge, hohe und tiefe Töne etc. verweisen auf eine visuell-räumliche Orientierung (das Erspüren von Räumlichkeiten ist auch für das Auditive zentral, es besteht aber kein eigentlicher oder physikalischer Zusammenhang zwischen einer langsam schwingenden Bassfrequenz und räumlicher Tiefe).35 Der Umfang des je spezifischen Vokabulars eines sensorischen Bereichs lässt sich als ein Hinweis auf jene Hierarchie lesen, in der die einzelnen Sinnesregister in der okzidentalen Kulturgeschichte stehen. Das Visuelle verfügt über eine Unzahl von konkreten Farbnamen, das Auditive kennt nur den überaus abstrakten Begriff 32 33 34

35

M. Dolar: His Master’s Voice, S. 45 f. Ebd., S. 47. Dies gilt, bis zu einem gewissen Grad, auch für die alphabetische Schriftsprache, deren Zeichen als grobe Darstellung der Phoneme dienen. Die Stimme ist Teil des Hörbaren, aber nur ein kleiner Teil desselben, der sich dennoch anschickt, die ganze Welt auszusagen und/oder zu beschreiben. Dieser Zusammenhang besteht jedoch zwischen großen oder räumlich ausgedehnten Objekten, die eher in der Lage sind, ›tiefe‹ Frequenzen zu produzieren, als kleine. Im Bereich der Bassfrequenzen geht räumliche Orientierung verloren, die Schallquelle lässt sich nur schwer lokalisieren. Zugleich gehen Subbässe und taktile Wahrnehmung ineinander über. Die Sinne berühren sich und weisen Übergangszonen auf, worauf Nancy mit der »singulär-pluralen Dynamik des Zusammenspiels der Sinne« anspielt (J.-L. Nancy: Zum Gehör, S. 16).

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der Klangfarbe. In ihren ›höheren‹ Funktionen, d.h. im eigentlichen, vernünftigen Sprechen, in der Begriffsbildung, in der Anschauung des Phänomens, kurz: in der Philosophie offenbart die Sprache eine Ausrichtung hin zum Visuellen, die sich in Anschauungen und Ideen bzw. der Gestalt und den Erscheinungen (θεωρία/theoria, εἶδος/eidos und φαινόμενον/phainomenon) darstellt. Das nichtsprachliche Hörbare lässt sich zwar mit einer Vielzahl an mehr oder weniger onomatopoetischen Ausdrücken beschreiben (knurrende, schrille, brummende Geräusche etc.), im Vergleich zur begrifflichen und abstrakten Sprache der Philosophie bilden diese aber eher einen semantischen Bodensatz. Erkenntnis, Einsicht und Aufklärung bewegen sich in metaphorischer Nähe zum Licht und damit zum Sichtbaren, während die lautliche Nachahmung der akustischen Umgebung auf eine ›primitive‹ Form des sprachlichen Zugriffs auf die Welt verweist. Dieser ›Okularzentrismus‹ der okzidentalen Kultur wurde in den letzten Jahrzehnten vielfältigen Kritiken, Modifikationen und Ausdifferenzierungen unterzogen. Jean-Luc Nancys Frage »Hören, zuhören, lauschen (l’écoute), ist die Philosophie dessen fähig?«36 fasst diese Verschiebung im Sinne eines Appells zusammen.37 Die Sprache im Allgemeinen hat kaum ein eigenständiges Vokabular des Auditiven. Nancy insistiert darauf, dass die Sprache der Philosophie visuell geprägt sei und dass es in Frage stehe, ob sie des Zuhörens überhaupt fähig sei. Für ihn befasst sich die Philosophie damit, den sinnhaften Sinn und die Bedeutung zu vernehmen, und nicht damit, dem sinnlichen Ausdruck zu lauschen: »Wäre der Philosoph nicht jener, der vernimmt […], der aber nicht hören kann oder genauer, der das Hören in sich neutralisiert, um philosophieren zu können?«38 Ein Sprechen über das Hörbare findet jedoch andauernd statt, und auch die Philosophie hat in ihrer Geschichte der Musik, den Stimmen und den Geräuschen ihr Ohr geliehen. An der Musik und dem Verhältnis, das die Philosophie zu ihr einnimmt, lassen sich spezielle Modalitäten der Sprache ablesen, die zu ihrer Beschreibung taugen: das uneigentliche Sprechen, die übertragene Bedeutung und die Metapher.

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Ebd., S. 9. Natürlich lassen sich in der Philosophiegeschichte Vorläufer für diese Fragestellung finden, die von den pythagoreischen Harmonielehren über Nietzsches und Kierkegaards Auseinandersetzung mit Musik bis heute reichen. Aber erst die Sound Studies (vgl. in dieser Arbeit Kap. 5.2) haben in den letzten Jahren eine eigenständige akademische Disziplin etabliert, die Begriffe des Hörbaren abseits von denen der Akustik und der Musikwissenschaften entwickelt. J.-L. Nancy: Zum Gehör, S. 9.

4 Übertragungen: Vom Unhörbaren zur Metapher

4.3

Die Metapher: Grenzen und Übertragungen

Die Philosophie hat, trotz des Primats des Visuellen, seit ihren Anfängen ein besonderes Verhältnis zur Musik. Die Überschneidungszonen zwischen Ton und Zahl, zwischen Musik und Mathematik wurden bereits am Beispiel der pythagoreischen Skalen deutlich. Welches Bild aber hat sich die Philosophie seither von der Musik gemacht, auf welche Art von Musik bezieht sie sich und welche musikalischen Paradigmen durchziehen ihre Theorien? Welche metaphorische Funktion erfüllt Musik für die Philosophie? Einen Einblick in diesen Komplex bietet Gunnar Hindrichs in seiner musikphilosophischen Abhandlung Die Autonomie des Klangs. In ihr findet sich folgende Szene aus den Anfängen der Philosophiegeschichte: »Ein berühmter Satz des Sokrates begreift Philosophie als die ›größte Musik‹ (μεγίστη μουσική). […] Er berichtet seinen Freunden, die ihn besuchen, von einem Traum, in dem ihm befohlen worden sei, er solle Musik betreiben; und er berichtet ihnen weiter davon, daß er sich darüber gewundert habe, weil er doch die größte Musik, die Philosophie, ohnehin immer betrieben habe. Um aber sicher zu gehen, habe er dennoch damit begonnen, sich nun neben der Philosophie auch mit der Musik im gewöhnlichen Sinne, also mit der rhythmischmelodischen Verskunst, zu beschäftigen. Damit gehe er von der größten Musik, der Philosophie, zur geläufigen Musik über. […] Wenn Sokrates die Philosophie die ›größte Musik‹ nennt, dann meint er in diesem Sinne die größte Musenkunst. Mit andern Worten, Philosophie ist ihm zufolge das, was die höchste Stufe eines Zusammenhangs darstellt, den die von den Musen bewegten Künste insgesamt bilden. […] Philosophie und Musik [stehen] dadurch in einem Zusammenhang, daß sie einen gemeinsamen Bezugspunkt haben: das Schöne.«39 Diese Überschneidung von Philosophie und Musik im gemeinsamen Bezugspunkt ist, so stellt es Hindrichs fest, nicht mehr zu halten. Nicht zuletzt die Autonomie des Kunstwerks, wie sie sich im Zuge der Moderne vollzog, hat diesen Zusammenhang aufgelöst.40 Zugleich bezeichnet diese Schnittstelle aber nach wie vor einen Sehnsuchtsort: ein Denken und eine Ästhetik, die sich gemeinsam auf das Schöne berufen, welches in der Musik seinen Ausdruck findet. Die bloße Existenz von Noise-als-Musik muss solche Überlegungen allerdings verkomplizieren. Nicht nur

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Hindrichs, Gunnar: Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014, S. 8 f. Und die Musik kann somit, Hindrichs zufolge, nicht mehr Gegenstand einer »theoretischen Vernunft« sein, sondern wird »Bezugspunkt der ästhetischen Vernunft« (ebd., S. 32). Was aber, wenn es weder die eine Musik noch die eine Ästhetik im Sinne einer verbindlichen Strukturierung des Sinnlichen gibt?

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das, auch im Sprechen über ›die‹ Musik, und speziell in den philosophischen Diskursen, die sich ihr widmen, machen sich Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten und begriffliches Rauschen bemerkbar. Noise kann ›das Andere der Musik‹ nur in dem Sinne sein, dass es einer bestimmten Auffassung von Musik zuwiderläuft: dem Ideal des Wohlproportionierten, Harmonischen, das die höchste Stufe eines Zusammenhangs bildet, in dem sich ästhetische Strukturierung des Auditiven, Mathematik, Astronomie und Philosophie begegnen können. Lärm, Geräusch, Rauschen und Störung passen zumindest nicht in die Logik einer Sphärenharmonie, wovon die ästhetischen und philosophischen Entwicklungen der Moderne ein beredtes Zeugnis ablegen. Sie sind Symptome einer Welt, der Zentrum und harmonisierende Zusammenhänge zusehends abhandenkamen. Allerdings behauptet sich bis heute eine Philosophie der Musik, die an überkommenen Schönheitsidealen festhält und das Musikalische hauptsächlich unter Gesichtspunkten ästhetischer und begrifflicher Harmonie verhandelt. Bedingung von Harmonie ist Eindeutigkeit, doch es wird sich zeigen, dass auch die Sprache dieser Philosophie der Musik, wenn nicht die aller Philosophie, von Uneindeutigkeiten heimgesucht wird. Über Musik lässt sich nur metaphorisch sprechen. Auf diese prägnante Aussage lässt sich eine der Kernthesen aus dem Buch The Aesthetics of Music des britischen Philosophen Roger Scruton herunterbrechen. Dreh- und Angelpunkt von Scrutons Schriften ist die Verfechtung konservativer Ideale, was sich mit einer Auswahl seiner Veröffentlichungen belegen lässt: The Meaning of Conservatism (1980), Conservative Texts. An Anthology (1990), A Political Philosophy. Arguments for Conservatism (2006) und How to Be a Conservative (2014). Seine phänomenologischen, ästhetischen und ontologischen Überlegungen zu Musik beziehen sich auf den Kanon der europäischen Kunstmusik, und ihre Begriffe lassen sich nur aus deren Horizont ableiten. Allerdings stößt die philosophische Definition von Musik unweigerlich an jene Grenze, an der sie ihren Gegenstand kaum eigentlich beschreiben kann und den Umweg der übertragenen Bedeutung nehmen muss. Auch Scruton stellt sich diesem Problem, das er als die ›unverzichtbare Metapher‹ bezeichnet. »Es kommt zur unverzichtbaren Metapher, wenn die Art, wie die Welt uns erscheint, eher von unserer Einbindung in sie mittels unserer Vorstellungskraft abhängig ist als von unseren gewöhnlichen kognitiven Zielen. Und dies ist der Fall, wenn wir Musik hören.«41 In diesem Zusammenhang muss Scruton darauf hinweisen, dass es keine metaphorischen Tatsachen geben kann, da alle Metaphern letztlich unwahr seien: »Was in der Welt ist ein musikalisches Werk? In einer Hinsicht hat das musikalische Werk keine Identität, nämlich keine materielle Identität. Denn das Werk ist das, was wir in einer Sequenz von Tönen hören oder hören sollen, wenn wir sie als Musik hören. Und dieses – das intentionale Objekt musikalischer Wahrnehmung 41

Scruton, Roger: The Aesthetics of Music, Oxford: Clarendon Press 1997, S. 92, a.d. Engl.: DW.

4 Übertragungen: Vom Unhörbaren zur Metapher

– kann nur durch Metaphern erkannt werden, was so viel heißt wie: nur durch Beschreibungen, die unwahr sind. Es gibt nichts in der materiellen Welt des Klangs, was das musikalische Werk ist.«42 Das intentionale und immaterielle Objekt der Musik kann nur uneindeutig beschrieben werden, und gerade deshalb müssen die verwendeten Metaphern für Scruton einen zentralen Ankerpunkt haben, einen buchstäblichen und unhintergehbaren Sinn, auf den sie rekurrieren. Dieser Sinn ist dasjenige, was die Übertragung von Bedeutungen überhaupt erst ermöglicht. Verstößen gegen die von Scruton hypostasierte Ordnung – sowohl der philosophischen Sprache als auch der Musik – begegnet er mit Polemik. Diese trifft vor allem die populäre Musik zur Zeit der Veröffentlichung von The Aesthetics of Music. Musikalische Harmonie unterhält für ihn ein ethoästhetisches Verhältnis zu sozialer Harmonie. Über einige Mitte der 90er Jahre in den Charts vertretene Bands schreibt er: »[D]er Niedergang des musikalischen Geschmacks [ist] ein Niedergang der Moral. Die Anomie von Nirvana und REM ist die Anomie ihrer Zuhörer.«43 Nicht minder verabscheuungswürdig sind für Scruton Marxismus, Kritische Theorie und speziell das Denken Jacques Derridas, über das er in Bezug auf die Metapher in der philosophischen Sprache Folgendes zu sagen hat: »Insoweit wir an einer Beschreibung der Realität interessiert sind, können wir auf Metaphern verzichten […]. Es gibt jene, die das bezweifeln – die mit Derrida behaupten, dass Sprache grundsätzlich metaphorisch sei und dass jeder wörtliche Sprachgebrauch auf eine Metapher gegründet sei, die ihn unterminiert. Aber das Leben ist zu kurz, um die vollständige Widerlegung einer solchen Sichtweise in Angriff zu nehmen, die, wäre sie wahr, auch falsch sein müsste, da wenigstens eine Sache dann buchstäblich wahr wäre. Eine Metapher entsteht, wenn ein Begriff aus der Verwendung, die ihm Bedeutung gibt, in einen Kontext transferiert wird, in dem er nicht anwendbar ist oder sein kann. Es kann also nur Metaphern geben, wo es auch wörtliche Verwendungen gibt; dies zu bestreiten heißt, die Möglichkeit von Bedeutung überhaupt zu verneinen. (Eine Verneinung, die durch Derridas Schriften illustriert, aber in keiner Weise gerechtfertigt wird.)«44 Was aber, wenn es tatsächlich kein faktisches Zentrum als Bezugspunkt der metaphorischen Sprache gäbe, wenn die eindeutige, eigentliche und wörtliche Bedeutung das Resultat einer Übertragung ist und am scheinbar in sich ruhenden Ausgangspunkt der sprachlichen Bewegung nur weitere Bewegungen vorzufinden sind? 42 43 44

Ebd., S. 108, a.d. Engl.: DW, Herv. i. Orig. Ebd., S. 502, a.d. Engl.: DW, Herv. i. Orig. Ebd., S. 91, a.d. Engl.: DW.

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Ein solches metaphorisches Rauschen der Metaphern hat Derrida in seinem Text Die weiße Mythologie beschrieben. Die Sprache der klassischen Philosophie und die der Metaphysik werden in dieser Arbeit als besondere Fälle charakterisiert, da sie auf einer Eindeutigkeit oder Eigentlichkeit ihrer Aussagen fußen (was bei Scruton ›literal meaning‹, die buchstäbliche Bedeutung, genannt wird). Ziel der Sprache im Allgemeinen und der philosophischen Sprache im Besonderen ist es nach Derrida, eine Univozität herzustellen, in der ein Wort oder ein Name einen einzelnen Sinn hat, der auf ein bestimmtes Wesen oder Sein verweist. Derrida legt nun dar, dass ein Wort mehrere Bedeutungen haben kann, aber nur unter der Bedingung, dass diese Polysemie begrenzt und abgrenzbar bleibt: »Die Sprache ist nur insofern das, was sie ist, nämlich Sprache, als sie die Polysemie unter Kontrolle bringen und analysieren kann. Restlos. Eine nicht kontrollierte Streuung (dissémination) ist nicht einmal Polysemie, sie gehört dem Außerhalb der Sprache an.«45 Durch die potenziell unabschließbare Übertragungsarbeit des metaphorischen Sprechens aber wird die Kontrolle der Mehrdeutigkeit und die Konzentration der Sprache tendenziell bedroht, insbesondere wenn es um den sprachlichen Ausdruck des ›eigentlichen‹ Sinns geht. Die philosophische Metapher ist Derrida zufolge eine Art Umweg oder Kreisbewegung um den als univok angenommenen Sinn. Die Figur der Trope als Kreisbahn, Wendekreis, Umkehrung und Redewendung durchzieht seinen gesamten Text. Er verschränkt dabei die Bewegung der Sonne und die Trope der Übertragung in einer Analogie, mit der er eine Destabilisierung der metaphysischen Sprache anstrebt. Denn immer ist für ihn irgendwo eine Metapher am Werk, die übersehen wurde. In Auseinandersetzung mit Aristoteles’ Schriften zeigt Derrida, dass auch in der klassischen Philosophie Metaphern herangezogen werden, um Denkinhalte transparent zu machen, die sich mit den vorhandenen sprachlichen Mitteln nicht zum Ausdruck bringen lassen: »In dem Augenblick, da der Sinn versucht, aus sich herauszugehen […], sich ins Licht der Sprache zu stellen, fällt das Denken auf die Metapher oder die Metapher fällt dem Denken zu.«46 Die Metapher ist produktiv, durch die unvorhergesehene Verbindung von Spracheinheiten lässt sich ein Sinn oder Denkinhalt, der zuvor nicht ausdrückbar gewesen wäre, in den Fluss der Sprache einbringen – wie die intentionale Metapher bei Scruton, die es ermöglicht, Aussagen über Musik zu treffen. Zugleich aber muss ihre polysemische Streuung kontrolliert werden, es bedarf einer Instanz, die eine Art Schwerkraft erzeugt und die Rotationen der Übertragung zentriert (oder, wie bei Scruton, als ›literal meaning‹ einen unhintergehbaren und wahren Bezugspunkt für die an sich unwahre Metapher bildet). Die sprachliche Ordnung der metaphysisch-philosophischen Sprache soll sich auf geordneten Kreisbahnen bewegen und nicht in chaotisches Rauschen ausbrechen. 45 46

J. Derrida: »Die weiße Mythologie«, S. 267. Ebd., S. 252.

4 Übertragungen: Vom Unhörbaren zur Metapher

Was das Denken, was die Sprache und was die Philosophie stabilisieren und einen ruhenden Pol in die metaphorischen Prozesse einführen soll, ist ein zentrales Leuchten, das als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, Sinn und Bedeutung fungieren kann. Aus ihm leiten sich nach Derrida die »Gründer-Begriffe« bzw. die »archaischen Tropen«47 der Philosophie ab: die Theorie als Anschauung, die Gestalt oder Idee sowie Wahrheit und Vernunft als Logos (θεωρία, εἶδος und λόγος – man könnte auch sagen, dass der Okularzentrismus des abendländischen Denkens Licht und Wahrheit in eins setzt, was sich in einer Metaphorik des Visuellen niedergeschlagen hat). Das Wirken dieser zentralen Lichtquelle spürt Derrida bei verschiedenen Philosophen auf: als »göttliches Licht« der Sonne bei Aristoteles, als lumen naturale bei Descartes und als »Licht der Vernunft«, das dem »Licht des Tages« bei Pierre Fontanier entspricht.48 Eine gute Metapher könne »lebendig vor Augen [führen], was der viel hinkendere Vergleich indirekt nur nachbildet«49 – solange sie den Strahlen dieses Lichts ausgesetzt bleibe. Sie unterhalte eine Verbindung zur Natürlichkeit – sowohl zu einer Natur des Menschen, die sich u.a. dadurch auszeichnet, Metaphern bilden zu können, als auch zu der Natur als einem zur Sonne hin zentrierten Sinnzusammenhang (»In der Natur hat alles seine Natur«)50 – und bewirke zugleich eine Dissonanz im philosophischen Diskurs.51 Derrida spürt dieser Dissonanz in der Poetik des Aristoteles nach: Fehlt für eine Idee der sprachliche Ausdruck, so muss ein neuer erfunden werden. »Je überraschender der Ausdruck ist, desto stärker und manchmal wahrer, poetischer ist er«52 – und die überraschende, poetische Erfindung eines neuen Ausdrucks ist eine Metapher. Die Sonne wird von Aristoteles als perfektes Beispiel angeführt, als das Glanzvollste, Natürlichste und auf natürliche Weise Erhellendste, das vorstellbar ist. Aber bereits auf ontologischer Ebene entzieht sich dieser Glanz. Derrida schreibt über Aristoteles’ Bild der Sonne: »Sie ist da, aber wie eine unsichtbare Quelle des Lichts, in einer Art beharrlicher Sonnenfinsternis, wobei sie, mehr als wesentlich, das Wesen – Sein und Schein – von dem, was ist, hervorbringt. Man kann ihr nicht ins Antlitz sehen, ohne bestraft zu werden durch Blendung und Tod.«53 Zudem zeichnet sich die Sonne nicht durch

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52 53

Vgl. ebd., S. 244. Vgl. ebd., S. 277. Ebd., S. 258. Ebd., S. 264. Nach Aristoteles ist der Philosoph von Natur aus besonders begabt dafür, Metaphern zu erfinden: »[D]ies ist das Einzige, das man nicht von einem anderen erlernen kann, und ein Zeichen von Begabung.« (Aristoteles: Poetik, Stuttgart: Reclam 1997, 1459a) – Derrida spitzt diese Aussage zu: »Die Metapher wäre also das Eigene/das Eigentliche des Menschen.« (J. Derrida: »Die weiße Mythologie«, S. 265) Ebd., S. 261. Ebd.

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konstante Anwesenheit aus, sie ist dem Fort-da-Spiel von Nacht und Tag unterworfen, taucht auf und geht unter, verändert ihre Bahn etc. Dies ist zugleich die zentrale Metapher in Derridas Text: die Beziehung der Ähnlichkeit zwischen der Trope als Redewendung und der Sonnenwende. Ausgehend vom Bild des natürlichen Lichts der Sonne entwirft Derrida ein Geflecht von Metaphern, das zusehends sein Zentrum verliert, als Heliotrop in botanische und mineralische Bereiche entweicht und sich der Gravitationskraft des Zentralgestirns entzieht. Dabei ist es für Derrida wichtig, hervorzuheben, dass die Sonne für die antike Philosophie nur in ihrer Eigenschaft als weit entferntes, außerhalb der sinnlichen Welt stehendes Objekt ihre stabilisierende Funktion einnehmen konnte. Aus dieser Perspektive befindet sie sich nicht nur im Zentrum des Sonnensystems, sondern bildet auch das Zentralgestirn der Metaphysik. Aber die Sonne ist auch der Ausgangspunkt der metaphorischen Bewegung. »Sie erinnert uns daran, daß die natürlichste, allgemeinste, wirklichste, klarste Sache, der dem Anschein nach am weitesten außerhalb befindliche Referent, die Sonne, nicht ganz dem allgemeinen Gesetz des metaphorischen Wertes entkommt, sobald sie in den Prozeß des axiologischen und semantischen Austausches eintritt (und sie tut es immer).«54 Die Quelle der Klarheit und Bedingung der Erkenntnis ist selbst eine Metapher und damit dem ursprungs- und endlosen Spiel der metaphorischen Prozesse (d.h. bei Derrida: der Sprache bzw. des »semantischen Austausches«) unterworfen. Es ist noch nicht einmal klar, ob die Sonne eine gute Metapher ist – d.h. eine schöpferische, überraschende und poetische Wendung, die eine ansonsten nicht ausdrückbare Wahrheit ›ans Licht bringt‹.55 Zudem büßt sie, als Metapher, als künstlichsprachliche Verbindung zweier Bereiche, ihre Natürlichkeit ein. Derrida schreibt: »Die heliotropischen Metaphern sind immer unvollkommene Metaphern. Sie vermitteln uns allzu wenig Erkenntnis, da von einem der Terme, die in der Substitution (die sinnlich wahrnehmbare Sonne) direkt oder indirekt mitenthalten sind, das Eigentliche nicht erkannt werden kann. Was ebenso bedeutet, daß die sinnlich wahrnehmbare Sonne immer uneigentlich gekannt und daher uneigentlich genannt wird. […] Da der [sic] metaphorischen Trope immer einen sinnlich wahrnehmbaren Kern beinhaltet […], wird die Drehung der Sonne immer die Bahn der

54 55

Ebd., S. 239, Herv. i. Orig. Als Gegenteil der guten oder gelungenen Metapher gilt die Katachrese (das altgriechische κατάχρησις bedeutet wörtlich ›Missbrauch‹ oder ›Gebrauch über Gebühr‹. Es kann zum einen ›tote‹ oder verblasste Metaphern bezeichnen, denen ihre übertragene Bedeutung nicht mehr angemerkt werden kann, zum anderen unstimmige Kombinationen sprachlicher Bilder).

4 Übertragungen: Vom Unhörbaren zur Metapher

Metapher gewesen sein. Der schlechten Metapher, gewiß, die nur eine uneigentliche, unpassende Erkenntnis bringt. Nun ist aber die beste Metapher niemals absolut gut, sonst wäre sie ja keine Metapher […]. Die Sonne im eigentlichen Sinn, die sinnlich wahrnehmbare Sonne, bringt nicht nur schlechte Erkenntnisse, weil sie schlechte Metaphern hervorbringt, sie ist bloß metaphorisch. […] Jedesmal, wenn eine Metapher vorkommt, kommt irgendwo eine Sonne vor; aber jedesmal, wenn die Sonne vorkommt, hat die Metapher ihren Anfang genommen. Wenn die Sonne stets schon metaphorisch ist, ist sie nicht mehr ganz natürlich. Sie ist stets bereits ein künstliches Licht (lustre), man könnte sagen eine künstliche Konstruktion, falls die Bedeutung noch glaubwürdig erscheinen könnte, wenn die Natur verschwunden ist. Denn, wenn die Sonne nicht mehr ganz natürlich ist, was bleibt Natürliches in der Natur?«56 Es gibt, Derrida zufolge, keine erste Wahrheit der Philosophie als Metaphysik, keine zentrale Lichtquelle, die eine Eindeutigkeit und Klarheit der philosophischen Sprache ermöglichen würde, und noch nicht einmal eine Natürlichkeit der Natur – d.h. auch keine natürliche Einsicht, wie sie im cartesianischen lumen naturale anklingt. Die Quelle dieses Lichts ist natürlich bei Gott zu suchen. Derrida zitiert Descartes’ Ausspruch: »... ich (will) mich hier eine Weile bei der Betrachtung Gottes aufhalten, seine Eigenschaften bei mir erwägen und die Schönheit dieses unermeßlichen Lichtes, soweit es der Blick meines gleichsam geblendeten Geistes aushält, anschauen, bewundern und anbeten«,57 um Folgendes zu erwidern: »Natürlich ist die göttliche Verehrung hier die eines Philosophen, und da das natürliche Licht natürlich ist, versteht Descartes seinen Diskurs nicht als einen theologischen: das heißt als den von jemandem, der sich mit Metaphern zufrieden gibt.«58 Das natürliche Licht, die metaphysische Sonne und das aufklärerische Leuchten lassen sich auch in andere Register des menschlichen Sensoriums transponieren, indem diese visuelle Metaphorik durch die Harmonie der Sphären, den reinen Klang oder das tonale Zentrum ersetzt wird. Es gibt in der Sprache niemals eine einzelne Metapher, die als Grundlage, Prinzip oder Zentrum eines philosophischen Diskurses fungieren könnte, und deshalb muss für Derrida die Metaphysik auch an den Projekten einer »gesicherten Lesbarkeit des Eigentlichen«59 scheitern – was aber zugleich die Bedingung ihrer Möglichkeit ist, da die endlose Streuung der Metaphern den Raum für einen Text eröffnet, in dem neue Begriffe überhaupt erst gebildet werden können. Eine Ruhigstellung der metaphorischen Prozesse würde für Derrida einer Vernichtung der 56 57 58 59

J. Derrida: »Die weiße Mythologie«, S. 270. Descartes, René: Gespräch mit Burman, Hamburg: Felix Meiner 1982, S. 83, zitiert nach J. Derrida: »Die weiße Mythologie«, S. 286. J. Derrida: »Die weiße Mythologie«, S. 286. Vgl. ebd., S. 287.

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Metapher und damit dem Tod der Philosophie selbst gleichkommen. Man könnte auch sagen, dass es in einem philosophischen Diskurs keine Ruhe, keine Stille, keine starren Harmonien und kein tonales Zentrum geben kann – dies würde auf eine »Selbst-Vernichtung« der Philosophie60 hinauslaufen. Ebenso wie sich auf der Mikroebene der Sprache Worte aus an sich bedeutungslosen Geräuschen bilden, lässt sich auf der Makroebene einer philosophischen Theorie ein begriffliches Gefüge annehmen, das eher aus einer Struktur von Verweisen und Differenzen besteht, als dass es auf ein metaphysisches Zentrum von Bedeutung hin verdichtet ist. Diese Struktur würde den Echoraum von eigentlicher und übertragener Bedeutung verlassen. In einem visuellen Register und mit den Worten Derridas: »Diese Selbst-Vernichtung hätte wiederum die Form einer Generalisierung, dieses Mal würde es sich jedoch nicht mehr um die Erweiterung und Bestätigung eines Philosophems handeln, sondern eher darum, diesem in seiner grenzenlosen Entfaltung die Bordüren der Eigentlichkeit wegzureißen. Und in der Folge den beruhigenden Gegensatz von Metaphorischem und Eigentlichem zu sprengen, innerhalb dessen sich beide immer nur spiegelten und ihre Strahlen reflektierten.«61 Das Problem der Metaphorik verschärft sich, wenn die Wechselwirkungen verschiedener Sprachen ins Spiel kommen. Übersetzung und Übertragung überschneiden sich, wenn es in einer Sprache keine exakte Entsprechung eines bestimmten Wortes gibt, wenn Uneigentlichkeit und Ambiguität entstehen. Das Wort Noise führt dieses Problem vor Augen bzw. macht es deutlich vernehmbar. Der Versuch, von Noise ausgehend eine Theorie zu entwickeln, ist mit der Möglichkeit konfrontiert, dass eine der verfügbaren begrifflichen Definitionen den ›Platz der Sonne‹ einnimmt und den Diskurs zentriert – zu seinem Fluchtpunkt wird, sich als Ursprung situiert oder eine bestimmte Tonart vorgibt. Diese Tendenz hat etwas Unumgängliches, allein weil jeder Diskurs einen Ausgangspunkt benötigt, um ›umherlaufen‹ zu können, und damit einer Zentrierung auf ein Leitmotiv, einen Kernbegriff oder das ›eigentliche‹ Thema bedarf. In dieser Situation geht es darum, eine Balance zwischen Konzentration und Zerstreuung herzustellen, die die Möglichkeit bietet, so wenig Differenzen wie möglich abzuschneiden. Eine Noise-Theorie sollte den Anspruch verfolgen, selbst Noise als begriffliches Rauschen, Störung innerhalb der akademischen Konventionen und philosophischen Lärm zu produzieren. Die Metapher ist hierbei unumgänglich, da sie eine Differenz zwischen verschiedenen Wissensfeldern direkt verdeutlichen kann. Die Übertragung deckt den Abstand auf, den sie selbst überbrückt, sie verweist auf den Zwischenraum, der sich zwischen abgegrenzten Gebieten, zwischen ihren Grenzen auftut. Die Lücke oder Kluft, die Abwesenheit des Dazwischen ist selbst 60 61

Ebd., S. 289. Ebd.

4 Übertragungen: Vom Unhörbaren zur Metapher

nicht benennbar, die Metapher verweist auf sie, während sie selbst in eine andere, neue Richtung strebt. Das von Noise als Begriff gebildete semantische Netz ist selbst das Produkt eines historischen Prozesses der Analogiebildung und Metaphorisierung, der eng mit der Geschichte der Naturwissenschaften verknüpft ist. So wären ohne die durch Shannon und Weaver gezogene Analogie zwischen Thermodynamik und Kommunikationstheorie die Übertragungen zwischen Entropie, akustischem Rauschen und Störgeräuschen des modernen Noise-Begriffs nicht denkbar. Die Wissenschaftshistorikerin und Neurowissenschaftlerin Laura Otis hat in ihrem Text The Metaphoric Circuit eine Art Urszene dieser produktiven Übertragungsarbeit nachgezeichnet, die sich aus einer Überschneidung von biologischen und technologischen Forschungen des 19. Jahrhunderts ergeben hat. Diese Szene reicht von den abgetrennten Froschschenkeln, die Luigi Galvani um 1780 mittels Elektrizität zum Zucken brachte, über die Erfindung der Batterie durch Alessandro Volta bis zu den Experimenten und Entdeckungen von Samuel Morse und Hermann von Helmholtz. Otis entdeckt Wechselwirkungen zwischen den frühen Theorien des Organischen und des Elektrischen. Galvani erklärte 1791 die Ergebnisse seiner Experimente mit einer Analogie zwischen der nach seiner Annahme in Tierkörpern enthaltenen Elektrizität und seinen Experimenten mit Leidener Flaschen.62 Alessandro Volta gab dem Prototypen der von ihm erfundenen Batterie die äußere Gestalt eines Zitteraals, um mit dieser biologischen Analogie ein möglichst breites Publikum für seine Erfindung zu interessieren.63 Bis Mitte des 19. Jahrhunderts spannt sich ein Netz von Analogien und Metaphern zwischen den Forschungsgebieten der Neurologie und der Telegrafie, an dessen Entstehung Wissenschaftler wie Alexander von Humboldt, Emil du BoisReymond, Michael Faraday und Helmholtz beteiligt waren. Empirische Erkenntnisse aus einem Gebiet wurden herangezogen, um offene Fragen aus dem anderen zu beantworten: »Helmholtz tat sein Bestes, um das menschliche Sinnessystem mit der Begrifflichkeit physikalischer Gesetze zu erklären, er überwand experimentelle und theoretische Hindernisse durch seine Fähigkeit, mit Analogien zu argumentieren.«64 Die Überbrückung von epistemischen Hindernissen durch den kreativen Einsatz von Metaphern führte zu neuen Erkenntnissen, d.h., es konnte Wahrheit durch den Einsatz ›kontrafaktischer‹ Stilmittel generiert werden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die westlichen Nationen mit einem Netz von

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Die Leidener Flasche ist eine frühe Form des Kondensators – ein mit Metallfolien belegtes Glasgefäß, das elektrische Ladungen speichern kann. Vgl. Otis, Laura: The Metaphoric Circuit. Organic and Technological Communication in the Nineteenth Century, Berlin: Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte 2001, S. 5 f. Ebd., S. 11, a.d. Engl.: DW.

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Telegrafendrähten überzogen, und dieses Viktorianische Internet 65 wurde mit organischen Metaphern beschrieben – als ein Nervensystem, das den sozialen Organismus zusammenhält. »Wie aus einem Studium von Vergleichen von organischen und technologischen Kommunikationssystemen ersichtlich wird, sind Metaphern nicht ›Ausdruck‹ der Ideen von Wissenschaftlern, sie sind die Ideen. [...] Für Physiologen ließen die Telegrafie und die damit verknüpften Studien des Elektromagnetismus auf die Mechanismen schließen, mit denen der Körper Informationen übermittelt. Für die Ingenieure, die Telegrafennetze entwickelten, deuteten organische Strukturen auf Möglichkeiten hin, wie zentralisierte Netze aufgestellt werden konnten. […] Im 19. Jahrhundert war die wirkliche ›Sprache der Kommunikation‹ die Metapher selbst.«66 Die von Laura Otis beschriebene Szenerie einer Gleichzeitigkeit von Entdeckungen und die Übersprechungseffekte zwischen verschiedenen Disziplinen, die zugleich Ursache und Effekt dieser Neuerungen waren, haben die Bühne für die hundert Jahre später aufgestellten Modelle von Kommunikation, Information und Noise bereitet. In den letzten Jahren lässt sich in dem äußerst heterogenen Feld der NoiseTheorien eine Tendenz beobachten, in der auf ästhetische Praktiken bezogene Diskurse zugunsten einer Auseinandersetzung mit informationstheoretischen Konzepten in den Hintergrund treten. Ausgehend von der strukturellen Kopplung, die Rauschen/Störung und Information in der Kommunikationstheorie nach Shannon aufweisen, stellen diese Theorien den produktiven Aspekt von Noise in den Vordergrund. Hervorzuheben sind Marie Thompsons Beyond Unwanted Sound von 2017 und Cécile Malaspinas An Epistemology of Noise von 2018. Bereits in ihrem 2012 erschienenen Text The Noise Paradigm hat Malaspina auf die fundamentale Rolle hingewiesen, die Metaphern, Analogien und Ambiguitäten für wissenschaftliche, philosophische und ästhetische Innovationen spielen. Während sich Laura Otis der produktiven Rolle der Metapher in wissenschaftlichen und epistemischen Prozessen an der Wiege der modernen Kommunikationstechnologien widmet, untersucht Malaspina jene Übertragungsbeziehungen, die sich aus diesen Technologien ergeben haben, vor allem die mögliche Rolle von Noise als einer Analogie, die heute eine Fluktuation zwischen verschiedenen Wissensfeldern ermöglicht. Sie bezieht sich dabei auf Autoren, welche, ausgehend von Shannon, die Informationstheorie auf biologische, soziologische und psychologische Fragestellungen angewandt haben, insbesondere den Philosophen Gilbert Simondon und den Biophysiker Henri 65 66

So der Titel eines 1998 von Tom Standage veröffentlichten Buches (Standage, Tom: Das Viktorianische Internet, Zürich: Midas Verlag 1998). L. Otis: The Metaphoric Circuit, S. 21, a.d. Engl.: DW, Herv. i. Orig.

4 Übertragungen: Vom Unhörbaren zur Metapher

Atlan. Simondons Arbeit geht u.a. von einem Begriff des Paradigmas aus, der sich an Platons philosophischer Methode orientiert. Für diese Methode führt Malaspina folgendes Beispiel an: Der Fischer fängt die Fische so, wie der Sophist die Jugend des reichen Bürgertums einfängt. Die ontologischen Terme sind in diesem Beispiel willkürlich gesetzt, während die Operation als identische fortbestehen bleibt.67 Es werden Operationen und nicht Strukturen in eine analogische Beziehung gesetzt, dieses Vergleichen von Operationen soll ein prozessorientiertes Verstehen von strukturellen Differenzen ermöglichen. Für Malaspina sind solche Analogien bzw. die paradigmatische Methode68 in der Noise-Konzeption der Informationstheorie und, in ihrem Gefolge, der Kybernetik am Werk. Bereits die Kybernetik selbst ist keine ›eindeutige‹ Disziplin, sie eröffnet vielmehr ein transdisziplinäres Feld der Steuerungswissenschaft zwischen Physik, Mathematik, Biologie und Soziologie. Malaspina nennt dieses Feld eine »epistemische Domäne«69 , in ihrem Zentrum steht Noise als ein Konzept, das Resonanzen zwischen den verschiedenen Einzeldisziplinen erzeugt und sie miteinander vernetzt. Ausgehend von Noise als zentralem Knotenpunkt dieses Netzes entwickelt sich nach Malaspina die »transformative und generative Macht einer Idee von Noise, die ihr, sogar in Abwesenheit einer allgemeingültigen Definition, eine paradigmatische Aura gibt«.70 Diese Aura von Noise verursacht allerdings Schwierigkeiten bei der Theoriebildung. Aus ihr erwächst ein Rauschen der Metaphern, das Uneindeutigkeiten produziert: »Die Idee eines auf Noise basierenden Paradigmas erzeugt eine große Anzahl von Problemen, von denen eines das konzeptionelle Gleiten des Noise-Begriffs ist. Mit welcher technischen Genauigkeit durchquert das Konzept Noise Thermodynamik, Informationstheorie und Biologie (von Sozioökonomie oder Kulturwissenschaften ganz zu schweigen)? In welchem Ausmaß führt Noise als Konzept kulturelle Nebenbedeutungen in diese Disziplinen ein, wenn es hier die Deutlichkeit einer Botschaft verdunkelt, dort genetische Mutationen verursacht oder die zufällige Eingabe von Umgebungsreizen bezeichnet? Das Problem liegt nicht allein im Fehlen einer transdisziplinär gültigen Definition von Noise, sondern in seinem unabdingbaren Flottieren zwischen theoretischen Kontexten, wie beispielsweise

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Vgl. C. Malaspina: »The Noise Paradigm«, S. 64. Paradigmatisch im Wortsinn: Während Paradigma allgemein als ›grundsätzliche Denkweise‹ verstanden wird, bedeutet das griechischeπαράδειγμα ›Beispiel‹ oder ›Vorbild‹. Es ist zusammengesetzt aus παρὰ, was sowohl mit ›neben‹ als auch mit ›gegen‹ übersetzt werden kann, und δεíκνυμι – ›zeigen‹, ›begreiflich machen‹. Im Paradigma muss also ein Beispiel neben oder gegen seinen Gegenstand gestellt werden – es impliziert auf ähnliche Weise ein Anderes oder einen Abstand, wie es Analogie und Metapher tun. Vgl. C. Malaspina: »The Noise Paradigm«, S. 65, a.d. Engl.: DW. Ebd., a.d. Engl.: DW.

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seiner quantifizierenden Rolle in der Physik und Informationstheorie (Quantität der Information), seinem metaphorischen Status in den Biowissenschaften und schließlich seiner Funktion in probabilistischen oder deterministischen Theorien […] – ganz zu schwiegen von seiner Rolle in ästhetischen oder gänzlich spekulativen theoretischen Kontexten.«71 Wenn sich Noise als Störung in einem Übertragungskanal definieren lässt, welche, im Sinne Shannons, die Wahlfreiheit bei der Auswahl einer Botschaft erhöht, dann erweitern sich auch die Anwendungsmöglichkeiten dieses Modells. Malaspinas Konzept eines auf Noise basierenden Paradigmas, das zwischen Einzeldisziplinen fluktuiert, schafft eine isomorphe Struktur, in der ein und dasselbe Modell sich auf verschiedene Bereiche anwenden lässt. Dieser Übertragungsprozess zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen verhält sich ähnlich, wie es die Metapher in einem Text tut: Er schafft eine Ambiguität, die gleichermaßen produktiv und missverständlich (bzw. ›unwahr‹ oder ›uneindeutig‹) sein kann. Eine solche metaphorische Ambiguität tut sich beispielsweise zwischen Informationstheorie und Molekulargenetik auf. Sobald eine Vererbungssubstanz als genetischer Code definiert wurde, kann sie auch nach dem Kommunikationsmodell der Informationstheorie erklärt werden, d.h. als codierte Information, die durch einen störanfälligen Übertragungskanal von Sender zu Empfänger gelangt. In biologischen Systemen lässt sich diese Störanfälligkeit als Mutation definieren, also als eine Unsicherheit hinsichtlich der Auswahl der richtigen Information, deren Resultat positive oder negative Effekte haben kann. In die Sprache der Informationstheorie übertragen: »Unsicherheit, die der Entscheidungsfreiheit des Senders entspricht, ist erwünschte Unsicherheit. Unsicherheit, die […] durch den Einfluß von Störungen entsteht, ist unerwünschte Unsicherheit […].«72 Eine im Sinne Shannons unerwünschte Unsicherheit bei der Übertragung eines genetischen Codes kann unkontrollierte Wucherungen von Zellen nach sich ziehen – die informationstheoretische Metapher in der Genetik entspricht einer biologischen Metastase. Die Übersprechung zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen oder epistemischen Domänen ist nach Malaspina in Shannons Sinne möglich, weil sich bereits dessen Definition der Entropie analogisch zu derjenigen der Thermodynamik verhält. In diesem Verständnis der Entropie sind Noise und Information ineinander verschränkt, es ist bloß die Frage, ob sie erwünschte (nützliche) oder unerwünschte (schädliche) Unsicherheit produzieren. Die ineinander verschränkten Konzepte von Noise und Information haben die Fähigkeit, Verbindungen zwischen ansonsten heterogenen Wissensfeldern herzustellen, und eröffnen so den

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Ebd., S. 66, a.d. Engl.: DW. C.E. Shannon/W. Weaver: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, S. 29.

4 Übertragungen: Vom Unhörbaren zur Metapher

Raum für eine Resonanz zwischen verschiedenen Konzepten – eine neue epistemische Domäne, die nicht durch Kriterien der Ähnlichkeit oder der »strukturellen Identität« eingegrenzt wird.73 Die Ambiguität von schädlicher und nützlicher Entropie, erwünschter und unerwünschter Unsicherheit bzw. die tendenzielle Ununterscheidbarkeit von Noise und Information kann jedoch nicht endlos frei fluktuieren, wenn sie einen positiven Effekt entfalten soll. Sie muss eingegrenzt bzw. es muss ihr ein Ort zugewiesen werden. Malaspina greift dazu Ideen des Biophysikers Henri Atlan auf, der Shannons Formalismus auf die Funktionen biologischer Systeme bezogen hat. Dabei stellt sich die Frage, »wie und unter welchen Umständen Information sich auf der Basis von Noise selbst schaffen kann – unter welchen Umständen kann Zufälligkeit komplexe Organisation begünstigen, anstatt zu einem Faktor der Desorganisation zu werden?«74 Es muss eine Balance zwischen Redundanz und Varietät hergestellt werden. Auf einer gewissen Ebene wirkt Ambiguität nicht produktiv, sie erzeugt keine neuen epistemischen Domänen, sondern bleibt bloß missverständlich, schädlich und destruktiv. Mit Atlan unterscheidet Malaspina zwischen einer destruktiven Ambiguität, die sich in die Kommunikationskanäle von Subsystemen einschleichen kann, und einer, die, richtig codiert, auf der Ebene eines komplexen Metasystems zu einer »Autonomie-Ambiguität«75 (d.h. einer Varianz der Strukturen und Funktionen eines Systems, die ein unverzichtbarer Bestandteil von dessen Autonomie ist) führen kann. Eine Krise entsteht auf der Ebene der Metaorganisation, wenn ein Code fehlt, der Botschaften innerhalb individueller Kommunikationskanäle so übersetzen kann, dass Kommunikation zwischen diesen Subsystemen entsteht – eine Krise, die Resultat von »Noise auf der Basis von Kommunikation ist«.76 Das einzige Mittel gegen eine solche Krise wäre eine Bereitstellung von Redundanzen – eine Wiederholung gleicher Informationspartikel, welche die durch Varianz erzeugten Störungen aufheben kann. In einem biologischen Metasystem wie einem Organismus, der aus den Subsystemen der Zellen aufgebaut ist, kann sich destruktive Ambiguität auf zellularer Ebene etwa in Übertragungsfehlern bei der Zellteilung äußern (denen mit redundanten Kopien des genetischen Codes begegnet werden muss, die bei jeder Zellteilung miteinander verglichen werden, um eventuelle Fehlerstellen zu ersetzen). Auf der Ebene des Metasystems dagegen, etwa einer Spezies mit komplexem Genpool, kann die Ambiguität einen positiven Effekt haben, wenn sie die nützliche Vielfalt innerhalb des Systems erhöht. Redundanzen können Systeme gegen Krisen absichern, aber sie benötigen einen »strategischen Spielraum von Ambiguität, um die paradigmatische Fluktuation zu

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Vgl. C. Malaspina: »The Noise Paradigm«, S. 68. Ebd., a.d. Engl.: DW. Vgl. ebd., S. 69, a.d. Engl.: DW. Ebd., S. 71, a.d. Engl.: DW.

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ermöglichen, die die Zirkulation von Konzepten zwischen ihren Subsystemen anregt«.77 Das Modell einer produktiven Ambiguität von Noise überträgt Malaspina auf die Paradigmenwechsel des wissenschaftlichen Fortschritts. Dabei unterscheidet sie zwei Formen: eine traditionelle Auffassung von Paradigmenwechseln als Abfolgen »gewaltsamer Erschütterungen von einem paradigmatischen Code zum nächsten«78 und die Idee einer paradigmatischen Fluktuation, die sich einer produktiven Unsicherheit gegenüber offen verhält. Diese paradigmatische Fluktuation kann nach Malaspina zu einem transdisziplinären Kreislauf von »Kreation und DeKreation« führen,79 dessen Motor und unverzichtbarer Bestandteil ein epistemologisches Rauschen ist – ein Spielraum für Unsicherheiten und transdisziplinäre Ambiguität, der nicht durch Konventionen des Denkens eingeschränkt wird. Ein analytischer Ansatz würde nach Malaspina versuchen, Noise zu minimieren, um zu größtmöglicher Klarheit zu gelangen,80 während spekulative oder synthetische Ansätze epistemisches Rauschen auf der Ebene des Metasystems zum Einsatz bringen. Ein solcher Ansatz könnte zu einer Fluktuation zwischen den Polen Chaos und Konvention führen, zwischen absolutem Noise und absoluter Vorhersagbarkeit. Um einer epistemologischen Stagnation zu entgehen, ist es für Malaspina bedeutsam, die Gleichsetzung von Wahrheit und Verständlichkeit zu überwinden und die negativen Konnotationen von Noise – Auflösung, Unordnung, Destruktion und Zerstreuung – hinter sich zu lassen.81 Es zeichnet sich ein gewundener Weg ab, auf dem sich die von Noise als Begriff provozierte Uneindeutigkeit durch verschiedene Denksysteme und Diskurse schlängelt. Dieses Konzept auf den Begriff zu bringen, ist kompliziert, da seine Merkmale Polyvalenz und Ambiguität sind. Die ontologische Willkür dieses Konzepts macht seine Definition schwierig, ein Paradigma im Sinne einer grundlegenden Denkweise lässt sich kaum aus ihm ableiten. Der bisher eingeschlagene Weg reicht von der Metapher als unverzichtbarem, aber uneindeutigem Bestandteil eines Denkens der Musik im Speziellen und des Auditiven im Allgemeinen über eine Dezentrierung der philosophischen Sprache in einem Rauschen der Metaphern bis hin zur Metapher als Bedingung jedes Denkprozesses oder Fortschritts und der strategischen Ambiguität einer transdisziplinären paradigmatischen Fluktuation. Ambiguität produziert einen Abstand oder eine Spanne zwischen mehr oder weniger festen Definitionen (oder ist, je nach Perspektive, deren Resultat), die zu definitorischen Akten des Hinüberreichens einlädt – der Produktion von Analogien

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Ebd., a.d. Engl.: DW. Ebd., a.d. Engl.: DW. Ebd. Vgl. die Argumentation von Roger Scruton auf S. 104 f. in dieser Arbeit. Vgl. C. Malaspina: »The Noise Paradigm«, S. 72.

4 Übertragungen: Vom Unhörbaren zur Metapher

und Ähnlichkeitsbeziehungen, der Überbrückung des Abstands zwischen verschiedenen Konzepten durch die Metapher, dem Nebeneinander- oder Gegenüberstellen im Paradigma etc. Es ist eindeutig, dass Analogien und Metaphern in diesem Sinne produktiv sind, neue Denkansätze ermöglichen und Unnennbares benennen können. Sobald die Ambiguität aber einen Abstand zwischen mehr als zwei möglichen Bedeutungsebenen eröffnet, verschärft sich die Frage danach, welchem Sinn der Vorzug gegeben wird. Cécile Malaspina kann das Theorem einer auf Noise beruhenden produktiven Ambiguität oder paradigmatischen Fluktuation nur aufstellen, indem sie die informationstheoretische Definition von Noise privilegiert und die Bedeutung im Sinne von schädlichem Lärm oder asignifikantem Geräusch in den Hintergrund treten lässt. Mit Derrida gesprochen zentriert sie ihren Diskurs und lässt eine mögliche Definition von Noise in ihrem System den Platz der Sonne einnehmen. Diese Vorgehensweise ist unvermeidbar, um überhaupt einen Diskurs produzieren zu können. Es lässt sich aber jederzeit die Frage aufwerfen, warum eine bestimmte Definition privilegiert und eine bestimmte Gewichtung der Metapher vorgenommen wird; welche der verschiedenen möglichen analogischen Beziehungen herausgestellt werden und welches Ziel damit verfolgt wird. Noise macht sich auf verschiedene Arten bemerkbar: Als eine audioästhetische Praxis, die sich in den Grenzbereichen des Musikalischen bewegt und zu einer Hinterfragung der Definition derselben nötigt. Als ein Geräusch, das den auszuschließenden Rest oder Überschuss von semantischen Systemen bezeichnet, als dasjenige, was von Sprache und Musik gebändigt, kontextualisiert und dem Regime einer differenziellen, Bedeutung generierenden Matrix unterworfen werden soll, das sinnhaften und sinnlichen Sinn produzieren kann. Als ein Lärm, der sich einerseits als ein quantifizierbares Zuviel von Schall definieren lässt, andererseits eine Serie von Geschmacksurteilen bezeichnet, die ein Spiel von ethoästhetischen Zuschreibungen und Abgrenzungen eröffnen. Als banale und alltägliche Ruhestörung und als berechenbare Störung in den Kommunikationsmodellen der Informationstheorie. Und schließlich als ein Rauschen, das sich sowohl in einer konkreten Hörerfahrung äußert als auch eine abstrakte Rolle in physikalischen und kybernetischen Theorien spielt. Wenn Definitionen, als Einhegungen oder Eingrenzungen verstanden, eine Strukturierung von Denkräumen bezeichnen bzw. eine Kanalisierung dessen, was zuvor ungeregelt umherlief, dann muss die Frage aufgeworfen werden, welche Gebiete, Areale, Territorien und Räume durch diese Ab- und Eingrenzungen gebildet werden. Im Register des Hörbaren vollzieht sich diese Eingrenzung auf zwei Weisen. Zum einen als eine Begriffsbildung, die überhaupt erst ein Sprechen über das Hörbare ermöglicht, indem sie ihren Gegenstand strukturiert, zum anderen als konkrete Strukturierung von Räumlichkeit durch Schall. Als eine der möglichen Definitionen akustischer Territorien spielt der Begriff der Soundscape heute in verschiedenen Disziplinen eine zentrale Rolle. Dieser Begriff lässt sich

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sowohl auf seine aktuellen diskursiven Funktionen als auch auf seine historische Entwicklung hin befragen. Welche Versuche wurden bisher unternommen, das menschliche Hörvermögen und seine kulturellen Bedingungen zu verräumlichen, welche Begriffe wurden erfunden, um die soziale Realität des Hörbaren, seine räumliche Ausdehnung und die von ihm gezogenen Grenzlinien zu beschreiben, welche Rolle spielt die Annahme einer Dichotomie von Sound und Noise bei diesen Versuchen, und welche semantischen Netze, Abgrenzungen, Wertungen, Übersprechungseffekte und Metaphorisierungen ergeben sich aus dieser Unterteilung?

5 Sound: Ökonomie und Ökologie des Schalls »Da es aber der Musik eigen ist, uns zu ergötzen, wie der Tugend, sich recht zu freuen, zu lieben und zu hassen, so muß man offenbar bei ihrem Betriebe nichts so sehr lernen und sich angewöhnen, als das richtige sittliche Gefühl und die Freude an tugendhaften Sitten und edlen Taten.«1 Aristoteles

5.1

Lexikologie des Schalls

In ihrer alltäglichen Verwendung in der englischen Sprache scheinen die Wörter sound und noise auf natürliche Weise ein komplementäres Gegensatzpaar zu bilden.2 Ihre Gegenüberstellung verweist auf eine Dichotomie, aus der sich eine Einteilung, Systematisierung und Bewertung des Hörbaren ableiten lässt. Es kann dazu die Definition durch Hermann von Helmholtz herangezogen werden: Sound entspricht demnach einem musikalischen Klang mit periodischem Schwingungsverlauf, Noise einem unmusikalischen Geräusch mit aperiodischer Wellenform.3 Zwischen beiden Polen lassen sich indes graduelle Übergänge feststellen. Diese Tendenz zur Vermischung, im Zuge derer zwischen zwei entgegengesetzten Konzepten eine Zone der »Zwischenstufen« und »mannigfach wechselnden Verhältnisse«4 entsteht, macht sich auch bei einer lexikologischen Untersuchung des Wortfelds bemerkbar: Wenn Antonyme als lexikalischer Ausdruck einer Dichotomie angesehen werden können, so bereitet die exakte Gegenüberstellung von Noise und Sound Schwierigkeiten. In der Lexikologie werden verschiedene Formen der Antonymie unterschieden, die jeweils unterschiedliche Relationen zwischen den einander gegenübergestell1 2

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Aristoteles: Politik, 1340a 3. Ihre Verwendung im Deutschen ist komplizierter: Nicht nur ist Sound im alltäglichen Sprachgebrauch um einiges mehr ›eingebürgert‹ als Noise, auch die Schwierigkeit der Übertragung zwischen verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten ist zu berücksichtigen. Vgl. H. v. Helmholtz: Die Lehre von den Tonempfindungen, S. 13 f. Ebd., S. 14.

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ten Lexemen bezeichnen. Eine kontradiktorische Antonymie etwa beschreibt ein Verhältnis der Komplementarität, in dem ein Wort die Verneinung des anderen impliziert. Aus der Verwendung des Adjektivs tot etwa folgt, dass das Bezeichnete nicht lebendig sein kann und umgekehrt. Als Inkompatibilitätsrelation wird ein »widersprüchlicher Kontrast auf gemeinsamer Grundlage«5 bezeichnet: Klavier und Klarinette sind inkompatibel, aber beide sind Hyponyme zu dem gemeinsamen Hyperonym Musikinstrument. Von einer Antonymierelation bzw. einer graduellen Antonymie schließlich spricht die Lexikologie, wenn sich die gemeinsame semantische Grundlage von Wörtern durch eine Größenskala veranschaulichen lässt, wie etwa bei den Gegensatzpaaren groß/klein oder laut/leise.6 Welche dieser Sinnrelationen lässt sich für Sound und Noise angeben, falls sie überhaupt als Gegensatzpaar im Sinne der Lexikologie zu definieren sind? Wieder drängt sich das Problem der Übersetzung auf. Das Wort Sound lässt sich nicht auf die physikalische Definition als harmonischer Schall reduzieren, es öffnet sich auf eine mit der Bedeutungsvielfalt von Noise vergleichbare Polysemie hin, die jedoch ein anderes semantisches Netz knüpft. Entsprechend lässt sich die Relation von Noise und Sound nicht deckungsgleich auf die Opposition von Geräusch und Klang übertragen. Im Deutschen sind beide auf das Hyperonym Schall bezogen; im Englischen bildet sound zugleich den Oberbegriff von und das Gegenwort zu noise. Als Substantiv kann sound auf umfassende Weise ›Schall‹ (alles Hörbare) bezeichnen, ebenso wie ›Laute‹ (Schall in Bezug auf Lebewesen oder Mechanismen, die ihn hervorbringen) und ›Klänge‹ (also musikalischen Schall, wie er weitestgehend der helmholtzschen Definition als Schwingung mit periodischer Wellenform entspricht). Auch Geräusche können als sounds bezeichnet werden, allerdings ohne jene implizit negative Bewertung, die durch die Verwendung des Wortes noise angezeigt würde. Dieses implizite Urteil hat Hegarty so zusammengefasst: »Noise is not the same as noises. Noises are sounds until further qualified (e.g. as unpleasant noises, loud noises, and so on), but noise is already that qualification; it is already a judgement that noise is occurring.«7 Noise im Singular muss hier mit ›Lärm‹ übersetzt werden. Der Plural dagegen verweist auf Geräusche, die noch näher zu bestimmen wären – etwa als laut oder als unangenehm –, während die Bezeichnung noise genau diese Bewertung bereits vorgenommen hat. Die Verwendung des Wortes sound impliziert im Umkehrschluss eine positive Bewertung, sie ist kein neutrales Hyperonym wie die deutsche Bezeichnung Schall. In der englischen Sprache käme das Wort sonic dieser neutralen Form am nächsten, wird dort aber nur als Adjektiv verwendet. Es findet sich etwa in den Formulierungen sonic

5 6 7

Lutzeier, Peter Rolf: »Die semantische Struktur des Lexikons«, in: Handbuch der Lexikologie, hg. v. Schwarze, Christoph/Wunderlich, Dieter, Königstein/Ts.: Athenäum 1985, S. 109. Vgl. ebd. P. Hegarty: Noise/Music, S. 3.

5 Sound: Ökonomie und Ökologie des Schalls

boom – ›der Überschallknall‹ – oder sonic wave – ›Schallwelle‹ etc. Es bezeichnet die Eigenschaft von etwas, hörbar zu sein.8 Vor einigen Jahren wurde, ausgehend vom Forschungszentrum Populäre Musik der Humboldt-Universität Berlin, der Versuch unternommen, den Begriff des Sonischen für eine allgemeine kulturtheoretische Bestimmung von Klanglichkeit zu etablieren. In dem Essay Das Sonische in der Musik hat Peter Wicke 2008 diesen Definitionsversuch unternommen: »Zur Vermeidung von begrifflichen Missverständnissen und zur Gewinnung analytischer Tiefenschärfe empfiehlt es sich, [die] Ebene des kulturell und diskursiv formierten Konzepts von Klang, das der Audio-Kultur einer Gesellschaft zugrunde liegt, die Ebene zwischen dem Akustischen und dem Ästhetischen auch begrifflich eigenständig zu fassen. Dafür bietet sich der auf das Lateinische zurückgehende, im mittelalterlichen Musikschrifttum einmal weit verbreitete Begriff des Sonischen (Sonus) an. [...] Im Begriff des Sonischen ist [...] im Unterschied zum Klangbegriff der Akustik das hörende Subjekt eingeschlossen. Es ist Klang nicht nur als auf eine bestimmte Weise strukturierter Schall (im Gegensatz zum Geräusch), sondern strukturierter Schall mit Bezug auf die jeweiligen Relevanzverhältnisse im Rahmen einer gegebenen Kultur.«9 Ob das Geräusch als ein unstrukturierter Schall definiert werden muss, ist allerdings fraglich, wenn die Komplexität der möglichen Strukturierungen von Höreindrücken und die damit einhergehenden Schwierigkeiten der Abgrenzung berücksichtigt werden sollen. Noch das chaotischste Geräusch kann als Teil einer Struktur auftreten, etwas bezeichnen, einen Sinn ergeben. Der Begriff des Sonischen hat sich in den aktuellen Soundforschungen kaum durchsetzen können. Das Einsetzen eines dritten Terms bietet zwar einen Ausweg aus dem durch die Komplexität des Hörbaren aufgeworfenen Dickicht von Definitionen, es überspringt aber gleichsam das in der Gegenüberstellung von Noise und Sound angelegte Problem der Übertragung von einer Sprache in die andere und die möglicherweise produktiven Ambiguitäten, die sich aus ihm ergeben können. Es ist unklar, in welchem Verhältnis Noise und Sound als Begriffe zueinander stehen, ihre Relation muss je nach Kontext spezifiziert werden: als antagonistische Konzepte des Hörbaren (Sound/Klang vs. Noise/Geräusch), als hierarchische Ordnung desselben (Sound/Schall als das allgemein Hörbare und Noise/Geräusch/Lärm als negativer Sonderfall) oder als graduelle Relation.10 Soweit sich 8 9

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Das lateinische Etymon sonus, die Wurzel von Dissonanz, Konsonanz, Resonanz etc., bezeichnet allgemein ›das Hörbare‹ (vgl. »sonus«, in: Langenscheidt. Taschenwörterbuch Latein, S. 488). Wicke, Peter: »Das Sonische in der Musik«, in: PopScriptum 10 (2008) (Das Sonische – Sounds zwischen Akustik und Ästhetik), https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/21050/pst10 _wicke.pdf?sequence=1&isAllowed=y, abgerufen 1.7.2020. Diese Relation kann z.B. zwischen den abstrakten Modellen von Sinuswelle und weißem Rauschen aufgespannt werden: Zwischen diesen beiden Extremformen ›unmöglicher‹ bzw. vir-

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Grenzen des Hörens

aus einem lexikalischen Wortfeld ein bestimmtes Bild des Denkens ablesen lässt, das Rückschlüsse auf eine kulturell bedingte Organisation von Wahrnehmung und Bewertung der Welt – in diesem Fall des Hörbaren – erlaubt, so tut sich in der vorgeblichen Dichotomie von Noise und Sound eine Lücke auf. Sound ist zugleich Gegenwort und Oberbegriff. Dies suggeriert, dass es keine wirkliche Komplementarität zwischen Sound und Noise geben kann. Die Dichotomie des entzweigeschnittenen Paares Noise/Sound lässt sich nicht zu einem gemeinsamen Ursprungsbegriff vereinigen, da dieser bereits in der einen Hälfte des Gegensatzpaares enthalten ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist Noise nichts weiter als ein ausgeschlossener Rest, der Überschuss oder Abfall einer begrifflichen Operation, während Sound den Normalfall als eine Totalität bezeichnet, die höchstens von lärmenden Störungen heimgesucht wird. Sound verweist auf komplexere Bedeutungsfelder, als es das deutsche Wort Schall tut; es handelt sich dabei um eine Homonymie mit mehreren deutlich verschiedenen Wortstämmen. Daher ist es notwendig, seine Etymologien enger einzugrenzen. Das Wort sound kann nicht nur Höreindrücke, sondern ebenso gut auch Tätigkeiten und Eigenschaften benennen und erschließt so ein Geflecht von Translationen, die ihm weitere Bedeutungsnuancen hinzufügen. Als Verb verweist to sound auf die aktive Hervorbringung von Schall (im Sinne von ›erklingen‹ oder ›ertönen lassen‹), es kann aber auch im Sinne eines Aufnehmens oder Lauschens verwendet werden und so Akte wie ›abhören‹, ›sondieren‹ oder ›ergründen‹ bezeichnen (to sound out kann als ›ausfragen‹ oder ›abhorchen‹ übersetzt werden). Noise als das ›schlechte Geräusch‹ funktioniert anders: Die englische Sprache kennt die Formulierung to noise nicht, Noise muss gemacht werden. In der Musik lässt sich die Eigenschaft einer Trompete als das Hervorbringen des ihr spezifischen Klangpotenzials definieren, was ihrer Bestimmung oder ihrem Design entsprechen würde. Noise als Fehler oder Störung passt nicht in diese Logik einer Ausführung gemäß der Bestimmung. Der Ausdruck to sound the trumpet entspricht einer korrekten, d.h. musikalischen Spielweise;11 to make noise on the trumpet ist falsches oder schlechtes Spiel. In der Verwendung als Adjektiv wiederum erschließt das Wort sound ein Bedeutungsspektrum, das nur bedingt mit dem Auditiven zu tun hat. Es kann als ›gesund‹, ›vernünftig‹, ›fehlerfrei‹, ›robust‹ und ›gründlich‹ übersetzt werden, in seiner ökonomischen Verwendung bedeutet es auch ›solvent‹ und ›kredit- oder zahlungsfähig‹. Die unterschiedlichen Wortfelder ergeben sich aus einer Homonymie,

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tueller Schallereignisse würde sich in unendlichen Mischungsverhältnissen das Feld des real möglichen Schalls konkretisieren. In der King-James-Bibelübersetzung entspricht »the sounding of the seven trumpets« dem Blasen der sieben Posaunen in der Offenbarung des Johannes (vgl. Offb 8,2, Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, bzw. The Holy Bible. King James Version, Glasgow: Harper Collins Publishing 2011).

5 Sound: Ökonomie und Ökologie des Schalls

die das Ergebnis zweier unterschiedlicher Etymologien ist. Eine mögliche Wurzel von sound als Eigenschaftswort ist das protogermanische sunda,12 von dem sich auch das deutsche gesund ableitet, während die akustische Bedeutung des gleichlautenden Lexems auf das lateinische sonus – das Hörbare – zurückzuführen ist. An sich ist die Homonymie von sound als ›Schall‹ und ›Vernunft‹ nicht aussagekräftig, da sie ein bloßer Ausdruck von etymologischer Kontingenz ist. In den Diskursen, die sich auf sound als ihren Schlüsselbegriff berufen, lassen sich allerdings Tendenzen zu einer stillschweigenden Verwischung dieses Unterschieds feststellen, sodass eine Art unbewusster Gleichsetzung von klanglichen Aspekten des Schalls mit einem ökonomisch oder ökologisch fundierten Vernunftbegriff vorgenommen wird.13 Auf das Hörbare bezogen erschließt der Begriff sound ein spezifisches Feld seines sensorischen Registers, in dem sich akustische, soziokulturelle und ästhetische Definitionen überschneiden. Aufgrund dieser vielfältigen Berührungspunkte ist Sound zu einem hochgradig anschlussfähigen Konzept geworden, das vor allem in musikalischen und akademischen Bereichen verwendet wird. Das Wort hat den Status eines Paradigmas erlangt, das sich allgemein auf die Gestaltung und Herstellung von Hörerfahrungen beziehen lässt. Die deutsche Übersetzung, die diesem Aspekt von sound am nächsten kommt, ist ›Klangfarbe‹. Klassisch wird sie definiert als »diejenige Eigentümlichkeit, wodurch sich der Klang einer Violine von dem einer Flöte, oder einer Klarinette, oder einer menschlichen Stimme unterscheidet, wenn alle dieselbe Note in derselben Tonhöhe hervorbringen«.14 Helmholtz führte diese Definition als drittes Merkmal eines Instrumentenklangs neben Tonhöhe und Lautstärke ein und war einer der Ersten, die das komplexe Gemisch von Partialtönen, aus denen sich eine spezifische Klangfarbe ergibt, experimentell erforschten. Sound in der Übersetzung ›Klangfarbe‹ ist ein vergleichsweise schwierig zu bestimmendes Phänomen. Der Musik in Geschichte und Gegenwart lässt sich dazu Folgendes entnehmen: »[W]ährend bei den psychologischen Größen Tonhöhe (pitch) und Lautheit (loudness) die Beziehung zur Schallquelle wenigstens zu einem gewissen Teil mit Hilfe von physikalischen Reizgrößen wie Frequenz und Amplitude über psychophysika-

12 13

14

Vgl. F. Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 254. Diese Gleichsetzung werde ich insbesondere in Auseinandersetzung mit der Theorie Murray Schafers später in diesem Kapitel vertiefen. Ein durchaus bewusster Umgang mit der Homonymie von sound findet sich in Steve Goodmans Konzept des unsound. Es bezeichnet in seiner Theorie der Sonic Warfare sowohl das Unhörbare (die Bereiche von Infra- und Ultraschall) als auch etwas Falsches, Unvernünftiges oder Unsolides (vgl. S. Goodman: Sonic Warfare, S. 198). H. v. Helmholtz: Die Lehre von den Tonempfindungen, S. 20.

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lische Funktionen hergestellt werden kann, [ist] die Klangfarbe von vornherein in komplexer Wechselwirkung durch mehrere Dimensionen bestimmt.«15 Die Klangfarbe ist eine multifaktorielle Eigenschaft von Schall, deren Quantifizierung durch einzelne Parameter, wie sie etwa bei der Definition der Tonhöhe möglich ist, Probleme aufwirft. Die spezifischen Klangfarben von Stimmen oder Musikinstrumenten verändern sich in Relation zu Frequenz und Lautstärke, sie sind abhängig von materiellen Eigenschaften, Spieltechniken und atmosphärischen Einflüssen; alle diese Faktoren treten in eine komplexe Wechselbeziehung, sobald Klänge produziert werden. Das Wort Klangfarbe selbst ist eine Metapher, die den Abstand zwischen zwei sensorischen Registern überbrückt, um eine ansonsten nicht benennbare Komplexität zum Ausdruck zu bringen.16 Die Frequenz oder Tonhöhe ist mehr oder weniger exakt bestimmbar, sie lässt sich messen, berechnen und wird durch abstrakte Notenzeichen codiert, was sie speicher- und wiederabrufbar macht. Wird diese abstrakte Tonhöhe aber auf einem konkreten Instrument realisiert, wird sich dessen spezifische Klangfarbe bemerkbar machen. Sie ist nicht als Ähnlichkeit zu den Farben des Visuellen zu verstehen, sondern als eine ›Einfärbung‹, die sich vollzieht, sobald der Versuch unternommen wird, den ›reinen‹ oder abstrakten Ton (engl. pitch) zu realisieren. Diese abstrakte Reinheit wird durch ihre Realisierung jedoch nicht ›eingetrübt‹ (d.h. undeutlich oder unkenntlich gemacht), sondern in ihrer unsichtbaren Einfärbung – und das heißt auch in der im Zuge ihrer Realisierung ins Spiel gebrachten und ins Werk gesetzten Komplexität – überhaupt erst wahrnehmbar. Das bedeutet aber auch, dass sich das ideale und abstrakte Maß der Tonhöhe in seiner konkreten und ›gefärbten‹ Erscheinung als reales Schallereignis nur in einem komplizierten Verhältnis von Klang und Geräusch bemerkbar machen kann. Der Musikwissenschaftler Helmut Rösing schreibt dazu: »Auf der Rezeptionsebene lässt sich Klangfarbe als Ergebnis einer Zusammensetzung aller jener klingenden Gegebenheiten von Musik umschreiben, die nicht als Melodie, Harmonie […] oder Rhythmus wahrgenommen werden, sehr wohl aber im physikalisch-akustischen Sinn ›objektiv‹ nachweisbar sind. Das betrifft die klangfarbliche Qualität von Tönen ebenso wie die von Geräuschen […]. Die

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Deutsch, Werner: »Klangfarbe – Psychoakustische Grundlagen«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5, Kassel: Bärenreiter 1996, Sp. 138-151, hier Sp. 140. Andere Sprachen, insbesondere das Französische und Englische, verwenden eher den Ausdruck timbre (wobei auch tone color oder acoustic color im Sprachgebrauch sind). Das Timbre bleibt mehr auf das Hörorgan bezogen, es leitet sich vom griechischen Wort für Trommel, τύμπανον ab. Tympanon ist heute noch die medizinische Bezeichnung für das Trommelfell (vgl. »τύμπανον«, in: Langenscheidt. Taschenwörterbuch Altgriechisch, S. 426).

5 Sound: Ökonomie und Ökologie des Schalls

gerne vollzogene Trennung zwischen Geräusch und Klang mag zwar rezeptionspsychologisch relevant sein […], ist aber physikalisch nicht begründbar, da jeder auf einem Musikinstrument produzierte Ton auch Geräuschanteile enthält.«17 Bei der Unterscheidung von Klang und Geräusch, von Sound und Noise sind andere Faktoren beteiligt als die Verhältnisse von Schwingungen, die sich physikalisch messen, berechnen oder in Spektraldarstellungen wiedergeben lassen. Es handelt sich um ästhetische Bewertungsschemata oder Geschmacksurteile, die einem historischen Wandel unterliegen – unterschiedlichen Kulturen, wechselnden Moden, Produktionsbedingungen und anderen Faktoren, aus denen sich die (okzidentale) Musikgeschichte konstituiert hat: »In der Geschichte der abendländischen Kunstmusik lässt sich ein durchgängiger Trend von Klangfarbe als akzessorischem zu Klangfarbe als autonomem Element der Komposition feststellen.«18 Rösing führt aus, dass noch zur Zeit des Hochbarock, obwohl die musikalische Ästhetik dieser Epoche bereits durch einen engen Bezug zwischen Gefühlssymbolik und Klangfarbenqualität gekennzeichnet war, das Timbre einer konkreten Aufführung stark von Zufallsfaktoren wie Raumakustik und Ensemblebesetzung abhängig war. Erst die Normierung des Orchesters – von Besetzung, Instrumentierung und der Standardisierung der Instrumente und Stimmungen – im 19. Jahrhundert ermöglichte das »konsequente Komponieren mit Klangfarben«.19 Einen komplexen und ausdifferenzierten historischen Prozess zusammenfassend lässt sich sagen, dass das 20. Jahrhundert diese Entwicklung erweitert, beschleunigt und radikalisiert hat. Analog zu den technischen Neuerungen, die sich in diesem Zeitraum vollzogen haben, wurde das Komponieren mit Klangfarben um die Synthese der Klangfarbe selbst erweitert.20 Der technologische Paradigmenwechsel, der sich in dieser Periode vollzogen hat, lässt sich mit einem Beispiel veranschaulichen: Vor den technologischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts entsprach die Herstellung einer neuen Klangfarbe der Erfindung eines jeweils neuen Instruments (etwa der um 1870 extra für den Ring des Nibelungen entwickelten ›Wagnertuba‹) oder einer spezifischen Maschine, während heute Geräte wie Synthesizer und Sampler theoretisch jeden möglichen Klang erzeugbar machen. Die Übergänge zwischen beiden Formen sind dabei seit jeher fließend. Der Historiker Geoffrey Hindley vertritt die These, dass die westliche Kunstmusik an der Wiege der modernen Technikkultur gestanden hat: »Es ist kein Zu-

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Rösing, Helmut: »Klangfarbe und Sound in der ›westlichen‹ Musik«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5, Sp. 156-159, hier Sp. 153. Ebd., S. 156. Ebd., S. 157. Die Technikgeschichte der ›Klangmaschinen‹ wird detailliert behandelt u.a. bei Gethmann, Daniel (Hg.): Klangmaschinen zwischen Experiment und Medientechnik, Bielefeld: Transcript 2010; H.-J. Braun (Hg.): ›I Sing the Body Electric‹; und T. Pinch/F. Trocco: Analog Days.

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fall, dass Musik und Technologie die beiden am weitesten verbreiteten Exporte westlicher Kultur in die ganze Welt sind. Für Jahrhunderte war die Kirchenorgel – diese einzigartige westliche Maschine – der größte Mechanismus, die Kirchturmuhr eingeschlossen, in jeglicher europäischen Stadt.«21 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten Entwicklungen ein (die Erfindung des Phonographen und die Laborversuche zur Herstellung komplexer Klänge durch Helmholtz lassen sich als deren Ausgangspunkt setzen), die nach dem Zweiten Weltkrieg in zwei grundlegenden Maschinentypen kulminierten: zum einen der Bandmaschine und den mit ihr einhergehenden, im Vergleich zu anderen Medien der Zeit revolutionären Möglichkeiten zur Schallaufzeichnung und -manipulation sowie zum anderen den verschiedenen Ansätzen zu einer elektronischen Synthese von komplexen Wellenformen.22 Beide Typen sind im Zuge der Digitalisierung zu einem umfassenden Paradigma der Speicherung und Modifikation von Schall verschmolzen, in dem alle jemals aufgezeichneten Schallereignisse in einen tendenziell ahistorischen Zustand der endlosen Kombinations- und Manipulationsmöglichkeiten übergegangen sind, aus dem heraus ständig neue Klänge, Klangfarben, Sounds und Geräusche entstehen. Während sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts hauptsächlich die akademische Avantgarde mit den Möglichkeiten der Komposition oder Synthese von Klangfarben beschäftigte, war es die populäre Musik, die nach Rösing das – letztlich über die Bedeutung von Klangfarbe hinausgehende – Konzept Sound etabliert hat: »Die technischen Möglichkeiten der Gestaltung von Klang und Klangfarbe (›Sound‹) haben spätestens seit den 1950er Jahren die meisten Bereiche der populären Musik […] geprägt. […] Die Vokabel Sound fungiert im Zusammenspiel mit den strukturellen und ästhetischen Qualitäten populärer Musik als eher unscharfer Begriff mit in der Regel hohem Prestigewert. […] Obwohl Sound als konstitutives Element populärer Musik gilt, befindet sich die Soundforschung noch im Anfangsstadium.«23

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Hindley, Geoffrey: »Keyboards, Crankshafts and Communication. The Musical Mindset of Western Technology«, in: H.-J. Braun (Hg.): ›I Sing the Body Electric«, S. 33-42, hier S. 33, a.d. Engl.: DW. Friedrich Kittler hat in seinem Essay Rock Musik – ein Missbrauch von Heeresgerät auf die entscheidende Rolle hingewiesen, welche die technologischen Innovationsschübe der beiden Weltkriege für diese Entwicklung gespielt haben. Die Innovationen der ›akustischen Kriegsführung‹, speziell Radio und die Bandmaschine, leisteten Geburtshilfe bei der Entstehung der populären Musik (vgl. Kittler, Friedrich: »Rock Musik – ein Missbrauch von Heeresgerät«, in: ders.: Die Wahrheit der technischen Welt, S. 198-213). H. Rösing: »Klangfarbe und Sound in der ›westlichen‹ Musik«, S. 158 f.

5 Sound: Ökonomie und Ökologie des Schalls

5.2

Sound Studies

Der Eintrag Helmut Rösings aus Die Musik in Geschichte und Gegenwart ist auf das Jahr 1996 datiert. Seither hat sich die von ihm anvisierte Soundforschung unter der Bezeichnung Sound Studies als eigenständige akademische Disziplin etabliert.24 Noch 2004 wurden die Sound Studies von ihren Protagonist*innen als im Entstehen begriffen charakterisiert. Eine Minimaldefinition ihres Programms lässt sich bei Trevor Pinch und Karin Bijsterveld finden: »[...] ein Forschungsbereich, der die materielle Produktion und Konsumption von Musik, Sound, Noise und Stille studiert und untersucht, welchem historischen Wandel sie in verschiedenen Gesellschaften unterliegen«.25 War die Bezeichnung Sound in der deutschen Sprache anfangs allein auf eine spezifische Ästhetik des Musikalischen bezogen (als Desiderat und Effekt der populären Musik mit »hohem Prestigewert«), so hat sich ihre Verwendung heute, nicht nur im Deutschen, auf alles Hörbare erweitert – zumeist unter der Bedingung einer Herstellbarkeit von Schallereignissen und den sich daraus ergebenden gestalteten Hörerfahrungen, die weit über das traditionelle Feld des Musikalischen hinausreichen. Die heutige Verwendung des Wortes Sound verweist, unter Berücksichtigung sowohl seiner Etymologie als auch der modernen Konnotationen seines abgeleiteten Wortfeldes, auf alles Hörbare unter bestimmten Voraussetzungen. Sound bezeichnet ein Denkbild des Hörbaren unter der Bedingung seiner Anschlussfähigkeit an ein Konglomerat von ökonomischen, ökologischen, ästhetischen sowie natur- und geisteswissenschaftlichen Diskursformationen, die diesen Begriff als ihr Emblem führen: Sound Studies, Sounddesign und Sound Art beziehen sich auf ihn mit ihren jeweils spezifischen Theorien und Praktiken.26 Den Sound Studies kommt hierbei eine Schlüsselposition zu, da sie den transdisziplinären Anspruch verfolgen, alle diese Tendenzen unter dem Dach einer akademischen Disziplin zu vereinigen. Einen Einblick in ihre thematische Ausrichtung geben die einzelnen Beiträge des 2012 von Pinch und Bijsterveld herausgegebenen Oxford Handbook of Sound Studies.27 Die Beiträge des Sammelbands sind in sieben Schwerpunkte ge-

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Das gilt insbesondere im englischsprachigen Raum, in Deutschland bietet die Universität der Künste in Berlin seit 2006 den Masterstudiengang Sound Studies an (inzwischen in ›Sound Studies and Sonic Arts‹ umbenannt). Pinch, Trevor/Bijsterveld, Karin: »Sound Studies. New Technologies and Music«, in: Social Studies of Science 34, 5 (Okt. 2004), S. 635-648, hier S. 636, a.d. Engl.: DW. Klangökologie, die klassischen Musikwissenschaften, Audio Branding, theoretische und angewandte Akustik können, je nach Perspektive, als Vorläufer oder Erweiterungen dieser Disziplinen aufgefasst werden. Pinch, Trevor/Bijsterveld, Karin: The Oxford Handbook of Sound Studies, Oxford: Oxford University Press 2012.

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gliedert, die den gemeinsamen Forschungsgegenstand Sound aus je verschiedenen Perspektiven angehen: Die Sektion Reworking Machine Sound versammelt Artikel zu akustischen Aspekten der Maschine; von Zeitzeugenberichten der frühen Industrialisierung bis zu Untersuchungen über aktuelle Methoden des Designs und der Vermarktung von Maschinenklängen in der europäischen Autoindustrie.28 Im Anschluss werden die Bedingungen und Möglichkeiten von Field Recordings in Wissenschaft und Kunst einem historischen Vergleich unterzogen, während der Abschnitt Staging Sound for Science and Art: The Lab Schnittstellen zwischen der wissenschaftlichen Erforschung von Schall und der Konversion von Daten in Schallereignisse in medizinischen und militärischen Kontexten untersucht. Unter der Überschrift Speaking for the Body: The Clinic wird Sound aus dem Blickwinkel der Medizin behandelt: von den akustischen Merkmalen eines Krankenhauses über das stethoskopische Abhören von Körpern bis zu den qua Designentscheidungen in Hörgeräten implementierten Funktionen. Editing Sound: The Design Studio widmet sich dem Sounddesign unter Gesichtspunkten der Unterhaltungsindustrie, von Computerspielen über Animationsfilme bis zur Etablierung experimenteller elektronischer Klänge im amerikanischen Werbefernsehen der 1960er Jahre. Die letzten beiden Abschnitte, Consuming Sound and Music und Moving Sound and Music: Digital Storage schließlich beschäftigen sich mit dem historischen Wandel der auditiven Medien, von den physischen Tonträgern des 20. Jahrhunderts zu den aktuellen Dateiformaten digitaler Schallspeicherung.29 Was diese Beiträge miteinander verbindet, ist die Verwendung von Sound als einem Namen für produzierte Hörerfahrungen. Diese können bewusst gestaltet oder absichtsloses Nebenprodukt anderer Prozesse sein. Im ersten Fall hat man es mit Entscheidungen zu tun, die direkt auf den Schall zielen und von Architektur über Instrumentenbau bis zu modernem Sounddesign reichen, im zweiten Fall mit geräuschhaften Nebenprodukten (etwa Maschinenlärm von Fabriken oder Flugzeugen bis zu den Produkten der Autoindustrie, die wiederum Klangökolog*innen und Akustikdesigner*innen auf den Plan rufen). Das technologische Feld, das hier abgesteckt wird, umfasst ebenso aktive Techniken der Produktion, Manipulation und Distribution von Schall wie passive, mit welchen die Grenzen menschlicher

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Hier wird der »hohe Prestigewert« von Sound praktisch ins Werk gesetzt: Qualität hat auf eine bestimmte Art zu klingen. Es fließen Designentscheidungen in das Geräusch einer sich schließenden Autotür ein etc. Dieser Prozess dauert an. Der Trend weg von Musikdateien, die auf einer eigenen Festplatte als ›Besitz‹ gespeichert sind, hin zu Streamingdiensten wird in dieser Veröffentlichung von 2012 noch nicht berücksichtigt. Michael Bull ist zwar mit einer Arbeit zu iPod Culture. The Toxic Pleasures of Audiotopia vertreten, ein Angebot wie Spotify ist zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht auf dem Radar der Sound Studies aufgetaucht.

5 Sound: Ökonomie und Ökologie des Schalls

Hörfähigkeit erweitert werden können, z.B. Stethoskopie, verbesserte Mikrofonierungstechniken oder Hörgeräte. Auch das Musikalische gehört zum Forschungsbereich der Sound Studies, die es aber eher unter ›funktionalen‹ Gesichtspunkten betrachten (z.B. seine Produktion und Distribution), es mehr oder weniger gleichberechtigt mit anderen Aspekten gestaltbarer Hörerfahrungen behandeln und sich damit von den klassischen Musikwissenschaften abgrenzen. Die Sound Studies haben sich als eigenständige akademische Disziplin im Zuge jener Wende in den Geisteswissenschaften entwickelt, die Jim Drobnick 2004 als sonic turn bezeichnet hat.30 Die Sound Studies lassen sich als Nachfolge und Erweiterung der klassischen Musikwissenschaften sowie der Cultural Studies verstehen, sie umfassen ein ähnlich inter- bzw. transdisziplinäres Ensemble von Einzelwissenschaften: Ethnologie, Psychologie, Akustik, Aspekte von Architektur- und Designtheorie, Medienwissenschaften und Popularmusikforschung etc. bilden eine Schnittmenge, die als gemeinsamen Gegenstand Sound hat. Einen für den Studiengang Sound Studies der Universität der Künste in Berlin programmatischen Entwurf liefert Holger Schulze, damals Leiter des Studiengangs, im Vorwort des 2008 erschienenen Sammelbands Sound Studies. Traditionen – Methoden – Desiderate: »Klang oder Sound, Geräusch oder Laut sind keine Nebensache mehr, kein [sic] Akzidenz, kein Dekor. Eine neue Aufgabe der Gestaltung wie auch der Lebensführung stellt sich sowohl in professioneller wie auch in anthropologischer Hinsicht: Neue Berufe entstehen und sind entstanden – neue tägliche Handlungsgewohnheiten bildeten und bilden sich weiter. Vor wenigen Jahren, manchmal nur Monaten wären sie noch unvorstellbar gewesen. Mehr und mehr wird es zur Hauptsache, sich zu fragen: Wie verbinden sich Architektur mit Kommunikationstechnik, Stadtplanung mit Benutzerführung, Notation mit Design, Markenkommunikation mit Unterhaltungsmedien, anthropologische mit medienwissenschaftlichen Erkenntnissen – in den Klängen um uns und ihren Wirkungen? […] Sound Studies wenden sich diesem Untersuchen der Klänge in all seinen vielfältigen Erscheinungsformen zu. Sie liegen als Forschungsfeld quer zu etablierten Disziplinen und Ausdrucksformen.«31 Schulzes Definition zielt auf einen Ausschnitt des Hörbaren, in dem Klang und Sound als Material von Gestaltungsprozessen verstanden werden. Hanna Buhl bringt das in einer Darstellung des Studiengangs Sound Studies an der UdK auf den Punkt: »Sound Studies bildet [sic] für eine Berufspraxis der Klanggestaltung 30

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Vgl. Drobnick, Jim (Hg.): Aural Cultures, Toronto: YYZ Books 2004. – Der Begriff ist als Hinweis auf einen Mangel in der Theorie und als Forderung zu verstehen: »[S]ounds widersetzen sich den Erklärungsversuchen sowohl der bild- als auch der textbasierten Theorien.« (Ebd., S. 10, a.d. Engl.: DW) H. Schulze: Sound Studies, S. 10.

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und -beratung aus.«32 Aus dieser Perspektive sind die Sound Studies eher als akademischer Ableger des Sounddesigns zu verstehen.33 Sound ist in diesem Sinne nicht als ›Schall‹ (als die Gesamtheit der möglichen Hörerfahrung) zu übersetzen, sondern wird zu einem Symbol für das Hörbare unter bestimmten Voraussetzungen – für seine Gestaltbarkeit unter dem Primat des Nützlichen und Vernünftigen. Diese Bedeutungsverschiebung fällt kaum auf, als wäre sie durch übermäßigen Gebrauch abgeschliffen worden.

5.3

Sounddesign

Die Entstehung von Sounddesign als einer bewussten Gestaltung von nicht zwangsläufig musikalischen Schallereignissen lässt sich unterschiedlich datieren. Die historische Entwicklung dieser Gestaltungsweise umfasst vermutlich eine ähnliche Zeitspanne wie die gesamte menschliche Kulturgeschichte.34 Sounddesign in einem modernen Verständnis aber konnte erst mit dem Aufkommen der modernen Kommunikations- und Unterhaltungsmedien und speziell mit der Möglichkeit von Schallaufzeichnung und industrieller Massenfertigung einsetzen. Eine umfassende Darstellung der soziotechnologischen Vorgänge, die zu den aktuellen Parametern einer Gestaltbarkeit von Hörerfahrungen geführt haben, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, weshalb hier nur einige wenige Eckdaten skizziert werden sollen, die grob die Konturen einer historischen Entwicklung nachzeichnen: Der Edison-Phonograph wurde 1877 patentiert, 1913 wurde die

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Buhl, Hanna: »Was sind Sound Studies?«, in: Bronner, Kai/Hirt, Rainer (Hg.): Audio-Branding. Entwicklung, Anwendung, Wirkung akustischer Identitäten in Werbung, Medien und Gesellschaft, München: Verlag Reinhard Fischer 2007, S. 294-299, hier S. 297. Design ist, seiner klassischen Definition nach, auf Funktionalität ausgerichtet. Etwas Unnützes, Unvernünftiges oder Ungesundes könnte dieser Eingrenzung entsprechend nicht Gegenstand des Designs werden (unabhängig davon, dass Unmengen von ungesunden, unnützen und unvernünftigen Gegenständen entworfen werden. Diese Fehlgriffe sind es ja, von denen sich die Designtheorie abgrenzt und angesichts derer sie auf der Trennung von gutem und schlechtem Design beharrt. Was sich in der Praxis als unnütz erweist, war von der oder dem Gestaltenden anders intendiert, was sich als ungesund erweist, wurde im Designprozess übersehen etc.). In den peruanischen Anden etwa wurde ein 3000 Jahre altes, von Inka erbautes Steinlabyrinth entdeckt, von dem Archäolog*innen vermuten, dass sein Hauptzweck die Verstärkung und Verzerrung von Schall war (vgl. Than, Ker: »Ancient Maya Temples Were Giant Loudspeakers?«, in: National Geographic, 17.12.2010, https://news.nationalgeographic.com /news/2010/12/101216-maya-acoustics-speakers-audio-sound-archaeology-science/, abgerufen 1.7.2020). Genauso kann die Gestaltung von Kirchenglocken und allgemein der sakralen Architektur des Okzidents in diesem Zusammenhang als eine Form von Klanggestaltung aufgefasst werden.

5 Sound: Ökonomie und Ökologie des Schalls

Fließbandfertigung durch Henry Ford eingeführt. Die erste öffentliche Rundfunkübertragung in Deutschland fand 1920 statt. Seit den 1920er Jahren produzieren Foley Artists Geräusch- und Klangkulissen für Radio- und Filmproduktionen.35 Diese englische Berufsbezeichnung geht auf den Pionier des Filmsounds, Jack Donovan Foley (1891-1967), zurück. Im deutschen Sprachraum wird von Geräuschemacher*innen gesprochen, im Französischen und Italienischen von bruiteurs bzw. rumoristi. Der überwiegende Teil der Schallereignisse einer durchschnittlichen Filmproduktion wird nachträglich in einer Studiosituation hergestellt, der Berufszweig der Geräuschemacher*innen blickt so auf eine fast 100-jährige Tradition der akustischen Illusion zurück.36 All diese Entwicklungen kulminierten nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Musik-, Unterhaltungs- und Werbeindustrie, welche die für eine professionelle Klanggestaltung notwendige Technologie und Infrastruktur bereitstellen konnte. Produktdesign ist dabei eine notwendige Konsequenz aus der industriellen Massenfertigung, die ebenso die standardisierten Angebote der Massenmedien bzw. der Kulturindustrie umfasst. Die spätestens in den 1950er Jahren abgeschlossene Entwicklung hin zu einem Massenmarkt für populäre Musik gab der Musikindustrie ihre die folgenden Jahrzehnte bestimmende Gestalt. Seit Beginn der 2000er lässt sich ein verstärktes Interesse an der Gestaltung des Auditiven feststellen, das über die Vermarktung von Musik und ihre Funktion als Werbeträger (den klassischen Jingle) hinausweist. Im selben Zeitraum hat sich das Tätigkeitsprofil des Sounddesigners etabliert,37 funktionale Klänge, Soundlogos und akustische Markenführung sind zu Begriffen in einem 35

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Der amerikanische Sounddesigner Ben Burtt war 1977 der Erste, der mit dieser Berufsbezeichnung im Abspann eines Films (Star Wars – A New Hope) gelistet wurde: »Der Begriff Sounddesigner ist im letzten Jahrzehnt [in den 80er Jahren] in Gebrauch gekommen, eigentlich seit die Star-Wars-Filme ein neues Interesse an kreativen Soundtracks in Kinofilmen geweckt haben. Ich nannte mich Sounddesigner, weil ich nicht wirklich als Tonmann, Tonmeister oder einfach nur als Tonmischer fungierte.« (O.V.: »Ben Burtt – Sound Designer of Star Wars«, o.D., Interviewtranskription online unter http://filmsound.org/starwars/burtt-interview.htm, abgerufen 1.7.2020, a.d. Engl.: DW, Herv. i. Orig.) Die künstliche Herstellung von Geräuschen und Klängen aber ist vermutlich ebenso alt wie rituelles Handeln und, in seiner Erweiterung, Schauspiel und Theater. Die Geschichte des ›Theaterdonners‹ als geräuschhafte Untermalung des Bühnengeschehens lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen (vgl. hierzu Nelle, Florian: »Theaterdonner. Geräusch und Illusion um 1800«, in: Bayerdörfer, Hans-Peter (Hg.): Stimmen – Klänge – Töne, Tübingen: Gunter Narr 2002, S. 493-506, hier S. 495 f.). Für das Interesse an einer Gestaltung des Auditiven hat die Kunst eine Vorreiterrolle gespielt. Vor dem Sounddesign war es die Sound Art, die sich seit den 1980er Jahren als eigenständige Disziplin etablierte: »Der Begriff Sound Art geht auf William Hellermans 1982 gegründete Sound Art Foundation zurück, die zwar in erster Linie mit ›experimenteller Musik‹ oder ›Neuer Musik‹ arbeitete, aber 1983 […] auch eine frühe Ausstellung mit Klangskulpturen und anderen ausstellbaren Arbeiten zeigte.« (Licht, Alan: Sound Art. Beyond Music, Between Categories, New York: Rizzoli 2007, S. 11, a.d. Engl.: DW)

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neuen Arbeitsbereich geworden. Dabei haben sich Überschneidungen in den Forschungs- und Tätigkeitsfeldern von Sound Studies und Sounddesign etabliert. Diese Beziehungen lassen sich u.a. an der Sound Studies-Reihe des Transcript Verlags ablesen. Das Buch Funktionale Klänge wurde 2009 von Georg Spehr herausgegeben. In seinem Vorwort umreißt Spehr das Programm der funktionalen Klanggestaltung: »In der Produktentwicklung wird der Klang der Dinge bewusst in die Gestaltung mit einbezogen. Nicht einfach irgendwelche vom Objekt verursachten Geräusche sollen zu hören sein, sondern solche, die dem Produkt entsprechend eine qualitative und positive Bedeutung vermitteln. Akustische Logos als Bestandteil einer Markenkommunikation symbolisieren klanglich eine Marke und kommunizieren zumeist in einer Mischung aus musikalischen und klanglichen Elementen in einer kurzen Zeitspanne von ca. 2 bis 3 Sekunden Markenwerte und -botschaften.«38 Hier hat der »hohe Prestigewert« von Sound den Bereich des Musikalischen verlassen, er ist nicht mehr Bestandteil eines Popsongs, sondern wird mit Objekten verknüpft, deren ›Werte und Botschaften‹ er kommuniziert. Das Soundlogo weist zwar diverse Merkmale von Musik auf, es kann Rhythmen, Melodie und Harmonie beinhalten, ist aber zugleich weniger und mehr. Es verhält sich analog zu den traditionellen Hornsignalen, wie sie bei der Jagd oder in Militär- und Postwesen verwendet wurden.39 Diese streng codierten (und nur innerhalb des jeweiligen Codesystems Sinn ergebenden) Tonfolgen transportierten einfache Warnungen und Botschaften in unübersichtlichen Situationen über weite Strecken, sie waren Befehle, die ohne Worte auskamen. Im Vordergrund stand und steht bei ihnen die Funktion als Signal, der ›sinnhafte Sinn‹, während ästhetische Eigenschaften oder der ›sinnliche Sinn‹ in den Hintergrund treten. Das Soundlogo übernimmt die Signalfunktion der einfachen Tonfolge, reichert sie aber ästhetisch an. Es ist ein funktionaler Klang, der, wie das Hornsignal, eine Botschaft kommunizieren soll. Zugleich wird die Botschaft erst vollständig durch Sounds – Klänge, Klangfarben, Geräusche –, mit denen die Tonfolge angereichert wird und die einen Raum für Assoziationen eröffnen.40 Allerdings sind die Codes, die hierbei zur Verwendung kommen, 38 39

40

Spehr, Georg: »Vorwort«, in: ders. (Hg.): Funktionale Klänge. Hörbare Daten, klingende Geräte und gestaltete Hörerfahrungen, Bielefeld: Transcript 2009, S. 9-15, hier S. 10. »Mit dem Posthorn wurde ein präziser Signalcode angewandt, um auf die verschiedenen Beförderungsarten hinzuweisen (Express- oder Standardpost, lokale Sendung, Pakete). Es wurde geblasen, um Ankunft, Abfahrt oder einen Notfall anzuzeigen […].« (R.M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 97) Dieser Assoziationsraum lässt sich beispielsweise so fassen: »Philips hat […] ein Audio-Logo entwickeln lassen, das mit dem neuen Markenversprechen ›sense and simplicity‹ in Einklang steht. Zwei helle, klare und dezent instrumentierte Töne stehen für Einfachheit, Unkompliziertheit, Fortschrittlichkeit und für Technik mit Sinn für das Wesentliche.« (Bronner, Kai:

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um einiges vielschichtiger als der reduzierte Umfang von Botschaften, die sich mit den klassischen Tonsignalen übermitteln ließen. Sie umfassen die ökonomischen, modischen und medialen Dispositive einer ganzen Kultur. Jenseits von Soundlogos, wie sie in Werbekampagnen zum Einsatz kommen, ist Sound zu einer Art Zusatzstoff geworden, der ansonsten stummen Produkten beigemengt wird oder zu einer auratischen Aufladung von Objekten, Waren, Unternehmen und Marken dienen soll. Die tendenzielle Stummheit oder Komplexität des jeweiligen Objekts ist dabei ausschlaggebend. Es ist anzunehmen, dass bisher keine Anstrengungen unternommen wurden, die von Presslufthämmern oder Kreissägen hervorgebrachten Geräusche zum Gegenstand funktionalen Sounddesigns zu machen (abseits von eventuellen Bemühungen, ihre Schallemissionen zu dämpfen). Der Lärm jener Maschinen, die als nicht weiter reduzierbare Relikte der Industrialisierung der Obsoleszenz entgangen sind, lässt nicht genug Raum für eine Gestaltung ihrer Geräuschpotenziale. In den von Luigi Russolo geschilderten Höreindrücken einer »großen modernen Hauptstadt« um 1916 – Ventile, Kolben, mechanische Sägen, Tramwagen etc.41 – ist fast nichts zu vernehmen, was der bewussten Entscheidung eines Designers entsprungen wäre, aber vieles von dem, was spontan mit Lärm assoziiert wird. Die Digitalisierung hat einerseits die Möglichkeiten des Sounddesigns radikal erweitert: endlose Möglichkeiten der Kombination, Manipulation und Distribution von Schall. Andererseits hat sie Generationen von relativ leisen bis gänzlich stummen Maschinen und Geräten hervorgebracht, die überhaupt erst das Möglichkeitsfeld einer umfassenden Gestaltung von Hörerfahrungen geschaffen haben: »Eine akustische Wahrnehmung von vielen Geräten und Maschinen ist nicht mehr möglich, weil sich aufgrund der teilweise fast kompletten Digitalisierung und verbesserten Materialtechnologie ihre natürlichen Eigengeräusche verflüchtigt haben – sie sind stumm. […] Eine individuelle Zugänglichkeit vieler Funktionalitäten lässt sich durch die äußere Gestalt kaum noch erschließen und bedarf vielseitiger Lösungsansätze. […] Um ein besseres und verständliches Interagieren möglich zu machen, benötigt eine Mensch-Maschine-Kommunikation einen umfangreichen und mehrschichtigen Informationsaustausch, was eine Ausnutzung aller Wahrnehmungs- und Interaktionskanäle erforderlich macht. […] Klang ist ein hervorragendes Kommunikationsmittel, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und auf Situationen hinzuweisen, Nachrichten zu vermitteln, emotionale Situationen zu unterstützen sowie zeitliche Abläufe, strukturelle Prozesse und räumliche Gefüge auch über Sicht- und Distanzbarrieren hinweg darzustellen.«42

41 42

»Schöner die Marken nie klingen … Jingle all the Way?«, in: K. Bronner/R. Hirt (Hg.): AudioBranding, S. 82-96, hier S. 85) Vgl. L. Russolo: Die Geräuschkunst, S. 10, bzw. diese Arbeit, S. 62-65. G. Spehr: »Vorwort«, in: ders.: Funktionale Klänge, S. 11 f.

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Sounddesign verhält sich in diesem Sinne reaktiv zu dem Problem einer durch die Digitalisierung aufgeworfenen Unübersichtlichkeit bzw. Unhörbarkeit. Es fügt sich in eine allgemeine Konjunktur des Designs, die sich seit den 1980er Jahren beschleunigt hat. Ein Sammelband zur Designtheorie im 21. Jahrhundert problematisiert diese Entwicklung wie folgt: »In einer immer weiter überschäumenden Euphorie begegnet uns heute das Thema Design in unterschiedlichsten Ausprägungen. Die damit verbundene Inflation des Begriffs ist reichlich erschreckend.«43 Die Ursache dieses Erschreckens muss eingehender betrachtet werden. Handelt es sich um die bloße Inflation eines Begriffs, der eine stringente Designtheorie vor Probleme stellt, oder ist das Anschwellen des Konzepts Symptom eines allgemein um sich greifenden Dispositivs von Gestaltung? Friedrich von Borries hat einen umfassenden Begriff von Design entworfen, der weniger seine inflationäre Streuung beklagen als es vielmehr in einen größeren Kontext stellen will: »Design ist das planvolle – also absichtliche, vorsätzliche, zielorientierte – Gestalten von physischen und virtuellen Gegenständen, Innen- und Außenräumen, Information und sozialen Beziehungen. Dieser erweiterte Designbegriff umfasst also alles, was in disziplinär engeren Kontexten Produkt-, Industrie-, Grafik- und Kommunikationsdesign etc. genannt wird, darüber hinaus Architektur, Städtebau und Stadtplanung sowie Landschaftsarchitektur, aber auch Bereiche der bildenden Kunst und des sozialen und künstlerischen Aktivismus.«44 Der erweiterte Designbegriff umfasst also auch notwendigerweise die Gestaltung von Höreindrücken. Eine mögliche Erklärung für die vergleichsweise neue Begrifflichkeit des Sounddesigns (wenn berücksichtigt wird, dass funktional ähnliche Formen von Gestaltung auch vor der Etablierung dieser Bezeichnung stattgefunden haben) ist, dass im Bereich des Hörbaren ein neues und weitestgehend noch nicht eingehegtes Marktsegment entdeckt wurde. Die Gestaltung massenhaft konsumierter Gegenstände und Erfahrungen stellt eine Form von Macht dar. Laut Borries kann Design die Optionen menschlichen Handelns sowohl erweitern als auch einschränken. Er spricht in diesem Zusammenhang von entwerfendem und unterwerfendem Design: »Alles, was gestaltet ist, entwirft und unterwirft. […] Diese dem Design inhärente Dichotomie ist nicht nur eine gestalterische, sondern eine politische. Sie bedingt Freiheit und Unfreiheit, Macht und Ohnmacht, Unterdrückung und Widerstand.«45 Beiden Aspekten ist eine disproportionale Tendenz gemeinsam, sobald sie als reale Objekte, Dienstleistungen oder Ambiente warenförmig 43 44 45

Bürdek, Bernhard/Eisele, Petra (Hg.): Design, Anfang des 21. Jh.: Diskurse und Perspektiven, Ludwigsburg: avedition 2011, S. 5. Borries, Friedrich von: Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2016, S. 9. Ebd., S. 10.

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zirkulieren: Das Resultat eines Designsprozesses beeinflusst das Alltagsleben, es wird zu einem Stück Umwelt. Die Entscheidungsprozesse einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Spezialist*innen (gestützt durch Marktforschung, Algorithmen und das sonstige Arsenal der modernen Datenerhebungs- und Kontrolltechniken) führen zu Ergebnissen, die, im Fall von Sounddesign, in die akustische Lebensrealität breiter Bevölkerungsschichten eindringen. Dabei ist »nicht jedes Design […] emanzipatorisch. Design kann sowohl entwerfend als auch unterwerfend sein. […] Unterwerfendes Design bringt Objekte, Räume und Kontexte hervor, die die Handlungsmöglichkeiten ihrer Benutzer nicht – oder nur in einem vorgegebenen Rahmen – erweitern.«46 Hier ist die Etymologie aufschlussreich: Das lateinische designare meint ›bezeichnen‹, (zu etwas) ›bestimmen‹, ›benennen‹. Wer etwas zuvor Namenloses benennt, kann Ansprüche darauf erheben. Soundlogos, Audio Branding und andere Produkte des Sounddesigns nähern sich heute einer Allgegenwärtigkeit, sie werden zu festen Bestandteilen der akustischen Umwelt und bestimmen sie, was dieser Beitrag aus Funktionale Klänge deutlich macht: »Konzeptionell gestaltete Klangwelten im Produkt-, Dienstleistungs- und Markenkontext sind schon seit Jahren allgegenwärtiger Bestandteil der anthropogenen Umwelt und somit Komponente der akustischen Wahrnehmung. Die Möglichkeiten der gezielten Klanggestaltung sind vom einfachen Brand Song […] oder Jingle […] bis hin zur vollständigen und bewussten Ausgestaltung eines umfassenden akustischen Markenbildes […] stark angewachsen.«47 Die bewusste Ausgestaltung produziert ihr eigenes Unbewusstes, paradoxe Formen, die in einem synästhetischen Schwebezustand »akustische Markenbilder« und »Soundlogos« erschaffen. Die Marke, in der einfachstmöglichen Definition nur die Markierung eines Objekts, wird zu einer potenzierten Form des von Marx beschriebenen Fetischcharakters der Ware. Wenn die Welt sich als ein Konglomerat von Waren auffassen lässt bzw. der »Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, als eine ›ungeheure Warensammlung‹ [erscheint], die einzelne Ware als seine Elementarform«,48 dann entspricht die Marke ihrer Konzentrierung und phantasmagorischen Verkörperlichung. Das »vertrackte Ding voller metaphysischer Spitzfindigkeiten und theologischer Mucken«49 wird ebenso in leuchtende Farben gekleidet, wie es zum Sprechen und Singen gebracht wird, es gibt bereitwillig Auskunft über seine Qualitäten und Eigenschaften,

46 47 48 49

Ebd., S. 21. Herzer, Jan Paul/Kloppenburg, Marcel: »Funktion Klang Marke«, in: G. Spehr (Hg.): Funktionale Klänge, S. 87-100, hier S. 89. Marx, Karl: Das Kapital, 1. Bd., S. 49. Vgl. ebd., S. 86.

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es stellt seine Differenzen zu den anders markierten Objekten heraus. Was Marke genannt wird, erscheint wie eine gebündelte Form, eine Verdinglichung der anonymen, abstrakten und gesichtslosen Ware. Ihr Fetischcharakter besteht bereits darin, dass ihr Attribute zugeschrieben werden, die sie nicht beinhaltet. Der Tauschwert, der sich real aus einem sozialen Verhältnis ergibt, aus der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, soll ihr als eine Art Substanz anhaften. Die Ware ist für Marx »[…] nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt«.50 Eine Marke kann einerseits eine Vielzahl unterschiedlicher Waren und deren Gebrauchswerte unter einem Dach (etwa dem eines Unternehmens) bündeln, andererseits hebt sie die Waren aus der Anonymität ihrer Wertbeziehungen heraus, stattet sie mit imaginären Eigenschaften aus und potenziert ihre fetischistische Kraft. Der Begriff der Marke unterliegt dabei einer ähnlichen Inflation, wie sie schon bei dem des Designs bemerkbar wurde: »Mit dem Vordringen der Marke in immer neue Bereiche […] und einer zunehmenden Verwässerung des Begriffs der Marke durch Inflationierung wird eine klare Definition des Markenbegriffs notwendig«,51 wie der Professor für Marketing Manfred Bruhn Anfang der 2000er Jahre schreibt. Die Warenformen des Musikalischen, die Ökonomie des Hörbaren und das Sounddesign als Kommunikation von »Markenwerten und -botschaften« knüpfen an diese Logik der Inflation an. Sounddesign erscheint als eine Tendenz, die sich aus dem Anschwellen eines Konzepts – und damit einer bestimmten Anschauung von Tätigkeit, Material, Welt etc. – ergibt. Eine Disziplin, ein Tätigkeitsbereich quillt über seine vormaligen Eingrenzungen hinweg und erschließt so neue Tätigkeitsfelder, Wirkungsbereiche und Märkte. Das englische Wort für Marke, brand, unterstreicht dabei die Bedeutung im Sinne von ›Markierung‹: ein Brandzeichen, das Waren aufgedrückt wird und zu einer unauslöschlichen Wiedererkennbarkeit führt.52 Im Zuge der Entwicklung des dezidierten Sounddesigns hat sich der Fachterminus Audio Branding als Sammelbegriff für die akustische Markenführung herausgebildet.

50 51

52

Ebd. Bruhn, Manfred: Was ist Marke? Aktualisierung der Definition der Marke, Berlin: Gesellschaft zur Erforschung des Markenwesens 2002, S. 5. – Bruhns bündige Definition der Marke lautet: »Als Marke werden Leistungen bezeichnet, die neben einer unterscheidungsfähigen Markierung durch ein systematisches Absatzkonzept im Markt ein Qualitätsversprechen geben, das eine dauerhaft werthaltige, nutzenstiftende Wirkung erzielt und bei der relevanten Zielgruppe in der Erfüllung der Kundenerwartungen einen nachhaltigen Erfolg im Markt realisiert bzw. realisieren kann.« (Ebd., S. 18) »Ausgehend vom ursprünglichen ›Brandzeichen‹ zur Eigentums-Kennzeichnung von Tieren beschreibt Branding heute alle Aktivitäten zum Aufbau einer Marke, mit dem Ziel, das eigene Angebot aus der Masse gleichartiger Angebote hervorzuheben […].« (Kai Bronner: »Glossar«, in: K. Bronner/R. Hirt:Audio-Branding, S. 12-19, hier S. 17)

5 Sound: Ökonomie und Ökologie des Schalls

Während Sounddesign sich auf alle möglichen Aspekte einer Gestaltung von Schall beziehen kann – von Filmproduktionen über Architektur bis zu Lärmschutz und Software-Entwicklungen –, ist der Wirkungsbereich des Audio Branding die Werbung, allerdings unter der Voraussetzung ihrer Entgrenzung und annähernden Allgegenwärtigkeit. Audio Branding wird von Kai Bronner definiert als der »Prozess des Markenaufbaus und der Markenpflege durch den Einsatz von akustischen Elementen […] im Rahmen der Markenkommunikation«.53 Ziel des Audio Brandings ist nach Bronner die Entwicklung eines Brand Sound oder Corporate Sound. Dieser »spiegelt die akustische Identität einer Marke (eines Unternehmens) wider und wird durch Audio-Logo, Brand Song, Brand Voice etc. hörbar«.54 Es bleibt unklar, welche Seite hierbei das Brandzeichen setzt und welche es erhält. Wird dem Soundlogo die Markierung des Unternehmens aufgedrückt oder die Marke erst durch den Klang identifizierbar? Das Audio- oder Soundlogo ist in jedem Fall der Nukleus des Audio-Branding-Prozesses. Die Marke bzw. das Unternehmen können auch durch Songs, Klangflächen oder spezifische Stimmen repräsentiert werden, das Soundlogo aber ist ihre konzentrierte Signatur: »Das Audio-Logo stellt das akustische Identifikationselement einer Marke dar […]. Es sollte prägnant, unverwechselbar, einprägsam, flexibel sein und zur Marke passen […].«55 Das Soundlogo verschränkt auf eigenartige Weise symbolische, imaginäre und auditive Aspekte in einer Form, und es schickt sich an, die Trennung von Stimme/sinnlichem Sinn und Rede/sinnhaftem Sinn ebenso wie die zwischen Klang und Bild aufzuheben: Das grafische Logo eines Unternehmens ließ sich in eine heraldische Tradition einordnen, als Insignie von ökonomischer Macht. Es ist ein grafisches Element, das idealerweise einen weltweiten Wiedererkennungswert besitzt. Das Soundlogo hingegen lässt sich als die Stimme eines Unternehmens verstehen, ein Klang, der sein Wesen unverwechselbar zum Ausdruck bringt. In der Logik des Signals ist die Botschaft, die das Soundlogo verkündet, das »Ich bin« der Marke oder des Unternehmens, die Identität der Ware: »Ich bin ein Produkt der Marke X, nicht der Marke Y.« Deleuze hat in seinem Text Postskriptum über die Kontrollgesellschaften eine einfache Formel gefunden, um diese Verlebendigung einer abstrakten ökonomischen Einheit zu kritisieren: »Zum Zentrum oder zur ›Seele‹ des Unternehmens ist die Dienstleistung des Verkaufs geworden. Man bringt uns bei, daß die Unternehmen eine Seele haben, was wirklich die größte SchreckensMeldung der Welt ist.«56 Während der klassische industrielle Kapitalismus noch mehr an Orte – Standorte, Produktionsstätten, Konzernzentralen – gebunden war, haben die Manifestationen der Ökonomie unter den Bedingungen der von Deleuze 53 54 55 56

Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 12. Deleuze, Gilles: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders.: Unterhandlungen. 1972-1990, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 254-262, hier S. 260.

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konstatierten Kontrollgesellschaft eine ephemere Form angenommen. »Die Fabrik war ein Körper […]; in einer Kontrollgesellschaft tritt jedoch an die Stelle der Fabrik das Unternehmen, und dieses ist kein Körper, sondern eine Seele, ein Gas.«57 Die von Deleuze verwendete Metapher der gasförmigen Seele eines Unternehmens lässt sich mit der von Kant verwendeten Analogie zwischen Musik und Geruch verbinden: Schall breitet sich ebenso in einem flexiblen oder gasförmigen Medium aus, wie ein Geruch es tut. Die »Seele des Unternehmens«, die Marke als wesenhafte Konzentration einer Ansammlung von Waren bedarf eines ähnlichen Mediums, um sich mitzuteilen, eines, das zugleich flüchtig ist und sich ungehindert ausbreiten kann. Soweit Sound das Hörbare unter der Bedingung seiner Nützlichkeit bezeichnet und sich Techniken der Gestaltung anbietet, ist das Soundlogo das perfekte Ergebnis dieser Operation. In ihm soll nichts überflüssig sein, es muss einen hohen Wiedererkennungswert aufweisen und sich flexibel einsetzen lassen. In einer Art flüssigen bis gasförmigen (d.h. beweglichen) Aggregatzustands soll es idealerweise das gesamte Alltagsleben durchziehen. Sound als gestaltete Hörerfahrung soll dabei helfen, die von Agenturen in mühevoller Arbeit herauskristallisierten Attribute einer Marke zum Vorschein zu bringen bzw. sie zu ›kommunizieren‹. Dieser Vorgang verunklart die abstrakten Verhältnisse kapitalistischer Ökonomie, er wirkt wie ein das Abstrakte verhüllender Schleier. Die »Seele des Unternehmens« bzw. die individuelle Botschaft der Marke bleibt ein Simulakrum. Es lässt sich eine Ideologie im marxistischen Sinne konstatieren, ein falsches Bewusstsein der Gesellschaft. Der von Marx beschriebene Warenfetischismus ist ein Präzedenzfall für Ideologiekritik: eine Täuschung bzw. ein System von Überzeugungen ohne epistemische Basis. Roger Behrens hat in seinem Text Kann man die Ware hören? den Versuch unternommen, eine marxistisch inspirierte Ideologiekritik auf den modernen Sound-Begriff anzuwenden. Bei ihm heißt es: »[D]ie Ideologie des ›Sounds‹ geht von einem substantiellen oder essentiellen Klang der Dinge aus und impliziert in der ›Sound‹-Qualität eine quasi-moralische Wertung […]. ›Sound‹ ist als soziales Verhältnis zu begreifen, sowohl in seiner objektiven Materialität wie auch in seinem subjektiven Ausdruck.«58 Der Abschnitt, dem dieses Zitat entnommen ist, widmet sich einer Attribuierung von Sound, die über die Anbindung an Musik hinausgeht. Es lässt sich vom ›Sound der Stadt‹ ebenso sprechen wie vom Sound einer bestimmten Automarke. Der Sound einer Band oder eines Genres ist nach Behrens immer auch mit visuellen Aspekten verknüpft, er transportiert ein bestimmtes Image. Diese Verknüpfungen sind ideologisch, sie entsprechen sozialen Verhältnissen und sind nicht ›substanziell‹ in einem bestimmten Musikstück

57 58

Ebd., S. 256. Behrens, Roger: »Kann man die Ware hören?«, in: H. Schulze (Hg.): Sound Studies, S. 167-184, hier S. 174 f.

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oder Klang enthalten.59 Die Ideologie des Sounds funktioniert nach Behrens durch eine Übersprechung zwischen verschiedenen Sinnesregistern. Der Klang muss sich mit dem Bild vermischen, um Sound werden zu können: »Als Konzept ist ›Sound‹ tendenziell redundant und bleibt als Begriff zugleich begriffslos; mithin kann Sound als ein akustisches Bild verstanden werden und berührt sich in seiner Bedeutungs- und Sinnvielfalt mit der Allegorie; so sind die Versuche, Sound begrifflich zu fassen, auf Metaphern angewiesen, und die ›Objektivierung‹ des subjektiven Sound-Erlebens vollzieht sich dabei in bildlich-symbolischen Assoziationsketten […].«60 Sound als Begriff eröffnet also, analog zu Noise, ein Spiel von Metaphern, von begrifflichen Ausweichbewegungen, in denen sich keine singuläre, eindeutige Bedeutung fixieren lässt. Einen prägnanten Begriff von Sound zu definieren bereitet ähnliche Schwierigkeiten wie die begriffliche Eingrenzung von Noise, die jeweiligen terminologischen Entgrenzungsbewegungen folgen aber unterschiedlichen Modi. Während Noise eine ständige Verschiebung und Zersetzung von Bedeutung in Gang setzen kann, lässt sich Sound schwer fassen, weil er, Behrens’ Argumentation folgend, selbst den Modus einer Verschleierung bezeichnet. Noise kann als Platzhalter für eine Negativität des Auditiven fungieren,61 während Sound umgekehrt eine Positivität bezeichnen soll. Es ist aber gerade diese ethoästhetische Dichotomie, die selbst auf eine Ideologie des Auditiven verweist. Es lassen sich zwei Aspekte derselben unterscheiden. Zum einen eine ›Audiologie‹62 als Sammelbegriff für eine bestimmte Art des Sprechens über das Hörbare: ein Gefüge von Vorstellungen über die richtige Art, zu hören, Unterscheidungen zwischen guter und schlechter Musik, zwischen Geräusch und Klang, Noise und Sound etc. zu treffen – ein ethoästhetisches Dispositiv, das den Hintergrund für kulturelle, politische und persönliche Bewertungen des Hörbaren liefert.63 Zum anderen eine ›Ideophonie‹, in der diese Vorstellungen konkret hörbar werden: der phantasmatische Sound, die akustische Identität eines Unternehmens oder einer Marke, ein Ensemble von

59 60 61 62

63

… so wie »noch kein Chemiker Tauschwert aus einer Perle extrahieren konnte«, vgl. K. Marx: Das Kapital, 1. Bd., S. 98. R. Behrens: »Kann man die Ware hören?«, S. 175. »Noise is negative« – P. Hegarty: Noise/Music, S. 5. Audiologie ist hier als Neologismus mit der Bedeutung ›Ideologie des Hörens‹ zu verstehen und nicht mit der Audiologie als Fachdisziplin zur Erforschung und Behandlung von Störungen des Gehörs zu verwechseln. Anders gefasst kann Audiologie auch als eine Rede über das Hörbare definiert werden, die bestimmte Grundvoraussetzungen privilegiert und andere ausblendet. In diesem Sinne handelt es sich auch bei dieser Arbeit um eine Audiologie, deren begriffliche Basis sich allerdings in einem Verhältnis der Gegnerschaft zu einem verallgemeinerten Konzept von Sound befindet.

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Klang gewordenen Vorstellungen davon, wie die Welt zu klingen hat. ›Ideophonie‹ kann auch als Knotenpunkt in der Sphäre des Hörbaren verstanden werden, eine Verdichtung von Vorstellungen und Codes, von der ausgehend Aspekte des Politischen, Ökonomischen und Sozialen vernehmbar werden und in audioästhetischen ›Objekten‹ – Genres, Sounddesign, Klangkunst etc. – einen Ausdruck finden. Wenn allerdings Sound als die Gesamtheit alles Hörbaren aufgefasst werden muss, so lassen sich mit dem Wort selbstverständlich auch Aspekte des Auditiven begreifbar machen, die von der Audiologie eines industriellen Sounddesigns nicht erfasst werden können. Im Nachwort der 2015 erschienenen zweiten Ausgabe von Background Noise. Perspectives on Sound Art unternimmt Brandon LaBelle den Versuch, Sound als ästhetisches Medium der Klangkunst unter Gesichtspunkten des Peripheren und Ungewollten zu beschreiben. Dabei bezieht er sich auf den von dem Architekturtheoretiker David Gissen geprägten Begriff der subnature; eine ›Unternatur‹,64 die von den Nebenprodukten industriellen Wachstums gebildet wird und den Bodensatz oder die Peripherie industrieller und postindustrieller Umgebungen bildet: Abfall- und Nebenprodukte, unerwünschte, verdrängte und übersehene Reste, die sich im Register des Hörbaren bemerkbar machen und von LaBelle als Bestandteile einer unsauberen Ästhetik des Auditiven beschrieben werden, die den Ansprüchen eines funktionalen Sounddesigns zuwiderläuft. »Sound wird als Medium häufig eingesetzt, um erkennbar zu machen, was unteroder oberhalb ist, darunter oder darinnen, vergessen oder unaussprechlich; genauer ist Sound ein Trigger, um akustisch dasjenige freizusetzen, was stets marginalisiert wird oder in Randzonen sein Dasein fristet – Übriggebliebenes, Verworfenes, Verwunschenes, Unbemerktes –, durch eine Anzahl schwingungs- und resonanzbezogener, interventionistischer, kontaminierender und kompositorischer Taktiken. Da Sound sich durch alle Arten von Orten bewegt und sie besetzt, Grenzen missachtet und zugleich machtvolle Territorialisierungen schafft sowie Artikulationen dessen ermöglicht, was häufig unterhalb des Repräsentierten bleibt, erachte ich ihn als eine schmutzige (und verschmutzende) Kraft. Sound eröffnet eine radikale Relationalität gerade dem gegenüber, was in den Zwischenräumen des Sichtbaren gefunden werden kann; neben dem Objekt eines bestimmten Begehrens oder einer bestimmten Ökonomie ist er das unablässige Hervortreten einer Alterität. Wie ein Dunst, der in und aus so vielen Körpern strömt, der in den Ritzen schwebt, um plötzlich über die Szene hereinzubrechen, so desorganisiert, rekonfiguriert und ergänzt Sound unablässig die Beständigkeit der Form.«65

64 65

Vgl. Gissen, David: Subnature. Architecture’s Other Environments, New York: Princeton Architectural Press 2009. B. LaBelle: Background Noise, S. 298, a.d. Engl.: DW.

5 Sound: Ökonomie und Ökologie des Schalls

Sound wird von LaBelle, ähnlich wie von Kant, in metaphorische Nähe zum Olfaktorischen gerückt. Doch das gasförmige Fluidum, das im funktionalen Sounddesign als eine Art veredelnder Zusatzstoff für Produkte oder als »Seele des Unternehmens« im Sinne Deleuzes fungiert, verkehrt sich hier in sein qualitatives Gegenteil: eine Kontamination. Die ungeplante und keinem gestalterischen Entwurf folgende Emission von Schall kann so als ein unproduktiver Überschuss der Ökonomie gelesen werden und wird von Noise ununterscheidbar: ein Lärm, ein Rest, ein störendes Geräusch, ein thermodynamisches Rauschen. Die von LaBelle aufgezählten Beispiele für Sound Art wenden sich genau dieser verdrängten Seite des Auditiven zu und rücken sie ins Zentrum der Aufmerksamkeit.66 Dieser ›akustische Schmutz‹ könnte also ebenso gut mit dem Namen Noise belegt werden. LaBelle verwendet in seiner Auseinandersetzung mit störendem und verstörendem Schall allerdings Sound im Sinne des Hyperonyms als umfassende Bezeichnung für alles Hörbare, die nicht die in der Dichotomie Sound/Noise angelegte Bewertung vornehmen möchte. Das Hören an sich ist solchen Bewertungen stets vorgelagert, es öffnet überhaupt erst das Feld, auf dem sich ein Wechselspiel von Differenzen und Relationen, von Definitionen und deren Aufhebung vollziehen kann.67 Die ethischen und ästhetischen Grenzen, von denen dieses Feld durchzogen wird, ergeben sich aus einer komplexen Interrelation von politischen, ökonomischen und soziokulturellen Faktoren. Die Räume und Flächen, in denen sich das Soziale konstituiert, werden dabei selbst von auditiven Markierungen durchzogen. Das Hörbare ist ein Faktor in der Strukturierung des Sozialen, welcher sich in Bewegungen der Eingrenzung, Abgrenzung und Entgrenzung von Territorien und Arealen niederschlägt. Wie lässt sich diese sozioakustische Räumlichkeit begrifflich fassen? Sound Studies und Sounddesign verwenden den Begriff der Soundscape, um akustische Areale, Flächen und Räume zu beschreiben. Von welchen Paradigmen dieser Begriff ausgeht, ob er Möglichkeiten bietet, die sozialen und politischen Aspekte des Hörbaren und damit Bewegungen der Abgrenzung und Besetzung, der Versammlung und Zerstreuung, der Spannung, des Konflikts und der Konsonanz zu beschreiben, wird im Folgenden zu untersuchen sein.      

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In der Arbeit Unstoppable Hum von Sabrina Raaf etwa wird das 50-Hz-Brummen des Stromnetzes zum Mittelpunkt einer raumfüllenden Installation, vgl. B. LaBelle: Background Noise, S. 303 f. Ob es Schall gibt und in welcher Quantität und Qualität, ist unerheblich, wenn niemand da ist, um ihn zu hören: »There is no sound, no noise, no silence, even, without listening.« (P. Hegarty: Noise/Music, S. 197)

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Die Soundscape: Ein konservatives Areal

Als Gründungsdokumente der Sound Studies gelten zwei Texte, die in den 1970er Jahren erschienen sind. Der 1977 in Frankreich unter dem Titel Bruits. Essai sur l’économie politique de la musique68 von dem Ökonomen Jacques Attali veröffentlichte Text wird als einer der ersten Versuche angesehen, Noise (bruit) im Zusammenhang mit Musik sowie politischen und soziokulturellen Entwicklungen zu theoretisieren. Ebenfalls 1977 erschien das Buch The Tuning of the World des kanadischen Komponisten und Klangforschers Raymond Murray Schafer. Die deutsche Erstausgabe von 1988 trug den Titel Klang und Krach. Eine Neuübersetzung wurde 2010 als Die Ordnung der Klänge von Sabine Breitsamer veröffentlicht, die u.a. den Masterstudiengang Sound Studies an der Universität der Künste in Berlin mitbegründete. Der Titel ist nicht als Anspielung auf die deutsche Ausgabe von Michel Foucaults Les mots et les choses (Die Ordnung der Dinge) zu verstehen. In ihrem einführenden Essay Hörgestalt und Denkfigur stellt Breitsamer klar: »Eine Ordnung der Klänge in der Praxis vorzunehmen, so Schafers Fazit, müsse dem zu etablierenden Beruf des Akustikdesigners obliegen, aber auch den aufmerksamen Hörern und ihrer Fähigkeit zur gestaltbildenden, weil geschärften auditiven Wahrnehmung. Aus diesem zentralen Gedanken ergab sich der Ansatzpunkt für den Titel der vorliegenden deutschen Übersetzung, Die Ordnung der Klänge.«69 Es handelt sich also weniger um die Analyse von Strukturen oder eine Archäologie der Humanwissenschaften im Sinne Foucaults als um einen Appell, aufzuräumen und Ordnung zu schaffen. Schafer ist einer der Gründerväter der Sound Studies, einige der von ihm entworfenen Konzepte haben sich als äußerst einflussreich erwiesen und bilden bis heute ein unverzichtbares Element ihres begrifflichen Instrumentariums. Unter ihnen ist der Begriff der Soundscape hervorzuheben, der sich nur unzureichend mit ›Klanglandschaft‹ übersetzen lässt. Die Soundscape wird von Schafer definiert als »akustische Umwelt, eigentlich jeder Aspekt einer akustischen Umgebung, der als Untersuchungsgegenstand bestimmt wird«, für den Autor verweist »[der] Begriff […] sowohl auf reale Umwelten als auch auf abstrakte Strukturen, wie etwa die Musikkomposition und die Tonbandmontage, insbesondere wenn diese als Umgebungen aufgefasst werden«.70 Als begriffliches Instrument hat die Soundscape eine neue Form von Aufmerksamkeit für das 68 69 70

Das Buch ist in einer englischen Übersetzung unter dem Titel Noise. The Political Economy of Music erschienen. Eine deutsche Ausgabe liegt bisher nicht vor. Breitsamer, Susanne: »Hörgestalt und Denkfigur«, in: R.M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 7-28, hier S. 10. R.M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 439.

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Hörbare ermöglicht. Der Fokus auf akustische Umgebungen hat Forschungsansätze möglich gemacht, die sich weder auf eine naturwissenschaftliche Fachdisziplin wie die Akustik noch auf das theoretische Feld der Musikwissenschaften reduzieren lassen. Das Konzept der Soundscape ist durch Schafer als möglichst holistische Denkfigur angelegt worden, die zugleich einer spezifischen Haltung der Hörenden entsprechen soll und von Breitsamer in ihrem Vorwort so beschrieben wird: »Das Konzept der Soundscape ist eine Hörgestalt, die in einer bestimmten Wahrnehmungshaltung gründet: in der auditiven Aneignung der Gesamtheit aller Schallereignisse eines Orts, Raums oder einer Landschaft, rundum und vollständig, bis auf den leisesten Laut. […] Sie ist zudem eine Denkfigur, die das auditive Wahrnehmen reformuliert. […] An die Stelle [des] tradierten, linearen Aneignungsmusters stellt Schafer sein audio-taktiles, lebensweltliches Modell.«71 Es geht darum, das Hörbare nicht aus einer Logik der »frontalen Rezeption«72 heraus zu untersuchen, in der ein Reiz oder eine Information linear vom Sender zum Empfänger übermittelt wird. Die Wahrnehmung der Soundscape, und damit der Begriff selbst, soll eine Art von gleichschwebender Aufmerksamkeit suggerieren, in der nach Möglichkeit keine Hierarchie zwischen den Objekten der Wahrnehmung besteht. Die ›Klanglandschaft‹ ist als ein Areal oder Raum zu verstehen, der aus einem Kollektiv von teils distinkten, teils obskuren Schallereignissen erst gebildet wird. So unhierarchisch, wie es in dieser Beschreibung anklingt, wird das Konzept der Soundscape von Schafer allerdings nicht entwickelt. Vielmehr werden Kriterien etabliert, die auf eine Aufteilung in ›gute‹ und ›schlechte‹ Soundscapes hinauslaufen. Gegenübergestellt werden zwei grundsätzlich verschiedene Formen: die frühe, natürliche oder ländliche und die städtische bzw. postindustrielle Soundscape. Diese werden mit Begriffen aus der Unterhaltungselektronik als Hi-Fi bzw. Lo-Fi definiert. Fidelity, die ›Treue‹ oder ›Ehrlichkeit‹, hat sich im Zuge der Entwicklung von Geräten zur Schallaufzeichnung und -wiedergabe im 19. Jahrhundert zu einem Begriff für die akustische Klangtreue gewandelt. Der Kultur- und Technikhistoriker Jonathan Sterne schreibt über diese Umdeutung: »Schließlich bedeutet Treue [fidelity] die Eigenschaft der Ergebenheit [faithfulness] einem Pakt oder einer Vereinbarung gegenüber. Die bloße Wahl des Begriffs fidelity (erstmals 1878 auf Schall [sound] angewendet) deutet auf einen Glauben an Medien und deren Treue hin, auf eine Überzeugung, dass Medien und Klänge als solche sich ehrlich [faithfully] an die Übereinkunft halten könnten, zwei Klänge seien identisch. Wir brauchen diesen Glauben, um eine Äquivalenz zwischen 71 72

S. Breitsamer: »Hörgestalt und Denkfigur«, S. 15. Ebd.

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Original und Kopie annehmen zu können, da, zusätzlich zu der philosophischen Zwickmühle, die mit der Rede von einer perfekten Treue [perfect fidelity] entsteht, die Identität von Original und Kopie von einem technologischen Standpunkt aus unmöglich ist – die größere metaphysische Frage einmal beiseitegelassen.«73 Es muss hervorgehoben werden, dass Schafer seine qualitative Unterteilung der Soundscape anhand eines Begriffs vollzieht (der Klangtreue oder fidelity), der nur in Bezug auf die Unterscheidung einer Kopie von ihrem Original Sinn ergibt. Es handelt sich bei der Soundscape bereits um eine Repräsentation, es wird nicht eine erste Natur als Umgebung beurteilt, sondern eine zweite Natur, d.h. die kulturelle Codierung von Umwelt. Über die Entstehung der Unterteilung in High und Low Fidelity nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Medienhistoriker Greg Milner diese Beobachtung angestellt: »Was High Fidelity eigentlich bedeutete, war unklar. 1949 verwies es noch auf hochwertiges Audioequipment […]. Schon bald sollte High Fidelity alles bedeuten, was man nur in das Wort hineinlesen wollte.«74 Hi-Fi und Lo-Fi bezeichnen im Sinne Schafers nichts anderes als eine Unterteilung in ›gut‹ und ›schlecht‹; eine originalgetreue und klar verständliche Aufnahme auf der einen Seite und eine störungsbehaftete und unverständliche Kopie auf der anderen.75 Aus der Perspektive der Informationstheorie ist das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen beiden der Signal-Rausch-Abstand, und diese Trennung wird von Schafer auf die akustische Umgebung angewandt: »In einer Hi-Fi-Soundscape werden die einzelnen Laute deutlich, weil der Pegel der Umgebungsgeräusche niedrig ist. Eine ländliche Umgebung ist im Allgemeinen eher eine Hi-Fi-Soundscape als eine Stadt, die Nacht ist eher Hi-Fi als der Tag, frühere Zeiten eher als moderne. In der Hi-Fi-Soundscape überlappen sich Laute nur selten und es gibt eine akustische Perspektive: Vordergrund und Hintergrund. […] In einer Lo-Fi-Soundscape werden die einzelnen akustischen Signale überdeckt von einer übermäßig verdichteten Anhäufung von Lauten.«76 73 74 75

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J. Sterne: The Audible Past, S. 221 f., a.d. Engl.: DW. Milner, Greg: Perfecting Sound Forever. The Story of Recorded Music, London: Granta 2009, S. 138, a.d. Engl.: DW. Eine ›schlechte‹ oder Lo-Fi-Aufnahme bringt die Eigenschaften des Trägermediums ins Bewusstsein, z.B. wenn das Knistern einer Vinylschallplatte deutlich vernehmbar wird. Mark Fisher hat in Ghosts of My Life auf dieses hingewiesen: »[W]e are habituated to the ›re‹ of recording being repressed.« (Fisher, Mark: Ghosts of My Life. Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures, Winchester/Washington: Zero Books 2013, S. 23) – Das englische recording lässt sich vom lateinischen re- für ›zurück‹ und cor (anatomisch: das ›Herz‹, und metaphorisch: die ›Seele‹ oder der ›Verstand‹) ableiten, ein ›Ins-Gedächtnis-Zurückrufen‹ (vgl. »cor«, in: Langenscheidt. Taschenwörterbuch Latein, S. 137). Das deutsche Aufnahme ist weniger aktiv konnotiert, es verweist eher auf das Trägermedium, das die Spuren eines Signals aufzeichnet. R.M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 91.

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In dieser Unterscheidung verbinden sich akustische und informationstheoretische Argumentationen. Die Hi-Fi-Soundscape erlaubt eine säuberliche Trennung zwischen Nutzsignal und Störsignal, während in der Lo-Fi-Soundscape die Auswahl des ›richtigen‹ Signals schwierig wird. »Unsicherheit, die […] durch den Einfluß von Störungen entsteht, ist unerwünschte Unsicherheit«,77 wie es in der Informationstheorie heißt. In Schafers Unterscheidung deutet sich eine Bewertung von Soundscapes an, die von Marie Thompson als »ästhetischer Moralismus« charakterisiert wird, da der natürlich-ländlichen Soundscape stets der Vorzug gegeben wird.78 Thompson hat dieses Vorurteil am Beispiel einer Audioarbeit von Francisco López – La Selva: Sound Environments From a Neotropical Rain Forest – zu entkräften versucht. Die von López in den Regenwäldern von Costa Rica angefertigten Feldaufnahmen erlauben es kaum, eine Unterscheidung von akustischem Vorderund Hintergrund vorzunehmen. Die Geräusche von Regen, Pflanzen, Insekten und Säugetieren bilden eine immersives und zugleich chaotisches auditives Feld, in dem eine räumliche Orientierung oder Lokalisation einzelner Schallquellen kaum möglich ist: »In López’ Arbeit wird die Präsenz eines geräuschhaften [noisy, was an dieser Stelle genauso gut mit ›lärmig‹ oder ›rauschend‹ übersetzt werden könnte] Milieus/Mediums nicht minimiert. Vielmehr werden Signal und Rauschen, Vorder- und Hintergrund, Ereignis und Kontext zusammen präsentiert, was darauf hinweist, dass das, was zu hören ist, einer Kombination von Schallquelle und Umgebung entstammt. […] Obwohl es häufig als schädlich vorgestellt wird, steht Noise, wie López’ Arbeit zeigt, keineswegs im Gegensatz zum Natürlichen. Der Regenwald ist voller Noise.«79 Eine solche Ambivalenz oder Unordnung ist in Schafers System undenkbar. Sein Naturbild ist pantheistisch, alles erscheint ihm beseelt. In seinen lyrischen Beschreibungen von Naturklängen verbinden sich Vitalismus und Anthropomorphismus zu einer Beschwörung natürlicher Schönheit. Besonders deutlich wird dies, wenn er vom Wasser schreibt: »Wasser stirbt nie. Es lebt ewig, da es als Regen wiedergeboren wird, als sprudelnder Bach oder als Wasserfall, als Quelle, reißender Fluss und gewaltiger Strom«,80 bzw.: »[J]eder Besucher eines Meeresstrands wird das Konzert der Wellen als etwas Besonderes empfinden, aber nur der dem Meer zugewandte Dichter, das Ostinato der See von Geburt an im Ohr, kann präzise den Herzschlag der Wellen ermessen«.81 Wasser ist eine anorganische Verbindung, es

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C.E. Shannon/W. Weaver: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, S. 29. Vgl. M. Thompson: Beyond Unwanted Sound, S. 92, a.d. Engl.: DW. Ebd., S. 88, a.d. Engl.: DW. R.M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 56. Ebd., S. 55.

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lebt nicht. Aber nicht nur die Trennung von belebter und unbelebter Materie beginnt hier zu rauschen, es stellt sich das Problem der Abgrenzung zwischen Natur und Kultur. In Schafers Ausführungen zum Wasser erscheint es mitunter unklar, welche Sphäre als Platzhalter für die andere herhält: die Kunst als Nachahmung des Naturschönen oder – im Wiedererkennen ästhetisch-kultureller Muster in der Umgebung – die Natur stellvertretend für die Kunst? In den Worten Theodor W. Adornos vertritt die Kunst in ihrer naturalistischen Form Natur »durch ihre Abschaffung in effigie; alle naturalistische [Kunst] ist der Natur nur trügend nahe, weil sie, analog zur Industrie, sie zum Rohstoff relegiert«.82 Die auf den Begriff gebrachte Erfahrung des Naturschönen zeigt sich als eine zutiefst kulturell durchdrungene Leistung. Paul Hegarty beschreibt diesen Umstand mit dem Beispiel eines durch Flugzeuglärm gestörten Waldspaziergangs: »Während es vordergründig ein menschengemachter Lärm ist, der die Ruhe des Waldes unterbricht, ist das, was eigentlich gestört wird, der Spaziergang, ein kulturelles Phänomen, mit seiner menschlichen Forderung nach Ruhe, mit seinem Vorwissen darüber, wie viel Natur man bekommen wird.«83 Was als Natur wahrgenommen wird, ist durch Kultur bedingt und mitunter auch geformt. Eine ›natürliche Natur‹, das Ideal von Stille und Harmonie, hat nichts mit einer unberührten Natur zu tun, die sich dem Menschengemachten gegenüberstellen ließe. Es handelt sich um ein pastorales Ideal, das seit Jahrhunderten als Fluchtpunkt für Zivilisationsmüdigkeit, Weltekel und Überforderung durch die Moderne dient.84 Die Aufwertung der natürlichen Soundscape unterliegt somit einem kognitiven Verzerrungseffekt, den Thompson in ihrer Auseinandersetzung mit Schafer als einen beauty bias charakterisiert hat:85 »Die nostalgische Charakterisierung der Soundscape der Vergangenheit als ›natürlich‹ und der Soundscape der Gegenwart als ›unnatürlich‹ durch die schafersche akustische Ökologie zeugt von etwas, das [...] als ein vielen ökologischen Praktiken inhärenter beauty bias identifiziert [werden kann], demzufolge ›positive‹ und

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Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 104. – Im Zusammenhang seiner Ästhetischen Theorie geht Adorno auch mit anderen Denkbildern von Kultur und Natur hart ins Gericht: »Wie sehr die Vulgärantithese von Technik und Natur irrt, liegt darin zutage, daß gerade die von menschlicher Pflege ungesättigte Natur […], alpine Moränen und Geröllhalden, den industriellen Abfallhaufen gleichen, vor denen das gesellschaftlich approbierte Naturbedürfnis flüchtet.« (Ebd., S. 107) P. Hegarty: Noise/Music, S. 8, a.d. Engl.: DW. Das idyllische Landleben war mehr eine Erfindung der herrschenden Klasse, als dass es die Lebensrealität der Landbevölkerung oder den Berufsalltag des Schäfers kennzeichnete. Der beauty bias gehört in den Katalog dessen, was die Sozialpsychologie kognitive Verzerrungen nennt. In diesem Fall: eine Bevorzugung des ästhetisch Ansprechenden vor dem Faktischen im Zuge der Theoriebildung (vgl. Kovacs, Zsuzsi et al.: »How Do Aesthetics Affect Our Ecology?«, in: Journal of Ecological Anthropology 10, 1 (2006), S. 61-65).

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›negative‹ Umgebungen ästhetischen Vorstellungen von Schönheit und Hässlichkeit entsprechend beschrieben werden. Dies wird in den ökologischen Praktiken durch die deutliche Vorliebe für ›unberührte‹, ›abgelegene‹ und ›wilde‹ Orte erreicht – unberührte Wälder, ungestörte Feuchtgebiete und unbeweidetes Grasland –, die von menschlicher Aktivität und von Bebauung unangetastet bleiben. Im Gegensatz dazu wurden urbane und menschlich dominierte Landschaften erst vor Kurzem als wichtiger Schwerpunkt der Ökologie anerkannt, sie waren zuvor typischerweise als ästhetisch und ökologisch minderwertig betrachtet worden.«86 Welche Höreindrücke in natürlichen oder vorindustriellen Soundscapes vorherrschen, kann nicht genau eingegrenzt werden. Die von Schafer angegebenen Beispiele reichen vom pastoralen Idyll par excellence, dem auf der Weide Flöte spielenden Schafhirten,87 über die diversen Tier- und sonstigen Umweltlaute bis hin zu verschiedenen durch menschliche Tätigkeiten hervorgebrachten Geräuschen. Auch in der vorindustriellen Epoche gab es Lärm, wofür Schafer drei Beispiele anführt: den Krieg und das Schlachtfeld,88 die Stadt mit ihren Ausrufer*innen und Straßenmusiker*innen89 und schließlich eine Form von Schallereignissen, die er als »heiligen Lärm« bezeichnet.90 Für diese besondere Art Lärm, in der sich Gewaltsamkeit, gigantische Proportionen und Erhabenheit vermischen, werden wiederum drei Beispiele angeführt. Das erste und ursprünglichste zieht eine Parallele zwischen der biblischen Apokalypse und Naturkatastrophen: »In der Vorstellung der Propheten kündigt sich das Ende der Welt durch ein mächtiges Getöse an, gewalttätiger als jedes vorstellbare Geräusch […]«,91 was seine reale Entsprechung in einem für das Jahr 1883 im Indischen Ozean dokumentierten Vulkanausbruch finden soll: Die Explosion des Krakatau war noch in 4500 Kilometer Entfernung zu hören, das »lauteste Geräusch, das seit Menschengedenken auf der Erde vernommen wurde«.92 Zweitens wird im Rückgriff auf Claude Lévi-Strauss’ Mythologiques die These vertreten, dass Lärm (im Sinne von lautem oder ›spektakulärem‹ Schall) ursprünglich der Sphäre des Sakralen entsprach, während das Alltagsleben der vormodernen Gesellschaften durch Stille charakterisiert gewesen sei.93 Drit-

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M. Thompson: Beyond Unwanted Sound, S. 92, a.d. Engl.: DW. Vgl. R.M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 93 f. Ebd., S. 101 f. – Der Abschnitt, in dem die Geräusche der vorindustriellen Kriegsführung beschrieben werden, trägt den Titel Lärm in der ländlichen Soundscape. Hier begegnet man wieder der Engführung von Noise und Krieg, von Lärm und Konflikt. Derartige Geräusche wurden insbesondere von den Oberschichten als Lärmbelästigung wahrgenommen, vgl. ebd., S. 125 f. Vgl. ebd., S. 434. Ebd., S. 69. Ebd. Ebd., S. 105; vgl. auch Lévi-Strauss, Claude: Mythologica II. Vom Honig zur Asche, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1976.

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tens schließlich schildert Schafer, wie diese Akustik des Erhabenen und Sakralen durch die Industrialisierung profaniert wird. Die Maschine und die Fabrik veralltäglichen das Besondere, weben einen andauernden Geräuschteppich aus dem, was einmal speziellen Ereignissen vorbehalten war, und nötigen zu einem unwillkürlichen Götzendienst an der Industrie: »Während der Industriellen Revolution übertrug sich der ›heilige Lärm‹ auf die profane Welt. […] Der Zusammenhang von Lärm und Macht wurde in der menschlichen Vorstellung niemals in Frage gestellt. Diese Macht ging von Gott auf die Priester über, dann auf die Industriellen und in der jüngeren Vergangenheit auf den Radiomacher oder den Flugzeugführer.«94 Entsprechend dieser Nivellierung von Unterschieden, dem Abstieg von sakraler Lautstärke zu profaner Lärmbelästigung, verändert sich für Schafer auch der Charakter von Noise im Übergang zum 20. Jahrhundert. Der gewaltsame, katastrophische oder heilige Lärm zeichnete sich immer durch seine temporale Begrenztheit aus; dadurch, dass er Zäsuren in Normalität und Alltäglichkeit setzte. Die industrielle Revolution hat eine neue Qualität und Quantität in die Soundscape eingeführt, die Schafer als »statische Welle« bezeichnet.95 Die Geräusche der Maschinen verdichteten sich zu einer andauernden Schallwand, die die Soundscape entstelle, alles Lebendige in ihr abtöte und selbst eine Art metaphorischer Zombieexistenz führe: »Wir können von natürlichen Klängen so sprechen, als führten sie eine biologische Existenz. Aber der Generator und die Klimaanlage vergehen nicht. Sie erhalten Ersatzteile und leben ewig.«96 Die untot weiterlebenden Maschinen bilden das negative Echo zu Schafers Ausführungen über das ewige Leben des Wassers. Die natürliche Soundscape ist gut, und die kulturelle kann es nur bis zu einem gewissen Grad sein. Es fällt leicht, Schafer einen konservativen Weltekel zu attestieren; eine Audiologie, in der alles, was nicht der Idealvorstellung einer durch Ruhe, Übersichtlichkeit und Ordnung charakterisierten Umgebung entspricht, als Verfall, Grenzüberschreitung und Gewalt angesehen werden muss.97 Aus der Perspektive des schaferschen Akustikdesigns lassen sich technische Innovationen kaum anders denn als unheilvolle Machtdemonstrationen erklären: »Wenn man über genügend akustische Energie verfügt, um eine weitreichende akustische Struktur zu etablieren, kann man das […] als imperialistisch bezeichnen. So ist zum Beispiel ein Mensch mit einem Lautsprecher imperialistischer als jemand ohne Verstärker

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R.M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 143. Ebd., S. 146. Ebd., S. 147. Noise hat in dieser Ordnung der Klänge seine Berechtigung als ›heiliger Lärm‹, einesakrale Zäsur des Alltagslebens; als profane Geräuschkulisse der Moderne ist Lärm im Sinne Schafers jedoch abzulehnen.

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[…].«98 Zur Zeit der Veröffentlichung von Schafers Buch war Noise noch kein Begriff, der anders als polemisch auf Musik bezogen worden wäre, vielleicht mit Ausnahme der ersten Punks, die solche Beleidigungen stolz als Emblem ihrer Bewegung führten.99 Noise als Genre sollte noch einige Jahre auf sich warten lassen. Zu elektronisch verstärkter Musik hatte Schafer zu diesem Zeitpunkt allerdings dieses zu notieren: »Populäre Musik […], die häufig im Freien aufgeführt wurde, verwandelte den Verstärker in eine tödliche Waffe, indem sie die Produktion von Klängen und Geräuschen bis an die Schmerzgrenze ausweitete.«100 Dass Noise als Lärm, als eine akustische Form von Gewalt charakterisiert werden kann, die mit entsprechenden Folgen einhergeht – Unruhe, Hörverlust, Schlafstörungen und anderen psychischen und somatischen Schädigungen –, soll nicht bestritten werden.101 Schafers Appell zu einer genauen Analyse und Kritik der akustischen Umgebung hat Forschungsansätze ermöglicht, ohne die auch die vorliegende Arbeit nicht denkbar wäre, einige seiner Überlegungen sind als Belege in diesen Text eingeflossen. Mit seiner konservativen Aufteilung der Klangsphäre verstellt er sich allerdings selbst mögliche Erkenntnisgewinne, da seine Definition von Noise zwar die Differenzen des Begriffs anerkennt,102 sie aber letztlich dadurch verdeckt, dass er ihnen ausschließlich destruktive Attribute zuschreibt. Thompson erkennt darin die Verbindung zweier Konzepte, die einen eigenständigen NoiseBegriff bilden: »In Schafers System scheint Noise (als Interferenz, Perturbation, Low Fidelity oder Mangel an Klarheit) mit Lärmverschmutzung (als schädigendem und destruktivem Umgebungsschall) zu verschmelzen, sodass praktisch alle Manifestationen von Noise in der Soundscape der Gegenwart als Probleme angesehen werden.«103 Im Rückgriff auf Francisco López’ Field Recordings aus dem zentralamerikanischen Regenwald lässt sich allerdings feststellen, dass Noise als »statische Welle« aus ununterscheidbaren Umweltgeräuschen ebenso biologischen wie

R.M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 145. – Dies gilt wie selbstverständlich nicht für den vormodernen ›akustischen Imperialismus‹ der Kirchenglocke: »Der Ruf der Glocke bringt die Gemeinde zusammen, vereint sie im sozialen Sinn und führt den Menschen mit Gott zusammen.« (Ebd., S. 107) – Ich werde auf die Möglichkeiten akustischer Territorialisierung und Machtausübung noch zurückkommen. 99 1977, im Erscheinungsjahr von The Tuning of the World, veröffentlichten die Sex Pistols das Album Never Mind the Bollocks mit dem Song Seventeen. Johnny Rottens Liedtext beinhaltet die Zeilen: »We make noise, it’s our choice / It’s what we wanna do«. 100 R.M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 202. 101 Die negativen psychophysischen Auswirkungen von Lärm werden in den Abschnitten 6.2 und 6.3 dieser Arbeit eingehender behandelt. 102 Schafer unterscheidet zwischen »unerwünschte[m] Laut«, »nicht musikalische[m] Laut«, »jegliche[m] lauten Schallereignis« und der informationstheoretischen Störung in der Signalübertragung; vgl. R.M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 298 f. 103 M. Thompson: Beyond Unwanted Sound, S. 100, a.d. Engl.: DW. 98

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industriellen Ursprungs sein kann. Jede Soundscape kann tendenziell desorientierend, bedrohlich oder verstörend wirken, was sich aber mehr aus dem ästhetischen Erfahrungshorizont und den soziokulturellen Orientierungsschemata des lauschenden Subjekts als aus ihren immanenten Qualitäten ergibt – Stille kann für Personen, die sie nicht gewohnt sind, zu einer sehr lauten Angelegenheit werden. Eine Hörerfahrung als unangenehm, unheimlich oder schädlich zu charakterisieren, entspricht der alltäglichen pejorativen Verwendung der Bezeichnung Noise im Sinne von Lärm: einem ethoästhetischen Urteil, das mehr über den kulturellen Hintergrund und die Klassenzugehörigkeit der urteilenden Person als über Lautheit oder den Signal-Rausch-Abstand aussagt (da das Problem der Desorientierung in einer unbekannten akustischen Umgebung hauptsächlich in dem Unvermögen besteht, das ›erwünschte‹ Signal vom ›unerwünschten‹ Hintergrundrauschen zu unterscheiden). Ausgehend von dem Konzept der Soundscape lässt sich eine Akustik des Sozialen formulieren, die es ermöglicht, eine Umgebung daraufhin zu befragen, was und wie in ihr gehört wird. Eine solche Theoriebildung müsste aber jenseits der etablierten und verhärteten Unterscheidungskriterien von Sound und Noise stattfinden, um nicht auf die ästhetischen und ästhetisierenden Kriterien Schafers zurückzufallen. Nicht nur deren ästhetische Maßstäbe sind konservativ, auch die Politik des Akustischen, die sich aus ihnen ableiten lässt, ist es. Sie verfehlt die Frage des Politischen und macht die Umgestaltung der Soundscape zur Aufgabe einer Elite: »Wenn Akustikdesign als nützlicher Beruf etabliert sein wird und junge Gestalter entsprechende Positionen in Wirtschaft und Politik einnehmen, werden sie in der Lage sein, zahlreiche notwendige Reparaturen an der Soundscape vorzunehmen.«104 Ähnlich wie bei den Grundlagen und Ergebnissen des Audio Branding, dessen Protagonist*innen sich teilweise auf die Theorien Schafers berufen und das Konzept der Soundscape in das Arsenal der Markenkommunikation aufgenommen haben, wird die Gestaltung einer akustischen Umgebung zur Aufgabe von Spezialist*innen und lässt sich im Sinne einer kollektiven Aneignung gar nicht erst denken. Diese Privilegierung des Einzelnen gegenüber dem Kollektiv kritisiert auch Sterne, wenn er in The Audible Past schreibt: »[Schafers] ideale Sound-Kultur beschränkt sich auf das, was er den menschlichen Maßstab nennt – den Raum der unverstärkten menschlichen Stimme. Für Schafer ist das Menschliche das Kleine. Diese Definition der Menschheit reduziert sie auf die Größenordnung eines einzelnen menschlichen Wesens und verwechselt Kakophonie mit sozialen Unruhen oder, schlimmer, mit Unmenschlichkeit. Schafers

104 R.M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 388.

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Definition der ›Hi-Fi‹-Soundscape verschleiert eine eindeutig autoritäre Bevorzugung der Stimme des Einzelnen vor der Stimme der Vielen.«105 Diese Verengung der Soundscape-Theorie stellt auch Thompson fest, wenn sie schreibt: »[Schafers Politik] macht sich für die angebliche Ruhe des Einzelnen gegenüber der Kakophonie des Kollektivs stark. […] Dementsprechend wird die Komplexität, Heterogenität und Veränderlichkeit der Soundscape – gegen die Ambitionen der Klangökologie selbst – auf eine Reihe vereinfachender Polaritäten reduziert.«106 In diesem System wird ›Natur‹ bzw. ›das Natürliche‹ zu einem Platzhalter soziopolitischer Idealvorstellungen: Die ideale Gesellschaft würde so klingen, wie es die Idee der Natur vorgibt. Das nächste Kapitel wird, ausgehend von weiterführenden Theorien der Soundscape aus dem Bereich der Klangökologie, eine genauere Bestimmung von natürlicher und kultureller Akustik in Angriff nehmen.

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Geophonie, Biophonie und Anthropophonie

Die in Schafers Begriff der Soundscape angelegte Gleichsetzung von Kultur mit ›Natur‹ verstellt seiner Theorie die Perspektive auf gesellschaftliche Zusammenhänge. Ein kritisches bis polemisches Potenzial entfaltet sein Denken in Hinblick auf die Konservierung eines möglichst vormodernen Zustands und in seiner Einschätzung von Akteuren, denen er akustische Macht zuspricht – Industrielle und Flugzeugführer –, ohne dass ökonomische und politische Machtverhältnisse dabei weiter in Betracht gezogen würden. Die Projektion ökologischer Vorstellungen auf soziale Themen bewirkt Verzerrungen, die den Anschein erwecken, Umwelt und Gesellschaft seien ein und dasselbe: »Wenn die Rhythmen der Soundscape durcheinandergeraten oder unregelmäßig werden, versinkt die Gesellschaft in Unachtsamkeit und gefährdet sich dadurch selbst.«107 Die kritische Untersuchung einer akustischen Umgebung, d.h. ein Forschungsansatz, der dort Unterscheidungen vornimmt, wo das Konzept der Soundscape zur Unklarheit neigt, benötigt präzisere Kriterien. Einen solchen Präzisierungsansatz hat der Klangforscher, Bioakustiker und Pionier des Field Recordings Bernie Krause in dem Artikel Anatomy of the Soundscape vorgenommen. Hierin unterscheidet er drei Bereiche, aus denen sich eine akustische Umgebung ergibt: Geophonie, Biophonie und Anthropophonie. Die Geophonie umfasst alle Naturgeräusche, die nicht biologischen Ursprungs sind, also

105 J. Sterne: The Audible Past, S. 342 f., a.d. Engl.: DW, Herv. i. Orig. 106 M. Thompson: Beyond Unwanted Sound, S. 101, a.d. Engl.: DW. 107 R.M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 383.

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die Effekte von »Wind, Wasser, Wetter und geophysikalischen Kräften«.108 Diese Bewegungen des Anorganischen bilden auf dem gesamten Planeten das Hintergrundgeräusch, vor dem sich die von Organismen produzierten Schallereignisse abheben oder von dem diese, bei entsprechender Lautstärke, überdeckt werden. Das Wetter und die hörbaren Effekte der Tektonik können Geräusche hervorrufen, die sich nicht in die Vorstellung einer ›ruhigen und friedlichen‹ Natur einordnen lassen. Krauses Aufzählung geophysikalischer Schallquellen beinhaltet »Lawinen, Erdbeben […] und Gletscher«.109 Sie lässt sich durch aktive Vulkane, Stürme und Tsunamis ergänzen, um einen mehr oder weniger vollständigen Katalog jener Naturkatastrophen zu erhalten,110 von denen in Krauses Darstellung der Soundscape nicht weiter die Rede ist. Den Bereich des Biophonen, Krauses eigentlichen Forschungsbereich, nehmen in seinem Modell die Laute des Organischen ein: »Die Biophonie ist der bei Weitem komplexeste und am meisten mit Informationen befrachtete Teil der Soundscape. Sie umfasst alle biologischen Klangquellen, vom mikroskopisch Kleinen bis zur Megafauna, die im Laufe der Zeit in einem bestimmten Territorium wahrnehmbar werden. In Biomen mit einer hohen Dichte und Diversität an Stimmen von Lebewesen strukturieren die Organismen ihre akustischen Signale innerhalb spezieller, kooperativer und/oder kompetitiver Beziehungsverhältnisse zueinander […], sodass alle deutlich voneinander unterschieden gehört werden können.«111 Es zeigt sich, dass Krause, ähnlich wie sein Mentor Schafer, den Informationsbegriff aus Shannons Theorie übernimmt und ihn auf die Biophonie überträgt, dessen Implikationen aber dann nicht weiter beachtet. Die Soundscape wird als ein System aus Sendern und Empfängern, Übertragungskanälen und Störungsquellen betrachtet. Die Natur selbst sorgt dabei für die Distinktion der verschiedenen Nachrichtenquellen: »In gesunden Habitaten etwa besetzen bestimmte Insekten bestimmte Frequenzbereiche und Zeitabschnitte der biophonen Bandbreite, während Vögel, Säugetiere und Amphibien diejenigen einnehmen, die noch nicht besetzt worden sind und um die kein Konkurrenzkampf besteht. So hat sich die Biophonie, die nur durch die Ruhe des Menschen deutlich hervortreten kann, auf eine solche Art entwickelt, 108 Krause, Bernie: »Anatomy of the Soundscape«, in: Journal of the Audio Engineering Society 56, 1/2 (Jan/Feb. 2008), S. 73-80, hier S. 75, a.d. Engl.: DW. 109 Ebd., a.d. Engl.: DW. 110 Im Bereich der Geophonie lässt sich Noise synonym mit Katastrophe setzen. Natur in der Verbindung mit Lautstärke ist die ursprüngliche Version dessen, was Schafer ›heiligen Lärm‹ nennt. Natur als Bedrohung und das aus dieser Bedrohung erwachsende Bedürfnis nach Naturbeherrschung sind allerdings nicht Thema von Krauses Text. 111 B. Krause: »Anatomy of the Soundscape«, S. 73, a.d. Engl.: DW.

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dass in vielen Habitaten jede Stimme deutlich gehört werden kann und jede Kreatur in deren Wiederholung genauso gedeihen kann wie in jedem anderen Aspekt ihres Daseins.«112 In dem aus ökoakustischen Nischen gebildeten Feld der biophonen Soundscape wird kein Platz verschwendet, jede Spezies nimmt ihren eigenen Bereich im Frequenzspektrum ein. In diesem »großen Orchester der Tiere«113 herrscht die ›natürlichste‹ denkbare Ordnung, die Ordnung der Natur. Menschen gehören für Krause nicht der Sphäre des Biophonen an. Obwohl selbst Lebewesen, treten sie in den naturbelassenen Habitaten hauptsächlich als Stressoren auf. Biophonie kann nur durch die »Ruhe des Menschen« verständlich werden – allerdings für den Menschen, der ja Adressat von Krauses Theorie ist. Die Anthropophonie wird von ihm ausschließlich unter dem Aspekt der Naturzerstörung behandelt. Eine Ausnahme bilden jene Menschen, die von Krause als »earth-centered groups«114 bezeichnet werden: autochthone Gruppen, die im Einklang mit ihrer natürlichen Umgebung leben, die die sie umgebenden biophonen und geophonen Signale zu deuten wissen und keine störenden Unterbrechungen in die natürlichen Kreisläufe einführen. Das Anthropophone wird von Krause in vier Bereiche gegliedert. Er unterscheidet zwischen elektromechanischem und physiologischem sowie kontrolliertem und zufälligem, d.h. beiläufigem oder unwillkürlichem (incidental) Schall. Diese Definitionen überschneiden sich in einigen Punkten. Während die Trennung von elektromechanischen und physiologischen Schallquellen scharf gezogen werden kann, sind beide jeweils dem Bereich des Kontrollierten oder Zufälligen zuzuordnen. Die von Krause gewählten Beispiele für physiologische Laute umfassen »Sprechen, Grunzen oder unwillkürliche Körpergeräusche«, zu den zufälligen Geräuschen zählt er »Gehen, Rascheln von Kleidung, Niesen oder Husten«.115 Kontrollierter Schall kann auch das Elektromechanische umfassen, solange es begrenzt bleibt, d.h. auf geschlossene Räume wie etwa Theater oder Kinos beschränkt ist (mit Ausnahme von »Veranstaltungsorten und Vorführungen, die exzessive Lautstärke benötigen«116 ). Die Grenzen zwischen zufälligen und kontrollierten physiologischen Geräuschen sind in diesem Modell schwierig zu ziehen. Die durch Krause vorgenommenen Kategorisierungen des Anthropophonen lassen sich nur in ihrem Bezug auf die Biophonie sinnvoll einsetzen. Ein Geräusch, ein Laut

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Ders.: Das große Orchester der Tiere, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2013, S. 74. So der Titel des 2013 ins Deutsche übersetzten Buchs The Great Animal Orchestra. Finding the Origins of Music in the World’s Wild Places von Krause. B. Krause: »Anatomy of the Soundscape«, S. 75. Ebd., S. 74. Ebd., S. 73.

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oder ein Klang ist dann als kontrolliert zu betrachten, wenn er keine Störungen der Biophonie, im Sinne einer unberührten Natur, verursacht:117 »Anthropophonien, insbesondere die unregulierten, zufälligen, beiläufigen und mechanischen Arten, haben einen erheblichen negativen Effekt auf die lebenswichtigen Verbindungen [zum natürlichen Habitat]. Das Gleiche gilt für jene Menschen, die in lauten Städten leben und einen Stresslevel ertragen, der sowohl ihre Gesundheit als auch ihre Lebensqualität beeinträchtigt.«118 Aus Krauses Ausführungen ergibt sich eine weitere mögliche Definition von Noise: als ein Neben- bzw. Abfallprodukt der Zivilisation, eine durchweg menschengemachte Angelegenheit. In Anatomy of the Soundscape wird eine lexikalische Grenze gezogen: Geophone und biophone Schallereignisse werden konsequent als sound bezeichnet (einschließlich der akustischen Effekte von Lawinen und Erdbeben), während noise der Anthropophonie vorbehalten bleibt – und deshalb auch konsequent Sprache und Musik beinhaltet, soweit sie zu Störquellen für die unberührte Natur werden. Wo aber ist diese unberührte Natur anzutreffen? Die ungestörte, nicht von Lärmverschmutzungen kontaminierte Biophonie ist weltweit im Rückgang begriffen. In Das große Orchester der Tiere notiert Krause: »An allen Orten im Westen der USA, wo ich Aufzeichnungen gemacht hatte und wohin ich später für erneute Aufnahmen zurückkehrte, stellten wir Veränderungen fest wie etwa eine Abnahme der Vogelarten und die Verminderung ihrer absoluten Zahl […].«119 Der Rückgang von Tierspezies in bestimmten Biotopen ist dabei nur ein Effekt von globalen Prozessen: »Die wirklich naturbelassenen Gebiete nehmen zahlenmäßig ab, und fast überall befinden sich menschliche Wohnstätten oder Industrie in solcher Nähe, dass die Anthropophonie beinahe immer hörbar ist.«120 Indem sie ihren Fokus auf die zu konservierenden Reservate einer authentischen Biophonie eingrenzt und die akustischen Aspekte des Sozialen hauptsächlich als naturzerstörende Anthropophonie wahrnimmt, bewegt sich die krausesche Klangökologie notgedrungen auf eine konservative Position zu. Sie tritt als Reaktion gegen den Lärm der Zivilisation auf, ohne soziale, politische und ökonomische Prozesse in den Blick zu nehmen. Natur erscheint ihr als etwas von der Gesellschaft Abgekoppeltes, das gerade in dieser idealisierenden Abgrenzung als Sehnsuchtsort erscheint.

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So wurde im Sommer 2018 ein Open-Air-Konzert des US-Musikers Ed Sheeran in der Nähe von Essen aufgrund von Druck durch den Naturschutzbund abgesagt. Die seltene Feldlerche nistete am Veranstaltungsort (vgl. O.V.: »Wie ein Vogel Ed Sheeran vertrieben hat«, Spiegel Online, 5.3.2018, http://www.spiegel.de/panorama/leute/essen-muelheim-ed-sheeran-von-se ltenem-vogel-vertrieben-a-1196578.html, abgerufen 1.7.2020). 118 B. Krause: »Anatomy of the Soundscape«, S. 75, a.d. Engl.: DW. 119 Ders.: Das große Orchester der Tiere, S. 192. 120 Ebd., S. 193 f.

5 Sound: Ökonomie und Ökologie des Schalls

Die Verortung der Klangökologie in einem konservativen und reaktionären Spektrum soll nicht als Ignoranz gegenüber den menschengemachten Bedingungen einer zunehmend lebensfeindlichen Umwelt verstanden werden. Sie soll vielmehr den Blick darauf lenken, dass die Klangökologie ihre Perspektive auf einen Aspekt akustischer Umgebungen verengt hat, der für den überwiegenden Teil der Menschheit keinen Bezug zu ihrer Lebensrealität aufweist. In einer Studie über Bevölkerungsverteilung, Urbanisierung und Migration stellten die Vereinten Nationen für das Jahr 2008 eine gravierende Zäsur fest: Erstmals in der Menschheitsgeschichte lebte die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten.121 Diese Entwicklung wird sich in den kommenden Jahrzehnten beschleunigen. Das wirft die Frage auf, inwieweit die Unterteilung in Biophonie und Anthropophonie in der aktuellen globalen Situation überhaupt haltbar ist. Nicht nur gibt es kaum noch Weltgegenden, die nicht in irgendeiner Form von Zivilisationsgeräuschen beeinflusst wären. Vielmehr ist die gesamte Biosphäre seit Beginn der Industrialisierung in einem solchen Maße durch menschliche Eingriffe umgeformt worden, dass seit Anfang der 2000er Jahre das von Paul Crutzen geprägte Konzept des Anthropozäns zu einem umkämpften Thema geworden ist, das Ökologie, Geowissenschaften, Philosophie und Soziologie gleichermaßen beschäftigt. Das Anthropozän wird als neues, an das Holozän anschließendes Erdzeitalter definiert, d.h. eine in den geologischen Strata nachweisbare und deutlich abgegrenzte Schicht in der Erdkruste. Crutzen hat seinen Anfang auf das späte 18. Jahrhundert, den Beginn der Industrialisierung und den damit einhergehenden Anstieg der CO2 -Konzentration in der Erdatmosphäre datiert, während der Geologe Jan Zalasiewicz die Mitte des 20. Jahrhunderts als Zäsur vorgeschlagen hat, da sich erst zu diesem Zeitpunkt weitreichende Auswirkungen in den geologischen Schichten nachweisen lassen.122 Das Anthropozän speist sich aus verschiedenen Faktoren: Die Industrialisierung und die daran anschließende weltweite Verwertung fossiler Brennstoffe oder der Beginn des Atomzeitalters 1945 werden als Eckdaten genannt. Die Effekte des

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Vgl. United Nations Department of Economic and Social Affairs: United Nations Expert Group Meeting on Population Distribution, Urbanization, Internal Migration and Development, New York, 21.-23.1.2008, https://www.un.org/en/development/desa/population/publications/pdf/urbani zation/population-distribution.pdf, S. iii, abgerufen 1.7.2020. Vgl. Zalasiewicz, Jan et al.: »Making the Case for a Formal Anthropocene Epoch. An Analysis of Ongoing Critiques«, in: Newsletter on Stratigraphy 50, 2 (2017), S. 205-226, hier S. 207.

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Grenzen des Hörens

Anthropozäns umfassen nachweisbare Ablagerungen in Sedimentschichten, die von Mikroplastik bis zu Spuren von radioaktivem Fallout reichen.123 Für die von Krause entworfene Anatomie der Soundscape wirft das beunruhigende Fragen auf: Wenn die Effekte menschlichen Handelns einen so tief greifenden Wandel nach sich gezogen haben, dass sie geologisch nachweisbar geworden sind, wenn nahezu jeder Aspekt der Biophonie durch menschliche Eingriffe manipuliert wurde und wenn selbst die Sphäre des Geophonen Veränderungen aufweist, die sich auf Zivilisationseffekte zurückführen lassen124 – welchen Sinn macht dann die Aufteilung in drei distinkte Sphären der Soundscape noch? Anzuerkennen, dass es keine natürliche Natur mehr gibt, dass man es vielmehr epistemisch mit einer kulturellen Konstruktion und ontologisch mit den Effekten menschlichen Handelns zu tun hat, wenn von ›Natur‹ gesprochen wird, könnte die Menschen in eine pragmatische Position der radikalen Verantwortung für ihre Handlungen in der Welt setzen, die ohne den Moralismus der hier beschriebenen Ökologie auskommt. Eine solche Position ist ohne eine Kritik der politischen und ökonomischen Zusammenhänge nicht denkbar, sie muss die Wechselbeziehungen zwischen kapitalistischer Wirtschaftsweise und Ressourcenvernichtung reflektieren. In Reaktion auf die COVID19-Pandemie hat das chinesische Autor*innenkollektiv Chuang über die Relation von Kapitalismus und Natur geschrieben: »Tatsächlich ist die ›natürliche‹ Sphäre bereits unter ein vollständig globales kapitalistisches System subsumiert, das das Klima grundlegend verändert und die meisten vorkapitalistischen Ökosysteme zerstört hat […]. Es gibt keine natürliche Peripherie des kapitalistischen Systems mehr – und auch keine unberührte Wildnis, deren Zustand erhalten werden könnte. Das Kapital hat lediglich ein untergeordnetes Hinterland, das seinerseits vollständig in die globale Wertschöpfung eingebunden ist.«125 Eine Klangökologie, die auf solche Zustände reagiert, müsste notgedrungen aus ihrer Fixierung auf abgetrennte Reservate hinaustreten und zu einer politischen 123

»Im weiteren Sinne wurde ein deutlicher Abdruck des Anthropozäns sogar in weit von ihrem Ursprungsort entfernten oder sich langsam aufbauenden Ablagerungen etwa in der arktischen Tiefsee nachgewiesen […]. Jede Probe daraus enthält inzwischen typischerweise Mikroplastik […], nachweisbare Spuren von radioaktivem Fallout […] und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die kugelförmigen, kohlenstoffhaltigen Partikel (von Flugasche), die sonst weltweit in landgebundenen Umgebungen nachgewiesen werden.« (Ebd., S. 213, a.d. Engl.: DW) 124 Zu diesen Veränderungen zählt etwa die Zunahme von Stürmen, die sich auf die Erwärmung der Weltmeere und damit auf den menschengemachten Klimawandel zurückführen lassen. Das Abschmelzen der Polkappen wird vermutlich auch die Soundscapes verschiedener Regionen nachhaltig verändern. 125 Chuang: »Soziale Ansteckung. Mikrobiologischer Klassenkampf in China«, in: Analyse und Kritik 658 (2020), https://www.akweb.de/ak_s/ak658/52.htm, abgerufen 1.7.2020.

5 Sound: Ökonomie und Ökologie des Schalls

Akteurin werden. Darüber hinaus bleibt zu fragen, welche Unterscheidungen zwischen ›Mensch‹ und ›Natur‹ zu ziehen wären, die komplexere Relationen als die strikte Trennung zwischen ›Anthropophonie‹ und ›Biophonie‹ zum Ausdruck bringen könnten.126 Das klangökologische Konzept der Soundscape fußt auf zwei zentralen Dichotomien: der Gegenüberstellung von Noise und Sound sowie von Mensch und Natur. Dabei bilden sich Schnittmengen zwischen beiden Bereichen, die das Feld für eine Ethoästhetik des Hörbaren bereiten, die letztlich auf einer Vorstellung von Reinheit fußt: reiner Natur, Reinheit des Klangs und der Idee einer idealen Soundscape, in der beide ununterscheidbar sind. Eine ›unreine Differenz‹ wie etwa die, dass die Abgrenzung zwischen natürlichen und menschengemachten akustischen Umgebungen selbst menschengemacht, künstlich oder ›unnatürlich‹ sei, verbleibt dagegen ›unterhalb‹ des epistemologischen Horizonts der Klangökologie. Letztere ›übersieht‹ die Tendenz zur Vermischung von Biophonie und Anthropophonie, indem sie beide Sphären säuberlich voneinander trennt und alles, was ihr weder rein noch natürlich erscheint, dem Bereich des Anthropophonen zuschlägt. Der Fokus auf eine natürliche Natur und auf eine Natur des Menschen, die beide vor unnatürlichem Lärm geschützt werden müssen, macht es der Klangökologie darüber hinaus unmöglich, eine politische Idee von Akustik zu entwickeln. Sozioökonomische Fragen werden von Schafer und Krause größtenteils ausgeblendet,127 das Konzept der Soundscape und die Klangökologie haben kaum einen Begriff von Macht und Widerstand, von Ausbeutung oder von Herrschaftsverhältnissen. Der Kapitalismus kann von ihnen nur im Register der Naturzerstörung gedacht werden (und taucht im Vokabular von Krause und Schafer gar nicht erst auf), ihr Fokus liegt auf den Wechselwirkungen zwischen Menschen und Natur und nicht auf den Bewegungen, die sich in der sozialen Sphäre abspielen. So besteht etwa zwischen Ökonomie und Ökologie aus Krauses Perspektive kein Widerspruch. Ein Teil seiner Argumentation läuft auf eine Kommodifizierung von Natur hinaus: »Soundscapes sind eine Ressource für Unternehmen. Derzeit werden sie im Film, in öffentlichen Räumen […], Games und im Internet verwendet, jede Soundscape 126

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Eine solche Untersuchung würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die Ausarbeitung eines dezidiert politischen Entwurfs einer Klangökologie muss an anderer Stelle aufgenommen werden. Schafer bewegt sich stellenweise in ihre Nähe, etwa wenn er feststellt, dass die frühe Lärmgesetzgebung des 19. Jahrhunderts ein Projekt des Klassenkampfs ›von oben nach unten‹ war: »Während die meisten Gesetze der Vergangenheit gegen die menschliche Stimme gerichtet waren (oder genauer: gegen die raueren Stimmen der niedrigen sozialen Klassen), richtete sich kein europäisches Gesetz jemals gegen den objektiv messbaren, weitaus lauteren Klang der Kirchenglocken.« (R.M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 128) – Kommentare wie dieser bleiben aber über seine Veröffentlichungen verstreut und werden nicht zu einer kritischen Theorie der Sozioakustik verdichtet.

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Grenzen des Hörens

hat einen intrinsischen Wert als geistiges Eigentum, das studiert, entwickelt und lizenziert werden kann […]. Ein besonderes Augenmerk auf die Verbindung von Forschung und Technologieentwicklung in den verschiedensten Medien eröffnet spannende Potenziale für neue Produktentwicklungen in einer Vielzahl von Anwendungsbereichen.«128 Hierin lässt sich der utilitaristische Impetus des Sounddesigns wiedererkennen. Das pseudosakrale Verständnis der Soundscape als Refugium der Natur gilt explizit nicht, wenn ihre Repräsentation, ihre konservierte Aufnahme oder ›Konserve‹ zum Gegenstand einer Ökonomisierung gemacht werden kann. Die Soundscape wird zur Ressource von Unternehmen, sie wird zum »Rohstoff relegiert« (Adorno) und zu einem geistigen Eigentum gemacht, das Gegenstand des Immaterialgüterrechts ist: Sie ist eine Ware mit Gebrauchs- und Tauschwerten und folgt darin ähnlichen Mechanismen wie die Kapitalakkumulation: Ausbeutung von Ressourcen, Landnahme, Kolonisierung von Territorien. Entscheidend ist, von wem sie als Erstes zum Eigentum erklärt wurde und wer die Macht hat, diesen Anspruch durchzusetzen. Ihr Anwendungsbereich liegt irgendwo an der Schnittstelle von entwerfendem und unterwerfendem Design. Wie aber lässt sich eine räumliche Aufteilung des Hörbaren denken und benennen, in der die Produkte spezialisierter Sounddesigner*innen und das Alltagsleben aufeinandertreffen, in der Personen, Gruppen und Körper im Register des Hörbaren interagieren? Wie konstituiert sich eine Sozioakustik, in der Sound und Noise, Musik und Lärm, Geräusche und Klänge, Information und Rauschen Strategien der Grenzziehung und Einhegung, der Raumnahme, der Entgrenzung und Transgression sind? Welche Verhältnisse von Macht und Widerstand spielen sich in diesem auditiven Feld ab, und welche Aufteilungen des Sensorischen ergeben sich aus den resultierenden Konflikten?

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B. Krause: »Anatomy of the Soundscape«, S. 79, a.d. Engl.: DW.

6 Das Auditive: Politische Akustik »Was sie der Nacht entreißt, in der sie hätten bleiben können und vielleicht auch bleiben sollen, das ist die Begegnung mit der Macht: ohne diesen Zusammenstoß wäre gewiß kein Wort mehr da, um an ihren flüchtigen Durchgang zu erinnern. Die Macht, die diesen Leben aufgelauert hat, die sie verfolgt hat, die ihren Klagen und ihrem kleinen Lärmen, sei es auch nur für einen Augenblick, Aufmerksamkeit geschenkt hat und sie mit ihrem Prankenschlag gestempelt hat, sie ist es, die die wenigen Wörter hervorgerufen hat, die uns von ihnen bleiben.«1 Michel Foucault

6.1

Topografie des Auditiven

Die Soundscape ist Ausdruck einer Doxa des Hörens. Sie zieht Trennlinien zwischen gutem und schlechtem Schall, zwischen Mensch und Natur, zwischen sozialen Gruppen mit feinem oder grobem Gehör. Die Soundscape-Forschung bewegt sich entlang einem idealisierten Konzept von Landschaft und verschließt ihre Ohren vor den akustischen Effekten der Herrschaft. Als Klanglandschaft steht die Soundscape zum einen für die ästhetisch-symbolische Wahrnehmung einer idealtypischen und harmonischen Totalität, zum anderen für eine geografische Abgrenzung und drittens für eine Verwaltungseinheit. Eine Landschaft kann Personen und soziale Strukturen beinhalten, und sie ist Ergebnis menschlichen Handelns, aber als Konzept steht sie außerhalb des Politischen. Menschen tauchen in einer ›Kulturlandschaft‹ nur abstrakt auf, etwa wenn Geschichte, Ökonomie und Traditionen bestimmte Gestaltungsformen von Landschaften hervorgebracht haben. Ein

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Foucault, Michel: Das Leben der infamen Menschen, Berlin: Merve 2001, S. 16.

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Grenzen des Hörens

akustisches Beispiel sind die durch Kirchenglocken vorgenommenen Territorialisierungen von Landstrichen, die als pittoreskes Merkmal einer bestimmten Kultur und nicht als Machtmittel gehört werden. ›Hören‹ soll hierbei nicht als der physiologische Vorgang der Schallwahrnehmung verstanden werden. Was und wie gehört wird, welchen Bewertungsmaßstäben es unterzogen wird und was außerhalb der Wahrnehmung bleibt, ergibt sich aus einem sozialen Zusammenhang. Das bedeutet auch, dass unterschiedliche Gruppen, Personen und Körper eine je verschiedene auditive Wahrnehmung aufweisen und dass sich in ihren Relationen und Wechselspielen erst das Hören und das Hörbare als soziale Fakten konstituieren (und damit weder ein idealtypisches Hörbares noch eine ideale Art des Hörens existiert). In The Audible Past schreibt Jonathan Sterne: »Das fundamentale Problem eines Denkens des Sozialen liegt darin, die Relationen zwischen dem Persönlichen und dem Gesellschaftlichen zu erklären. Zu lange haben Soundforscher[innen] die Wechselbeziehung zwischen beidem ignoriert und stattdessen die soziale Realität aus verknöcherten Beschreibungen menschlicher Erfahrung abgeleitet. Es ist kein Zufall, dass Marx eine seiner frühesten Erörterungen zum Kommunismus mit dem Argument beginnt, dass die Geschichte der Sinne wesentlich für die Geschichte der Gesellschaft sei.«2 Auf welche von Marx’ Schriften sich Sterne an dieser Stelle bezieht, ist nicht vermerkt. Ein Hinweis findet sich aber in den 1888 postum von Friedrich Engels veröffentlichten Thesen über Feuerbach, in denen Marx seine materialistische Theorie von Gesellschaft und Geschichte in gebündelter Form darlegte. In Bezug auf die Zusammenhänge zwischen sensorischen und sozialen Faktoren lassen sich diese elf Thesen wie folgt zusammenschneiden: »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus […] ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. […] Feuerbach, mit dem abstrakten Denken nicht zufrieden, will die Anschauung, aber er faßt die Sinnlichkeit nicht als praktische menschlich-sinnliche Tätigkeit. […] [D]as menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: 1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für sich zu fixieren, und ein abstrakt – isoliert – menschliches Individuum vorauszusetzen; 2. Das Wesen kann daher nur als ›Gattung‹, als innere,

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J. Sterne: The Audible Past, S. 348, a.d. Engl.: DW.

6 Das Auditive: Politische Akustik

stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefaßt werden.«3 Ein solches abstraktes Gattungswesen im Sinne Feuerbachs, das eine die Menschen verbindende natürliche Allgemeinheit unterstellt, wäre der ideale Bewohner, die ideale Bewohnerin der natürlichen Soundscape: Ausgestattet mit einem natürlichen Gehör würde diese*r den harmonischen Klängen eines natürlichen Habitats lauschen und sich, ähnlich einem Gärtner oder einer Gärtnerin, dessen Hege und Pflege widmen. Aus einer solchen Anschauung lässt sich keine Perspektive auf gesellschaftliche Verhältnisse ableiten. Soweit sie sich überhaupt der sozialen Realität zuwendet, tut sie es unter Bedingungen ›verknöcherter Beschreibungen menschlicher Erfahrung‹ bzw. ausgehend von einer ›stummen, die vielen Individuen natürlich verbindenden Einheit‹. Für Marx ist die Wahrnehmung eine subjektive sinnliche Tätigkeit oder Praxis und damit etwas Konkretes. Das Objekt der Anschauung oder das Hörobjekt mag jeweils allgemein, verallgemeinerbar und abstrakt das gleiche für alle wahrnehmenden Subjekte sein, die praktisch-sinnlichen Wahrnehmungsvorgänge sind es nicht. Diese Disparität des Sinnlichen ist zugleich Grundlage jeglichen Austauschs über Wahrnehmungsinhalte und damit der praktischen Herstellung eines sinnhaften Sinns. Unter sozialen und historischen Gesichtspunkten ist die Wahrnehmung der Menschen, Personen, Individuen oder Subjekte keine statische Angelegenheit, sie unterliegt Veränderungen, Modulationen und Umcodierungen. Walter Benjamin hat diesen Umstand in konzentrierter Form so gefasst: »Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der historischen Kollektiva auch ihre Wahrnehmung.«4 Oder, in die Form eines Slogans gebracht: Das Sensorische ist politisch. Die Dynamiken dieser Politik des Sensorischen lassen sich sowohl anhand des historischen Wandels entlang diachroner Zeitachsen verfolgen als auch in einer synchronen und aktuellen Topografie analysieren. Wenn von einer räumlichen Aufteilung des Sensorischen oder einzelner sensorischer Register unter Gesichtspunkten des Politischen gesprochen wird, stellt sich die Frage, welcher Nomenklatur man sich zu ihrer Beschreibung bedienen soll. Landschaften, Areale, Territorien, Reviere, Regionen, Zonen, Gebiete, Flächen, Ebenen und Felder entstammen verschiedenen Disziplinen und Wissensformationen. Sie bilden Schnittmengen zwischen Geografie und Geometrie, zwischen Biologie und Politik. Sie bilden Synonyme, verweisen auf verschiedene Formen der Aufteilung und Grenzziehung und 3 4

Marx, Karl: »Thesen über Feuerbach«, in: ders.: Kapital und Politik, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 2008, S. 163 f., Herv. i. Orig. Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I-2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 439. – Das ließe sich vermutlich auch für die Geschichte der Philosophie nachzeichnen: die Veränderungen und Verschiebungen in den Theorien des Sinnlichen von den alten Griechen bis in die Gegenwart.

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Grenzen des Hörens

eröffnen eine Disparität von Definitionen und Metaphern. Ein Areal5 oder eine Fläche bietet eine räumliche Ausdehnung, auf der Ein- und Abgrenzungen vorgenommen werden können (was immer auch die Möglichkeit einer Überschreitung dieser Grenzen beinhaltet). Areal und Fläche bilden den Untergrund oder das Medium, auf und in dem sich Körper aufhalten können. Zur Ontologie des Areals schreibt Jean-Luc Nancy: »›Arealität‹ ist ein veraltetes Wort, das das Wesen oder die Eigenschaft eines Areals (area) bezeichnet. Zufällig eignet sich das Wort auch dazu, ein Fehlen, einen Mangel an Realität oder eine winzig kleine, leichte, schwebende Realität zu unterstellen: diejenige des Abstands, der einen Körper oder in einem Körper verortet.«6 Der Abstand, den ein Körper zu einem anderen einnimmt, ist dasjenige, was ihn verortet: auf einer Fläche, in einem Raum, innerhalb eines Areals. Der Abstand als Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung ist das, was selbst tendenziell nicht wahrgenommen wird. Eine Entfernung ist real, sie kann eingeschätzt oder erspürt werden, der Abstand zwischen mehreren Körpern aber ist nach Nancy a-real – vielleicht in räumlicher Distanz messbar, aber gleichzeitig klein, leicht und schwebend. Er ist die Grundlage der Wahrnehmung oder ihr Medium und damit von einem irreduziblen Rauschen durchzogen. Alle Sinne beruhen auf einem Abstand – auch das Taktile, denn die Berührung rührt an den Körper, sie dringt nicht in ihn ein (würde sie es tun, wäre sie eine Verletzung). Was bis zu einem gewissen Grad in den Körper eindringen kann, sind Schallwellen, sofern sie sich zuvor in dem Zwischenraum des Abstands ausbreiten konnten. Bei dem akustischen Phänomen des Körper- oder Knochenschalls wird dieser Abstand verschwindend gering, aber es findet dennoch eine Übertragung von einem Körper zum anderen statt. Bedingung dieser Übertragung ist eine Schwelle, die überbrückt werden muss. Die Schallwellen müssen den Weg der Übersetzungsmechanismen und der verschiedenen Medien durchlaufen, die das Gehör bilden: Trommelfell, Gehörknöchelchen, Lymphe, Haarzellen und Nerven, die eine Luftdruckschwankung zu etwas Gehörtem machen. Alle Register des Sinnlichen sind in die Arealität eingelassen und bilden darin verschiedene Modi, ihre jeweiligen Abstände zueinander zu durchqueren, zu überbrücken und die Körper in ihren Verhältnissen zu verorten. In einer Gesellschaft wird die Verteilung der Körper zu einer Frage der Macht. Bestimmte Gebiete werden abgegrenzt, besetzt und gegen Eindringlinge verteidigt, Zugänge werden kontrolliert, Vertreibungen vorgenommen, Bewegungen in bestimmte Richtungen kanalisiert oder unterbunden. Hier ist die machtpolitische Terminologie der räumlichen Ausdehnung mit ihrer synchronen Ausrichtung auf Geografie, Politik und Anatomie zu verorten: Ein Gebiet ist ein Landstrich oder eine Fläche, über die ein Gebieter gebietet. Landschaft, Gesellschaft und Herrschaft teilen 5 6

Lat. area – Fläche, freier Platz (vgl. »area«, in: Langenscheidt. Taschenwörterbuch Latein, S. 52). Nancy, Jean-Luc: Corpus, Berlin: Diaphanes 2003, S. 40.

6 Das Auditive: Politische Akustik

das Suffix -schaft, einen Verweis auf abstrakte oder personale Kollektivbegriffe.7 Der Umfang eines Herrschaftsbereichs oder einer Verwaltungseinheit wird als Bezirk eingekreist.8 Die Region, vom lateinischen regio für ›Richtung‹, ›Grenze‹ oder ›Gegend‹, kann zugleich ein Herrschaftsgebiet und die Einteilung der Anatomie in bestimmte Körperregionen bezeichnen. Flächen und Ebenen können sowohl geografische als auch geometrische Unterteilungen des Raums bedeuten. All diesen Bezeichnungen sind die Modi der Unterteilung und Zusammenfassung gemein: Einhegungen, Einverleibungen, Umfassungen und Begrenzungen, Unterteilung in Abschnitte und Zonen.9 Das Territorium kann als ein Areal unter Gesichtspunkten der Macht bezeichnet werden. Ein Territorium wird durch seine Besetzung und Markierung gebildet – eine zuvor neutrale Fläche wird territorialisiert. Die Arealität im Sinne Nancys stellt dabei jenen Aspekt des Areals/Territoriums heraus, dass sich dort Körper aufhalten und zueinander verhalten, z.B. einen Abstand einnehmen oder zueinander finden. Auch die Macht verhält sich zu den Körpern, sie wirkt auf sie ein. So, wie sie anwesend oder abwesend sind, können sie versammelt oder vertrieben werden. Die Bildung von Territorien oder Territorialisierung greift auf jene sensorischen Register zurück, die eine Räumlichkeit jenseits der unmittelbaren Nähe des Körpers erspüren können: das Olfaktorische, das Auditive und das Visuelle. Die in diesen Registern vorgenommenen Eingrenzungen bilden eine Art ›biopolitisches‹10 Kontinuum, dessen Wirkungsbereich von den im Tierreich vorgenommenen Abgrenzungen zur Revierbildung bis zu den Aufteilungen des urbanen Raums in bestimmte Viertel oder Zonen reicht. Die modernen und abstrakten Territorien wie etwa Nationalstaaten werden für gewöhnlich als visuell begrenzt assoziiert: als durch Linien eingegrenzte Gebiete auf einer Landkarte, als optische Abstraktion von Einflussbereichen oder als durch konkrete Mauern, Zäune und Grenzposten markiert. Die Territorialisierungen des Sozialen verlaufen häufig entlang konkreter (oder besser: der konkreten Wahrnehmung zugänglicher) Grenzen und sind nicht allein visuell codiert. In dem Maße, in dem ein Areal unübersichtlich wird, treten andere Sinne an die Stelle des Visuellen. Luigi Russolo hatte das Primat der auditiven Orientierung

7 8 9

10

Vgl. Meineke, Birgit: Althochdeutsche -scaf(t)-Bildungen (= Studien zum Althochdeutschen, Bd. 17), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991, S. 74. Lat. circus: Ring, Kreislinie (vgl. »circus«, in: Langenscheidt. Taschenwörterbuch Latein, S. 99). Im Lateinischen (zona) und Griechischen (ζώνη) der ›Gürtel‹: Umfassung eines Gebiets oder eines Körpers (vgl. »zona«, in: Langenscheidt. Taschenwörterbuch Latein, S. 565; bzw. »ζώνη«, in: Langenscheidt. Taschenwörterbuch Altgriechisch, S. 209). Biopolitik soll an dieser Stelle als Bezeichnung für ein Kontinuum zwischen allgemein biologischen und politischen Strategien der Grenzziehung verstanden werden und steht nur bedingt in einem Zusammenhang mit Foucaults Konzept der Bio-Macht (vgl. dazu M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 159-190; und Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 127-189).

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auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs dargestellt, die Medientheorie Marshall McLuhans hat in den technischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts einen »Schritt zum nichtvisuellen und auditiven Raum«11 entdeckt, und das Sounddesign reagiert in mancher Hinsicht auf eine Situation, in der eine Orientierung nur mit akustischen Mitteln zu erreichen ist. Zu den akustischen Territorien schreibt Brandon LaBelle: »Akustische Räume befördern einen Prozess der akustischen Territorialisierung, in dem die Auflösung und Umgestaltung von Raum […] zu einem politischen Prozess wird.«12 Territorialisierung kann in diesem Sinne verstanden werden als das Ziehen von Grenzen innerhalb von zuvor nicht oder anders strukturierten Flächen und Räumen. Ähnlich wie Tiere, insbesondere Vögel, ihr Territorium durch Laute abstecken – und dabei ein im Vergleich zu ihrer Körpergröße riesiges Areal akustisch besetzen –, kann in der Sphäre des Sozialen das Auditive eine Präsenz oder einen Anspruch weit über den von Körpern eingenommenen Raum hinaus markieren. Der Vergleich mit einer animalischen Lautproduktion sollte diese Form der Territorialisierung nicht in die Nähe ›primitiver‹ oder archaischer Kulturtechniken rücken. Akustische Territorien bilden den hörbaren Hintergrund der sozialen Umgebungen und stellen in manchen Fällen die Speerspitze der aktuellen technologischen Entwicklung dar. Diese Arbeit zielt darauf, die Grundzüge einer ›politischen Akustik‹ zu entwerfen, in ihrem Kontext wurde dabei mehrfach von ›dem Hörbaren‹ gesprochen, um die Gesamtheit der wahrnehmbaren Schallereignisse zu bezeichnen. Die Akustik als allgemeine Lehre vom Schall ist ihrer Tradition und Terminologie nach eher auf die physikalischen und biologischen Aspekte des Hörbaren ausgerichtet. Das Akustische gehört zum Vokabular der Naturwissenschaften, und die Verwendung des Begriffs suggeriert eine Nähe zu deren Anwendungsbereichen. Wenn das Hörbare unter Bedingungen der Macht gefasst werden soll, erweist sich der Begriff des Auditiven als treffender, denn das Wort stellt bereits etymologisch eine Machtfrage. Das lateinische audire lässt sich als ›hören‹, ›lauschen‹ oder ›horchen‹ übersetzen, es beinhaltet aber auch die Bedeutungsnuancen ›verhören‹ und ›gehorchen‹.13 So lässt sich eine etymologische Reihe bilden: Gehör, Gehorchen, Gehorsam. Die Herrschaft muss sich zunächst mit lauter Stimme vernehmbar machen, der Befehl, dem gehorcht werden soll, muss ausgesprochen werden, um vernommen und befolgt werden zu können. Die Macht, als eine zielgerichtete Kraft verstanden, muss ihre Adressat*innen treffen. Der Befehl wird nach außen gebracht, er überbrückt den Abstand zwischen den Körpern und dringt in seine Empfänger*innen ein.14 11 12 13 14

McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle, Düsseldorf: Econ 1992, S. 325. LaBelle, Brandon: Acoustic Territories. Sound Culture and Everyday Life, London/New York: Continuum Books 2010, S. xxiii f., a.d. Engl.: DW. Vgl. »audio«, in: Langenscheidt. Taschenwörterbuch Latein, S. 64. Elias Canetti hat diesen Vorgang des Eindringens in Masse und Macht als eine Verletzung beschrieben: Der Befehl hinterlässt in seiner Empfängerin, seinem Empfänger einen Fremd-

6 Das Auditive: Politische Akustik

Dieser Gedanke deckt sich mit dem, was Michel Foucault über die Mikrophysik der Macht geschrieben hat: »Man muß sich zunächst von einer sehr verbreiteten These trennen, derzufolge in unseren bürgerlichen und kapitalistischen Gesellschaften die Macht die Realität des Körpers zugunsten der Seele, des Bewußtseins, der Idealität geleugnet hätte. In Wirklichkeit ist nichts materieller, ist nichts physischer, körperlicher als die Ausübung von Macht.«15 Das Auditive bezeichnet das Hörbare unter den Bedingungen des Politischen, d.h. als ein sozioakustisches Feld, in dem sich Macht und Widerstand entfalten. Eine prägnante Definition von Macht, die ihr gleichsam ein dezentrales Koordinatensystem im sozialen Feld zuweist, hat Foucault in Der Wille zum Wissen ausgearbeitet: »Unter Macht […] ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kraftverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern. Die Möglichkeitsbedingung der Macht oder zumindest der Gesichtspunkt, der ihr Wirken bis in die ›periphersten‹ Verzweigungen erkennbar macht und in ihren Mechanismen ein Erkenntnisraster für das gesellschaftliche Feld liefert, liegt nicht in der ursprünglichen Existenz eines Mittelpunkts, nicht in einer Sonne der Souveränität, von der abgeleitete oder niedere Formen ausstrahlen; sondern in dem bebenden Sockel der Kraftverhältnisse, die durch ihre Ungleichheit unablässig Machtzustände erzeugen, die immer lokal und instabil sind. […] Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.«16 Diese Beschreibung der Macht verzichtet darauf, sie von einem Zentrum her abzuleiten, das visuell konnotiert ist. Es geht nicht um eine »Sonne der Souveränität«, durch deren Lichtstrahlen sich ein klares Abbild der gesellschaftlichen Machtverhältnisse erkennen ließe. Die Sonne soll als Garant für Stabilität und Zentrierung

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körper, der eine Art unheilbare Entzündung verursacht: »Jeder Befehl besteht aus einem Antrieb und einem Stachel. Der Antrieb zwingt den Empfänger zur Ausführung […]. Der Stachel bleibt in dem zurück, der den Befehl ausführt.« (Canetti, Elias: Masse und Macht, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S. 339, Herv. i. Orig.) Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht, Berlin: Merve 1976, S. 107 f. Ders.: Der Wille zum Wissen, S. 113 f.

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für die Theorien und Diskurse, in denen sie auftaucht, fungieren, so wie Derrida ihre Funktion in den Systemen der Metaphysik und Metaphorik herausgestellt hat: »Die Metapher besteht […] im Ersetzen von Eigennamen, die einen feststehenden Sinn und einen feststehenden Referenten haben […]. Es gibt nur eine Sonne in diesem System. Der Eigenname ist hier die wichtigste nicht-metaphorische Kraft der Metapher, der Begründer aller Figuren. Alles dreht sich um ihn, alles wendet sich ihm zu.«17 Zwar lässt sich die wärmende Kraft der Sonne taktil erspüren, ihre Funktion als zentrierende Metapher spielt sie aber im Register des Sichtbaren aus. Für eine Machttheorie des Auditiven ist es bedeutsam, wie Foucault die »komplexe strategische Situation« beschreibt, der er den Namen ›Macht‹ gibt: als einen »bebenden Sockel der Kraftverhältnisse«, als etwas, dessen Attribute »Beständigkeit, Wiederholung, Trägheit und Selbsterzeugung« sind und das einen »Gesamteffekt [von] Beweglichkeiten, [eine] Verkettung«18 bezeichnet. Diese Beschreibung von Machtverhältnissen lässt sich nicht mehr in einem Bild der klaren und deutlichen Sichtachsen fassen. Sie regt dazu an, Macht als ein Verhältnis von Kräften zu denken, die sich in einer unübersichtlichen Räumlichkeit von Feldern, Gebieten und Territorien abspielen. Hier lässt sich eine Verschiebung innerhalb der Machttheorie Foucaults konstatieren. In Überwachen und Strafen, ein Jahr vor Der Wille zum Wissen veröffentlicht, wird die Macht unter den Bedingungen der Disziplinargesellschaft aus einer Logik des Blicks heraus entwickelt. Der Panoptismus, zugleich ein architektonischer Entwurf für das ideale Gefängnis und eine Metapher für jene gesellschaftlichen Formationen, die sich aus der Disziplinarmacht ergeben, ist eine Sache der visuellen Ordnung und des Blicks: »Die dicht gedrängte Masse, die vielfältigen Austausch mit sich bringt und die Individualitäten verschmilzt, dieser Kollektiv-Effekt wird durch eine Sammlung von getrennten Individuen ersetzt. Vom Standpunkt des Aufsehers aus handelt es sich um eine abzählbare und kontrollierte Vielfalt; vom Standpunkt der Gefangenen aus um eine erzwungene und beobachtete Einsamkeit. Daraus ergibt sich die Hauptwirkung des Panopticon: die Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustands beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt.«19 Das aus der Anschauung des Gefängnisses abgeleitete Bild der Macht ist im Register des Sichtbaren codiert, während seine gesetzliche Grundlage, das Strafrecht, der Codierung des Sagbaren entspricht. In seinem Buch über Foucault hat Deleuze diesen Zusammenhang auf die Formel gebracht: »Was das gesamte Werk Foucaults durchzieht […], findet in Überwachen und Strafen seine positive Gestalt: die Form des 17 18 19

J. Derrida: »Die weiße Mythologie«, S. 262. M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 114. Ders.: Überwachen und Strafen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 258.

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Sichtbaren im Unterschied zur Form des Sagbaren«.20 Was die Macht aber immer schon ausgezeichnet hat, was Foucault in seiner Definition aus Der Wille zum Wissen impliziert und was auch Deleuze in seinem Text über die Kontrollgesellschaft anerkennt – indem er konstatiert, dass die Macht ihren Aggregatzustand gewechselt hat: weg von den festen Formen der Disziplin hin zu den flüssigen und/oder gasförmigen der Kontrolle –, ist, dass sämtliche Register des Sensorischen in irgendeiner Form für die Macht anschlussfähig sind. Die Abwesenheit eines Zentrums im gesellschaftlichen Machtgefüge trifft sich ebenso mit der von Nancy konstatierten singulär-pluralen Anarchie der menschlichen Sinnesregister,21 wie sie sich mit der Absenz einer »Sonne der Souveränität«, des zentralen Gestirns des Okzidents, das nach Derrida die Metaphorik der Metaphysik stabilisiert, deckt. Das menschliche Sensorium ist anschlussfähig für Machtmechanismen; die Bevorzugung oder Zurückweisung bestimmter Sinne muss dabei als Ergebnis von historisch und kulturell je verschiedenen strategischen Kräfteverhältnissen gedacht werden. Aus dieser Perspektive kann das in den letzten Jahrzehnten stark angewachsene Interesse am Auditiven verstanden werden. Die auditiven Machttechniken schaffen ein sonderbares und heterogenes soziales Feld, in dem sich verschiedene gesellschaftliche Formationen und Praktiken begegnen, tendenziell vermischen und zuvor unbekannte Hybride erzeugen. Das auditive Feld des Sozialen wird so zu einem Begegnungs- und Resonanzraum von Macht und Widerstand, Musik und Lärm sowie Noise und Sound. Als Begriff verweist das Auditive auf reale Räume, Areale und Territorien, in und auf denen sich diese Prozesse ereignen. Ein auditives Feld entsteht, wenn der zuvor unstrukturierte Raum des Hörbaren durch Schallereignisse territorialisiert und einem Prozess der Strukturierung unterzogen wird; einem Prozess, der Grenzen in diesem Raum zieht, Bereiche unterteilt und Areale erschafft. Zugleich kann das auditive Feld auch den Denkraum bezeichnen, in dem sich eine Theorie dieser Prozesse formulieren lässt: als Register des begrifflichen Denkens, als Metapher, die über tatsächliche Hörräume hinausweist und ein terminologisches Tableau absteckt, auf dem Begriffe einer politischen Akustik definiert werden können, sich in Bewegung setzen lassen und in Beziehung zueinander treten.

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Deleuze, Gilles: Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 50. Deren Gefüge beschreibt Nancy als die »Struktur und die ›singulär-plurale‹ Dynamik des Zusammenspiels der Sinne und eben ihre Weise, ›zusammen‹ zu sein und sich zu berühren, während sie sich voneinander unterscheiden […]«. (J.-L.Nancy: Zum Gehör, S. 16)

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6.2

Transgressionen: Lärm und Gewalt

Die in den Urteilen über Noise implizite Destruktivität wird explizit, wenn sie als akustische Gewalt in den sozialen Raum einbricht. Schall, und damit Noise, verhält sich transgressiv: Es überschreitet Grenzen, etwa wenn es als der ›Lärm der anderen‹ in die eigene Wohnung eindringt. Es eignet sich aber auch dazu, die eigene Position akustisch zu erweitern und ein Territorium zu besetzen. Noise kann physische Grenzen überschreiten, es kriecht in die Gehörgänge und kann am ganzen Körper als Vibration gespürt werden. In der gewalttätigen Auseinandersetzung, im Aufstand oder im Krieg, wird Noise zu einem Faktor in der Akustik des Politischen. Die Verbindung von Lärm, Gewalt und Krieg war für die futuristische Geräuschkunst ein ausschlaggebender Faktor, sie überführte die Akustik des politischen Extrems – des Krieges – in die Ästhetik des Musikalischen. Die Verbindung von Lärm und Gewalt, von Lautstärke und souveräner Autorität sowie die Verwendung von Schall als Waffe ist eine archaische Form; Mythen und Religionen sind von dieser Relation durchzogen. Der Psychoanalytiker Theodor Reik hat den biblischen und mythischen Bezügen dieser Relation in seinen Problemen der Religionspsychologie von 1909 nachgespürt. Lärm und Musik stehen in den betreffenden Erzählungen in einem engen Verhältnis: »Das Gemeinsame dieser Mythen ist, daß die Erfindung der Musik und der ersten Instrumente in allen diesen Erzählungen den Göttern und Halbgöttern zugeschrieben wird. Orpheus, Arion, Hermes, Osiris, Apollo, Athene und Marsyas – überall ist es ein Gott, der dem Menschen durch die Töne zu sagen gab, was er leide.«22 Zum einen kam also die Musik von der Gottheit zu den Menschen. Zum anderen ist die Kommunikation zwischen Gott und Mensch von einer unharmonischen, intensiven und exzessiven Qualität gekennzeichnet. So ist im jüdischen Ritus der Schofar – ein Widderhorn, das als einziges Instrument die Zerstörung des Tempels von Jerusalem überdauert hat und heute noch Verwendung findet – Reik zufolge ein »Lärminstrument«. Auf ihm lassen sich »keine Melodien, überhaupt keine verschiedenen Töne«23 spielen, sein Klang ist »dem Stiergebrüll ähnlicher als einer musikalischen Darbietung«.24 Dies korrespondiert nach Reik mit der archaischen Form des Rituals und des Gebets: »Ursprünglich gilt im Verkehr mit der Gottheit der Grundsatz: Je lauter, desto besser. Man spricht nicht mit Gott, man ruft zu ihm […], man schreit zu ihm […].«25 Auch die Stimme Gottes selbst, der heilige Lärm par excellence, steht in diesem Kontext in keinem Verhältnis zu meditativer Ruhe oder einer kosmischen Harmonie der Sphären. Reik insistiert, 22 23 24 25

Reik, Theodor: Probleme der Religionspsychologie, I. Teil: Das Ritual, Leipzig/Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1909, S. 178 f. Ebd., S. 183. Ebd., S. 193. Ebd., S. 182.

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dass der Klang des Schofars und die Stimme Gottes einander ähnlich seien. Das Blasen des Horns stelle einen Akt der Identifizierung mit Gott dar, es »vertritt die Gegenwart Gottes«.26 Das Alte Testament hebt an verschiedenen Stellen den kriegerischen und destruktiven Gebrauch des Schofars hervor. Eine der bekanntesten Bibelstellen zu diesem Komplex betrifft das Blasen der ›Posaunen von Jericho‹, mit denen die Israeliten die Befestigungsmauern der Stadt zum Einsturz brachten und die nichts anderes als Schofarhörner waren.27 Auch in anderen militärischen Kontexten wurde das Instrument vom Volk Israel verwendet: »In der Bibel hören wir den Schofarklang, das Schmettern des Hornes, die Terûa, im Schlachtgewühl. Hiob spricht in einer Kampfschilderung vom ›Kôl Schôfar‹. Er dient dazu, den Feind zu erschrecken wie der Barditus der Germanen. Die Absicht des Schreckens, der Erschütterung ist es, die am deutlichsten in seiner Verwendung hervortritt […].«28 Zeitgenössische Beispiele für einen sakralen Lärm, der mit heiligem Schrecken oder der Anwesenheit Gottes korrespondiert, lassen sich nur unter Schwierigkeiten angeben. Wie Schafer beklagt hat, wurde die Macht der Lautstärke durch industrielle Revolution, Massenmedien und Verstärkungstechnik so nachhaltig profaniert, dass nur Simulakren des heiligen Lärms übrig geblieben sind.29 Im Gegensatz zu dieser tendenziellen Ruhigstellung oder Überdeckung der sakralen Akustik ist die Verwendung von Schall als Mittel von Gewalt und Terror bis heute nicht aus den Arsenalen verschwunden. Die Verwendung von Schall als einem Mittel des psychologischen Terrors, der Drohung und der Einschüchterung ist vermutlich ebenso alt wie die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Menschen. Der Kriegsschrei entfaltet seine Wirkung gerade in seiner Nähe zum Animalischen, in der Verbindung von Lärm, Drohung, Abschreckung und Gewalt deutet sich eine Kontiguität von Mensch und Tier, von Anthropophonie und Biophonie an. Die Lärmentfaltung des Krieges hat im Zuge der Moderne Ausmaße angenommen, die nicht zuletzt Luigi Russolo und Ernst Jünger zu einer Prosa der exzessiven Geräuschbeschreibungen veranlasst haben.30 Die Mechanisierung des Krieges 26 27

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Ebd., S. 224. Vgl. Jos 6,5, Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. In einer Art perverser Aneignung verwendete die deutsche Luftwaffe während des Zweiten Weltkriegs die Bezeichnung ›Jerichotrompeten‹ für die Sirenen, die in ihre Sturzkampfbomber eingebaut wurden (vgl. Mattern, Jens/Kloth, Hans Michael: »Stukas über Wielun«, Spiegel Online, 26.8.2009, https://www. spiegel.de/geschichte/kriegsbeginn-1939-a-948468.html, abgerufen 1.7.2020). T. Reik: Probleme der Religionspsychologie, I. Teil, S. 186 f. Vgl. R.M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 143: »Heiligen Lärm zu machen bedeutet nicht einfach nur, den lautesten Lärm zu erzeugen; vielmehr geht es darum, über die Autorität zu verfügen, den Lärm unzensiert produzieren zu können.« »Das ist ein Rausch über allen Räuschen, Entfesselung, die alle Bande sprengt. Es ist eine Raserei ohne Rücksicht und Grenzen, nur den Gewalten der Natur vergleichbar. Da ist der Mensch wie der brausende Sturm, das tosende Meer und der brüllende Donner. Dann ist er verschmolzen ins All, er rast den dunklen Toren des Todes zu wie ein Geschoß dem Ziel.«

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im 20. Jahrhundert hat ein exponentielles Anwachsen seiner Geräuschproduktion nach sich gezogen, deren pseudosakraler Charakter ein Faszinationsobjekt für den Faschismus war und geblieben ist. Was sich als historische Konstante feststellen lässt, ist, dass Lärm immer Symptom oder Effekt der massenhaften Gewaltanwendung war. Die Idee einer konkreten und funktionalen Technologie von Schallwaffen ist allerdings jüngeren Datums. Das Konzept, den Gegner mit konzentriertem Schall zu demoralisieren oder außer Gefecht zu setzen, hat historisch verschiedene Anwendungen gefunden, eine real einsetzbare Schallwaffe, die mehr vermag, als bloße Hörschädigungen hervorzurufen, wirft jedoch praktische Probleme auf. Dabei sind die schädlichen Wirkungen von extremem Schall gut erforscht, es halten sich jedoch einige hartnäckige Mythen über ihre Anwendungsmöglichkeiten. Jacques Attali, der neben seiner Tätigkeit als Ökonom und Berater François Mitterrands auch einer der Pioniere der Noise-Theorie war, setzt in seiner Politischen Ökonomie der Musik Noise mit Gewalt gleich: »[…] Noise ist Gewalt: Es stört. Noise zu machen, bedeutet eine Übertragung zu stören, zu unterbrechen, zu töten. Es ist ein Simulakrum des Mordes.«31 Diese These ist für Attali keine bloße Metapher, er will sie mit physikalischen Beweisen untermauern. »In seiner biologischen Realität ist Noise eine Quelle des Schmerzes. Jenseits einer bestimmten Grenze wird es zu einer immateriellen Waffe des Todes. Das Ohr, welches Schallsignale in elektrische Signale umwandelt und an das Gehirn schickt, kann beschädigt und sogar zerstört werden, wenn die Frequenz eines Klangs 20.000 Hertz überschreitet oder wenn seine Intensität 80 Dezibel übersteigt.«32 Dies sind simple Irrtümer. Eine Frequenz von 20 kHz wird von den allermeisten Menschen schlicht nicht wahrgenommen und beeinträchtigt das Gehör in keiner Weise. Schallintensitäten von 80 dB schädigen das Gehör bei längeren Einwirkzeiten ohne Erholungspausen, eine unmittelbare Hörschädigung tritt erst bei Schalldruckpegeln um die 120 dB ein, während bei einer Schwelle von 160 dB das Trommelfell reißen kann und ein dauerhafter Hörverlust eintritt.33 Der Legende nach soll es möglich sein, Infraschall als Waffe einzusetzen, die Schwindel, Übelkeit, Erbrechen und Darmkrämpfe auslösen kann, oder den Gegner mit ›akustischen Projektilen‹ kampfunfähig zu machen. Der Physiker Jürgen Altmann hat in einem 1999

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(Jünger, Ernst: Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin: E.S. Mittler und Sohn, S. 53) – So und ähnlich hat sich Jünger über seine Fronterfahrungen im Ersten Weltkrieg geäußert. Der Mensch wird im Krieg zur Naturgewalt, d.h., er tauscht phantasmatisch erste gegen zweite Natur ein. Attali, Jacques: Noise. The Political Economy of Music, Minneapolis: University of Minnesota Press, S. 26, a.d. Engl.: DW. Ebd., S. 27, a.d. Engl.: DW. Vgl. J. Altmann: »Acoustic Weapons«, S. 178.

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erschienenen Forschungsbericht diese und ähnliche Mythen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft. Altmann weist nach, dass Infraschallwaffen und ähnlich phantastisches Kriegsgerät sich an den Grenzen des physikalisch Möglichen bewegen und dass die Relation zwischen Aufwand und Wirkung solcher Anwendungen kaum reale Einsatzmöglichkeiten bietet.34 Laut seinem Forschungsbericht ist der einzige physikalisch realisierbare Effekt einer Schallwaffe die temporäre oder nachhaltige Beeinträchtigung oder Zerstörung des Gehörsinns.35 Altmann betont das Interesse, das nach dem Ende des Kalten Krieges bei verschiedenen Militärs hinsichtlich des Einsatzes von nicht letalen Waffen (NLW) aufgekommen sei. Diese sollten in der Hauptsache zur Aufstandsbekämpfung dienen. »Während einige eine militärische Revolution und einen ›Krieg ohne Tod‹ voraussehen, geht die Mehrzahl doch davon aus, dass NLW tödliche Waffen lediglich ergänzen würden, da im tatsächlichen Kriegsfall beide Typen nacheinander oder parallel zueinander eingesetzt werden würden.«36 Militärische und polizeiliche Anwendungen verschwimmen dabei in einer Grauzone mit dem gemeinsamen Ziel, eine möglichst umfassende Kontrolle von revoltierenden Menschenmassen zu gewährleisten. Eines der wenigen ›nicht letalen‹ und auf akustischen Prinzipien beruhenden Geräte, die aktuell bei Militär, Polizei und Sicherheitsdiensten zur tatsächlichen Anwendung kommen, ist das Long Range Acoustic Device (LRAD) des USamerikanischen Herstellers Genasys (bis 2019: LRAD Corporation), das seit 1996 produziert wird und (laut Angaben des Herstellers) in 72 Nationen zum Einsatz kommt. Das LRAD ist ein Lautsprecher, der Schall in einem Abstrahlwinkel von 15 bis 30 Grad fokussiert und mit einer Reichweite von bis zu 3 Kilometern überträgt,37 wobei der für Sprachverständlichkeit wichtige Frequenzbereich zwischen 1 kHz und 5 kHz besonders verstärkt wird.38 Auffällig ist die Angleichung an visuelle Techniken der Kontrolle, welche durch die Technologie der Schallkonzentration vorgenommen wird: Das LRAD kann, ähnlich wie ein Suchscheinwerfer, seine Ziele wie mit einem Strahl anvisieren, es bündelt Schall auf einen Brennpunkt und minimiert seine unkontrollierte Streuung. Laut Herstellerangaben ist das Gerät als »hoch verständliches Kommunikationssystem von großer Reichweite und eine sicherere Alternative zu nicht letalen oder kinetischen Waffen« zu verstehen, es

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»Es muss erwähnt werden, dass viele Behauptungen über die Effekte einer kritischen Überprüfung nicht standhalten, insbesondere was den Infraschallbereich angeht.« (Ebd., S. 173, a.d. Engl.: DW) Vgl. ebd., S. 225. Altmann weist darauf hin, dass ein herkömmlicher Gehörschutz die Wirkung einer Schallwaffe entschärfen kann. Ebd., S. 165, a.d. Engl.: DW. Vgl. Genasys/LRAD Corporation: »Brochure Law Enforcement«, 2016, https://genasys.com/wp -content/uploads/2015/05/LRAD_Brochure_Law_Enforcement.pdf, S. 1, abgerufen 1.7.2020. Vgl. Genasys: »Products«, 2020, https://genasys.com/ahd-products/, abgerufen 1.7.2020.

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sei »viel sicherer als Wasserwerfer, Tränengas, Gummi- und Pfefferspraygeschosse, Taser sowie Lärm- und Blendgranaten«.39 Ob es sich bei dem LRAD um eine Waffe oder um ein Kommunikationssystem handelt, ist allerdings umstritten. Im Juni 2017 urteilte ein New Yorker Gericht, dass der Einsatz eines LRAD durch das New York Police Department während der Black Lives Matter-Proteste, die 2014 in Reaktion auf die Ermordung von Eric Garner durch Polizisten stattfanden, als eine Form von akustischer Gewalt bewertet werden muss.40 Die Polizei hatte exzessiven Gebrauch von dem Warnton des LRAD gemacht und damit bei den sechs klagenden Demonstrant*innen Symptome wie »Migräne, Nebenhöhlenschmerzen, Schwindelgefühle und Tinnitus« ausgelöst.41 De facto hat das LRAD drei Anwendungsbereiche: die Übertragung von Durchsagen und Befehlen in chaotischen Situationen, die Zerstreuung von Menschenansammlungen und die Option, Angreifer außer Gefecht zu setzen. In den beiden ersten Funktionen sind Einsätze u.a. bei den Protesten gegen den 2009 in Pittsburgh abgehaltenen G20-Gipfel belegt, die Polizei verwendete ein LRAD, um Demonstrant*innen mit schmerzhaften Sirenentönen von der Straße zu vertreiben.42 2005 wurde das Gerät auf dem Kreuzfahrtschiff Seabourn Spirit eingesetzt, um einen Piratenangriff vor der Küste Somalias abzuwehren.43 In einer auf der Genasys-Website veröffentlichten Fallstudie findet sich auch ein Bericht über LRAD-Einsätze bei Protestkundgebungen gegen den damaligen Präsidentschaftsbewerber Donald Trump, die im Mai 2016 in San Diego stattfanden.44 Am gleichen Ort werden weitere Anwendungsmöglichkeiten des Geräts aufgezählt. Diese reichen von weithin vernehmbaren Durchsagen in unübersichtlichen Massensituationen bis zur Aufstandsbekämpfung im Strafvollzug. Mit dem LRAD sollen Gefangene zu regelkonformem Verhalten bewegt werden, es soll Kommunikation unter den Häftlingen verhindert, nichtkonformes Verhalten unterbunden und

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Genasys/LRAD Corporation: »White Paper«, 2015, https://genasys.com/wp-content/uploads/2 015/05/whitepaper_LRAD_Humanely_Resolving_Public_Safety_Situations.pdf, S. 2, a.d. Engl.: DW, abgerufen 1.7.2020. Vgl. Moynihan, Colin: »Noise as a Weapon? Police Use of Sound Cannons Questioned«, in: The New York Times, 1.6.2017, https://www.nytimes.com/2017/06/01/nyregion/sound-cannon-p rotest-lawsuit-long-range-acoustic-device.html?searchResultPosition=1, abgerufen 1.7.2020. Ebd., a.d. Engl.: DW. Ein Videomitschnitt dieses Einsatzes findet sich auf YouTube: https://www.youtube.com/wat ch?v=QSMyY3_dmrM, abgerufen 1.7.2020. Vgl. O.V.: »I Beat Pirates with a Hose and Sonic Cannon«, in: BBC News, 17.5.2007, http://news. bbc.co.uk/2/hi/uk_news/6664677.stm, abgerufen 1.7.2020. Vgl. Genasys/LRAD Corporation: »Case Study San Diego Police Department«, 2017, staatlichen Macht- und Gewaltapparate https://genasys.com/wp-content/uploads/2016/12/LR AD_Case-Study-San-Diego-PD-Crowd-Communications-at-Anti-Trump-Rally.pdf, abgerufen 1.7.2020.

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Kämpfe oder Unruhen beendet werden.45 Hervorgehoben wird die Möglichkeit der »scalable EOF«46 , d.h. der stufenlos regelbaren Escalation of Force, also ›Eskalation des Zwangs‹ (oder der Gewalt). Dabei wird die im Vergleich zu anderen Schallverstärkungstechnologien besonders gute Verständlichkeit und unmissverständliche Durchsetzungsfähigkeit des LRAD immer wieder betont. Ein Mangel an Verständlichkeit seitens der Ordnungskräfte wirft Probleme grundsätzlicher Art auf. Bei Demonstrationen, Ausschreitungen oder Aufständen, in der Konfrontation zwischen Polizei und den jeweiligen Personengruppen, auf die der unmittelbare Zwang des staatlichen Gewaltmonopols zielt, kann mangelnde Verständlichkeit einem Autoritätsverlust gleichkommen. Das Versammlungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland schreibt in § 13 vor: »Sobald eine Versammlung für aufgelöst erklärt ist, haben alle Teilnehmer sich sofort zu entfernen.«47 Wie sich diese Erklärung rechtsgültig zu vollziehen habe, wird im Gesetzestext nicht vorgeschrieben, auch die Polizeigesetze der Länder machen dazu keine Angaben. Solche Erklärungen müssen in der Praxis ausgesprochen bzw. stimmlich übermittelt werden. Sie erlangen ihre Rechtskraft durch das Prinzip der Mündlichkeit, im Gebrauch der ›lebendigen Stimme‹.48 Wenn niemand diese vernimmt, scheint es, als habe es auch keine Erklärung gegeben – womit wieder das Problem der Gewalt bzw. der ›Zwangsmittel‹ im Raum steht. Das österreichische Rechtsinfokollektiv schreibt über die Auflösung von Demonstrationen durch die Polizei: »Die Auflösung einer Demonstration erfolgt mit einer mündlichen Durchsage durch die Versammlungsbehörde. Dies geschieht meist mit einem Megaphon oder Lautsprecher eines Einsatzfahrzeuges. In der Praxis sind Durchsagen der Auflösung durch die Geräuschkulisse und die für mehrere hundert Menschen viel zu schwachen Lautsprecher der Polizei meist schlecht bis gar nicht hörbar. Dass die Durchsage nicht für alle Demonstrationsteilnehmer_innen hörbar oder verständlich ist, schadet der Auflösung jedoch leider nicht. Die Auflösung der

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Vgl. Genasys/LRAD Corporation: »Brochure Law Enforcement«, S. 4. Vgl. Genasys/LRAD Corporation: »Brochure Defense«, 2019, https://genasys.com/wp-content/ uploads/2019/10/Brochure_Defense.pdf, abgerufen 1.7.2020. § 13 Abs. 2 VersG, http://www.gesetze-im-internet.de/versammlg/__13.html, abgerufen 1.7.2020. Mladen Dolar hat die Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen dem sakralen und dem juristischen Gebrauch der Stimme untersucht: »[Die] sorgfältig auf Papier und im Gedächtnis aufbewahrten Worte können nur dann performative Kraft entfalten, wenn sie der Stimme übertragen werden, und es ist so, als verleihe der Gebrauch der Stimme diesen Worten letztlich ihren heiligen Charakter und garantiere ihre rituelle Wirkung, obwohl – oder vielmehr: weil – er ihrem Gehalt nichts hinzufügt. […] Beispiele aus dem nichtreligiösen Bereich folgen demselben Muster: Gerichtsverfahren sind im Hinblick auf die Bestandteile des Prozesses und eidesstattliche Aussagen, die mündlich, d.h. stimmlich vorzunehmen sind, äußerst streng reglementiert.« (M. Dolar: His Master’s Voice, S. 146)

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Demo ist trotzdem gültig und die Polizei kann auch gegen jene vorgehen, die die Durchsage nicht gehört oder verstanden haben.«49 Zwischen der mythischen Ausprägung eines heiligen Lärms, der sich als Signum der absoluten Autorität von Gott ableitet, sowie der entgrenzten und entgrenzenden Lärmentfaltung des Krieges auf der einen Seite und der sterilen akustischen Durchsetzungskraft der modernen Schallwaffen auf der anderen scheint eine unüberbrückbare Kluft zu liegen. ›Lärm‹ entfaltet sich hier nicht mehr als ein akustischer Effekt von Gewalt, vielmehr soll er die Stelle der Gewalt selbst einnehmen. Die ideale Anwendung des LRAD besteht in der Durchgabe eines Befehls, dem unverzüglich Folge geleistet würde. Kann der Befehl nicht durchgesetzt werden, so wird er durch akustische Gewalt ersetzt. Die Warntöne des LRAD sollen Schmerzen zufügen und zum Verlassen des Schauplatzes nötigen. Befehle, Warnungen und die Verursachung von Schmerzen entfalten ihre Wirkung in der Ordnung des Räumlichen, es geht darum, Abstände zu erzeugen, ›Sicherheitszonen‹ zu schaffen und Ansammlungen zu zerstreuen. Gerade in ihrer räumlichen Wirkung überschneidet sich diese technische Anwendung mit archaischen Formen der Lärmproduktion. In der Lesart von Michel Serres kann Noise sowohl den Platz der Waffe einnehmen als auch den Raum besetzen: »Grund und Ziel eines Streits ist das Einnehmen eines Platzes, und Noise besetzt den Platz. Sinn der Sache ist es, einen Platz einzunehmen, zu halten und zu besetzen. […] Noise gegen Noise. Noise gegen Waffe. Noise ist eine Waffe, die manchmal Waffen überflüssig macht. […] Noise besetzt den Raum schneller, als dies Waffen vermögen.«50 Noise, Lärm, lauter Schall werden so zu Distanzwaffen, die die direkte Anwendung, den physischen Kontakt mit Schlagstöcken, Gummigeschossen oder Pfefferspray ersetzen oder ergänzen. Bei den Protesten der Gilets jaunes im Winter 2018/19 setzte die französische Bereitschaftspolizei CRS in Paris massenhaft sogenannte grenades assourdissantes ein. Diese Lärmgranaten werden verwendet, um Menschenansammlungen zu zerstreuen, Demonstrierende zu erschrecken oder zu lähmen und eine akustische Dominanz der Staatsmacht zu errichten. In ihrer simplen Effektivität kommen sie gänzlich ohne den hochtechnologischen Nimbus des LRAD aus.51 Noise wird zu einem auditiven Block, der ein bestimmtes Areal besetzt, dort seine

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Rechtsinfokollektiv/H., Stefan: »Auflösung einer Demo und Konsequenzen«, o.D., https://at. rechtsinfokollektiv.org/?page_id=240, abgerufen 1.7.2020. M. Serres: Genesis, S. 52, a.d. Engl.: DW, Herv. i. Orig. Eine Dokumentation der Proteste findet sich in diesem am 26.11.2018 auf YouTube hochgeladenen Video: https://www.youtube.com/watch?v=m8B0chGfrts, abgerufen 1.7.2020. Der Einsatz von Lärmgranaten lässt sich ab Minute 06:00 beobachten.

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autoritative Wirkung entfaltet und innerhalb dessen nichts anderes mehr stattfinden oder vernehmbar werden soll. Aus der Perspektive der Informationstheorie eröffnet dieser Zugriff auf den öffentlichen Raum ein paradoxes Kontinuum, in dem Gegensätze ineinander übergehen: Der klare, verständliche und deutliche Befehl und Noise als schmerzhafter Lärm sind darin Abstufungen derselben Machtfunktion. Ihren Gegenpol bildet die als chaotisch, ungeordnet und lärmend definierte Masse, eine Menschenmenge, die zu einer Art ›sozialem Rauschen‹ wird. Die Akustik der Macht spielt sich nicht allein auf der räumlichen Ebene ab, ihre Dynamik muss auch den Faktor der Zeit berücksichtigen. Chronologisch erfolgt die Gewaltanwendung unmittelbar, während der Befehl einen Aufschub einkalkuliert, da abgewartet werden muss, ob ihm Folge geleistet wird. Die Situation des Aufruhrs und der Repression folgt einer Logik von Eskalation und Deeskalation, in der Befehl und Gewalt aufeinander folgen und ineinander übergehen können. Zeitliche und räumliche Faktoren befinden sich somit in einem Wechselspiel, das Macht und Gewalt ineinander verschränkt. Beide berühren sich, sie antworten aufeinander. Zwischen ihnen erstreckt sich ein dynamisches Kontinuum von Distanzen und Dauern, das Elias Canetti so beschrieben hat: »Mit Gewalt verbindet man die Vorstellung von etwas, das nah und gegenwärtig ist. Sie ist zwingender und unmittelbarer als die Macht. Man spricht, verstärkend, von physischer Gewalt. Macht auf tieferen und mehr animalischen Stufen ist besser als Gewalt zu bezeichnen. Eine Beute wird mit Gewalt ergriffen und mit Gewalt in den Mund geführt. Wenn die Gewalt sich mehr Zeit läßt, wird sie zur Macht. Aber im akuten Augenblick, der dann doch einmal kommt, im Augenblick der Entscheidung und Unwiderruflichkeit, ist sie wieder reine Gewalt. Macht ist allgemeiner und geräumiger als Gewalt, sie enthält viel mehr, und sie ist nicht mehr ganz so dynamisch. Sie ist umständlicher und hat sogar ein gewisses Maß von Geduld.«52 In der Argumentation Canettis ist die Gewalt sowohl Ausgangs- als auch Endpunkt der Macht. Im Befehl sind beide ineinander verschränkt, er konzentriert die Körperlichkeit der Macht im Sinne Foucaults auf einen einzelnen Punkt, er wird zum Stachel, einem Projektil: »Aber der Stachel senkt sich tief in den Menschen, der einen Befehl ausgeführt hat, und bleibt dort unverändert liegen.«53 Für Canetti liegt dem Befehl eine vorsprachliche Funktion zugrunde, bei der es weniger darauf ankommt, was, sondern wie etwas gesagt wird: »Der Befehl ist älter als die Sprache, sonst könnten ihn Hunde nicht verstehen. […] In kurzen, sehr deutlichen Befehlen, die sich prinzipiell in nichts von denen an Menschen unterscheiden, wird [den

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E. Canetti: Masse und Macht, S. 313, Herv. i. Orig. Ebd., S. 338.

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Tieren] der Wille des Dompteurs kundgegeben.«54 Der Befehl ist eine Äußerung, die inhaltlich beliebig reduzierbar ist. Letztlich kann er ohne Worte auskommen. Im Sinne einer auf einen Punkt konzentrierten Schnittstelle von Macht und Gewalt kann er auch bloß aus einem schmerzhaften Geräusch bestehen, aus einem Warnsignal, das zur Flucht zwingen soll. Die Logik der Informationsübermittlung wird so auf eine blanke und skelettierte Formel reduziert: »Gehorche. Verschwinde. Räume den Platz.« Diese Aussage ist absolut konkret, es ist nichts an ihr misszuverstehen, auch wenn sie ohne Worte auskommt. Es ist keine Auswahlmöglichkeit unter verschiedenen Botschaften gegeben. Auf physikalischer Ebene handelt es sich um ein Zufügen von Schmerz ohne direkten Aufwand kinetischer Energie, ohne Berührung und ohne Kontakt: keine Schläge, keine Gummigeschosse, kein Pfefferspray, nur schmerzhafte Pfeiftöne oder Explosionen, die für die akustische Dominanz der Ordnungskräfte sorgen – ein akustisches Projektil, das über den Gehörgang in den Körper eindringt. Canettis Metapher des Stachels wird in diesem Vorgang unwillkürlich beim Wort genommen. Der Komplex akustischer Macht und Gewalt, eine der möglichen Definitionen von Noise, wird so zum Garanten für Verständlichkeit; Verständlichkeit aber steht in einem diametralen Gegensatz zu der Bestimmung von Noise als Rauschen und Störung. Diese Verständlichkeit kommt ohne Logik, ohne Interpretation und ohne linguistische Theorie aus, da sie auf den Körper zielt und nur die Ausführung eines Kommandos anstrebt. Deleuze und Guattari haben sich in einem Kapitel von Tausend Plateaus mit den Konsequenzen auseinandergesetzt, die dieser Komplex für die Theorie der Sprache hat. Einem der Postulate der Linguistik zufolge sei Sprache informativ und kommunikativ. Dieser Regel stellen die Autoren die Logik des Befehls gegenüber: »Die Grundeinheit der Sprache – die Aussage – ist der Befehl oder das Kennwort, die Parole. Anstatt den gesunden Menschenverstand zu definieren, also das Vermögen, das die Informationen zentralisiert, sollte man eher jene scheußliche Fähigkeit definieren, die darin besteht, Befehle auszugeben, zu empfangen und zu übermitteln.«55 Deleuze und Guattari zielen auf ein Verständnis des Befehls oder des ›Machtworts‹, in dem Aussage und Handlung zusammenfallen. Sie definieren zwei Modi dieser Überschneidung: Im Falle des Performativs ist die Äußerung selbst eine Handlung, etwa bei einem Schwur oder einem Gelöbnis; im Delokutivum lässt sich eine allgemeinere und umfassendere Schnittmenge zwischen beiden Sphären bilden, indem sich »intrinsische Beziehungen […] zwischen dem Sprechen und bestimmten Handlungen, die man begeht, indem man spricht«56 auftun. Eine Frage zu stellen 54 55 56

Ebd., S. 335. G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 106. Ebd., S. 108 f.

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oder einen Befehl auszusprechen, sind Sprechakte, in denen eine solche Beziehung verwirklicht wird. Für das Kommunikationsmodell der Informationstheorie wirft diese Sichtweise Probleme auf. Die Informationstheorie ignoriert zwar den semantischen Anteil der Kommunikation und konzentriert sich auf ihre technischen Aspekte,57 sie »bezieht sich nicht so sehr auf das, was gesagt wird, sondern mehr auf das, was gesagt werden könnte«,58 aber sie kalkuliert ein, dass eine Information immer auch auf eine Wirkung (eine Handlung, ein Verhalten) abzielt – ansonsten würde sie sich nicht Eindeutigkeit und störungsfreie Kommunikationskanäle zum Ziel setzen. Die von Deleuze und Guattari formulierte Kritik zielt zwar auf die Postulate der Linguistik, die von den Autoren verwendeten Begriffe wie Information, Redundanz und Rauschen aber sind dem Instrumentarium der Informationstheorie entnommen. Im Zentrum der Kritik stehen die Trennungen und Hierarchisierungen, die in der Informationstheorie zwischen Nachricht, Rauschen/Störung und Redundanz vorgenommen werden. Das von Shannon und Weaver formulierte hierarchische Verhältnis zwischen Information und Redundanz wird auf den Kopf gestellt: »Befehle beziehen sich also nicht nur auf Anordnungen, sondern auf alle Handlungen, die durch eine ›gesellschaftliche Verpflichtung‹ mit Aussagen verbunden sind. Es gibt keine Aussage, die diese Bindung nicht direkt oder indirekt darstellt. […] Die Beziehung zwischen Aussage und Handlung ist innerlich, immanent, aber es gibt keine Identität. Es ist vielmehr eine Beziehung der Redundanz. Der Befehl ist an sich eine Redundanz der Handlung und der Aussage. […] Sprache ist weder informativ noch kommunikativ, sie ist keine Übermittlung von Informationen, sondern – und das ist etwas ganz anderes – eine Transmission von Befehlen oder Parolen, entweder von einer Aussage zur nächsten oder im Inneren jeder Aussage, insofern eine Aussage eine Handlung vollendet und die Handlung sich in der Aussage vollendet. Das allgemeinste Schema der Informatik stellt eine ideale

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Der allgemeine und von Bedeutung abstrahierende Charakter des informationstheoretischen Kommunikationsmodells, der keinen Unterschied zwischen Kunst und Militärtechnologie machen kann, lässt sich aus dieser Definition ablesen: »Der Begriff der Kommunikation wird hier in einem sehr weitläufigen Sinn gebraucht, um alle Vorgänge einzuschließen, durch die gedankliche Vorstellungen einander beeinflussen können. Dies bezieht sich natürlich nicht nur auf die Sprache in Wort und Schrift, sondern auch auf Musik, Malerei, Theater und Ballet [sic], eigentlich auf alles menschliche Verhalten. In manchem Zusammenhang erscheint es wünschenswert, eine noch umfassendere Definition des Begriffs Kommunikation zu verwenden, insbesondere wenn man Vorgänge mit einschließen will, durch die eine Maschine (z.B. ein Automat, der ein Flugzeug aufspürt und dessen wahrscheinliche Position berechnet) eine andere Maschine beeinflußt (z.B. eine Lenkwaffe, die dieses Flugzeug verfolgt).« (C.E. Shannon/W. Weaver: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, S. 11 f.) Ebd., S. 18, Herv. i. Orig.

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Maximalinformation an den Anfang und macht aus der Redundanz eine schlichte eingrenzende Bedingung, die dieses theoretische Maximum verringert, um zu verhindern, daß es völlig vom Rauschen überdeckt wird. Wir sagen dagegen, das Erste ist die Redundanz des Befehls, und die Information ist nur die Minimalvoraussetzung für die Transmission von Befehlen […].«59 Im Falle des Befehls als Delokutivum hat man es also mit einer Immanenz und nicht mit einer Beziehung der Identität zu tun. Der Befehl als Aussage und der Befehl als Handlung nehmen nicht die Form der Identität (A=A) mit all ihren ontologischen Komplikationen an,60 sondern die der Immanenz, in diesem Fall: des Verharrens in einem vorgegebenen Bereich ohne Überschreitung eines Abstands bzw. jener Grenze, die im Satz der Identität vom Gleichheitszeichen suggeriert wird. Was sie miteinander verbindet, ist nicht das Prinzip der Gleichung oder der Gleichheit (die immer auch auf ein inter-, einen Zwischenraum verweist), sondern das Prinzip der Wiederholung im gleichen Raum, der Redundanz, deren Formel »A, A, A, A, …« lauten würde. Die Aufgabe der Information in der verallgemeinerten sozialen Befehlskette ist die Herstellung von Eindeutigkeit (eine Rolle, die in der Informationstheorie wiederum die Redundanz als Puffer oder Sicherheitsmarge übernimmt). Sie stellt sicher, dass soziale Mechanismen und Machtgefüge unmissverständliche, zielgerichtete Kopplungen produzieren: »Die Information ist nur das äußerste Minimum, das für die Ausgabe, Übermittlung und Beachtung von Anordnungen in Form von Befehlen notwendig ist. Man braucht nur soweit informiert zu sein, daß man Waffe nicht mit Waffel verwechselt […].«61 In einem Text über das Kino JeanLuc Godards, der vier Jahre vor Tausend Plateaus erschien, hat Gilles Deleuze sich über das Verhältnis von Information, Redundanz und Rauschen von einem Standpunkt aus geäußert, der die Rolle von Noise mehr privilegiert und eine Richtung aufzuzeigen scheint, die der Befehlsstruktur entgeht. Denn Geräusche und Störungen verlassen den ihnen in der Informationstheorie zugeschriebenen Ort als noise source, wenn sie nicht mehr als Bedrohung von Verständlichkeit aufgefasst werden, sondern einen Bereich der Sprache aufzeigen, welcher sich der Verzahnung von Redundanz und Information in der Befehlsstruktur entziehen kann: 59 60

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G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 111, Herv. i. Orig. Martin Heidegger hat in Identität und Differenz den Satz der Identität als eine Aussage herausgestellt, die eigentlich von Gleichheit spricht, und diese Komplikationen auf folgende Formel gebracht: »Das Identische, lateinisch idem, heißt griechisch τὸ αὐτό. In unsere deutsche Sprache übersetzt, heißt τὸ αὐτό das Selbe. Wenn einer immerfort dasselbe sagt […], spricht er in einer Tautologie. Damit etwas das Selbe sein kann, genügt jeweils eines. Es bedarf nicht ihrer zwei wie bei der Gleichheit. Die Formel A = A spricht von Gleichheit. Sie nennt A nicht als dasselbe. Die geläufige Formel für den Satz der Identität verdeckt somit gerade das, was der Satz sagen möchte: A ist A, d.h. jedes A ist selber dasselbe.« (Heidegger, Martin: Identität und Differenz, Stuttgart: Neske 1957, S. 10) G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 107.

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»Die Informationstheorie setzt theoretisch eine maximale Information voraus; am anderen Pol siedelt sie den reinen Lärm an, das Rauschen; und zwischen beiden die Redundanz, die die Information vermindert, ihr aber ermöglicht, den Lärm zu besiegen. Es ist das Gegenteil: oben müßte man die Redundanz ansiedeln als Übermittlung und Wiederholung von Vorschriften und Befehlen; darunter die Information als Minimum, das immer erforderlich ist, damit die Befehle gut empfangen werden; und darunter? Nun, darunter wäre dann so etwas wie das Schweigen, oder auch das Stottern, oder auch der Schrei, irgend etwas, das unter Redundanzen und Informationen fließt, das die Sprache fließen läßt und sich trotzdem zu Gehör bringen kann.«62 Wie lässt sich das, was Deleuze an dieser Stelle über Sprache und Informationstheorie sagt, auf die politische Auseinandersetzung übertragen? Im Streit, im Aufruhr oder Aufstand kommt es nicht nur darauf an, was gesagt wird, sondern auch darauf, wie es gesagt wird und von wie vielen. Politische Auseinandersetzungen haben eine performative Ebene, in der die Aussage tendenziell überdeckt werden kann. Welche Rolle könnten Lärm, Rauschen und Störung in einer politischen Auseinandersetzung spielen; kann Noise etwas (einen Diskurs, einen Dissens, eine Dissonanz) ›zum Fließen bringen‹, Dynamik in verhärtete Positionen einführen und eine Artikulation des immanent Unsagbaren ermöglichen? Als Homonym stellt Noise, oder, in den romanischen Sprachen, bruit, ruido und rumori, einen Gleichklang von ›Aufruhr‹ und ›Lärm‹ her, der akustische und politische Negativität miteinander verbindet. Eine ähnliche Verbindung findet sich im modernen Griechisch. Das Wort θόρυβος bezeichnet heute akustischen Lärm ebenso wie Rauschen im Sinne der Informationstheorie. In seiner ursprünglichen Bedeutung aber war es der Sphäre des Politischen zugeordnet. Thorybos oder thorubos bezeichnete dort den Lärm des in Aufruhr versetzten Volks (des δῆμος/demos), den politischen Streit und die Unordnung in Versammlungen. Jedoch war θόρυβος bei den alten Griechen nicht ausschließlich negativ konnotiert, sondern wurde als integraler Bestandteil von politischen Prozessen angesehen. Für den Gräzisten Ilias Arnaoutoglou war es eines der wesentlichen Elemente der antiken griechischen Demokratie: »Thorubos (also Jubel, Schreie, Zwischenrufe und Gelächter) war ein grundlegendes Merkmal sozialer Aktivität in der antiken griechischen Welt. Etliche Wissenschaftler*innen haben die Rolle von thorubos in der Funktionsweise der athenischen Demokratie, in Versammlungen und in den Gerichtshöfen betont. Tacon […] macht geltend, dass thorubos, also Fälle, in denen Redner einander unterbrachen,

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G. Deleuze: »Drei Fragen zu six fois deux (Godard)«, in: ders.: Unterhandlungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 57-69, hier: S. 62 f.

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der demos die Redner unterbrach, der demos sich mit gegnerischen Rednern verbündete, ein integraler Bestandteil von Debatten im Rahmen von Versammlungen und, im weiteren Sinne, der athenischen Demokratie war. Antidemokratische Theoretiker betrachteten ihn als negativ […].«63 Die Demokratie der antiken Polis war also von einem lärmenden Aufruhr durchzogen, der essenzieller Bestandteil ihrer Prozesse war. Θορυβος als Konzept ist insoweit bemerkenswert, als es der Unruhe und dem Aufruhr eine produktive Rolle in soziopolitischen Auseinandersetzungen zuweist und sich damit fundamental von den aktuell vorherrschenden Dispositiven der Sicherheitspolitik unterscheidet. Nach Arnaoutoglou erhöhte θορυβος die soziale Spannung, aber unter der Prämisse, dass das politische Leben aus Spannungen geknüpft war.64 Ebenso lässt θορυβος die Dichotomie von φωνή (phōnē)́ und λόγος (lógos) hinter sich, mittels derer die Aufteilung in vernünftig sprechende Bürger auf der einen und Tiere, Sklaven und Frauen auf der anderen Seite vollzogen wurde (im Fall der athenischen Demokratie allerdings unter der Prämisse, dass es allein die männlichen Staatsbürger sind, die θορυβος produzieren können und dürfen. Diejenigen, die nicht zu der Versammlung zugelassen sind, machen bloß Lärm). Noise als konstitutives Merkmal politischer Prozesse ist das Gegenteil des sozialen Befehlsgefüges und der staatlichen Macht- und Gewaltapparate mit ihrer sterilen Ideologie der nicht letalen Zwangsmittel. Aus informationstheoretischer Perspektive wäre Noise in der Situation des Aufstands in einer Menschenmenge zu verorten, die chaotischen Lärm von sich gibt und so die Verständlichkeit der zielgerichteten Information bedroht. Noise ist in der Logik einer polizeilichen Informationstheorie (oder einer informationstheoretisch operierenden Polizei) synonym mit der unkontrollierten und chaotischen Masse. Im Aufstand kommen mehrere Definitionen von Noise zum

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Arnaoutoglou, Ilias: »Greek thorubos, Roman eusthatheia. The Normative Universe of Athenian Cult Associations«, Konferenz A World of Well-ordered Societies? The Rules and Regulations of Ancient Associations, The Danish Institute at Athens, 22.-24.5.2014, S. 1, a.d. Engl.: DW, http://www.academizanda.edu/7199619/Greek_thorubos_Roman_eustatheia._The_normativ e_universe_of_Athenian_cult_associations, abgerufen 1.7.2020. »Nichtsdestoweniger erhöht thorubos die Spannung […].« (Ebd., S. 2) – Die Politik am Beispiel der athenischen Polis als etwas aus Spannungen Zusammengesetztes findet sich, unter anderem Namen, auch bei Jacques Rancière: »Die Einrichtung der Politik geht in eins mit der Einrichtung des Klassenkampfes. Der Klassenkampf ist nicht der geheime Motor der Politik oder die Wahrheit, die hinter den Erscheinungen versteckt wäre. Er ist die Politik selbst, die Politik wie ihr, immer schon da, jene begegnen, die die Gemeinschaft auf ihrer Arche begründen wollen. Darunter ist nicht zu verstehen, dass die Politik deshalb existiert, weil gesellschaftliche Gruppen um ihre verschiedenen divergierenden Interessen kämpfen. Die Verdrehung, durch welche es Politik gibt, ist genau auch jene, die die Klassen als unterschiedliche einsetzt.« (J. Rancière: Das Unvernehmen, S. 30 f., Herv. i. Org.) – Ohne Widerstreit, ohne Dissonanzen und ohne Lärm kann es keine Politik geben.

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Tragen, die sich nicht säuberlich voneinander trennen lassen, die vielmehr ineinander übergehen und eine Unordnung, ein spezifisches Rauschen der Begriffsbestimmungen produzieren. Der Befehl als performativer Akt ist nicht der einzige Modus, in dem sich Macht akustisch äußern kann. Was bei Serres als die raumgreifende und Raum besetzende Funktion von Noise bezeichnet wird (und was er am Beispiel eines vormodernen Schlachtengetümmels expliziert), kann im Kontext der aktuellen Macht- und Kontrolltechnologien zu einem umfassenden Design der akustischen Umgebung werden. Um den G20-Gipfel im Juli 2017 wurden große Teile der Stadt Hamburg rund um die Uhr von der akustischen Dominanz polizeilicher Hubschraubereinsätze bestimmt. Im Vorfeld des Gipfels berichtete die Hamburger Lokalpresse: »Über Hamburg wird es während des Gipfels eng. Insgesamt sind 17 Polizeihubschrauber und ein zweimotoriges Flugzeug der Polizei Hessen […] im Einsatz. […] Zusätzlich können noch drei Bundeswehrhubschrauber – ebenfalls im Zuge einer Amtshilfe – von der Polizei angefordert werden, sodass insgesamt sogar bis zu 20 Hubschrauber zur Verfügung stünden.«65 Es ist zu vermuten, dass die Schallemissionen dieses Einsatzes von der Hamburger Polizeiführung nicht bewusst einkalkuliert bzw. dass sie als Kollateralschaden einer möglichst lückenlosen Überwachung hingenommen wurden.66 Die Effekte dieser akustischen Omnipräsenz ergaben unter Gesichtspunkten einer Machtdemonstration aber durchaus Sinn. Die Hubschraubereinsätze verschränkten zwei Sinnesregister in einem asymmetrischen Machtverhältnis, dessen einfache Botschaft lautete: Wir können euch sehen, weil ihr uns hören müsst. In diesem Sinne wurde ein Geräusch, das in allen möglichen Definitionen eigentlich nur als Noise, als störender Lärm und kommunikationsloses Rauschen zu bezeichnen wäre, zu einer Botschaft und zu einem Symbol von Macht. Man könnte von einem unterwerfenden Design sprechen, wenn das Ensemble aus Lärm und Überwachung nicht gegen Grundannahmen der Designtheorie verstoßen würde, insbesondere die der vorsätzlichen und planvollen Gestaltung. Der Polizeiführung Plan und Vorsatz zu unterstellen, würde von einer anderen möglichen Erklärung ablenken – dass man es hier nicht mit dem planvollen Design eines wie auch immer gearteten Produkts zu tun hat, sondern mit der mehr oder weniger willkürlichen Gestaltung einer Situation. Während unterwerfendes Design im Sinne von Friedrich von Borries »Objekte, Räume und Kontexte [hervor]bringt, die die Handlungsmöglichkeiten ihrer Benutzer nicht – oder nur in einem vorgegebenen Rahmen –

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Zand-Vakili, André: »So schützt die Polizei bei G20 den Himmel über Hamburg«, in: Hamburger Abendblatt, 30.6.2017, https://www.abendblatt.de/hamburg/g20/article211082035/So-schu etzt-die-Polizei-bei-G20-den-Himmel-ueber-Hamburg.html, abgerufen 1.7.2020. Da eine Luftüberwachung der Sicherheitszonen aber ebenso gut mit lautlosen Drohnen hätte bewerkstelligt werden können, ließen sich auch gegenteilige Spekulationen anstellen.

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erweitern«,67 wird hier eine akustische Umgebung gestaltet, deren eigentliches Ziel Unterwerfung ist. Eine Arbeit des Hamburger Fotokünstlers Volker Renner setzt sich mit den Effekten dieser martialischen Soundscape auseinander. In einem Text zu der Fotoedition Senkrecht startende und landende Luftfahrzeuge über Hamburg (G20) heißt es: »Tag und nachts war der Einsatz dieser Flugobjekte vor allem eine Demonstration von Gewalt, eine der Einschüchterung dienende Aktion eines alles kontrollierenden Staats – kurzum ein unerquicklicher Anblick und eine ohrenbetäubende Zumutung.«68 Die psychophysischen Auswirkungen auf Menschen, die dieser Drohkulisse akustischer Dominanz ausgesetzt waren, hat die Journalistin Silke Burmester in einer Kolumne der taz festgehalten: »Man stellt sich nicht vor, was es heißt, wenn vier Tage lang ein Hubschrauber über dem Haus steht und immer ein, zwei weitere ihre Kreise ziehen. Was es heißt, wenn das Geknatter morgens um sechs Uhr mit einem aufsteht und nachts um drei über dem Bett hängt.«69 Diese Ohrenzeugenberichte lassen sich als Fallbeispiele für eine Politik des Akustischen heranziehen, die im Fall des G20-Gipfels eine konkrete Form angenommen hat. Im Kontext der Auseinandersetzungen und Proteste rund um dieses Ereignis, deren juristische und politische Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen ist, nehmen sie sich wie Fußnoten aus.70 Im Zusammenhang einer Theorie der Akustik des Politischen ließen sich aus ihnen aber größere Zusammenhänge herstellen und Strategien ablesen. Eine solche Theorie bzw. überhaupt eine Beschäftigung mit dem Thema liegt bisher nur in Ansätzen vor. Die Soundscape-Forschung scheint, bis auf wenige Ausnahmen, die Auseinandersetzung mit politischen Zusammenstößen, sozialen Kämpfen und

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F. v. Borries: Weltentwerfen, S. 21. Siehe http://www.textem.de/2888.html, Infotext zu einer Postkartenedition von Volker Renner (Senkrecht startende und landende Luftfahrzeuge über Hamburg (G20), Hamburg: Textem 2018), abgerufen 1.7.2020. Burmester, Silke: »Wie es sich anfühlt«, taz.de, 21.7.2017, https://www.taz.de/!5428392/, abgerufen 1.7.2020. Das Plenum der Roten Flora hat in einem im März 2018 veröffentlichten Text die Rolle der Hubschraubereinsätze im Kontext lokalspezifischer Polizeistrategien explizit hervorgehoben: »In den Nach-G20-Kommentaren wird ausgiebig über die Ursachen der offensichtlichen starken Ablehnung der Polizei in der lokalen Bevölkerung spekuliert und was das wohl aussage über die Zeiten, in denen wir leben. Vermutlich ist das zu G20 diesbezüglich Beobachtete jedoch eine lokalspezifische Ausprägung, vor allem begründet in drei Wochen Hubschrauber-Dröhnen und dem seit fünfzehn Jahren andauernden Versuch der Hamburger Polizeiführung, den öffentlichen Raum Altonas und St. Paulis unter ihre Kontrolle zu bekommen.« (Plenum der Roten Flora: »Spaceballs in Danger Zone. Die Hamburger Polizei zwischen intellektueller Krise und autoritärer ›Bürgernähe‹«, Hamburg, 16.5.2018, https://rote-flora.de/2018/spaceballs-in-danger-zone-die-hamburger-polizeizwischen-intellektueller-krise-und-autoritaerer-buergernaehe/, abgerufen 1.7.2020)

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der Akustik des Politischen zu scheuen.71 Ein Ansatz zu einer Analyse von Noise als Charakteristikum der Politik findet sich in LaBelles Acoustic Territories: »Ausschreitung, Straßenkampf und Demonstration können als dynamische Beispiele für Konflikt und Debatte verstanden werden sowie als hörbare Interaktion zwischen Schrift (dem Gesetzestext) und Noise (der Aufhebung des Gesetzes); eine Interaktion mit der Tendenz, Geschichte zu schreiben: auf der einen Seite das Gesetz, das für Niederschriften, Dekrete, juristische Berichte einsteht, und auf der anderen das Drängen zu dessen Umsturz, dessen Stoßkraft von der Entwicklung einer eigenen Sprache abhängt, von dieser in Gang gebracht wird oder diese einfordert. […] Dementsprechend produzieren Ausschreitungen, Straßenkämpfe und Demonstrationen eine Hörbarkeit, mit der sie die schriftliche Aufzeichnung, das Gesetz und die Hausordnung umzustürzen und zu überwältigen versuchen, mit einem Bedeutungsgehalt, der von Lautstärke bestimmt ist, und dem Versprechen, das darin liegt, Noise zu machen.«72 Diese Überlegungen müssen an entscheidenden Stellen modifiziert werden. Zum einen entgeht LaBelles Gegenüberstellung von Noise und geschriebenem Gesetz zwangsläufig das Moment akustischer Gewalt in der Sphäre des Politischen. Was sich aus dem Komplex von Schall als Waffe oder Zwangsmittel, der Logik des Befehls, Anwendungen wie dem LRAD und unterwerfendem ›Sounddesign‹ durch Ordnungskräfte ergibt, findet sich in keinem Gesetzestext wieder. Es gibt im deutschen Recht einen Paragrafen über die Auflösung von Versammlungen, aber keine Kodifizierung dieses Vorgangs selbst. Politischer Noise entfaltet sich in einer Grauzone des Rechts, die aber nicht mit der Gegenüberstellung von Ordnung und Revolte korrespondiert. Die Polizei produziert und verwendet Noise genauso wie ihr Gegenüber.73 Zum anderen sind die emanzipatorischen oder utopischen Versprechungen von Noise, wie sie von LaBelle suggeriert werden, einer differenzie71 72

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Eine der Ausnahmen bildet das Protest & Politics-Projekt, das eine interaktive Karte mit Aufnahmen von weltweiten Protesten auf https://citiesandmemory.com/protest/ anbietet. B. LaBelle: Acoustic Territories, S. 109, a.d. Engl.: DW. – Eines der Beispiele für Noise/Lärm als Mittel des Straßenkampfs und der politischen Agitation, die LaBelle anführt, ist das Zerschmettern von Fensterscheiben öffentlicher Gebäude durch die britischen Suffragetten Anfang des 20. Jahrhunderts. Diese Form des Vandalismus mit dem Ziel, das Frauenwahlrecht zu erkämpfen, brach nicht nur mit geschriebenen, sondern auch mit ungeschriebenen Gesetzen: nämlich wie sich Frauen in der Öffentlichkeit zu verhalten hätten. Der Lärm zersplitterten Glases durchbrach Gesetze und Konventionen und brachte ein revolutionäres Anliegen lautstark in die Öffentlichkeit (vgl. ebd., S. 112 f.). Dieser Gedanke ließe sich auch auf die Tendenz der weltweiten Kriege und bewaffneten Auseinandersetzungen übertragen, zunehmend ›asymmetrisch‹ zu werden: die Zersetzung der internationalen Konventionen, durch die der Krieg mit einem Regelwerk eingehegt werden sollte, als eine spezifische Art von Noise oder chaotischer Bewegung des Rauschens; dies würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Ich verweise in diesem Zusammen-

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renden Kritik zu unterziehen. In der Situation eines Aufstands vermischen sich mehrere der möglichen Definitionen von Noise zu einem spezifischen Topos, sie gehen nahtlos ineinander über: Laute Geräusche bestimmen als akustischer Noise die Szenerie, im soziopolitischen Sinne werden Störungen, Negativität und Gewalt freigesetzt, und einer informationstheoretisch-kybernetischen Definition entsprechend werden die offiziellen Kommunikationskanäle und Regelkreise gestört, blockiert oder unterbrochen. Allerdings unterliegen all diese Aspekte ihren je eigenen Kalkülen. Auf Gewalt wird mit Gegengewalt geantwortet, auf Lärm mit größerem und zielgerichteterem Lärm (wofür LRADs und Lärmgranaten das Paradigma abgeben); Störungen und Unterbrechungen lassen sich nach dem Order from noisePrinzip (von Foerster) berechnen, einkalkulieren und zu einem Faktor in der sicherheitspolitischen Strategie machen. Wenn Noise eine genuine Rolle in der Sphäre der politischen Revolte zukommen soll, dann muss sich diese immer wieder an konkreten und letztlich kontingenten Einzelfällen entzünden. Eine abstrakte, überhistorische und berechenbare Form von Noise, die sich nach kalkulierbaren Gesetzmäßigkeiten abspielt, würde eine Contradictio in Adjecto ergeben, in der alle an einem Konflikt beteiligten Parteien genau wissen, was zu erwarten ist, und in der sich keine systemsprengende oder das System destabilisierende Form von Noise und Revolte entfalten könnte.74 In dieser Textur, in der sich verschiedene Definitionen von Noise sowie Macht und Gewalt zu einer Akustik des Politischen verweben und ihr auditives Feld bilden, nimmt auch Musik einen Platz ein. In seinem Buch Sonic Warfare beschreibt Steve Goodman Aspekte einer politischen Akustik, denen er den Namen unsound gibt. Das noch nicht oder nicht mehr Hörbare verbindet sich in diesem Begriff mit einer Unvernunft des Auditiven; ein Konzept, das einige Schnittmengen mit Noise aufweist. Die Ambiguität von unsound macht Goodman in seiner Konzeption einer sonic fiction produktiv, in der das noch nicht oder nicht mehr Hörbare spekulative Möglichkeitsräume für Machtstrategien des Auditiven und Formen eines akustischen Widerstands öffnet. Unsound bezeichnet in diesem Kontext einen Zugriff auf das Hörbare, der keiner ästhetischen Vernunft gehorcht und eine Akustik der Gewaltsamkeit in Szene setzen kann; eine Gewaltsamkeit, in der ›unschuldige‹ Popsongs zu Folterwerkzeugen werden können. Unsound kann als Konzept bis zu einem gewissen Grad den definitorischen Fallstricken entgehen, die in der Gegenüberstellung von Sound und Noise angelegt sind (etwa wenn das eine auf das Sinnbild einer ästhetischen Vernunft des Auditiven reduziert wird und das andere zur Signatur von akustischer Gewalt). Denn auch Musik nimmt einen Platz in der

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hang auf das 2015 erschienene Buch Listening to War von J. Martin Daughtry (Oxford: Oxford University Press). Diese ritualisierten Formen von Noise als vorherseh- und kalkulierbarem Protest ließen sich für lange Zeit regelmäßig zum 1. Mai in Berlin beobachten.

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Akustik der Gewalt ein. Damit ist weniger die ordnende und signalhafte Klangmobilisierung gemeint, die für Jahrhunderte als Militärmusik eine strukturierende Funktion innerhalb des tendenziell chaotischen Kriegshandwerks erfüllte.75 Die Schofarhörner, die als Stimme Gottes in effigie die Stadtmauern von Jericho zum Einsturz brachten, können als das mythologische Vorbild der modernen psychologischen Kriegsführung gelesen werden. So lassen sich einige Beispiele aus den letzten Jahrzehnten finden, in denen populäre Musik zu einem Belagerungs- und Demoralisierungsmittel umfunktioniert wurde. Im Dezember 1989 wurde während der US-Invasion in Panama der Diktator Manuel Noriega, der sich in der vatikanischen Botschaft verbarrikadiert hatte, von den amerikanischen Truppen tagelang mit lauter Rockmusik beschallt.76 Eine ähnliche Situation entstand 1993 bei der Belagerung der Davidianer-Sekte durch das FBI in Waco, Texas.77 Eines der Resultate des War on Terror der letzten beiden Jahrzehnte – das im Kontext der globalen politischen Entwicklungen kaum Relevanz entfaltet, im Zusammenhang von Musik und politischer Akustik aber einen unheilvollen Knotenpunkt bildet – ist eine Art Umkehrung zwischen den Funktionen des military-entertainment complex. Während Friedrich Kittler 1991 »Rock Musik« als einen »Missbrauch von Heeresgerät« auffasste und darauf hinwies, dass sämtliche Schallaufzeichnungs- und -übertragungstechnologien, welche die internationale Ausbreitung von populärer Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ermöglichten, sich auf die technischen Innovationen der beiden Weltkriege zurückführen ließen,78 ist man heute mit einer Situation konfrontiert, in der Musik selbst zu einem vom Militär genutzten Mittel der Gewalt geworden ist. Für die Besetzung des Irak durch US-Truppen und für das Internierungslager Guantanamo Bay ist die Folterung von Gefangenen durch Musik durch die Psychological Operations Companies (Psy-Ops) der U.S. Army belegt. Diese und ähnliche Techniken der ›weißen‹ Folter hinterlassen keine physischen Spuren und lassen sich nur schwer nachweisen. Sie zielen auf die Psyche der Opfer ab, wo sie verheerende Wirkungen nach sich ziehen können.79 In einem BBC-Bericht von 2003 wird ein 75

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Marschmusik nimmt sich heute außerhalb ritualisierter Traditionszusammenhänge wie ein Anachronismus aus. Seit 40 Jahren verfügt die Bundeswehr über ihren eigenen Radiosender (http://www.radio-andernach.bundeswehr.de). Vgl. O.V.: »The Rock ’n’ Roll Assault on Noriega«, The National Security Archive, 6.2.1996, htt ps://nsarchive2.gwu.edu//nsa/DOCUMENT/950206.htm, abgerufen 1.7.2020. Hier findet sich auch eine Liste der verwendeten Songs, u.a. Nowhere to Run von Martha and the Vandellas. Vgl. S. Goodman: Sonic Warfare, S. 21. Vgl. F. Kittler: »Rock Musik – ein Mißbrauch von Heeresgerät«. Systematische Folterung durch Musik lässt sich für verschiedene Zeiten und Regionen belegen, so wurden etwa Gefangene während des griechischen Bürgerkriegs (1944-1949) gezwungen, Lieder zu singen (vgl. hierzu Grant, Morag Josephine: »Rein, schön, furchtbar. Musik als Folter«, in: Paul, Gerhard/Schock, Ralph (Hg.): Sound der Zeit. Geräusche, Töne, Stimmen – 1889 bis heute, Göttingen: Wallstein 2014, S. 547-553).

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Psy-Ops-Verantwortlicher zitiert, der über die Verwendung von Heavy Metal und Musik aus der Kindersendung Sesamstraße in Verhörsituationen mit irakischen Gefangenen berichtet: »Sie halten es nicht aus. Wenn das 24 Stunden lang gespielt wird, geraten deine Gehirn- und Körperfunktionen ins Schlingern, deine Gedankengänge verlangsamen sich und dein Wille wird gebrochen. Dann kommen wir rein und reden mit ihnen.«80 In dem Dokumentarfilm Musik als Waffe von 2010 hat der Filmemacher Tristan Chytroscheck Berichte von Täter*innen und Opfern dieser Praxis gesammelt. In einem Interview weist er auf die neurologischen Effekte hin, die Musik in der Ausnahmesituation von Verhör und Folter haben kann: »[Frage]: Warum haben die Gefängniswärter Musik zur Folter benutzt? Hätten laute Geräusche nicht den gleichen Effekt erzielt?   [Antwort]: Die Frage haben wir einer Musikpsychologin gestellt. Musik ist wohl am effektivsten, weil das Gehirn Musik sehr schlecht ausblenden kann. Menschen, die an lauten Straßen wohnen, gewöhnen sich irgendwann an den Lärm. Das Gehirn kann das Geräusch irgendwann ausblenden. Bei Musik geht das nicht. Musik hat, ähnlich wie Sprache, Rhythmus und Melodie, und unser Gehirn ist darauf programmiert, diese Laute wahrzunehmen.«81 Es sind also die basalen Charakteristika von Musik, die sie anschlussfähig für eine dezidiert gewaltsame und schadhafte Anwendung machen. Diese im Wortsinn perverse Verwendung von Musik deckt sich auf eine paradoxe Art mit der Definition von Noise als einer schädlichen Form des Auditiven. Soweit Noise als eine audioästhetische Praxis ohne die Attribute von Musik (Rhythmus, Melodie) definiert werden kann, ließe sich in einem Argumentum e Contrario schließen, dass sich Noise für die Zwecke der Folter weniger gut eignet als harmlose Unterhaltungsmusik. Im Kontext der Folter aber kann so gut wie jeder Reiz zu einem Mittel der Gewaltsamkeit werden. Musik selbst zeichnet sich weniger durch eine ihr inhärente Gewalt aus, als dass sie Anknüpfungs- und Berührungspunkte mit Gewalt und Macht aufweist, sowohl was ihre Anwendung als auch was ihre Entstehung und Entwicklung angeht. Der Knotenpunkt von Musik und Macht wird das zentrale Thema von Kapitel 6.4 sein. Zuvor muss aber die Rolle von Stille, jener vordergründigen Abwesenheit von Schall, die sich wie die Antithese von Noise ausnimmt, in ihrem Bezug zu anderen Phänomenen des Auditiven und speziell in der Rolle, die 80 81

O.V.: »Sesame Street Breaks Iraqi POWs«, BBC News, 20.5.2003, http://news.bbc.co.uk/2/hi/m iddle_east/3042907.stm, abgerufen 1.7.2020., a.d. Engl.: DW. Lukic, Toni: »In Guantanamo wurde mit der Sesamstraßenmusik gefoltert«, Interview mit Tristan Chytroschek, in: VICE, 22.12.2012, https://www.vice.com/de/article/exkyx7/news-in-gu antanamo-wurde-mit-der-sesamstrassenmusik-gefoltert, abgerufen 1.7.2020.

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sie im auditiven Feld des Sozialen und in der Akustik des Politischen, der Macht und der Gewalt einnimmt, näher untersucht werden.

6.3

Ingressionen: Schrecken und Nutzen der Stille

Als Ingression wird in der Geologie ein langsames Vordringen des Meeres auf das Festland bezeichnet. Im Gegensatz zu den mit der Transgression verknüpften Assoziationen von Abruptheit handelt es sich um einen schleichenden, unmerklichen Vorgang, der ein gegebenes Terrain aber nicht minder grundlegend verändern kann. Stille, das physikalische Gegenteil von lautem Schall, kann ähnlich interpretiert werden: als ein Zustand des Auditiven, der unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleibt bzw. diese Schwelle selbst bezeichnet, dessen Auswirkungen aber ebenso drastisch sein können wie die von Lärm. Positiv lässt sich Stille als subtile Intensität definieren, eine Zone des Rauschens, welche die unteren Grenzen des menschlichen Hörvermögens ausmacht. Negativ bildet sie den Gegensatz eines lauten, deutlich wahrnehmbaren Schallereignisses. Zwischen diesen Polen spannt sich ein Netz von Relationen, deren Erfahrung und Bewertung in das auditive Feld eingelassen ist – und das bedeutet auch: in Machtverhältnisse, Klassenunterschiede und Distinktionen. Im 20. Jahrhundert hat sich das auditive Feld grundlegend geändert. Jede technologische Innovation brachte neue Klänge und Geräusche mit sich, hat ihre mediale Distribution verändert und ein neues Verhältnis zwischen ›natürlichem‹ und ›künstlichem‹ Schall hervorgebracht. In der Sprache der Klangökologie wurde die Soundscape des Naturraums radikal umstrukturiert, während die Anthropophonie ein exponentielles Wachstum möglicher Höreindrücke ausgelöst hat. Die immense Fluktuation von sich verschiebenden Interpretationsmöglichkeiten dieser Höreindrücke äußert sich nicht zuletzt in der Schwierigkeit, Klänge und Geräusche überhaupt säuberlich voneinander unterscheiden zu können. Wie Douglas Kahn schreibt, wurde im 20. Jahrhundert »Sound weniger natürlich«.82 Die erste oder ›natürliche‹ Natur wird mit Stille assoziiert, und es ist der Einbruch des anthropophonen Geräuschs in sie, der ihre Ruhe zerstörte. Luigi Russolo hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts diesen Eingriff und die damit einhergehende Transformation des Natürlichen so charakterisiert: »Das Leben von früher war nichts als Stille. Im neunzehnten Jahrhundert, mit der Erfindung der Maschinen, entstand das Geräusch. Heute triumphiert das Geräusch und beherrscht uneingeschränkt die Empfindung der Menschen.«83 Was für die futuristische Avantgarde Gegenstand einer leidenschaftlichen Affirmation war (denn natürlich setzte Russolo die 82 83

D. Kahn: Noise, Water, Meat, S. 162, a.d. Engl.: DW. L. Russolo: Die Geräuschkunst, S. 9.

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Stille mit Langeweile und Geräusche, Lärm, Noise mit Aufregung und Begeisterung gleich), ist im Laufe des 20. Jahrhunderts einer überdrüssigen Ernüchterung gewichen. Die Geräusche, welche die Motoren des industriellen Fortschritts produzieren, werden heute als Lärmverschmutzung, als noise pollution bezeichnet. Die 2011 von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebene Studie Burden of Disease from Environmental Noise kommt zu dem Schluss, dass durch Industrie und Verkehr erzeugter Umgebungslärm in Westeuropa zu einem erheblichen Gesundheitsrisiko geworden ist: »Auf der Liste der die Krankheitslast vergrößernden Umweltfaktoren steht Umweltlärm nach Luftverschmutzung an zweiter Stelle. Jeder dritte Bürger fühlt sich tagsüber durch Lärm belästigt und jeder fünfte wird im Schlaf durch Straßen-, Schienen- und/oder Flugverkehr gestört.«84 Wenn Noise auf so konkrete Weise als Schädigung auftritt, dann erscheint der entgegengesetzte Pol des Auditiven ganz natürlich als Quelle von physischer und psychischer Gesundheit. In Verbindung mit den Postulaten der Klangökologie hat sich in den letzten Jahrzehnten aus diesem Zusammenhang eine Kritik der ›Lärmgesellschaft‹ entwickelt, die Stille bzw. Ruhe zu ihrem Desiderat gemacht hat. In dem Text Die Lärmgesellschaft und ihr akustischer Müll schreibt der Hörforscher Gerald Fleischer: »Ruhe ist nicht etwa […] eine akustische Situation, die besonders leise ist, sondern bei der Ruhe handelt es sich um akustische Gegebenheiten, die Erholung und Entspannung ermöglichen […]. Ruhe ist folglich eine akustische Umgebung, in der kein Lärm, also kein akustischer Abfall, auftritt.«85 Akustischer Abfall wird von Fleischer als lauter und störender Schall definiert, Stille als eine relative Abwesenheit von Schallereignissen, die nicht unbedingt als angenehm empfunden werden muss,86 während Ruhe eine schwierig zu bestimmende Zone von wohltuenden akustischen Zuständen beschreibt.87 Stille lässt sich somit weder ontologisch noch ethisch oder soziologisch positiv definieren. Dennoch trägt der Sammelband, in dem Fleischers Text erschienen ist, den Titel Der Verlust der Stille. Dieser Verlust ergibt es sich aus den Zumutungen der modernen ›Lärmgesellschaft‹.88 Stille 84

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World Health Organization: »Foreword«, in: Burden of Disease from Environmental Noise, Kopenhagen: WHO Regional Office for Europe 2011, S. vii, https://www.euro.who.int/__data/assets/ pdf_file/0008/136466/e94888.pdf, abgerufen 1.7.2020, a.d. Engl.: DW. Fleischer, Gerald: »Die Lärmgesellschaft und ihr akustischer Müll«, in: Evangelische Akademie Baden (Hg.): Der Verlust der Stille (= Herrenalber Forum, Bd. 13), Karlsruhe: Verlag Evangelischer Presseverband 1995, S. 9-26, hier S. 9 f. »Stille ist wirklich das weitgehende Fehlen des Schalls, was durchaus auch als negativ empfunden werden kann.« (Ebd., S. 11) »Kein Meßgerät vermag zwischen Lärm und Ruhe zu unterscheiden.« (Ebd.) Es existiert eine unüberschaubare Menge an Publikationen, die Stille als ein Konzept der Lebens- oder Selbsthilfe in mehr oder weniger esoterischen Kontexten anbieten. Die Verbindung von Stille, Ruhe und Frieden findet sich auf verschiedenen Bestsellerlisten. Eine Auswahl von Neuerscheinungen der letzten Jahre: Kagge, Erling: Stille. Ein Wegweiser, Berlin: Insel 2017; Tannier, Kankyo: Stille. Meine buddhistische Kur für ein leichteres Leben, München: Arkana

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wird in diesem Kontext weniger als ein bestimmbarer Begriff eingesetzt, sondern entfaltet eine metaphorische Wirkung, die auf Vorstellungen von Ruhe, Frieden, Ausgeglichenheit und Entspannung aufbaut. In der Literatur zur Stille finden sich weniger konkrete Pläne zu einer Umsetzung von mehr Stille im Alltagsleben als allgemeine Appelle, deren Adressat*innen nicht benannt werden.89 Die Dichotomie von Lärm und Stille entfaltet ihre Wirkung in einem sozioökonomischen Kontext. In dem 1970 veröffentlichten Buch Noise hat der Akustiker Rupert Taylor ein negatives Konzept von Lärm entwickelt, d.h., sein Fokus richtet sich auf die Bekämpfung von Lärm, die Schalldämpfung von Maschinen und Industrieanlagen sowie Techniken der Schallisolierung. Auf die Frage, warum Maschinen, Verkehr und Industrie Lärm erzeugen, gibt er eine einfache Antwort: »Wir müssen uns immer daran erinnern, dass Ruhe Geld kostet. Das bedeutet, dass kein Maschinen-, kein Fahrzeug- oder Flugzeugmotorenhersteller der Stille aus philanthropischen Gründen nachjagen wird.«90 Die einfache Tatsache, dass »Ruhe Geld kostet«, spiegelt sich auch im Bericht der Weltgesundheitsorganisation wider, allerdings in Form einer Auslassung. Über den Zusammenhang von Lärmbelästigung und sozioökonomischem Status bzw. Klassenzugehörigkeit findet sich dort diese Stelle: »Manche Lärmbelastungen können für bestimmte Untergruppen schlimmer sein als für andere. Sachverhalte wie niedrigere Mieten in der Nähe von lauten Straßen weisen darauf hin, dass die Auswirkungen von Lärm nicht gleichmäßig über die Bevölkerung verteilt sind. Außer in dem Kapitel über kognitive Einschränkungen bei Kindern hat diese Veröffentlichung nicht die zusätzlichen Belastungen für potenziell vulnerable Untergruppen wie ältere Menschen und für sozioökonomisch schlechtergestellte Gruppen untersucht.«91 Die Studie der WHO ist von vornherein auf Westeuropa beschränkt geblieben und sie hat ihre Forschungsergebnisse nicht entlang der Verwerfungen erzielt, die dort von Einkommensunterschieden in einer Klassengesellschaft produziert werden. Allerdings deutet alles darauf hin, dass die relative Abwesenheit von störendem Schall zu einem Luxusgut geworden ist. Zur Kommodifizierung von Stille schreibt

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2018; Maitland, Sara: Das Buch der Stille. Über die Freuden und die Macht von Stille, Berlin: Edition Steinrich 2017; Diat, Nicolas/Sarah, Robert: Kraft der Stille. Gegen eine Diktatur des Lärms, mit einem Vorwort von Papst em. Benedikt XVI., Kißlegg: Fe-Medienverlag 2019 etc. In der Veröffentlichung Die Vertreibung der Stille des Journalisten Rüdiger Liedtke findet sich dieser exemplarische Aufruf: »Wenn wir gegen die musikalische Umweltverschmutzung protestieren, gegen die akustischen Belästigungen, so ist das nichts anderes als die Vertretung des legitimen Anspruchs auf das Recht auf Stille, das jeder Mensch hat.« (Liedtke, Rüdiger: Die Vertreibung der Stille, München: dtv 1988, S. 221) Taylor, Rupert: Noise, Harmondsworth: Penguin Books 1970, S. 239, a.d. Engl.: DW. World Health Organization: Burden of Disease from Environmental Noise, S. 104, a.d. Engl.: DW.

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Thompson: »Wenn Stille und Ruhe im Zuge der zunehmenden Urbanisierung immer seltener anzutreffen sind, dann hat dies der Stille ermöglicht, zu einer lukrativen Ware zu werden.«92 Geringe Geräuschemissionen sind zu einem Verkaufsargument geworden, unabhängig davon, ob es sich bei den angepriesenen Produkten um Waschmaschinen, Autos oder Computer handelt. Kopfhörer, die mittels ›Antischall‹ Umgebungsgeräusche filtern, bilden ein eigenes Marktsegment im Hi-FiBereich. Auch in der Architektur und der Stadtplanung bildet Stille einen wichtigen Bezugspunkt für Gestaltungsprozesse. Urbane Räume sind in einem ständigen Wachstum begriffen, in ihnen vermischen sich Kommunikations- und Verkehrswege, privater und öffentlicher Raum, Alltagsleben, Konsum- und Produktionssphäre zu immer komplexeren Arrangements. Die Stadt produziert ständig Bilder, Geräusche und Klänge, die ein je spezifisches Hintergrundrauschen der verschiedenen Ballungszentren bilden. Diese chaotischen Territorialisierungen des urbanen Raums sind schwierig darstellbar. Ein Text über das Jenseits der Stadt von Jean-Luc Nancy schildert die Dynamik der betreffenden Grenzverschiebungen am Beispiel von Los Angeles: »Die Stadt wird diffus, sie verflüchtigt sich, sie streut ihre Funktionen und Orte an die Peripherie aus, die in dem Maße weniger peripher wird, wie sich das Zentrum entleert, ohne jedoch aufzuhören, zentral zu sein. Das Zentrum ist überall und die Peripherie nirgendwo, oder umgekehrt. Es gibt Enjambements und Pulsieren, Flockenbildung und Ondulationen am Rand, Knotenpunkte des gesamten urbanen Funktionierens, das sich über die Telefondrähte und elektronischen Kanäle verteilt, Besetzungen herstellend und wieder zurückziehend, und auch außerhalb der Stadt immer mehr Automaten, Schalter, Kabinen, Internetcafés überall, immer weiter ins Land hinausgestreut, wie die genormten Mülleimer, der Sondermüll (Glas, Metall, Nichteisenmetalle, Plastik, Papier, organischer Abfall, Nuklearmüll, medizinischer Müll, menschliche Körperteile). Es ist die Stadt selbst, die sich überdehnt und wie ein Sternenfeld ausstreut, ans Netz hängt und Wellen entsendet und entlang ihrer Verdauungswege Knospen treibt.«93 Transponiert man diese Darstellung in das Register des Auditiven, so ergibt sich ein Hörbild, das aus Stimmengewirr, Signalen, Hintergrundrauschen und chaotischen Geräuschen zusammengesetzt ist; eine Unruhe, der sich kaum jemand entziehen kann, für den die Stadt Wohnort, Arbeitsplatz und Schauplatz des Alltagslebens bedeutet. Die Stadt überschreitet sich selbst, faltet ihren Raum in sich zurück und

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M. Thompson: Beyond Unwanted Sound, S. 105, a.d. Engl.: DW. Nancy, Jean-Luc: Jenseits der Stadt, Berlin: Brinkmann + Bose 2011, S. 23 f.

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produziert ein Rauschen, das aus der Gleichzeitigkeit all ihrer Kommunikationskanäle besteht: Vorder- und Hintergrundmusik, Gespräche und Signale, Mobiltelefone und Durchsagen, Verkehrsgeräusche in allen Dimensionen des Raumes. In dieser Situation werden Ruhe und Stille zu einem Luxusartikel, der in bestimmten Wohngegenden, in architektonischen Entwürfen und der Qualität von Baumaterialien sein Echo findet. In der Logik der ›besseren Wohngegenden‹ und der Gated Communities wird eine Rückzugsbewegung und Abschottung vollzogen, die Lärm als das Andere, Fremde und Bedrohliche ausschließt. In einer Klassengesellschaft wird Noise in seiner sozialen Form traditionell mit der Unterschicht assoziiert, an dieser Tatsache hat sich seit Jahrhunderten wenig geändert. Lärm machen immer die anderen, und als besonders störend werden die Geräusche jener Personengruppen wahrgenommen, die nicht in den eigenen Distinktionszusammenhang passen. Was sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte geändert hat, ist die Richtung, in der sich Rückzug und Abschottung, insbesondere der Mittelschichten, vollziehen – von den Vorstädten zurück in die urbanen Zentren. Die sozioökonomischen Migrationsbewegungen der Gentrifizierung verändern die urbane Soundscape, sie segregieren das auditive Feld der Städte in neue Zonen und schaffen dynamische Übergänge zwischen ihnen. Thompson hat diesen Prozess so beschrieben: »Während die ruhigen Vorstädte historisch der Mittelklasse zugeordnet waren und die laute Stadt der Armut, gerieten diese Assoziationen durch die wachsende Vorliebe der Reichen für ein Leben in der postindustriellen Stadt durcheinander. War die Stadt einst ›lärmend‹, ›gefährlich‹ und ›zerstörerisch‹, wird sie nun als ›pulsierend‹, ›lebhaft‹, ›angesagt‹ und ›kreativ‹ dargestellt. Die Migration der Mittelschichten aus den Vorstädten in die Zentren ging mit Versuchen einher, urbane Räume zu ›regenerieren‹, sowie mit der Verdrängung armer städtischer Gemeinschaften. Diese Verschiebung bringt eine eigene Politik von Lärm und Stille mit sich, in der das anhaltende Verlangen nach einer akustischen Kontrolle über das eigene Heim in Konflikt mit der lärmenden Soundscape des urbanen Milieus steht.«94 Die Funktion der Stille als Luxusartikel nimmt sich wie eine profane Variante ihrer sakralen und metaphysischen Attribute aus. Andacht, Meditation, Gebete und ›innere Ruhe‹ werden allgemein mit Stille in Verbindung gebracht, wobei diese nicht zwangsläufig mit der weitgehenden Abwesenheit von Schall zusammenhängen muss. Es sind gerade bestimmte Höreindrücke und Soundscapes, die als Stille charakterisiert werden. Häufig handelt es sich dabei um Formen von Rauschen: Meeresrauschen, Rauschen von Blättern etc. bilden einer landläufigen Doxa zufolge jenen akustischen Hintergrund, der als ›Stille‹ erfahren wird. Stille und Ruhe finden allgemein als Metonymien für ›Frieden‹ Anwendung. Die Ruhe nach dem Sturm 94

M. Thompson: Beyond Unwanted Sound, S. 108 f., a.d. Engl.: DW.

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bedeutet, dass Krieg, Aufruhr und Streit vorüber sind. Zugleich ist Stille mit der Abwesenheit von Leben konnotiert: Totenstille und Friedhofsruhe verweisen auf die Immobilität weiter Teile des Anorganischen, die ohne Zufuhr kinetischer Energie keinen Schall von sich geben. Die Toten sind stumm wie die Steine. Die Verbindung von Stille und Tod kann aber auch Formen einer politisierten und politisierenden Rhetorik annehmen. Der Slogan Silence = Death der 1987 gegründeten Initiative AIDS Coalition to Unleash Power (ACT UP) war Ausdruck einer lautstarken Attacke gegen das ›Totschweigen‹ der AIDS-Pandemie in den USA und anderen Nationen. Der Widerstand, den diese Bewegung auf die Straßen trug, stellte der stillschweigenden Ignoranz und Ablehnung gegenüber den HIV-Infizierten und AIDS-Toten ein Noise-Konzept entgegen, das sich aus Protest und aktivistischem Lärm zusammensetzte. Die Abwesenheit des Hörbaren, das Überhörtwerden oder Nichtvernommenwerden von Äußerungen kann als eine Art sozialer Tod erfahren werden. In einer anderen Ausprägung kann Stille auch als Simulakrum einer Todeserfahrung fungieren, dann nämlich, wenn Menschen ihr hilflos ausgeliefert werden. Das Gefängnis ist als ein Ort der Stille und der fixierten Sichtachsen angelegt. Mit dem von Foucault beschriebenen panoptischen Blick korrespondiert, dass die Gefangenen sich ruhig zu verhalten hatten. Die Disziplinarmacht verlangte nach Körpern, die sich nur regten oder Äußerungen von sich gaben, wenn sie dazu aufgefordert wurden, und die ansonsten idealerweise in einem Ruhezustand zu verharren hatten. LaBelle hat eine auditive Überschneidung zwischen dem Entwurf des vorstädtischen Eigenheims und der Gefängniszelle beschrieben.95 Während die Zelle den Verbrecher oder die Verbrecherin in sich aufnimmt, soll das Eigenheim oder die Gated Community das Verbrechen außen halten. Beiden Behausungen aber ist das architektonische Dispositiv der Stille eingeschrieben, die mit Mauern eingegrenzt und überwacht wird. All dies ist dem positiven Begriff der Stille, wie ihn die Klangökologie Schafers formuliert hat, diametral entgegengesetzt. Thompson hat diesen Widerspruch so beschrieben: »Aus der Perspektive Schafers laufen solche Verwendungsweisen von Stille, die aus deren negativen, aber letztlich falschen Konnotationen in der westlichen Gesellschaft (nämlich Isolation und Tod) Kapital schlagen, ihrem ›wahren‹ Charakter zuwider. Dennoch […] scheint es unbefriedigend, solche Anwendungen von Stille als ausnahmsweise und anormale ›Zweckentfremdungen‹ abzutun. Selbst in alltäglicheren Szenarien kann Stille Reaktionen wie Furcht, Unbehagen und Isolation hervorrufen.«96 In der unfreiwilligen Erfahrung von Stille, in dem Zwang, nichts anderes als sich selbst zu hören, kann eine Form auditiver Gewaltsamkeit gesehen werden, die in 95 96

Vgl. B. LaBelle : Acoustic Territories, S. 74-79. M. Thompson: Beyond Unwanted Sound, S. 103, a.d. Engl.: DW.

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ihrer Intensität der von Lärm oder einem aufgezwungenen Musikkonsum in nichts nachsteht. Die Ingressionen der Stille verschieben sich hin zu einer transgressiven Machttechnik, die darüber gebietet, was zu hören ist und was nicht. Macht im auditiven Feld bedeutet nicht nur, Lautstärke mobilisieren zu können oder Entscheidungen darüber zu treffen, was zu hören sein soll. Sie besteht auch in dem Vermögen, zu übertönen, zu überhören oder ruhigzustellen. Eine Äußerung zu unterbinden, kann verschiedene Formen annehmen, die von Zum-Schweigen-Bringen bis zu institutionalisierter Zensur reichen können. Eine Person zum Schweigen zu bringen und darüber zu gebieten, was diese Person (nicht) hört, sind Aspekte einer Machttechnik, die sich in der Situation der Isolationshaft zu einem Dispositiv der Macht, zu einer Prozedur des silencing verdichten. Sensorische Deprivation und Auslieferung an die Stille sind Techniken einer weißen Folter, die der Psyche von Gefangenen einen erheblichen Schaden zufügen kann. Einen Eindruck von diesem Schrecken der Stille vermittelt Ulrike Meinhofs Brief aus dem toten Trakt, den sie 1973 aus der Isolationshaft abschickte:

»Satzbau, Grammatik, Syntax – nicht mehr zu kontrollieren. Beim Schreiben: zwei Zeilen – man kann am Ende der zweiten Zeile den Anfang der ersten nicht behalten   Das Gefühl, innerlich auszubrennen   – das Gefühl, wenn man sagen würde, was los ist, wenn man das rauslassen würde, das wäre, wie dem anderen kochendes Wasser ins Gesicht zischen, wie z.B. kochendes Tankwasser, das den lebenslänglich verbrüht, entstellt   Rasende Aggressivität, für die es kein Ventil gibt. Das ist das Schlimmste. Klares Bewußtsein, daß man keine Überlebenschance hat; völliges Scheitern, das zu vermitteln; Besuche hinterlassen nichts. Eine halbe Stunde danach kann man nur noch mechanisch rekonstruieren, ob der Besuch heute oder vorige Woche war –   Einmal in der Woche baden dagegen bedeutet: einen Moment auftauen, erholen – hält auch für paar Stunden an   Das Gefühl, Zeit und Raum sind ineinander verschachtelt   das Gefühl, sich in einem Verzerrspiegelraum zu befinden   torkeln –

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  Hinterher: fürchterliche Euphorie, daß man was hört – über den akustischen TagNacht-Unterschied   Das Gefühl, daß jetzt die Zeit abfließt, das Gehirn sich wieder ausdehnt, das Rückenmark wieder runtersackt – über Wochen.   Das Gefühl, es sei einem die Haut abgezogen worden.«97

6.4

Delimitationen: Musik und Macht

Delimitation ist ein veraltetes Wort für die Berichtigung einer Grenze, das heute in der englischen Sprache mit den Bedeutungen ›Abgrenzung‹, ›Begrenzung‹ oder ›Umgrenzung‹ verwendet wird. Musik und Macht können als Konzepte aufgefasst werden, die einander berühren, die sich schneiden oder ineinander übergehen können. Dabei kommt es unweigerlich zu neuen Grenzziehungen, die weitere Berichtigungen oder Um- und Eingrenzungen zur Folge haben. Wenn Musik als eine Macht bezeichnet wird, so geschieht dies häufig unter Gesichtspunkten der Ästhetik und der Affekte – die Musik ist nicht nur eine Macht, die gehört wird, sondern der auch gehorcht werden muss. Wenn sich das eigene Schritttempo unwillkürlich dem Rhythmus von zufällig mitgehörter Musik anpasst oder wenn Musik zu einem kathartischen Erleben führt, übt sie eine machtvolle Wirkung aus.98 Andere Facetten dieses Verhältnisses deuten sich an, wenn Musik eine repräsentative Funktion in politischen Machtverhältnissen erhält, wenn sie zu einem mobilisierenden Faktor in politischen Bewegungen wird oder wenn sich mit ihr und durch sie ein Widerstandspotenzial zum Ausdruck bringen und aktivieren lässt. Jenseits ihrer ästhetischen und affektiven Wirkungen lassen sich aber noch andere, tiefer verwobene Beziehungen zwischen Musik und Macht entdecken. Es gibt Relationen zwischen beiden, in denen das eine auf die Funktionen des anderen verweist, so kann Macht an der Entstehung einer musikalischen Form beteiligt oder Musik

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Meinhof, Ulrike: »Brief aus dem toten Trakt«, in: GNN (Hg.): Ausgewählte Dokumente der Zeitgeschichte: Bundesrepublik Deutschland (BRD) – Rote Armee Fraktion (RAF), Köln: GNN Verlagsgesellschaft Politische Berichte 1987, S. 90 f. Diese Wirkung der Musik wurde bereits von Aristoteles in seiner Politik in einen soziopolitischen Kontext gestellt: »Die Rhythmen und Melodien kommen als Abbilder dem wahren Wesen des Zornes und der Sanftmut, sowie des Mutes und der Mäßigkeit wie ihrer Gegenteile, nebst der eigentümlichen Natur der anderen ethischen Gefühle und Eigenschaften sehr nahe. […] Hieraus sieht man also, daß die Musik die Fähigkeit besitzt, dem Gemüte eine bestimmte sittliche Beschaffenheit zu geben. Vermag sie das aber, so muß man offenbar die Jünglinge zu dieser Kunst anhalten und in ihr unterrichten.« (Aristoteles: Politik, 1340a 3 f.)

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funktional an Mächte gebunden sein. Die Konturen der Genealogie, die sich aus diesen Wechselbeziehungen entwickelt, werden im Folgenden nachgezeichnet. Elias Canetti hat in Masse und Macht anhand der Figur des Dirigenten die Analyse eines der möglichen Knotenpunkte in diesem Verhältnis entworfen:

»Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht als die Tätigkeit des Dirigenten. Jede Einzelheit seines öffentlichen Verhaltens ist bezeichnend, was immer er tut, wirft Licht auf die Natur der Macht. […] Der Dirigent hält sich für den ersten Diener an der Musik. Er ist von ihr so sehr erfüllt, daß ihm der Gedanke an einen zweiten, außermusikalischen Sinn für seine Tätigkeit gar nicht kommen kann. Über die folgende Deutung wäre niemand mehr erstaunt als er. Der Dirigent steht. Die Aufrichtung des Menschen als alte Erinnerung ist in vielen Darstellungen der Macht noch von Bedeutung. Er steht allein. Um ihn herum sitzt sein Orchester, hinter ihm sitzen die Zuhörer, es ist auffallend, dass er allein steht. Er steht erhöht und ist von vorn und im Rücken sichtbar. Vorne wirken seine Bewegungen aufs Orchester, nach rückwärts auf die Zuhörer. Die eigentlichen Anordnungen gibt er mit der Hand allein oder mit Hand und Stab. Diese oder jene Stimme weckt er plötzlich zum Leben durch eine ganz kleine Bewegung, und was immer er will, verstummt. So hat er Macht über Leben und Tod der Stimmen. Eine Stimme, die lange tot ist, kann auf seinen Befehl wiederauferstehen. Die Verschiedenheit der Instrumente steht für die Verschiedenheit der Menschen. Das Orchester ist wie eine Versammlung all ihrer wichtigsten Typen. Ihre Bereitschaft zu gehorchen ermöglicht es dem Dirigenten, sie in eine Einheit zu verwandeln, die er dann allgemein sichtbar für sie vorstellt. […] Während des Spiels ist der Dirigent für die Menge im Saal ein Führer. Er steht an ihrer Spitze und hat ihnen den Rücken zugekehrt. […] Sein Blick, so intensiv wie möglich, erfaßt das ganze Orchester. Jedes Mitglied fühlt sich von ihm gesehen, aber noch mehr von ihm gehört. Die Stimmen der Instrumente sind die Meinungen und Überzeugungen, auf die er schärfstens achtet. Er ist allwissend, denn während die Musiker nur ihre Stimmen vor sich liegen haben, hat er die vollständige Partitur im Kopf oder auf dem Pult. Es ist ihm genau bekannt, was jedem in jedem Augenblick erlaubt ist. Daß er auf alle zusammen achtet, gibt ihm das Ansehen der Allgegenwärtigkeit. Er ist sozusagen in jedermanns Kopf. Er weiß, was jeder machen soll, und er weiß auch, was jeder macht. Er, die lebende Sammlung der Gesetze, schaltet über beide Seiten der moralischen Welt. Er gibt an, was geschieht, durch das Gebot seiner Hand, und verhindert, was nicht geschehen soll. Sein Ohr sucht die Luft nach Verbotenem ab. Für das Orchester stellt der Dirigent so tatsächlich das ganze Werk vor, in seiner Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge, und da während der Aufführung die

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Welt aus nichts anderem bestehen soll als aus dem Werk, ist er genauso lange der Herrscher der Welt.«99 Canettis Ausführung ist mehr als ein Sinnbild oder ein Gleichnis. Der Dirigent ist in der spezifischen Situation der Aufführung mit absoluter Macht ausgestattet.100 Aus dem ästhetischen Zusammenhang des Konzerts ergibt sich ein Gefüge von sozialer Hierarchie, die sich in einer Aufteilung des Raums, der Anordnung von Menschen darin und einer Direktionalität in der Topografie des Auditiven äußert. Erst aus der Erweiterung auf soziopolitische Zusammenhänge außerhalb des Konzertsaals ergibt sich ein Feld der musikalisch-politischen Metaphorik, in dem die Macht des Dirigenten sich auf andere Führerfiguren übertragen lässt. Das Verhältnis von Musik und Macht, das von Canetti geschildert wird, ergibt sich aus dem spezifischen Kontext der europäischen Klassik – jener musikalischen Epoche, deren Entwicklung sich vom 18. bis ins 19. Jahrhundert erstreckte und die u.a. den Beruf des Dirigenten hervorgebracht hat. Die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem Führer des Orchesters und dem ›Schlachtenlenker‹ blieb der musikinteressierten Öffentlichkeit jener Epoche nicht verborgen. Der Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülken schreibt über den Taktstock als Symbol des neuen Berufsstands: »[…] [D]ie Bedeutung des Taktstocks als eines eher äußerlichen Akzidens [erscheint] überbewertet. Zeitgenossen empfanden es anders; ohne Widerstände ging es nicht ab, bei denen Empfindlichkeiten gegen störende Insignien musikalischer Machtausübung […] ebenso mitspielten wie gegen den feldherrlichen Gestus, den Spontini unzweideutig verkörperte und um den der junge Wagner den dirigierenden Weber glühend beneidete.«101 Der Dirigent nimmt sich in seiner Funktion wie ein Steuermann aus, ein Kybernetiker avant la lettre. In den Diskursen der Kybernetik hat er indes kaum Spuren hinterlassen, die Metaphern und Analogien, die sich um diese Figur ranken, greifen eher auf das Vokabular des Militärischen zurück: »Wie die vergrößerten Apparate den erhöht Stehenden […] verlangten, der vom Instrument dispensiert ist, erzwangen die Entwicklungen des Komponierens neue Formen der Orchesterarbeit und den, der sie durchsetzen kann. […] Das mußte hart erarbeitet wennicht [sic] […] durch kasernenhofartigen Drill erzwungen werden […].«102 Die Kaserne und der Drill verweisen auf die soziale Mechanik der Disziplinierung, einen Vorgang, der 99 E. Canetti: Masse und Macht, S. 442-444, Herv. i. Orig. 100 Wobei sich einwenden lässt, dass der Dirigent letztlich ein Delegierter ist, da er für seine Tätigkeit bezahlt wird. In diesem Sinne tritt er als Repräsentant des lauschenden Bürgertums auf, der dessen Machtanspruch symbolisch im Feld der auditiven Ästhetik vertritt. 101 Gülke, Peter: »Dirigieren«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, Kassel: Bärenreiter, Sp. 1257-1273, hier Sp. 1263 f. 102 Ebd., Sp. 1264.

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Gehorsam erzwingen will und sich so in etymologischer Nähe zum Gehör befindet. Die Disziplin selbst fungiert als eine Art Bindeglied zwischen Gewalt und Macht. Erstere bildet ihren Ausgangspunkt, während sie auf Letztere abzielt. Zwischen Musik und Disziplin tut sich ein Feld von Überschneidungen und Übertragungen auf, in dem sich ästhetische und soziale Faktoren vermischen. Musik kann so zu einer Metapher für historische Prozesse werden, während diese sich gleichzeitig aus ihr ablesen lassen. Dieser Bezug lässt sich anhand einer parallelen Entwicklung verdeutlichen: Der Veränderung der Machttechniken im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert hat eine Umformung der musikalischen Praxis entsprochen. In diesem Übergang wurde das Verhältnis zwischen Gewalt, Macht, Körpern, Stimmen, Musik und Disziplin neu geordnet. Nicht zuletzt lässt sich aus ihm ableiten, dass an der Wiege der klassischen Epoche europäischer Kunstmusik ein Wechsel von einem gewaltsamen Zugriff auf den menschlichen Körper hin zu einem disziplinierenden stattgefunden hat. In Überwachen und Strafen hat Foucault die Entstehung jener Epoche nachgezeichnet, der er den Namen ›Disziplinargesellschaft‹ gegeben hat. Die Schauplätze dieser Entwicklung sind das Gefängnis, die Schule, die Fabrik und die Armee – die »Einschließungsmilieus«103 , in denen neue Formen der sozialen Organisation erprobt wurden, aus denen eine veränderte Aufteilung der Zeit, andere Zugriffsmöglichkeiten auf den menschlichen Körper und eine neue Art von Subjektivierung entstehen sollten. Die Disziplinargesellschaft schließt historisch an die Souveränitätsgesellschaft des Feudalismus und Absolutismus an. Im Kontext von Überwachen und Strafen werden beide Formen anhand des Strafsystems miteinander verglichen: Während in der Souveränitätsgesellschaft das Delikt als ein Angriff auf den Körper des Souveräns angesehen wird und sich die Strafe als proportionale Marter an den Leibern der Verbrecher*innen vollzieht, entwirft die Disziplinargesellschaft ein ausgeklügeltes System von Drills und Einschließungen, mit denen die delinquenten Körper zu neuen Idealformen herangezüchtet werden sollen.104 Während die Übergänge zwischen beiden Formen fließend und schwer zu datieren sind, lässt sich die Französische Revolution von 1789 bis 1799 als augenfälligste Zäsur in diesem Prozess betrachten. Die Veränderungen in der Gesellschaft vollzogen sich nach Foucault vor allem im Straf- und Bildungssystem, im Militär und

103 Unter diesen Begriff subsumiert Deleuze in Auseinandersetzung mit Foucault Gefängnisse, Krankenhäuser, Fabriken, Schulen und Familien; vgl. G. Deleuze: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, S. 255. 104 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 9-14. In dieser Textstelle kontrastiert Foucault äußerst effektvoll eine öffentliche Hinrichtung aus dem Jahr 1757 mit einem Gefängnisreglement von 1838.

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in der Sphäre der Arbeit und Ökonomie. Aber sie betrafen die westlichen Gesellschaften zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert als Ganzes, nichts blieb von ihnen ausgenommen. Überwachen und Strafen ist fast durchgängig um eine Metaphorik des Visuellen herum aufgebaut. Im Mittelpunkt des Buchs steht der Panoptismus als zentrale Beobachtungsinstanz, seine Überwachungstechniken vollziehen sich durch Blicke, die auf Sichtbarkeit hin ausgerichtete Architektur des Gefängnisses bildet seinen Brennpunkt.105 In seiner Tiefenstruktur finden sich aber auch auditiv-musikalische Metaphern, die sich immer dann bemerkbar machen, wenn es um eine Neuordnung der Zeit unter disziplinartechnischen Vorzeichen und um die Wirkung dieser Techniken auf die »gelehrigen Körper«106 geht. Die Durchführungsweise der Disziplinierung besteht nach Foucault »in einer durchgängigen Zwangsausübung, die über die Vorgänge der Tätigkeit genauer wacht als über das Ergebnis und die Zeit, den Raum, die Bewegung bis ins kleinste codiert«.107 Aus den Klöstern und Orden des Mittelalters übernimmt die sich entwickelnde Disziplinarmacht die drei Elemente »Festsetzung von Rhythmen, Zwang zu bestimmten Tätigkeiten, Regelung von Wiederholungszyklen«.108 In den Räumen der im 18. Jahrhundert entstehenden Schulen werden »gleichgeschaltete Intervalle skandiert«,109 während der sukzessive Unterricht durch einen Lehrer zunehmend durch das »kontrapunktische Zusammenspiel gleichzeitiger Gruppenarbeiten«110 ersetzt wird. Das Crescendo, auf das diese Entwicklungen hinsteuern, bezeichnet Foucault als eine »Zucht-Polyphonie der Disziplinarübungen«.111 Einer der Bereiche, in denen die neuen Disziplinierungstechniken eine durchschlagende Wirkung erzielen sollten, ein Bereich, der in Foucaults machtanalytischen Untersuchungen jedoch nicht auftaucht, ist jener der Musik selbst. Barock und Rokoko als Kunstformen der Souveränitätsgesellschaft unterscheiden sich von der Musik des 19. Jahrhunderts nicht bloß stilistisch. In den Jahrzehnten zwischen 1780 und 1850 verändern sich, analog zu den Paradigmenwechseln, die Foucault für das Strafsystem nachgewiesen hat, auch die Parameter der Musikproduktion. Die Disziplinargesellschaft hat ein neues Verhältnis zur Übung erfunden, das an der musikalischen Praxis nicht spurlos vorbeigegangen ist.

105 Deleuze fasst das Primat des Visuellen in seinem Foucault-Buch so zusammen: »Das Gefängnis seinerseits betrifft das Sichtbare: es beansprucht nicht nur, das Verbrechen und den Verbrecher sichtbar zu machen, sondern konstituiert selbst eine Sichtbarkeit, es ist eine Ordnung des Lichts, bevor es steinerne Gestalt annimmt […].« (G. Deleuze: Foucault, S. 49) 106 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 173-219. 107 Ebd., S. 175. 108 Ebd., S. 192. 109 Ebd., S. 188. 110 Ebd., S. 198. 111 Ebd., S. 205.

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Paradigmatisch lässt sich diese Veränderung an der Rolle des Primo Uomo in der italienischen Oper ablesen. Die Oper entstand als Kunstform während der Spätrenaissance und ist von der Praxis der Knabenkastration nicht zu trennen. In der Gestalt des Kastratensängers begegnet man einem audioästhetischen Dispositiv, das der bürgerlichen Kunstmusik des 19. Jahrhunderts diametral entgegengesetzt ist. Der Kastrat erhielt seine besondere Stimme durch einen drastischen Eingriff in seine Körperlichkeit, welcher die Stimmbänder eines Kindes mit dem Lungenvolumen eines erwachsenen Mannes verband und ihn dabei zeitlebens als von der physischen Norm abweichend markierte.112 Zugleich war er viel mehr Interpret im Sinne einer kreativen Auslegung des musikalischen Materials, als es späteren Generationen von Opernsängern gestattet wurde.113 In den Improvisationskünsten der Kastraten zeigt sich ein anderes Verhältnis zur Zeit und zum musikalischen Material als in den per Metronom streng getakteten Tempi der Musik des 19. Jahrhunderts. Um 1600 vollzogen sich einschneidende Veränderungen sowohl in der weltlichen als auch in der Kirchenmusik. Polyphone Gesangskunst hatte schon für längere Zeit eine wichtige Rolle an den italienischen Fürstenhöfen gespielt und beim Publikum ein Begehren nach hohen Stimmen ausgelöst. Die Musikwissenschaftlerin Susan McClary schreibt von einer »Sucht des 17. Jahrhunderts nach hohen Stimmen«,114 die zumindest im Bereich der weltlichen Musik zunächst von Sängerinnen befriedigt wurde. Allerdings war es Frauen aufgrund einer für das Christentum spezifischen Konstellation von religiösen, patriarchalen und sozialen Gründen, zumindest was den Bereich der sakralen Musik anging, strikt verboten, öffentlich zu singen. In den um 50 n. Chr. verfassten Korintherbriefen des Apostels Paulus ist

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Die Merkmale eines Kastratenkörpers werden von Hubert Ortkemper so zusammengefasst: »Durch die Ausschaltung der Keimdrüsen bleibt der Wachstumsschub der Pubertät aus, die Reifung der Knochen wird verzögert. Das führt dazu, daß sich das Längenwachstum auch noch nach dem 20. Lebensjahr fortsetzt, in extremen Fällen bis ins dritte und vierte Jahrzehnt. Ein Kastrat erreicht deshalb oft eine über dem Durchschnitt liegende Körpergröße, Arme und Beine sind gegenüber dem Rumpf zu lang. […] Endet das zeitlich gestreckte Wachstum schließlich, kommt es sehr häufig zu einer weiteren körperlichen Anomalie. Neigte der Knabe bereits zur Korpulenz, wird der erwachsene Kastrat, sobald die Knochenreifung abgeschlossen ist, extrem dick. Auf den zahlreichen Karikaturen des 18. Jahrhunderts begegnen uns die Kastraten entweder als spindeldürre Latten oder als kugelrunde Fettwänste.« (Ortkemper, Hubert: Engel wider Willen. Die Welt der Kastraten, München: dtv 1995, S. 40) Improvisationen bzw. Koloraturen waren ein fester Bestandteil der Barockoper, das 19. Jahrhundert entwickelte ein anderes Verhältnis zum Notentext und dem Komponisten als Autor: »Nicht die Politik hat die Kastraten von der Opernbühne verdrängt, sondern die Komponisten können und wollen ihre Gesangskunst nicht mehr in ihr Werk integrieren.« (Ebd., S. 341) McClary, Susan: »Fetisch Stimme«, in: Kittler, Friedrich/Macho, Thomas/Weigel, Sigrid (Hg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur und Mediengeschichte der Stimme, Berlin: Akademie-Verlag 2002, S. 199-214, hier S. 208.

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vermerkt: »Wie in allen Gemeinden der Heiligen lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, daß sie reden, sondern sie sollen untertan sein, wie auch das Gesetz sagt.«115 Der Siegeszug der polyphonen Gesangskunst und der hohen Stimme, auch in der Kirchenmusik, brachte verschiedene Notlösungen mit sich; so behalf man sich etwa mit dem Anheuern spanischer Falsettisten, die jahrzehntelang eine Art Monopolstellung innehatten. Für das Jahr 1601 ist urkundlich belegt, dass der Kastrat Girolamo Rosini Papst Clemens II. vorsang, was dem Sänger ein Engagement in der Sixtinischen Kapelle einbrachte.116 Innerhalb weniger Jahre waren sämtliche Sopranstimmen in italienischen Kirchenchören mit Kastraten besetzt. Die spezifische Klangfarbe ihrer Stimme traf den Zeitgeist, die von ihr ausgehende Faszination war so groß, dass sie zum unverzichtbaren Bestandteil der sich gerade entwickelnden Kunstform der Oper wurde.117 Die frühe Oper war ein aus dem Geist der Renaissance geborener Versuch, das antike Theater wieder aufleben zu lassen. Sie wurde zunächst nur zu besonderen Anlässen an Fürstenhöfen aufgeführt, popularisierte sich aber im Laufe der Jahrzehnte, sodass bald jede größere italienische Stadt ihr eigenes Opernhaus hatte. Das erste kommerzielle Opernhaus wurde 1637 in Venedig eröffnet, was bald Nachahmer in ganz Europa fand. Die italienische Oper blieb bis in das 19. Jahrhundert weltweit die populärste Form der Musikdarbietung, und sie war grundsätzlich auf Kastratensänger angewiesen. Die meisten von ihnen stammten aus ärmlichen Verhältnissen. Für gewöhnlich wurden sie im achten Lebensjahr, vor Eintritt der Pubertät, einer Operation unterzogen, bei der die Samenleiter durchtrennt wurden. Wie alle operativen Eingriffe des 17. Jahrhunderts war die Kastration riskant, die hygienischen Bedingungen mangelhaft und die Gefahr von Entzündungen und Komplikationen groß. Offiziell war der Eingriff streng verboten und wurde mit Todesstrafe oder Exkommunikation bestraft. Aufgrund dieses Verbots wurden Kastrationen häufig unprofessionell ausgeführt, und es ist unmöglich, Angaben zur Anzahl der Kastraten zu machen. Es ist aber davon auszugehen, dass zwischen dem Beginn des 17. und der Mitte des 19. Jahrhunderts im ländlichen Italien jährlich Hunderte Kinder männlichen Geschlechts kastriert wurden, ohne zu wissen, ob aus ihnen große Sänger werden würden.118

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1 Kor 14,34, Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Vgl. H. Ortkemper: Engel wider Willen, S. 23. McClary schreibt zu diesem Modephänomen: »Parallel zur zunehmenden Nachfrage nach männlichen Sopranstimmen in der Oper des 17. Jahrhunderts entwickelte sich eine wachsende Abneigung gegen tiefere männliche Stimmen.« (S. McClary: »Fetisch Stimme«, S. 212) Vgl. H. Ortkemper: Engel wider Willen, S. 33 f.: »Die Operation war überall in Italien streng verboten. Aber jeder wußte, daß sie tausendfach durchgeführt wurde, denn woher sonst hätten die vielen Kastraten kommen sollen? Man nahm die Operation offiziell nicht zur Kenntnis.«

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Aus zeitgenössischen Quellen spricht eine Faszination, die nicht nur dem Klang ihrer Stimme, sondern auch ihrer Androgynität gilt. Der Barock scheint ein eigenes Verhältnis zu jenen Menschen gepflegt zu haben, welche die Zwischenräume der Geschlechterdifferenz besetzten. Der Opernwissenschaftler Hubert Ortkemper schreibt: »In den Kastraten erfüllten sich die hermaphroditischen Wunschträume des Barock. Die Suche nach dem Stein der Weisen, die das spekulative Denken dieser Zeit beschäftigt, ist die Suche nach einem mythischen Symbol, das zur Hälfte männlich, zur Hälfte weiblich ist. In den Kastraten schien dieses Ideal gefunden.«119 Doch diese Faszination sollte nicht anhalten. Bereits aus den musikwissenschaftlichen Schriften des Aufklärers Rousseau spricht nicht nur ein tiefer Ekel vor der Praxis der Kastration, sondern auch vor Erscheinung und Stimme der Kastraten. In seinem Wörterbuch der Musik von 1767 findet sich diese Passage: »Im übrigen wird der Vorteil einer schönen Stimme bei den Kastraten durch viele andere Verluste aufgehoben. Diese Menschen, die so schön, aber ohne Wärme und Leidenschaft singen, sind auf der Bühne die langweiligsten Darsteller der Welt; sie verlieren ihre Stimme sehr früh und bekommen einen abstoßenden Spitzbauch. Sie sprechen und artikulieren schlechter als normale Menschen, und es gibt sogar Buchstaben wie das ›r‹, die sie überhaupt nicht aussprechen können.«120 Im Zuge des Übergangs von der Souveränitäts- zur Disziplinargesellschaft verändern sich nicht nur die musikalischen Dispositive, auch Vorstellungen von Sexualität und Biologie erfahren eine Umstrukturierung. Im Hinblick auf die Geschlechterdifferenz nimmt der Kastrat eine dritte Ebene ein, die sich nicht in einer vertikalen Trennung verorten lässt, sondern eine transversale Relation herstellt. In der binären Opposition zweier Geschlechter verhält er sich wie ein Rauschen, eine Ambiguität. Die in der Figur des Kastraten angedeutete sexuelle Indifferenz erfährt keine mythisierende Aufwertung mehr, wie es noch im Barock geschah, vielmehr werden die hermaphroditischen Anklänge des Kastratenkörpers zu einer Anomalie erklärt, die nicht mehr in die zunehmend normativ werdenden Raster der disziplinargesellschaftlichen Naturwissenschaften und der Rechtsprechung passt. In dem 1978 entstandenen Text Das wahre Geschlecht weist Foucault darauf hin, dass es bis ins 18. Jahrhundert allgemein üblich war, dass Hermaphroditen, sobald sie ins heiratsfähige Alter kamen, ihre Geschlechtszugehörigkeit selbst wählen konnten. Dies sollte sich ändern:

119 Ebd., S. 85. 120 Rousseau, Jean-Jacques: Wörterbuch der Musik, Hildesheim: Olms 1969, zitiert nach H. Ortkemper: Engel wider Willen, S. 303.

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»Biologische Sexualtheorien, juristische Bestimmungen des Individuums und Formen administrativer Kontrolle haben seit dem 18. Jahrhundert in den modernen Staaten nach und nach dazu geführt, die Idee einer Vermischung der beiden Geschlechter in einem einzigen Körper abzulehnen und infolgedessen die freie Entscheidung der zweifelhaften Individuen zu beschränken. Fortan jedem ein Geschlecht, und nur ein einziges. […] In der Rechtsprechung führte das selbstverständlich zum Verschwinden der freien Entscheidung. Nicht mehr das Individuum entscheidet über das Geschlecht, zu dem es in rechtlicher und sozialer Hinsicht gehören will, sondern der Experte bestimmt, welches Geschlecht die Natur für es ausgewählt hat und an welches sich zu halten die Gesellschaft darum von ihm verlangen muß.«121 Natürlich sind Kastraten keine Hermaphroditen, ihre physische Disposition ist durch einen operativen Eingriff erfolgt und nicht angeboren. Es ist aber von Interesse, dass sich in dem hier behandelten Zeitraum die Parameter einer normativen Heterosexualität ebenso verschieben wie die einer spezifischen Form des Gesangs und dass beide Prozesse in der populärsten der musikalischen Darbietungen jener Zeit auf Engste ineinander verschränkt waren. In der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ist kein Platz mehr für Kastraten. Der gewaltsame Umsturz des Ancien Régime schaffte kulturelle Präzedenzfälle, die für lange Zeit in verschiedenen Nationen und gesellschaftlichen Bereichen nachhallten. In seiner Theorie der Stimme stellt Dolar für die Jahre der Revolution fest, dass »eines der ersten Revolutionsdekrete den öffentlichen Auftritt von Kastraten untersagte, die nach und nach zu monströsen Sinnbildern der Perversion und Korruption des ancien régime wurden, zur Verkörperung seiner degenerierten jouissance, deren Inbegriff eben die Stimme war. Kastraten waren nicht nur die Helden der Barockoper und der klassischen Oper (sogar noch für Mozart), sondern auch Sinnbilder der katholischen Musik; ihre Wiege und ihr Heiligtum war die Sixtinische Kapelle, das Zentrum der Perversität im Herzen der Kirche.«122 Und schließlich waren es auch die katholischen Päpste, die die Geschichte der Kastratensänger bis ins 20. Jahrhundert andauern ließen und diese vom Zeitgeist überholte Praxis konservierten. Bis 1903 sangen Kastraten in der Sixtinischen Kapelle, die Abschaffung dieses Brauchs wurde erst durch eine von Pius X. vollzogene Reform der Kirchenmusik erwirkt. Zur damaligen Zeit war der 1858 geborene Alessandro Moreschi Chorleiter der Cappella Sistina, von ihm wurden die einzigen bekannten Tonaufnahmen einer Kastratenstimme eingesungen. Sein 1904 auf 121 122

Foucault, Michel/Barbin, Herculine: Über Hermaphrodismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 8 f. M. Dolar: His Master’s Voice, S. 71 f.

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Grammophonplatten aufgezeichnetes Ave Maria ist das einzige verfügbare Tondokument, das eine Ahnung von den Klängen dieser vergangenen Epoche vermitteln kann.123 Die Praxis der Kastration zeigte ein gänzlich anderes Verhältnis zur Disziplin, als es die bürgerliche Arbeitsethik suggeriert. Kastratensänger mussten zwar diszipliniert üben, zwischen dem 8. und 16. Lebensjahr bestand ihr Leben aus kaum etwas anderem. Der gravierende Unterschied zu späteren musikpädagogischen Praktiken liegt aber gerade in der irreparablen Verstümmelung, die eine bestimmte stimmliche Disposition überhaupt erst ermöglichte. Im Zuge des Übergangs von der Souveränitäts- zur Disziplinargesellschaft veränderte sich Foucault zufolge der Zugriff, den Disziplin und Übung auf den Körper hatten. Anstatt eine Verstümmelung zur transzendentalen Grundlage der Virtuosität zu machen, wurden der Körper und seine Fähigkeiten einer immer engeren Rasterung auf der Grundlage abstrakter Zeit unterzogen, es bildete sich nach und nach ein neues Verständnis von Körpern heraus: »Mit [der Unterwerfungstechnik der Disziplinierung] bildet sich ein neues Objekt aus, das den mechanischen Körper langsam ablöst: den festen und beweglichen Körper, dessen Bild die Träumer der Disziplinarvollkommenheit so lange begeistert hatte. Dieses neue Objekt ist der natürliche Körper: ein Träger von Kräften und Sitz einer Dauer; es ist ein Körper, der für spezifische Operationen mit ihrer Ordnung, ihrer Zeit, ihren inneren Bedingungen, ihren Aufbauelementen empfänglich ist. Indem der Körper zur Zielscheibe für neue Machtmechanismen wird, bietet er sich neuen Wissensformen dar. Es handelt sich mehr um einen Körper der Übung als um einen Körper der spekulativen Physik; eher um einen von der Autorität manipulierten Körper als um einen von Lebensgeistern bevölkerten Körper; um einen Körper der nützlichen Dressur und nicht der rationellen Mechanik.«124 Es geht um ein neues Konzept des menschlichen Körpers als eines Trägers von Kräften, der für bestimmte Dressuren empfänglich ist. Vor allem aber um einen natürlichen Körper, der als solcher sakrosankt ist. Die Stimme, über die dieser Körper verfügt, ist zu disziplinieren und ebendieser Körper in seiner naturgegebenen Einheit zu belassen – bzw. muss er der Idealvorstellung, die sich aus dieser Einheit ableitet, angepasst werden. Das aufgeklärte, humanistische und disziplinierte Subjekt hat idealerweise einen unverstümmelten Körper. Die Geschichte der Kastratensänger zeigt einen Knotenpunkt in der abendländischen Musiktradition auf, in dem Ästhetik und Gewalt auf eine eigentümliche Art ineinander verwoben sind. Dieser Punkt gehört einem Bereich an, in dem das Denken des Auditiven die intuitive Relation von Noise und Gewalt hinter sich lässt 123 Vgl. H. Ortkemper: Engel wider Willen, S. 251 f. 124 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 199.

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und einen neuen Bezugsrahmen mit anderen Koordinaten etabliert. Gewalt ist in diesem System nicht mit exzessiver Lärmentfaltung zu assoziieren, vielmehr wird sie zu einem Werkzeug, das eine hoch ästhetisierte Form von Musik überhaupt erst ermöglicht. Von hier ausgehend lässt sich ein Raum denken, in dem verschiedene Prinzipien der Strukturierung aufeinander einwirken, Zäsuren bilden, Einschnitte setzen oder neue Knoten entstehen lassen, von denen aus sich zuvor unbekannte Stränge bilden. Die Geschichte der Kastratensänger lässt sich so auf verschiedenen Ebenen verstehen: als eine reale, physisch destruktive Zäsur (der Schnitt in den Ductus deferens),125 die aber eine neue stimmliche Disposition produziert, von der aus sich eine neue audioästhetische Praxis (die Oper) entwickelt, deren Genealogie wiederum durch einen historischen Einschnitt (Entwicklung der Disziplinarmächte, bürgerliche Revolution und das Aufkommen des Komponisten als Autor werkgetreu wiederzugebender Musik) transformiert wird. So lässt sich Gewalt nicht nur als ein simples, aber effektives Mittel einer Strukturierung des Sozialen denken, sondern auch als ein direkter Zugriff auf den Körper und seine Vermögen; während Macht mehr oder weniger komplexe Formen der Strukturierung bezeichnen kann, die sowohl den corps social als auch den corps individuel betreffen können. Musik oder, im weitesten Sinne, Audioästhetik sind Strukturierungen des Hörbaren. Im auditiven Feld des Sozialen wirken beide Formen aufeinander ein – Musik entsteht ebenso aus Gewaltakten und Machtstrukturen, wie sie machtförmige und gewaltvolle Effekte auf das Soziale haben kann. Hier kommt die Rolle von Musik im öffentlichen Raum, jenseits der Sphäre des Privaten und der Semiöffentlichkeit des Konzertsaals, ins Spiel. Es soll dabei hier weniger um die Wechselspiele von Macht, Widerstand und Repräsentation gehen, wie sie etwa in der politischen Verwendung von Musik in Szene gesetzt werden; bei Demonstrationen, Staatsakten oder Feierlichkeiten wird Musik zwar in einem durchaus funktionellen Zusammenhang verwendet, indem sie als Trägermedium von Ideologien, Protest oder kommerziellen Interessen zum Einsatz kommen kann. Diesen Beispielen ist ein ereignishafter Charakter gemeinsam, der für gewöhnlich zeitlich und örtlich beschränkt bleibt.126 Vielmehr ermöglicht Musik auch territorialisierende Funktionen, um die es im Folgenden gehen soll und die sich historisch erst durch ihre technische Reproduzierbarkeit entfalten konnten. Territorialisierung entspricht in diesem Kontext einer akustischen Besetzung und Markierung des Raums, die mit einer Rhythmisierung der Zeit einhergeht und 125

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Also eine reale Kastration, die nichts mit dem psychoanalytischen Verständnis dieser Operation zu tun hat. Es handelt sich um die tatsächliche Verwandlung eines Körpers und nicht um eine Metapher. In diesem Zusammenhang muss auch die Straßenmusik genannt werden, die gerade in den westlichen Metropolen in verschiedenen Abstufungen geduldet wird und Gegenstand von Regularien ist – also weniger Akteurin als Objekt von Machttechniken. Eine Analyse der Straßenmusik findet sich bei B. LaBelle: Acoustic Territories, S. 1-39.

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in dieser Funktion eine Verbindung zu den von Foucault beschriebenen Disziplinierungstechniken unterhält. Diese Verbindung wird explizit in der Entstehungsgeschichte der funktionellen Musik. Sie ist in dem u.a. von Kittler und Goodman beschriebenen military-entertainment complex verwurzelt,127 jenem Knotenpunkt, in dem Technologie, Machttechniken, Gewalt, Ästhetik und Ökonomie Hybridformen produzieren, die das Alltagsleben der Gesellschaft durchdringen. George Owen Squier war während des Ersten Weltkriegs Chef des Nachrichtenkorps der U.S. Army. Als promovierter Physiker und Generalmajor a.D. interessierte er sich nach Kriegsende für alternative Nutzungsmöglichkeiten des Telefonnetzes. 1922 gründete er die Firma Wired Radio, für die er »sich ein Patent auf die Musikübertragung via Telefon- oder Stromleitungen sicherte«.128 Im Unterschied zu dem auf die private Sphäre zielenden Medium des Radios war Squier, dem Soziologen Lutz Neitzert zufolge, mehr an stark frequentierten und öffentlichen Räumen interessiert. Schallaufzeichnung und Telefonübertragung wurden von Squier zu einem neuen Medium verschmolzen, das in direkter Konkurrenz zu Radio und Jukebox stand. 1934, kurz vor seinem Tod, gab Squier der Firma den Namen ›Muzak Corporation‹, ein Neologismus, der sich aus ›Music‹ und ›Kodak‹ zusammensetzte, einem Konzern, den er bewunderte und dem es gelungen war, »aus High Tech ein alltagstaugliches Produkt zu machen«.129 Das Geschäftsmodell von Muzak, die Bereitstellung von vorprogrammierter Unterhaltungsmusik für Unternehmen (speziell für Fabriken und Büros, die modernen Nachfolger der von Foucault beschriebenen Einschließungsmilieus), sollte während des Zweiten Weltkriegs seinen kommerziellen Durchbruch erzielen. Unter neuer Geschäftsführung wurde eine einträgliche Kooperation mit der Waffenindustrie angestrebt. »BurrisMeyer […] erhielt vom US-Militär den Auftrag, die amerikanische Waffenproduktion akustisch anzukurbeln. Überall in den Rüstungsschmieden wurden in höchster Eile Musikanlagen eingebaut […] – und so kam es, dass die Arbeiter fortan ihre Panzer und Torpedos zu süßlichen Streicherklängen und dezentem Swing zusammenschweißten.«130 Die Prinzipien des Taylorismus und die Logik der Fließbandarbeit wurden von Muzak unter dem Gesichtspunkt der Effizienzsteigerung in das Auditive hineingetragen, wo sie eine Programmierung zeitlicher Abläufe und Stimmungsverläufe ermöglichen sollten. Dabei entstand eine spezifische Form von Musik, ein eigenes Genre, das von Neitzert so charakterisiert wird:

Vgl. S. Goodman: Sonic Warfare, S. 31-35; und F. Kittler: »Rock Musik, ein Mißbrauch von Heeresgerät«. 128 Neitzert, Lutz: »Muzak. Funktionelle Musik, Klangtapeten und Zwangsberieselung im öffentlichen Raum«, in: G. Paul/R. Schock (Hg.): Sound der Zeit, S. 187-194, hier S. 187. 129 Ebd. 130 Ebd., S. 188. 127

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»[I]nstrumentale Stücke (der Einsatz der menschlichen Stimme läuft dem erwünschten Zweck zuwider, weil sie die Aufmerksamkeit zu sehr auf sich zieht), mittlere Tempi, Verzicht auf schmetterndes Blech, virtuose Soli und Schlagzeugwirbel […]. Muzak perfektionierte das Ergebnis aufnahmetechnisch – etwa durch das Herausfiltern von Bässen und Höhen oder das Ausgleichen von Laut-LeiseUnterschieden. […] Auf die Kontrolle des Tempos und des Rhythmus richtete sich besondere Aufmerksamkeit. Wenn sich eine Wirkung von Musik auf den menschlichen Organismus eindeutig belegen lässt, dann die Übertragung der musikalischen auf die körperliche Motorik und hierdurch auf unsere Stimmung. […] ›Stimulus Progression‹ ist eine Wortschöpfung aus dem Muzak-Fachjargon. Nach diesem im Detail streng als Firmengeheimnis gehüteten Rezept orientiert man sich am menschlichen Biorhythmus, indem man im Tagesverlauf variierte 15-Minuten-Medleys aus jeweils zwei- bis dreiminütigen Einzeltiteln zusammenstellt, die unmerklich ihre Wirkung entfalten sollen […]. Die ›Stimulus Progression‹ ergänzte Muzak durch das Prinzip der ›Quantum Modulation‹. Durch sie soll sichergestellt werden, dass beim Übergang von Titel zu Titel stets eine einheitliche, klanglich homogene Atmosphäre erhalten bleibt.«131 Speziell in den USA sollte diese Form von Hintergrundmusik die Akustik von Produktion und Konsum über Jahrzehnte hinweg bestimmen, so sehr, dass Muzak und Hintergrundmusik im englischen Sprachraum bis heute synonym sind. Die Ubiquität von Muzak entwickelte sich mit der Zeit aber zu einem Krisensymptom – die Betonung des Individualismus im Zuge der neoliberalen Umstrukturierung der Ökonomie und damit der Arbeitswelt machte die akustische Uniformität der Produkte von Muzak zusehends obsolet. Goodman hat diesen Paradigmenwechsel als einen Effekt der Veränderung von Machttechnologien beschrieben: »Von Mitte der 1980er Jahre an verschob sich die Strategie der akustischen Intervention von Muzak und antwortete damit auf eine sensorisch bereits überladene Umwelt. In diesem Sinne liefert Muzak einen akustischen Mikrokosmos dessen, was Deleuze als den Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft beschrieben hat.«132 Die Charakteristika von Muzak lassen sich anhand der raumzeitlichen Metaphern, die von Foucault und Deleuze in den Beschreibungen der Disziplinarund Kontrollgesellschaften verwendet wurden, in die Topologie des auditiven Feldes einfügen. Die Stimulus Progression nimmt eine Rhythmisierung des Arbeitstags vor, die sich analog zu der von Foucault beschriebenen Festsetzung von Rhythmen durch die Disziplinarmacht mit ihrer sich immer feiner ausdifferenzierenden Aufteilung von Zeit-, Bewegungs- und Raumabschnitten verhält. Was Muzak in diese Anordnung einführte, ist zum einen das Element der dynamischen Taktung. Ein

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Ebd., S. 189. S. Goodman: Sonic Warfare, S. 144, a.d. Engl.: DW.

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Zeitabschnitt wird nicht durch eine bloße Abfolge von Signalen gegliedert, sondern durch Tempoveränderungen einer gleitenden Intensivierung des subjektiven Erlebens von Zeit unterzogen.133 Zum anderen nutzt diese Be- und Entschleunigung eine Form von Musik als ihr Medium, die als sanfte Unterhaltung wahrgenommen werden soll und nicht als drakonisches Mittel der Disziplinierung und Anpassung an einen vorgegebenen Arbeitsrhythmus. Außerhalb der Arbeitsplätze, der Fabriken und der traditionellen ›Einschließungsmilieus‹ fand Muzak als jene sprichwörtliche Fahrstuhl- oder Hintergrundmusik Verwendung, die ihre funktionale Wirkung als Ambiente und akustische Folie im Sinne von Erik Saties Musique d’ameublement 134 entfalten sollte. Die in den 1980er Jahren einsetzende Verschiebung in den Strategien der funktionalen Musik, von der Goodman schreibt, ergab sich nicht zuletzt aus einer Veränderung von Hörgewohnheiten und damit einhergehend einer abnehmenden Bereitschaft, die uniformen Produkte der Muzak Corporation in der intendierten Form des akustischen Hintergrunds wahrzunehmen – sie begannen sich in den Vordergrund zu drängen und als Störung aufgefasst zu werden.135 Zwar hat Muzak Goodman zufolge die allgemeine gesellschaftliche Eingebundenheit in eine ›ubiquitäre Soundkultur‹ vorweggenommen,136 sie musste aber gerade ihren Charakter des Seichten und Unaufdringlichen sowie den Eindruck der zentral gesteuerten akustischen Uniformität aufgeben, um in einer sich verändernden Medienlandschaft Bestand haben zu können. Die ästhetische Wende von Muzak bestand darin, die Grenze zwischen musikalischem Vorder- und Hintergrund aufzuheben und auf den allgemein verfügbaren Fundus populärer Musik zurückzugreifen. Das Alleinstellungsmerkmal der Firma bestand von nun an darin, auf die jeweiligen Kund*innen zugeschnittene Playlists zu vermarkten, die über die mehr oder weniger sorgfältige Auswahl von

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»Jedes 15-Minuten-Segment von Muzak enthält einen Stimulus, der den Eindruck verschafft, dass die Zeit verfliegt. Dies wirkt der Langeweile, der Monotonie und dem Überdruss entgegen.« Werbeslogan der Muzak Corporation aus den 1960er Jahren, zitiert nach R.M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 177. Vgl. hierzu D. Kahn: Noise, Water, Meat, S. 179. Muzak wurde in den 1970er Jahren zunehmend zu einem Kampfbegriff für die damalige ›Gegenkultur‹ der Industrial-, Noise- und Punkbands. Eine Bezugnahme findet sich etwa bei Throbbing Gristle, die auf dem Cover ihrer ersten LP verkündeten: »We also hope to continue our film work and to extend into a new area of preparing customized tapes of piped music for shops and factories […]« (Throbbing Gristle 1977). 1979 veröffentlichten sie eine als Industrial Muzac betitelte Kassette – eine ironische Geste, mit der, wäre sie jemals umgesetzt worden, eine paradoxe Tautologie des Auditiven realisiert worden wäre: Hintergrundmusik für eine Fabrik, die sich mimetisch an die Akustik der Fabrik angleicht. Auch die Einstürzenden Neubauten nahmen auf ihrer 1983 erschienenen LP Die Zeichnungen des Patienten O.T. in dem Stück Die genaue Zeit Bezug auf Muzak (»Alles wird Muzak / Alle werden gleich / Wie spät mag es sein? / Die Macht ist ein laufendes Tonband«). Vgl. S. Goodman: Sonic Warfare, S. 144, a.d. Engl.: DW.

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Genres, Interpret*innen und Songs den besonderen Charakter oder die Identität des jeweiligen Unternehmens, der Marke oder der Situation unterstreichen sollten. Diese Form des Audio Brandings soll ein Image, das akustische Bild einer ökonomischen Organisationseinheit, bilden und der ›Seele‹ des Unternehmens ihre musikalische Signatur liefern. Soweit Musik, wie aller Schall, als eine Vibration von Luftmolekülen definiert werden kann, lässt sich in dieser Operation das Simulakrum eines konkreten Atems des abstrakten Unternehmens vernehmen: ein Versuch, seine ›Psyche‹ ins Werk zu setzen.137 Hierin lässt sich eine der Eigenschaften von funktionaler Musik im Kontext der von Deleuze beschriebenen Kontrollgesellschaft erkennen. Kontrolle wird von Deleuze als eine Verfeinerung der disziplinartechnischen Rhythmisierung hin zu einer Modulation verstanden. Während eine Modulation in der Musik den Übergang von einer Tonart in eine andere beschreibt, wird der Begriff in der Nachrichtentechnik als die Aufprägung eines Signals auf ein anderes definiert. Ein niederfrequentes Nutzsignal, im Falle einer Radioübertragung Stimme oder Musik, moduliert ein hochfrequentes Trägersignal, das von einem Empfangsgerät wiederum demoduliert wird. Dieser Vorgang wird von Deleuze als Metapher für die Funktionsweise der Kontrolle verwendet, die einer »universellen Modulation« gleicht, welche die rigiden Taktungen der Disziplin durch ein flexibles Gleiten ersetzt. »Unternehmen, Weiterbildung, Dienstleistung sind metastabile und koexistierende Zustände ein und derselben Modulation.«138 Die foucaultsche Zeitrhythmik wird durch die Kontrolle zu einer Mikrotonalität der Frequenzen verfeinert. Während eine Rhythmisierung sich quantitativ im Bereich der zählbaren Zeit, d.h. innerhalb der Möglichkeiten einer direkten körperlichen Reaktion, bewegt (die physischen Auswirkungen eines Rhythmus, das eigene Schritttempo einem musikalischen Taktmaß anpassen etc.), sind Modulationen in einer Ordnung der Zeit enthalten, die als Klang oder Tonhöhe wahrgenommen wird. In Deleuzes Terminologie bringt die Modulation als Medium der Kontrolle ein bewegliches, flüssiges Element in die starren Strukturen der Disziplin, sie verändert den Aggregatzustand der Macht: »Die Einschließungen sind unterschiedliche Formen, Gußformen, die Kontrollen jedoch sind eine Modulation, sie gleichen einer sich selbst verformenden Gußform, die sich von einem Moment zum anderen verändert […].«139 Die Funktionen von Muzak als Hintergrundmusik, als ›Stimulus Progression‹ und ›Quantum Modulation‹ lassen sich als ein audioästhetisches Modell der hier

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So wie das altgriechische ψυχή (psychē), analog zum lateinischen anima oder spiritus, ursprünglich auf den Atem oder Hauch, also auf bewegte Luft verweist (vgl. »ψυχή«, in: Langenscheidt. Taschenwörterbuch Altgriechisch, S. 457; und »spiritus«, in: Langenscheidt. Taschenwörterbuch Latein, S. 491). G. Deleuze: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, S. 257. Ebd., S. 256.

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angestellten Überlegungen verstehen. Was Muzak liefern sollte, war ein umfassendes und klar geregeltes Frequenzspektrum, ein Kammerton der Effizienz, der während eines Arbeitstags den Ablauf der Tätigkeiten synchronisieren und auf eine affektive Stimmung beziehen sollte. In ihrer modernen Verwendung hat die funktionelle Musik diese uniformierende, auf die unmittelbare Tätigkeit zielende Funktion weitestgehend hinter sich gelassen. Sie zielt heute mehr auf die Stimmung von Orten, Plätzen, Umgebungen und abstrakten Einheiten wie Unternehmen und Marken; auf ihre akustische Identität und auf ein bestimmtes ›Hörbild‹, das mit ihnen verknüpft werden soll. Sie liefert ihre Ideophonie. 2011 wurde die Muzak Corporation von der Firma Mood Media aufgekauft, die den Markennamen 2013 fallen ließ. Das Unternehmen hat den Geschäftsbereich der funktionellen Musik um ein ›multisensorisches Branding‹ erweitert, das seinen Kund*innen u.a. »Scent Marketing« anbietet.140 Einer der Einsatzbereiche für die Produkte von Mood Media ist der Hamburger Hauptbahnhof. Hier wurde erstmals 2002 in einem Pilotprojekt klassische Musik über Außenlautsprecher abgespielt, seit 2014 ist dieses Programm durch elektronische Lounge-Musik ersetzt worden: »Die Intention lag anfänglich darin, die Flächen durch die Musik aufzuwerten und für die Reisenden das subjektiv empfundene Sicherheitsgefühl zu verstärken. Schnell bemerkte man einen weiteren Effekt: die Anzahl der Personengruppen, die sich dort niedergelassen und den Bahnhof zu ihrem alltäglichen Aufenthaltsort gemacht hatten, wurde schnell kleiner.«141 Der Rückgriff auf den ›euroklassischen‹ Kanon zur Beschallung öffentlicher Räume zeigt ein zwiespältiges Verhältnis sowohl zu der verwendeten Musik als auch zu den Personengruppen, die sich in der Öffentlichkeit aufhalten. Die Bild-Zeitung hat in einer Ausgabe von 2011 diesen Vorgang auf eine reduzierte und populistische Formel gebracht, die gerade in ihrer Falschheit die tiefere Wahrheit eines sadistischen Wunsches aufdeckt: »Bereits seit 1998 tönt an Hamburger Bahnhöfen klassische Musik. Sie soll Reisende entspannen und ungebetene Gäste vertreiben – die hohen Geigen-Töne empfinden Junkies als schmerzhaft. Doch diese Wirkung hat 140 Unternehmen haben nicht nur eine Psyche, sondern auch einen Duft. Über »Scent Marketing« ist der Website von Mood Media Folgendes zu entnehmen: »Heißen Sie Ihre Gäste mit dem einladenden Aroma frisch gebackener Kekse willkommen. Ziehen Sie Einkäufer mit frischem, sauberem Zitrusduft an. Beruhigen Sie Patienten mit einem Hauch Lavendel. Ganz egal was Ihr Geschäft und wer Ihr Publikum ist, Duft kann eine subtile, aber entscheidende Rolle dabei spielen, Wahrnehmungen zu verändern und Erlebnisse mit größtmöglicher Wirkung abzurunden. Setzen Sie Duftmarketing ein, um das Einkaufserlebnis zu optimieren und eine bleibende Bindung zu Ihren Kunden zu schaffen.« (Website von Mood Media, https://moodmedia.com.au/scent-solutions/, abgerufen 1.7.2020, a.d. Engl.: DW) 141 Hirsch, Wilbert: »Musik im öffentlichen Raum«, in: Rötter, Günther (Hg.): Handbuch Funktionale Musik, Wiesbaden: Springer 2017, S. 203-230, hier S. 214.

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sich abgenutzt.«142 In diesem Sinne könnte klassische Musik als eine direkte Form akustischer Gewalt aufgefasst werden, als eine Schmerz auslösende Waffe, die auf unerwünschte Personengruppen einwirkt. Diese Verknüpfung sagt zwar viel über ein sadistisches Potenzial gewisser Kreise, aber wenig über ein in dieser Form tatsächlich bestehendes Verhältnis zwischen Musik und Macht aus. Als Agens einer affektiven Mobilisierung ist Musik grundsätzlich in ein komplexes Netz von Relationen eingelassen – auch in ihrer als abschreckend intendierten Wirkung. Zu dem in Großbritannien seit Jahrzehnten üblichen Einsatz von Musik gegen ›herumlungernde Jugendliche‹ schreibt Thompson: »Der Einsatz von klassischer Musik als alltägliche akustische Waffe veranschaulicht die Verschränkung affektiver, diskursiver und semantischer Register: Ihre außermusikalischen Assoziationen und symbolischen Konnotationen (z.B. ›Schicklichkeit‹, ›Anstand‹ oder auch ›das Alte‹) sind sowohl ausschlaggebend für den Einsatz klassischer Musik zur audio-affektiven Abschreckung, wie sie von diesem ihrerseits wieder verstärkt werden. Dennoch sind affektive Zustände und körperliche Vermögen keine linearen Effekte von Apparaten und den Ideen und Intentionen, aus denen diese hervorgehen. […] Die Affektivität von Klang ist weder subjektiv noch objektiv, sondern kontextabhängig; sie entsteht in situ. Infolgedessen gibt es keine Garantie, dass diese Musik die beabsichtigten Affektionen bei jenen Körpern auslösen wird, auf die sie zielt – also Irritation und Unmut. Affekte übersteigen derartige Absichten.«143 Der Einsatz von Musik aus dem klassischen Kanon kann also nur bedingt und auf vermittelte Art die intendierte vertreibende Wirkung entfalten. Im Fall des Hamburger Hauptbahnhofs lassen sich andere Faktoren aufzählen, die zu einer Verlagerung etwa der Drogenszene geführt haben: Eröffnung von Beratungsstellen, verstärkte Polizeikontrollen, Präsenz von Sicherheitsdiensten etc. Der segregierende Effekt von Musik ist in diesem Fall mehr ein Phantasma als eine reale Wirkung. Aber gerade dieses Phantasma ist aufschlussreich, denn in ihm zeigt sich sowohl eine Audiologie als ein Diskurs, der über Musik geführt wird, als auch eine Ideophonie, die Musik zu einer Akteurin in einer das Öffentliche betreffenden Machtstruktur machen will. Es wird in diesem Fall eine Gegenüberstellung gesellschaftlicher Gruppen vorgenommen, die mit bestimmten Attributen versehen werden. Auf der einen Seite ein Bürgertum, dem eine Affinität zur Audioästhetik des klassischen Kanons unterstellt wird, auf den es mit ästhetischem Genuss und subjektiven Sicherheitsgefühlen reagieren soll, und auf der anderen Seite ein ›Pöbel‹, der 142 Gehrmann, Laura: »So empfängt Hamburg seine Gäste«, in: Bild, 14.6.2011, https://www. bild.de/regional/hamburg/alkoholmissbrauch/saeufer-schnorrer-obdachlose-hamburghauptbahnhof-empfang-gaeste-18353470.bild.html, abgerufen 1.7.2020. 143 M. Thompson: Beyond Unwanted Sound, S. 73, a.d. Engl.: DW.

6 Das Auditive: Politische Akustik

als an sich so störend und lärmend imaginiert wird, dass das Vorhandensein bürgerlicher Audioästhetiken ihm körperliches Unbehagen bereitet und als Befehl zur Räumung des Schauplatzes wahrgenommen wird. Der öffentliche Raum, in diesem Fall ein Bahnhof, lässt sich als ein Territorium lesen, auf dem sich verschiedene soziale Klassen zwangsläufig begegnen und das auf auditiver Ebene ein Austragungsort von Machtkämpfen ist. Ein Aspekt dieses Kampfes ist die Entscheidung darüber, was als Noise wahrgenommen wird. So wird entsprechend das Gegenteil der zentral gesteuerten funktionellen Musik, das Einbringen einer individuellen musikalischen Praxis in den öffentlichen Raum, reglementiert, als Lärmbelästigung wahrgenommen oder unterliegt Verboten. Eine auditive Unterteilung dieses Raums entlang der Grenze von Musik und sozialem Lärm würde sich analog zu der von Aristoteles vorgenommenen Aufteilung in vernünftig sprechende, am λογος (lógos) teilhabende Wesen und solche, die nur über die primitive Stimme der φωνή (phōnē)́ verfügen, verhalten. Ihrer funktionellen Verwendung nach fügt sich ›klassische‹ Musik in diese Logik ein, indem sie ein Phantasma der mit ihr verknüpften Werte (Schicklichkeit, Ordnung, Stabilität) liefert; ein musikalisches Ideologem, das in den öffentlichen Raum projiziert wird. Gegen dieses Verständnis von Musik hat Pierre Bourdieu in Die feinen Unterschiede polemisiert. In seinen Ausführungen über Musik als die am meisten vergeistigte aller Künste lässt sich das Ideologem ›der‹ Musik wiederentdecken – eine hochgradig spezifizierte Definition von audioästhetischer Praxis, die pars pro toto Musik schlechthin bezeichnen soll, wobei alles, was sich vom Zentrum ihres ästhetischen Regelwerks entfernt, zu einer Abweichung von der Norm erklärt wird: »Die Musik verkörpert die am meisten vergeistigte aller Geisteskünste, und die Liebe zur Musik ist sicherer Bürge für ›Vergeistigung‹. Denken wir in diesem Kontext nur an die ganze Lexik des ›Hörens‹ und die außergewöhnliche Geltung, die ihr heutzutage in den säkularisierten – etwa psychoanalytischen – Versionen der religiösen Sprache eingeräumt wird. Wie die unzähligen Variationen über ›die Seele der Musik‹ und ›die Musik der Seele‹ beredt bezeugen, steht die Musik in innigster Verbindung zur ›tiefsten Innerlichkeit‹ (›die innere Musik‹); so wie es im Grunde nur ›geistige‹ Konzerte gibt, so können Konzerte nur ›geistlich‹ sein … Der ›Musik gegenüber unempfänglich sein‹, stellt denn auch für eine bürgerliche Welt, die ihr Verhältnis zum ›Volk‹ nach dem Muster der Beziehung von Seele und Körper denkt, eine im höchsten Grad uneingestehbare Form von materialistischer Grobschlächtigkeit dar. […] Die Musik verkörpert die radikalste, die umfassendste Gestalt jener Verleugnung der Welt, zumal der gesellschaftlichen, welche das bürgerliche Ethos allen Kunstformen abverlangt.«144

144 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 41 f.

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Die bloße Tatsache, dass Musik zu einem Mittel der Besetzung eines akustischen Hintergrunds relegiert wurde, zeichnet die zeitliche Kluft nach, die zwischen der Abfassung von Bourdieus Studie in den 1970er Jahren und der mehr oder weniger aktuellen Situation des öffentlichen Raums liegt. Die ›der‹ Musik zugeschriebenen Werte sind nicht mehr so sehr Distinktionsmerkmale des Bürgertums, als dass sie Bausteine eines Sounddesigns geworden sind, dessen Markenbotschaft aus Sicherheitsdispositiven und der akustischen Aufwertung von Umgebungen besteht. Nicht zuletzt deshalb wurde die Beschallung des Hamburger Hauptbahnhofs mit klassischer Musik zugunsten von Lounge-Musik aus den Programmen von Mood Media abgelöst. Das Audio Branding einer gediegen-bürgerlichen Umgebung wurde durch das Image einer entspannten, aber geschmackvollen Urbanität ersetzt. Geblieben ist der Versuch, die öffentliche Sphäre durch eine auditive Territorialisierung zu kontrollieren. Wie im Fall des Sounddesigns als einer allgemeinen medialen Technik wird eine Botschaft unidirektional kommuniziert, mit dem Unterschied, dass sie nicht auf vielfältige Informationskanäle gestreut, sondern auf einen konkreten Platz konzentriert wird. Diese akustische Okkupation läuft auf eine paradigmatische Gegenüberstellung hinaus: die Opposition von Lärm und Musik, von Noise und Sound, von erwünschtem und unerwünschtem sozialem Verhalten und Status, von ökonomischer Vernunft und Elend. Noise kann in diesem Paradigma nur in seiner fest gefügten Definition als das negative Andere auftauchen, als Gegenstand von Verboten, Reglementierungen und Platzverweisen. Aber jedes Paradigma, jede Gegenüberstellung produziert zwangsläufig auch einen Abstand, und damit einen Zwischenraum, eine Spannung und eine Ambivalenz, in der Störung, Sicherheit, Noise und Musik ihre Plätze tauschen können. Ebenso wie die Delimitation zwischen Noise und Musik ein unabschließbarer Prozess ist, so sind auch die Übergänge zwischen Macht und Gewalt, zwischen Disziplin und Kontrolle zeitlich und räumlich nicht fest gezogen. Jede Macht kann, gerät sie in eine Krise, in Gewalt umschlagen. Jede Kontrolle bedarf einer vorangegangenen Disziplinierung, ähnlich wie sich die musikalische Modulation innerhalb des zeitlichen Gefüges von Tempo und Taktmaß entwickelt. Wie Foucault schreibt, ist »Macht […] der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt«.145 Die Idee einer zentralen Machtinstanz verfehlt die Komplexität dieser Situation, genauso wie die Musik als Begriff die komplexen Gefüge von audioästhetischen Praktiken verfehlt, die sie eigentlich unter sich subsumieren will. »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand«146 – und wo es ›Musik‹ gibt, gibt es ›Noise‹. Ebenso wie es die eine Definition von der Musik, aus der sich alle weitere audioästhetische Praxis ableiten ließe, nicht geben kann, ist die eine zentrale Definition von Noise nicht zu erreichen. Noise lässt sich weder auf eine akustische Form der 145 M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 114. 146 Ebd., S. 116.

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Gewalt reduzieren, noch geht es in einer Definition als Widerstand im Auditiven auf. Wenn Macht im Sinne Foucaults allgegenwärtig ist, dann produziert sie eine Vielzahl von Widerständen: »mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromißbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände, die nur im strategischen Feld der Machtbeziehungen existieren können«.147 Analog dazu sind vielfältige Formen von Noise denkbar, die aber nur Noise genannt werden können, soweit sie in Beziehung zu Musik gesetzt werden. Oder, genauer: Noise als Lärm und Störung kann die Wirkungen des Lärmens und Störens im Auditiven nur im Bezug auf eine bestimmte Audiologie und Ideophonie des Sozialen vernehmbar machen. Im auditiven Feld des Sozialen entfaltet sich ein Raum für Relationen zwischen Machtstrategien und Widerstandspotenzialen im Sinne Foucaults und den mannigfaltigen Praktiken des Auditiven. In diesem Raum lassen sich Knotenpunkte und Überkreuzungslinien verorten, die aus Metaphern gebildet sind und aus denen sich eine Topologie dieses Raums entwerfen lässt – etwa wenn das Ausmaß von soziopolitischen Konfliktpotenzialen in Begriffen der Spannung (Dissonanz) oder Harmonie (Konsonanz) gefasst wird, durch die Synonymität von Aufruhr und Lärm (sozialer Noise) oder durch die mehr oder weniger unbewusste Zuordnung bestimmter Audioästhetiken zu sozialen Gruppen und Klassen. In diesem Raum kommt es mehr auf die Intentionen und affektiven Wirkungen von Audioästhetiken an als auf die soziokulturellen und ästhetischen Attribute, die ihnen zugeschrieben werden. So kann Musik zu einer Waffe, einem Folterwerkzeug oder einem Mittel der Kontrolle werden, ebenso wie Noise den Platz von Musik einnehmen kann.

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7 Grenzen des Hörens »Das Asoziale der Kunst ist die bestimmte Negation der bestimmten Gesellschaft.«1 Theodor W. Adorno

Die Auseinandersetzung mit Noise tendiert zur Unabschließbarkeit, sie lässt sich nicht auf den Punkt bringen. Das semantische Netz, aus dem sich die Pluralität des Noise-Begriffs knüpft, verschlingt sich zu immer neuen Knotenpunkten, die keinen Schlusspunkt bilden, sondern neue Denkansätze produzieren. Dementsprechend kann diese Arbeit zu keinem bündigen Schluss kommen, die Grenzen des Hörens lassen sich nicht zu einem eindeutigen Ende bringen. Ein stimmiges Fazit oder schlüssiges Resümee kann unter diesen Umständen nur scheitern, würde es doch zu nichts anderem führen, als dass die bereits entwickelten Definitionen noch einmal von veränderten Prämissen aus angegangen werden müssten. Die ontologische Willkür, die in Noise als Konzept angelegt ist, ermöglicht Verweise und Verbindungen zwischen Einzeldisziplinen, die ein tendenziell unabschließbares Wuchern von Definitionen ergeben: ein Geräusch, das ein Musikstück stört, welches sich als Störung einer ästhetischen Information begreifen lässt, das in einem sozialen Kontext als Lärm abgetan und in einem anderen als Noise goutiert wird etc. Auch die in diesem Text erarbeiteten Definitionen können in anderen Konstellationen miteinander verknüpft werden, was andere Deutungsmöglichkeiten sowie abweichende Bestimmungen ergeben und damit neue Perspektiven eröffnen würde. Das terminologische inter-, das diesen Text als Leitfaden durchzogen hat, sperrt sich gegen seine Abschließung. Vielmehr provoziert Noise thematische Öffnungen, Querverweise und Verbindungen; es lässt sich weniger zu einem konzisen Ende führen, als dass die Auseinandersetzung notgedrungen einfach abbrechen muss: Ein Schluss suggeriert eine Eindeutigkeit, zu der das Thema endlich gebracht wurde, während ein offenes Ende den Ambivalenzen und Ambiguitäten von Noise die Möglichkeit bietet, einen Nachhall über die Seiten des Texts hinaus zu entfalten. Das letzte Kapitel dieser Arbeit, als eine Art abschließende Öffnung oder geöffneter Abschluss, wirft die Frage auf, wie sich Noise als audioästhetische Praxis in den Wechselwirkungen von Musik und Macht verorten lässt: Wie fügt es sich als 1

T.W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 335.

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Genre in das auditive Feld des Sozialen, welche metaphorischen Wirkungen entfaltet es dort? Widerstrebt es seiner Verortung oder besetzt es sein eigenes Areal? Im Anschluss an die Überlegungen dazu, welche Rollen Musik als audioästhetische Praxis und Noise als ein differenzielles Geflecht von Konzepten in den Feldern des Sozialen und Politischen spielen, kehrt sich die Richtung der Frage um: Welche Aussagen können ausgehend von Noise als einer audioästhetischen Praxis über das Soziale und das Politische getätigt werden? Die Annäherung von Ästhetik und Politik produziert Widersprüche und Antagonismen und in ihrem Gefolge Unschärfen und Übergänge.2 Es soll in diesem Kapitel weniger der Versuch unternommen werden, Noise und Politik einander anzunähern oder Schnittmengen von Ästhetik und Politik aufzuzeigen, als beide Konzepte einander gegenüberzustellen, um einen Raum zu öffnen, in dem sie aufeinander verweisen können. Diese Relation entwickelt sich im Modus der uneindeutigen Übertragung, sie produziert ambivalente Bilder. Diese bleiben uneindeutig in dem Sinne, dass sie nicht strikt dem einen oder dem anderen Bereich zugeordnet werden können, zugleich aber können diese Relationen etwas Neues produzieren: »Metaphern [sind] nicht ›Ausdruck‹ der Ideen […], sie sind die Ideen.«3 Als musikalisches Genre spielt Noise eine marginale Rolle in der kulturellen Aufmerksamkeitsökonomie. Der Konsum von Noise-als-Musik ist Sache einer Minderheit, im Kontext populärer Musik bleibt es eine weitestgehend inkommensurable Position. Aus der Marginalität von Noise entstehen jedoch eigene Gemeinschaften oder Subkulturen, eine Community, die sich aus international und digital vernetzten lokalen Akteur*innen und Mikroszenen zusammensetzt. Diese Netzwerke trennen sich wiederum entlang der unscharfen Grenzverläufe verschiedener Subgenres, deren ästhetische Parameter aus Noise hervorgegangen sind oder sich darauf beziehen. Eine der randständigen Positionen innerhalb dieser ohnehin marginalen Sphäre bildet das Subgenre Harsh Noise Wall (HNW), jene Sackgasse der Audioästhetik, in der die Parameter des Musikalischen auf ihren entropischen Nullpunkt reduziert zu sein scheinen.4 Obwohl HNW selbst über keine einheitliche Genre-Ideologie verfügt und seine Protagonist*innen

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Bei Rancière trägt diese Unschärfe den Namen ›Ethik‹ bzw. den der »ethischen Wende« in der Kunst. In Das Unbehagen in der Ästhetik ist zu lesen: »Aus der ethischen Konfiguration von heute herauszukommen, den Erfindungen der Politik und denen der Kunst ihre Unterschiedlichkeit wiedergeben, das bedeutet heute auch das Phantasma ihrer Reinheit abzulehnen, diesen Erfindungen ihren Charakter von immer zweideutigen, vorläufigen und strittigen Einschnitten zurückzugeben.« (Rancière, Jacques: Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien: Passagen 2008, S. 151) L. Otis: The Metaphoric Circuit, S. 21, a.d. Engl.: DW. – Vgl. diese Arbeit, S. 111-112. Vgl. diese Arbeit, S. 39 f.

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durchaus unterscheidbare ästhetische Ansätze verfolgen,5 lassen sich die Reduktion des Auditiven auf bloßes Rauschen und eine spezifische Negativitätsästhetik als seine verbindenden Merkmale angeben. Clive Henry hat diese Negativität als eine Ästhetik des »Unmenschlichen« beschrieben: »Es ist ein Genre voller Nicht und Nein. ›Keine Dynamik, keine Veränderung, keine Entwicklung, keine Ideen‹, durch einen verstärkten Rauschgenerator geleitet – ›nichts‹ an und für sich. Ich habe es oft als verstärkte ›Stille‹ verstanden. Es ist Noise als strikte Verweigerung, als Barriere. HNWs Verwendung des ›Nichts‹ [verweist auf] Bedeutungslosigkeit, Nihilismus, Resignation und Vergeblichkeit […].«6 Ein Protagonist dieses Genres ist der Franzose Romain Perrot. Mit seinem Projekt Vomir gehört er seit 2006 zu dessen vergleichsweise prominenten Vertreter*innen, d.h., er wird auch außerhalb einschlägiger Szenezusammenhänge rezipiert.7 Auf Perrot geht der von Henry leicht abgewandelt wiedergegebene Slogan No Change, No Development, No Ideas, No Remorse zurück. 2006 veröffentlichte er auf seiner Website das Manifeste du Mur Bruitiste, in dem das ästhetisch-politische Projekt von Vomir dargelegt wird.8 In einer an die Avantgarden des 20. Jahrhunderts angelehnten Prosa beschreibt Perrot seine ästhetische Praxis als eine radikale Abkehr vom Sozialen und von der Kommunikation: »Harsh Noise Wall verspricht nicht, der gelebten Existenz Sinn und Werte zurückzugeben. Der undurchdringliche, triste und anhaltende Lärm erlaubt eine totale phänomenologische Reduktion, ein Mittel gegen die existenzielle Verstrickung: unbeteiligt in der reinen und ungetrübten bestialischen Beschwichtigung.«9 Der beschwichtigte Zustand, von dem hier die Rede ist, sollte nicht mit einem Gefühl der Entspannung verwechselt werden. Die »existenzielle Verstrickung« in verzerrtem Rauschen zu ertränken, löst die Spannungen der Existenz nicht auf, HNW arbeitet auf keine ›therapeutische‹ Funktion hin. Der angestrebte Zustand lässt sich mit dem vergleichen, worauf Sigmund Freuds spekulatives Konzept des Todestriebs abzielt: Demnach lässt sich dieser Trieb als

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Dies tun sie allerdings mit mehr Einschränkungen als andere Genres. Clive Henry schreibt zu dieser Frage: »Entweder etwas ist HNW oder nicht (darin unterscheidet es sich von den meisten anderen Genres, in denen z.B. eine Rockband mit Discoelementen spielen kann, aber immer noch als Rockband angesehen wird).« (C. Henry: »Listening to the Void«, S. 139, a.d. Engl.: DW) Ebd., S. 154, a.d. Engl.: DW. Vgl. etwa das Interview in dem Magazin The Quietus: Williams, Russell: »Anti-Musicality. An Interview with Romain Perrot of VOMIR«, in: The Quietus, 20.8.2014, https://thequietus.com/ articles/16050-romain-perrot-vomir-interview-harsh-noise-wall, abgerufen 1.7.2020. Das Manifest ist zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Buches nicht mehr auf Perrots Website abrufbar, ein PDF des Texts findet sich online unter: http://www.artwiki.fr/files/HarshNoi se/Manifeste_du_Mur_Bruitiste_20150506173243_20150506173243.pdf_, abgerufen 1.7.2020. Ebd., a.d. Frz.: Ruth May.

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eine Art Sehnsucht des Organischen verstehen, in einen unbelebten Zustand zurückzukehren. Der primordiale Beginn des Lebens bewirkt für Freud einen Riss, eine zuvor nicht existente Spannung, die auf ihren Ausgleich zutreibt. Evolutionsgeschichtlich erste Organismen hätten »das Sterben noch leicht gehabt«,10 wobei ein beständiges Oszillieren zwischen belebten und unbelebten Zuständen denkbar sei.11 Der ›konservative‹ Trieb aber strebt einen Zustand der minimalen Spannung an und verhält sich so antagonistisch zu den Lebenstrieben, er befindet sich »[j]enseits des Lustprinzips«. Freuds Konzept, bis heute ein umstrittenes Thema in der psychoanalytischen Literatur, lässt sich als eine Form von entropischem Rauschen fassen: Der Übergang von organischer zu anorganischer Materie folgt dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Im entropischen Zerfall wird ein Rauschen freigesetzt, welches das Erliegen des Energieflusses vernehmbar macht, ein unartikuliertes und chaotisches Geräusch.12 Es ist dieses Rauschen als eine »ungetrübte bestialische Beschwichtigung«, eine paradoxe Sphäre der Spannungslosigkeit innerhalb des Sozialen, an die HNW sich nach Perrot mimetisch angleichen will: »Harsh Noise Wall verbreitet seine okkulten Tugenden durch das Dröhnen und Summen seiner hermetischen Formeln, zersetzend und zur unwiderruflichen Auflösung aufrufend.«13 Der Tod fungiert in diesem Kontext als Metapher für eine asoziale Spannungslosigkeit, denn das Soziale und insbesondere das Politische lassen sich als Gefüge lesen, die vor allem aus Spannungen geknüpft sind.14 Das von HNW angestrebte entropische Rauschen ist jedoch nicht eindeutig. Es bleibt eine Analogie, es kann als Sinnbild der Entropie nur im Vergleich zu geordneten, klar strukturierten musikalischen Prozessen dienen. Doch unausweichlich produzieren diese Metaphern und Uneindeutigkeiten 10 11

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Freud, Sigmund: »Jenseits des Lustprinzips«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. XIII, London: Imago Publishing 1940, S. 38. »Eine lange Zeit hindurch mag so die lebende Substanz immer wieder neu geschaffen worden und leicht gestorben sein, bis sich maßgebende äußere Einflüsse so änderten, daß sie die noch überlebende Substanz zu immer größeren Ablenkungen vom ursprünglichen Lebensweg und zu immer komplizierteren Umwegen bis zur Erreichung des Todeszieles nötigten. Diese Umwege zum Tode, von den konservativen Trieben getreulich festgehalten, böten uns heute das Bild der Lebenserscheinungen.« (Ebd.) Die Beziehung zwischen Todestrieb und Entropie wurde von Jean Baudrillard in Der symbolische Tausch und der Tod herausgestellt: »[Der Todestrieb] löst die Zusammenhänge auf, entbindet die Energien und zerstört den organischen Verlauf des Eros, um die Dinge zum Anorganischen, Ungebundenen und in gewisser Weise zum Utopischen zurückzuführen, im Gegensatz zu den artikulierten und konstruktiven Topiken des Eros. Entropie des Todes, Negentropie des Eros.« (Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, Berlin: Matthes & Seitz 2011, S. 271) R. Perrot: Manifeste du Mur Bruitiste, a.d. Frz.: Ruth May. Allerdings können diese Spannungen sich zu so komplexen Ensembles verschlingen, dass sie wie ein Rauschen erscheinen. Hier ist der Ekel von Schafer et al. vor dem ›sozialen Lärm‹ zu verorten: eine unklare Situation mit zu vielen Auswahlmöglichkeiten.

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die eindeutige und positive Existenz einer audioästhetischen Praxis, mit der sich die Idee eines entropischen und todesartigen Rauschens überhaupt erst artikulieren lässt. In Perrots Manifest wird eine Zone der Unbestimmtheit behauptet, in der metaphorische Todessehnsucht und zurückgezogenes Desinteresse aufeinander verweisen: »Harsh Noise Wall, die Dunkelheit eines spirituellen Martyriums, ist die Nichtopposition zwischen dem Sein und dem Nichts, ein Wiegenlied ohne Ende.«15 Die auf das Soziale bezogenen Gesten und Bewegungen, die in diesem Text proklamiert werden, kennen nur eine Richtung: den Rückzug, die Zurückweisung und die Ablehnung: »Harsh Noise Wall ist die Zurückweisung des Sozialen. Es lehnt jede Vorstellung von Gruppe, Gemeinschaft und Organisation ab und akzeptiert die Alternative postmoderner Zurückgezogenheit, des Hikikomori*. Die Verweigerung liegt in der Abschottung, denn jede Handlung ist […] unbrauchbar geworden. Ein Aktionismus des Zerfalls kann der künstlichen Wiederverwertung, der Prostitution, in unserer abdriftenden Gesellschaft nicht standhalten. […] Alle Dinge und alles Sein verlieren zunehmend ihre Bedeutung.«16 Soweit ›Musik‹ in irgendeiner Weise als ein Echo von sozialen Formen verstanden werden kann und soweit ihre ästhetischen Anordnungen in einer analogischen Spiegelbeziehung zu sozialen Ordnungen stehen, kann das Manifest für sich beanspruchen, die Ästhetik von HNW implizit in Relation zu anderer Musik zu beschreiben und damit eine soziopolitische Position zu beziehen. Innerhalb des zitierten Texts tut sich jedoch ein Widerspruch zwischen der Verweigerung von Kommunikation auf der einen Seite und der Abfassung eines Manifests als kommunikativem Akt auf der anderen auf. Wird der Versuch unternommen, diese Haltung aus den Noise-Veröffentlichungen von Vomir herauszuhören, kann sich dieser Widerspruch nur vertiefen. Als wäre er ein unfreiwilliger Stichwortgeber für HNW avant la lettre gewesen, hat Theodor W. Adorno in seiner unvollendet gebliebenen Ästhetischen Theorie den immanenten Widerspruch ästhetischer Negativität in einer hegelschen Terminologie herausgearbeitet: »In ihrer Spannung zur permanenten Katastrophe ist die Negativität der Kunst, ihre Methexis am Finsteren mitgesetzt. Kein daseiendes, erscheinendes Kunstwerk ist des Nichtseienden positiv mächtig. […] Das Nichtseiende in den Kunstwerken ist eine Konstellation von Seiendem.«17 Die Teilhabe sowohl an dem als finster gesetzten Nichts als auch das Faktum der unüberwindlichen, nicht reduzierbaren eigenen Existenz sind die irreduzible Spannung,

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R. Perrot: Manifeste du Mur Bruitiste, a.d. Frz.: Ruth May. Ebd., a.d. Frz.: Ruth May. – * Zur Bedeutung von Hikikomori vgl. diese Arbeit, S. 32 f. T.W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 204.

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die sich in Perrots Manifest genauso wie in den Werken der verschiedenen HNWKünstler*innen auftut. Ihre Grundvoraussetzung ist die Lebendigkeit von Produzent*innen und Konsument*innen. Darüber hinaus dringen sie als Werke in die Ohren der Zuhörer*innen, und um das tun zu können, müssen sie in einer Warenform erscheinen, also Teile einer Gesellschaft werden, in der kapitalistische Produktionsbedingungen herrschen (allerdings als Waren, die sich von ihrer eigenen Form distanzieren). Auch HNW hat keine andere Möglichkeit der Veröffentlichung als Musik im Allgemeinen, ob es sich dabei nun um LPs, CDs, Audiokassetten oder digitale Downloads handelt. Selbst wenn diese Formate verschenkt werden, bleiben sie in die Netzwerke der herrschenden Produktionsbedingungen eingelassen. Die musikalische Form zeigt jedoch ein distanziertes Verhältnis zur eigenen Warenförmigkeit, insofern sie den ›Gebrauchswert‹ von Musik unterläuft: mehr oder weniger ausgedehnte Passagen von sich gleich bleibendem verzerrtem Rauschen, das aller musikalischen Qualitäten entsagt, ein auditives Äquivalent von unproduktivem Überschuss, Abfall und Schmutz, das als Waren und künstlerische Werke in einem ironischen Verhältnis zu sich selbst steht.18 Im Vergleich zu anderer Musik lässt sich wenig damit anfangen, als Tanz- oder Unterhaltungsmusik etwa weist es nicht den geringsten Gebrauchswert auf. Dennoch drängt sich der Eindruck auf, HNW würde ein aus der Zeit gefallenes Versprechen von Kunst einlösen: das Beharren auf einer ästhetischen Selbstgesetzlichkeit, die den gesellschaftlichen Verhältnissen unversöhnlich gegenübersteht. Die von Adorno Ende der 1960er Jahre getätigten Ausführungen zur Autonomie abstrakter Kunst lesen sich wie Rezensionen bzw. wie das philosophische Minimalprogramm einer beliebigen HNWVeröffentlichung: »Um inmitten des Äußersten und Finstersten der Realität zu bestehen, müssen die Kunstwerke, die nicht als Zuspruch sich verkaufen wollen, jenem sich gleichmachen. Radikale Kunst heute heißt soviel wie finstere, von der Grundfarbe schwarz. Viel zeitgenössische Produktion disqualifiziert sich dadurch, daß sie davon keine Notiz nimmt, etwa kindlich der Farbe sich freut. Das Ideal des Schwarzen ist inhaltlich einer der tiefsten Impulse von Abstraktion. […] Kunst verklagt die überflüssige Armut durch die freiwillige eigene; aber sie verklagt auch die Askese und kann sie nicht simpel als Norm aufrichten. In der Verarmung der Mittel, welche das Ideal der Schwärze, wenn nicht jeder Sachlichkeit mit sich führt, verarmt auch 18

Aber auch HNW produziert seine eigenen Distinktionsgewinne und Fetischismen – einen kulturellen Gebrauchswert und einen monetären Tauschwert, über die sich Konsument*innen des Genres versichern können, Connaisseurs und Connaisseusen extremer Außenseiterpositionen zu sein. Die limitierten Auflagen von HNW-Veröffentlichungen ergeben einen Tauschwert zu Sammlerkonditionen. Die 2007 von Vomir veröffentlichte CD-Box Claustration erzielt auf dem Portal Discogs – Stand 1.7.2020 – einen Höchstpreis von 87,- Euro (vgl. https://www.discogs.com/Vomir-Claustration/release/1305991).

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das Gedichtete, Gemalte, Komponierte; die fortgeschrittensten Künste innervieren das am Rande des Verstummens.«19 Dieses Zitat ist aus seinem Zusammenhang gerissen, es handelt sich um eine Entwendung. Die Genese von Noise-als-Genre war zu Adornos Lebzeiten kaum vorhersehbar und unter Berücksichtigung seiner Äußerungen zur populären Musik seiner Zeit ist anzunehmen, dass er HNW in die Nähe des Barbarischen gerückt hätte. Der Rand des Verstummens aber, die Verarmung der Mittel und das Ideal der Schwärze haben sich in HNW zu einer fast greifbaren Barriere verdichtet, zu einem dead end der audioästhetischen Entwicklung. Die Figur der Sackgasse impliziert einen Stillstand, ein Anhalten von Entwicklung oder linearem Voranschreiten und damit ein besonderes Verhältnis zu der verstreichenden Zeit. Eine Eigenschaft, durch die sich HNW von Musik als einer Anordnung auditiver Ereignisse in der Zeit (und damit einer Organisation, Taktung und Gestaltung von Zeit) unterscheidet, ist sein Verhältnis zu ihrem Vergehen. Die spezifische Chronologie, die sich in den Veröffentlichungen von Vomir entfaltet, hat Hegarty so charakterisiert: »Vomirs Zusammenballung von Noise wälzt [ihr Material] endlos um und erreicht niemals einen Moment, in dem sie verweilen kann. […] Diese inhaltslose Zeit wird durch die leeren und entleerenden Sättigungen von Noise als dasjenige herausgestellt, was immer schon die Bedingung von Musik war. Nicht, dass das irgendetwas ändern oder heilen würde. Noise hat uns nicht zur Zeit gebracht, zu einem bestimmten Zeitpunkt oder außerhalb der Zeit. Dies ist tatsächlich Zeit als Zurückweisung von ›In-der-Zeit-Sein‹, Noise wird zu Zeit, die den oder die Zuhörer*in erstickt […].«20 Wenn Entropie im Sinne der Thermodynamik dasjenige ist, was der Zeit ihre Richtung gibt, indem sie dieselbe auf einen Nullpunkt der Bewegungslosigkeit und des absoluten Ausgleichs von Potenzialen zusteuern lässt, dann lässt sich die ›erstickende‹ Qualität von HNW aus einem metaphorischen Anschmiegen an diesen Zustand erklären: Indem das Rauschen in den Vordergrund gestellt wird, müssen die Spannungen und Bewegungen, die das Musikalische ausmachen, zum Absterben gebracht werden. HNW emanzipiert das Rauschen bis zu dem Punkt, an dem es Autonomie erlangt. Die Geräusche als Bestandteile eines Noise-Stücks streifen ihre mimetische Wirkung ab, sie erscheinen nicht mehr als Geräusche von irgendetwas, werden unbenennbar und lassen sich nicht auf externe Faktoren beziehen. HNW taugt nicht

19 20

T.W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 65 f. P. Hegarty: »A Chronic Condition. Noise and Time«, S. 25, a.d. Engl.: DW.

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als Metapher für lärmhafte Umgebungsgeräusche, da es auf nichts verweist. In diesem Sinne verhält es sich analog zu dem, was Jean-Luc Nancy über Musik schreibt: »[Musik lässt die] Geräusche klingen und Sinn machen, aber nicht mehr als Geräusche von etwas, sondern in ihrem eigenen Klingen.«21 Allerdings vollzieht sich diese Sinngebung nach anderen Gesetzmäßigkeiten als im Musikalischen. HNW bringt weniger »den Lärm zum Schweigen und interpretiert zugleich die Geräusche«,22 als dass es das Geräusch über sich hinauswachsen und total werden lässt. Es bewegt sich an der Grenze, die vom Begriff der ›Klangfarbe‹ gezogen wird – als weißes Rauschen würde es die Geräusche ihr Timbre abstreifen und in einen Zustand der akustischen ›Farblosigkeit‹ übergehen lassen, aber es verharrt an dieser Grenze, indem die tiefen Frequenzen betont und verzerrt werden, indem ihnen eine spezifische und dunkle ›Plastizität‹ verliehen wird. Noise-Stücke von Vomir und anderen HNW-Künstler*innen bilden eine der Grenzen des musikalisch Möglichen – eine Richtung, in der es keine weitere Entwicklung geben kann. Es gibt keine Möglichkeit, dieses Extrem des Auditiven weiter zu steigern, von hier aus lassen sich nur Fluchtlinien in andere ästhetische Gebiete ziehen. HNW errichtet eine Grenze der ästhetischen Möglichkeiten, eine Schallmauer, an der zwar Wege vorbeiführen, aber keiner über sie hinaus. Bewegung findet nur in der Mikrostruktur des Materials statt, während die Stücke selbst zu monolithischen Blöcken wachsen, deren zeitliche Dauer allein durch die Spiellänge des jeweiligen Trägermediums festgelegt wird. Der Höreindruck lässt sich mit der Betrachtung von Bildrauschen oder der einer weißen Wand vergleichen, die in ihrer Ganzheit als fester Block erscheint, in deren Mikrostruktur sich aber wechselnde Muster erkennen lassen.23 Diese Muster sind nicht real vorhanden, sondern entstehen auf neuronaler Ebene, sobald das Objekt der Wahrnehmung eine ausreichende Monotonie erreicht hat. Der Höreindruck eines HNW-Stücks bringt in gewisser Hinsicht die Arbeit des eigenen Nervensystems ins Bewusstsein und unterhält damit eine Verwandtschaftsbeziehung zu John Cages Erfahrung in dem schalltoten Raum der Harvard University (allerdings ohne den pädagogischen Impetus oder das Interesse an der akustischen Umgebung von 4ʹ33″ zu teilen). Die mikrophysikalischen Qualitäten von HNW machen es unmöglich, demselben Stück zweimal den gleichen Höreindruck abzugewinnen, erschweren aber zugleich die Möglichkeit, einen Zustand des Lauschens oder aktiven Zuhörens überhaupt zu erreichen, da die Makrostruktur keine Proportionen oder Qualitäten des Musikalischen, sondern nur Quantität kennt. Diese Struktur verunmöglicht zugleich jene Metaphorik des Musikalischen, die sich visueller

21 22 23

J.-L. Nancy: Zum Gehör, S. 42. Ebd. In dieser Monochromie begegnen sich das ›Weiße‹ und das ›Schwarze‹ des Klangs, beide Ausdruck einer radikalen akustischen Farblosigkeit.

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oder räumlicher Übertragungen bedient. HNW ist in keiner Weise räumlich, da der Raum maximal ausgefüllt wird und keinen Platz für Bewegungen, Interaktionen oder Entwicklungen eines ›musikalischen Materials‹ lässt. Ins visuelle Register übertragen entspricht es weniger dem Dunklen als einem entropischen Rauschen, einer Gleichverteilung von Licht und Finsternis. Aber trotz der Antimusikalität von HNW, die von Konsonanz und Dissonanz, Metrik, Tempo oder Bewegung nichts wissen will, bleibt ein Parameter des Musikalischen bestimmend: die Klangfarbe, das Timbre oder der Sound als eine Textur, als eine unüberschreitbare Grenze der auditiven Ästhetik, die sich mit den etablierten Metaphern des Musikalischen aber nicht fassen lässt. Als ästhetisches Erleben in einer konkreten sozialen Situation – etwa der eines Konzerts – eröffnet HNW ein paradoxes Feld von Grenzziehungen und -überschreitungen, in dem Transgressionen, Ingressionen und Delimitationen zwischen Individuen und Schallereignissen ineinander übergehen. Noise füllt den Raum und schafft ein besonderes Verhältnis zu den Abständen, die sich darin auftun: ein Raum, in dem Personen durch ihre Anwesenheit aufeinander bezogen sind, in dem sich für einen Moment sogar eine spezifische Form von Gemeinschaft ankündigen kann, in dessen Grenzen sich aber kein tonales Zentrum, kein fokaler Bezugspunkt und keine Gravitationskraft einer rhythmischen Ordnung bildet. HNW füllt den Raum, aber als eine ›Negativität‹ – es bildet keinen Stoff, der die Individuen oder Singularitäten aneinander binden würde. Es entsteht keine Gemeinschaft, die sich auf einen Rhythmus als strukturierendes Element beziehen könnte. Es ergibt sich ein gemeinsames Erleben, das aber in sich differiert, weil jedes Individuum sein eigenes Zentrum und seine eigene Rhythmisierung in die ästhetische Erfahrung hineinträgt. Die paradoxe Organisation der Wahrnehmung, die sich in dieser Situation entfaltet, betont den Abstand und die Differenz, gerade indem sie die Zwischenräume besetzt. Sie bringt dasjenige ins Spiel, was Nancy in singulär plural sein über das ›Zwischen‹ geschrieben hat: »Alles spielt sich also unter bzw. zwischen uns [entre nous] ab: dieses ›Zwischen‹ hat, wie sein Name es andeutet, weder eine eigene Konsistenz noch Kontinuität. Es führt nicht von einem zum anderen, es bildet keinen Stoff, keinen Zement, keine Brücke. Vielleicht ist es noch nicht einmal richtig, von einem ›Band‹ zu sprechen: Es ist weder gebunden noch ungebunden, es ist diesseits von beidem […]. Das ›Zwischen‹ ist die Distanzierung und die Distanz, die vom Singulären als solchem eröffnet wird, und eine Art Verräumlichung seines Sinns. Was nicht die Distanz des ›Zwischen‹ hält, ist nichts als in sich verschmolzene Immanenz und sinnentleert.«24

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J.-L. Nancy: singulär plural sein, S. 25.

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Häufig genug dient Musik dazu, Räume zu markieren, zu besetzen oder Gemeinschaftsidentitäten zu zementieren.25 Welche Idee des ›Zwischen‹ (und damit des ›Mit‹) im Sinne Nancys ließe sich auf die hypothetische Situation eines NoiseKonzerts beziehen? Ein paradoxes Moment, innerhalb dessen sich eine Ununterscheidbarkeit von Kontinuität und Distanz im Dazwischen auftut. In dieser Situation wird ein Schallereignis aktiv hergestellt und eine Anzahl Personen hat sich an einem Ort versammelt, um diesem Akt zu lauschen. Da jeglicher Rhythmus fehlt, gibt es keine Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Bewegung; es gibt keinen Text, der mitgesungen werden, und keine Melodieführung, der gefolgt werden könnte. Die Darbietung ist so laut, dass sie einen verbalen Austausch zwischen den anwesenden Personen unmöglich macht. Dennoch befinden sich alle zur gleichen Zeit am gleichen Ort und teilen dieselbe Hörerfahrung. Soweit sich manche von ihnen zu dem Rauschen bewegen, findet dies in einem jeweils singulären Tempo statt, ohne eine rhythmische Synchronisation. Der verschwindend geringe, aber dennoch irreduzible Sinn dieser Situation liegt jenseits von individueller Identität und kollektiver Gemeinschaft. Diese Situation öffnet sich für einen Moment zu einer Zone kommunikativer Unbestimmtheit, die sich weder zu einem ozeanischen Nirwana auftut noch zu einem triebhaften Ausagieren strebt. Für die Dauer des Konzerts entsteht eine Intensität, die weder kathartisch noch euphorisch ist, die nichts weiter produziert als ihr eigenes Andauern. Es bleibt in der Schwebe, ob hier etwas genossen oder ertragen wird. Als Hörerfahrung geschieht zugleich gar nichts und unendlich vieles. Die zuhörenden Personen sind abwesend-anwesend, gemeinsam vereinzelt innerhalb einer Differenz zwischen Distanz und Intensität, sie bewegen sich in einem mit Rauschen gefüllten Zwischenraum, gemeinsam für sich. Es ist die sinnlose und in sich verschmolzene akustische Immanenz des Rauschens, die es für einen Moment ermöglicht, des ›Dazwischen‹ gewahr zu werden, gerade indem sie den Raum so weit füllt, dass die Abstände deutlicher hervortreten. Akustisch weckt HNW Assoziationen einer Barriere, und der Ort dieser Wand ist das ›Zwischen‹ – allerdings nicht als Bindemittel oder Zement, sondern als ein ›Etwas‹, eine flüchtige ›Atmosphäre‹, die für einen Moment den für ein Mit-Sein notwendigen Abstand erfahrbar machen kann. Die von Perrot beschworene Zurückgezogenheit offenbart eine Öffnung zum Anderen in ihrem Zentrum, die einen Ausdruck im auditiven Material von HNW findet: eine audioästhetische Praxis, die dem Anspruch folgt, die oppressivste, reduzierteste und asozialste Geräuschfülle überhaupt zu produzieren, zugleich aber

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Hierfür lassen sich viele Beispiele aufzählen: politische Kampflieder, Popsongs, die sich affirmativ auf ein wie auch immer definiertes ›Wir‹ beziehen, die musikalische Selbstvergewisserung von Subkulturen oder die Musikalisierung von Identitätspolitiken – Musik, die auf die Konstitution von Gemeinschaft zielt oder als ihr Kitt dient.

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eine radikal emanzipierte Hörerfahrung ermöglicht, indem sie keine Ordnung vorgibt. In die Sprache der Informationstheorie und in ihr Modell der Kommunikation von Sender, Botschaft und Empfänger übertragen, lässt sich die paradoxe Struktur von HNW so aufschlüsseln: Ein nihilistischer Sender teilt ein ›Nichts‹ mit – dessen paradoxer Inhalt aus den leibnizschen »hunderttausend Nichtsen«26 besteht: ein inhaltsloses Zuviel, ein leeres Maximum –, wodurch der Empfänger mit endlosen Auswahlmöglichkeiten ausgestattet und damit einer maximalen Wahlfreiheit ausgesetzt wird; in einen Zustand versetzt, in dem die eigenen Versuche einer Entschlüsselung des Rauschens erlauscht werden können. Von diesem Punkt aus lassen sich die Prämissen der Informationstheorie und ihres Kommunikationsmodells allerdings grundsätzlich in Frage stellen. Noise spielt sich im Zwischenraum des inter- ab, aber es verweist auf mehr als das Medium des Übertragungskanals und die Störungen, von denen eine Botschaft auf diesem Weg heimgesucht werden kann. Noise suggeriert eine andere Anordnung der Kommunikation als jene, die sich aus der Aufteilung in Sender und Empfänger herleitet; es produziert ein Verhältnis von innen und außen oder Subjekt und Objekt, das der technizistischen Reduktion auf ein Modell des abwechselnden Informationsaustauschs nicht entsprechen kann. Die Topologie dieser Relation deutet sich im Präfix des Wortes Kommunikation an: das ›Mit‹ als Kehrseite des ›Zwischen‹, ein Übergang zwischen innen und außen, der sich nicht in der Gegenüberstellung von Sender und Empfänger fassen lässt, sondern eine irreduzible Verknüpfung von Singularität und Arealität zur Grundlage von Kommunikation und Gemeinschaft (communitas) macht. In Die undarstellbare Gemeinschaft hat sich Nancy mit diesem Zusammenhang intensiv beschäftigt. Nach ihm ist die Kommunikation »[…] nicht in einer Gestalt eingeschlossen – obgleich sie mit ihrem ganzen Sein an ihre singuläre Grenze stößt – vielmehr ist sie, was sie ist, singuläres Sein (die Singularität des Seins), nur durch ihre Extension, durch ihre Arealität, die sie – ohne Ausmaß oder Begehren ihres ›Egoismus‹ zu berücksichtigen – vor allem nach außen in ihr eigenes Sein kehrt und so die Singularität nur dadurch existieren läßt, daß sie sie einem Draußen aussetzt.«27 Individuum, Subjekt oder ›Sender‹ sind für Nancy nur denkbar, wenn sie der Arealität ihres Außen ausgesetzt sind. Die Kommunikation ist nicht, weil ihre Objekte (die Botschaften oder Informationen) innerhalb einer individuellen »Gestalt« entstehen und alternierend mit anderen Gestalten gesendet oder empfangen werden, sie existiert dadurch, dass sie sich dem Außen und dem anderen aussetzt: »Die Kommunikation ist das Konstituens eines dem Draußen Ausgesetztseins, das die 26 27

G.W. v. Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, S. 11. Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart: Edition Patricia Schwarz 1988, S. 64 f., Herv. i. Orig.

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Singularität definiert.«28 So ist Kommunikation notwendig eine »Mit-Teilung«,29 eine reziproke Aussetzung und Auseinandersetzung, in der Individuen nicht bloß Nachrichten, sondern sich selbst exponieren. Kommunikation gleicht einem Außer-sich-Geraten, das zugleich Selbstverlust und Selbstvergewisserung im anderen ist. »Wenn der andere einer Kommunikation zum Objekt eines Subjekts wird […], so ist dieser andere kein anderer mehr, sondern Objekt der Vorstellung eines Subjektes […]. Die Kommunikation und die Andersheit als deren Voraussetzung können in einem Denken, das die negative aber spiegelhafte Identität des Objekts, das heißt die Äußerlichkeit ohne Andersheit, auf das Subjekt zurückführt, grundsätzlich nur einen instrumentellen aber keinen ontologischen Charakter oder Stellenwert haben. Das Subjekt kann nicht außer sich sein […]. Das Sein der Kommunikation dagegen, das Mitteilend-Sein (und nicht das vorstellende Subjekt) oder – wenn man so weit gehen will – die Kommunikation als prädikative Bestimmung des Seins, als ›Transzendentales‹, ist vor allem Außer-Sich-Sein.«30 Dieses Außer-sich-Geraten verlangt eine andere Form der Darstellung, als sie das Kommunikationsmodell der Informationstheorie liefern könnte. Kommunikation als Transzendentales im Sinne Nancys, als Bedingung der Möglichkeit von Sein, verweist auf etwas anderes als auf die Option, Informationen auszuwählen, zu übermitteln und zu verstehen. Wenn von Kommunikation auf ontologischer Ebene die Rede ist, dann kann es sich nicht um einen instrumentellen Austausch von Informationspartikeln handeln, die in störungsanfälligen Übertragungskanälen zirkulieren. Notwendigerweise muss in einem solchen Verständnis der Kommunikation auch dem Komplex von Lärm, Geräusch, Rauschen und Störungen, der sich zu Noise verdichtet, eine andere Bestimmung gegeben werden. Dabei unterhält Noise einen Bezug zu dem, was von Nancy als »das Wertlose« bezeichnet wurde, eine Zone der Unbestimmtheit zwischen Ästhetik, Ökonomie und Gemeinschaft: »[E]in Mehr-als-das-Werk oder eine Untätigkeit/Entwerkung (désœuvrement) ist für das Werk der Existenz wichtig: was es vergemeinschaftet, ist nicht nur vom Range der austauschbaren Güter, sondern auch vom Range des Unaustauschbaren, des Wert-losen, weil es außerhalb jedes messbaren Wertes liegt.«31 Soweit Noise in der Lage ist, den Ort dieses »Wert-losen« einzunehmen, kann es auch nicht mehr als Mittel der Distinktion dienen. Noise-als-Genre muss, um Noise bleiben zu können, die eigenen Begrenzungen und Einhegungen auf mehr oder weniger festlegbare Genreparameter unterlaufen. Noise als Produkt 28 29 30 31

Ebd., S. 66. Ebd., S. 56. Ebd., S. 54 f. Ders.: Wahrheit der Demokratie, Wien: Passagen 2009, S. 39.

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einer ästhetischen Praxis kann keinen Anspruch auf Originalität, Autorschaft oder überhaupt darauf erheben, ein ›Werk‹ zu sein. Nancy beim Wort nehmend handelt es sich um eine »Entwerkung« im Register des Auditiven. Wenn sich aus den Verweisen, die sich in der Begrifflichkeit von Noise andeuten, eine reale Praxis, etwas ›positiv Existierendes‹ oder ein Werk ableiten lässt, dann wäre es ›für nichts‹ da, es ließe sich nichts mit ihm anfangen, es würde als Negation des Bestehenden auftreten. Als reales Genre kann es für diese Idee nur sehr bedingt einstehen, aber es nimmt irreduzibel seinen Platz innerhalb dieses Verweisraums ein. Das Darstellungsproblem des Einzeln-zu-mehreren-Seins – oder singulär pluralen Seins – ist grundsätzlich mit dem Rauschen des Sozialen, mit dem »kleinen Lärmen«32 der Menschen konfrontiert. Das metaphorische Rauschen jener Metaphern, die sich zwischen Noise und Politik entwickeln, produziert weitere Verstrickungen. Noise, als Konzept verstanden, gelingt es so, zugleich produktiv und destruktiv zu sein, zwischen Negativität und Positivität zu oszillieren und sich selbst in Bewegung und Unruhe zu versetzen. An den Grenzen des Hörens spielen sich Prozesse ab, die zugleich in sein Zentrum hinein- und über es selbst hinausweisen. Das Trommelfell bringt dieses extime Verhältnis auf metaphorische Weise zum Ausdruck: Es ist zugleich eine Abschließung des Schädels und eine Öffnung nach außen, eine Schnittstelle oder Passage, an der jener Übertragungsvorgang einsetzt, der aus einer Schallwelle etwas Gehörtes macht. Noise kann vieles bezeichnen und viele Formen annehmen, aber eine Politik des Auditiven oder eine Akustik des Politischen wird immer wieder auf diesen schwer fassbaren Punkt zurückkommen müssen. Soweit das Musikalische im Besonderen und das Auditive im Allgemeinen einen Bereich eingrenzen, der sich nur metaphorisch oder in der Subsemantik der Onomatopoesie fassen lässt, besetzt Noise in diesem Feld eine privilegierte Stellung. Als Begriff besteht es aus nichts anderem als Differenzen, Verweisen, Analogien und Metaphern, es verunklart sich selbst und gewährt eine Vielzahl von Auswahlmöglichkeiten, die untereinander korrespondieren. Noise lässt sich in dem Sinne nicht begrifflich fassen, dass seine potenziellen Definitionen immer schon von anderen Bedeutungsmöglichkeiten kontaminiert wurden: Es lässt sich keine reine Differenz zwischen den politischen, physikalischen und ästhetischen Implikationen des Begriffs herstellen, ein sozialer Lärm geht in ein informationstheoretisches Rauschen über, das sich als störendes Geräusch bemerkbar macht, welches wiederum zum Material ästhetischer Organisation werden kann. Dies bedeutet auch, dass die möglichen Definitionen von Noise sich gegenseitig aufheben können, dass ihre konzeptionellen Begrenzungen durchlässig sind und dass die nachfolgend aufgeführten Beispiele eine Tendenz aufweisen, ihre Plätze zu wechseln, sich aufzulösen und in neuen Konfigurationen wieder aufzutauchen: 32

Vgl. M. Foucault: Das Leben der infamen Menschen, S. 16.

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Noise ist ein akustischer Abfall, ein Platzhalter für das unproduktive Surplus in der Ökonomie des Klangs, ein anderer Name für akustische Umweltverschmutzung und für asignifikante Äußerungen, die sich nicht in die semantischen Raster des Symbolischen aufnehmen lassen. Zugleich ist es aber ein Objekt des Begehrens, welches das Potenzial hat, den Durst nach »Chaos und Dissonanzen, vom Ausmaß einer Welt«33 zu stillen, indem es sich dagegen sperrt, in die Äquivalenzbeziehungen der symbolischen Ordnung aufgenommen zu werden. Noise ist eine Kraft – in der Ästhetik Gegenstand eines perversen Genießens, im auditiven Feld des Sozialen eine Schnittstelle von Macht, Gewalt und Widerstand, von Befehl, Zwang und Aufbegehren. Noise ist eine der möglichen Formen jenes Knotens, zu dem sich die Reihe Gehör–Gehorchen–Gehorsam verschlingen kann. Rumori und ruido sind Lärm und Aufruhr, darin assoziieren sich Noise und Revolte und die geräuschhafte Unordnung des Alltagslebens. Ein ›großer‹ Lärm des Sozialen, der sich in den Geräuschen des Aufstands ebenso zum Ausdruck bringt wie in dessen Niederschlagung. Unterhalb dieser machtvollen Manifestationen des Dissens spielen sich jene Geräusche des Alltagslebens ab, die Foucault als das »kleine Lärmen« bezeichnet hat, ein soziales Rauschen, das den Unter- und Hintergrund der Akustik des Politischen bildet. Θόρυβος (thorubos) ist ein Akteur auf dem von Noise eröffneten Feld des produktiven Widerstreits, ein Schnittpunkt, an dem die φωνή (phōnē)́ in den λόγος (lógos) eindringen kann, ihn zersetzt und mutieren lässt: ein Rauschen, das die symbolische Ordnung zum Wuchern bringt und ihre Struktur verändert. Und nicht zuletzt ist Noise eine audioästhetische Praxis unter vielen, die das Ende der Musik aufzeigt, nur um immer wieder neue Anfänge derselben zu produzieren. Seine Betonung des Rauschens als eines unverständlichen Lärms und Aktes der Kommunikationsverweigerung verweist auf eine Sehnsucht nach einem Austausch, der einer reziproken Mit-Teilung entspricht und nicht in der unidirektionalen Logik des Kommunikationsmodells der Informationstheorie aufgeht.34 Es vermag jenes in Szene zu setzen, was Deleuze als »leere Zwischenräume der NichtKommunikation […], störende Unterbrechungen, um der Kontrolle zu entgehen«35 bezeichnet hat. Inmitten der oppressiven Fülle von Noise, der maximalen Anfüllung des auditiven Raums, deutet sich eine Freiheit an, die ihren Ausdruck in den

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G. Bataille: Die psychologische Struktur des Faschismus/Die Souveränität, S. 86. Der Gegensatz dieser beiden Definitionen von Kommunikation wurde von Jean Baudrillard in seinem Text Requiem für die Medien herausgestellt: »Die Medien sind dasjenige, welche [sic] die Antwort für immer untersagt, das, was jeden Tauschprozeß verunmöglicht […]. Darin liegt ihre wirkliche Abstraktheit. Und in dieser Abstraktheit gründet das System der sozialen Kontrolle und der Macht.« (Baudrillard, Jean: »Requiem für die Medien«, in: ders.: Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen Berlin: Merve 1978, S. 91) G. Deleuze: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, S. 252.

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subtilen Intensitäten des Rauschens findet: permanent dasselbe, das sich aber niemals wiederholen kann, da es sich keine zwei Male (oder auch nur für zwei Minuten) auf die gleiche Weise hören ließe. Es ist zugleich mit sich identisch (Wiederholung des Immergleichen) und nichtidentisch (endlose Differenz). Noise ist ein Begriff, der sich selbst auflöst und dessen Zersetzungsprozesse real hörbar werden, an den Grenzen des Hörens.

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Diese Liste umfasst musikalische Werke, auf die im Text Bezug genommen wurde. Wo möglich, wird die Erstausgabe angegeben.

Musikwissenschaft Dagobert Höllein, Nils Lehnert, Felix Woitkowski (Hg.)

Rap – Text – Analyse Deutschsprachiger Rap seit 2000. 20 Einzeltextanalysen Februar 2020, 282 S., kart., 24 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4628-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4628-7

Helen Geyer, Kiril Georgiev, Stefan Alschner (Hg.)

Wagner – Weimar – Eisenach Richard Wagner im Spannungsfeld von Kultur und Politik Januar 2020, 220 S., kart., 6 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4865-2 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4865-6

Rainer Bayreuther

Was sind Sounds? Eine Ontologie des Klangs 2019, 250 S., kart., 5 SW-Abbildungen 27,99 € (DE), 978-3-8376-4707-5 E-Book: 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4707-9

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Musikwissenschaft Eva-Maria Houben

Musical Practice as a Form of Life How Making Music Can be Meaningful and Real 2019, 240 p., pb., ill. 44,99 € (DE), 978-3-8376-4573-6 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4573-0

Marianne Steffen-Wittek, Dorothea Weise, Dierk Zaiser (Hg.)

Rhythmik – Musik und Bewegung Transdisziplinäre Perspektiven 2019, 446 S., kart., 13 Farbabbildungen, 37 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4371-8 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4371-2

Anna Langenbruch (Hg.)

Klang als Geschichtsmedium Perspektiven für eine auditive Geschichtsschreibung 2019, 282 S., kart., 19 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4498-2 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4498-6

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