Gottebenbildlichkeit und Identität: Zum Verhältnis von theologischer Anthropologie und Humanwissenschaft bei Karl Barth und Wolfhart Pannenberg 9783666569494, 9783525569498

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Gottebenbildlichkeit und Identität: Zum Verhältnis von theologischer Anthropologie und Humanwissenschaft bei Karl Barth und Wolfhart Pannenberg
 9783666569494, 9783525569498

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Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Gunther Wenz

Band 121

Vandenhoeck & Ruprecht

Thorsten Waap

Gottebenbildlichkeit und Identität Zum Verhältnis von theologischer Anthropologie und Humanwissenschaft bei Karl Barth und Wolfhart Pannenberg

Vandenhoeck & Ruprecht

Meike mit Emily, Finnian und Paula

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56949-8

© 2008, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: b Hubert & Co, Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Vorwort Vorwort Vorwort Hier erkennt man nicht, wenn man am Strande bleibt und den schäumenden Wogen zusieht, man muß sich dran wagen, sich drein werfen, man muß schwimmen, wach und mit aller Kraft, und mag da sogar ein Augenblick kommen, wo man fast die Besinnung zu verlieren meint: so und nicht anders wird die anthropologische Besinnung geboren. (Martin Buber, Das Problem des Menschen, 20f)

Wer sich heute mit der Frage nach dem Menschen beschäftigt, sieht sich einem unendlichen Horizont verschiedener Vorstellungen, Anschauungen und Theorien gegenübergestellt. Das Wissen über die Welt und insbesondere über den Menschen wächst in einem atemberaubenden Tempo – es sei nur der zuletzt boomende Forschungsbereich der Neurobiologie genannt. Nichts ist leichter, als sich in dem faszinierten Blick auf die Vielfalt der Fragestellungen und Inhalte zu verlieren oder sich an Einzelproblemen aufzureiben (– gerade davon weiß ich im Rückblick auf die vorliegende Arbeit ein Lied zu singen). Schwieriger ist die Frage danach, was die verschiedenen Anschauungen und Theorien verbindet, also nach dem, was zu Konvergenzen führt im Bezug auf die Bestimmung des Menschen – und, was vom christlichen Glauben her dazu zu sagen ist. Ein Zugang hierzu eröffnete sich mir zeitgleich mit dem Wahr- und Ernstnehmen des subtilen Faktums, dass die Frage nach dem Menschen die Frage nach sich selbst, nach der eigenen Existenz, impliziert. Wer wirklich nach dem Menschen fragt, kann sich selbst nicht heraushalten. Es öffnet sich vielmehr eine Dimension, gleichsam ein existentieller Subtext, in dem Begriffe wie „authentische Subjektivität“, „Fragmentarizität“ oder eben „Identität“ für das eigene Selbstentwerfen bedeutsam werden, in dem alles was man anthropologisch sagt, sozusagen auch ‚gegen einen verwandt werden kann‘. Mit dieser Erkenntnis wurde mir die Frage nach „Gottebenbildlichkeit und Identität“ zum Lebensthema, das mich nun fast eine ganze Dekade lang begleitet und herausgefordert hat.

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Vorwort

Insbesondere mit der Übernahme einer Gemeindepfarrstelle (2001) war Prinzipielles und Existentielles, Theoretisches und Praktisches nicht mehr zu trennen und die manchmal „schäumenden Wogen“ der anthropologischen Realitäten öffneten sich in ihrer ganzen Weite und zuweilen auch Abgründigkeit. Es war letztlich diese existentielle, lebenspraktische Dimension, aus der heraus mein anthropologisches Interesse erwuchs. Ein Interesse, das sich nicht in praktisch-theologischen Fragestellungen erschöpfen konnte, sondern sich auf die humanwissenschaftliche Theoriebildung und den systematisch-theologischen Grund des christlichen Menschenbildes beziehen musste. Im Bereich systematischer Reflexion angekommen wuchs vor diesem Hintergrund dann allerdings auch der Mut, die großartigen Entwürfe Karl Barths und Wolfhart Pannenbergs auf ihre Aktualität hin zu untersuchen und sie erfahrungstheologisch – behutsam, aber auch entschieden – zu kritisieren. Diese Untersuchung stellt deshalb den Versuch dar, nicht nur die theologische Anthropologie und die Humanwissenschaften neu miteinander in Beziehung zu setzen, sondern auch einen Beitrag für das lebendige Gespräch zwischen theologischer Theorie und gemeindlicher Praxis zu leisten. Die hier (in leicht überarbeiteter Form) vorliegende Arbeit wurde als Inauguraldissertation im Sommer 2007 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg angenommen. Zunächst ist dafür Herrn Prof. Dr. Hans-Martin Barth von Herzen zu danken, denn er hat die Arbeit nicht nur begleitet und vom teilweise gewagten Konzept her mitgetragen, sondern er hat sie vielmehr immer wieder inspiriert – durch gesprochenes und geschriebenes Wort (pecca fortiter!). Im Blick auf mein theologisches Denken ist somit der Begriff „Doktorvater“ direkt aus dem oben erwähnten „existentiellen Subtext“ entnommen. Bedanken möchte ich mich ebenfalls herzlich bei Prof. Dr. Jörg Lauster, der das Zweitgutachten übernommen hat; wie auch bei Frau Prof. Dr. Christine Axt-Piscalar und Herrn Prof. Dr. Gunther Wenz, die durch ihre Begutachtungen die Aufnahme der Arbeit in dieser renommierten Reihe ermöglicht haben. Ferner bedanke ich mich bei Frau Bettina Rode und Herrn Pfarrer Christoph Rode, die sich um die Korrektur gekümmert haben, sowie bei Herrn Hans Weil, der in computertechnischen Fragen immer wieder Durchblick verschaffte. Auf meinem langen Weg waren manche Gespräche wichtig; etwa im Doktorandenkolloquium, besonders mit Jens Trusheim und auf andere Art mit Friedrich-Karl Voll. Meiner Kirchengemeinde in Heringen/Werra bin ich für die Unterstützung und das Verständnis im Blick auf meine zeitintensive wissenschaftliche Arbeit dankbar. Der Communität Christusbruderschaft Selbitz danke ich für die Beherbergung und seelsor-

Vorwort

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gerliche Begleitung in schwierigen Phasen. Die dort gelebte Spiritualität ist für mich ein Stück Heimat geworden, und ihr verdanke ich auch manche theoretisch-theologische Einsicht. Zuletzt und damit eigentlich zuerst danke ich meiner Familie; meinen Eltern, die meinen Werdegang so positiv begleitet haben, besonders aber meiner Frau, die mein Identitätsprojekt – manchmal auch leidvoll – mitgetragen hat und es mit unseren Kindern zu einem einzigen und ganzen macht. Meike mit Emily, Finnian und Paula – meinem „social me“ – ist deshalb diese Arbeit gewidmet. Heringen, im April 2008

Thorsten Waap

Inhalt Inhalt Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Anliegen: Gottebenbildlichkeit in der spätmodernen Identitätssuche . . . . . .

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Die Eingrenzung: Warum Karl Barth und Wolfhart Pannenberg? . . . . . . . . . . . . .

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Das Vorgehen und der Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Der Abstieg der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.1 Zum Begriff der Gottebenbildlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.1.1 Gottebenbildlichkeit als Relation und Fähigkeit . . . . . . . . .

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1.1.2 Gottebenbildlichkeit als Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.1.3 Die Aufgabe theologischer Anthropologie . . . . . . . . . . . .

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1.2 Deutungen der Gottebenbildlichkeit in der Geistesgeschichte . . .

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1.2.1 Offenbarungstheologische Anthropologie . . . . . . . . . . . . .

43

1.2.2 Subjektivitätsphilosophische Anthropologie . . . . . . . . . . .

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1.2.3 Zusammenfassung: Die beiden Grundtypen christlicher Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.3 Gottebenbildlichkeit und anthropologische Kritik . . . . . . . . . . .

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1.3.1 Die Menschen-Ebenbildlichkeit Gottes . . . . . . . . . . . . . . .

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1.3.2 Die Entthronung der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.3.3 Der Mensch im Vergleich mit der nicht-menschlichen Kreatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.3.4 Die Popularität eines naturalistischen Weltund Menschenbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.3.5 Gottebenbildlichkeit und Herrschaftsideologie . . . . . . . . .

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1.3.6 Der Abstieg der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit als vielschichtiger Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

1.4 Gottes Ebenbild in einer säkularen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.4.1 Der Prozess der Säkularisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Die religiöse Indifferenz und der postmoderne Verlust des Ganzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Der Aufstieg der Vorstellung von der Identität des Menschen . . .

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2.1 Der veränderte Horizont der Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.1.1 Die Entdogmatisierung der Anthropologie . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Der Identitätsbegriff in einer multiperspektivischen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.2 Das verschärfte Identitätsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.2.1 Der profane Identitätsbegriff . . . . . . . . . . . 2.2.2 Modernisierung und soziale Differenzierung 2.2.3 Erlittene Individualisierung . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Identität und Selbstverwirklichung . . . . . . .

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2.3 Die Identitätsvorstellung in den Diskursen der Moderne . . . . . . 2.3.1 Der Ursprungsdiskurs im amerikanischen Pragmatismus . 2.3.1.1 Soziologische und anthropologische Reflexion . . . 2.3.1.2 Personale Identität bei William James . . . . . . . . . 2.3.1.3 Soziale Identität bei James . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1.4 Das ‚social self‘ bei George Herbert Mead . . . . . . 2.3.1.5 Soziale Identität und der gesellschaftliche Prozess bei Mead . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Der psychoanalytische, entwicklungspsychologische Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.1 Soziale Identität und Ich-Identität bei Erik H. Erikson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.2 Krisen im Lebenszyklus und die Bildung von Ich-Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.3 Abschied von Erikson? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Der soziologische Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.1 Soziale Rolle und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.2 Die balancierende Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.3 Identität als Fähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.3.4 Der kritische und postmoderne Diskurs . . . . . . 2.3.4.1 Die Identität und das Nicht-Identische . . 2.3.4.2 Der Tod des Subjektes . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.3 Die Destruktion der Identität und der neue Individualismus . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.4 Der Zerfall des Ganzen und die Identität des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.5 Reflexivität und Ästhetisierung in der Spätmoderne . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Der subjektivitätsphilosophische Diskurs . . . . . 2.3.5.1 Die Widerständigkeit des Subjekts . . . . 2.3.5.2 Numerische und interaktionale Identität 2.3.5.3 Interaktionale und personale Identität . . 2.3.5.4 Selbstverständnis und narrative Identität 2.3.5.5 Identitätsbildung im Spannungsfeld von Anerkennung und Autonomie . . . . 2.3.5.6 Das Ideal der Authentizität . . . . . . . . . .

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2.4 Zur Unabschließbarkeit der Identitätsdiskurse . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Die doppelte Verborgenheit des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Die Identität als Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.5 Der Aufstieg der Identitätsvorstellung – Eine Bilanz . . . . . . . . .

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2.5.1 Gründe für den Aufstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Die Identitätstheorie als Suche nach relativer Einheit des Menschenbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3 Identitätstheorie und theologische Anthropologie . . . . . . .

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3. Gottebenbildlichkeit und Identität bei Karl Barth . . . . . . . . . . . .

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Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.1 Theologie und Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Schöpfungstheologie auf dem Boden der Offenbarung 3.1.1.1 Die Welt als Schöpfung Gottes . . . . . . . . . . . 3.1.1.2 Der Selbsterweis Gottes und die Begründung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.3 Das Verhältnis von Schöpfungstheologie und religiöser Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.1.2 Christologie und Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.1 Schöpfungstheologie und Christologie . . . . . . . . 3.1.2.2 Die Konzentration der Schöpfungstheologie in der christologischen Anthropologie . . . . . . . . . 3.1.2.3 Die Lehre vom wahren Menschen und die anderen Anthropologien . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.4 Die Möglichkeit theologischer Anthropologie und die Wirklichkeit der Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.5 Sündenerkenntnis als Element der Gnadenerkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.6 Die Phänomene des Menschlichen und das Wesen des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.7 Vier Zugänge zu den Phänomenen des Menschlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.8 Die Anthropologie Barths und die Humanwissenschaften: eine Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.2 Gottebenbildlichkeit bei Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.2.1 Gott im Bunde mit dem Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.1 Jesus ist der Bund Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.2 Die Erwählung in Christus und die Wortgestalt des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

216 216

3.2.2 Schöpfung, Bund und Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Das Verhältnis von Schöpfung und Bund . . . . . . . 3.2.2.2 Das Prinzip der Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.2.3 Das Ebenbild Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.1 Gottebenbildlichkeit in Bund und Bündnisfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.2 Gottebenbildlichkeit als Beziehung und andere Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.3 Die Gottebenbildlichkeit Jesu Christi . .

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3.2.4 Die Geschichte Gottes mit den Menschen . . . . . . . 3.2.4.1 Der wirkliche Mensch in seiner Geschichte 3.2.4.2 Die Subjektivität des wirklichen Menschen 3.2.4.3 Die Freiheit des wirklichen Menschen . . . .

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3.3 Identität bei Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.3.1 Die Sozialität des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.1 Die Mitmenschlichkeit Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.3.1.2 Die Humanität ohne den Mitmenschen . 3.3.1.3 Das Sein in der Begegnung . . . . . . . . . 3.3.1.4 Die Struktur des Begegnungsgeschehens 3.3.1.5 Die Beziehung von Mann und Frau . . . .

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3.3.2 Identität und Selbstverhältnis . . . . . . . . . 3.3.2.1 Jesus, der ganze Mensch . . . . . . 3.3.2.2 Der Geist und die Ordnung von Seele und Leib . . . . . . . . . . 3.3.2.3 Psychosomatik und Subjektivität 3.3.2.4 Der Mensch als vernünftiges und handelndes Wesen . . . . . . . . . . .

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3.3.3 Identität und Zeitlichkeit . . . . . . 3.3.3.1 Der Herr der Zeit . . . . . . 3.3.3.2 Der Mensch in der Zeit . 3.3.3.3 Die Befristung der Zeit . 3.3.3.4 Die Grenzen des Lebens

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3.3.4 Identität und Individualität in der Beziehung zu Gott . . . . . 3.3.4.1 Das Bewusstsein der Individualität . . . . . . . . . . . . 3.3.4.2 Die Verwirklichung der Identität in der Dialektik von „Beruf“ und „Berufung“ . . . . . .

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3.4 Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.4.1 Die biblische Anthropologie und die ‚Fairness‘ Barths . . . .

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3.4.2 Problematische Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.4.3 Das ambivalente Verhältnis zu den Humanwissenschaften .

307

3.4.4 Der wirkliche Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

309

3.4.5 Die Enge des Analogieprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

313

3.4.6 Die Notwendigkeit einer pneumatologischen Ergänzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Identität und Gottebenbildlichkeit bei Wolfhart Pannenberg . . . .

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Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.1 Anthropologie und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.1.1 Die Wende zur Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.1 Die Anthropologisierung und Säkularisierung . . . . 4.1.1.2 Der Säkularismus und die Aufgabe religiöser Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

4.1.2 Die religiöse Thematik und die Vertiefung der Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.1 Die kritische Aneignung anthropologischer Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.2 Die religiöse Vertiefung der Anthropologie . . . . . . 4.1.3 Die Anthropologie und die Wirklichkeit Gottes . . . . . . . . . 4.1.3.1 Die ‚Voraussetzung‘ Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.2 Die Wirklichkeit Gottes als Problem und Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Philosophie und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4.1 Der Gottesgedanke und das Ganze der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4.2 Die Harmonie und Differenz von Philosophie und Theologie . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5 Theologie und Geschichtlichkeit . . . . . 4.1.5.1 Geschichte und Antizipation . . 4.1.5.2 Offenbarung als Geschichte und die Bedeutung Jesu Christi . . . . 4.1.5.3 Die Antizipation und das Konzept der Anthropologie

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4.2 Identität bei Wolfhart Pannenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Zum Begriff der Identität und zum Aufbau der Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.2.2 Die exzentrische Natur des Menschen . . . . 4.2.2.1 Die moderne Anthropologie und der Begriff der Weltoffenheit . . . . . 4.2.2.2 Die Exzentrizität des Menschen und ihr ‚vertiefter Sinn‘ . . . . . . . . . . . . 4.2.2.3 Der Begriff der Weltoffenheit und der ‚vertiefte Sinn‘ . . . . . . . . . . . . 4.2.2.4 Die Umdeutung und Vertiefung von Weltoffenheit und Exzentrizität . . .

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4.2.3 Identität und Bestimmung im Anschluss an Herder . . . . . . 4.2.3.1 Gottebenbildlichkeit als Bestimmung nach Herder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3.2 Das Zielbild der Bestimmung des Menschen und die Kritik an Herder . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

4.2.4 Die teleologische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4.1 Die Kritik an der klassischen theologischen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4.2 Der Anschluss an den Entwicklungsgedanken und die Kritik des Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Die Sünde des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5.1 Sünde als Versuch der Selbstkonstitution . 4.2.5.2 Die problematische Nähe von Sünde und Natur des Menschen . . . . . . . 4.2.5.3 Die Erkenntnis der Sünde . . . . . . . . . . . .

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4.2.6 Identität und die Konstitution des Subjektes . . . . . . . . . 4.2.6.1 Die Konstitution des Subjekts und die Abgrenzung zum dialogischen Denken . . . . 4.2.6.2 Der sozialpsychologische Zugang und das Problem des ‚Selbst‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.6.3 Die religiöse Dimension des Selbstbewusstseins 4.2.6.4 Die Problematik des Personbegriffs bei Pannenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.6.5 Das Gefühl als ‚Präsenzort‘ der Ganzheit . . . . . 4.2.6.6 Identität und Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.3 Gottebenbildlichkeit als prozessuale Identität . . . . . . . . . . . . . .

432

4.2.7 Kultur und Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.7.1 Der Einheitsgrund der Kultur . . . . 4.2.7.2 Sprache, Vernunft und Phantasie . 4.2.7.3 Gesellschaftliche Institutionen und das Individuum . . . . . . . . . . . . . . 4.2.7.4 Gesellschaft und Religion . . . . . .

4.3.1 Anthropologie und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.1 Der Gegensatz von Geschichtsphilosophie und Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.2 Identität aus der Vorsehung Gottes . . . . . . 4.3.1.3 Identität aus dem Wirken des Geistes . . . .

......

433

...... ...... ......

434 438 440

4.3.2 Anthropologie und Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.1 Jesus Christus als Zielbild der Bestimmung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.2 Die Lebensgeschichte Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . .

445 446 448

16

Inhalt

4.4 Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

453

4.4.1 Pannenbergs Verhältnis zu den Humanwissenschaften und seine Ganzheitsideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Die Problematik einer Gottebenbildlichkeit im Werden . . . 4.4.3 Der problematische Sündenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . .

453 456 459

4.4.4 Die Freiheit zur Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

461

5. Die Identität des Menschen als Bild Gottes . . . . . . . . . . . . . . . .

465

5.1 Die Identitätsvorstellung als Herausforderung an die theologische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

465

5.2 Der Abschied von Barth und Pannenberg . . . . . . . . . . . . . . . . .

470

5.2.1 Zwei nichtharmonisierbare Grundpositionen evangelischer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

470

5.2.2 Theologische Anthropologie als System . . . . . . . . . . . . . .

473

5.2.3 Das Erfahrungsdefizit bei Barth und Pannenberg . . . . . . . .

476

5.2.4 Die Anthropologie auf dem Boden der Christologie . . . . . .

480

5.2.5 Jesus und das Christusprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

485

5.3 Die perspektivische Wende in der theologischen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

490

5.3.1 Ein neuer Erfahrungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

493

5.3.2 Das Freigeben der Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.1 Das Freigeben des Phänomens der Identitätssuche und der Nicht-Identität . . . . . . . 5.3.2.2 Das Freigeben der Phänomene der Autonomie und der Heteronomie . . . . . . . . . .

498 500

5.4 Identität und Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

511

5.4.1 Rechtfertigung und die Aspekte der Unterbrechung und Vereinzelung . . . . . . . . . . . . . . . .

512

5.4.2 Rechtfertigung als Anerkennung . . . . . . 5.4.2.1 Anerkennung als Liebe, Würde und Wertschätzung . . . . . 5.4.2.2 Zur Theologie der Anerkennung . 5.4.2.3 Der Kampf um Anerkennung und der Friede Gottes . . . . . . . . . . .

503

.............

516

............. .............

521 524

.............

527

Inhalt

17

5.4.2.4 Die Anerkennung Gottes und die Selbstanerkennung des Menschen . . . . . . . . . . 5.4.2.5 Biblische Konkretion des Anerkennungshandelns Gottes . . . . . . . . . . . .

533

5.5. Zurück zu Barth und Pannenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

534

5.5.1 Erwählung, Vorsehung und die Weite der Identitätsgeschichte des Menschen . . . . . . .

537

5.6 Die Identität des Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit . . . . .

540

5.6.1 Der bleibende Gehalt des Begriffs und der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit . . . . . . . . . . 5.6.2 Der Mensch als Ort göttlicher Selbstverwirklichung . . . . . 5.6.3 Die Bestimmung durch Gott setzt die Selbstbestimmung des Menschen frei . . . . . . . . . . . . .

530

541 543 546

5.6.4 Jesus Christus und die Identität des Menschen . . . . . . . . . . 5.6.4.1 Jesus Christus als Bild Gottes und die menschliche Identität . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.4.2 Jesus Christus als Bild des wahren Menschen und die menschliche Identität . . . . . . . . . . . . . . . .

549 550

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

559

1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

559

2. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

560

553

Einleitung Einleitung Gottebenbildlichkeit in der spätmodernen Identitätssuche

Das Anliegen: Gottebenbildlichkeit in der spätmodernen Identitätssuche Die Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen ist das Grundaxiom der christlichen Anthropologie. Es ist ein zutiefst positives Axiom1, insofern in dieser Zusage die ganze Würde und Unantastbarkeit des Menschen begründet ist, und damit seine Fähigkeiten und Potenzen – als Repräsentant Gottes – gewürdigt werden. Der Mensch ist das Bild Gottes, d.h. er ist Gottes geliebtes Gegenüber, er ist im Vollsinne durch die Beziehung zu seinem Schöpfer, Versöhner und Erlöser bestimmt und nicht durch die Beziehung zu den Mitmenschen, anderen Geschöpfen oder zur Welt, in der er lebt. Vielmehr soll er in der Welt Gott selber repräsentieren, er soll herrschen und darin seinen Schöpfer abbilden, denn er ist dazu geschaffen, unter Gott wie Gott zu handeln – also zur demütigen und starken Liebe. Vor dem Hintergrund dieser Zusage der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die im Geist Gottes wirksam wird, lässt sich Identität suchen und ausbilden. Von diesem Evangelium der Gottebenbildlichkeit aus sollte die theologische Anthropologie vom Menschen reden.2 Nun lässt sich im binnentheologischen Bereich eine solche Anschauung relativ leicht formulieren. Es lässt sich in der Vermittlung mit anderen theologischen Aussagen ein systematisches Konstrukt erstellen, ein steiles Menschenbild, dessen Kohärenz befriedigen mag, dessen ‚Steilheit‘ und Selbstgenügsamkeit man bald aber nicht mehr wahrnimmt.3 In einer säkularisier1 Dieses positive Axiom, d.h. die freilich durch die Sünde verstellte Größe des Menschen, ist der Ausgangspunkt der theologischen Anthropologie und stellt diese in den Gegensatz zur dekonstruktiven Mode mancher Populärwissenschaftler, die durchaus faszinieren mag: „Sie sind Niemand! Kein Ich, nirgends. Sie erfinden sich, jetzt, in diesem Augenblick, da Sie diesen Text lesen. Hinter Ihren Augen ist Nichts“ (Werner Siefer/Christian Weber, Ich. Wie wir uns selbst erfinden, Frankfurt a.M. 2006, 7). 2 Vgl. den – nur in gewisser Hinsicht – Gegenansatz von Gunda Schneider-Flume (Die Identität des Sünders. Eine Auseinandersetzung theologischer Anthropologie mit dem Konzept der psychosozialen Identität Erich H. Eriksons, Göttingen 1985), die vom Sündersein des Menschen ausgeht, um so im rechtfertigungstheologischen Kontext von der Gottebenbildlichkeit zu sprechen. Zur Auseinandersetzung mit Schneider-Flume findet sich Näheres unter: 5.3.2.1. 3 Ich teile die Ansicht und damit das für die heutige Zeit daraus resultierende Anliegen der Aktualisierung theologischer Anthropologie, das Gert Hummel angesichts der theologischen Lage vor über 30 Jahren folgendermaßen formuliert hat: „Sorge um das richtige theologische Reden zeitigt das Ideal rundum abgesicherter Wissenschaft ohne Wagnischarakter. Symptomatisch dafür ist die

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Einleitung

ten Lebenswelt allerdings, in der sogenannten „Spätmoderne“4, sieht sich die Theologie herausgefordert, den ‚Außenkontakt‘ zu verstärken, sich neu ins Spiel zu bringen, um die christliche Anthropologie wirksam zu kommunizieren. Genau darin aber besteht das Anliegen dieser Untersuchung: Es geht um ein Ausloten der Möglichkeit einer aktuellen Vermittlung bzw. einer neuen Verantwortung der christlichen Anthropologie im Kontext nicht-theologischer Humanwissenschaften und damit in den Selbstdeutungsprozessen des spätmodernen Menschen. Wie könnte diese zutiefst positive Auffassung des Menschen als Gottes Ebenbild in den veränderten Diskursen, in der ‚Wirklichkeit‘ des heutigen Menschen, verantwortet werden? Dazu sollen die systematisch-theologischen Hintergründe einer solchen Vermittlung rekonstruiert und die Grundzüge bestimmt werden, die dem christlichen Menschenbild in eher wissenschaftlichen Zusammenhängen wieder neu Gehör verschaffen, die aber auch der Praxis der Verkündigung des Evangeliums von der Identität des Menschen vor Gott dienen könnten.5 Dieses Anliegen bedingt nun aber zunächst die Rekonstruktion des ‚anthropologischen Feldes‘, auf dem man sich bewegen will. Das kommunikative Grundprinzip wird dabei auch für die theologische Anthropologie leitend Fülle methodologischer Abhandlungen und innertheologischer Schuldiskussionen in der Gegenwart […]. Dagegen ist allenthalben eine erstaunliche Enthaltsamkeit hinsichtlich des Dialogs mit anderen Wissenschaften, vor allem mit naturwissenschaftlichen Disziplinen, zu erkennen. […] Gerade hier aber pulsiert derzeit das Leben, werden immer neue Dimensionen der Wirklichkeit aufgedeckt und erhellt“ (Theologische Anthropologie und die Wirklichkeit der Psyche. Zum Gespräch zwischen Theologie und analytischer Psychologie, IdF 5, Darmstadt 1972, 1). 4 Der Begriff „Spätmoderne“ bietet sich insofern an, da er in erster Linie deskriptiv von der Dynamik der Moderne und dem Zerfall ihrer Einheitsstruktur spricht. Der Begriff „Postmoderne“ war hingegen zunächst eher präskriptiv gemeint, insofern er die Programmatik einer die Moderne ab- und auflösenden Dekonstruktion bezeichnen konnte. Gerade dieses Anliegen wird hier aber nicht verfolgt. Vgl. dazu Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, hg. von Peter Engelmann, Wien 1986 und die prägnante Bestimmung der Spätmoderne bei Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a.M. 1996, 63–74, auch unten: 1.4.2. 5 Im Interesse dieser Arbeit liegt in erster Linie die Rekonstruktion der systematischtheologischen Zusammenhänge des christlichen Menschenbildes, die dessen Verantwortung im nicht-theologischen Kontext bestimmen – als auch die Aufnahme der im Bereich fachfremder Wissenschaft rekonstruierter Phänomene. Auch wenn es nicht um die Praxis als solche geht, sondern um ihre systematisch-theologische Begründung, so werden die Grenzen der funktional bestimmten theologischen Fachgebiete in dieser Arbeit immer wieder transzendiert werden. Insbesondere der Begriff der „theologischen Anthropologie“ wird im Folgenden nicht näher problematisiert, er soll gerade gegenüber praktisch-theologischen Fragestellungen und zur Verkündigungspraxis hin offen bleiben. (Das bleibt meiner Arbeit als Gemeindepfarrer geschuldet, insofern diese den lebenspraktisch bestimmenden Hintergrund dieser Untersuchung darstellt.) Zum Terminus „theologische Anthropologie“ und deren Entwicklung: Hermann Fischer, Tendenzen zur Verselbständigung der theologischen Anthropologie, in: ders. (Hg.), Anthropologie als Thema der Theologie, Göttingen 1978, 9–19; ders., Theologische Anthropologie in interdisziplinärem Horizont, ThR 58/1 (1993), Tübingen 1992, 1–70.

Gottebenbildlichkeit in der spätmodernen Identitätssuche

21

sein: Um Gehör zu finden, muss man zunächst einmal selbst hören lernen; um ein Menschenbild zu verantworten, muss man die Sprache (wieder)finden, die heute gesprochen wird. Wie sieht also spätmodernes Menschseins aus? Wie deutet der heutige Mensch sich selbst? Und in welcher Terminologie artikuliert sich dieses Selbstverstehen? Zunächst wird zu konstatieren sein, dass die Bezeichnung des Menschen als Gottes Ebenbild – mit Einschränkung – keine Kategorie mehr ist, die das Selbstverständnis des heutigen Menschen nachhaltig prägt, oder ihm eine Hilfe wäre, sich selbst zu verstehen und auszulegen. So findet der Begriff der Gottebenbildlichkeit in den nicht-theologischen, humanwissenschaftlichen Diskursen kaum mehr Verwendung.6 Er ist vielmehr zum Inbegriff eines menschlichen Selbstverständnisses geworden, das zwar eine wichtige Position im Geschichtsprozess7 einnimmt, in dem viele geistesgeschichtliche Entwicklungen ihre Wurzeln haben und das im engeren Raum der christlichen Religion zwar weiterbesteht,8 das aber keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit mehr erheben kann und letztlich überholt erscheint. Im Blick auf den – in vormodernen und auch noch modernen Zeiten – erhobenen Anspruch christlicher Welt- und Selbstdeutung, kann man sich also des Eindrucks eines ‚Abstiegs der Gottebenbildlichkeitsvorstellung‘ kaum erwehren. Der moderne Mensch versteht sich weitgehend nicht mehr als Gottes Ebenbild. Gleichzeitig wird aber derjenige, der heute genau hinhört, mit ziemlicher Sicherheit auf einen zentralen Begriff stoßen: den Begriff der Identität. In 6 Vgl. dazu Michael Moxter, Der Mensch als Darstellung Gottes. Zur Anthropologie der Gottebenbildlichkeit, in: Theologie zwischen Pragmatismus und Existenzdenken (FS H. Deuser), Linde, G. u.a. (Hg.), MThS 90, Marburg 2006, 271. Moxter spricht von einer „Hintergrundpräsenz des Begriffs“ der Gottebenbildlichkeit, der zu den „Bewusstsein prägenden Voraussetzungen (zählt), von denen der Rechtsstaat lebt.“ Im ethischen Kontext, insbesondere im Blick auf die Begründung der Menschenwürde, mögen hier Ansätze gegeben sein, weniger allerdings im Blick auf das profane Selbstverständnis des spätmodernen, säkularisierten Menschen. Dennoch soll gerade im Sinne Moxters diese „Hintergrundpräsenz“ gestärkt und dazu die theologische Bestimmung des Menschen in den Vordergrund gerückt werden. 7 Vgl. dazu Wolfhart Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, bes. 106–128. 8 Die christliche Anschauung des Menschen als Gottes Ebenbild ist in die Pluralität der Menschenbilder eingerückt. Beispielhaft dafür ist Eberhard Jüngels Verantwortung der Gottebenbildlichkeit im Rahmen des Projektes „Neue Anthropologie“: Der Gott entsprechende Mensch. Bemerkungen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundfigur theologischer Anthropologie, in: Neue Anthropologie VI, Gadamer, H.-G./Vogler, P. (Hg.), Philosophische Anthropologie, erster Teil, Stuttgart 1975, 342–372. Als Versuch der Zusammenschau des anthropologischen Wissens ist das auf sieben Bände angelegte Projekt verschiedener Autoren unterschiedlicher Fachrichtungen zu betrachten: Heinrich Schmidinger/Clemens Sedmak (Hg.), Topologien des Menschlichen – Human- und Naturwissenschaften im Dialog über das heute verfügbare Wissen über den Menschen, Darmstadt 2004–2010. Der Band 7: „Der Mensch – ein Abbild Gottes“ soll den Abschluss bilden.

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Einleitung

diesem Terminus scheint das aktuelle Selbstverstehen wie in einem Brennglas gebündelt. Dabei fällt sogleich der Sachverhalt eines fast inflationären Gebrauchs dieses Begriffs bzw. dieser Vorstellung auf – in den verschiedensten Bereichen gesellschaftlicher Wirklichkeit.9 Den häufigen Gebrauch des Begriffs begleitet dabei die unhinterfragte Auffassung, genau zu wissen, was mit „Identität“ eigentlich gemeint ist. Es gibt auf den ersten Blick einen ‚common sense‘ im Bezug auf diesen Terminus, der sich aber auf den zweiten Blick als trügerisch erweist, insofern dessen Komplexität und Vielschichtigkeit entdeckt wird.10 Es eröffnen sich dann ganze Kaskaden von Fragen: Was wird hier eigentlich als ‚identisch‘ erklärt? Hat man Identität oder wird sie erst hergestellt, gesucht oder gefunden? Ist Identität eine Fähigkeit? Oder geht es um das Erbringen einer Leistung, spricht man doch von: Identitätsarbeit, Identitätssuche, Identitätskonstruktion?11 Es ist festzuhalten, dass die Identitätsvorstellung keinen monolithischen Block darstellt. ‚Identität‘ ist lediglich ein relatives terminologisches Integral, denn es spiegelt gerade nicht das Ganzsein des Menschen, sondern die Sehnsucht nach dem Ganzwerden; es bezeichnet ein konkretes Sich-SelbstZusammenhalten und Selbstentwerfen, das unabschließbar bleibt. Identität ist überhaupt nichts Definitives, vielmehr etwas Dynamisches – in der Spannung von Fragment und Ganzheit. Die Theologie könnte sich zwar ein greifbareres Gegenüber wünschen, keine vagen Ideale, keine unscharfen Chiffren für anthropologische Prozesse, die sie ihrerseits aus dem Konzept zu bringen vermögen; die spätmoderne Wirklichkeit sieht aber anders aus bzw. genau so: fragmentiert und vielschichtig. Aber nur durch ein Wahrnehmen der Pluralität und Individualität menschlichen Selbstentwerfens und Selbstdeutens gewinnt die theologische Anthropologie den Wirklichkeitsbezug, der nötig ist, um den heutigen Menschen mit dem Evangelium von der Gottebenbildlichkeit zu erreichen. 9 Sowohl die häufige allgemein-alltägliche Verwendung im Rahmen des konkreten Selbstverstehens des Einzelnen ist zu konstatieren – in diesem Zusammenhang lässt sich etwa auch auf die Hypertrophie moderner Lebenshilfeliteratur hinweisen, in der dieser Begriff sehr häufig auftaucht. Als auch die vielfältige Verwendung im Rahmen elaborierter anthropologischer Theorien ist zu verzeichnen, die einerseits das profane Verständnis von ‚Identität‘ reflektieren, andererseits aber selbst wiederum neue spezielle Identitätsbegriffe ausbilden. Vgl. dazu unten 2. 10 Exemplarisch für die Unbestimmtheit und Vielschichtigkeit der Identitätsvorstellung und die Mühen bei einer Definition sind die Ausführungen von Charles Taylor (Quellen des Selbst: die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M. 21996, 55): „Definiert wird meine Identität durch die Bindungen und Identifikationen, die den Rahmen oder Horizont abgeben, innerhalb dessen ich von Fall zu Fall zu bestimmen versuchen kann, was gut oder wertvoll ist oder was getan werden sollte bzw. was ich billige oder ablehne. Mit anderen Worten, dies ist der Horizont, vor dem ich Stellung zu beziehen vermag.“ 11 Vgl. etwa Heiner Keupp u.a., Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Hamburg 1999; Ders./Höffer, R. (Hg.), Identitätsarbeit heute. klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung, Frankfurt a.M. 1997.

Warum Karl Barth und Wolfhart Pannenberg?

23

Der Vorstellung (bzw. dem Begriff) der Gottebenbildlichkeit wird in dieser Arbeit deshalb die der Identität gegenübergestellt. Die Behandlung verschiedener Theorien und Konzepte soll dann zur Klarheit im Blick auf beide Vorstellungen und ihr Verhältnis zueinander führen und dieses Gegenüber dann als einer Art heuristisches Muster für die Untersuchung der Anthropologien Karl Barths und Wolfhart Pannenbergs genutzt werden. Die theologische Anthropologie kann sich jedenfalls im Blick auf die humanwissenschaftlichen Identitätstheorien herausfordern lassen und sich verstricken lassen in die Wahrnehmung spätmodernen Menschseins.12

Die Eingrenzung: Warum Karl Barth und Wolfhart Pannenberg? Warum Karl Barth und Wolfhart Pannenberg? Nun könnte man versucht sein, im Zuge eines eindimensionalen Schemas von Frage und Antwort, die Rekonstruktion der Situation (Identität) als Frage zu verstehen, auf die die theologische Anthropologie mit ihrer vermeintlich feststehenden Botschaft (Gottebenbildlichkeit) lediglich antworten müsste. Die theologische Anthropologie hätte so – zur Aktualisierung der Gottebenbildlichkeit – zwar einige terminologische Korrekturen anzubringen, könnte aber zügig die Identitätsvorstellung aufnehmen und verarbeiten. Ein solches ‚leicht-fertiges‘ Vorgehen aber verbietet sich, insofern eine wirkliche Bezugnahme ein höchst dialektisches Verfahren darstellt, das die Theologie wie auch die Anthropologie in einen anstrengenden – aber fruchtbaren – Prozess bringt. Geht man davon aus, dass die christliche Rede von der Gottebenbildlichkeit mit den Selbstdeutungen des Identität suchenden Menschen vermittelt werden kann und muss, so begibt man sich in ein höchst komplexes Spannungsfeld, insofern sowohl die Rekonstruktion der anthropologischen Phänomene als auch die des theologischen Zusammenhangs kein neutrales, absichtsloses Unterfangen darstellen. Die theologische Anthropologie tritt gleichsam in ein Ringen um den Menschen ein, bei dem sie selber ein Stück weit auf dem Spiel steht und gleichsam vor eigenen ‚Verletzungen‘, aber auch denen des Gegners bzw. Gesprächspartners, nicht geschützt ist. Im Zugriff auf die Ergebnisse der Humanwissenschaften, 12 Allerdings ist eine einschränkende Bemerkung an dieser Stelle notwendig: Es wird sich hier in erster Linie um Identitätsbegriffe aus dem Bereich der Sozialpsychologie und der angrenzenden Wissenschaften (Subjektivitätsphilosophie, Soziologie u.a.) handeln. Die Spannung von personaler Identität und Sozialität, von Individuum und Gesellschaft zeichnet diese Begriffe grundsätzlich aus. Die Thematik der personalen Identität, d.h. des Verhältnisses von Natur und Geist im Kontext moderner Hirnforschung, wie z.B. bei Wolf Singer, wird nur am Rande angesprochen. Vgl. zur Übersicht der Problemstellungen: John R. Searle, Geist. Eine Einführung, aus dem Amerikanischen von S. Salewski, Frankfurt a.M. 2006; Erhard Oeser, Das selbstbewusste Gehirn. Perspektiven der Neurophilosophie, Darmstadt 2006.

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Einleitung

besonders aber bei deren Integration, könnte nämlich einerseits die theologische Botschaft Schaden leiden, etwa indem sie zu stark an die anthropologischen Einsichten und Begriffe angepasst würde, andererseits könnten aber im Zuge einer überschießenden theologischen Kritik die humanwissenschaftlich erhobenen Befunde verzeichnet oder entstellt werden. Will man also Theologie und Anthropologie anhand der Vorstellungen von Gottebenbildlichkeit und Identität miteinander ins Gespräch bringen, dann wird auf den zweiten – tiefenschärferen – Blick die Frage virulent, wie sich theologische Anthropologie prinzipiell auf die nicht-theologischen Humanwissenschaften beziehen kann und soll. Es geht gerade nicht nur um anthropologische Inhalte, sondern auch um den Zugang zu diesen, also um die Methode ihrer Gewinnung, um die Methode einer theologischen Anthropologie. Gerhard Sauter schärft das nachhaltig ein: Wollen wir Anthropologie als theologische Aufgabe ansehen, dann müssen wir in das Gespräch eintreten, das um die Fragen des Menschen in der Form geführt wird, dass diese Fragen zugleich als Problem des methodischen Zugangs erörtert werden.13

Es wird deshalb für die Untersuchung des Verhältnisses von Gottebenbildlichkeit und Identität unerlässlich sein, die Inhalte und das Methodische gleichzeitig zu reflektieren, insofern die Weise bzw. der Vollzug des Begreifens über das Begriffene entscheidet. Das Anliegen der theologischen Anthropologie, die Botschaft von der Gottebenbildlichkeit zu verantworten – dabei ihre Inhalte und ihre Methode reflektierend –, ist freilich nicht neu. Im Zuge der Säkularisierung, d.h. dem zunehmenden Auseinandertreten von religiöser und nicht-religiöser Weltund Selbstdeutung, stellte sich diese Frage – in unterschiedlicher Intensität – immer wieder. Man kann die Dynamik der neuzeitlichen Theologiegeschichte, insbesondere seit der Aufklärung, gerade von der Bewältigung dieser Differenz von religiöser und nicht- oder andersreligiöser Selbst- und Lebensdeutung verstehen und die theologische Anthropologie als den Frontbereich bezeichnen, in dem mithin die wichtigsten Kämpfe ausgefochten wurden.14 Es legt sich deshalb nahe, nicht einfach frei und ohne ge13 Gerhard Sauter hat die Herausforderungen und Schwierigkeiten in seinem grundlegenden Aufsatz: Mensch sein – Mensch bleiben. Anthropologie als theologische Aufgabe (in: Anthropologie als Thema der Theologie, hg. von H. Fischer, Göttingen 1978, 71–118, hier: 118) – unter Berücksichtigung des Gegensatzes von philosophischer und empirischer Anthropologie – herausgearbeitet. 14 Insofern ein Ringen um das Verstehen von Welt und Selbst angesichts des Atheismus auf theologischem Boden keinen Sinn mehr machte, verlagerte sich dieses auf den Boden der Anthropologie. Der Bruch in der Philosophie nach Hegel (vgl. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 294ff) dokumentiert diese Entwicklung. Auf dem Gebiet der Anthropologie wurden dann aber auch die binnen-theologisch schärfsten Auseinandersetzungen geführt. Beispielhaft sei die Kontroverse zwischen Karl Barth und Emil Brunner genannt. Vgl. dazu unten Abschnitt 3.1.2.4.

Warum Karl Barth und Wolfhart Pannenberg?

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schichtliche Tiefe das Verhältnis von theologischer Anthropologie und Humanwissenschaften neu zu bedenken, sondern anhand konkreter Beispiele – am Besten der gewichtigsten Entwürfe der vergangenen Zeit. Fragt man nach der Verantwortung des christlichen Menschenbildes in der Spätmoderne, dann sollte man auf theologische Anthropologien zugreifen, die die Spannung von Gottebenbildlichkeit und Identität im Kontext der Moderne bearbeitet haben. Damit könnte dann überdies im Bereich theologischer Anthropologie ein Beitrag zur Diskussion um die Theologie in der Moderne bzw. Spätmoderne15 geleistet werden. Diese modernen Entwürfe nun müssten zum einen eine klare Methodik erkennen lassen, ein markant profiliertes Konzept aufweisen, wie sich die Theologie auf die Humanwissenschaft beziehen kann. Aber auch inhaltlich sollte es sich um Grundpositionen im Blick auf das Verständnis (und Verhältnis) von Gottebenbildlichkeit und Identität handeln. Möglicherweise wäre nämlich sowohl die Methode als auch die anthropologischen Ergebnisse einer solchen modernen theologischen Anthropologie lediglich fortzuschreiben – im Kontext der Spätmoderne? Im Rahmen der deutschsprachigen, evangelischen Theologie lassen sich von diesen Voraussetzungen aus die Anthropologien Karl Barths und Wolfhart Pannenbergs besonders hervorheben. Die Darstellung und die kritische Würdigung ihrer Entwürfe legen sich hier aus folgenden Gründen nahe: Zum einen bieten die Anthropologien Karl Barths (in der „Kirchlichen Dogmatik III/2“ – 1948) und Wolfhart Pannenbergs (besonders in seiner Monographie „Anthropologie in theologischer Perspektive“ – 1983) nicht nur wichtige theologische und anthropologische Einzeleinsichten und jeweils ein klares Konzept von deren Verhältnis zueinander, sondern in diesen Entwürfen werden gleichsam zwei theologische Grundoptionen sichtbar, zwei theologische Paradigmen. Im plakativen, aber heuristisch fruchtbaren Schema eines ‚von oben‘ und ‚von unten‘ lassen sich ihre Anthropologien als diametral entgegen gesetzte Entwürfe verstehen. Karl Barth hat sich im Rahmen dialektischer Theologie mit seiner markanten Rede einer „senkrecht von oben“ kommenden Offenbarung jeder religionsphilosophischen, im ‚anthropologischen Unten‘ ansetzenden Theo-

15 Vgl. hierzu etwa (die Aufsätze von) Trutz Rendtorff, Theologie in der Moderne, TroeltschStudien 5, Gütersloh 1991, bes. 13–17; Falk Wagner, Christentum und Moderne, ZThK 87 (1990), 124–144. Im Blick auf Karl Barth: Dietrich Korsch, Theologie in der Postmoderne. Der Beitrag Karl Barths, in: ders., Dialektische Theologie nach Karl Barth, Tübingen 1996, 74–92. Vgl. auch Hans-Martin Barth, Theologie der Säkularisation heute: Post-säkulare Theologie, NZSTh 39 (1997), 27–41, der auf die interreligiöse Dynamik und die Problematik der Säkularisierungsthese in der Spätmoderne hinweist.

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Einleitung

logie entgegengesetzt.16 Die Religion versteht er auch noch in der frühen Phase seiner Kirchlichen Dogmatik als Unglaube,17 die allein in der Offenbarung – als wahrer Religion – aufgehoben sei; aber auch später bieten für ihn die Phänomene des Menschlichen keinen sicheren Grund, um vom wirklichen und wahren Menschen handeln zu können. Die Denkbewegung läuft also ausschließlich von oben nach unten. Das zeigt sich überdies in der Makrostruktur seines theologischen Systems der Kirchlichen Dogmatik: Die Anthropologie kann keinen fundamentaltheologischen Rang beanspruchen (KD III), sie ist der Gottes- bzw. Trinitätslehre (schon KD I/1, §8ff) nachgeordnet. Wolfhart Pannenberg kehrt diese Bewegung seinerseits um. Er greift hinter Barth auf Traditionen der religionsphilosophischen Theologie zurück und setzt wieder im ‚anthropologischen Unten‘ an, genauer, bei den humanwissenschaftlich erhobenen Befunden. Für ihn bildet die Religion aber die eigentliche Tiefe bzw. die Höhe der Anthropologie, sie ist der verborgene Grund oder auch das Ziel aller Selbstdeutungsversuche des Menschen. Deshalb läuft hier die Bewegung von unten nach oben. Dem entspricht die Funktion, die Pannenberg seiner Anthropologie im systematischen Zusammenhang seiner Theologie beimisst: Sie hat nun eben fundamentaltheologische (Anthropologie in theologischer Perspektive18), das theologische System (Systematische Theologie I–III19) begründende Bedeutung. Diesem plakativen Schema (‚von unten‘ – ‚von oben‘) entsprechen nun auch die Urteile der jeweiligen Kritiker: Barth wird ein theologischer Absolutismus und eine totale Ablehnung der sich emanzipierenden Moderne vorgeworfen; Pannenberg wird der Verdacht einer ‚natürlichen Theologie‘ und eine zu große Offenheit gegenüber philosophischer Rationalität vorgehalten. Aber beide haben auch ihre Befürworter und Interpreten, die insbesondere im Blick auf die Frage nach einer (spät)modernen Theologie, das jeweilige Potential herausarbeiten und verteidigen.20 Es ist nun gerade dieser Gegensatz, diese starke – auch theologiegeschichtlich umstrittene – Spannung, die einen Vergleich der beiden Entwürfe unter Berücksichtigung des Gegenübers von Gottebenbildlichkeit und Identität fruchtbar erscheinen lässt. Gerade der starke Kontrast provoziert den

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Vgl. Karl Barth, Das Wort Gottes als die Aufgabe der Theologie (1922), in: Anfänge der dialektischen Theologie I, hg. von J. Moltmann, München 41977, 197–218. 17 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. I/2,§17.2, Zürich 51960, 324–356. 18 Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive. Religiöse Implikationen anthropologischer Theorie, Göttingen 1983. 19 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd.1 – Bd.3, Göttingen 1988–1993. 20 Vgl. zu den Positionen der Kritiker und der Verteidiger die Vorbemerkungen zu den jeweiligen Darstellungen: Karl Barth – 3. und Wolfhart Pannenberg – 4.

Warum Karl Barth und Wolfhart Pannenberg?

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genauen Blick auf die anthropologischen Entwürfe als auch die Frage nach einer möglichen Alternative, einer vermittelnden Position oder einem ‚dritten Weg‘? Es gibt noch einen zweiten, inhaltlichen Aspekt, der die Fokussierung der Entwürfe Barths und Pannenbergs im hier anvisierten Kontext – einer Verantwortung des christlichen Menschenbildes von der Gottebenbildlichkeit her – nahe legt. Beide zentrieren ihre Anthropologie nämlich tatsächlich im Begriff bzw. der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die Gottebenbildlichkeit verstehen beide als unverlierbare Gabe Gottes, die keine Eigenschaft des Menschen bezeichnet, sondern in der Beziehung Gottes zu seinem Ebenbild besteht. Gottebenbildlichkeit bedeutet das ontologische Bestimmtsein des Menschen durch Gott.21 Das heißt aber, es ist gerade nicht die Sünde des Menschen, die sie zum Ausgangspunkt einer Verantwortung des christlichen Menschenbildes wählen, etwa indem sie das ‚anthropologische Unten‘ von der Wirklichkeit eines sich selbst verfehlenden Menschen erfüllt sehen. Im Gegensatz etwa zu Emil Brunner22 oder auch bestimmten Denkern lutherischer Provenienz setzen beide nicht im Negativen, bei der Nicht-Identität an, um allererst zur Identität vor Gott bzw. zur Gottebenbildlichkeit aufzuschließen oder diese zu plausibilisieren.23 Sondern sie ‚fangen beim Positiven an‘, indem sie entweder beim wahren Menschen Jesus Christus (Barth) oder aber bei den von den nichttheologischen Anthropologien erhobenen Phänomenen des Menschlichen, die zunächst neutral und nicht automatisch durch die Sünde korrumpiert erscheinen (Pannenberg), beginnen. Es lässt sich vermuten, dass aus diesem ‚Anfang‘ am Ende ein fruchtbares Gespräch mit den Humanwissenschaften resultieren könnte, insofern der Außenbezug theologischer Anthropologie nicht zum Aufspüren des Menschen im Widerspruch funktionalisiert wird, so dass die Verkündigung des Evangeliums daran angeknüpft werden kann. Ihre Anthropologie ist zudem nicht in einem Schema von Sünde und Recht-

21 Michael Moxter (Der Mensch als Darstellung Gottes, 277/278) sieht vom Begriff der „Bestimmung“ her die kontroverstheologischen Probleme theologischer Anthropologie (Verlust der imago Dei, Imago-Reste u.a.) entschärft. Der Begriff der imago Dei wird dadurch „zum Platzhalter der menschlichen Bezogenheit auf Gott überhaupt und markiert insofern das Charakteristikum theologischer Anthropologie. Der dogmatische Begriff wird gleichsam remetamorphisiert und erzeugt dabei noch einmal produktive Kraft für ein mögliches Selbstverständnis. Seine aktuelle Bedeutung ist daher kein äußerlicher Reflex aktueller ethischer Debatten, sondern auch ein Ergebnis gelungener Arbeit am Dogma.“ 22 Emil Brunner, Der Mensch im Widerspruch. Die christliche Lehre vom wahren und vom wirklichen Menschen, Berlin 1937. 23 Vgl. zu diesem Problembereich Christof Gestrich, Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt: die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung, Tübingen 1989, 80–86.

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fertigung, Gesetz und Evangelium24 konzipiert. Wird ihr Umgang mit den Humanwissenschaften deshalb freier, eventuell ‚unverkrampfter‘ sein, weil es – bei allem Erkenntnis leitenden Interesse – nicht um die Zuspitzung der Anthropologie in der Hamartiologie gehen muss? Es wird sich zeigen, ob sich diese Vermutung verifizieren lässt, und ob im Rahmen ihrer Ansätze bei der unverlierbaren Gottebenbildlichkeit die Sünde, und damit auch die fragmentarische Wirklichkeit des spätmodernen Menschen, unterbelichtet bleibt. Ein letztes, formales Argument ist zu nennen, warum gerade Barths und Pannenbergs Anthropologien ausgewählt wurden. Ihre Entwürfe sind die letzten großen Darstellungen, die sich zum einen dem weitgespannten Bereich des anthropologischen Wissens in ihrer Zeit stellen und zum anderen einen umfassenden Anspruch auf die ‚Deutungshoheit‘ theologischer Anthropologie erkennen lassen. Sie wählen jeweils einen klaren Zugang zu den Phänomenen des Menschlichen, mit dessen Hilfe die disparaten Befunde geordnet werden. Für Barth ist es das Prinzip der analogia relationis, des dualen In-Beziehung-Seins, für Pannenberg das Prinzip der Antizipation bzw. des Bezogenseins auf die Ganzheit des Seins. Entscheidend ist dabei, dass sie in ihrer jeweilige Einheitsschau selbst wieder auf einen relativ einheitlichen humanwissenschaftlichen Begriff vom Menschen rekurrieren, im Falle Barths auf die Philosophie des Dialogismus oder Personalismus, etwa Martin Bubers, im Falle Pannenbergs auf eine bestimmte Interpretation der „Philosophischen Anthropologie“, etwa Plessners, Gehlens und zuvor Herders. Barth und Pannenberg bilden also überhaupt noch einen umfassenden Begriff vom Menschen im Gegenüber zu einem noch relativ einheitlichen nicht-theologischen Anthropologiekonzept aus. Damit ist aber die Grenze von theologischer Moderne und Spätmoderne insofern thematisiert, als gerade der Zerfall eines einheitlichen Menschenbildes in den Humanwissenschaften als Wesensmerkmal der Spätmoderne betrachtet werden kann. Die theologische Anthropologie war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eigenständige Disziplin ausgebaut worden, weil sie in der philosophischen Anthropologie und Existenzphilosophie, um nur die wichtigsten Strömungen zu nennen, ein relativ profiliertes und abgegrenztes Gegenüber fand: „Etwa zehn Jahre nach dieser auf breiter Front in Angriff genommenen Reaktivierung philosophischer Anthropologie formiert sich auch das neue Interesse an der theologischen Anthropologie, verbunden mit

24 Vgl. hierzu im programmatischen Sinn: Friedrich Gogarten, Der Mensch zwischen Gott und Welt, Stuttgart 1956; Gunda Schneider Flume, Die Identität des Sünders, bes. 103–133; dagegen aber Hans-Martin Barth, Rechtfertigung und Identität, PTh 86 (1997), 88–102.

Warum Karl Barth und Wolfhart Pannenberg?

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der Tendenz zur Verselbständigung“, resümiert Hermann Fischer 1978.25 Bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein wirkte dann dieser Impuls, wobei die Anthropologie Pannenbergs aber als später und letzter Höhepunkt gelten kann.26 Dann nämlich kam es aufgrund der Pluralisierung und der Krise der philosophischen Anthropologie, wie auch durch die starke Konkurrenz der sich als empirisch verstehenden Humanwissenschaften, insbesondere der Soziologie und Psychologie, zu einer Art Verwirrung der theologischen Anthropologie: In jedem Fall hat sich der Gesprächspartner der Theologie vervielfältigt, die Kommunikation vollzieht sich als „interdisziplinäre“, wobei der augenblicklich sehr gängige Begriff eine sachliche Notwendigkeit ebenso artikuliert wie er eine Verlegenheit kaschiert.27

Theologische Anthropologie scheint in der Folgezeit, wobei die in den 80er Jahren einsetzende Diskussion um die sog. Postmoderne noch nicht einmal mit einbezogen ist, nur noch als fragmentarischer Versuch der Bezugnahme zur säkularen Anthropologie möglich zu sein. Die theologische Anthropologie und ihr Verhältnis zur nicht-theologischen Humanwissenschaft, aber auch die Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit28 als solche, stand bis zuletzt also nicht gerade im Zentrum systematisch-theologischer Aufmerksamkeit. Zu unübersichtlich war und ist dieses Problemfeld. So sind aber auch die einschlägigen deutschsprachigen Aufsätze und Monographien zur Anthropologie Barths29 zumeist schon über 20 Jahre alt und haben selbstverständlich (noch) nicht die hier aufgeworfe25

Hermann Fischer, Tendenzen, 13. Vgl. Christof Gestrichs Beschreibung der Anthropologie Pannenbergs „als Frucht einer dreißigjährigen Arbeit“, die am „weitesten vorangeschritten (sei), was den Versuch einer Zusammenführung nichttheologischer und theologischer Deutungen des Menschlichen in der abendländischen Neuzeit anbetrifft“. Er sieht in Pannenbergs Monographie auch das Angebot eines „Dienst(es) theologischer Anthropologie für die Humanwissenschaften“, hat allerdings seine – berechtigten – Zweifel, „ob sich […] von hier aus auch in Philosophie und Wissenschaft Lernprozesse ergeben werden im Sinne einer neuen religiös-christlichen Öffnung oder Selbsterweiterung“ (Die Wiederkehr des Glanzes, 53/54). 27 Hermann Fischer, Tendenzen, 18. Vgl. auch den aktuelleren Überblick Hermann Fischers, Theologische Anthropologie in interdisziplinärem Horizont, bes. 20. 28 Etwas anders sieht das im Blick auf die Hamartiologie aus, insofern in Zeiten postmoderner Fragmentarisierungsprozesse die Nicht-Identität wohl stärker in den Blick kommt. Beispielhaft seien erwähnt: Christof Gestrich, Die Wiederkehr des Glanzes; Hanns-Stephan Haas, Bekannte Sünde. Eine systematische Untersuchung zum theologischen Reden von der Sünde in der Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 1992; Christine Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher, Tübingen 1996. Interessanterweise wurde Pannenbergs Anthropologie gerade von seinem Verständnis der Sünde her rezipiert, so etwa bei Christof Gestrich und HannsStephan Haas. 29 Vgl. besonders Konrad Stock, Anthropologie der Verheißung: Karl Barths Lehre vom Menschen als dogmatisches Problem, München 1980. 26

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ne Frage nach der spätmodernen Vermittlung des christlichen Menschenbildes im Blick. Ähnliches gilt auch für Wolfhart Pannenbergs „Anthropologie in theologischer Perspektive“ (1983), die zwar direkt nach ihrem Erscheinen große Aufmerksamkeit auf sich zog und intensiv kommentiert wurde,30 dann aber aus dem Fokus der Interpreten geriet und nur noch in Einzelfragen gleichsam konsultiert wird. Eine ihrer Gewichtigkeit angemessene Aufmerksamkeit entbehrt Pannenbergs Monographie bis heute, was möglicherweise eben mit dem erlahmenden Interesse31 an einer die Ganzheit betonenden Anthropologie zu tun hat, andererseits aber in der Wirkung der Systematischen Theologie (1988–1993) Pannenbergs begründet liegt, in deren langen Schatten sie geriet. Die Bedeutung der theologischen Anthropologie als Fundamentaltheologie wird in der Literatur zumeist konstatiert, allerdings ist es gerade das theologische System Pannenbergs, das fasziniert oder aber abstößt.32 Ein solcher, ausführlicher Vergleich der Anthropologien Karl Barths und Wolfhart Pannenbergs, wie er hier versucht wird, ist jedenfalls bisher noch nicht angegangen worden.33 Die Kategorisierung: von oben – von unten hat dabei zwar durchaus Tradition, allerdings in erster Linie im Bezug auf die Christologie.34 Es lässt sich resümieren: Sowohl die Gegenüberstellung und Bezugnahme der Vorstellungen von Gottebenbildlichkeit und Identität scheint so explizit noch nicht behandelt worden zu sein, ebenso wenig wie das Ver30

Vgl. hierzu beispielsweise Thomas Pröpper, Das Faktum der Sünde und die Konstitution menschlicher Identität. Ein Beitrag zur kritischen Aneignung der Anthropologie Wolfhart Pannenbergs, ThQ 170 (1990), 267–298. Pannenberg sah sich zu einer Erwiderung aufgerufen: Sünde, Freiheit, Identität. Eine Antwort an Thomas Pröpper, ThQ 170 (1990), 289–298. Siehe weitere Literatur unter Abschnitt 4. 31 Die ‚kleine Anthropologie‘ (Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 81995) aus dem Jahr 1962, mit ihrem zentralen Begriff der aus der Weltoffenheit ableitbaren Gottoffenheit, hat im Verhältnis größere Aufmerksamkeit erregt, als die weitläufigen und detaillierten Ausführungen in der ‚großen Anthropologie‘. 32 Vgl. dazu etwa Kurt Koch, Der Gott der Geschichte: Theologie der Geschichte bei Wolfhart Pannenberg als Paradigma einer philosophischen Theologie in ökumenischer Perspektive, Mainz 1988, bes. 425ff. Koch sieht in der Geschichtstheologie Pannenbergs gerade eine „Befreiung des theologischen Denkens zu einer neuen Unbefangenheit“ (425), die insbesondere den konfessionellen Graben – einer „natürlichen Theologie“ – zu überbrücken in der Lage sei (vgl. 428). Vgl. dagegen aber Eberhard Jüngel, Das Dilemma der natürlichen Theologie und die Wahrheit ihres Problems. Überlegungen für ein Gespräch mit Wolfhart Pannenberg, in: ders., Entsprechungen. Gott, Wahrheit, Mensch; theologische Erörterungen, München 1980, 158–177. 33 Das Thema ist allerdings schon in dem Aufsatz von F. LeRon Shults, Constitutive Relationality in Anthropology and Trinity: The Shaping of the Imago Dei Doctrine in Barth und Pannenberg, NZSTh 39 (1997), 304–322 angedacht worden. 34 Vgl. etwa Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 1964, 24ff oder Berthold Klappert, Die Auferweckung des Gekreuzigten. Der Ansatz Karl Barths im Zusammenhang der Christologie der Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 31981, 3ff.

Das Vorgehen und der Aufbau

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hältnis von theologischer Anthropologie und Humanwissenschaft bei Barth und Pannenberg. Überdies ist die Frage nach der Bedeutung – dezidiert – ihrer Anthropologien für die Spätmoderne noch nicht gestellt und beantwortet worden. Diese Lücke soll hier nun geschlossen werden.

Das Vorgehen und der Aufbau Das Vorgehen und der Aufbau Das erste Teilpensum dieser Untersuchung wird, wie schon angedeutet, darin bestehen, die spätmoderne Situation zu beschreiben, auf die sich die theologische Anthropologie beziehen kann. Dazu soll zunächst der Begriff der Gottebenbildlichkeit näher bestimmt werden (1.1), um dann aber den geistesgeschichtlichen – gerade nicht auf den binnentheologischen Bereich beschränkten – Relevanzverlust dieser Vorstellung in groben Zügen zu rekonstruieren (1.2–1.4). Die Beschreibung des Relevanzverlustes versucht der geistesgeschichtlichen Tiefe der spätmodernen Situation Rechnung zu tragen und zu einer realistischen Standortbestimmung aktueller theologischer Anthropologie zu führen. Das freilich plakative Motiv35 vom ‚Abstieg‘ und vom ‚Aufstieg‘ lehnt sich an Michel Foucaults folgende Aussage an: „Das Ende der Metaphysik ist nur die negative Seite eines viel komplexeren Ereignisses, das sich im abendländischen Denken vollzogen hat. Dieses Ereignis ist das Auftauchen des Menschen.“36 Im Zuge dessen wird hier die These zugrunde gelegt, dass der Relevanzverlust der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit mit einem Relevanzgewinn der Vorstellung von der Identität des Menschen zusammenhängt, dass aber keine völlige Substitution der Vorstellung der Gottebenbildlichkeit möglich scheint und erst recht nicht als erstrebenswert betrachtet wird. Wird der Relevanzverlust der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen wahr- und ernstgenommen, dann könnte die kritische Verbindung zur Vorstellung der Identität neue Spielräume für die theologische Anthropologie bieten und das eigene Profil schärfen. Danach soll der ‚Aufstieg‘ der Vorstellung von der Identität des Menschen (2.1–2.5) rekonstruiert werden, wobei direkter und genauer die Ver35

Eine Vorstellung und erst Recht ein Begriff als solche können nicht ‚absteigen‘; es kann sich nur die Art und Weise oder die Häufigkeit der Verwendung ändern. Der Ausdruck ‚Abstieg‘ bzw. ‚Aufstieg‘ bezieht sich deshalb auf die schwindende bzw. zunehmende Akzeptanz und vor allem Relevanz der Vorstellung. Und auch das wiederum ist ein höchst komplexer, multikausaler Prozess, der hier nur grob skizziert werden wird. Dennoch soll die griffige Semantik von Aufstieg und Abstieg genutzt werden, um die gegenseitige Abhängigkeit beider Prozesse zu betonen. 36 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1974, 383. Foucault gesteht interessanterweise der Metaphysik kein komplexes Abtauchen, sondern lediglich ein einfaches ‚Ende‘ zu. Das macht einem Denker in der Nachfolge Nietzsches alle Ehre, verzeichnet aber den wirklichen, vielschichtigen Prozess.

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Einleitung

wendung des Identitätsbegriffs und dessen Entwicklung nachvollzogen werden soll. Das wird – angesichts der zunächst zu konstatierenden Unbestimmtheit des Identitätsbegriffs – in einem ersten Überblick (2.1–2.2), dann nur in verschiedenen ‚Diskursen‘ möglich sein (2.3). Allein im Durchgang der verschiedensten Perspektiven und Horizonte, vor denen sich der Identitätsbegriff profilieren lässt, wird sich hinreichende Klarheit einstellen. Diese identitätstheoretischen Diskurse werden in eine – nicht völlig strenge – chronologische Abfolge gebracht, um die Aufarbeitung des ‚anthropologischen Feldes‘ auch in dieser Hinsicht auf die Darstellung der spätmodernen, gegenwärtigen Situation auszurichten. Die Rekonstruktion der Diskurse wird sich direkt auf die nicht-theologischen Theorien beziehen. Dabei soll nicht unterschlagen werden, dass es einen breiten Rezeptionsstrom des Identitätsbegriffs insbesondere in der Praktischen Theologie gibt, wobei vor allem der Begriff der Ich-Identität bei Erik H. Erikson im Rahmen seiner Entwicklungspsychologie und der – besonders durch Jürgen Habermas vermittelte – Bezug zu George Herbert Meads Begriff des social self die theologische Aufmerksamkeit auf sich zogen.37 Dennoch bzw. deshalb geht es im folgenden gleichsam um die direkte Rekonstruktion der – aus der Sicht des Theologen fachfremd – erhobenen anthropologischen Phänomene und Theorien, nicht aber um eine Kommentierung schon theologisch rezipierter Identitätsbegriffe. Vielmehr sollen die systematischtheologischen Bezüge, die hinter einem praktisch-theologischen Interesse – etwa der Poimenik oder Religionspädagogik – liegen, in den Blick genommen werden.38 Dabei wird freilich die Aufarbeitung und Ausrichtung der 37 Hier sei ein kurzer – freilich fragmentarischer – Überblick über die theologische Identitätsliteratur, insbesondere in der praktischen Theologie, gegeben: Hans-Martin Barth, Rechtfertigung und Identität; Knut Berner, Der neue Mensch. Rechtfertigungslehre und personale Identität, EvTh 64 (2004), 179–195; Wolfram Fischer, Identität – die Aufhebung der Religion? Der Identitätsbegriff als religionssoziologische Fundierungskategorie, WPKG 65 (1976), 141–161; Hans-Jürgen Fraas, Glaube und Identität. Grundlegung einer Didaktik religiöser Lernprozesse, Göttingen 1983; Michael Klessmann, Identität und Glaube. Zum Verhältnis von psychischer Struktur und Glaube, München 1980; die Arbeiten von Henning Luther, in: Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992; Norbert Mette, Identität ohne Religion? Eine religionspädagogische Herausforderung, in: Habermas und die Theologie: Beiträge zur theologischen Rezeption, Diskussion und Kritik der Theorie kommunikativen Handelns, hg. von E. Arens, Düsseldorf 1989, 160–178; Konrad Raiser, Identität und Sozialität. George Herbert Meads Theorie der Interaktion und ihre Bedeutung für die theologische Anthropologie, München 1971; den Aufsatzband: Religion. Selbstbewusstsein – Identität. Psychologische, theologische und philosophische Analysen und Interpretationen. Mit einer Einführung von T. Rendtorff, hg. von T. Rendtorff/K.G. Steck, Theologische Existenz heute (182), München 1974; Gunda Schneider-Flume, Die Identität des Sünders, 1983. 38 Es ist bezeichnend, dass der Begriff der Identität in der Theologischen Realenzyklopädie (TRE 16) nur philosophisch (I., Karen Gloy, 25–28) und praktisch-theologisch (II., Michael Klessmann, 28–32) besprochen wird. Eine systematisch-theologische Entfaltung im Rahmen der

Das Vorgehen und der Aufbau

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Identitätsdiskurse schon eine bestimmte theologische Methode der Aneignung erkennen lassen, deren Begründung allerdings erst im Schlussteil nachgeliefert werden wird (5.3) – nachdem nämlich auch die ‚methodische Frage‘ im Durchgang der Anthropologien Barths und Pannenbergs zur Klärung gelangt ist. Die abschließenden Bemerkungen zur Dynamik der Identitätsvorstellung und dem Kontaktpunkt zur theologischen Anthropologie bereiten den zweiten Teil vor (2.4 und 2.5). Im zweiten Hauptteil der Arbeit wird also zunächst die Anthropologie Karl Barths in den Blick genommen – sie ist die ältere und stellt für Pannenberg selbst einen wichtigen Bezugspunkt dar, so dass ihr der Vorrang in der Darstellung gebührt. Dabei wird zunächst das Methodische der Barthschen Anthropologie behandelt, d.h. wie er das Verhältnis von theologischer Anthropologie und Humanwissenschaften konzipiert (3.1). Danach soll Barths Begriff und seine Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit näher beschrieben werden, insofern vor dem Hintergrund des Programms einer ‚Anthropologie von oben‘ zunächst der theologische Kerngehalt des christlichen Menschenbildes zu bestimmen ist (3.2). Erst von hier aus kann dann sein Verständnis von Identität, als aus dem Gottesbezug abgeleitetes Konzept des Welt- und Selbstbezugs, näher erläutert werden (3.3). Eine kritische Würdigung schließt sich an (3.4), die zuletzt auch wieder die Ausgangsfrage nach der Vermittlung des christlichen Menschenbildes in der Gegenwart aufnimmt und darin den Schluss der vorliegenden Arbeit (5.) vorbereitet. Die Darstellung der theologischen Anthropologie Pannenbergs ist analog zu der Barths konzipiert, insofern zunächst das Verhältnis von Anthropologie und Theologie, von nicht-theologischer Humanwissenschaft und theologischer Anthropologie thematisiert wird (4.1). Da sich bei Pannenberg allerdings Anthropologie und Religion nicht so leicht differenzieren lassen – handelt es sich nun gerade um eine religiöse Dimension, die Pannenberg an den anthropologischen Einzelbefunden aufweisen will –, werden die Kategorien bzw. das grobe Schema von Identität und Gottebenbildlichkeit nicht ganz so deutlich hervortreten. Es wird vielmehr an zentralen Details die Vertiefung des anthropologischen Phänomens hin zur Religion nachvollzogen, d.h. erläutert, wie die Identität in der Gottebenbildlichkeit gründet und in dieser aufgehoben erscheint. Dennoch soll zunächst die Konzeption der Identitätsvorstellung Pannenbergs, das Selbst- und Weltverhältnis, besonders fokussiert werden (4.2), bis dann eine genauere Betrachtung der religiösen Tiefe als eine Bestimmung des Menschen zur Gottebenbildlichkeit im Wirken des Geistes (4.3) angeschlossen wird. Die kritische Würditheologischen Anthropologie fällt hingegen aus. Auch diese Lücke soll durch vorliegende Untersuchung gefüllt werden.

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gung (4.4) bündelt zuletzt die Anfragen, die schon bei der Darstellung aufkommen und teilweise diskutiert wurden. Im letzten Teil (5.) soll dann ein Schluss aus der Bearbeitung der Anthropologien Karl Barths und Wolfhart Pannenbergs für die Frage nach einer Verantwortung des Evangeliums von der Gottebenbildlichkeit in der – identitätstheoretisch aufgearbeiteten – Spätmoderne gezogen werden. Nach einer Zusammenfassung (5.1) wird zunächst, in Abgrenzung zu Barths und Pannenbergs Entwürfen (5.2), eine ‚perspektivische Wende‘ für die theologische Anthropologie gefordert, und es werden deren Konsequenzen bzw. die Grundzüge dieser veränderten Sicht auf die anthropologischen Phänomene näher beschrieben (5.3). Mit dem Versuch einer identitätstheoretischen Reformulierung der Rechtfertigungsbotschaft, die sich gleichsam der vakanten Stelle der Rechtfertigungstheologie in den Anthropologien Barths und Pannenbergs annimmt, soll der Ansatz im ‚anthropologischen Unten‘ zur Anwendung kommen (5.4). Mit einer erneuten Hinwendung zu Barth und Pannenberg (5.5) wird abschließend die Vorstellung der Gottebenbildlichkeit neu in den Blick genommen und in ihrem bleibenden Gehalt – gerade für die spätmoderne Situation – gewürdigt (5.6).

1. Der Abstieg der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen Der Abstieg der Gottebenbildlichkeit Zum Begriff der Gottebenbildlichkeit

1.1 Zum Begriff der Gottebenbildlichkeit Die theologische Anthropologie hat in der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen ihr eigentliches Zentrum. „Gottebenbildlichkeit“ ist gleichsam ein emblematischer Ausdruck für die theologische Grundbestimmung des Menschen, von der alle Einzelaussagen abgeleitet werden. Selbst das Thema „Sünde“ als Verfehlung der eigenen Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit und damit als Selbstverfehlung des Menschen kann keinen gleichwertigen Anspruch im Rahmen theologischer Anthropologie erheben.1 Der Begriff ist der biblischen Überlieferung Alten und Neuen Testamentes entnommen. Religionsgeschichtlich gesehen geht er darüber hinaus auf altorientalische Quellen zurück und wird zuerst im Bereich der Priesterschrift in den biblischen Zusammenhang eingebracht.2 Dabei ist hier zu konstatieren, dass sich kein einheitliches biblisches ‚Konzept‘ oder eine klare Theorie der Gottebenbildlichkeit exegetisch erheben lässt, auch wenn dieser Versuch immer wieder gemacht wurde.3 So wird die Gottebenbildlichkeit im Rahmen der Schöpfungsgeschichte als – auch postlapsarisch – bleibender göttlicher Zuspruch (Gen 1,26f; 5,3; 9,6) verstanden, während im Neuen Testament, etwa bei Paulus, auch von einer verwirkten Gottebenbildlichkeit (Röm 1,23), einer eschatologisch erst zu verwirklichenden 1 Darin besteht ein weitgehender Grundkonsens in der theologischen Anthropologie – gerade auch evangelischer Provenienz –, der sich in der Annahme ausdrückt, dass dem Menschen auch nach dem Sündenfall Gottebenbildlichkeit zuzusprechen sei. Die reformatorische Auffassung des Verlustes der Gottebenbildlichkeit wird meines Erachtens zu Recht kritisch gesehen. Vgl. dazu unten 1.2.1 und Moxter, Der Mensch als Darstellung Gottes, 276–278. 2 Vgl. den Überblick bei Walter Groß, Die Gottebenbildlichkeit des Menschen nach Gen 1, 26.27 in der Diskussion des letzten Jahrzehnts, in: Biblische Notizen, Beiträge zur exegetischen Diskussion, Heft 68, München 1993, 33–48, sowie die ausführlichen Angaben bei Claus Westermann, Genesis 1–11, BKI/1, Neukirchen-Vluyn 31983, 198–222. 3 Westermann wehrt sich als Exeget prinzipiell gegen einen systematischen „Denkzwang“: „Ohne eine methodische Erwägung wird in Gen 1,26f eine Imago-Dei-Lehre gesehen; die Worte werden einer biblischen Anthropologie eingeordnet […]. Immer ist dabei vorausgesetzt, es werde hier etwas über den Menschen ausgesagt, was ohne weiteres aus seinem Zusammenhang zu lösen sei und einem wesensanderen, dem einer Lehre, einer lehrhaften Systematik, einem Menschenbild o.ä. eingeordnet werden könne“ (Ebd., 214/215). Eingedenk dieser Kritik hat diese Arbeit dennoch ein systematischtheologisches Interesse und versucht gleichsam den Ausdruck „Gottebenbildlichkeit“ auszulegen.

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Der Abstieg der Gottebenbildlichkeit

(Röm 8,29; 1Kor 15,49) und einer allein Jesus Christus zukommenden gesprochen wird (2Kor 4,4; Kol 1,15; Hebr 1,3). Der spannungsvolle, nicht völlig harmonisierbare Textbefund bietet also einen disparaten Hintergrund für einen erst näher zu beschreibenden Begriff von der Gottebenbildlichkeit, überdies hat er zu einer ebenso disparaten Auslegungsgeschichte geführt.4 Im Folgenden wird es sich deshalb um einen weitgehend formalisierten, systematisch-theologischen Begriff bzw. um dessen Grundbestimmung handeln; die exegetische Diskussion im Detail wird dabei weitgehend zurückgestellt. Im Durchgang durch einzelne geistesgeschichtliche Stationen dieser Vorstellung, insbesondere aber im Blick auf die Anthropologie Barths und Pannenbergs, wird sich der Terminus „Gottebenbildlichkeit“ weiter klären und dabei werden die unterschiedlichen anthropologischen Konzeptionen deutlich werden. Hier (1.1.1–1.1.3) ist zunächst nur eine erste Vorklärung intendiert. 1.1.1 Gottebenbildlichkeit als Relation und Fähigkeit Der Gottebenbildlichkeitsbegriff thematisiert eine Relation, deren Relate genannt sind, nämlich Gott und sein Ebenbild – der Mensch. Dabei wird durch die Bezeichnung ‚Ebenbild‘ betont, dass der Mensch in seiner Ganzheit gemeint ist; der Begriff des Bildes bzw. der Statue (säläm) weist ja auf das umfassende Phänomen Mensch hin und steht tendenziell gegen dessen Fragmentierung. Noch bevor er also im Rahmen einer Analyse in den unterschiedlichsten Hinsichten näher bestimmt werden kann, wird er unter die Grundbestimmung der Gottesrelation gestellt. Das Wesen „Mensch“ zeichnet sich dadurch aus, dass es mit Gott in Beziehung steht und dass zu seiner Bestimmung gleichsam Maß an Gott genommen wird und nicht an anderen Lebewesen, Dingen oder Einzelphänomenen.5 Der Begriff Ebenbild Gottes und der Begriff Mensch6 werden somit zu Synonymen (Gen 5,3). Damit wird ein umfassender Anspruch erhoben: Die Gottesrelation ist nicht eine 4 Vgl. hierzu ausführlich den Sammelband: Der Mensch als Bild Gottes, hg. von L. Scheffczyk, WdF CXXIV, Darmstadt 1969; Groß, Gottebenbildlichkeit, 36–38 und Westermann, BKI/1, 204–214. 5 Die Selbstaufforderung Gottes im pluralis majestatis („Lasset uns Menschen machen …“ Gen 1,26), hebt die Schöpfung des Menschen als eine von allen anderen Wesen qualitativ unterschiedene hervor. Gottebenbildlichkeit bedeutet in diesem Sinne nach der Art Gottes geschaffen zu sein – im Gegensatz etwa zum lebendigen Getier: „… jedes nach seiner Art“ (Gen 1,24). 6 Gerade diese Identifikation der Begriffe löst allerdings schon die terminologische Problematik aus, die im Folgenden immer wieder auftauchen wird. Insofern der Mensch unter die Macht der Sünde geraten ist und diese seine Gottebenbildlichkeit zumindest ‚in Frage stellt‘, ergeben sich zuweilen verwirrende Begriffsbildungen, die bestimmte Hinsichten betonen: „wahrer Mensch“, „wirklicher Mensch“, „alter Mensch“, „neuer Mensch“, „empirischer Mensch“, „geistlicher Mensch“. Insbesondere im Blick auf Karl Barth und seinen Kontrahenten Emil Brunner wird im Einzelfall zu klären sein, was jeweils gemeint ist.

Zum Begriff der Gottebenbildlichkeit

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unter anderen, in denen der Mensch auch noch steht, sondern die alle anderen umfassende, in sich aufhebende. Es kann nichts Tieferes, Höheres oder Gültigeres über den Menschen ausgesagt werden, als dass er eben das Bild Gottes ist. Gottes Handeln macht dieses Wesen zum Menschen.7 Nun ist aber diese qualifizierende Relation äußerst unanschaulich und lässt sich eigentlich nur als Behauptung hin- oder als Glaubensgegenstand annehmen. Sie ist nicht unmittelbar zugänglich, sondern entzieht sich der direkten Erfahrung des Menschen.8 Es handelt sich hier vielmehr zunächst um einen Zuspruch oder eine Zuschreibung, die das Grundkonstituens für den Begriff des Menschen ausmacht. Die Gottebenbildlichkeit ist in dieser Hinsicht gleichsam als ‚Horizont‘ oder ‚Rahmen‘ zu betrachten, der das Phänomen ‚Mensch‘ umspannt und als ein auf Gott bezogenes qualifiziert. So bezieht sich die christliche Begründung der Würde des Menschen gerade auf diesen zugeschriebenen Rahmen und nicht auf irgendeinen Inhalt oder eine anthropologische Näherbestimmung (vgl. Gen 9,6). Dem Menschen eignet ein unendlicher Wert, weil Gott ihn geschaffen hat und ihn sich selbst als Abbild der eigenen Würde und Heiligkeit gegenüberstellt.9 Als solches Abbild ist der Mensch als Repräsentant Gottes aufgefasst, d.h. insofern die altorientalische Vorstellung einer die Gottheit abbildenden Statue im Hintergrund steht, wird der Mensch als ‚Ort‘ göttlicher Macht und Wirkung verstanden. Das ist in erster Linie eine funktionale Aussage: Gott will über die Schöpfung herrschen, indem er seine Herrschaft – im Blick auf einen begrenzten Bereich (Gen 1,26b) – durch den Menschen ausüben lässt. Dabei bleibt der Mensch freilich Gott gegenüber abhängig, insofern seine Gottebenbildlichkeit nicht in eine intrinsische Fähigkeit oder einen Habitus übergeht.10 Es ist nicht irgendetwas am oder im Menschen, das ihn zum Ebenbild Gottes macht, sondern die bestehende Gottesrelation als solche, die Bestimmung des Menschen durch Gott selbst. Die qualitative Differenz zwischen Gott und Mensch bleibt deshalb auch im Blick auf die Repräsentanz Gottes gleichsam ‚am Ort gottebenbildlicher Mensch‘ gewahrt. Walter Groß fasst zusammen: 7 Westermanns (BKI/1, 214) Urteil, das eine scharfe Alternative andeutet, vermag ich nicht nachzuvollziehen: „Der Text aber macht nicht eine Aussage über den Menschen, sondern über ein Tun Gottes.“ 8 Moxter (Der Mensch als Darstellung Gottes, 280) versteht die Gottebenbildlichkeit gerade als eine Kategorie der Selbstentzogenheit des Menschen: „‚Bild Gottes‘ wird er genannt, weil sich an ihm und für ihn zeigt, was seiner freien Souveränität entzogen ist: Einerseits der andere Mensch als eine letzte Grenze, an der seine Verfügungsmacht endet, andererseits er selbst in der Unverfügbarkeit seiner Freiheit.“ 9 Vgl. zu diesem Themenkreis: Menschenwürde, MJTh XVII, hg. von W. Härle und R. Preul, Marburg 2005; Peter Dabrock, Bedingungen des Unbedingten. Zum problematischen, aber notwendigen Gebrauch der Menschenwürde-Konzeption in der Bioethik, in: ders. u.a. (Hg.), Menschenwürde und Lebensschutz, Gütersloh 2004, 147–172. 10 Vgl. Moxter, Der Mensch als Darstellung Gottes, 280.

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Der Abstieg der Gottebenbildlichkeit

Der zweigeschlechtlichen Menschheit kommt in Bezug auf die Lebewesen und den Lebensraum königliche Herrscher- und Hirtenfunktion zu, aber nicht aus eigener Kraft, sondern als verantwortlicher Repräsentant Gottes: dazu hat Gott den Menschen als seine lebendige Statue erschaffen. Es ist eine Funktions-, nicht eine Qualitätsaussage.11

Der Mensch ist Ebenbild Gottes aufgrund der vorgängigen Beziehung Gottes zu ihm, die in der Schöpfung ihren Anfang in der Welt hat. Also erst von dieser zugrunde liegenden Gottesbeziehung aus oder darauf hin stellen sich, dann aber notwendigerweise, die im engeren Sinne anthropologischen Fragen. Wie äußert sich das Bestehen der Gottesbeziehung im Bereich des Phänomens Mensch? Was ist da innerhalb des Rahmens ausgespannt? Als Implikat der Gottebenbildlichkeit, oder aber – schwächer formuliert – als erste Folge und Indiz für die bestehende Relation wird also der Auftrag zum Herrschen genannt, das dominium terrae (Gen 1,26.28). Das auf Gott bezogene Wesen „Mensch“ ist in ein Weltverhältnis hinein geschaffen, d.h. sowohl dazu bestimmt als auch befähigt, Herrschaft verantwortlich auszuüben. Auf die Vernunftbegabung des Menschen, auf das bestehende Selbstverhältnis bzw. das Selbstbewusstsein des Menschen lässt sich hier zwar nur indirekt schließen, dieses liegt aber dem Weltverhältnis insofern zugrunde, als ohne die Subjektivität des Menschen kein selbstbestimmtes Handeln und damit auch keine ‚Herrschaftsbeziehung‘ gedacht werden kann.12 Gottebenbildlichkeit besteht also im eigentlichen Sinne nicht in der 11 Groß, Gottebenbildlichkeit, 47. Vgl. auch Erich Zengers (Gottes Bogen in den Wolken. Untersuchungen zu Komposition und Theologie der priesterschriftlichen Urgeschichte, SBS/112, Stuttgart 1983, 89) Ausführungen: „Die Menschen sind als Bilder und Statuen des Schöpfungsgottes Erscheinungsweisen und Medien göttlicher Wirkmächtigkeit in der Welt, d.h. durch die Menschen will der Schöpfergott sein innerstes Wesen offenbaren und die Erde als Lebensraum für alle Lebendigen schützen und gestalten.“ Westermann (BKI/1, 212) findet sich in diesem exegetischen Konsens allerdings nicht wieder: „Daß der Mensch Repräsentant Gottes auf der Erde sei, ist für P kein möglicher Gedanke.“ 12 Moxter schärft ein, dass Gottebenbildlichkeit nicht in bestimmten Eigenschaften bestehe und kein „Diskurs über Ausstattungsvorteile“ (Der Mensch als Darstellung Gottes, 275) geführt werden solle. Weder in der Morphologie, der Sprache, dem Geist, der triadischen Organisation des Seelenlebens, der Freiheit, der Kreativität, aber auch nicht im Selbstbewusstsein, der Personalität und der Sozialität ließe sich Gottebenbildlichkeit als Eigenschaft dingfest machen. Moxter führt die Spekulation über die Gottebenbildlichkeit als Eigenschaft auf einen problematischen Bildbegriff zurück. In der Theologiegeschichte habe man das Phänomen des Abbildens in den Vordergrund gestellt. Bildsein wurde als Ähnlichsein, als Abbilden verstanden. Das habe aber zum Dilemma geführt, den Sündenfall entweder als totalen Verlust der Gottebenbildlichkeit zu betrachten (Reformatoren) – aufgrund der qualitativen Unähnlichkeit –, oder aber in ein teilweise problematisches Schema von Bildsein und Ähnlichkeit, Natur und Gnade zu geraten (Alte Kirche). Moxter sieht die Lösung dieses Dilemmas – im Rahmen der modernen Auffassung von Gottebenbildlichkeit als Bestimmung – darin, die Vorstellung des Abbildens zu Gunsten der exegetisch gesicherten Vorstellung der Repräsentation aufzugeben. Im Blick auf den Begriff der Repräsentation eröffnet sich allerdings eine neue Problematik und Herausforderung, die Moxter wohl übersieht. Ist der Mensch nämlich „Darstellung Gottes“ (ebd.

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Fähigkeit des Menschen zu denken, als „animal rationale“ zu existieren, sondern das gottebenbildliche Sein bezeugt sich darin, wie auch in anderen Eigenschaften.13 Mit der Thematisierung des Welt- und Selbstverhältnisses des Menschen wird jedenfalls der Blick gleichsam auf das Innere des Rahmens der Gottebenbildlichkeit gelenkt, das Phänomen Mensch in seiner Verfasstheit als handelndes Wesen zur Sprache gebracht. So sehr also die Gottesrelation im Bereich des Gottebenbildlichkeitsbegriffs von den anderen möglichen Relationen unterschieden werden muss, insofern der Mensch darin ontologisch bestimmt wird, so sehr lässt sie sich doch nur im Bezug auf diese anderen Relationen adäquat und in vollem Umfang zur Sprache bringen. Der Mensch ist als dasjenige Wesen zu verstehen, „das aufgrund eines unverwechselbaren Verhältnisses Gottes zu ihm ein Selbstverhältnis ist, in einem Weltverhältnis steht und ein Gottesverhältnis hat.“14 Im Begriff der Gottebenbildlichkeit besteht also ein klar abgestuft strukturiertes, aber unauflösliches Verweisungsverhältnis von Rahmen und Füllung. Und deshalb sind auch in noetischer Hinsicht Gottes-, Welt- und Selbsterkenntnis untrennbar miteinander verkoppelt.15 Im Blick auf die Humanwissenschaften wird deshalb die theologische Anthropologie sowohl die Differenz als auch den Zusammenhang von Gottebenbildlichkeit als Grundrelation und Identität als abgeleitete Relation(en) zur Sprache bringen. 1.1.2 Gottebenbildlichkeit als Geschichte Der Begriff der Gottebenbildlichkeit lässt sich somit zunächst unter synchronem Blickwinkel als Zusammenfassung und Wertung des ‚Beziehungssystems‘ Mensch verstehen. Diese bloß statische Betrachtung der Relatio279), dann ist er es nicht als eine passive, leblose Größe, wie etwa eine Statue oder eine Skulptur, die ‚lediglich‘ die Macht der Gottheit repräsentiert, sondern er ist als handelndes Wesen geschaffen, das Herrschaft ausübt, d.h. aktiv vollzieht. Damit aber liegt das tertium comparationis im Handeln, im dynamischen Gestalten von Welt. Insofern ist dann also sehr wohl vom Abbilden und Ähnlichsein zu sprechen, da der Mensch gerade dazu geschaffen ist, wie Gott zu handeln, d.h. in seinem ihm zugemessenen Bereich die Herrschaft der Liebe Gottes abzubilden. Darin nämlich ‚sieht der Mensch Gott ähnlich‘. Vgl. dazu Bernd Janowski, Herrschaft über die Tiere. Gen 1,26– 28 und die Semantik von radah, in: Braulik, G. u.a. (Hg.), Biblische Theologie und gesellschaftlicher Wandel (FS G. Lohfink), Freiburg i.Br. 1993, 183–198. 13 Damit ist vorausschauend Karl Barths ausschließliche Fokussierung der Geschlechterdifferenz bzw. des Gegenübersein von Mann und Frau als Gottebenbildlichkeit als kritikwürdig einzustufen, insofern hier ein Indiz, eine Weise, wie sich Gottebenbildlichkeit des Menschen bezeugt, verabsolutiert wird. Vgl. dazu unten 3.2.3. 14 Eberhard Jüngel/Ingolf U. Dalferth, Person und Gottebenbildlichkeit, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft 24, Freiburg i.Br. 1981, 60. 15 Vgl. hierzu die theologiegeschichtliche Arbeit von Gerhard Ebeling, Cognitio Dei et cognitio hominis, Lutherstudien 1, Tübingen 1971, 221–272.

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nen ist allerdings eine unwirkliche Abstraktion, solange der Faktor Zeit unberücksichtig bleibt. Der diachrone Blick auf die Relationen muss hinzukommen. Mensch sein heißt ja, in ständiger Veränderung zu sein, Menschsein sein heißt Werden.16 Der Mensch steht nicht nur in einem Weltverhältnis, sondern er verändert sich gerade im Vollzug der Aneignung von Welt. Er knüpft an Erfahrungen an, verändert durch sein Handeln den äußeren Zusammenhang und muss die Folgen seines Handelns abschätzen und tragen. Auch in seinem – wie auch immer näher bestimmten – Selbstverhältnis bleibt er nicht gleich, vielmehr wandeln sich die Formen, sich selbst zu verstehen, die Selbsterkenntnis mag zunehmen, und die Fähigkeiten der Selbstbestimmung, des Denkens, auch die Motivationen des Handelns wechseln. Das scheinbare Kompliment: ‚Du hast dich ja gar nicht verändert!‘ ist von hier aus gesehen eine gutgemeinte Unmöglichkeit. Auch für das Gottesverhältnis gilt – zunächst allerdings nur in bestimmter Hinsicht – ähnliches. So sehr der Mensch nicht derselbe im Bezug auf Welt und Selbst bleibt, so sehr verändert er sich auch im Umgang mit Gott. Im Glauben übersteigt sich der Mensch, ‚ver-lässt‘ sich (selbst) auf Gott und wandelt sich in diesem Geschehen. Darüber hinaus unterliegen auch das Glauben und die religiösen Vollzüge, die ihm Form geben, einer Entwicklung. Analog zur Entwicklungspsychologie kann die Religionspsychologie deshalb gewisse Abschnitte oder Stufen in diesem Wandel nachzeichnen, die für eine ‚gesunde (religiöse) Entwicklung‘ entscheidend sind.17 Der Begriff der Gottebenbildlichkeit beinhaltet deshalb die Aspekte von Relation und Veränderung von Relation, d.h. von Geschichte. Genauer, die Relationen als solche, das Bezogensein auf Gott, Selbst und Welt, bleiben strukturell gleich, während sich die Relate und die Beziehungen in der Zeit ändern.18 Der Mensch ist Gottes Ebenbild gerade darin, dass er lebt, dass er handelt und dass er sich selbst und auch Gott bzw. den Ursprung seiner Subjektivität zu verstehen sucht. Kurzum, das Bild Gottes hat eine Lebensgeschichte. 16 Vgl. die prominente Stelle bei Martin Luther (WA 7,337,30): „…nit ein Weßen, sundern ein Werden […], wir seins noch nit, wir werdens aber.“ 17 Vgl. zum Überblick etwa Fraas, Glaube und Identität. 18 Hier öffnet sich gleichsam die semantische Differenz des Begriffs der Bestimmung – eine Differenz, die im Blick auf Barth und Pannenberg dann von zentraler Bedeutung sein wird. Die Bestimmung des Menschen als Ebenbild Gottes bedeutet zunächst synchron betrachtet die Begründung des Menschen, das heißt sein „Werden zur Person“ im – schöpfungstheologisch explizierbaren – Verhältnis Gottes zu ihm. Dann lässt sich der Terminus Bestimmung auf das diachron betrachtete menschliche „Werden als Person“ beziehen, insofern der Mensch bestimmt ist, seinem gottebenbildlichen Sein zu entsprechen. Vgl. zu dieser kategorialen Differenz: Jüngel/Dalferth, Person und Gottebenbildlichkeit, 70ff u. 87ff.

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Blickt man nun aber noch mal auf die Gottesrelation zurück, die dem Selbst-, Welt- und auch (vom Menschen als Akt zu vollziehendes) Gottesverhältnis als abgeleiteten Bestimmungen des Phänomens Mensch zugrunde liegt, so lässt sich auch hierin ein Aspekt der Veränderung erheben. Der Lebensgeschichte des Menschen steht gleichsam die ‚Lebensgeschichte Gottes‘ gegenüber. Gott ist ein lebendiger, ein sich verhaltender, der sich des Menschen annimmt (Ps 8,5; Phil 2,5ff) und der sich selbst zum gegenwärtigen Begleiter bestimmt (Ex 3,14; Mt 28,20). Seine Lebensgeschichte ist nach dem biblischen Zeugnis die Ursprungs-, Versöhnungs- und Vollendungsgeschichte des Menschen – und damit dessen Heilsgeschichte. Im Begriff der Gottebenbildlichkeit wird diese Geschichte und in deren Rahmen die menschliche Bestimmung ebenfalls umfasst. Bezieht sich die alttestamentliche Rede von der imago Dei auf jeden Menschen, so wird im Neuen Testament in erster Linie Jesus Christus als Ebenbild Gottes (2Kor 4,4; Kol 1,15; Hebr 1,3 u.a.) bezeichnet. Es herrscht also eine „polare Spannung zwischen einem protologisch-anthropologischen und einem christozentrisch-eschatologischen“19 Aspekt. Daraus folgt, dass sich „über den Menschen als Bild Gottes [...] allein in einer heilsgeschichtlichen Dynamik sinnvoll sprechen“20 lässt. Der zum Bilde Gottes geschaffene Mensch verkehrt sein Sein in der Abkehr von Gott und damit von seiner Bestimmung. In Jesus Christus wird dieser seine Gottebenbildlichkeit verkehrende Mensch, der Sünder, mit Gott versöhnt und durch den Geist in den Prozess einer tieferen Verwirklichung und Entsprechung seiner Gott- bzw. Christusebenbildlichkeit gezogen (vgl. 2Kor 3,18; Kol 3,10). Gottes Ebenbild zu sein heißt, als ein sich wandelnder und damit immer auch sündiger Mensch an der Geschichte Gottes mit den Menschen teilzuhaben. Die Bestimmung der Interdependenzen dieser sich entwickelnden Relationen lässt sich als die eigentliche Aufgabe einer theologischen Anthropologie ansehen. 19

Albrecht Peters, Der Mensch, HSTh 8, Gütersloh 21994, 192. Peters, Mensch, 192. Diese Spannung bzw. Dynamik wurde in der altkirchlichen Theologie, vor allem durch Irenäus von Lyon, in den locus classicus der Imago Dei, Gen 1,26, eingetragen, indem die beiden Begriffe demut/imago und säläm/similitudo dem Schema dieser Spannung zugeordnet wurden. Der Mensch ist qua Schöpfung Bild Gottes, imago Dei, aber er ermangelt der Ähnlichkeit, similitudo. Die durch den Sündenfall zerrissene Identität von Bild und Ähnlichkeit wird in Christus repristiniert bzw. in Vollkommenheit offenbar. Für die Väter der Alten Kirche ist die Wiederherstellung des verdeckten Bildes das Werk Christi, seiner Inkarnation und seiner Erlösung, die den Menschen wieder neu zum Sohn Gottes verwandeln. Der Mensch ist letztlich aber das Bild Gottes geblieben und kann aufgrund dieser Anlage in einen Prozess der Verähnlichung und Gleichgestaltung eintreten. Gottebenbildlichkeit wird in altkirchlicher, teleologischer Perspektive zum Projekt Gottes und des Menschen, Gnade und Natur wirken zusammen auf dem Weg der Bestimmung zur vollen Ähnlichkeit. Vgl. zur Übersicht: Henri Crouzel, Bild Gottes III (Alte Kirche), TRE 5, 499–502. 20

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1.1.3 Die Aufgabe theologischer Anthropologie Diese Aufgabe kann unterschiedlich angegangen und gelöst werden. Die Behauptung, die Gottesbeziehung sei für das Verständnis des Menschen von grundlegender Bedeutung, ist ja zunächst einmal eine rein formale und sehr offene. Jede theologische bzw. religiöse Anthropologie wird dieser Grundaussage zustimmen können. Differenzen und Divergenzen zeigen sich erst im Blick auf die folgenden drei eng zusammenhängenden Punkte: Zum einen finden sich solche in der Frage danach, wie der Zusammenhang von Gott-, Welt- und Selbstverhältnis näher bestimmt werden soll, etwa, wie und ob es aus der Selbsterkenntnis des Menschen zur Gotteserkenntnis kommen kann. Ob man von dem Phänomen Mensch – zumindest ein Stück weit – auf dessen Gottesrelation schließen kann oder nur in umgekehrter Richtung. Einer theologischen Anthropologie stehen prinzipiell diese zwei Wege offen: Entweder sie nimmt den Menschen zuerst von seiner Gottesrelation, von der Geschichte Gottes mit ihm, in den Blick, um dann die anthropologischen Befunde damit zu vermitteln, oder sie lässt sich zunächst auf eine Analyse des Selbst- und Weltverhältnisses ein, um von dort aus nach der theologischen Dimension im engeren Sinne zu fragen. Entweder sie geht offenbarungstheologisch vor oder religionstheoretisch, entweder sie agiert ‚von oben‘ oder ‚von unten‘. Allerdings ändert das nichts an der Tatsache, dass eine theologische Anthropologie, die sich nicht zuletzt am Begriff der Gottebenbildlichkeit orientiert, diese Vermittlung anstreben muss, um sich nicht in der bloßen Behauptung des ‚ganzen Menschen‘ zu erschöpfen. Zum anderen sind damit Differenzen verbunden, die zu Tage treten, wenn sich im Hintergrund des Menschenbildes das korrespondierende Gottesbild abzeichnet. Wird der Mensch in seiner Gottesbeziehung, coram Deo, in den Blick genommen, dann wird die Anthropologie die Entscheidungen innerhalb der Theologie, im engeren Sinne der Gotteslehre bzw. der Metaphysik, (weitgehend) spiegeln. Was ich über Gott sage, das prädisponiert auch meine Aussagen über den Menschen. Aber auch in anderer Richtung ist diese Abhängigkeit gültig: Was ich über den Menschen sage, das wird auch meinen Gottesbegriff prägen. Beide Ansätze, der offenbarungstheologische und der religionstheoretische, werden dann zwangsweise zu divergierenden Ergebnissen führen. Die Aussagen der theologischen Anthropologie sind deshalb schon in der Fundamentaltheologie und den Prolegommena gleichsam vorherbestimmt. Damit hängt zum dritten die Möglichkeit einer differenten Ortsbestimmung des anthropologischen Themas im Gesamtrahmen systematischer Theologie zusammen. Der Mensch kann in erster Linie innerhalb der Schöpfungslehre (Barth), aber auch anhand des Zerbruchs der Verhältnisse

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und dessen Überwindung, in der Hamartiologie und Soteriologie (Luther), betrachtet werden. Auch die Eschatologie (Herder, Pannenberg) ließe sich als primärer Bezugsrahmen für die Anthropologie ansehen. Natürlich werden alle ‚dogmatischen Kontexte‘ und anthropologischen Einzelaussagen aufeinander bezogen bleiben, die Dynamik des Gottebenbildlichkeitsbegriffs macht dies zur Notwendigkeit, aber es lassen sich doch Schwerpunkte in den jeweiligen Konzeptionen und Denktraditionen erkennen.

1.2 Deutungen der Gottebenbildlichkeit in der Geistesgeschichte Deutungen der Gottebenbildlichkeit 1.2.1 Offenbarungstheologische Anthropologie In der europäischen Geistesgeschichte lassen sich zwei anthropologische Traditionen oder besser Wirkungsbereiche unterscheiden, die allerdings schon in der Antike zusammenwuchsen und das Mittelalter prägten. Es handelt sich einerseits um die biblische Tradition, in erster Linie der Deutung des Menschen als Bild Gottes im Anschluss an Gen 1,26 und etwa Weisheit 2,23 und andererseits um den Einfluss der antiken, in erster Linie der aristotelischen Philosophie, die den „Menschen als animal rationale einerseits und als animal sociale et politicum andererseits“21 versteht. Beide Wirkungsbereiche konnten immer wieder – freilich auf unterschiedliche Weise miteinander vermittelt werden. So wurde auf dem Hintergrund der aristotelischen Philosophie etwa bei Thomas von Aquin22 unter ‚imago‘ die natürlich Gabe der Vernunft und Selbstbestimmung verstanden. Sie ist der Ausdruck einer Seinsähnlichkeit zu Gott, einer analogia entis, allerdings mit der teleologischen Bestimmung, „die Selbsterkenntnis und Selbstliebe Gottes nachzuahmen.“23 Der Mensch ist im Bereich der Schöpfung das wahre Gegenüber, ja er kann (in anderen Traditionen) geradezu als ein dem Makrokosmos korrelierender Mikrokosmos beschrieben werden. Allerdings ist er als „endliche(s) Subjekt nicht Ursprung einer Ordnung, sondern er ist an die vorausliegende Ordnung des Seins, des Weltganzen, verwiesen.“24 21

Christoph Flüeler/Ruedi Imbach, Mensch VI (Mittelalter), TRE 22, 501. Vgl. etwa Thomas von Aquin, Summa theologiae, I,93,4 zitiert nach TRE 22, 502. 23 TRE 22, 502. Freilich ist diese natürliche seinsanaloge Gabe der Vernunft eine weithin suffiziente, die der Erhebung durch die Gnade bedarf, um die Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott zu verwirklichen (vgl. etwa Sth I, 1,8). Im Weiteren vgl. Wilfried Joest, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967, 56–68. 24 Richard Heinzmann, Ansätze und Elemente moderner Subjektivität bei Thomas von Aquin, in: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität 1, Fetz R.L. u.a. (Hg.), Berlin 1998, 431. 22

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Durch die Reformation erfährt die scholastische, hauptsächlich aristotelische Ontologie eine scharfe Kritik. Wilfried Joest spricht – eingedenk der Tatsache „schlagworthafter Formulierung“ – davon, daß hier einem substanzialen, grundlegend an der Kategorie des Seinsbesitzes und der Seinsausstattung orientierten Personverständnis ein relationales, an der Begegnung von Ich und Du und dem Werden aus dem Dialogischen dieser Begegnung orientiertes Personverständnis entgegentritt.25

Die Gottebenbildlichkeit wird hier in den direkten relationalen Bezug Gottes zum Menschen gleichsam zurückgezogen. Diese Anschauung impliziert nun zwei wesentliche anthropologische Aspekte. Zum einen erfährt der Mensch in dieser individuellen Beziehung zu Gott eine enorme Aufwertung. Durch die Reformation wird ein starker Individualisierungsschub ausgelöst, insofern der Mensch nun nicht mehr der Heilsvermittlung durch die Institution der Kirche bedarf, d.h. diese in ihrer Funktion als Mittlerinstanz zwischen Gott und dem Menschen depotenziert wird.26 Der Mensch braucht zwar das „äußere Wort“, die Predigt des Evangeliums und die Sakramente, deren Verwaltung der kirchlichen Gemeinschaft weiterhin zufällt, aber dabei wird der Mensch eben nicht durch die menschliche Gemeinschaft bestimmt – heteronom –, sondern durch das lebendige Wort Gottes selbst – also theonom. Es ist das direkte Wirken des Wortes Gottes auf den Menschen und dadurch die individuelle Instanz des Gewissens, die der Heteronomie der Welt entgegengehalten wird.27 Der Mensch gewinnt seine Identität in der Gottesbeziehung und verwirklicht sie sekundär, als deren Folge in oder auch gegen die Welt. Diese extreme Stärkung des Individuums, ihre emanzipative Kraft, verbindet die Reformation mit der älteren Renaissance und dem Humanismus – insbesondere bei Melanchthon und dann Calvin fließen diese Traditionen, auf je unterschiedliche Weise, ineinander. Dennoch sieht sich die Reformation, vor allem in der Theologie und Anthropologie Luthers, grundsätzlich geschieden von einem optimistischen Verständnis des natürlichen Menschen. 25

Joest, Ontologie, 28. In der Vorstellung des „Priestertums aller Glaubenden“ wird die Gottesunmittelbarkeit in Wort und Sakrament demokratisiert, darin aber das Gottesverhältnis als solches gleichzeitig individualisiert. Vgl. etwa WA 6, 566: „Darum soll jeder, der ein Christ sein will, gewiß sein und sich darauf besinnen, daß wir alle auf gleiche Weise Priester sind, d.h. daß wir die gleich Gewalt am Wort Gottes und an jedem Sakrament haben.“ Vgl. hierzu auch Hans-Georg Soeffner, Luther – Der Weg von der Kollektivität des Glaubens zu einem lutherisch-protestantischen Individualitätstypus, in: Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, hg. von H.-G. Bosse/B. Hildebrand, Opladen 1988, 107–147. 27 Als gleichsam emblematischer Ausdruck für diese Veränderung mag Luthers Auftreten auf dem Reichstag zu Worms (1521) aufgefasst werden und die ihm zugeschriebenen Worte: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen!“ Vgl. zur genauen Formulierung: WA 7, 838, 2–8. 26

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Darin aber besteht der zweite wesentliche Aspekt der oben beschriebenen Anschauung. Ist es nicht mehr der Blick auf das Sein der Welt, durch den sich der Mensch zumindest in Ansätzen über sein Wesen belehren kann, dann aber auch nicht der Blick auf die eigenen Potenzen, auf die den Menschen auszeichnende Vernunft. Es ist allein der Blick auf Gott in Jesus Christus, oder im Sinne Luthers genauer: das aktuale Hören auf und Bestimmtwerden durch die „Wortwirklichkeit“ Jesu Christi.28 Das bedeutet, dass die Vernunft, so hoch sie zu schätzen ist, als ein Vermögen des „sterblichen und irdischen Menschen“29 zu betrachten ist, das mit dem Sündenfall unter die Macht des Teufels geraten ist (These 24). Wirkliche und durchsichtige Anthropologie ist somit nicht als philosophische Analyse des Phänomens Mensch möglich, sondern nur als Theologie, die „den ganzen und vollkommenen Menschen“30 definiert. Damit ist die Anthropologie, nun also ausschließlich als theologische, an das Wort Gottes verwiesen und wird sich damit auch nur im Rahmen der Schriftauslegung adäquat zur Sprache bringen lassen. Erneut, die den Menschen bestimmende Instanz ist nach Luther kein dem Menschen innewohnendes Prinzip oder eine Fähigkeit, sondern das von außen kommende, wirkende Wort Gottes, nun aber genauerhin: das Wort von der Rechtfertigung des Sünders. Für Luther ist die Anthropologie in der Rechtfertigungslehre zentriert, sie findet ihren Sitz im Leben in der Soteriologie, denn nur im aktualen Wortgeschehen kommt dem Menschen wahres Sein31 zu. Die Definition des Menschen fasst Luther deshalb darin zusammen, „daß der Mensch durch den Glauben gerechtfertigt werde“ (These 32). Dieser Konzeption einer im Wortgeschehen aktualen Bestimmung des Menschen korrespondiert die 28 Vgl. hierzu: Joest, Ontologie, 355–365, bes. 362: „Die Heilswirklichkeit ist für Luther ‚worthaft‘. Heil wird wirklich im aktualen Ereignis des Wortes, das sich Gehör und Glauben schafft.“ 29 Martin Luther, Disputatio de homine, These 3, zitiert nach: Gerhard Ebeling, Disputatio de homine, Lutherstudien 2, Teil 1, Tübingen 1977, 15. 30 Ebd., 19, (These 20). 31 Im Blick auf diese Arbeit ist vorausschauend zu formulieren: Im Seinsverständnis kollidieren nicht nur Barth und Pannenberg, sondern beide wiederum mit Luther. Das Sein der im Glauben durch das Wortgeschehen aktual konstituierten Person bei Luther steht gleichsam quer zu dem schöpfungstheologisch (Barth), wie auch eschatologisch (Pannenberg) in Christus gesichertem, gottebenbildlichen Sein des Menschen. Peters (Mensch, 59) formuliert im Blick auf die ‚Grundstimmung‘ der Anthropologie Luthers: „Unter dem Skopus der Rechtfertigung des Gottlosen bleiben alle Horizonte menschlicher Existenz durchstimmt vom Bewußtsein, daß wir in jedem Moment unseres Lebens über unauslotbaren Abgründen gehalten werden; unter den ständigen Vermittlungen sind wir hierin unmittelbar zu Gott.“ Eine vollkommene Harmonisierung der Seinsverständnisse wird auch in dieser Arbeit nicht gelingen, hoffentlich aber ein fruchtbares Inbeziehungsetzen im Schlussteil (5.). Vgl. zur ontologischen Dimension des Rechtfertigungsgeschehens: Joest, Ontologie, bes. die Skizze des Problems: 13–50; prinzipiell: Wilfried Härle/Eilert Herms, Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens. Arbeitsbuch, Göttingen 1980, 41–99.

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Auffassung der Gottebenbildlichkeit bei Luther. Insofern dem sündigen Menschen nur durch das Wort Gottes wahres Sein vermittelt wird, ist ihm nach dem Fall keine Gottebenbildlichkeit mehr zuzuschreiben, denn Gottebenbildlichkeit impliziert die Vorstellung, in vollkommener Gottesverbundenheit und Gottoffenheit zu leben.32 Der Mensch aber verdeckt nicht nur oder pervertiert sein gottebenbildliches Sein in der Sünde, sondern er hat mit dem Sündenfall seine Gottebenbildlichkeit verwirkt.33 Im Hintergrund steht für Luther dabei die Identifizierung von „imago“ und „similitudo“, von Gottebenbildlichkeit und Ähnlichkeit im Rahmen der Ursprungsgerechtigkeit des Menschen. Luther weigert sich, hier ein dynamisches Verhältnis von „imago“ und „similitudo“ zu konstruieren, wie etwa in der altkirchlichen Tradition, um einer „cooperatio“, einem Zusammenspiel von Natur und Gnade keinen Vorschub zu leisten. Für Luther bezieht sich Gottebenbildlichkeit – protologisch – ausschließlich auf den prälapsarischen Zustand des Menschen, dann aber – christologisch – auf die Erneuerung des Gottesbildes in Jesus Christus und zuletzt – eschatologisch – auf das Zielbild der gottverbundenen Vollkommenheit im Gottesreich.34 Die menschliche Kreatur ist für Gott deshalb „der Stoff zu ihrer herrlichen künftigen Gestalt“ (These 36). In der Beziehung zum Gottesbild Jesus Christus wird dieser Verwirklichungsprozess verborgen vollzogen, doch Gottebenbildlichkeit wird dem Mensch erst (wieder) in der Offenbarung des Vollkommenen, jenseits des Irdischen zukommen.35 Im Blick auf den alttestamentlichen Befund übergeht Luther dabei allerdings die in Genesis 5,1.3 und 9,6f36 ausgedrückte Kontinuität des Menschen als Bild Gottes – gerade auch nach dem Fall – und betont deren Zukünftigkeit im Anschluss an Aussagen der paulinische Tradition (Röm 8,29 und bes. 1Kor 15,49). Für ihn fällt das freilich ohnehin disparate biblische Zeugnis zur Gottebenbildlichkeit im Alten und Neuen Testament37 auseinander, gleichsam analog zum Zerwürfnis des Menschen mit Gott in der Sünde, ohne dass er es in einem systematischen Konzept unterbringt. Luther sieht im Blick auf den unter die Sünde verkauften Menschen jedenfalls 32

Zur prälapsarischen Gottebenbildlichkeit des Menschen vgl.: Peters, Mensch, 43f. An die Stelle der Gottebenbildlichkeit ist eine andere ‚Bildlichkeit‘ getreten: „Aber das selbe Bilde ist nu untergegangen und verderbet und an des Statt des Teufels Bilde aufgericht‘ …“ (WA 24, 153,14). Vgl. den analogen Gedanken bei Paulus in Röm 1,23. 34 Vgl. die prägnante Erörterung bei Peters, Mensch, 43–49. 35 Hier unterscheidet sich das Verständnis einer werdenden Gottebenbildlichkeit bei Herder und Pannenberg von dem Luthers, insofern sie schon dem Menschen im Prozess des Werdens Gottebenbildlichkeit zuschreiben, teilweise unter Verwendung des umstrittenen Begriffs der Anlage. Vgl. hierzu unten 4.2.3. 36 Vgl. zur Beurteilung des Umgang Luthers mit diesen Bibelstellen: Peters, Mensch, 45/46 (Anm. 85). 37 Vgl. oben Abschnitt 1.1.1. 33

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keine positive Kontinuität der Gottebenbildlichkeit. Die schöpfungstheologische Bedeutung Jesu Christi als Schöpfungsmittler (Kol 1; Hebr 1; auch Joh 1) wirkt sich überdies nicht auf die Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen aus.38 Das Problem der Kontinuität der Gottebenbildlichkeit wird dann bei Melanchthon und Calvin wieder virulent, insofern beide stärker vom Humanismus geprägt sind und die Vernunft nicht so pessimistisch bewerten, wie es bei Luther den Eindruck macht.39 Die Vorstellung von ‚Resten der Gottebenbildlichkeit‘ nach dem Fall kommt hier auf, Reste, die etwa im intellektuellen Vermögen und (lediglich verderbten) Fähigkeiten im Vergleich zum Tier bestehen.40 Mit diesen die Natur des Menschen ein Stück weit rehabilitierenden Aussagen rückt die reformatorische Tradition wieder stärker an die antike Tradition heran, allerdings büßt sie dabei die Klarheit der Position Luthers ein. 1.2.2 Subjektivitätsphilosophische Anthropologie Neben der Reformation gab es, wie oben schon erwähnt, noch eine andere Strömung, die nun direkter als diese die Emanzipation des Menschen im Blick auf das Eingebunden- und Bestimmtsein durch die von Gott geschaffene kosmische Ordnung propagierte. Die Renaissance und der Humanismus lassen sich – in aller Vorsicht – als die geistigen Strömungen ansehen, in denen dieser Prozess durch den Rückgriff auf die antike Philosophie wenn nicht angestoßen, so doch massiv beschleunigt wird. Giovanni Pico 38

An dieser Stelle verläuft die Bruchlinie zwischen Luthers Menschenbild (mit Einschränkung auch der anderen Reformatoren) und den etwa hier untersuchten Anthropologien Barths und Pannenbergs. Beide propagieren die Kontinuität der Gottebenbildlichkeit, allerdings nicht als eine dem Menschen innewohnende Fähigkeit oder aber auch als einen natürlichen, von der Sünde nicht recht tangierten Rest, sondern als bloßes Faktum der Beziehung Gottes zum Menschen. Diese – dem Menschen zugesprochene, sein Sein begründende – Beziehung ist seine Gottebenbildlichkeit und deshalb unverlierbar. Wie unschwer zu erkennen sein wird, schließe ich mich im Blick auf das biblische Zeugnis dieser Konzeption an, aber nicht ohne das Anliegen Luthers aufnehmen zu wollen, das Rechtfertigungsgeschehen ins Zentrum der Anthropologie zu stellen. Vgl. dazu den Schlussteil dieser Arbeit (5.) und die Ausführungen bei Härle/Herms, Rechtfertigung, 97–99. 39 Vgl. hierzu aber die Bewertung der Vernunft bei Luther als „jene allerschönste und allerherrlichste Sache, welche in voller Größe die Vernunft auch nach dem Sündenfall geblieben ist“ (Disputatio de homine, These 24, 20). Die Vernunft ist damit allerdings kein Rest der Gottebenbildlichkeit, da sie lediglich als anthropologisches Vermögen auf die Welt-, nicht aber die Gottesbeziehung bezogen ist. Sie ist trotzdem unter der Macht des Teufels und vermittelt keine wirkliche Gotteserkenntnis. Vgl. zur differenzierten Bewertung der Vernunft bei Luther: Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 214–218. 40 Vgl. zur Anthropologie Melanchthons und Calvins die Übersicht bei Peters, Mensch, 59–74 (Melanchthon) und 75–96 (Calvin), wie auch Walter Sparn, Mensch VII (Von der Reformation bis zur Aufklärung), TRE 22, 515f.

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della Mirandolas berühmte Rede „Über die Würde des Menschen“ (1486) dokumentiert das eindrücklich. Darin wird ausgeführt, dass Gott dem Menschen „kein deutlich unterscheidbares Bild“ wie den Tieren gegeben habe, damit er „jedes beliebige Gesicht und alle Gaben“ nach seinem eigenen Willen haben und besitzen könne. Im Rahmen einer stilisierten Gottesrede formuliert Pico della Mirandola: Den übrigen Wesen ist ihre Natur durch die von uns vorgeschriebenen Gesetze bestimmt und wird dadurch in Schranken gehalten. Du bist durch keinerlei unüberwindliche Schranken gehemmt, sondern du sollst nach deinem eigenen freien Willen, in dessen Hand ich dein Geschick gelegt habe, sogar jene Natur dir selbst vorherbestimmen. Ich habe dich zur Mitte der Welt gemacht...41

Gott wird hier zwar immer noch als Schöpfer und Ursprung der Seinsordnung verstanden, aber er setzt den Menschen nicht in die Mitte, sondern zur Mitte der Welt. Die Würde des Menschen besteht nun in dem Vollzug des eigenen Willens, indem er nicht nur die Natur, sondern auch sich selbst umgestaltet, dass er sein kann, „was er will“42. Der Mensch ist somit zum ‚deus secundus‘ (Nikolaus von Cues) geworden. Diese Auswanderung des vernunft- und sprachbegabten Menschen aus der göttlichen Determination in die Autonomie und Würde des Mitschöpfers wird hier grundgelegt und in der Aufklärung weitergeführt.43 Dennoch wird an der Gottebenbildlichkeit des Menschen weitgehend festgehalten. Er ist das Bild Gottes, weil und indem er frei handeln kann, indem er zum selbstbestimmten Aktionszentrum der Welt wird und darin das Schöpfersein Gottes spiegelt. Dabei wird die gute Ordnung Gottes nicht mehr als ein Äußeres verstanden, dem es zu entsprechen gilt, sondern wandert gleichsam nach innen, in die innere Tiefe des Menschen, die er nun ausschöpfen kann. Die Aufmerksamkeit richtet sich somit immer stärker auf die Subjektivität des Menschen, auf sein Selbstverhältnis, das seinen Umgang mit der Welt und mit Gott bestimmt. Durch das ‚cogito‘ Descartes’ wurde diese Wende zum Subjekt auf den Punkt gebracht, und seine scharfe Trennung von ‚res cogitans‘ und ‚res extensa‘ ermöglichte dem denkenden Menschen, die Welt als Gegenstand und Material des Handelns zu betrachten – was zur Wurzel einer Ideologie instrumentellen Handelns werden konnte. Allerdings ist bei Descartes die Subjektivität des Menschen nicht ohne die Subjektivität Gottes, d.h. kon-

41 Zitiert nach: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Bd.3, Renaissance und frühe Neuzeit, hg. von Stephan Otto, Stuttgart 1984, 347. 42 Ebd., 348. 43 Vgl. die berühmte Bestimmung bei Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1783), Werke Bd. VI, hg. von W. Weischedel, Darmstadt 51998, 53–61.

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sequent von ihr her zu denken.44 Vor dem Hintergrund des ontologischen Arguments gründet das Selbstbewusstsein im Gottesbewusstsein, auf Gottes vorgängiger Existenz. Erst mit der konsequenten Kritik des Erkenntnisvermögens des Menschen durch Kant und die damit zusammenhängende ‚Zertrümmerung‘ der herkömmlichen Metaphysik wird nun die menschliche Subjektivität (in dieser Hinsicht auch notgedrungen) zum neuen archimedischen Punkt der Philosophie.45 So sehr Kant dieses Fundament dann aber weiter kritisch ausbaut, so hält er es doch für ein durchaus ambivalentes, insofern der Mensch einerseits der Erscheinungswelt, der kausal determinierten Natur, angehört, andererseits aber als vernünftiges, moralisches Wesen, eines der Freiheit sei. Seine Anthropologie hat deshalb auch eine pädagogische Spitze, da dem Menschen als autonomem Vernunftwesen dessen Verwirklichung im Widerstreit gegen die triebhafte Natur aufgegeben ist. Das Gottesverhältnis wird in dieser Konzeption dann aber ganz in das Verhältnis zur praktischen Vernunft hineingezogen, Gott wird zum Postulat derselben, während für die ontologische Begründung der Person der Gottesbezug keine Verwendung mehr findet. Der Deutsche Idealismus knüpft eng an Kant an, setzt sich aber deutlich von ihm ab, indem es zu einer Neuaufnahme der Metaphysik kommt: Fichte und nach ihm Schelling und Hegel glaubten, in der von Kant initiierten transzendentalen Reflexion ein Rüstzeug zu haben, das, zu mehr als bloß erkenntniskritischer Grenzziehung taugend, die Neugründung der Metaphysik auf dem von Kant erschlossenen Kontinent der Subjektivität ermöglichen würde.46

Auf jeweils verschiedene Art wird das vernünftige Subjekt entgrenzt und seine Verankerung im Absoluten offengelegt. In Hegels geschichtsphilosophischem System erscheint das Subjekt als endlicher, subjektiver Geist, der sich aus der Entfremdung durch die die jeweiligen Gegensätze (etwa Leib–Seele u.a.) vermittelnde Vernunft emporarbeitet, um sich auf einer höheren Stufe wiederzugewinnen, um auf dem Weg zu Gott, dem absolutem Geist, fortzuschreiten. Des Menschen Gottebenbildlichkeit bezeichnet sein Geist-Sein an sich, dessen Grundzug die Entwicklung, die Teilhabe am Weltprozess bedeutet. Hier wird der Gedanke einer dynamischen Gottebenbildlichkeit, einer ‚Verähnlichung‘ und Versöhnung ausgeführt, 44 René Descartes, Meditationes de prima philosophia, Philosophische Schriften in einem Band, Hamburg 1996, bes. Meditation III. 45 Vgl. die klassische Formulierung Immanuel Kants in der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (Werke Bd.VI, 407): „Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle anderen auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und, vermöge der Einheit des Bewußtseins, bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person …“ 46 Peter Furth, Erhöhung und Erniedrigung des Menschen im Deutschen Idealismus, in: Philosophische Anthropologie der Moderne, hg. von R. Weiland, Weinheim 1995, 54.

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der maßgeblich seit Herder47 die Anthropologie prägt. Dabei ist es das ausdrückliche Anliegen Hegels, die Religion und die Philosophie miteinander zu versöhnen, bzw. ihre gemeinsame Wurzel und ihr gemeinsames Ziel freizulegen48. Schöpfung, Fall und Versöhnung sind deshalb mythische Beschreibungen des Prozesses, in den der entfremdete endliche Geist hineingerissen ist.49 Bis ins 19. Jahrhundert hinein ist die philosophische und religiöse Anthropologie50 von dieser Grundfigur bestimmt, nach der die Subjektivität die Basis für die Aussagen über den Menschen und Gott bildet. Doch so breit dieses Fundament auch ausgebaut wurde, es geschah in erster Linie im Rahmen einer ‚Vernunftanthropologie‘, die den Menschen als Geistwesen verstand, sich aber kaum um die anderen Anteile menschlichen Seins kümmerte. In einem Prozess der „Verinnerlichung und Vergeistigung“51 wurde der Mensch auf sein vernünftiges Selbst- und Weltverhältnis zurückgeführt und darin seine Geistigkeit als Abbild der absoluten Geistigkeit Gottes erkannt. Michael Landmann spricht von einer „Glorifizierung der Vernunft“, insbesondere im deutschen Idealismus, in deren Kulmination sich aber schon eine Gegenbewegung abzeichne, nämlich eine „Entthronung der Vernunft“.52

47 Vgl. zu Herder die Ausführungen im Blick auf Pannenbergs Verständnis der Gottebenbildlichkeit als Bestimmung: 4.2.3.1. 48 Georg Wilhelm Friedrich Hegel (Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, 1830, Hauptwerke in sechs Bänden, Bd. 6, Hamburg 1999), spricht gerade davon, dass „der Inhalt der Philosophie und der Religion derselbe“ (556) sei. Während die „Religion […] die Wahrheit für alle Menschen“ darstelle (556), so müsse die Philosophie als die „esoterische Betrachtung […] Gottes und der Identität, wie des Erkennens und der Begriffe“ aufgefasst werden. In der sich denkenden Idee, d.h. der Philosophie, mündet der Überblick über die Wissenschaften. Die Religion wird damit in die Philosophie hinein aufgehoben. Dem entspricht die Aufhebung religiöser Inhalte im Begriff. Vgl. hierzu die Kritik Pannenbergs, Theologie und Philosophie, 285–293 und Karl Barths ähnliche Kritiklinien in: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Berlin 31961, 343–378. 49 Vgl. hierzu Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche – Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg 1995, 33 u.a. 50 Vgl. die Zusammenstellung zwecks kritischer Sichtung der Subjektivitätskonzepte bei Ingolf U. Dalferth, Subjektivität und Glaube. Zur Problematik der theologischen Verwendung einer philosophischen Kategorie, NZSTh 36 (1994), 32–35: Hier ließe sich auch Schleiermachers „unmittelbares Selbstbewusstsein“ und Kierkegaards Bestimmung des „Selbst als ein Verhältnis von Endlichem und Unendlichem“ einzeichnen. 51 Walter Schulz, Philosophie in einer veränderten Welt, Pfullingen 1972, 253ff und 336ff. „Der gemeinsame Ansatz aller der in dieser Epoche maßgebenden Theorien besagt: der Mensch ist Vernunftträger, genauer: der Mensch ist ein Wesen, das den Geist als das maßgebende Prinzip zu setzen hat. Vergeistigung ist die eigentliche Aufgabe des Menschseins“ (369). 52 Michael Landmann, Philosophische Anthropologie – menschliche Selbstdeutung in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1975, 86ff und 96ff.

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1.2.3 Zusammenfassung: Die beiden Grundtypen christlicher Anthropologie53 Für die Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit ist die Differenz von Gott und Mensch konstitutiv. Diese Urdistanz, die als solche erst Beziehung54 und damit Gottebenbildlichkeit ermöglicht, ist im offenbarungstheologischen, personalistischen Typus religiöser Anthropologie streng gewahrt. Gott ist extra nos, der nur als solcher einer pro et in nobis sein kann. Der Mensch ist Geschöpf Gottes und als Sünder auf das rettende Handeln Gottes angewiesen. Nur als passiver Gegenstand solchen Handelns ist der Mensch richtig erfasst und kann dann aus seinem Selbst- im Weltverhältnis aktiv Handelnder betrachtet werden. Im subjektivitätsphilosophischen, metaphysischen Typus religiöser Anthropologie scheint diese Distanz stark verringert, zuweilen fast aufgehoben zu sein.55 Eine Dialogik von Gott und Mensch wird hier in eine – auf Spinoza rekurrierende – Dialektik in Gott umgewandelt, die etwa im Falle Hegels geschichtsphilosophisch dynamisiert wird.56 Dennoch weisen die Gegensatzpaare endlich–absolut bzw. endlich–unendlich auf die für den Menschen unhintergehbare Differenz zwischen Gott und Mensch; was es wiederum sinnvoll erscheinen lässt, die Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit weiterhin aufrecht zu erhalten, und sie als biblischen Begriff

53 Diese beiden Grundtypen christlicher Anthropologie spiegeln sich – freilich mit Einschränkungen – in den Anthropologien Karl Barths und Wolfhart Pannenbergs. Das heuristische Schema einer Anthropologie ‚von oben‘ bzw. ‚von unten‘ findet hier sein geistesgeschichtliches Recht, dann aber auch seine Grenzen. Vgl. dazu die Einleitungen zu den Abschnitten 3. und 4., dann aber auch 5.2.3. 54 Vgl. Martin Buber, Urdistanz und Beziehung. Beiträge zu einer philosophischen Anthropologie I, Heidelberg 41978. 55 Dieser Vorwurf wird insbesondere aus den Reihen des sogenannten Personalismus bzw. Dialogischen Denkens erhoben. Es wird hier eine mangelnde Distanz von Gott und Mensch attestiert. Es handele sich nicht um ein Ich-Du-Verhältnis, sondern um ein Verhältnis bloß innerhalb der Subjektivität, etwa nach dem Vorbild Fichtes von Ich und Nicht-Ich. Daraus resultiere eine „Icheinsamkeit“ (Ferdinand Ebner), die jeder Form transzendentaler Philosophie anhafte. Vgl. dazu grundsätzlich Michel Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 21982, bes. VII–XIV; Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M. 41997, 52–65 (Idealismus und Theodizee). Im Bereich der Theologie ist der Personalismus insbesondere für Friedrich Gogarten (Der Mensch zwischen Gott und Welt) prägend. Vgl. die grundsätzlichen Ausführungen von Gerhard Gloege, Der theologische Personalismus als dogmatisches Problem, KuD 1 (1955), 23–41. 56 Pannenberg (Typen des Atheismus und ihre theologische Bedeutung, in: Grundfragen systematischer Theologie, Gesammelte Aufsätze Bd.1, Göttingen 1967, 353) hat gezeigt, dass Hegel Gott selbst zwar als das Wesen des Menschen versteht, der sich aber deshalb nicht – im Sinne Feuerbachs – in der menschlichen Gattung auflöse, sondern „als seine ihm jenseitige Bestimmung“ gegenüberstehe. Dennoch ist Hegel den Vorwurf des Pantheismus nicht losgeworden, trotz seiner Verteidigungsversuche. Vgl. G.W.F. Hegel, Enzyklopädie, 557f.

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für die philosophische Interpretation offenzuhalten, ja durch diese ihren wahren Sinn zu erheben.

1.3 Gottebenbildlichkeit und anthropologische Kritik57 Gottebenbildlichkeit und anthropologische Kritik 1.3.1 Die Menschen-Ebenbildlichkeit Gottes Aber hier setzt nun die erste und vielleicht tiefste Kritik an der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen an, indem es nämlich zur vollen Aufhebung der Differenz von Gott und Mensch kommt und eine neue anthropologisch-immanente Differenz ausgeformt wird. Ludwig Feuerbach hat diesen Schritt vollzogen, wenn er in dem klassischen Werk der Religionskritik, „Das Wesen des Christentums“, offenzulegen versucht, „daß das Geheimnis der Theologie nichts anderes als die Anthropologie“58 sei. Dabei behauptet er, dass eigentlich schon in der metaphysischen Anthropologie, aber auch in der offenbarungstheologischen Tradition die Differenz von Gott und Mensch aufgehoben worden sei, ohne aber daraus die zwingende Konsequenz zu ziehen, Gott als bloße Projektion des Menschen zu entlarven. Gerade darin sieht er aber seine Aufgabe, das heißt, den „notwendige(n) Wendepunkt der Geschichte“ herbei zu führen und dies offne Bekenntnis und Eingeständnis (sc. zu formulieren), daß das Bewußtsein Gottes nichts andres ist als das Bewußtsein der Gattung [...], daß der Mensch kein andres Wesen als absolutes, als göttliches Wesen denken, ahnden, vorstellen, fühlen, glauben, wollen, lieben und verehren kann als das menschliche Wesen.59

Feuerbach legt also eine andere Differenzierung seinen Ausführungen zugrunde, nämlich die zwischen Gattung bzw. Wesen des Menschen und menschlichem Individuum. Dem Menschen steht nun nicht mehr ein Gott gegenüber, der Personalität beanspruchen kann, ja noch nicht einmal ein – unpersönlich gedachter – göttlicher Geist, sondern die Gattung oder We57 Der Beginn des Abstiegs der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit verorte ich hier bei Feuerbach – als für die theologische Anthropologie vielleicht wichtigsten Protagonisten der anthropologischen Wende in der Philosophie nach Hegel. Es geht hierbei in erster Linie um seine Religionskritik. Dabei sollen aber wesentliche „materialistische Impulse für eine nachidealistische Theologie“ nicht diskreditiert werden. René Buchholz hat in seiner Studie: Körper – Natur – Geschichte. Materialistische Impulse für eine nachidealistische Theologie, Darmstadt 2001 gerade diese Aspekte der Philosophie- und Theologiegeschichte neu hervorgehoben. Die Leibgebundenheit (Feuerbach, Nietzsche), die Bedeutung der Psyche (Freud, Jung) oder auch die Fragmentarizität und Ambivalenz der Geschichte als der der Herrschenden (Benjamin, Adorno) hebt Buchholz zu Recht in den Fokus der Aufmerksamkeit theologischen Nachdenkens über den Menschen. 58 Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Stuttgart 1998, 314 u.a. 59 Ebd., 400.

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senheit des Menschen. Die Differenz zwischen Gott und Mensch wird in die zwischen unendlicher Gattung und endlichem Individuum zurückgezogen. Und vor dem Hintergrund dieser Reduktion kann Feuerbach die Religion(en) kritisieren60, das heißt ihre Gottesvorstellungen als Anthropomorphismen gleichsam entmythologisieren, sie aber durchaus auch positiv als Versuch verstehen, das unerschöpfliche menschliche Wesen in einem Begriff oder mythischen Zusammenhang zu bündeln, um es sich gegenüberzustellen. Pointiert spricht er deshalb von der „Ebenbildlichkeit Gottes“61, die der Gottebenbildlichkeit des Menschen eigentlich vorausgehe: „Erst schafft der Mensch ohne Wissen und Willen Gott nach seinem Bilde, und dann erst schafft wieder dieser Gott mit Wissen und Willen den Menschen nach seinem Bilde.“62 Es ist diese subtile Umkehrung, die die Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit, ja überhaupt eine theologische Bestimmung des Menschen von Grund auf diskreditiert. Gott ist lediglich die Projektion, das Geschöpf des Menschen und wenn sich der Mensch von diesem her bestimmt, dann bezieht er sich allein auf das eigene entschränkte Selbst, die Gattung. Feuerbach hat mit dieser Konzeption der Religion und der theologischen Anthropologie zwar keinen Todesstoß versetzt, aber doch einen ‚Musterzweifel‘ eingestiftet. Und er hat das weitere Nachdenken über den Menschen dahingehend bestimmt, daß der Mensch nicht mehr theologisch von Gott her, sondern anthropologisch aus sich selbst her zu denken sei, diese von Feuerbach erstmalig radikal vorgetragene These wird zur anerkannten und selbstverständlichen Voraussetzung des späteren 19. Jahrhunderts.63

Feuerbachs Religionskritik und der Versuch, die Theologie in Anthropologie aufzulösen, trifft beide oben beschriebenen Grundkonzeptionen religiöser Anthropologie im Kern.64 Der metaphysischen Anthropologie wirft 60 Vgl. ebd. 400: „Unser Verhältnis zur Religion ist daher kein nur verneinendes, sondern ein kritisches; wir scheiden nur das Wahre vom Falschen.“ 61 Ebd., 337. 62 Ebd., 192. 63 Schulz, Philosophie in einer veränderten Welt, 376. 64 Vgl. 1.2.3. Vor der Religionskritik Feuerbachs, die geradezu als der Grundtypus eines reflektierten Atheismus verstanden werden kann, steht die Theologie – gleich welcher Provenienz – zunächst machtlos dar. Diese Einsicht wird von Pannenberg (Typen des Atheismus, 353) verschleiert, wenn er gegen die Gefahr – bzw. die Theologen, die ihr seiner Meinung nach erliegen – polemisiert, sich angesichts der Religionskritik Feuerbachs in „einen supranaturalistischen Naturschutzpark zurückzuziehen“. Weder die Offenbarungstheologie (Karl Barths) noch „die neuzeitliche Metaphysik, (die) die Subjektivität des Menschen immer nur unter Voraussetzung eines Gottes denken“ konnte, kann sich gegen die Projektionsthese Feuerbachs immunisieren. Andererseits sind beide theologische Lager genötigt, die Religionskritik Feuerbachs positiv aufzunehmen und auf die Kritik menschlicher Gottesvorstellungen einzugrenzen und davon gerade die Selbstvorstellung bzw. Offenbarung Gottes als unkritisierbares Faktum abzuheben und als Grundlage des eigenen Denkens zu profilieren.

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Feuerbach vor, sie verdecke, dass die absolute Subjektivität Gottes nach dem Vorbild menschlicher endlicher Subjektivität gebildet wurde. Eigentlich würde hier vom Menschen auf Gott geschlossen und alle Prädikate, wie absolut, unendlich, ewig, allmächtig u.a. als Entgrenzungen des Individuums konzipiert. Diese seien aber rechtmäßig nicht einem jenseitigen Gott, sondern vielmehr der Allgemeinheit und Unendlichkeit menschlichen Seins zuzueignen. Feuerbach sieht die Inkonsequenz darin, ein göttliches Gegenüber zu konstruieren, obwohl es sich doch bloß um eine immanente Entzweiung des Menschen mit sich selbst handle: Wenn nun aber, wie es in der Hegelschen Lehre heißt, das Bewußtsein des Menschen von Gott das Selbstbewußtsein Gottes ist, so ist ja per se das menschliche Bewußtsein göttliches Bewußtsein. Warum entfremdest du also dem Menschen sein Bewußtsein und machst es zum Selbstbewußtsein eines von ihm unterschiednen Wesens, eines Objektes? Warum eignest du Gott das Wesen, dem Menschen nur das Bewußtsein zu? [...] Kehre es um, so hast du die Wahrheit: das Wissen des Menschen von Gott ist das Wissen des Menschen von sich, von seinem eigenen Wesen.65

Die metaphysische Anthropologie kann sich angesichts dieser geforderten Kehre nur auf die Behauptung zurückziehen, dass die Differenz von Gott und Mensch prinzipiell unaufhebbar und das menschliche Sein vom Sein Gottes abzuleiten sei und nicht umgekehrt. In ähnliche Nöte gerät auch die reformatorische, offenbarungstheologische Anthropologie, denn Feuerbach bezieht sich ebenfalls auf deren Verständnis des innersten Kerns christlicher Theologie, die Christologie, und radikalisiert sie.66 Er interpretiert die Vorstellung von der Inkarnation als ein endgültiges Eingehen Gottes in das Wesen des Menschen, so dass die Differenz von Gott und Mensch darin aufgehoben wird. Gott selbst behält nichts von seinem göttlichen Sein zurück, sondern erschöpft sich im ‚pro nobis‘, in seinem Sein für den Menschen. Der inkarnierte Gott ist das Prinzip der liebevollen, herzlichen Zuwendung zum einzelnen Menschen: „Hierin liegt der erhebende Eindruck der Inkarnation: das höchste, das bedürfnislose Wesen demütigt, erniedrigt sich um des Menschen willen.“67 Feuerbach versteht sich hier aber als religiöser Aufklärer – der gerade die Erhabenheit des christlichen bzw. protestantischen Glaubens erweisen will 65

Feuerbach, Wesen des Christentums, 346. Während die Dialogik des Gottesverhältnisses bei Feuerbach aufgehoben wird, erhebt er eine solche auf der anthropologischen Ebene, indem er die Mitmenschlichkeit als ein Ich-DuVerhältnis versteht und dem Personalismus damit wichtige Impulse gegeben hat. Der Personalismus hat Feuerbachs Rede vom Ich-Du-Verhältnis nicht zu Unrecht in die eigene Ahnenreihe gestellt. Vgl. Martin Buber, Nachwort. Zur Geschichte des dialogischen Prinzips, in: Das dialogische Prinzip, Gerlingen 61992, 302ff; Ders., Das Problem des Menschen, Heidelberg 51982, 58– 77. 67 Feuerbach, Wesen des Christentums, 112. 66

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– indem er nun die Inkarnation Gottes als eine Rückkehr des Menschen zu sich selbst verstanden wissen will: „der menschgewordene Gott ist nur die Erscheinung des gottgewordenen Menschen.“68 An der göttlichen Liebe des Christus kann der Mensch seine eigene Liebe, sein eigenes Herz erkennen, weil Gott nur „der Spiegel des Menschen“69 ist. Das sei die Lektion, die bei ihm zu lernen ist, dass Christologie nichts als religiöse Anthropologie ist und dass gerade darin das Wesen des Protestantismus gegenüber einem in supranaturalen Spekulationen, in der Theologie sich verlierenden Katholizismus bestehe.70 In Feuerbachs religionskritischen Ausführungen, letztlich aber im Bereich des „Umsturz(es) der Hegelschen Philosophie durch die Junghegelianer“71 handelt es sich um einen umfassenden Angriff auf eine theologische Anthropologie und damit auf die Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen: „Homo homini Deus est – dies ist der oberste praktische Grundsatz – dies ist der Wendepunkt der Weltgeschichte.“72 Das Maß des Menschen wird der (unterschiedlich gefasste Begriff) Mensch selbst und die Humanität nach dem entsprechenden Ideal gebildet. Bei Feuerbach ist dieses Ideal die Gattung des Menschen, nach dessen höchsten Werten sich das einzelne Individuum selbst bestimmen soll. Der historische Materialismus Karl Marx’ endet beim kommunistischen Menschen, der privatim nichts mehr zu eigen hat, Stirner beim Unmenschen, der auch noch das Menschsein wie eine Eigenschaft unter anderen hat und Kierkegaard wieder bei Christus, an dem der Mensch für alle Zeiten sein übermenschliches Maß hat.73

1.3.2 Die Entthronung der Vernunft74 Ein zweiter heftiger Angriff auf die christliche Anthropologie deutet sich ebenfalls bei Feuerbach schon an. Wenn er von der Inkarnation handelt, dann überraschen die warmen und weichen Töne, in denen er das tut. Er spricht von Gott als Persönlichkeit, als Herz, als Liebe, als Leiden, als empfindendes Wesen und von der seelenvollen Gesinnung und der Sinnlichkeit, in der sich der Mensch diesem zuwendet.75 Da Gott aber die Projektion des 68

Ebd., 102. Ebd., 120. 70 Ebd., 522ff. 71 Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, 78. 72 Feuerbach, Wesen des Christentums, 401. 73 Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, 344. 74 Vgl. hierzu auch Buchholz, Körper – Natur – Geschichte, 115–126. 75 Vgl. Feuerbach, Wesen des Christentums, 72, 110, 120, 404 u.a. 69

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Menschen, der Ausdruck der Wesenheit Mensch ist, kann und darf sich die Anthropologie nicht allein mit der Vernunft des Menschen beschäftigen, die sich in einem unpersönlichen, nichtsinnlichen, leiblosen Gott wiederspiegelt. Die Vernunft wird hier freilich noch nicht (völlig) entmachtet, da ohne sie Bewusstsein und das Wissen um den Menschen als Gattungswesen nicht möglich wäre. Aber, sie wird von Feuerbach in die Abhängigkeit von der Sinnlichkeit des Menschen, in die Natur und den Leib zurückgezogen. Feuerbach plädiert deshalb für eine realistisch-materielle Anthropologie, weil das Ich, von dem der Idealist ausgeht und die Welt konstruiert sieht, nur ein erdachtes sei, dessen Abhängigkeit vom Leibe völlig unterschätzt werde. Er will vielmehr eine Philosophie, d.h. Anthropologie, die das Ich nicht in ein ‚Ich denke‘, in die Nacktheit der Selbstreflexivität auflöst: Ich ist nur eine sprachliche Ellipse, die bloß der Kürze halber ausläßt, was sich von selbst versteht, nämlich Ich: dieses Individuum, das hier denkt, hier in seinem Leibe, insbesondere im Kopfe außerhalb dem deinigen, denkt.76

Das ‚wirkliche‘ Ich versteht Feuerbach überdies als die konkrete Realität des Menschen in seinem Verhältnis zum Mitmenschen – zu seinem Du – und innerhalb der Geschlechterdifferenz: „Das wirkliche Ich ist nur weibliches oder männliches Ich, kein geschlechtsloses Das.“77 Feuerbachs Sensualismus wird nicht durch eigene eingehende physiologisch-naturwissenschaftliche Forschungen gestützt, so dass die Betonung der Sinnlichkeit noch als relativ abstraktes philosophisches Postulat erscheint, aber er hat eine Umpolung der Anthropologie angestrengt, die „die von der Spekulation stiefmütterlich behandelte Empirie in ihre Rechte wieder“78 einsetzen will. Die anthropologische Frage ist nicht mehr als „Schlaf des Geistes“ (Hegel) abzutun, sondern als Hauptgegenstand philosophischer Reflexion79 zu betrachten, die hellwach werden soll für die Bedeutung des Leibes, für die Natur des Menschen. Diese Tendenz der Verleiblichung wird in der Folgezeit weitergeführt, etwa in Arthur Schopenhauers Willensmetaphysik, aber besonders bei Friedrich Nietzsche. Nietzsche zieht ähnlich wie Feuerbach, allerdings in größerer Radikalität, gegen die idealistisch gedachte Subjektivität zu Felde. Er destruiert – im Sprachgebrauch des 20. Jahrhunderts: er dekonstruiert – das menschliche Subjekt, in dem er es zunächst im Leib aufgehoben sieht: 76 Feuerbach, Kritik des Idealismus, Gesammelte Werke, Kleinere Schriften IV, hg. von W. Schuffenhauer, Berlin 1972, 171/172. 77 Feuerbach, Kritik, 173. 78 Hans-Jürgen Braun, Ludwig Feuerbachs Lehre vom Menschen, Stuttgart – Bad Cannstatt 1971, 97. 79 Hegel hat sich freilich intensiv mit der Anthropologie auseinandergesetzt, allerdings gleichsam als Material seiner dialektischen Methode. Vgl. Enzyklopädie, 233–477.

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„Wesentlich: vom Leib ausgehen und ihn als Leitfaden zu benutzen. Er ist das viel reichere Phänomen, welches deutlichere Beobachtung zuläßt. Der Glaube an den Leib ist besser festgestellt als der Glaube an den Geist.“80 Nietzsche hält das menschliche Ich, das Subjekt, für eine äußerst vielschichtige Wirklichkeit, die durch die idealistische Vernunftmetaphysik konsequent verdeckt wurde. Ja noch mehr, die Philosophie seit Kant sei einer Täuschung aufgesessen, sie sei einem „Subjekt- und Ich-Aberglaube(n)“81 erlegen und habe diesen selber weiter tradiert und angereichert. Ähnlich, wie der Mensch sich einen Gott erdenkt, ihn an den Himmel projiziert, so habe die anthropologische Metaphysik aus dem Grundirrtum über das Ich eine Grundwahrheit gemacht: Der Mensch hat seine drei „inneren Tatsachen“, das, woran er am festesten glaubte, den Willen, den Geist, das Ich, aus sich heraus-projiziert – er nahm erst den Begriff Sein aus dem Begriff Ich heraus, er hat die „Dinge“ als seiend gesetzt nach seinem Bilde, nach seinem Begriff des Ichs als Ursache.82

Dieses Vorgehen sei aber wesentlich für die christliche Moral, die davon zeuge, dass der Mensch es nicht ertrage, ein nicht festgestelltes Tier zu sein, einer zu sein, der über dem eigenen inneren – zuweilen bestialischen – Abgrund existieren muss. „Die christliche Moral – die bösartigste Form des Willens zur Lüge“ ist der Grund und Urheber der Tatsache, „daß man eine ‚Seele‘, einen ‚Geist‘ erlog, um den Leib zu schanden zu machen“.83 Die Lüge und Erfindung des Ich ist also analog zur Lüge und zum Irrtum des Gottesglaubens84 motiviert und konstruiert. In seiner Subjektivitäts-, wie in seiner Religionskritik ist Nietzsche unendlich viel radikaler als Feuerbach. Er hält den Atheismus, die relativ unbedarfte Behauptung der Gottlosigkeit bei Feuerbach, für keine harmlose Sache. Der tolle Mensch, der den Tod Gottes ausruft und die Allgemeinheit des Mordes bezichtigt, der den „ganzen Horizont“ weggewischt sieht, vor dem sich der Mensch als Mensch bestimmt sah, der kann auf die Trag- und Reichweite dieses Ereignisses nur hinweisen: „‚Ich komme zu früh‘, sagte 80 Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, Werke in 3 Bänden, hg. von K. Schlechta, München 1954, Bd. III, 476. Vgl. auch ebd., 732: „Für diese innere Welt gehen uns alle feineren Organe ab, so daß wir eine tausendfache Komplexität noch als Einheit empfinden, so daß wir eine Kausalität hineinerfinden, wo jeder Grund der Bewegung und Veränderung uns unsichtbar bleibt, – die Aufeinanderfolge von Gedanken, von Gefühlen ist ja nur das Sichtbarwerden derselben im Bewußtsein.“ 81 Werke II, Jenseits von Gut und Böse, 566. 82 Werke III, Götzendämmerung, 973 83 Werke II, Ecce homo, 1157. 84 Vgl. Werke II, Die fröhliche Wissenschaft (151), 139. Nietzsche sieht die Religion nicht in einem „Trieb und Bedürfnis“ begründet, sondern hält ihre Konstruktion einer „andern Welt“ für einen bloßen „Irrtum in der Auslegung bestimmter Naturvorgänge, eine Verlegenheit des Intellekts.“

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er dann, ‚ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen.‘“85 Nietzsche selbst versucht die ersten Konsequenzen aus dieser radikalen Wende zu ziehen und entdeckt im Lichte des Todes des einen christlichen Gottes auch den Tod des einen Subjektes. Dem Polytheismus86, dem er die positive Seite abgewinnt, zur Destruktion des Monotheismus und zur Überwindung des Menschen hin zum Übermenschen beizutragen, korrespondiert eine ‚Polysubjektivität‘: Die Annahme des einen Subjekts ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist es ebenso gut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zugrunde liegt. […] Meine Hypothese(n): Das Subjekt als Vielheit.87

Nietzsche hielt die breite Wirkung des Atheismus für eine Sache der Zukunft, vielleicht dachte er ähnliches von seiner Kritik der Subjektivität, die ein Jahrhundert später in den Kreisen der ‚Neonietzscheaner‘, der postmodernen Dekonstruktivisten und in mancher Identitätstheorie zur vollen Entfaltung kommen sollte.88 Der Nihilismus Nietzsches ist allerdings nicht Selbstzweck, sondern verfolgt das Ziel, neuen Freiheitsraum für die Überwindung des Menschen durch den Übermenschen zu schaffen. Wie aus dem Nichts des destruierten Subjektes, erst recht aus einer zerschlagenen Gottebenbildlichkeit und damit göttlichen Fremdbestimmung, steigt der absolute ‚Wille zur Macht‘ empor, das neue Prinzip des Seins und Handelns. Der Mensch wird also einerseits seiner Bestimmung als Gottesbild89 beraubt, ja sogar seine Subjektivität wird als Projektion entlarvt, andererseits wird er aber in eine neue Ebenbildlichkeit gestellt, in die des Übermenschen. Problematisch ist dabei allerdings, dass einerseits das Profil des Übermenschen nicht klar umrissen wird bzw. werden kann, seine Verwirklichung liegt ja noch in der Zukunft, und dass andererseits das destruierte, multiple Ich neue Formen von Subjek85 Ebd., Die fröhliche Wissenschaft (125), 127. Vgl. auch ebd., Die fröhliche Wissenschaft (343), 205: „Das größte neue Ereignis – das ‚Gott tot ist‘, daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen“ (Hervorhebungen von T.W.). 86 Ebd., Die fröhliche Wissenschaft (143), 134/135. 87 Werke III, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, 473. 88 Vgl. Werke II, Ecce homo (Warum ich so gute Bücher schreibe): „Ich selber bin noch nicht an der Zeit, Einige werden posthum geboren.“ Die Konjunktur postmoderner Philosophie insbesondere in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts gibt Nietzsche Recht. 89 Vgl. Werke II, Zur Genealogie der Moral, 893: „Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangfolge der Wesen ist dahin – er ist ein Tier geworden, Tier, ohne Gleichnis, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott (‚Kind Gottes‘, ‚Gottmensch‘) war...“

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tivität und Freiheit freisetzen soll. Nietzsche kann das nicht wirklich transparent machen, wie aus der Negation eine Position, wie aus der Destruktion des (alten) Menschen die notwendige Konstruktion des (neuen) Übermenschen folgen soll.90 In diese Linie gehört zum Schluss auch Sigmund Freud,91 das hat Paul Ricoeur herausgestellt: Es ist kaum daran zu zweifeln, daß Freud mit seinem Werk die Bewußtwerdung des modernen Menschen ebenso nachhaltig beeinflußt hat wie Marx oder Nietzsche; [...] sie rücken derselben Illusion zu Leibe, jener Vorstellung, die einen so imponierenden Namen trägt: der Illusion des Selbstbewußtseins.92

Für Freud ist die Psyche des Menschen zunächst eben solch ein Abgrund, wie für Schopenhauer und Nietzsche, doch er entwickelt eine kohärente Sprache, die aus der praktischen Analyse (und Therapie verschiedener Neurosen) erwachsen ist. Freuds ‚Es‘, das ‚Unbewusste‘, die ‚Libido‘ u.a. sind gleichsam Chiffren für den unentdeckten Kontinent, der sich unterhalb des unkritisch angenommenen menschlichen Ichs, des Selbst-Bewusstseins, erstreckt. Freud sieht freilich seine Aufgabe in der Analyse als eine Art Hilfe zur Kultivierung des Unbewussten: „Wo Es war, soll Ich werden.“93 Er verändert „das Bewußtsein, indem er das Wissen vom Bewußtsein wandelt und indem er dem Bewußtsein den Schlüssel zum Verständnis einiger seiner Schliche in die Hand gibt.“94 Bei Freud kommt also die Grunderschütterung des menschlichen Selbstbewusstseins noch einmal zu einem Höhepunkt. In seiner Schrift „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“95 spricht er von drei kollektiven „Kränkungen“, die der Menschheit in ihrer Geschichte zugefügt wurden. Die dritte Kränkung, die Freud auf die eigene ‚Libidotheorie‘ bezieht, ist die psychologische Erschütterung der souverän geglaubten Seele. Angesichts mannigfaltiger Neurosen, angesichts der Sphäre des Traums rückt Freud mit seiner Triebtheorie der Vorstellung eines souveränen Ichs zu Leibe: „Daß das Triebleben der Sexualität in uns nicht voll zu bändigen ist, und 90 Schulz (Philosophie in einer veränderten Welt, 418) wertet Nietzsches Versuch „zu einer unbedingten Unmittelbarkeit durchzustoßen“ als ein Zeugnis eines „indirekte(n) Festhalten(s) an der christlichen Metaphysik, nur soll das ‚neue Sein‘, in dem alle Probleme ein für allemal gelöst sind, eben nicht im Jenseits, sondern im Diesseits wirklich werden.“ 91 Vgl. auch Buchholz, Körper – Natur – Geschichte, 69–81. 92 Paul Ricoeur, Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretation II, München 1974, 68. Vgl. ebd. auch 83: „Die Freud-Lektüre führt die Subjektphilosophie in eine Krise; sie drängt das Subjekt, das sich zunächst als ein Bewußtsein begreift, zur Entäußerung seiner selbst; aus der Gegebenheit des Bewußtseins macht sie ein Problem und eine Aufgabe.“ 93 Sigmund Freud, GW XV., 86. 94 Ricoeur, Hermeneutik und Psychoanalyse, 76. 95 Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, GW XII., Werke aus den Jahren 1917–1920, Frankfurt a.M. 1947, 3–12.

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daß die seelischen Vorgänge an sich unbewußt sind“, ja dass damit „das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“,96 das ist für Freud die neue kränkende Erkenntnis über die innere Wirklichkeit des Menschen und das lässt sich als ein End- bzw. Kulminationspunkt der „Entthronung der Vernunft“ verstehen. 1.3.3 Der Mensch im Vergleich mit der nicht-menschlichen Kreatur Neben der Demontage der Gottebenbildlichkeit als sekundäre Projektion des nach Maßstab des Menschen gebildeten Gottes und der Destruktion des Menschen als Vernunft- und Geistwesen fügt sich noch eine dritte eng darauf bezogene Angriffslinie an. Der Mensch wird (im Laufe des 19. Jahrhunderts) wieder stärker im natürlichen Zusammenhang gesehen, er wird in den Vergleich – zunächst – mit dem Tier gebracht. Nietzsche formuliert das programmatisch: Wir leiten den Menschen nicht mehr vom ‚Geist‘, von der ‚Gottheit‘ ab, wir haben ihn unter die Tiere zurückgestellt. […] Er ist durchaus keine Krone der Schöpfung: jedes Wesen ist neben ihm auf einer gleichen Stufe der Vollkommenheit.97

In ähnlicher Weise stellt Freud der psychologischen Kränkung die „kosmologische“98 und besonders die „biologische“ voran. Dabei handele es sich um die kränkende Einsicht, dass der Mensch sich zu Unrecht über das Tier erhoben habe, sich eine unsterbliche Seele beilegte und sich „auf eine hohe göttliche Abkunft (berief), die das Band der Gemeinschaft mit der Tierwelt zu zerreißen gestattete.“99 Spätestens durch die Forschungen Charles Darwins müsse der Mensch wieder absteigen und sich in die Tierreihen einfinden

96

Ebd., 11. Friedrich Nietzsche, zitiert nach: Der Mensch in der modernen Gesellschaft, 32/2, Im Bann der Natur, erarb. von H. v. Ditfurth und R. Walter, Freiburg i.Br. 1985, 112. 98 Durch die bahnbrechende Entdeckung des Kopernikus, dass die Erde um die Sonne kreise, sei der Mensch, der sich bis dahin in der Mitte der Welt bzw. des Universums wähnte, ins Abseits versetzt worden. Die Zerstörung dieser narzisstischen Illusion habe er als eine tiefe Kränkung erfahren, die in der Menschheit fortwirke. Ob es sich freilich um eine wirkliche Kränkung der Eigenliebe handelte ist fraglich, da es ja gerade der denkende, forschende Mensch war, der das heliozentrische Weltbild gerade auch gegen die kirchliche Bevormundung propagierte. Hier ist m. E. die Einschätzung von Blaise Pascal (Über die Religion und über einige andere Gegenstände, hg. und übers. von E. Wasmuth, Frankfurt a.M. 1987, 43 [Nr.72]) treffender, dass es die „doppelte Unendlichkeit“ und damit die Nichtigkeit des Menschen ist, die ihm Angst macht und ihn ‚kränkt‘: „Denn, was ist zum Schluß der Mensch in der Natur? Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All.“ 99 Sigmund Freud, Schwierigkeit, 8, zuvor 7. 97

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– eine Notwendigkeit, die dem Kinde wie dem Urmenschen noch selbstverständlich gewesen sei. Die Frage nach der „Stellung des Menschen im Kosmos“100 und die Beantwortung durch die Evolutionstheorie Darwins war insbesondere im 17. Jahrhundert vorbereitet worden. Die Naturwissenschaft kam in dieser Zeit zu größerer Entfaltung und die Anthropologie erfuhr durch erste ethnologische, besonders aber anatomische Erkenntnisse einen enormen Auftrieb.101 War die Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier lange Zeit eine Sache dunkler Ahnung, was sich etwa in Tierfabeln und Mythen zeigte, so wurde sie durch den englischen Anatomen Edward Tyson zur bedrängenden Tatsache. Er sezierte einen Schimpansen, den er fälschlich für einen OrangUtan hielt, und kam zu dem Ergebnis: „The Animal of wich I have given the Anatomy, coming nearest to mankind; seems the Nexus of the Animal and Rational.“102 Die Anatomie des ‚Orang‘ – und das war im engeren Sinne das Problem – wies größere Ähnlichkeit mit dem Menschen, als mit jedem anderen Tier, selbst mit jedem anderen Affen auf. Carl von Linné („Systema naturae“)103 fasste in seinem Klassifikationsschema dann sogar den Menschen und den Orang unter dem Oberbegriff „homo“ zusammen und sah beide in das „regnum animale“ eingegliedert. Auch Goethe104 sah sich in seinen morphologischen Studien auf die Nähe zwischen Mensch und Tier, auf den unverbrüchlichen Naturzusammenhang verwiesen. Damit allerdings auch auf die Differenz zwischen beiden. Diesem aufkeimenden Wissen um die Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier wurde in der Folgezeit aber weiterhin der Verweis auf die Vernunftbegabung des Menschen entgegengehalten und damit eine systemtranszendent begründete Grenze zwischen beiden eingezogen. Überdies erschien – in Übereinstimmung mit dem biblischen Schöpfungsbericht – zwar das Verwobensein des Menschen in den Naturzusammenhang plausibel und zustimmungswürdig, aber nur in klarer Konstanz der Arten und Gattungen: jeweils „nach seiner Art“ (Gen 1,11 u.a.). Genau hier setzte nun aber Darwins Evolutionslehre an, der darin auf Lamarck fußt. Darwin wendet sich gegen die Anschauung einer Konstanz und versucht in seiner Abhandlung „Die Entstehung der Arten“ (1859) zu beschreiben, wie sich die einzelnen Arten aus einander entwickeln (konn100

gie.

101

Vgl. Max Schelers Buchtitel als programmatische Frage der philosophischen Anthropolo-

Vgl. Wilhelm E. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, Wiesbaden 41986, 39–51. Zitiert nach: Paul Münch, Verwandtschaft oder Differenz? Zur Theorie des Mensch/TierVerhältnisses im 17. Jahrhundert, in: Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, hg. von H. Lehmann/A.-C. Trepp, Göttingen 1999, 530. 103 Vgl. dazu Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, 47. 104 Vgl. Landmann, Philosophische Anthropologie, 128–132. 102

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ten). Er dynamisiert damit ihr Verhältnis zu einander und kann auf dem Hintergrund empirischer Forschung eine – im Prinzip konsequente – Genealogie erstellen, in die der Mensch hinein gehört. Im engeren Sinne darwinistisch ist allerdings (erst) die sog. Selektionstheorie, die das eigentliche Entwicklungsprinzip, den Motor der Evolution, umreißt. Darwin ging dabei vom Paradigma der Tierzüchtung aus, in der ja nur bestimmte Individuen, mit bestimmten Eigenschaften, zur Fortpflanzung ausgewählt werden und suchte für diese Auswahl ein Äquivalent in der Natur. Dabei rekurrierte er auf die Beobachtung eines natürlichen ‚Kampfes ums Dasein‘ und konnte darin die Kausalität des Entwicklungsprozesses ermitteln: Die Anpassung der Lebewesen an ihre Umwelt entscheidet über ihre Vermehrungsrate; die schlecht angepassten werden ausgelesen, d.h. von der Fortpflanzung ausgeschlossen, während die anderen mit besseren Eigenschaften sich durchsetzen können. Im Zuge des selektiven Zugriffes der Umwelt können neue Arten entstehen. Darwins kaum zu überschätzende Wirkung105 und der damals intensiv geführte Streit um seine Theorie setzte zunächst aber an dem bedeutungsvollsten anthropologischen Resultat an, das darin besteht, „daß der Mensch von einer niedrig organisierten Form abstammt“. Ein Resultat, von dem Darwin selbst weiß, dass es „für viele ein großes Ärgernis“ ist.106 Seine empirische, biologische Theorie mündet in der Erkenntnis, „daß der Mensch von einem haarigen, geschwänzten Vierfüßer abstammt, der wahrscheinlich auf Bäumen lebte und die Alte Welt bewohnte.“107 Damit beantwortet Darwin die Frage nach der Her- bzw. Abkunft des Menschen, der sich nicht nur in einer unwürdigen Verwandtschaft wiederfindet, sondern der sich gerade aus und mit dieser entwickelt hat. Die Würde des Menschen als Bild Gottes, als Vernunftwesen ist damit elementar erschüttert. Eine Erschütterung, die nicht nur die Vergangenheit des Menschen, sondern auch seine Zukunft, zumindest die der Gattung betrifft. Der Mensch wird nicht mehr als die Krone der Schöpfung verstanden, das heißt der homo sapiens ist nicht als ultimativer Endzustand der Evolution zu betrachten. Wirkt das Prinzip der Evolution, dann ist eine Weiterentwicklung durchaus vorstellbar. Dass es sich hier um eine biologische Kränkung – im Sinne Freuds – handelt, ist einsehbar. Auf einen zweiten, tieferen Blick erkannte man aber auch in jenem Prinzip der Evolution, der Selektionstheorie, eine beunruhigende, ja grundstür105

Vgl. zu Darwins und Häckels Wirkung in der deutschsprachigen Theologie: Jürgen Hübner, Theologie und biologische Entwicklungslehre. Ein Beitrag zum Gespräch zwischen Theologie und Naturwissenschaft, München 1966, 32–109. 106 Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen, übers. von H. Schmidt, Stuttgart 1982, 148. 107 Ebd., 145.

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zende Seite. Denn die Schöpfung, die auf ihre göttliche Erhaltung angewiesen erschien und gleichsam ihre Seele in der göttlichen Vorsehung fand, sollte nur noch das „Werk einer ziellosen Variation und einer Auslese im Kampf ums Dasein sein.“108 Die Darstellung der Naturentfaltung hatte in der Selektionstheorie Darwins ein naturimmanentes Schwungrad, das einen fremden, göttlichen Eingriff oder Geist überflüssig machte. Darwins Theorie erwies sich in diesem indirekten Sinne auch als überaus religionskritisch und konnte nicht nur das Selbstverständnis des Menschen, sondern sein ganzes Weltbild verändern; ja in einem direkten Sinne konnte sogar die Gottesvorstellung als solche unter die Gesetze der Evolution gebeugt werden, denn die Gottesidee erschien nun – unter dem Entwicklungsaspekt – in einer geschichtlichen, evtl. genealogischen Folge und – unter dem Auswahlaspekt – als Trägerin eines Selektionsvorteils (oder auch -nachteils).109 Der Ausbau des Darwinismus zur Weltanschauung, ja zum Religionsersatz geschah allerdings erst nach Darwin und verbindet sich in Deutschland mit dem Namen Ernst Häckel. In seinem für die damaligen Verhältnisse enorm verbreiteten Buch „Die Welträtsel“ (1899)110 lässt er den phylogenetischen mit dem ontogenetischen Prozess verschmelzen. Seine Naturphilosophie betrachtet er als Monismus, der die Evolution des Lebens nur in einem dynamischen, spinozistisch gefassten Substanzprinzip gegründet sieht. Konsequenterweise lehnt er jeden Dualismus, der neben dem materiellen auch ein geistiges (Entwicklungs-)Prinzip annimmt, rundweg ab. „Kant oder Darwin“111 so lautet die Alternative, die er nun zu Darwin (und Goethe) hin auflösen will. Kants Differenzierung zwischen einer natürlichen, determinierten und einer intelligiblen Welt der Freiheit werde in seinem Monismus überwunden, und der Mensch allein als Produkt der materiellen Entwicklung betrachtet. Massiv wendet er sich gegen den „anthropistischen Größenwahn“: Diese grenzenlose Selbstüberhebung des eitlen Menschen hat ihn dazu geführt, sich als „Ebenbild Gottes“ zu betrachten, für seine vergängliche Person ein „ewiges Le-

108 A. Remane, Die Bedeutung der Evolutionslehre für die allgemeine Anthropologie, in: Neue Anthropologie I, Stuttgart 1972, 301. 109 Der ‚Neodarwinist‘ Jaques Monod (Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, übers. von F. Giese, München 31971, 200) formuliert diese Religionskritik im Blick auf die „Evolution der Kultur“: „Die Erfindung der Mythen und Religionen und die Errichtung gewaltiger philosophischer Systeme waren der Preis, um den der Mensch als soziales Lebewesen hat überleben können, ohne sich einem reinen Automatismus zu unterwerfen.“ 110 Ernst Häckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, eingeleitet von Olaf Klohr, Berlin 1960. „Die deutsche Gesamtauflagenziffer hat nahezu eine halbe Million erreicht“, so Olaf Klohr in der Einleitung, VII. 111 Häckel, Welträtsel, 483.

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ben“ in Anspruch zu nehmen und sich einzubilden, daß er unbeschränkte „Freiheit des Willens“ besitzt.112

Dabei sieht sich Häckel unterschiedlichen Gegnern gegenübergestellt. Er weist auf den Widerspruch hin, „in den dieselbe (sc. monistische Naturerkenntnis) zur gelehrten Tradition der übernatürlichen ‚Offenbarung‘ geraten“ sei; er wendet sich gegen „die abstrakte und größtenteils metaphysische Wissenschaft, welche auf unseren Universitäten seit Jahrhunderten als ‚Philosophie‘ gelehrt wird“; und er kritisiert – interessanterweise –, „daß die meisten Vertreter der sogenannten ‚exakten Naturwissenschaft‘ sich (ausschließlich, T.W.) mit der speziellen Pflege ihres engeren Gebietes, der Beobachtung und dem Versuche“ begnügten. Die Biologie und die Evolutionstheorie soll also nicht eine Einzelwissenschaft im Kanon der Antwortversuche auf verschiedenste Welträtsel bleiben, sondern sie wird bei Häckel zum omnipotenten Biologismus und – wie von seiten der kritisierten ‚exakten Wissenschaften‘ verlautet – zum „Primitivevolutionismus“113 ausgebaut. Dennoch ist der Einfluss Häckels auf das damalige Bildungsbürgertum und auch darüber hinaus kaum zu überschätzen.114 Es schien an der Zeit zu sein, weitreichende Konsequenzen aus den naturwissenschaftlichen Forschungen, aus der Empirie zu ziehen, um sie zu einem einheitlichen Weltbild auszubauen, das durch regelrecht religiöse Anleihen115 fundiert werden und gegen die Irrationalität der Metaphysik und des kirchlich verfassten Glaubens profiliert werden konnte. Für die ‚Gemeinform‘ des neuzeitlichen Atheismus ist dieses nicht nur von Häckel propagierte Konzept von großer Bedeutung.

112 Ebd., 26. Vgl. auch Häckels Zusammenfassung der Wirkung seines Monismus: „Damit zertrümmert derselbe aber zugleich die drei großen Zentraldogmen der bisherigen dualistischen Philosophie, den persönlichen Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens.“ 113 R. Bachmann, Anthropologische Relevanz der allgemeinen Ontogenie, in: Neue Anthropologie I, Stuttgart 1972, 222. 114 Olof Klohr weißt (im Rahmen seiner marxistischen Sicht und Kritik) auf die starke Wirkung Häckels auf die kommunistische Bewegung hin. Sein Materialismus und Atheismus werde von Engels (Anti-Dührung) und von Lenin (Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1952, 340f: „Wie ihre [sc. der Theologen] Wangen sich röten von den Ohrfeigen, die ihnen Ernst Haeckel verabreicht hat“) weitgehend begrüßt. Vgl. ders., Einleitung zu Häckels Welträtsel, XVff und XXXVII. 115 Häckel, Welträtsel, 427/428: „Gerade zur Förderung dieser hohen Ziele erscheint es höchst wichtig, daß die moderne Naturwissenschaft nicht bloß die Wahngebilde des Aberglaubens zertrümmert und deren wüsten Schutt aus dem Wege räumt, sondern daß sie auch auf dem frei gewordenen Bauplatze ein neues wohnliches Gebäude für das menschliche Gemüt herrichtet; einen Palast der Vernunft, in welchem wir mittelst unserer neu gewonnen monistischen Weltanschauung die wahre ‚Dreieinigkeit‘ des neunzehnten Jahrhunderts andächtig verehren, die Trinität des Wahren, Guten und Schönen“ (Hervorhebungen im Original).

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1.3.4 Die Popularität eines naturalistischen Welt- und Menschenbildes Überdies führt Häckel in seiner Einseitigkeit und Spekulation deutlicher als jede ‚exakte Naturwissenschaft‘ an die Grenze und vor die Differenz von Natur und Geist, von immanentem und transzendentem Lebensprinzip, von Leib und Seele. Er benennt den Punkt, an dem es zur Nagelprobe jeder Weltanschauung und damit jeder Anthropologie kommt: Wird das menschliche Leben, mithin das Bewusstsein,116 als in einem materiellen oder in einem geistigen, das Materielle übersteigenden Prinzip verankert angesehen. Ist die nicht zu leugnende Sonderstellung des Menschen gegenüber dem Tierreich (Selbstbewusstsein, Sprache, Kultur) ein wunderbares, kontingentes Ergebnis des evolutiven Prozesses, oder aber in einem metaphysischen, den Entwicklungsvorgang gleichsam durchgreifenden Geistprinzip begründet? Grob zugespitzt lautet also der Gegensatz: Materialismus oder Idealismus und komplementär dazu: Monismus oder Dualismus.117 Die Auseinandersetzung um diese Frage ist bis heute nicht zum Stillstand gekommen, etwa in der Abgrenzung Gehlens (Handeln) von Scheler (Geist) oder auf andere Weise in der angelsächsischen ‚philosophy of mind‘ wird dies sichtbar; ja sie kann gar nicht zum Stillstand kommen, denn es besteht ein Antagonismus von immer differenzierterer und genauerer Forschung, die die Hoffnung verstärkt, eine Antwort darauf zu finden, was den Menschen bzw. „die Welt im Innersten zusammenhält“118 und der Erfahrung einer „kognitiven Verschlossenheit“119 des sich selbst bewussten Menschen, dessen inneres Erleben gerade nicht mit den Methoden und Modellen empirischer Wissenschaft erhellt werden kann.

116 Vgl. hierzu die intensiven Impulse der modernen Hirnforschung. Einen guten Einblick bietet: Wolf Singer, Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt a.M. 2003. 117 Es ließe sich ein interessantes, heuristisches Schema für die Anthropologie(n) erstellen, indem diese Begriffe als die vier korrespondierenden ‚Pole‘ in ein Koordinatensystem eingezeichnet würden. Es wären unterschiedliche Charakteristiken möglich, die die Grundoption angeben: materialistisch-monistisch, idealistisch-monistisch und die abgeschwächten Formen, die eine Tendenz angeben: idealistisch-dualistisch und materialistisch-dualistisch. 118 Johann Wolfgang Goethe, Faust I, Stuttgart 1986, 13. 119 Vgl. Godehard Brüntrup, Das Geheimnis des Erlebens, in: Quitterer, J./Runggaldier, E. (Hg.), Der neue Naturalismus. eine Herausforderung an das christliche Menschenbild, Stuttgart 1999, 120: „Der eigentliche (kausale?) Nexus zwischen bewußtem Geist und Materie (sc. bleibt) dem menschlichen Verstehen vermutlich auf immer verschlossen. Obwohl wir die psychophysischen Gesetze entdecken können, lassen sie sich nicht aus dem Wissen über die grundlegenden Wechselwirkungen zwischen materiellen Entitäten ableiten. Da dieses Wissen nur die funktional-relationale Struktur der Welt modelliert, vermag es den qualitativ-intrinsischen Aspekt des bewußten Erlebens nicht in einen Ableitungszusammenhang mit dem Korpus des physikalischen Wissens zu setzen. Der qualitative Aspekt des Erlebens kann im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Theorie daher nicht wirklich verständlich gemacht werden.“

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Dennoch, obwohl heute immer seltener Extrempositionen etwa Häckelscher Prägung vertreten und (scheinbar) gegensätzliche Anschauungen120 miteinander vermittelt werden, lässt sich seit Ende des 19. Jahrhunderts eine Tendenz zu eher naturalistischen Weltauffassungen121 kaum übersehen. Das hängt u.a. mit den Erfolgen der sogenannten empirischen Wissenschaften zusammen, die sich immer stärker ausdifferenzierten und ein enormes Wissen zu Tage förderten. Man denke etwa an die moderne Physik oder die Molekularbiologie, deren rasante Entwicklung eine ständige Revision ganzer Wissensgebiete und weltanschaulicher Eckpunkte notwendig macht(e). Überdies führten die positiven Wissenschaften zu einer umfassenden Technisierung der Lebenswelt. Der homo faber oder der Ingenieur werden zu den Symbolen dieses Zeitalters122, in dem sie die naturwissenschaftlich modellierte und angeeignete Welt in die Tat umsetzen, diese reproduzieren und rekombinieren. Dabei wird der Mensch aber selbst bald Gegenstand des mechanistischen Blicks der Empiriker und findet sich im Vergleich mit dem eigenen Artefakt wieder. Verglichen wird dann nicht mehr mit dem Tier, sondern mit der Maschine oder dem Computer. Descartes Mechanistik der res extensa kann hier auf den Menschen durchschlagen und Lamettries „Der Mensch als Maschine“ kann etwa in Wolfgang Büchels „Plädoyer für ‚Mechanismus‘“123 zu ungeahnten Ehren kommen. Aber selbst, wenn diese weitgehenden Folgerungen nicht gezogen werden, sie sind doch auf dem Hintergrund einer „Verwissenschaftlichung“ zu verstehen, in deren Zug selbst die sog. Geisteswissenschaften dazu genötigt werden, sich auf die empirische Forschung einzulassen, um ihr Denken damit zu vermitteln, ja daran messen zu lassen. Die positiven Wissenschaften haben der Philosophie den Rang abgelaufen und degradierten sie etwa im Logischen Positivismus zur bloßen Wissenschaftstheorie: Das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft (hat sich) im Gegenzug zu einer bis in die Gegenwart reichenden Tradition umgekehrt. Der Philosoph muß seine traditionelle Vorzugsstellung aufgeben, das heißt, er muß darauf verzichten, die Wissen-

120 So ließe sich etwa die Theologie Teilhard de Chardins als eine Art ‚Respiritualisierung‘ der Evolutionslehre betrachten. 121 Solche Auffassungen sind insbesondere in der nicht-wissenschaftlichen Allgemeinheit sehr verbreitet. Vgl. Edmund Runggaldier (Aktuelle naturalistische Tendenzen in der Deutung des Menschen, in: Der neue Naturalismus, 28): „Die hier angesprochene epistemische Tendenz führt unter anderem dazu, die Selbstverständlichkeiten unseres gemeinsamen Alltags mit der entsprechenden Rede über den Menschen, seinen Geist und seine Handlungen sowie die darin vorkommenden Erklärungen allein im Sinne der positiven Wissenschaften rekonstruieren zu wollen.“ 122 Vgl. dazu Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, GS 6, hg. von A. Schmidt, Frankfurt a.M. 1991; Max Frisch, Homo faber. Ein Bericht, Frankurt a.M. 1977. 123 Wolfgang Büchel, Die Macht des Fortschritts. Plädoyer für Technik und Wissenschaft, München 1981, 244ff.

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schaft begründen zu wollen. Er hat sich vielmehr in die Wissenschaft einzuleben, das heißt zu erkennen, was in diesen selbst geschieht.“124

Ähnliches lässt sich auch im Blick auf die Theologie sagen, die allerdings noch viel weniger als Grundwissenschaft der Vermittlung verschiedener positiver Wissenschaften dienen kann. Sie ist in eine noch weiter entfernt liegende Provinz des Denkens bzw. Glaubens abgeschoben worden. Auf dem Feld der Anthropologie bedeutet diese Entwicklung zumindest das „Ende der Philosophie im Sinne der Schlüsselattitüde“;125 und, so könnte ergänzt werden, der Abstieg des Verständnisses des Menschen als Gottes Ebenbild, gleichgültig ob es sich um eine supranaturale oder metaphysische Bestimmung handelt, wird durch diese Verschiebung (scheinbar) besiegelt.126 1.3.5 Gottebenbildlichkeit und Herrschaftsideologie Die Verwissenschaftlichung und Naturalisierung gerät selbst allerdings bald in ein kritisches Licht, wobei aber – und das ist das Interessante – die Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen im Zuge dieser Kritik gerade nicht entlastet oder gar zu Ehren gebracht, sondern erneut vehement angegriffen wird. Dieser Angriff erfasst dann auch die binnen-theologische Diskussion und mündet in die Frage nach einer geschichtlichen Verantwortung des Christentums für die Krise der Moderne. Mit den neuen Möglichkeiten der Wissenschaft, mit den großen Fähigkeiten, die dem Menschen zu Händen sind, verbinden sich auch nicht angestrebte Folgen. Die ersten Schritte zur Entdeckung der atomaren Struktur der Materie und einer möglichen Kernspaltung ebneten auch den Weg zur Atombombe. Die enormen Fortschritte (schon im Zeitalter) der Industrialisierung ziehen auch zerstörerische Folgen für das Ökosystem Erde nach sich, die zunächst von regionaler, bald aber auch von globaler Bedeutung sind. Die offensive Weltbewältigung des Menschen fordert ihre Opfer – zu denen nicht nur die nicht-menschliche Natur, sondern auch der Mensch selbst gehört. Die eigenen Werke überwuchern den homo faber. In der Kritischen Theorie Max Horkheimers und Theodor W. Adornos wird diese Dialektik der Aufklärung – vor allem im Blick auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge – exemplarisch zur Sprache gebracht. 124

Schulz, Philosophie in einer veränderten Welt, 14. Arnold Gehlen, Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963, 316. 126 Dass diese Verschiebung in voller Wirkung steht zeigt die Verunsicherung insbesondere der sozialphilosophischen Anthropologie – im Blick auf die personale Identität des Menschen – durch die moderne Hirnforschung: Der Philosoph Lutz Wingert spricht davon, dass die „Irritierbarkeit von Philosophen durch die Empirie“ gestiegen sei (in: Singer, Neues Menschenbild, 10). 125

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Horkheimer unterscheidet in seiner Abhandlung „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“127 zwischen der subjektiven und objektiven Vernunft. Die Theorien der objektiven Vernunft erkannten in der Vernunft ein der Wirklichkeit innewohnendes Prinzip, das den Menschen übersteigt und ihn auf die Idee des höchsten Gutes bzw. auf Gott ausrichtet. Dieses umfassende Prinzip wurde aber im Zuge seiner – formal verstandenen – Aufklärung in das Subjekt hineingezogen und depravierte zur losgelösten subjektiven Vernunft: Nachdem sie die Autonomie aufgegeben hat, ist die Vernunft zu einem Instrument geworden. Im formalistischen Aspekt der subjektiven Vernunft, wie er vom Positivismus hervorgehoben wird, wird ihre Beziehungslosigkeit zu einem objektiven Inhalt betont; in ihrem instrumentellen Aspekt, wie er vom Pragmatismus hervorgehoben wird, wird ihre Kapitulation vor heteronomen Inhalten betont. [...] Ihr operativer Wert, ihre Rolle bei der Beherrschung der Menschen und der Natur ist zum einzigen Kriterium gemacht worden.128

Horkheimer benennt hier seine Gegnerschaft, Positivismus und Pragmatismus, doch diese Strömungen haben Wurzeln, die tief in die Geistesgeschichte hineinreichen und die bedrohliche Aporie, in die sich die Vernunft hineinmanövriert hat, mit heraufgeführt haben. Die Anthropozentrik129 der Renaissance, Bacons Ideologie der Beherrschung der Natur, Descartes Dualismus und sein Mechanismus der natürlichen Welt, der englische Empirismus Lockes und Humes, aber auch Kants pragmatische Anthropologie, in welcher er von „Sachen“ spricht, „dergleichen die vernunftlosen Tiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann“130 sind als Wurzeln einer zügellosen Naturausbeutung zu verstehen. Ja selbst im Idealismus Fichtes und Hegels lassen sich solche Elemente der Verdinglichung finden, die im Zeitalter der instrumentalisierten Vernunft auf die ganze Natur und vor allem den Menschen Anwendung finden: Als Endresultat des Prozesses haben wir auf der einen Seite das Selbst, das abstrakte Ich, jeder Substanz entleert bis auf seinen Versuch, alles im Himmel und auf Erden in ein Mittel seiner Erhaltung zu verwandeln; und auf der anderen Seite haben wir eine

127

Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, 21–186. Ebd., 42. 129 Eine solche ‚Ahnenreihe‘ des Anthropozentrismus und der Naturausbeutung wird immer wieder aufgestellt. Vgl. etwa Udo Krolzik, Säkularisierung der Natur. Providentia-Dei-Lehre und Naturverständnis, Neukirchen-Vluyn 1988; Ders., Die Wirkungsgeschichte von Genesis 1,28, in: Ökologische Theologie. Perspektiven zur Orientierung, hg. von G. Altner, Stuttgart 1989, 149– 163; Wilfried Lochbühler, Christliche Umweltethik, in: Forum interdisziplinäre Ethik, Bd. 13, Frankfurt a.M., 1996, bes. 53–57. 130 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 407. 128

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leere, zu bloßem Material degradierte Natur, bloßen Stoff, der zu beherrschen ist, ohne jeden anderen Zweck als eben den seiner Beherrschung.131

An der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit lässt sich die Dialektik der Aufklärung recht gut erweisen. Denn Aufklärung bedeutet einerseits Entmythologisierung, d.h. in diesem Zusammenhang, dass die Bestimmung des Menschen als Ebenbild Gottes einer Heteronomie bzw. Theonomie gleichkommt, die der Mensch nicht länger ertragen kann; die sich dann aber durch die Aufklärung in die von Gott losgelöste „Macht als des Prinzips aller Beziehungen“ auflöst, um dann gleichzeitig auf das menschliche Subjekt übertragen zu werden. Es folgt daraus, dass „sich der schaffende Gott und der ordnende Geist (gleichen:) Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht in der Souveränität übers Dasein, im Blick des Herrn, im Kommando.“132 Damit schlägt die Aufklärung wieder in das zurück, was sie überwinden wollte, sie wird zur Remythologisierung; denn was zuvor von Gott behauptet wurde, nämlich Herrscher zu sein – von dessen Gnaden freilich der Mensch die Welt verantwortlich bebauen und bewahren soll –, wird nun auf den Menschen übertragen und in größter Unbarmherzigkeit ausgeübt. Doch die Ausbeutung der Natur, der Tiere, der schwachen gesellschaftlichen Gruppen, sie wendet sich zurück gegen den Täter; der Mensch wird selbst zum Opfer einer eigenhändig gestalteten Welt und unterwirft sich seinen Machenschaften.133 Der „erste Freigelassene der Schöpfung“ legt sich wieder die Fesseln an und wird dem Tiere gleich: „ein gebückter Sklave“ (Herder). Dieses Grundmotiv der Kultur- und Gesellschaftskritik taucht angesichts sich verschärfender Probleme bis heute immer wieder in ähnlicher, zuweilen ebenso verzweifelter Form auf.134 In der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos werden das Christentum und insbesondere die christliche Gottebenbildlichkeitsvorstellung noch nicht direkt angegangen. Das geschieht erst unter dem Eindruck der ökolo131

Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, 109. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, GS 3, Frankfurt a.M. 21984, 25. 133 Wie eng sich nach Horkheimer und Adorno die Degradierung und Ausbeutung der Tiere mit der des ‚schwachen Menschen‘ verbindet wird im Abschnitt „Mensch und Tier“ (Dialektik der Aufklärung, 283 ff) deutlich: „Dem Menschen gehört die Vernunft, die unbarmherzig abläuft; [...] bis zur lückenlosen Ausbeutung der Tierwelt heute, haben die unvernünftigen Geschöpfe stets Vernunft erfahren“ (283). Da aber die Frau sich seit je her um die Tiere zu kümmern habe, nicht ins „feindliche Leben“ hinaus müsse und „nicht Subjekt“ sei, richte sich der gebrauchende Umgang auch gegen sie: „Sie wurde zur Verkörperung der biologischen Funktion, zum Bild der Natur, in deren Unterdrückung der Ruhmestitel dieser Zivilisation bestand“ (285). 134 Jürgen Habermas (Der Philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 31986, 156) spricht geradezu von „einer hemmungslosen Vernunftskepsis“, die keinen Zweifel an sich selbst mehr zuließe. Ein eben solch dunkler Ton herrscht etwa auch bei Günther Anders (Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bände, München 31984) und Marianne Gronemeyer (Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit, Darmstadt 21996) vor. 132

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gischen Krise, angesichts der prognostizierten Bevölkerungsexplosion und Ressourcenknappheit.135 Der Theologe Lynn White Jr. spitzte 1967 seine Kritik am Herrschaftsauftrag zu und versuchte die christlichen Wurzeln der Naturausbeutung aufzudecken, ja das Christentum für die Umweltkrise verantwortlich zu machen. Im deutschsprachigen Raum nahm Carl Amery (1972) diesen Impulse auf und löste mit seinem Buch: „Das Ende der Vorsehung – Die gnadenlosen Folgen des Christentums“136 eine breite Diskussion aus. Amery bezieht sich ausdrücklich auf die biblischen Ursprünge eines aporetisch gewordenen Anthropozentrismus, den er gerade in der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen begründet sieht. Der Mensch sei (dadurch) aus dem ökologischen Zusammenhang herausgenommen und habe von Gott den ausdrücklichen „Auftrag zur totalen Herrschaft“137 erhalten. Wesentlich sei aber dabei, dass dieser Auftrag eine Art Garantie der Auserwählung des Menschen enthalte. Das Bild Gottes sei dazu vorherbestimmt, Erfolg zu haben; das Projekt menschlicher Weltbewältigung könne angesichts des göttlichen Ediktes der Gottebenbildlichkeit nicht scheitern. Diese Ideologie habe nicht nur den Puritanismus, sondern etwa auch die Geschichtsphilosophie des Marxismus und andere Gegenströmungen bestimmt. Das judäisch-christliche Vorsehungs- und Fortschritts-Erbe sei so stark, dass es auch dort noch wirksam sei, wo es negiert wird. Amery postuliert nun aber angesichts der ökologischen Katastrophe das Ende der Vorsehung, und fragt sich, ob die christliche und sozialistische Tradition überhaupt die Kraft haben, sich von dieser Ideologie zu lösen. Aber gerade hierin bestünde ja der einzige Ausweg aus dem Dilemma, nämlich die „Auserwählung des Menschen als Verantwortung zu begreifen – und sonst nichts.“138 Amery endet in einer stilisierten Rede des abwesenden Gottes mit dem Appell zum Dienen: du schreist; ich allein bin nach Deinem bild und gleichnis gemacht! Ich aber sage dir: an dir allein ist es, bild und gleichnis zu werden. [...] geh hin, gib deinen untertanen frei und diene, wie Er (sc. Christus) gedient hat: diene deinen brüdern und schwestern sonne, mond, ochs, esel, schimpansen, ameisen, bäumen, regen, tau. wen habe Ich je erwählt, den anderes erwartet hat als dienen? gedenke, daß du staub bist und zum staub zurückkehrst. dann – kannst du Mein Sohn sein.139

Gegen eine solche Generalanklage lassen sich viele Argumente vorbringen; allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass sich der Angriff auf die 135 Eine bedeutende Rolle spielte hierbei der Bericht des Club of Rome (D. Meadows u.a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Clube of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972). 136 Carl Amery, Das Ende der Vorsehung, in: ders., Die ökologische Chance, G W in Einzelausgaben, München 1985. 137 Ebd., 17. 138 Ebd., 157. 139 Ebd., 197f.

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Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit gerade auf ihre faktische Verwendung, die häufig genug einem Missverständnis entsprang und Missbrauch gleich kam, bezog und nicht auf ihre theoretische Grundlage.140 Und genau das erschwert eine theologische Replik, weil es nicht die biblische Lehre von der Gottebenbildlichkeit selbst ist, die solch eine Wirkungsgeschichte zeitigte oder zeitigen konnte, sondern die Amalgamierung von theologischem Topos und einer Herrschaftsideologie, die auch ganz andere Wurzeln haben konnte. Es muss also eine Unterscheidung vorgenommen werden, will man nicht in falsche Pauschalisierung verfallen, freilich ohne die geistesgeschichtliche Verquickung und den genuinen Beitrag biblischer Überlieferung daran zu leugnen. Dennoch, die Reduktion des Gottebenbildlichkeitsbegriffes auf das dominium terrae, und dessen Verständnis im Sinne einer naturvergessenen Anthropozentrik hat keinen Anhalt an der biblischen Überlieferung.141 Vielmehr wird gerade zum verantwortlichen Umgang mit der Natur aufgefordert („bebauen und bewahren“, Gen 2,15), der die nachhaltige Sicherung der Lebensgrundlagen aller Geschöpfe zum Ziel haben muss. Das anthropische Prinzip, die Sonderstellung des Geschöpfes Mensch, lässt sich dabei weder erkenntnistheoretisch noch theologisch hintergehen, so als gäbe es einen immanenten Eigenwert oder eine Heiligkeit der Natur.142 Nur, mit dieser besonderen Würde des Menschen verbindet sich im Kern gerade die Verpflichtung zu bewahrendem Handeln. Wer also die Gottebenbildlichkeit des Menschen und damit auch eine Anthropozentrik vertritt, der hat in der Folge auch eine Umweltethik auszubilden, die die Interdependenzen des natürlichen und unleugbar geschädigten Lebens aufnehmen und verarbeiten muss.

140 Genau an diesem Punkt wurde Amerys Vorwurf überschätzt, als wolle er eine exegetisch, kirchengeschichtlich und dogmatisch abgesicherte Kritik vortragen. Der Nicht-Theologe Amery schreibt aber (Nachwort 1985, 376): „Ich glaubte im Text deutlich genug darauf verwiesen zu haben, daß keinerlei Bibel-Exegese beabsichtigt war, sondern daß es sich ausschließlich oder doch in erster Linie um Wirkungs- und Erfolgsgeschichte dreht. Die Phänomene dieser Wirkungs- und Erfolgsgeschichte sind aber unbestreitbar.“ 141 Vgl. hierzu den Überblick über die Reaktionen der christlichen Ethik gegen den Vorwurf Amerys bei Lochbühler: Christliche Umweltethik, 57–79 und erneut die Studie von Janowski, Herrschaft über die Tiere. 142 Sigurd Daecke (Anthropozentrik oder Eigenwert der Natur?, in: Ökologische Theologie. Perspektiven zur Orientierung, hg. von G. Altner, Stuttgart 1989, 277–299) hat gezeigt, dass eine Anthropozentrik – wie sie in der offenbarungstheologischen und subjektivitätstheologischen Anthropologie vertreten wird – zu den gleichen ethischen Ergebnissen kommen kann, wie die naturphilosophische These vom ‚Eigenwert‘ der Natur (z.B. eines Klaus Michael Meyer-Abich). Denn durch die Anwesenheit Gottes in Jesus Christus und seinem Heiligen Geist ist die Schöpfung eine geheiligte und damit vom Menschen – der aber allein Gott und nicht einem wie auch immer aufgefassten natürlichen Prinzip verantwortlich ist – zu heiligen.

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Der Abstieg der Gottebenbildlichkeit

1.3.6 Der Abstieg der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit als vielschichtiger Prozess Der letzte Einwand gegen die Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen hat noch einmal gezeigt, dass deren plakativ titulierter und beschriebener „Abstieg“ als Relevanzverlust der Vorstellung ein vielschichtiger Prozess war, der auch interne Rückkopplungen und Antagonismen besaß.143 Es konnte sich deshalb auch nur um eine grobe, unvollständige Skizze dieser Entwicklung handeln. So wenig dieser Vorgang also monokausal zu erklären ist, so wenig lässt er sich auf einen einzigen – geschichtlich bestimmbaren – Ursprung zurückführen. Die Religionskritik Feuerbachs, die hier als Ausgangspunkt gewählt wurde, erwuchs doch aus der Abhängigkeit von und der Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus und dem reformatorischen Glaubensverständnis. Die Aufklärung hatte ihre Wurzeln nicht nur im Humanismus und der Renaissance, sondern auch in der Reformation und dadurch auch in dieser Hinsicht in der Hochschätzung des Individuums schon in der biblischen Überlieferung.144 In gewisser Weise tragen also die christliche Anthropologie und auch die Vorstellung der Gottebenbildlichkeit diejenige Spannung in sich, die im Zuge der Geschichte überdehnt und dann ganz aufgebrochen werden konnte. Gottebenbildlichkeit inhäriert einen theonomen und einen auto- oder anthroponomen Pol und damit ist ihr Verständnis gleichsam auch eine Sache der Betonung: Gottes Bild bzw. Bild Gottes. Theologische Anthropologie zeichnet sich prinzipiell dadurch aus, dass sie diese polare Spannung aushalten und jeweils näher bestimmen muss. Aufs Ganze gesehen, vermitteln aber sowohl die Theologie der Reformation als auch die der Aufklärung und des Idealismus beides miteinander und halten diese konstitutive Spannung des Menschenbildes offen. Meines Erachtens ist deshalb das Gegenüber von Offenbarungstheologie und religiöser Subjektivitätstheorie, von Reformation und Aufklärung der Grundantagonismus evangelischer neuzeitlicher Theologie, der auch im 20. Jahrhundert weiterwirkte und kaum endgültig aufzulösen 143 Überdies ist eine Differenzierung zwischen dem Abstieg des Begriffes, im Sinne einer weniger häufigen Verwendung, und der Sache, im Sinne einer stärker werdenden inhaltlichen Kritik und eines Rückgangs der Akzeptanz dieser Vorstellung für das eigene Selbstverständnis der Menschen, kaum durchzuführen. Außerdem war der Blick hier ganz auf die geistesgeschichtlichen, philosophischen Veränderungen bezogen, so dass die anthropologische Grundhaltung der ‚breiten Bevölkerung‘ nicht erhoben werden konnte. Die binnentheologischen Anthropologien wurden kaum mit einbezogen, da hier ja gerade die ‚Außenperspektive‘ für die theologische Anthropologie aufbereitet werden sollte. 144 Vgl. hierzu Pannenberg, Bestimmung des Menschen. Menschsein, Erwählung und Geschichte, Göttingen 1978, 7–22 und Gunther Wenz, Neuzeitliches Christentum als Religion der Individualität? Einige Bemerkungen zur Geschichte protestantischer Theologie im 19. Jahrhundert, in: Individualität, hg. von Manfred Frank/Anselm Haverkamp, Poetik und Hermeneutik XIII, 123–160.

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sein wird. Ja es stellt sich auf dieser Linie die Frage, ob er überhaupt aufgelöst werden sollte und nicht vielmehr in seiner (möglicherweise fruchtbaren) Komplementarität gewürdigt werden könnte. Denn gerade angesichts eines Abstiegs der Gottebenbildlichkeitsvorstellung, der ja beide Traditionsstränge religiöser Anthropologie erfasst hat, lässt sich der Versuch, einem weiteren Abstieg entgegenzuwirken und das christliche Menschenbild (wieder) in die gesellschaftlichen Diskurse einzubringen, wohl nur gemeinsam, in kritischem Bezug aufeinander, sinnvoll angehen. An diesem vorläufigen Schlusspunkt des Durchgangs durch die theologischen und philosophischen, d.h. wissenschaftlichen Diskurse, in denen sich ein Abstieg der Gottebenbildlichkeit diagnostizieren ließ, ist noch einmal die Intention dieser Arbeit hervorzuheben. Im Blick auf beide Traditionsstränge (Offenbarungstheologie, religionsphilosophische Anthropologie), die ihre Formulierung in Karl Barths und Wolfhart Pannenbergs Anthropologie finden, das gemeinsame Anliegen theologischer Anthropologie hervorzuheben, nämlich die Auffassung des Menschen als Ebenbild Gottes neu ins Gespräch zu bringen.

1.4 Gottes Ebenbild in einer säkularen Welt Gottes Ebenbild in einer säkularen Welt Der Abstieg der Gottebenbildlichkeitsvorstellung hängt eng mit dem Vorgang zusammen, den man gemeinhin als ‚Säkularisierung‘ bezeichnet. Auch das menschliche Selbstverständnis ist in den Prozess verstrickt, der den „Verlust an gesellschaftlicher Bedeutung der christlichen überempirischen Wirklichkeitsdefinition“145 umfasst. Es ist also nicht nur die philosophische und wissenschaftliche Diskussion, in der es zu einem Abstieg der christlichen Anthropologie kam, sondern vielmehr die breite Öffentlichkeit, die somit etwa in Nietzsche und Darwin (nur) eine denkerische Avantgarde mit mehr oder weniger durchdringender Wirkung besaß. 1.4.1 Der Prozess der Säkularisierung Ein wesentlicher Grund für den Substanzverlust des christlichen Glaubens in der modernen westlichen Gesellschaft ist dabei die zurückgehende Integrationsfähigkeit der Religion. Das Religionssystem, das im Mittelalter als die alles umfassende – eben „katholische“ – Kirche mit der Gesellschaft gleichzusetzen war, pluralisierte sich im Zuge der Reformation und in der 145

Heinz-Horst Schrey, Einführung, in: ders. (Hg.), Säkularisierung, WdF 424, Darmstadt 1981, 2. Es handelt sich um ein Zitat von Laeyendecker.

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Zeit der Religionskriege146, und musste bis in die Moderne hinein immer weitere Begründungs- und Regelungsansprüche aufgeben. Wichtige Funktionen der Religion wurden auf säkulare Träger übertragen. Das politische System löste sich weitgehend von dem religiösen und beerbte es als Einheit stiftende Instanz.147 Aus der civitas Dei, die in der Kirche ihre sichtbare Gestalt hatte, wurde die bürgerliche Gesellschaft – idealtypisch als Gemeinschaft der Freien, Gleichen und Brüderlichen –, die wiederum im Staat manifest wurde. Der fußt(e) zwar auf den Menschenrechten, die zwar (auch) aus der jüdisch-christlichen Tradition erwuchsen, die aber die christliche Gottesvorstellung nicht mehr als konstitutiven Referenzpunkt benötig(t)en.148 Und auch die einstmals bestehende Hoheit der Religion über die Weltanschauung und das Gewissen des Einzelnen ging in dem Prozess einer zunehmenden Privatisierung weitgehend verloren. Die soziale und lebensweltliche Relevanz der Religion schränkte sich auf einige Funktionen innerhalb der Gesellschaft ein, und zog sich immer weiter in den Binnenraum kirchlichen Lebens und Glaubens zurück. Die Religion verlor ihre Identität als allumfassendes Wirklichkeitsverständnis und damit auch (viel von) ihre(r) Kraft, die Identität des Einzelnen auszubilden. Die Säkularisierung bezeichnet aus christlicher Sicht also einerseits einen schmerzlichen Prozess, der insbesondere vor dem Hintergrund des Reichsdeputationshauptschluss von 1803 als Raub an christlicher Substanz149 verstanden werden konnte, der andererseits aber auch grundsätzlicher als Folge der Botschaft des Christentums, im besonderen des Neuen Testamentes und der Reformation, erscheinen und theologisch legitimiert werden konnte. Die Säkularisierung habe christliche Wurzeln, ja sei sogar 146 Pannenberg (Christentum in einer säkularisierten Welt, Freiburg i.Br. 1988, 30/31) betrachtet „das Ende des Zeitalters der konfessionellen Kriege“ als Ursprung der Säkularisierung: „Die Wende zur säkularen Gesellschaft (ist) aus dem Zwang geboren worden, nicht aus den Ideen von Renaissance und Reformation und schon gar nicht aus einem Aufstand gegen den Gott des Christentums.“ Eine solche nähere Bestimmung des Ursprungs unter Ausblendung der (geistes)geschichtlichen Wurzeln macht sich allerdings einer christlichen Immunisierungstendenz verdächtig. Das freie religiöse Subjekt, das in der Reformation und Aufklärung ausgebildet wurde, wird vor dem Vorwurf in Schutz genommen, dass die Säkularisierung bzw. der Säkularismus die notwendige Folge dieser Freiheit sei. Pannenberg hat darin Recht, dass es sicherlich nicht eine notwendige Folge war; aber es war die faktische Folge, dass die Freiheit bald ohne Gott bzw. als eine Freiheit von Gott verstanden wurde – in Frankreich früher, in Deutschland später. Es ist im Kern dieselbe Emanzipationsdynamik, die den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit heraufführte und die dann (aus theologischer Sicht) auch zum Atheismus depravieren konnte. 147 Vgl. hierzu Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a.M. 1977 und Pannenberg, Christentum in einer säkularisierten Welt, 44–54. 148 Das dokumentiert die EU-Grundrechte-Charta, in der kein Bezug mehr auf Gott enthalten ist, sondern lediglich auf das „geistig-religiöse Erbe“! 149 Hermann Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, Freiburg i.Br. 1965, bes. 28.

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als „die Verwandlung ursprünglich christlicher Ideen, Erkenntnisse und Erfahrungen in solche der allgemein-menschlichen Vernunft“150 zu verstehen, so Friedrich Gogarten. Dass der Mensch frei sei und zur Freiheit berufen, dass er nichts in der Welt vergöttern, sondern diese gestalten solle, dass er allein Gott verantwortlich sei, dessen Stimme er in seinem Gewissen hört, das sei das christliche, besonders das protestantische Erbe, das die Neuzeit beflügelt und geprägt habe. In der Wirksamkeit und in dem Wissen darum bestehe die legitime Säkularität; die allerdings könne in ihre Verfallsform, den Säkularismus,151 abkippen, sobald sich der moderne Mensch bzw. die Gesellschaft von ihrer Grundlage, dem unbedingten göttlichen Du, löst. Dann habe sich der Mensch nämlich nicht nur von der Welt vor Gott emanzipiert, sondern auch von Gott – nun aber wieder – vor der Welt, die in bestimmten Teilen dann eine Wiedervergötterung erfahre. Es geht ihn dann scheinbar nichts mehr an, was ihn eigentlich unbedingt angehen sollte. Man kann diesen Prozess – mit oder ohne Angabe geschichtlicher Fixpunkte – systemtheoretisch oder personalistisch-theologisch u.a. rekonstruieren, die Gesellschaft scheint jedenfalls in ein ‚nachmetaphysisches Zeitalter‘152 eingetreten zu sein.153 Und das heißt im Blick auf das Selbstverständnis des säkularen Menschen, dass der ehemals Einheit stiftende Horizont – Gott –, vor dem er sich als Mensch erkannte und zum Handeln bestimmte, verlorenging oder zumindest eindunkelte. Martin Buber sprach hier von einer „Gottesfinsternis“154, die eingetreten sei. Weil also die verfasste Religion ihre 150 Friedrich Gogarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem, Stuttgart 1958, 7. Lübbe bezeichnet ‚Säkularisierung‘ als einen ideenpolitischen Begriff, der kaum wertneutral gebraucht wurde, ja gebraucht werden kann. So hat sich Hans Blumenberg (Die Legitimität der Neuzeit, erneuerte Ausgabe, Frankfurt a.M. 1996) vehement gegen die Säkularisierungsthese der Theologie gewandt, als sei die Neuzeit Folge einer Verweltlichung des Christentums und habe sich deshalb (weiterhin) der jüdisch-christlichen Tradition zu verdanken. Gegen den „theologischen Absolutismus“, der sich hier verberge, setzt Blumenberg die „menschliche Selbstbehauptung“, die nun gerade nicht aus dem christlichen Postulat der Freiheit des (Christen-)Menschen resultiere, sondern vielmehr gegen die Heteronomie und Bevormundung der Kirche gerichtet war. Die Säkularisierung sei deshalb eine Enteignungskategorie, die die Eigenständigkeit der Neuzeit verneine und als solche zu bekämpfen suche. 151 Gogarten, Verhängnis und Hoffnung, 142–148. 152 Vgl. Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a.M. 1988. 153 Man mag in die Kritik an einer starken Säkularisierungsthese einstimmen und auf die wachsende Bedeutung der Religion hinweisen oder von einer ‚Respiritualisierung‘ sprechen, der Zerfall der Einheitssicht verfasster Religion in der spätmodernen westlichen Gesellschaft lässt sich allerdings nicht leugnen. Dabei scheint die Attraktivität der „kleinen Transzendenzen“ (Peter L. Berger) – etwa im Rahmen der Esoterik und der fernöstlichen Spiritualität – gewachsen zu sein. Auch die fundamentalistischen – Komplexität reduzierenden – Strömungen der Religion sind der Säkularisierung nicht zum Opfer gefallen. Allein die verfasste, ‚anspruchsvolle‘ Religion ist in schwieriges Fahrwasser geraten, mutet diese doch dem religiösen Subjekt eine heteronome Bestimmung durch Gott, insbesondere innerhalb einer stark strukturierten Gemeinschaft zu. 154 Martin Buber, Gottesfinsternis. Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie, GW I (Schriften zur Philosophie), Heidelberg 1962, 505–603, bes. 520.

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Relevanz verliert und das Gegenüber Gottes nicht breitenwirksam zur Sprache bringen kann, weil es in der philosophischen Diskussion zu einer Verleiblichung, Entthronung der objektiven Vernunft (Horkheimer) und zu einer wissenschaftlichen Naturalisierung gekommen ist, fällt es dem modernen Menschen immer schwerer, sich als Gottes Ebenbild zu verstehen. Er kann sich kaum noch als ein Geschöpf erkennen, das seine Herkunft und Gegenwart seinem göttlichen Schöpfer verdankt, das sich aus der Beziehung zu Gott in das Morgen hinein entwirft und zukünftiges Leben von ihm erwartet. Das Forum Gott scheint für viele geschlossen und sie sehen sich auf andere Foren verwiesen. 1.4.2 Die religiöse Indifferenz und der postmoderne Verlust des Ganzen Dabei werden aber die Gottesvorstellung und das christliche Menschenbild nicht bewusst abgelehnt oder durch einen elaborierten Atheismus ersetzt, sondern als eine Möglichkeit menschlichen Selbstverständnisses unter vielen aufgefasst. Gott wird nicht geleugnet, sondern er ist teilweise überflüssig geworden. Franz-Xaver Kaufmann hat das treffend als die Haltung „religiöser Indifferenz“155 beschrieben, in welcher der Einzelne sich nicht mehr genötigt sieht, sich zu einem bestimmten Glauben oder einer klar abgegrenzten Weltsicht bekennen zu müssen. Als letzter Referenzpunkt fungiert nun vielmehr das Selbst des Menschen oder das eigene Gewissen, das wiederum durch verschiedenste Einflüsse gebildet wurde. Die Religion, wenn sie denn noch den Horizont für das Selbstverständnis und Menschenbild des Einzelnen bildet, hat sich ins religiöse Subjekt zurückgezogen und ist in eine Pluralität abgestiegen, die keine Absolutheits- und Ganzheitsansprüche mehr verträgt.156

155 Franz-Xaver Kaufmann, Religion und Modernität: sozialwissenschaftliche Perspektiven, Tübingen 1989, 158–160. Kaufmann unterscheidet dabei vier verschiedene Stufen religiöser Indifferenz: a.) „gegenüber der Kirche oder Konfession“, b.) „gegenüber christlichen Sinngehalten“, c.) „gegenüber kollektiven Bedeutungshierarchien (insbesondere moralischer Art)“ und d.) „gegenüber jeglicher Verbindlichkeit“. Durch dieses religionssoziologische Stufenschema wird der Prozess der Säkularisierung in seiner ganzen Breite deutlich und lässt sich nicht als eine bloße Entkirchlichung oder als ein ‚non-event‘ abtun, der die letzte Bastion, nämlich das religiöse Subjekt, nicht tangiere – was sich etwa in einem neu belebten religiösen Markt spiegle. Es bleibt nämlich zu fragen, ob der Religionsbegriff so weit gefasst werden sollte, dass jegliche Form von Transzendierung des Gegebenen und jeglicher Versuch von Kontingenzverarbeitung schon als ‚religiös‘ gelten kann, und ob nicht doch eine Differenzierung und Wertung vorgenommen werden muss, die Religion als elaboriertes Symbolsystem und Beziehung zu echter Transzendenz von der Religiosität unterscheidet, die sich als Patchwork des religiösen Subjektes aus einzelnen Transzendierungsversuchen zusammensetzt. 156 Die soziologischen Erhebungen von Klaus-Peter Jörns, Die neuen Gesichter Gottes. Die Umfrage. Was die Menschen wirklich glauben im Überblick, Neukirchen-Vluyn 1997 und der

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Hier deutet sich die Radikalität der Modernisierung und Säkularisierung an, die zum Postulat einer Postmoderne geführt hat. Es sind nämlich nicht nur die christlichen Ursprünge, die religiöse Meta-Erzählung, betroffen, sondern auch noch, hält man an einer Genealogie fest, ihre weltlichen Kinder: die Emanzipation der Menschheit (Aufklärung), die Teleologie des Geistes (Idealismus) und die Hermeneutik des Sinns (Historismus).157 Die Überzeugung, es gebe einen einsinnigen Prozeß namens „Säkularisierung“, ist die Überzeugung, nur religiöse Anschauungen würden von der Krise betroffen, während die weltlichen unweigerlich davon profitierten. Das ist jedoch keine angemessene Sicht unserer Situation.158

Vielmehr zeichnet sich die Gegenwart gerade durch eine Vielfalt aus, die jeglichen umfassenden Anspruch gleich welcher Weltanschauung und Theorie weitgehend egalisiert: „Die Postmoderne beginnt dort, wo das Ganze aufhört.“159 Ist aber die Pluralität und Individualität das Signum der Postmoderne, dann rücken letztlich nicht nur die Metaphysik, die Vernunft und die Gottebenbildlichkeit in den Focus der Kritik, sondern gerade auch diese Kritik und Dekonstruktion selbst. Das Ganze kann zwar aufgelöst werden, aber diese Auflösung kann ebenfalls keinen neuen Ganzheitsanspruch erheben – vielmehr ist nach der Ausgangsbasis einer solchen postmodernen Philosophie zu fragen, die dem Subjekt äußerst ähnlich sieht, das es gerade aufzulösen galt. Es ist somit zwar von einem Abstieg der Gottebenbildlichkeit und von einer ‚Entthronung der Vernunft‘ zu sprechen, aber der so vakant gewordene Thron wird nun nicht wieder von einer Instanz oder einer (sei es negativen) Anthropologie allein besetzt werden können.160 Die Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit ist eben in eine wirkliche Pluralität

EKD, Fremde Heimat Kirche. Die dritte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, hg. von K. Engelhardt u.a., Gütersloh 1997 machen deutlich, wie sehr sich die Religionsauffassung auch innerhalb der Kirchen individualisiert und von theologischen Vorgaben gelöst hat. Das Phänomen eines stark werdenden Fundamentalismus (in vielen Religionen) soll hier nicht übersehen werden, es wird aber gerade als Gegenbewegung zu einer völligen Individualisierung der Religion verständlich. Den Fundamentalismus könnte man als Schutzsuche des Individuums in einem krampfhaft zusammengehaltenen religiösen Ganzen oder System verstehen. 157 Vgl. Lyotard, Das postmoderne Wissen, 96ff. 158 Taylor, Quellen des Selbst, 720. 159 Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 21988, 39. 160 Vgl. hierzu insbesondere Rendtorff, Theologie in der Moderne, 24: „Der Geltungsanspruch der Moderne, der sich an Begriffen der Vernunft und der Wissenschaft gebildet hat, ist analogen Widersprüchen ausgesetzt, die das neuzeitliche Bewußtsein einst gegen die kirchlich-dogmatisch bestimmte vormoderne Kultur geltend gemacht hat. Einsprüche in Form von Autoritätskritik an den Dogmen der Moderne, ihren Rationalitätsstandards und Urteilsinstanzen werden mit den Mitteln historischer Relativierung vorgebracht und erfolgreich in Konzepte der Differenzierung der Weltsicht gekleidet, die nicht mehr auf eine alles beherrschende Formel gebracht werden kann.“

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mannigfaltiger Anschauungen abgestiegen und teilt mit vielen anderen Deutungen das Schicksal einer beschränkten Reichweite.161 Für die christliche Anthropologie liegt genau hier ihre Herausforderung und Verheißung.162 Es geht darum, ihren Kerngehalt, die Rede von der Gottebenbildlichkeit und auch der Sünde, verstärkt in die öffentlichen – zuvor aber auch in die binnenkirchlichen – Diskurse einzubringen. Das kann und muss selbstbewusst, aber ohne enttäuschte Attitüde – ein Abstieg bedeutet ja immer auch (psychoanalytisch gesprochen) eine Kränkung – geschehen. Selbstbewusst heißt aber auch, den Wahrheitsanspruch der Gottebenbildlichkeit im Kontext spätmoderner Anthropologie nicht aufzugeben. Man sollte sich nicht zu schnell von den Überbrückungs- und Regelungsversuchen postmoderner Pluralität, wie es etwa Wolfgang Welsch mit seinem Konzept der „transversalen Vernunft“163 versucht, und auch nicht von einer – Metaphysik und Empirie versöhnenden – „kommunikativen Vernunft“164 beeindrucken lassen, durch die auch Widerständiges und (im erwähnten Sinne) Anspruchvolles in die umfassende Kommunikationsgemeinschaft heimgeholt wird. Christliche Anthropologie braucht eine neue Realistik, die Verluste und Chancen abwägt, um so viele Menschen als möglich mit dem Evangelium von der Gottebenbildlichkeit zu erreichen. Gott hat den Ort in der Lebensgeschichte vieler verloren, aber das heißt umgekehrt nicht, dass diese Vielen damit auch ihren Ort in der Lebensgeschichte Gottes verloren hätten. 161

Hierbei darf nicht unterschlagen werden, dass die christliche Anthropologie immer noch einen bedeutenden Rückhalt in kulturellen Traditionsstücken und natürlich im Bereich der christlichen Kirchen selber findet. Die kulturell und gesellschaftlich prägende Kraft der christlichen Kirchen sollte trotz des Traditionsabbruches nicht unterschätzt werden. Überdies funktioniert die Pluralitätsthese ja nur als Abstraktion von der wirklichen vielschichtigen Situation. 162 Dazu näher Wagner, Christentum und Moderne, 124–144. 163 Wolfgang Welsch, Vernunft – die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a.M. 1996; ders., Unsere postmoderne Moderne, 295–318. 164 Vgl. etwa Habermas, Der philosophische Diskurs, bes. 344–379. Nach Taylor (Quellen des Selbst, 167) legt Habermas seiner Kommunikationstheorie und Diskursethik einen „prozeduralen Vernunftbegriff“ zugrunde, durch den die Prinzipien des Seins und Handelns eben kommunikationstheoretisch bestimmt werden. Dabei fällt aber der konkrete Blick vom einzelnen Subjekt her weitgehend aus, und damit auch die Bestimmung der inhaltlichen Quellen seiner Identität und Moral. Genau das versucht Taylor, wenn er in seinem fulminanten Werk die Geschichte der Ordnung(en) genau rekonstruiert („Erkundung der Ordnung durch persönliche Resonanz“, 881), die zur Identitätsbildung wesentlich sind. Die Pluralität und Individualität menschlichen Selbstverständnisses hintergeht er dadurch nicht, sondern kann in seiner Hermeneutik historische Grundstrukturen und Verbindungen aufzeigen, die immer noch prägend sind, auch wenn sie immer stärker durchmischt und umgestaltet werden. Für das konkrete Verständnis von Gottebenbildlichkeit und Identität trägt dieser Ansatz weit mehr aus, als alle schematischen Versuche mit der Pluralität der Postmoderne umzugehen. Vgl. dazu die theologische Aneignung von Charles Taylor bei Thomas Kreuzer, Kontexte des Selbst. Eine theologische Rekonstruktion der hermeneutischen Anthropologie Charles Taylors, Gütersloh 1999.

2. Der Aufstieg der Vorstellung von der Identität des Menschen Der Aufstieg der Identität Der veränderte Horizont der Anthropologie Der Terminus „Identität“ hat bis zum heutigen Tage einen bemerkenswerten Aufstieg erlebt. Im Binnenraum der noch jungen, aber aufstrebenden Humanwissenschaften, in erster Linie der Entwicklungspsychologie und der Soziologie, erlangte er zentrale Bedeutung. Die Frage nach dem Welt- und Selbstverhältnis des Menschen schien damit auf neue, aktuelle Weise bearbeitet und manche Antwortversuche gewagt werden zu können. Die Sozialpsychologie Erik H. Eriksons traf mit ihrem Hauptstück, der Rede von der „Ich-Identität“, dann aber auch in der nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit den Nerv der Zeit, so dass der Begriff besonders auf dieser Linie eine beeindruckende ‚Profanisierung‘ erfahren konnte. Er ist heute in aller Munde und aus dem gesamtgesellschaftlichen Diskurs, als Ausdrucksmittel des modernen Selbstverständnisses, nicht mehr wegzudenken. Sein Aufstieg mündet derzeit in einer wahren Inflation. Heiner Keupp und Renate Höfer behaupten sogar: Das Thema Identität droht [...] in einem allenthalben abgesonderten „Identitätsgeschwätz“ unterzugehen. Jede und jeder weiß heute mit dem Begriff der Identität zu hantieren und suggeriert gerade damit Eindeutigkeit und Klarheit in ihrer oder seiner Antwort auf die Frage: „Wer bin ich?“1

So sehr also diese Hypertrophie darauf hinweist, dass hier Wesentliches und Charakteristisches für den modernen Menschen zum Ausdruck kommt, so sehr bleibt doch im näheren Blick unklar, was eigentlich gemeint ist. Wer von der eigenen Identität spricht oder von der Suche nach ihr, der kann zwar scheinbar davon aus gehen, dass er verstanden wird. Doch die Selbstverständlichkeit des Identitätsbegriffes ist eine trügerische. Fragt man genauer nach, was hier identisch sein soll, wovon ‚Selbigkeit‘ behauptet wird, dann fällt es schwer eine Antwort zu geben. Es eröffnet sich vielmehr ein breiter Raum unterschiedlicher Vorstellungen und Interpretationen, die wiederum in den unterschiedlichsten Kontexten ausgespannt sind. Diese komplexe Lage ruft die Notwendigkeit hervor, Klarheit in die „Diskursarena Identität“2 zu bringen, was zunächst nur ein erstes Ordnen der Fragen 1

Keupp/Höffer, Identitätsarbeit heute, 7. Heiner Keupp, Diskursarena Identität. Lernprozesse in der Identitätsforschung, in: Identitätsarbeit heute, 28–35. Vgl. auch Neil Roughley, Zur Wiederkehr anthropologischen Denkens, in: 2

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und Probleme bedeuten kann, die hier aufgeworfen werden. Eine nähere Analyse der verschiedenen Identitätsdiskurse kann und soll das nicht ersetzen, sondern vielmehr einleiten. Wie konnte es also zu einem solch fulminanten Aufstieg kommen? Wo könnten die Gründe für den breiten und schillernden Gebrauch, für die Attraktivität dieser Vorstellung liegen? Wird der Aufstieg vom Abstieg anderer Vorstellungen, Begriffe und der darin gebündelten Probleme begleitet? Gibt es eine Vorgeschichte und etwaige Konstellationen, die fast mit Notwendigkeit dem Identitätsbegriff zum Aufstieg verhalfen? In einem ersten Herangehen soll zunächst die Problemlage der Vorstellung und des Begriffes der Identität umrissen werden (2.1–2.2). Daran schließt sich die detaillierte Untersuchung des Identitätsbegriffes in den wissenschaftlichen Diskursen des 20. Jahrhunderts an (2.3). Zum Schluss dieses Abschnittes soll eine Bilanz gezogen werden (2.4–2.5) und der Übergang zur theologischen Anthropologie besprochen werden.

2.1 Der veränderte Horizont der Anthropologie 2.1.1 Die Entdogmatisierung der Anthropologie Die Zeiten scheinen endgültig vorbei zu sein, in denen man einfach und ungeschützt fragte: Was ist der Mensch? Zeiten, in denen man dann möglicherweise sogar noch eine umfassende Antwort erwartete oder geben wollte. Die moderne Anthropologie, wie der gesamte Wissenschaftskanon überhaupt, hat sich längst so stark pluralisiert und ausdifferenziert, dass eine Einheitsschau kaum noch möglich erscheint: Kein Versuch, unter dem Titel „Anthropologie“ Theorie zu betreiben, kann heute den wiederholten Aufweis der Partikularität ihrer universalen Ansprüche ignorieren. Der anthropos hat sich als (mindestens) metaphysisch, neuzeitlich, westlich, männlich, weiß oder szientistisch erwiesen.3

Hatte noch Max Scheler4 in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein solches Einheitsprinzip formuliert, das heißt mit Hilfe des Geistbegriffes die Natur des Menschen gerade als das Transzendieren seiner bloßen Natürlichkeit beschrieben und ihr entgegengestellt, so wurde in der Folge, Identität, Leiblichkeit, Normativität, 19–25; Jürgen Straub, Identitätstheorie im Übergang? Über Identitätsforschung, den Begriff der Identität und die zunehmende Beachtung des NichtIdentischen in subjekttheoretischen Diskursen, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 23 (1991), 49–71. 3 Roughley, Zur Wiederkehr anthropologischen Denkens, 17. 4 Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, hg. von M. S. Frings, Bonn 141998.

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selbst aus den ‚eigenen Reihen‘ der „philosophischen Anthropologie“ Kritik daran laut – insbesondere an der metaphysischen Herkunft des Geistbegriffes. Schon damals verstand sich die Anthropologie zwar als ein integratives Unterfangen, das die Natur des Menschen auf breiter wissenschaftlicher Basis erkunden wollte, aber die Frage nach einer Einordnung und Standortbestimmung des Menschen im Kosmos mit seiner geistigen Sonderstellung beantwortete. Solche Versuche gerieten bald unter den Verdacht, die alte metaphysische und philosophische Schau des Menschen bloß zu repristinieren und einen Anthropozentrismus auf höherer Ebene zu propagieren. Hans Georg Gadamer formuliert – in der Einleitung zu dem geradezu symptomatisch erscheinenden Projekt „Neue Anthropologie“ – dagegen: „Ein ‚richtiges Menschenbild‘, das ist vor allem ein durch Naturwissenschaft, Verhaltensforschung, Ethnologie wie durch die Vielfalt geschichtlicher Erfahrung entdogmatisiertes Menschenbild.“5 Der Suche nach einer integrativen Einheitsschau wird deshalb eine lockere Bündelung anthropologischen Wissens entgegengestellt, das sich nur unter ‚weichen Einheitskriterien‘, unter verwandten Blickwinkeln anordnen lässt. Die ‚Entdogmatisierung‘ der Anthropologie bezog sich bis zuletzt auf die philosophischen und theologischen Traditionen, denen ein Mangel an Reflexion und Integration empirischer Ergebnisse vorgeworfen wurde.6 Insbesondere die jungen Wissenschaften, etwa die Soziologie und Psychologie, aber auch schon die Biologie, die seit Darwins Evolutionstheorie massiv auf die Anthropologie und das Selbstverständnis des Menschen einwirkte, treten mit dem Anspruch auf, empirische Wissenschaften zu sein, also harte Erfahrungsfakten, messbare Ergebnisse zu liefern. Dabei konnte es zu einer unfruchtbaren Frontenbildung zwischen empirischen Human- und Naturwissenschaften und den vermeintlich spekulativen Geisteswissenschaften kommen. Ja es konnte sogar ins Extrem umschlagen, so dass ein neuer Absolutheitsanspruch, nun aber der empirischen Wissenschaften möglich wurde. Etwa in der Soziobiologie7 war und ist das der Fall, in der auch die Kultur und das Sozialverhalten des Menschen natürlich determiniert und nach den Regeln der Evolution abzulaufen scheinen. Ähnliches lässt sich auch im Blick auf die rasante Entwicklung in der Gentechnologie feststellen. In der öffentlichen Diskussion besteht hier die Gefahr, den Menschen 5

Hans-Georg Gadamer, Theorie, Technik, Praxis – die Aufgabe einer neuen Anthropologie, in: Neue Anthropologie I, IX–XXXVII, hier: XXXVI. Vgl. erneut auch Schmidinger/Sedmak (Hg.), Topologien des Menschlichen. 6 Vgl. hierzu Schulz, Philosophie in einer veränderten Welt, bes. 457–467; unter der Überschrift „Absencen der Theologie“ Buchholz, Körper–Natur–Geschichte, 9–32; Sauter, Mensch sein – Mensch bleiben, 95 und oben 1.3.4. 7 Vgl. als Einführung Edward O. Wilson, Sociobiology. The new synthesis, Cambrige/London 1976; Ekkehard Voland, Grundriß der Soziobiologie, Stuttgart 1993.

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auf seine Gene zu reduzieren, geradezu eine ‚Mystik der Gene‘ zu entwerfen. Entdogmatisierung und Entmythologisierung wäre also auch in dieser Richtung zu betreiben. Die Problematik eines Einheitsprinzips, die Notwendigkeit der Destruktion von Absolutheitsansprüchen einzelner Zugänge zum Menschen und die Auflösung des schroffen Gegensatzes von empirischen und philosophischen Humanwissenschaften ergibt sich aber aus einer Einsicht, die zuletzt immer stärker ins Bewusstsein getreten ist. „Im Falle der Anthropologie (ist) das Objekt der Forschung identisch mit dem Subjekt.“8 Mit dieser Grundeinsicht wird zum einen das virulente Problem jeder Anthropologie thematisiert, dass sich nämlich das Subjekt Mensch nur in seiner konkreten Vorfindlichkeit und im engen Rahmen der eigenen Fragestellung objektivieren kann. Der Mensch, der nach sich fragt, ist bestimmt durch die gesellschaftlichen und (geistes)geschichtlichen Bedingungen seiner Zeit und in dieser Bedingtheit nimmt er sich gleichsam aus der Frage in die Antwort hinein mit. Diese Problematik gründet zum anderen in der Grunddifferenz zwischen dem Menschen als Subjekt der Frage nach sich selbst und als deren Objekt. Indem der Mensch nach sich fragt, verlässt er sich gleichsam selbst, er nimmt eine „exzentrische Position“ (Helmuth Plessner) zu sich ein. Damit ist er aber über seinen ursprünglichen Standpunkt, über sich selbst als Subjekt, das er explizieren und verstehen wollte, schon längst hinaus. Genau hieraus resultiert die Unmöglichkeit der Erhebung einer unveränderlichen Natur des Menschen, es sei denn man erklärt gerade diese Dynamik der Veränderung zur Natur des Menschen – nur ist damit kaum etwas gewonnen. Der Mensch ist im Werden, er wird im Verlauf der Frage nach sich selbst und kann immer nur vorläufige Antworten geben, die schon mit ihrer Artikulation wieder veraltet sind. Der Mensch zerfließt gleichsam im Strom der Geschichte, das Untersuchungsobjekt erweist sich als der „homo absconditus“.9 Diese Einsicht hat zu einer konsequenten Historisierung der Anthropologie geführt, die sich nun als eine hermeneutische Wissenschaft verschiedenster zeitabhängiger Selbstverständnisse und Menschenbilder verstehen muss. (Und dabei wird in zunehmendem Maße auch deutlich, dass sich Empirie, Verstehen und Theoriebildung nicht von einander trennen lassen, weder von seiten der empirischen noch von seiten der philosophischen Wissenschaft.) Aber auch wenn im Blick auf die Geschichte und die Kultur, durch die sich der Mensch selber ausbildet, alle Unveränderlichkeiten relativiert erscheinen, so ist doch die Frage nach der Natur des Menschen und nach Kontinuitäten der Menschenbilder unablässig zu stellen. Denn so sehr sich 8 9

Wilhelm E. Mühlmann, Umrisse und Probleme der Kulturanthropologie, Berlin 1966, 21. Vgl. dazu die Aufsätze von Helmuth Plessner in: Diesseits der Utopie, Frankfurt a.M. 1973.

Der veränderte Horizont der Anthropologie

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der Mensch als prinzipiell unbestimmbar erweist, so sehr ist doch die Bestimmung der Humanität, dessen, was wirklich ‚menschlich‘ genannt zu werden verdient, weiterhin eine Notwendigkeit. Im praktischen, ethischen Horizont liegt die enorme Wichtigkeit anthropologischer Reflexion10 und dabei reicht es nicht, bloß zerstörerische Menschenbilder aufzubrechen und Ideologien zu entlarven, sondern die Anthropologie muss auch positiv Stellung beziehen und Begriffe wie Menschenwürde, Personalität und Freiheit neu beleben können. 2.1.2 Der Identitätsbegriff in einer multiperspektivischen Anthropologie Es ist gerade dieses Spannungsfeld der Anthropologie, in dem der Begriff der Identität bis heute aufsteigen und sich quer durch die Disziplinen behaupten konnte. Er erfüllt wesentliche strukturelle Anforderungen, die aus der oben beschriebenen Lage resultieren. Identität ist ein Relationsbegriff.11 Er thematisiert ein Selbigkeitsverhältnis am Ort ‚Mensch‘; mit seiner Hilfe kann der Mensch als Wesen beschrieben werden, das nach sich fragt, das als Verhältnis von Subjekt und Objekt eins ist. Hier wird Identität unter Einschluss von Differenz ausgesagt. Mit der Thematisierung einer Relation, als die und in der der Mensch existiert – eine Relation, deren Relate freilich näher bestimmt werden müssen –, ergibt sich aber auch die Dynamik dieser Identität unter dem Gesichtspunkt der Zeit. Der Mensch verändert sich, er wird ein anderer. Aber dennoch bleibt die Relation als solche bestehen. Dem Identitätsbegriff inhäriert deshalb einerseits die Kontinuität der Relation als auch andererseits die Diskontinuität des Wesens, das als eine solche existiert. Identität und Identitätssuche, Selbst und Selbstverwirklichung, Wesen und Veränderung können in dem Bereich des Identitätsbegriffes zusammengebunden erscheinen. Sie bilden eine scheinbar paradoxe Einheit, mit der die menschliche Erfahrung von Identifizierung und Dynamisierung als Ganzes bezeichnet werden kann.12 Es ist in erster Linie diese formale Struktur, die dem Begriff der Identität gewissermaßen einen Vorteil gegenüber anderen Begriffen verschafft, und die insbesondere der philosophischen Tradition, etwa der Subjektivitätsphi10

Das Ringen von Geschichtsphilosophie und philosophischer Anthropologie ist hier durchaus fruchtbar und als bleibende Aufgabe im Bereich der Wissenschaft vom Menschen zu verstehen. Vgl. dazu Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie; Schulz, Philosophie in einer veränderten Welt, 624ff und dann die ethischen Ausführungen 630ff. 11 Vgl. dazu Gloy, Identität I/philosophisch, TRE 16, 26. Zum Überblick: Dieter Henrich, Identität – Begriffe, Probleme, Grenzen, in: Marquard, O./Stierle, K. (Hg.), Identität, Poetik und Hermeneutik VIII, München 1979, 133–186. 12 Vgl. hierzu die obigen Ausführungen zur Gottebenbildlichkeit unter 1.1.1–1.1.3.

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losophie, Anknüpfungsmöglichkeiten bietet. Hier wird zwar immer wieder die Differenz zwischen Philosophie und Humanwissenschaften angesprochen, wie etwa Dieter Henrich scharf formuliert: Der Zusammenhang zwischen genuin philosophischen Problemen und dem, was der in die psychologische Allerweltsaufklärung eingesickerte Terminus „Identität“ besagt, (ist) nur ganz indirekt (und) zu dem populärsten Gebrauch der Rede von Identität, in die zur Zeit literatur- und geschichtstheoretische Untersuchungen wie ganz von selbst geraten, hat die Philosophie als solche direkt nichts beizutragen.13

Dennoch scheint aber die Frage nach der Subjektivität und Personalität des Menschen sich in das Gewand einer Identitätstheorie kleiden zu können, die gerade beides zusammenbringt, einen philosophischen und eher sozialpsychologischen Identitätsbegriff; es scheint gerade so, dass auch die philosophische Theoriebildung nicht mehr um den Identitätsbegriff herumkommt und sich der Popularität des Begriffs in vielen wissenschaftlichen Diskursen nicht mehr verschließen kann; vielleicht gerade auch, um Verkürzungen etwa in den psychoanalytisch orientierten Theorien anzugehen. Wird der Begriff zuweilen zwar ungenau und ‚unaufgeklärt‘ verwandt, so bietet er doch große Möglichkeiten, um mit anderen Wissenschaften ins Gespräch zu kommen – er kann ja näher gefüllt und ‚aufgeklärt‘ werden. Auch in einer zweiten Hinsicht scheint der Identitätsbegriff einen nicht geringen Vorteil zu besitzen. Es ist die Tatsache, dass er nicht das Gewicht jahrhundertealter Traditionen tragen muss, und das lässt ihn zusätzlich attraktiv erscheinen. Als anthropologischer Begriff14 ist er relativ unbelastet, während das etwa auf die Termini: Geist, Seele, Vernunft, Selbstbewusstsein, Subjekt oder Person nicht gerade zutrifft.15 Sie alle lassen sich nicht mehr so leicht als Integrale anthropologischer Reflexion verwenden, weil sie in ihrer Geschichte Zuspitzungen und Definitionen erfahren haben, die das jeweilige integrative Potential kaum erhöht haben dürfte. Gerade an diesen traditionellen Begriffen haben sich immer wieder heftige Auseinandersetzungen entzündet, die sich zwar bis in die Identitätstheorien hinein fortpflanzen, aber hier doch nicht zuletzt durch die neue Terminologie eigenartig entschärft erscheinen. Man mag etwa an den Abstieg des Termi13

Henrich, Identität, 135 und 136. Der sozialpsychologische Begriff Identität steht in eigentümlicher Spannung zum Begriff der Identität von Natur und Geist in der idealistischen Philosophie, etwa der Identitätsphilosophie Schellings. Betont die Sozialpsychologie gerade die Suche nach Identität, das Ausstehen des Einsseins, so wird im Idealismus gerade die Identität als Einssein, freilich als ein zu explizierendes verstanden. Vgl. hierzu Henrich, Identität, 134–138. 15 Vgl. Roland Hagenbüchle, Subjektivität: Eine historisch-systematische Einführung, in: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität Bd.1, hg. von R.L. Fetz, Berlin 1998, 6. Er erweitert diese Liste um einige weitere Begriffe. Vgl. auch Martin Brasser, Einleitung, in: ders (Hg.), Person – Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 1999, 27. 14

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nus ‚Subjekt‘ denken, der bis zu seinem vermeintlichen Tod, dann aber auch darüber hinaus geführt hat: „‚Vom Subjekt zur Subjektivität‘, so könnte man die Geschichte des modernen Subjekts seit Descartes kurz und prägnant betiteln.“16 Den Identitätsbegriff kann man zwar auch kritisch beäugen und zu destruieren versuchen (s.u.), aber das scheint nicht so leicht zu sein, wie etwa beim Begriff des Subjektes, sofern man diesen in einer besonderen – etwa Kantischen – Prägung festgefahren sieht.17 Die Milderung dieser Schwierigkeiten im Bereich des Identitätsbegriffes resultiert möglicherweise aus einem dritten entscheidenden Vorteil. Er scheint das Kriterium entdogmatisierter Anthropologie zu erfüllen, nämlich ‚empiriefähig‘ zu sein (s.o.). Ursprünglich kommt er aus der angelsächsischen, empiristischen Tradition. John Locke und David Hume versuchten mit dem Identitätsbegriff die Struktur der Person, genauerhin die Frage nach der Kontinuität des Selbst in der Zeit zu bearbeiten. Ihre Frage war, was konstituiert die Person, so dass sie ein- und dieselbe im Lebenslauf bleibt. Im amerikanischen Pragmatismus bei William James und George Herbert Mead wurde der Begriff als Terminus für die Bestimmung des Menschen aus dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wieder aufgegriffen und dann unter der Hand „des genialen ‚Gärtners‘ Erikson zu wunderbarem Wachstum“18 gebracht, so David J. de Levita. Die Identitätsvorstellung bei Erik H. Erikson wuchs interessanterweise zunächst im klinischen Kontext und wurde erst von dort aus in den Rang einer allgemeinen sozialpsychologischen Theorie erhoben.19 Identität scheint in diesem Kontext geradezu etwas Nachprüfbares zu sein, da sie sich auf ein Gefühl von Selbstgewissheit bezieht, auf eine Ich-Stärke, die man einem Menschen anmerken bzw. deren Fehlen sich in psychischen Krankheiten ausdrücken kann. Der Aufstieg des Begriffes in der breiten Öffentlichkeit hat viel mit diesem Empiriebezug zu tun, da hier zumeist ein positivistischer Wissenschaftsbegriff vorherrscht, der an Sichtbarkeit und Machbarkeit orientiert ist. Deshalb scheint auch die wieder entdeckte Frage nach der Leiblichkeit und das Verhältnis von ‚Seele und Leib‘ hier neue Beachtung und Ausdruck 16

Hagenbüchle, Subjektivität,78. Henrich weist allerdings daraufhin, dass sich in jüngster Zeit (2006f) nun wiederum fast ein inflationärer Gebrauch des Terminus „Subjektivität“ eingestellt habe: Inflation in Subjektivität?, in: ders., Die Philosophie im Prozess der Kultur, Frankfurt a.M. 2006, 211–227. Es scheint gerade so, dass sich im Zuge bestimmter geisteswissenschaftlicher ‚Moden‘ bestimmte Termini ausbilden, unter denen sich anthropologisches Denken eine Zeit lang versammeln kann, um sich etwas später wiederum in neue terminologische Gewänder hüllen und andere anthropologische Aspekte betonen zu können. Vgl. zuletzt auch Dieter Henrich, Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt a.M. 2007. 18 So David J. de Levita, Der Begriff der Identität, Frankfurt a.M. 1971, 7. 19 Vgl. hierzu die Darstellung unten unter 2.3.2. 17

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zu finden. Im angelsächsischen Raum wird unter dem Stichwort „Identitätstheorie“ gerade dieser Bezug von materieller leiblicher Grundlage und mentalen Vorgängen thematisiert. Die Body-Mind-Theory führt jedes mentale Ereignis, Gedanken und Gefühle, auf einen physischen Vorgang im Zentralen Nervensystem bzw. im Gehirn zurück. Mentales, Geistiges wird dabei zuweilen auf Physikalisches oder Chemisches reduziert.20 In diese positivistische, naturalistische Linie gehören noch viele weitere Identitätsbegriffe, etwa der Soziobiologie, auch des Sozialbehaviorismus (der zu einer Quelle der Identitätstheorie Meads wurde) oder der Reflexion der Genetik. In jedem Fall verbindet sich mit dem Begriff der ‚Identität‘ in diesem Kontext der Versuch, die Differenz zwischen Materiellem und Geistigem zu überbrücken (oder aber gerade stark zu machen). Die unhintergehbare Leibvermitteltheit des geistigen Lebens und der Antagonismus von innerer Erfahrung und äußerer Betrachtung lässt sich in einem weitgefassten Identitätsbegriff zusammenhalten. Das Vermittlungspotential von „Identität“ ist hier recht hoch einzuschätzen. Dennoch sollte man die Möglichkeiten, insbesondere eines solch formalen Begriffes, als neues Integral anthropologischer Wissenschaft nicht überschätzen. Es sind zwar neue Spielräume entstanden, gerade auch durch die relativ unbedarfte Verwendung von „Identität“ – weil man zunächst einmal glaubt, genau zu wissen, was mit Identität gemeint ist, kann man über vieles weiter verhandeln. Aber auf dieser Linie wird auch deutlich, dass der Begriff als solcher dann nicht geringe Detailprobleme aufwirft und tatsächlich nicht mehr sein kann als ein Brennglas, das verschiedene Perspektiven auf

20

Diese Beziehung kann streng reduktiv-materialistisch verstanden werden, indem eine starke, klar bestimmbare Relation von physikalischer Ursache und mentaler Wirkung erhoben wird (typeidentity); sie kann aber auch deutlich relativiert erscheinen, indem ein mentales Ereignis in einem materiellen zwar fundiert wird, aber kein genaues, theoretisch reproduzierbares Verhältnis von materieller Ursache und mentaler Folge behauptet wird (token-identity). Die Theorien einer ‚schwachen‘ Determination, die sog. „Supervenienztheorien“, werden „momentan weithin als die aussichtsreichsten Versionen eines ‚nichtreduktiven Physikalismus‘ eingeschätzt“, so Winfried Löffler (Naturalisierungsprogramme und ihre methodologischen Grenzen, in: Der neue Naturalismus, a.a.O., 51). Der einflussreichste Vertreter dieser schwachen Identitätstheorie ist Donald Davidson (vgl. ders., Handlung und Ereignis, Frankfurt a.M. 1990), während David Lewis (vgl. ders. [Hg.], Die Identität von Körper und Geist, Frankfurt a.M. 1989) als einer der wichtigsten Verfechter des reduktiven Materialismus zu bezeichnen ist. Im Rahmen der später beschriebenen Diskurse werden diese naturalistischen Identitätstheorien nicht erörtert werden, da sie nicht – zumindest unmittelbar – ins Umfeld eines sozialpsychologischen Identitätsbegriffes gehören. Zur Weiterführung kann hier etwa auf John Eccles, Wie das Selbst sein Gehirn steuert, München 1994; auf die theologische Studie von Caspar Söling, Das Gehirn-Seele-Problem. Neurobiologie und theologische Anthropologie, Paderborn 1995; neuerdings etwa Ulrich H.J. Körtner, Lasset uns Menschen machen, Christliche Anthropologie im biotechnischen Zeitalter, München 2005 verwiesen werden.

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den Menschen bündelt und miteinander in Beziehung setzt. Ein neues anthropologisches Einheitsprinzip lässt sich hier nicht finden.21

2.2 Das verschärfte Identitätsproblem Das verschärfte Identitätsproblem 2.2.1 Der profane Identitätsbegriff Bis hierher ging es hauptsächlich um den Identitätsbegriff und um mögliche Gründe für seinen Aufstieg im Rahmen anthropologischer Theoriebildung. Das Frappierende im Blick auf den Begriff liegt aber in seinem Aufstieg innerhalb der breiten Öffentlichkeit, und zuvor in seinem Übergang aus den humanwissenschaftlichen Binnendiskursen in die Alltagswelt des Einzelnen. Solch ein Vorgang der ‚Profanisierung‘, mit all seinen Umdeutungen und Verkürzungen der Ursprungstheorien, ist doch nur möglich, wenn sich im Begriff ein Problem andeutet bzw. darin Ausdruck finden kann, das eine hohe Evidenz für das Selbstverständnis des modernen Menschen besitzt. Welches Problem schwingt also in der emphatischen Verwendung des Identitätsbegriffes mit? Warum erscheint die Frage nach sich selbst heute gerade im Rahmen der Identitätsterminologie? Und noch einen Schritt weitergehend, warum wird nicht mehr allgemein gefragt: Was ist der Mensch? Warum wird vielmehr die Frage zugespitzt und zuweilen verengt auf die Frage: Wer bin ich? Was ist meine Identität? Die Abfolge der oben gestellten Fragen deutet schon eine Entwicklung im Blick auf die Identitätsthematik an. Dennoch muss zunächst einmal festgehalten werden, dass die Frage nach dem Menschsein und mit Einschränkung nach der eigenen Identität keine Erfindung der Neuzeit ist.22 Solange es Menschen gibt, die über Bewusstsein verfügen, fragen diese auch nach sich selbst. Und natürlich mangelt es auch nicht an Theorien darüber, wie sich persönliche Identität denken und verstehen lässt. Hier mag man eine philosophische Ahnenreihe aufstellen, die vielleicht sogar den Verlauf der Geschichte der Identitätsthematik erhellen und die Konstitutionsbedingungen heutiger Identität mehr oder weniger durchsichtig ma21 Hier wiederholt sich ja die Mehrdimensionalität und Multiperspektivität der Anthropologie, so dass den Aufsatzsammlungen der „Neuen Anthropologie“ die Aufsatzsammlungen rund um das Thema ‚Identität‘ folgen. Etwa auch: Identität und Moderne, hg. von H. Willems und A. Hahn, Frankfurt a.M. 1999. 22 Eindrücklich stellt das Paul Ricoeur anhand der griechischen Antike dar in: Wege der Anerkennung – Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, aus dem Französischen von U. Bokelmann und B. Heber-Schärer, Frankfurt a.M. 2006, 97–120. Vgl. auch Klaus Oehler, Subjektivität und Selbstbewusstsein in der Antike, in: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität Bd.1, 153–176.

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chen kann.23 Das ist der notwendige Blick sozusagen auf die inneren, geistesgeschichtlichen Gründe dieser Entwicklung. Nur scheint das Neue zunächst einmal darin zu liegen, dass die Identitätsfrage nicht mehr nur von Einzelnen gestellt wird, die über die Ressourcen Bildung und Zeit frei(er als andere) verfügen konnten. Heute ist das Identitätsthema geradezu ein ‚demokratisiertes Problem‘ aller geworden, das gleichsam von außen an den modernen Menschen herantritt: „Die massenweise Problemhaftigkeit der persönlichen Identität ist ein Phänomen der neueren und neuesten Zeit“24, so Thomas Luckmann. Sind die Frage und das Problem, die mit dem Identitätsbegriff verbunden sind, nicht modernen Ursprungs, so doch deren Verschärfung und deren Unausweichlichkeit. Jeder Mensch, der in der modernen westlichen Gesellschaft lebt, muss sich die Identitätsfrage stellen und mit einer oder ohne eine Antwort darauf leben. Diese Notwendigkeit lässt sich nun zunächst aus den umfassenden soziokulturellen Veränderungen erklären, die eine intensivierte Beschäftigung des Menschen mit sich selbst, seine „Dauerreflexion“ (Schelsky), geradezu erzwingen. Im gesellschaftlichen Gefüge ist es zu Verschiebungen gekommen, die massive Auswirkungen auf dessen Glieder und deren Selbstverständnis haben; nur auf diesem Hintergrund kann die Allgemeinheit des Problems und die Inflation des Identitätsbegriffes verständlich gemacht werden. Die heutige Identitätsproblematik ist eng mit dem Prozess der Modernisierung der Gesellschaft verbunden und trat in deren Verlauf an die Oberfläche. Was zeichnet nun diesen Prozess aus? 2.2.2 Modernisierung und soziale Differenzierung25 Als Kern und Movens der Modernisierung versteht die soziologische Theorie die soziale Differenzierung. War in der mittelalterlichen Welt die Gesellschaft hierarchisch geschichtet, das heißt in klare Stände differenziert, die nach dem Schema eines ‚oben und unten‘ angeordnet waren, so wurden die hier gezogenen Grenzen mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft immer durchlässiger. Das aufstrebende urbane Leben, die wachsende Bedeutung von Handwerk und Handel verlangten nach einer dynamischeren Struktur, die diesen Bedürfnissen entsprach. Die Gesellschaft differen23 24

293.

Vgl. Taylor, Quellen des Selbst. Thomas Luckmann, Persönliche Identität und soziale Rolle und Rolleninstanz, in: Identität,

25 Vgl. erneut Giddens, Konsequenzen der Moderne und auch von der Systemtheorie her: Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984; Ders., Die Religion der Gesellschaft, hg. von A. Kieserling, Frankfurt a.M. 2000, bes. 115–146.

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zierte sich zunehmend nach funktionalen Gesichtspunkten, so dass die unterschiedlichen Bereiche öffentlichen Lebens wie Politik, Wirtschaft, Erziehung, Recht und Gesetzgebung, Wissenschaft und Religion immer weiter auseinander traten und sich spezialisierten; die Zuständigkeiten konnten sich nicht mehr nur auf der Schichtebene verteilen oder gar ganz in den Händen der Aristokratie bleiben. Die soziale Differenzierung bezog sich aber nicht nur auf den Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, sondern bezeichnet auch noch den weiterführenden Prozess der Bildung von neuen kleinteiligeren Subsystemen und Institutionen. Ganz grob lässt sich sagen, dass die Vorherrschaft einer vertikalen Struktur, die sich ja auch auf das Weltbild und die Religion bezog, nach und nach durch eine horizontale abgelöst wird. Das Zeitalter der Industrialisierung bezeichnet in dieser Hinsicht (nur) eine Phase des Übergangs, in der einerseits nochmals die Abhängigkeit des Einzelnen auf die Spitze der Ausbeutung getrieben werden konnte, andererseits aber auch der Grund für den Wohlstand immer größerer Teile der Bevölkerung gelegt wurde. In der Spätmoderne wandelt sich in diesem Prozess die Klarheit und Übersichtlichkeit der hierarchisch strukturierten Gesellschaft langsam aber sicher – auch mit Rückschlägen und Verwerfungen – in eine neue Unübersichtlichkeit und Pluralität um. In der postindustriellen westlichen Gesellschaft hat sich diese Ausdifferenzierung enorm verstärkt und die Geschwindigkeit des Wandels zugenommen. Neue Institutionen und Subsysteme sind hinzugekommen, etwa die Medien und das Internet, die hohe Anforderungen an die horizontale Kommunikation der Teilhaber am gesellschaftlichen Leben stellen und die Kommunikationsformen – und ihre Reichweite – ständig verändern.26 Auf der Ebene des Individuums bedeutet nun die Modernisierung bzw. soziale Differenzierung durchaus eine Zunahme an Spielräumen, da der Einzelne nicht mehr in einer einzigen sozialen Rolle ‚eingezwängt‘ ist. Er nimmt vielmehr an den verschiedensten Subsystemen teil und steht nicht 26 Unter den ‚keywords‘: Pluralisierung, Medialisierung, Globalisierung u.a. ließen sich einzelne Aspekte dieser Entwicklung profilieren. Einen wesentlichen Aspekt hebt zuletzt Hartmut Rosa (Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005, bes. 333–390) hervor. Rosa versucht die Prozesse der Modernisierung und der sozialen Differenzierung im Blick auf die veränderten Zeitstrukturen näher zu erläutern. Das subjektive Empfinden von Zeit hat sich stark verändert und bestimmt das Selbstverständnis des spätmodernen Menschen. In unserem Kontext der Reflexion der Identitätsvorstellung ist sein Begriff der „situativen Identität“ (352 u.a.) von Bedeutung: „Was unter den Zwängen der Beschleunigungsgesellschaft also preisgegeben wird, ist die Idee eines auf Dauer oder Langfristigkeit hin angelegten Identitätsprojektes, mithin die Vorstellung einer Autonomie, welche Subjekten das kontextübergreifende und zeitstabile Verfolgen von selbstdefinierten Werten und Zielen ermöglicht“ (372). Auch wenn Rosa m.E. ein zu düsteres Bild spätmoderner Identität malt, so wird doch gerade die ‚Auflösung der Zeitstabilität‘ zu großen Teilen negativ erfahren und macht die Zunahme psychosomatischer Erkrankungen, etwa die der Depression, verständlich.

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mehr nur in direktem Kontakt zu seinem Mitmenschen, sondern auch in indirekten, über Institutionen vermittelten Beziehungen. Die ehemals vorherrschenden ‚face to face‘-Beziehungen, die Ich-Du-Begegnungen werden durch komplexere Sozialformen ergänzt, bald aber auch überwuchert. Die Gemeinschaft wird zur Gesellschaft, wie Ferdinand Tönnies27 es programmatisch formulierte. Der Einzelne wird gleichsam aus der Enge des sozialen Standes, der Schicht, aus der festen Ordnung des Lebens herausgeführt. Er gewinnt Spielräume, verliert aber die Beheimatung in einem alles überspannendem Weltgebäude. Analog zur gesellschaftlichen Differenzierung, differenziert sich also auch seine Teilhabe am öffentlichen Leben. In der Schule ist er Schüler, an der Arbeit Arbeiter, in der Kirche Kirchgänger und im Verein Fußballer. Auch im Blick auf diese Differenzierung gibt es für den Einzelnen nun keinen festen Ort mehr, an dem er als Ganzer in Erscheinung tritt. Die Gesellschaft thematisiert immer nur einen Einzelaspekt des Menschen im jeweiligen funktionalen Zusammenhang. Der Einzelne wird nicht mehr durch soziale Inklusion, sondern durch Exklusion bestimmt.28 Pluralisiert sich die Gesellschaft, dann wird auf der Ebene des Individuums also dieser Wandel reproduziert. Das Individuum scheint sich in verschiedene Rollen und Teilidentitäten aufzuspalten, so als ob es gar kein In-dividuum, sondern vielmehr ein Dividuum sei.29 Die soziale Differenzierung zieht eine individuelle Differenzierung nach sich. 2.2.3 Erlittene Individualisierung Das Grundproblem des Menschen in der modernen Gesellschaft liegt zu großen Teilen in dieser sozialen Konstellation, die zudem noch in schnellem Wandel begriffen ist. In der Rede von der eigenen Identität schwingt die Problematik der erlittenen Individualisierung30 und Differenzierung mit. Der Versuch, die Identität zu bestimmen, ist somit auch als Versuch der Ortsbestimmung in einer pluralisierten Gesellschaft zu verstehen. Er ist ein Gegenprojekt zum Verlust der Einheit, Ganzheit und Behaustheit in einer unübersichtlich gewordenen Welt. Wird das Individuum nicht mehr von außen zusammengehalten, so muss – wenn auch keine Einheit mehr möglich ist – 27

Vgl. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt 1972. Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaften, Bd.1, Frankfurt a.M. 1980, 158. 29 Eindrücklich, aber plakativ beschreiben das Siefer/Weber, Ich, 9–34. 30 Es würde die Zusammenhänge verzeichnen, wollte man die Individualisierung und den Individualismus des modernen Menschen allein auf sein Konto verbuchen. Individualisierung ist ein gesellschaftlicher Prozess, der gerade den Individualismus hervorruft. Individualismus ist eine Form der Reaktion auf die soziale Differenzierung. 28

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wenigstens eine Kohäsion von innen erwirkt werden. Zur Thematisierung dieses Problems eignet sich der Identitätsbegriff besonders gut, denn er bietet aufgrund seiner relationalen Struktur die Möglichkeit, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von Ich und Selbst zu erfassen. Wenn aber von der Identität gehandelt wird, so muss es zunächst einmal gar nicht um die Frage gehen, was der Mensch überhaupt und an sich sei, oder wie das eigene Selbst zu bestimmen ist, sondern die Frage lautet vielmehr: Wer oder was bin ich im Blick auf meine soziale Umwelt? Nehme ich den Platz ein, den mir die Gesellschaft zugeschrieben hat, oder gibt es den überhaupt noch? Das Weltverhältnis des Menschen wird im engeren Rahmen der Frage nach der Sozialität gefasst, während das Selbstverhältnis, die Subjektivität und Personalität des Menschen, (noch) gar nicht zur Sprache kommen muss.31 Dass aber dieser Antagonismus von Individuum und Gesellschaft im Menschen ausgefochten wird, dass die Konflikte sich in der Psyche und im Zusammenhang damit gerade auch im Somatischen32 niederschlagen können, das schwingt in der Rede von ‚Identität‘ ebenfalls mit – was sicherlich ein Teil des Erbes der psychoanalytischen Identitätstheorie Erik H. Eriksons ist. Der Begriff ‚Identität‘ hat mittlerweile auch große symbolische und emotionale Anteile gewonnen. Er kann als Projektionsfläche einer Ganzheitshoffnung, einer Sehnsucht nach Integration, einer ausgebildeten IchStärke dienen, die die Zerrissenheit des Individuums zu lindern und vielleicht sogar zu heilen vermag. Jedenfalls ist eine solche Aufladung im Verlauf der Einwanderung des Identitätsbegriffes in den allgemeinen Gebrauch auch möglich geworden. 2.2.4 Identität und Selbstverwirklichung Der Blick war bisher ganz auf die soziokulturelle Veränderung gerichtet und das verschärfte Identitätsproblem als Folge der gesellschaftlichen Modernisierung betrachtet worden. Dabei wurde das Individuum hauptsächlich als passives Element in diesem ‚äußeren‘ Geschehen verstanden, das den Verlust einer ganzheitlichen Welt erleidet und im Strudel der ‚Megatrends‘ 31

Das Verharren mancher Identitätstheorie auf dieser Stufe hat etwa den Protest Odo Marquards und auch Dieter Henrichs hervorgerufen. Vgl. dazu Marquardt, Miniessenz und Schwundtelos – Bemerkungen zur Genealogie einer aktuellen Diskussion, in: Identität, 347–370; Henrich, Identität, in: Identität, bes. 134–137 und 175–182. 32 Die Zunahme psychosomatischer Erkrankungen in den westlichen Gesellschaften ist ein Beleg für die belastenden Verschiebungen im gesellschaftlichen Dasein des Einzelnen. Vgl. dazu ausführlich Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depressionen und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2004.

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Pluralisierung und Individualisierung mitgerissen wird. Dies ist freilich eine sehr einseitige Sicht, was schon dadurch bestätigt wird, dass das Individuum nicht automatisch als Verlierer innerhalb dieser Entwicklung zu stehen kommt. Vielmehr ist der Prozess der Modernisierung immer auch (noch) einer der Emanzipation, der Eröffnung von Freiheitsräumen und des Ansporns, auf kreative Art, Welt zu bewältigen und zu verändern. Die Identitätsfrage stellt sich nicht nur angesichts des Mangels an sozialer und persönlicher Einheit oder angesichts des Leidens an der Heimatlosigkeit, sondern gerade auch im Blick auf die neu eröffneten Möglichkeiten des Einzelnen, sein Leben zu gestalten, eine andere oder neue Identität zu ergreifen. ‚Identität‘ kann deshalb ganz positiv zu einem Fluchtpunkt für die Selbstentwürfe des Einzelnen werden. Möglicherweise lässt sich auf dem Hintergrund der erweiterten Möglichkeiten auch eine breitere Wirklichkeit und Verwirklichung des Menschen schaffen. Das Konzept der Selbstverwirklichung, so sehr es auch in die Kritik geraten ist,33 basiert doch auf der Notwendigkeit des Menschen, das Morgen zu gestalten, sich in die Zukunft hinein zu entwerfen. Identitätssuche und Identitätsfindung werden von den Umständen geradezu erzwungen. Aber sie gehen auch auf einen inneren Antrieb zurück. Es gibt ‚Quellen‘, die nicht nur die Suche nach Einheit speisen, sondern den Menschen auch zum Ausdruck der schon gegebenen Individualität bringen. Der moderne Individualismus, der immer wieder angeprangert wird und in kulturpessimistischer Sicht als das trübe Ende der Modernisierung erscheinen kann, speist sich nicht nur aus der Identitätsnot oder ist auf einen blanken Egoismus zu reduzieren, sondern es ist gerade das Ideal der Selbstverwirklichung, das ihn bestimmen kann. Im Hintergrund steht dabei besonders das romantische Selbstkonzept.34 Charles Taylor35 hat diese Abhängigkeit nachzuzeichnen versucht. Dabei spricht er nicht negativ vom Individualismus, den er eher der Tradition der distanzierenden, ‚desengagierten‘ Rationalität eines Descartes zuschreibt, sondern vom Streben nach Authentizität. Taylor beschreibt die Entstehung der neuzeitlichen Identität als einen Prozess der Internalisierung der natürlichen Weltordnung. Fand sich der Mensch in der Antike und im Mittelalter in der Natur vor, so sieht er sich in der Neuzeit ihr einerseits gegenübergestellt und dadurch zum instrumentellen Umgang 33

Vgl. etwa Michael Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit. Zur Kritik des gegenwärtigen Bewusstseins, Berlin 1981. Er spricht von einer „Ideologie der Selbstverwirklichung“ (2) und vom „Autismus der modernistischen Kultur“ (3). 34 Vgl. zum Verhältnis dieses Konzeptes zum Begriff der Individualität auch Manfred Frank und Anselm Haverkamp, Einleitung – Ende des Individuums – Anfang des Individuums?, in: Individualität, XIII, XIV; Manfred Frank, Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis, Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität, Stuttgart 1991, etwa 71–78. 35 Taylor, Quellen des Selbst; ders., Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a.M. 31997.

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mit ihr fähig, andererseits aber entdeckt er eine gute natürliche Ordnung in sich selbst. Er findet eine ‚innere Stimme‘ (Rousseau) oder ein ‚moralisches Gesetz‘ (Kant) in sich vor. Mit dem Sturm und Drang bzw. der folgenden Romantik kommt es dann zu einer „Wende zum Expressivismus“.36 Der Expressivismus ist die Grundlage eines neuen und umfassenden Individuationsbegriffs, also der im achtzehnten Jahrhundert aufkommenden Vorstellung, wonach jedes Individuum anders und etwas Ureigenes ist und durch seine Originalität darauf festgelegt wird, wie es leben soll.37

Diese Originalität soll der Mensch in Akten der Selbstäußerung ex-istieren, sich nur von der inneren Stimme angeleitet, einen eigenen Charakter geben und in den Prozess des Selbstseins und -werdens hineinkommen. Es ist gerade die Originalität und Individualität des Menschen, die ebenfalls im modernen Identitätskonzept angesprochen wird. Es geht hier auch um den Versuch, auf dem Hintergrund des Gefühls von der Einzigartigkeit des Selbst und des eigenen Lebens, sich aktiv im gesellschaftlichen Prozess darzustellen. Gerade gegen die Austauschbarkeit und drohende Vermassung in der heutigen Welt wird die eigene Existenz herausgestellt und gestaltet. Auch wenn es nicht mehr um eine autonome „Selbstschöpfung“ im Rahmen der „Geniesemantik des Sturm und Drang“ gehen kann, wenn nun nicht mehr die selbstbestimmte Entfaltung und Manifestation einer einzigartigen inneren Welt, sondern die auf soziale Anlässe und Situationen beschränkte und mit ihnen wechselnde, immer wieder neu vorzunehmende Kombination vorhandener kultureller Versatzstücke38

gemeint sein kann, so hält sich doch das Grundprinzip durch. Der Einzelne findet in sich das Ziel der Verwirklichung und mehr oder weniger auch die Konstitutionsregeln und -kräfte, das „eigene Leben“39 zu gestalten. Ähnlich, wie in den anthropologischen Ausführungen weiter oben, muss hier schließlich auch auf die ethische Frage verwiesen werden. Geht es um Identität, dann ist ja auch noch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, diese durch Abgrenzung zu bestimmen, also gegen andere Menschen die eigene Individualität zum Tragen zu bringen. Marianne Willems weist zu Recht darauf hin, dass gerade im Sturm und Drang „das Individuum konsequent

36

Taylor, Quellen des Selbst, 639 ff. Ebd., 653. 38 Marianne Willems, Vom ‚bloßen Menschen‘ zum ‚einzigartigen Menschen‘. Zur Entwicklung der Individualitätssemantik in Rationalismus, Empfindsamkeit und Sturm und Drang, in: Identität und Moderne, Frankfurt a.M. 1999, 133. 39 Eindrücklich dokumentieren das Ulrich Beck/Ulf Erdmann Ziegler in: Eigenes Leben. Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben, mit Fotos von Timm Rautert, München 1997. 37

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außerhalb der Gesellschaft angesiedelt“40 war und damit auch eine Selbstverwirklichung – wenn nicht gegen, so doch zumindest – ohne den anderen gemeint sein konnte. Der moderne Individualismus hat sicher noch im stärkeren Maße solche Züge einer Identitätsbestimmung und -gewinnung ohne den Mitmenschen. Er droht allenthalben in einen (a)sozialen Atomismus und Egoismus abzugleiten. Hier liegt wohl die große Gefährdung der Rede von der Identität und besonders der von der Selbstverwirklichung. Es wird eine Frage des Lebens – vielleicht sogar des Überlebens sein –, ob die Glieder der modernen Gesellschaft einen „zeitgemäßen Zugang zu dem Gedanken [...] gewinnen, daß wir in unserer Selbstverwirklichung Allgemeinheit zu realisieren haben.“41

2.3 Die Identitätsvorstellung in den Diskursen der Moderne Die Identitätsvorstellung in den Diskursen der Moderne Das Verständnis von ‚Identität‘ ist aufgrund der prinzipiellen Unter- oder Nichtbestimmung des Begriffs, die Relate der bezeichneten Relation werden nicht ausdrücklich genannt, vor dem Hintergrund des jeweiligen Bezugsfeldes zu explizieren. Der Hinweis auf den vielfältigen und divergierenden Gebrauch macht aber nur Sinn, wenn nicht bloß das pluralisierte Verständnis des Identitätsbegriffs42 konstatiert wird, sondern Grundlinien und leitende Kontexte beschrieben werden, in denen der Begriff eine wesentliche und weitgehend eingrenzbare Stellung einnimmt. Die Darstellung der verschiedenen Kontexte und Blickwinkel soll daher im Rahmen von ‚Diskursen‘ geschehen. Damit wird zum einen der Pluralität der Identitätsbegriffe Rechnung getragen – es gibt nicht die eine maßgebliche Identitätstheorie, wohl aber bestimmte Kernprobleme und Protagonisten eines Diskurses. Zum anderen soll damit aber auch die Unabschließbarkeit und bleibende Bedeutung bestimmter – vielleicht überholt erscheinender – Gedankengänge hervorgehoben werden. Die Abgrenzung der Diskurse durch die jeweilige Bezeichnung (Ursprungsdiskurs, soziologischer Diskurs etc.) ist überdies nur als äußerst relative Angabe einer perspektivischen, nicht ausschließlich zeitbedingten Verschiebung zu verstehen. 40

Willems, Individualitätssemantik, 124. Theunissen, Selbstverwirklichung, 8. 42 De Levita (Begriff der Identität, 8) stimmt in die Klage über die Unbestimmtheit des Identitätsbegriffes ein, wenn er behauptet, dass es „nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe von Persönlichkeitstheorien gibt, und daß jede einzelne vielleicht ihren eigenen Identitätsbegriff hat.“ De Levita unterschätzt dabei (1971) die oben dargelegte prinzipielle Offenheit und die daraus resultierende Attraktivität des Identitätsbegriffes, der sich weit über den Zusammenhang der Persönlichkeitstheorien hinaus verbreitet hat. Er hat aber (damals schon) erkannt, dass es letztlich so viele Identitätsbegriffe gibt, wie Individuen die über ihre Identität nachdenken. 41

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2.3.1 Der Ursprungsdiskurs im amerikanischen Pragmatismus 2.3.1.1 Soziologische und anthropologische Reflexion Die Frage nach dem Ursprung des modernen Identitätsbegriffes hat zwei wesentliche Aspekte, einen formalen und einen inhaltlichen. Zum einen kann man nämlich nach dessen Verwendung im Rahmen einer begriffsgeschichtlichen Analyse fragen, also die ‚äußerliche‘, formale Entwicklung nachzeichnen und eventuell auf deren Ursprung schließen. Damit hängt aber zum anderen die ‚innere‘, inhaltliche Frage zusammen, welche ideengeschichtliche Konstellation sich ergab und welches Problem im wissenschaftlichen Kontext so evident wurde, dass es die Ausbildung einer adäquaten Terminologie geradezu erforderte. Es lässt sich ein philosophischer, sozialwissenschaftlicher Kontext bestimmen, in dem beide Aspekte zur Deckung kommen. Das verwendete Motiv von Abstieg und Aufstieg legt die Vorstellung einer gemeinsamen Ebene nahe, auf der die erste Bewegung ihr Ende findet und die zweite ihren Anfang. Der Ursprungsdiskurs wird also einerseits die anthropologische Kritik der offenbarungstheologischen und vor allem metaphysischen Tradition weiterführen, um aus ihr neue Schlüsse zu ziehen. Diese Philosophie muss überdies den Anschluss an die Empirie suchen, d.h. die Methoden und Ergebnisse der Naturwissenschaften aufnehmen. Möglicherweise lassen sich hier ja direkte Einflüsse der oben beschriebenen Strömungen, etwa der Religionskritik und des Darwinismus, erkennen. Andererseits wird sich die Frage der sozialen Differenzierung und Modernisierung eindringlich stellen und damit das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als Hintergrund für die Anthropologie ins Rampenlicht rücken. Das heißt aber, dass wirklich auf der anthropologischen, philosophischen Ebene nach der Konstitution der Person gefragt wird und nicht nur nach dem intersubjektiven Beziehungsgeflecht oder der Struktur von Gesellschaft. Der moderne Identitätsbegriff wird somit seinen Ursprung im Grenzgebiet zwischen Philosophie und Soziologie,43 zwischen der Frage nach der Person oder der Subjektivität des Menschen und seiner Sozialität haben.44 Diese Spannung prägt notwendigerweise ausgesprochen oder unausgesprochen alle im Folgenden beschriebenen Diskurse. 43

Im Blick auf das Folgende kann als dritte Instanz noch die Psychologie ergänzt werden. Ernst Tugendhat (Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt a.M. 21981, bes. 285) hat zu Recht auf die Grundschwierigkeit vieler Identitätstheorien aufmerksam gemacht, die in der ungenügenden Unterscheidung beider Hinsichten, in seinem Sinne von „numerischer“ und „prädikativer Identität“, besteht: „Überall in der relevanten Literatur soweit ich sie kenne, laufen die beiden Bedeutungen unerkannt und in einer für den logisch denkenden Leser ungemein beirrenden Weise durcheinander.“ Damit ist aber das Problem nicht gelöst, sondern nur die Spannung benannt, die für jeden Identitätsbegriff bestimmend ist und 44

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Das Problem, das durch den Identitätsbegriff bezeichnet ist, wird freilich in jeder Sozialwissenschaft, in jeder Richtung der Soziologie auftauchen. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sowie die Dynamik der Modernisierung müssen ja in der soziologischen Theorie näher bestimmt werden. Allerdings kann (die Anbindung an) eine explizit anthropologische Reflexion ausfallen oder nur am Rande behandelt werden. So bestand die Stoßrichtung der ersten großen europäischen Soziologien der vorletzten Jahrhundertwende, etwa Emile Durkheims oder Max Webers, in der Erhellung der Struktur von Gesellschaft, in einer soziologischen Systematik. Dabei lösten sie sich bewusst von philosophischen Vorgaben und verstanden ihre Arbeit als Wissenschaft von der sozialen Empirie. Walter Schulz fasst diese Entwicklung, analog zu der der Naturwissenschaften, als Rationalisierung und Verwissenschaftlichung nun des menschlichen Zusammenlebens auf und folgert: „Das erfordert aber, daß man jede metaphysische Festlegung, d.h. jede grundsätzliche Aussage über das Wesen des Menschen und seine Stellung in der Welt ausschaltet.“45 Ist diese Unterbewertung philosophischer und anthropologischer Theorie für die klassische Soziologie charakteristisch, so muss es also ein anderer Kontext sein, in dem die Identitätsvorstellung aufsteigen und der (sozialpsychologische) Identitätsbegriff geprägt werden konnte. Der wissenschaftliche Ursprungskontext dieses Identitätsbegriffes ist nicht in Europa zu finden, sondern im nordamerikanischen Pragmatismus. Diese philosophische Strömung setzt ihr Denken neu bei der jedermann zugänglichen Erfahrung an. Sie versucht sich damit einerseits radikal auf die Empirie einzulassen – und ist von daher zunächst einmal antimetaphysisch –, andererseits gibt sie aber die Themen, die in der Transzendentalphilosophie verhandelt werden, nicht preis, sondern überprüft deren Theorien auf ihre „praktischen Konsequenzen“.46 So sehr sich der Pragmatismus, hier nun im näheren William James, von der metaphysischen Tradition europäischer Philosophie ablöst, sich wegwendet von Abstraktionen und Unzulänglichkeiten, weg von Problemlösungen, die nur Worte sind, weg von schlechten a priori-Begründungen, von festgelegten Prinzipien, von geschlossenen Systemen, weg vom Absoluten und den Ursprüngen,47

unterschiedlich bezeichnet werden kann: als Gegenüber von Individualität und Identität, von personaler und sozialer Identität oder von Ich und Selbst. In jedem Fall bleibt eine begriffliche Unschärfe, die bisher nicht ausgeräumt werden konnte und erst im Durchgang durch die Diskurse minimiert werden soll. 45 Schulz, Philosophie in einer veränderten Welt, 150. 46 William James, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden, übersetzt von Wilhelm Jerusalem, eingeleitet und herausgegeben von K. Oehler, Hamburg 1977 (Orig.: New York 1907), 62. 47 James, ebd., 32. Nicht zuletzt durch solche pauschal geratenen und polemischen Abgrenzungen hat der Pragmatismus selbst eben solche Urteile über sich provoziert. Seine Verwechslung mit

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so sehr versucht er andererseits nicht den Naturwissenschaften48 und einem überzogenen Empirismus zu verfallen. Der Pragmatismus will, so James, vielmehr folgendem Dilemma entgehen: Sie (sc. James’ Hörer) finden den Empirismus verbunden mit Entwertung des Menschen und mit Leugnung der Religion. Oder sie finden eine rationalistische Philosophie, die sich zwar religiös nennen darf, die sich aber fern hält von jedem Kontakt mit wirklichen Tatsachen, mit unsern Freuden und Schmerzen.49

James will sich von dem absoluten Wahrheitsanspruch beider Bereiche lösen und kommt zu einem „noetischen Pluralismus“50, spricht von Wahrheit nur noch im Plural. James versteht den Pragmatismus nun aber nicht als ebenfalls absoluten Relativismus, sondern als ständige Aufforderung, neu anzusetzen, die Phänomene aus verschiedenen Perspektiven wahrzunehmen und die jeweiligen Hypothesen auf ihre Ergebnisse zu überprüfen. Mit dieser Betonung der Pluralität von Anschauungen und dem neuen Zugehen auf die Phänomene ist der Pragmatismus eine äußerst moderne Philosophie.51 Damit bietet er aber auch die Möglichkeit, den Menschen neu, d.h. auch im Hinblick auf die modernen Probleme – in den Blick zu nehmen. So werden die beiden zentralen Fragekomplexe der Anthropologie hier nun (wieder) virulent: Zum einen, wie personale Identität, wie Bewusstsein bzw. Selbstbewusstsein gedacht werden kann, und zum anderen, wie die Person im Weltzusammenhang, im engeren Sinne in den sozialen Bezügen zu stehen kommt, wie die (bald sogenannte) soziale Identität zu verstehen ist. 2.3.1.2 Personale Identität bei William James James nahm sich zunächst der ersten Frage angesichts der Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung an. Im Rahmen seiner psychologischen Arbeiten wird die personale Identität thematisiert, wobei er von der Gehirnund Nervenphysiologie, der Wahrnehmungsforschung und auch der Traumeiner materialistischen, utilitaristischen und vor allem relativistischen Philosophie legt(e) sich nahe, insbesondere wenn man das vermittelnde und kreative Interesse nicht ernst nimmt. Vgl. zur Rezeption in Deutschland: Klaus Oehler, Einleitung, in: James, Der Pragmatismus, XXVII–XXXIV. 48 James wurde stark durch den Darwinismus Herbert Spencers (und Mead durch den Sozialbehaviorismus John B. Watsons) geprägt, wobei sich James bald gegen dessen vereinfachende Sicht wendet. Auf ähnliche Weise kritisiert er auch den „grobkörnige(n) Haeckel mit seinem materialistischen Monismus“ (James, Pragmatismus, 9). 49 Ebd., 12. Vgl. zur Frage nach dem Verhältnis – und dessen Entwicklung – von Empirie bzw. Psychologie und Metaphysik im Werk William James‘: Eilert Herms, Radical Empiricism. Studien zur Psychologie, Metaphysik und Religionstheorie William James‘, Gütersloh 1977, bes. 76–87. 50 James, Pragmatismus, 103 und ähnlich 137. 51 Vgl. besonders Hans Joas, Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 21999, 7 und 303–308. Es fällt besonders auf, dass dem Pragmatismus etwa die Destruktivität und Ironie der Metaphysikkritik Nietzsches fehlt.

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und Hypnoseforschung ausging, um nach dem Ich bzw. dem Selbst zu fragen. James reduziert dabei die Frage nach der Person nicht auf psychologische, naturwissenschaftliche Einsichten, sondern nimmt diese zum Anlass, um zur philosophischen Diskussion – insbesondere im Rückgriff auf die angelsächsisch empiristische Tradition (Locke, Hume) –, ja zur Metaphysik durchzustoßen: Sobald man beabsichtigt, das Maximum möglichen Einblickes in die Welt als Ganzes zu gewinnen, sobald werden die metaphysischen Probleme die wichtigsten von allen. Die Psychologie liefert der allgemeinen Philosophie einen stattlichen Beitrag an solchen.52

Die alte Frage, was denn eigentlich die Personalität des Menschen ausmache, war Jahrhunderte lang im Paradigma substantieller Seelenmetaphysik verhandelt worden. Die Person hatte gleichsam einen harten Kern, die unsterbliche Seele. Hierin wurzelte all das, was man beim Menschen im Vergleich zu anderen Dingen und Lebewesen feststellen konnte, also die Begabung mit Vernunft und die Möglichkeit, sich als Einzelwesen, sich in seiner Individualität wahrzunehmen. In der Neuzeit wurde dieses Paradigma modifiziert bzw. in der Transzendentalphilosophie (Kants) durch die Apperzeption des „Ich denke“ abgelöst. Die Kantische Auffassung der Einheit des Selbstbewusstseins ist aber in den Augen James’ nur eine Fortschreibung der alten Seelenmetaphysik, das transzendentale Ego sei „only a ‚cheap and nasty‘ edition of soul“.53 Sie betonte die Kontinuität der Person zu stark, während James auf dem Hintergrund physiologischer Forschung zunächst vielmehr auf die Diskontinuität des Bewusstseins gestoßen wird, das für die Psychologie nur in einer fließenden Abfolge von verschiedenen Bewusstseinszuständen besteht. James versteht das Bewusstsein nun eben als einen solchen „stream of thought“, in dem die einzelnen Zustände die vergangenen in sich aufnehmen und dadurch aktualisieren. Zwischen vergangenen Bewusstseinszuständen und dem gegenwärtigen Zustand besteht keine substantielle, sondern bloß eine ‚funktionelle Identität‘, indem die Zustände sich gleichsam formal und funktional ähneln, wodurch eine je aktuelle Verknüpfung möglich wird. Gleiches geschieht nun auch im Fall des Selbstbezuges,54 im Blick auf die Struktur des Ich. Bezieht sich das Ich als Erfassendes, James nennt diese Instanz das „I“, auf sich selbst als Erfasstes, das „me“, dann werden vergangene Akte des Selbstbezugs in den gegenwärtigen integriert, gleichsam 52

William James, Psychologie, übers. von M. Dürr, Leipzig 1909, 462. William James, The Principles of Psychology (1890), 345, zitiert nach: Wolfhart Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988, 37. 54 Es ist nicht ganz zu klären, ob James in erster Linie an Akte einer bewussten Wahrnehmung und Reflexion des Ichs über seine eigene Struktur denkt, oder aber auch an die unbewusst bleibenden, ‚gefühlten‘ Akte des Selbstbezuges. 53

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‚er-innert‘, und das Gefühl der personalen Identität über die Zeit hinweg erzeugt. Dabei ist der Selbstbezug von „Wärme und Intimität“55 geprägt. Die Person überschreitet darin ja nicht die Grenze zum Außen, sondern bleibt ganz im Innen des Selbst. Wenn vergangene Bewusstseinszustände ebenfalls diese Wärme und Intimität aufweisen, werden sie als die eigenen Zustände erkannt und in den gegenwärtigen Zustand ‚heimgeholt‘. In diesem Sinn ist also das Ich keine feste, substantielle Struktur, sondern baut sich aus ständig neuen Akten auf, deren Verbindung erst den Eindruck von Kontinuität und Identität erzeugen. Damit greift James (vermeintlich) hinter Kants Bestimmungen insbesondere auf Locke zurück, der die personale Identität ganz in das Bewusstsein verlegt. Locke selbst unterscheidet den Begriff der Person von dem des Menschen, löst ihn somit von seiner Verbindung zum Leib und sieht die Kontinuität der Person allein in der Fähigkeit zur Erinnerung vorhergehender Bewusstseinszustände: „Somit ist alles, was das Bewußtsein gegenwärtiger und vergangener Handlungen besitzt, dieselbe Person, der beiderlei Handlungen angehören.“56 Die Probleme dieser Konzeption, die sich später bei Hume noch verschärfen, sind James wohl bewusst, ohne dass er sie ganz beheben könnte. James laufen deshalb die Fäden trotz seines vermittelnden Interesses auseinander: Einerseits nimmt er Lockes personales Konzept in seinem „stream of thought“ auf und überträgt dasselbe auf die diachrone Identität der Person, macht also die Diskontinuität gegen die vermeintliche Substantialität stark. Andererseits sieht er aber auch die Gefahr der Verflüchtigung des Ich in einzelne Bewusstseinszustände, was dem Gefühl der personalen Identität und der leiblichen Vermitteltheit des Selbstbezuges widerspräche und die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen einer ‚gesunden‘ und einer gestörten Persönlichkeit (Schizophrenie etc.) verdunkeln würde. Letztlich kommt er wieder zum Ausblick auf ein transzendentales Ich – zumindest aber zum Hinweis auf das unlösbare Problem, das sich hierin verbirgt.57 55 James, Psychologie, 203. Ebd. auch: „Mein gegenwärtiges Mich wird mit Wärme und Intimität aufgefaßt. Die schwere warme Masse meines Körpers ist da und der Kern des geistigen Mich, das Bewußtsein innerer Aktivität ist ebenfalls vorhanden.“ 56 John Locke, Über den menschlichen Verstand – In vier Büchern, Bd. 2, Hamburg 1988, 427. 57 James hat die Tiefe der Theorie Kants unterschätzt – zumal Kant auch vom Empirismus Lockes abhing und die Kontroverse zwischen diesem und Leibniz aufnahm. Kant weist darauf hin, dass die Entscheidung zwischen Substantialität und Diskontinuität, zwischen Seele und zusammengesetzten Bewusstseinszuständen nicht im Rahmen der Introspektion zu klären ist. Der Satz, dass alles fließend sei, sei „doch nicht durch die Einheit des Selbstbewußtseins widerlegt. Denn wir selbst können aus unserem Bewußtsein darüber nicht urteilen, ob wir als Seele beharrlich sind, oder nicht, [...] Da wir an der Seele keine beharrliche Erscheinung antreffen, als nur die Vorstellung Ich, welche sie alle begleitet und verknüpft, so können wir niemals ausmachen, ob dieses Ich (ein bloßer Gedanke) nicht eben sowohl fließe, als die übrigen Gedanken, die dadurch an einander gekettet werden.“ Kritik der reinen Vernunft, in: Werke in sechs Bänden, Bd. 2, hg. von W. Weischedel, Darmstadt 51998, 372.

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2.3.1.3 Soziale Identität bei James Es liegt auf der Linie des pragmatischen, Abstraktionen vermeidenden Ansatzes, die Erfahrungen des Einzelnen, d.h. die auftretenden Phänomene bezüglich des Selbstverhältnisses, besonders in den Blick zu nehmen. Die Terminologie, die James hinsichtlich des Selbstbezug verwendet, ist deshalb der allgemeinen Erfahrung und der psychologisch betrachteten Empirie adaptiert: Er spricht von Wärme, Intimität, Selbsteinschätzung und Selbstwertgefühl. James reduziert den Selbstbezug nicht auf ein „Ich denke“, das verbietet ihm schon sein umfassendes Interesse an dem Phänomen Psyche.58 Deshalb kann er auch die Bezogenheit des Ich auf den Leib nicht ausblenden, gründen doch die Bewusstseinsvorgänge in somatischen Ereignissen. James ist vielmehr auf die Vielschichtigkeit des empirischen Selbst aufmerksam geworden und in diesem Zusammenhang kommt es unter anderem zum folgenreichen Übergang von der Psychologie zur Sozialpsychologie, zum ‚Ur-sprung‘ des modernen Identitätsbegriffes, zum Begriff der sozialen Identität.59 James wendet sich nun nämlich dem Selbst als zum Bewusstsein kommendes, als erfasstes zu. Worauf bezieht sich eigentlich das Ich, wenn es sich selbst denkt, fühlt und erfährt? James unterscheidet – nicht sauber und wirklich befriedigend – zwischen dem „materiellen Mich“, dem „sozialen Mich“ und dem „geistigen Mich“ und bezeichnet damit drei unterschiedliche Dimensionen des Selbstbezuges, und damit auch der Selbstsorge. Zum ersten bezieht sich das Ich auf den Körper als intimsten Teil des materiellen Mich. Wenn ich an mich selbst denke, dann kommt zunächst einmal der Körper in den Blick und die Versorgung desselben – damit ist der Mensch jedenfalls die meiste Zeit seines Lebens beschäftigt. James erweitert diesen Bezug interessanterweise auch noch auf das engste soziale Umfeld, auf die Familie60 und auf das Eigentum, dessen Verlust eine Beeinträchtigung der Persönlichkeit nach sich ziehen kann. Es handelt sich hier 58 Es ist gerade diese direkte Zuwendung zu den Phänomenen, die das pragmatische Denken William James’ hoch aktuell erscheinen lässt. Das „Eingedenken der Natur im Subjekt“, das Buchholz (Körper–Natur–Geschichte, 33 u.a.) fordert, findet hier einen breiten Grund. Vgl. den Bezug zu James unten unter 5.2. 59 Freilich ist die Einsicht James’ in die Bedeutung der Sozialität nicht neu. Man könnte an Feuerbachs Ich-Du-Verhältnis erinnern und auf den Personalismus vorausweisen. Außerdem erinnert der Begriff der „Anerkennung“ an Hegels Verständnis der Person in der Phänomenologie und der Rechtsphilosophie, wie auch an Fichtes Anthropologie (Vgl. hierzu Jürgen Ritsert, Soziologie des Individuums. Eine Einführung, Darmstadt 2001, 25–67 und 153–187). Durch die psychologische Perspektive James’ erschließt sich aber die Bedeutung des sozialen Bezuges nun auf andere, neue Weise. 60 James, Psychologie, 176: „Weiter bildet unsere nächste Familie einen Teil unseres Selbst. Vater und Mutter, Weib und Kinder sind Bein von unserem Bein und Fleisch von unserem Fleisch. Wenn sie sterben, verlieren wir mit ihnen einen Teil unseres ureigensten Selbst.“

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also um die Grunddimension menschlichen Lebens, die zunächst einmal gesichert werden muss.61 Als dritte und eigentliche Spitze des Selbstbezuges geht es um das geistige Selbst, um das, was wir erfassen, wenn „wir an uns als Denkende denken“, um das Phänomen der inneren Aktivität. Jeder Mensch kann sich auf seine Gedanken und seine Denkfähigkeit beziehen, auf das für ihn charakteristische Denken oder die eigenen bestimmenden – auch religiösen – Einstellungen. Die zweite und mittlere Dimension bestimmt James nun aber als soziales Mich. Hiermit verlässt er nun scheinbar die Innensphäre der menschlichen Person, letztlich aber um die Rückwirkungen der Beziehungen zu anderen Menschen auf das eigene Innen zu erhellen. Damit handelt es sich – im engeren Sinne – um eine sozialpsychologische Betrachtung. James macht die Elementarität des Außenbezuges deutlich, indem er sich einen Menschen denkt, der von seiner Umwelt nicht wahrgenommen wird: Wenn bei unserem Eintritt nie jemand auch nur den Kopf wenden, auf unsere Fragen kein Mensch je Antwort geben würde, wenn all unser Tun unbeachtet bliebe, jedermann uns als Luft behandeln und sich so benehmen wollte, als ob wir nicht vorhanden wären, so würde bald eine Wut und ohnmächtige Verzweiflung in uns aufwallen, woneben die grausamsten körperlichen Martern verblassen müßten.62

Der Mensch lebt von der Beachtung und Zuwendung der anderen, ihr Verhalten löst bestimmte Gefühle und wiederum ein bestimmtes Verhalten bei ihm aus. James eröffnet sich ein weites Feld an Phänomenen und Problemen, die erst in späteren Identitätstheorien umfassend aufgearbeitet werden. So erkennt er die Pluralität des sozialen Selbst: „Streng genommen hat ein Mensch viel mehr als ein soziales Selbst, nämlich ebensoviele als es Individuen gibt, die ihn kennen“ (178); er nennt das Problem der Rollenkonflikte: „Als Mensch bemitleide ich Sie, aber als Beamter kann ich keine Gnade üben“ (179); er sieht die abgestufte Wertigkeit bestimmter Selbstbezüge: „Das speziellste soziale Selbst, das jemand gewinnen kann, ist das Bild im Geist einer geliebten Person“ (179)63; er erwähnt die Problematik eines depravierten sozialen Selbst: „Alle engherzigen Leute verschanzen ihr Selbst, sie ziehen es zurück – aus dem Gebiet, auf dem sie sich nicht sicher 61 James stellt eine regelrechte Hierarchie auf, „wobei das körperliche Mich an der Basis, das geistige an der Spitze seinen Platz findet, während die außer-leiblichen materiellen und die verschiedenen sozialen Selbste in die Mitte kommen“ (ebd., 189). 62 James, Psychologie, 177/178. (Weitere Zitate im obigen Text sind diesem Werk entnommen und mit Seitenzahlen angegeben.) 63 James wendet das auch auf die Beziehung zu Gott an: „Die Neigung zum Beten ist eine notwendige Folge der Tatsache, daß der Kern des empirischen Selbst beim Menschen ein soziales Selbst ist und daß er doch seinen einzigen alle Ansprüche befriedigenden Sozius nur in einer idealen Welt finden kann“ (192).

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fühlen“ (188). James betrachtet die soziale Identität weitgehend als Akte der Person. Allerdings wird die Differenz zwischen sozialer Zuschreibung – dem Bild das andere von mir haben – und der Selbsteinschätzung – das Bild, das ich von mir habe und in die Zukunft bzw. Vergangenheit projiziere – noch nicht klar herausgestellt. Die Aktualität der Identitätstheorie William James besteht in ihrem breiten Herangehen an die Phänomene des Selbstbezuges und im vermittelnden Ansatz. Indem James die möglichen Beziehungsdimensionen des Selbst analysiert, kann er die Selbst(wert)gefühle, die Mechanismen der Selbsteinschätzung und des Selbstentwerfens zumindest in Ansätzen erhellen. Indem er die verschiedenen Perspektiven auf das Selbst zusammenbindet, vermeidet er aber die Einseitigkeiten späterer Konzepte. Identitätsrelevant ist nicht nur der soziale Bezug, sondern – grundsätzlicher noch – der zum Körper und auch der zum Denken und zu Denkinhalten, ja zu Gott.64 Überdies bleibt die soziale Identität mit der personalen aufs Engste verbunden. Letztlich ist die soziale Identität nicht ohne einen Rückgriff auf die Person zu denken, die diese auf- und ausbaut. James verbindet damit soziologische Einsichten mit psychologischen, die aber auf philosophische Fragen verweisen und diese nicht einfach für obsolet erklären.65 2.3.1.4 Das ‚social self‘ bei George Herbert Mead George Herbert Mead, der führende Sozialwissenschaftler und Handlungstheoretiker des Pragmatismus, übernimmt die Vorstellung des social self66 64

Vgl. hierzu William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrungen, übers. von E. Herms u. C. Stahlhut, Frankfurt a.M. 1997 und die Ausführungen unten unter 5.3.1. 65 Nach Hans Joas setzte gerade an der Breite des Ansatzes James’ die Kritik der „jüngeren Generation von Autoren“ ein: „Für sie alle hatte James’ Verflüssigung der Bewußtseinskonzeption die Chance dazu eröffnet, zu einer radikalen Konzeption der Konstitution des ‚self‘ in den sozialen Beziehungen zu kommen, und sie waren deshalb enttäuscht, daß für James das ‚social self‘ nur einer unter mehreren Aspekten des ‚empirical self‘ geblieben war“ (Kreativität und Autonomie. Die soziologische Identitätskonzeption und ihre postmoderne Herausforderung, in: Identität, Leiblichkeit, Normativität, 359). 66 Meads Begriff „the self“ wird zumeist mit dem deutschen – sozialpsychologischen und oben als modern bezeichneten – Begriff „Identität“ wiedergegeben. Ulf Pacher macht aber auf die Möglichkeiten und Schwierigkeiten aufmerksam, die in dieser Entscheidung bestehen. So ist das deutsche „Selbst“ nur im Singular denkbar, während „self“ durchaus im Plural verwandt wird. Ebenfalls gibt es für „I“ – das Ich als sich selbst Erfassendes – und das „me“ – das Ich als Erfasstes – keine deutschen Äquivalente; Pacher überträgt „I“ deshalb mit „ich“ und „me“ mit „ICH“. Ist es aber gerade diese Relation von „I“ und „me“, das Phänomen des Selbstbezuges, die in dem umfassenden Begriff des self thematisiert wird und deshalb mit dem Relationsbegriff Identität durchaus adäquat wiedergegeben wird (– dagegen sprechen sich allerdings Henrich, Identität, 134f und Tugendhat, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, 247 aus, während Joas, Einleitung zu: Gesammelte Aufsätze G.H. Meads, 17f dafür votiert); so wird nun bei Mead der Begriff der sozialen Identität leitend, geht es ihm ja in erster Linie um die Konstitution des „me“, von dem aus

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und baut sie als Kernstück in seine umfassende sozialpsychologische Theorie ein. Sein Interesse hat sich allerdings deutlich verschoben. Mead geht nicht von der Psychologie oder gar der Philosophie aus, er wählt also nicht den Blick vom personalen ‚Innen‘, sondern rein vom sozialen, zuletzt gesellschaftlichen ‚Außen‘. Das Ich des Menschen entsteht aus und in dem gesellschaftlichen Prozess, so seine weitreichende Ausgangsthese. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist also von der Gesellschaft aus zu betrachten und nicht umgekehrt; darauf weist schon die Tatsache hin, dass ein Mensch ‚zur Welt‘ kommt, sich also – auch schon pränatal – in ihr vorfindet. Der Blick nach innen ist folglich nicht das rechte Mittel, um das Ich des Menschen, sein Bewusstsein zu verstehen: Will man herausfinden, was ein Mensch tut, was er ist, dann ist es bedeutend besser, wenn man sich in sein Verhalten, in sein Handeln Einblick verschafft. [...] Die sogenannte objektive oder behavioristische Psychologie unternimmt es, das Handeln des Menschen von außen her zu untersuchen und bemüht sich nicht darum, Handlungen durch Introspektion zu verstehen [...].67

Mead wendet sich noch schärfer als James gegen eine substantielle Seele, will aber das Thema Bewusstsein, die Frage nach der personalen Identität, ebenfalls nicht aufgeben68 bzw. nicht den Darwinisten und Materialisten überlassen. Man könne die Existenz von Geist und Bewusstsein als psychische Substanzen durchaus bestreiten, ohne dadurch ihre Existenz in einem anderen Sinn zu leugnen. Wenn wir Geist oder Bewußtsein funktional verstehen als

das „I“ verstanden wird. Es muss also immer neu entschieden werden, ob Mead nun die oben so bezeichnete personale Identität oder aber die soziale, in seinem Sinne, als die diese konstituierende, meint! Pacher verweist zurecht auf das Grundproblem des modernen Identitätsbegriffes – das nicht damit behoben ist, dass man den so inflationär gebrauchten Begriff für nicht treffend erachtet und lieber aufgeben würde (Henrich) –: „Wenn hier – statt beispielsweise ‚Persönlichkeit‘, wie self oft in die Terminologie der deutschen philosophischen Anthropologie übertragen wird – Identität gewählt wurde, mehr noch im Sinne von sozialer als von personaler oder Ich-Identität (Erikson), so ist dies schon ein Vorgriff auf den heutigen Sprachgebrauch, auf eine aktuelle Problemstellung“ (Nachbemerkungen zur Übersetzung, in: Georg Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, mit einer Einl. von C.W. Morris, übersetzt von Ulf Pacher, Frankfurt a.M. 111998, 442). 67 Georg Herbert Mead, Sozialpsychologie, eingeleitet und herausgegeben von A. Strauss, in: Soziologische Texte, Bd.60, hg. von H. Maus u. F. Fürstenberg, übersetzt von D. Prokop, Darmstadt 1969, 123. Mead hält hier (129) übrigens das behavioristische Herangehen – von außen an das Individuum – für eine Hauptquelle des Pragmatismus (gr. pragma: das Handeln); er baut diese jedenfalls gegen das psychologische Interesse James’ aus. 68 Mead (Geist, Identität und Gesellschaft, 39) sieht hier den eigentlichen Ansatzpunkt seiner Überlegungen: „Geben wir die Auffassung auf, die Seele sei eine Substanz, die bereits bei der Geburt die Identität des Individuums ausmacht, so können wir die Entwicklung der Identität des Individuums und seines Bewußtseins innerhalb seines Erfahrungsbereiches als besonderes Interessengebiet des Sozialpsychologen ansehen.“

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natürliches, nicht als transzendentales Phänomen, wird es möglich, sie mit behavioristischen Begriffen zu erfassen.69

Mead geht deshalb von einem Parallelismus von somatischen, physiologischen Prozessen und dem aus den sozialen Beziehungen erworbenem Bewusstsein aus, das wiederum die materialen Ereignisse im Gehirn affiziert und ausbildet. Die Identität ist also „nicht primär der physiologische Organismus“, sondern eine Struktur, die sich selbst zum Objekt werden kann, und gleichsam auf ihm aufruht. Das heißt aber, dass erst, wenn sich schon Identität bzw. ein self ausgebildet hat, die bewusste Beziehung zum Körper als Leib überhaupt möglich ist.70 Wie kommt es nun aber zur Ausbildung von Identität? Wie ist der Außenbezug des Subjektes zu verstehen, wenn es durch diesen konstituiert ist? Mead rekonstruiert den Mechanismus zunächst verhaltenspsychologisch. Die Grundstruktur besteht darin, dass ein belebtes, zum Sich-verhalten fähiges Wesen, zum Objekt eines anderen wird. In dem es sich zu diesem Verhalten wiederum verhält, bildet sich in mannigfaltigen Wiederholungen Geist und Identität.71 Wesentlich ist dabei, dass das Objekt das Verhalten bzw. die Haltung des anderen in sich aufnimmt und sich daran ausbildet. Die eigene Verobjektivierung ist also die Folge des Objektseins, d.h. nur indem der Mensch zunächst Objekt war, wird er zum Subjekt, kann sich nun also auch adäquat verhalten, reagieren und dann agieren. Mead sieht diesen Prozess näherhin in der sprachlichen Kommunikation, zunächst als ein Vermitteln von Gesten, äußerlichen Haltungen, dann aber auch als verbale bzw. symbolische Interaktion aufgehoben und verfeinert. Dabei rückt fast automatisch die Phase des Spracherwerbs, die Kindheit, in den Blick.72 69

Ebd., 49. Vgl. hier die scharfsichtige Differenzierung zwischen Körper und Leib als Stufen des Organischen bei Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 21965; als Abbreviatur: ders., Anthropologie der Sinne, in: Neue Anthropologie VII, Stuttgart 1975, 3–63, bes. 41ff. 71 Theoretisch gilt diese Struktur zunächst einmal für alle Wesen, so dass der Übergang zum menschlichen Verhalten nur ein gradueller ist: „Denkt man ohne Vorurteil in den Bedingungen einer pragmatischen, offenen Anthropologie, dann sind Grenzen zwischen Tier und Mensch nicht eindeutig zu ziehen“, so urteilt Dieter Kuhlmann (Biologische Möglichkeiten zum Entstehen von Identitätsvorstellungen, in: Identität, Leiblichkeit, Normativität, 57). In behavioristischer Perspektive bleibt es im Blick auf dem Menschen bei dem Faktum eines ausgebildeten Sprach- bzw. Zeichensystems, letztlich damit beim bloßen „Dass“. 72 Man könnte Meads Konzept geradezu als einen Antwortversuch auf Kants Erklärungsnotstand verstehen: „Denn dieses Vermögen (nämlich zu denken) ist der Verstand. Es ist aber merkwürdig: daß das Kind, was schon ziemlich fertig sprechen kann, doch ziemlich spät (vielleicht wohl ein Jahr nachher) allererst anfängt, durch Ich zu reden, so lange aber von sich in der dritten Person sprach (Karl will essen, gehen usw.), und daß ihm gleichsam ein Licht aufgegangen zu sein scheint, wenn es den Anfang macht durch Ich zu sprechen; von welchem Tag an es niemals mehr in jene Sprechart zurückkehrt. – Vorher fühlte es bloß sich selbst, jetzt denkt es sich selbst. – Die 70

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Im Angesprochen-werden übernimmt das Kind die Zeichen und deren Bedeutungen – aber auch die Laute – in sich selbst, bildet eine innere Sprache aus, mit der es sich einerseits weiterhin selbst verobjektivieren kann und sich andererseits auch nach außen wenden kann.73 Dieser Vorgang ist natürlich als solcher schon recht komplex, auch wenn zunächst noch einfache Beziehungen, herausgehobene Duale (Eltern), im Vordergrund stehen: „Der Mensch wird am Du zum Ich“, wie Martin Buber sagt.74 Die einfachen Beziehungen werden aber bald vervielfacht, der Wahrnehmungs- und Lebenshorizont des Kindes wächst beständig. Die Organisation der Identität wird nun vor dem Forum immer größerer und komplexerer Zusammenhänge von Gemeinschaft und Gesellschaft geschehen. Mead bezieht sich (wieder) auf das Spielen des Kindes, das sich bald zum Gruppenspiel erweitert, wobei „das Kind die Haltung aller anderen Beteiligten in sich haben muß.“75 Es muss den Prozess, das Zusammenspielen der Spielpartner, antizipieren und sein Verhalten danach ausrichten. Damit ist auch die Grundstruktur der Identitätsbildung im gesellschaftlichen Zusammenspiel bestimmt, nicht nur einzelne individuelle Haltungen, sondern die Haltung der Gruppe wird im Individuum abgebildet: Die organisierte Gemeinschaft oder gesellschaftliche Gruppe, die dem Einzelnen seine einheitliche Identität gibt, kann „der (das) verallgemeinerte Andere“ [the generalized other] genannt werden. Die Haltung dieses verallgemeinerten Andern ist die der ganzen Gemeinschaft (196).

Identität wächst also aus und in dem gesellschaftlichen Prozess, in dem das Individuum sich das verallgemeinerte Andere in sich gegenüberstellt. Dabei eignet sich das Individuum gerade auch ‚die Spielregeln‘ der Gesellschaft, als von einzeln vergegenwärtigten Haltungen abstrahierte Normen und Werte, an. 2.3.1.5 Soziale Identität und der gesellschaftliche Prozess bei Mead Mead unterscheidet nun aber die beiden Aspekte oder Phasen der Beteiligung des Individuums am gesellschaftlichen Prozess, einerseits die Übernahme der Haltungen des generalisierten Anderen, und andererseits die Erklärung dieses Phänomens möchte dem Anthropologen ziemlich schwer fallen“ (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 407). 73 Mead erkennt im Spiel des Kindes eine Einübung der Verobjektivierung und ein Weiterentwickeln der Identität. Indem das Kind etwa eine Rolle einnimmt, spielt – „taking the role of the other“ – erzeugt es die Reize, die in ihm eine bestimmte Haltung auslösen, daran kann es sein Verhalten ausbilden und überprüfen. 74 Buber, Ich und Du, 32. 75 Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, 196. (Die weiteren Zitate im folgenden Haupttext – in Klammern – sind diesem Werk entnommen.)

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Reaktion darauf, das Sich-verhalten des Individuums: „Das ‚Ich‘ [„I“] ist die Reaktion des Organismus auf die Haltung anderer; das ‚ICH‘ [„me“] ist die organisierte Gruppe von Haltungen anderer, die man selbst einnimmt“ (218). Der Kontaktpunkt zum gesellschaftlichen Außen ist zunächst das „me“, in dem gleichsam alle gesellschaftlichen Zuschreibungen als in einem personinternen Reservoir zusammenlaufen – das social self James’.76 Das „I“ ist hingegen die Instanz, die sich bzw. das Individuum wieder in den gesellschaftlichen Prozess einbringt. Allerdings erwächst sie als aktive Stelle der Person aus dem rezeptiven „me“: „Gewöhnlich bestimmt die Struktur des ‚ICH‘ den Ausdruck des ‚Ich‘“ (254). Mead sieht nun aber die Gefahr eines gesellschaftlichen Determinismus‘, wenn man, wie er, die Genese von Geist und Identität so sehr von der Übernahme des Außen her erklärt. Deshalb betont er, dass das „I“ nicht völlig vom „me“ abhängt. Zum einen hat es immer noch eine Fundierung im Somatischen und ist immer auch noch ein Ausdruck der natürlichen und geschichtlichen Individualität der Person. Zum anderen ist der Übergang vom „me“ zum „I“ kein festgefügter – genaugenommen ist das „I“ selbst auch keine Instanz, sondern der Zustand der Aktivität der Person in der Kommunikation, der als vergangener in das „me“ übergeht, wie Mead meint. Das „I“ gibt die Struktur des „me“ immer nur gebrochen wieder, es ist in gewisser Hinsicht frei, nur bestimmtes aus dem Pool des „me“ zu aktualisieren: „Auf das ‚Ich‘ ist es zurückzuführen, daß wir uns niemals ganz unserer selbst bewußt sind, daß wir uns durch unsere eigenen Aktionen überraschen“ (217). Mead intendiert damit eine Art Gleichgewicht zwischen „I“ und „me“. Auf der einen Seite soll sich das Individuum in die Gesellschaft einpassen, ihre Strukturen übernehmen. So brauche eine gesunde Person „ein gewisses Maß an stereotyper Arbeit“ (256), was auch aus Sicht der Gesellschaft wünschenswert sei. Auf der anderen Seite darf die Person nicht in völliger gesellschaftlicher Kontrolle untergehen oder durch die Fixierung auf eine gesellschaftliche Teilgruppe sich eine „verengte Identität“ (256) aneignen. Vielmehr muss es für den Einzelnen Möglichkeiten geben, sich auszudrücken. Situationen, in denen man diese Ausdrucksmöglichkeiten findet, scheinen besonders wertvoll zu sein, nämlich Situationen, in denen der einzelne selbständig handeln, in denen er Verantwortung übernehmen, die Dinge auf seine Weise verwirklichen und seine eigenen Gedanken dabei denken kann (257).

Mead hält gerade diese fortschreitende gesellschaftliche „Befreiung der individuellen Identität“ (266) für ein Zeichen der zivilisierten Gesellschaft, 76 Auch bei Mead wird im Blick auf das „me“ nicht klar genug unterschieden zwischen den gesellschaftlichen Zuschreibung, also dem soziologischen Zusammenhang, und deren Internalisierung, also dem psychologischen Zusammenhang.

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die sich durch die verfeinerte Dialektik von „I“ und „me“ immer stärker ausdifferenziert. Es ist nicht ganz abwegig, wenn man die Vorstellung des gesellschaftlichen Prozesses mit der des Hegelschen objektiven Geistes in Verbindung bringt und im Blick auf die Subjektivität wie Hans Joas urteilt: „Mit dieser Analyse der Selbstreflexivität versucht Mead, das Erbe des deutschen Idealismus pragmatisch zu rekonstruieren.“77 Die Identitätstheorie Meads hat vor allem als sozialpsychologische Handlungstheorie78 weitergewirkt. In ihr wird nicht nur die anthropologische Leerstelle soziologischer Systematik gefüllt, sondern vielmehr konsequent vom Antagonismus von Individuum und Gesellschaft, gleichsam von unten, aus der kleinsten Einheit, dem handelnden Individuum, heraus gedacht. In den Zeiten verschärfter Individualisierung ist damit die Ebene gefunden, auf der gesellschaftliche Wirklichkeit reflektiert werden muss. Das macht die Modernität der pragmatischen Identitätstheorie aus, die zumindest im Fall Meads – gegen alle unbegründeten Vorurteile – gleich weit von einem Utilitarismus, einem Positivismus und einer systemtheoretischen Mechanistik entfernt ist.79 Dennoch lassen sich insbesondere im Blick auf den Anspruch Meads, nicht nur die Konstitution der sozialen Identität zu erhellen, sondern die personale als ihre Folge zu erweisen, einige Fragen stellen. Mead hat problematische Unschärfen in seinem Begriff des ‚self‘, der Identität. Einerseits bezeichnet diese die gesellschaftlichen Zuschreibungen (soziale Identität I) als solche, die dem Individuum entgegengebracht werden, andererseits geht es um die internalisierten Zuschreibungen, als interne Aggregate, das „me“ oder eben auch self (soziale Identität II), und zum dritten wird die Verbindung des rezeptiven „me“ mit dem aktiven „I“ am Ort des personalen Innen als self bezeichnet (personale Identität). Die Vermischung dieser Ebenen weist auf das Problem der Übergänge. Mead kann den Prozess der Internalisierung gesellschaftlicher Zuschreibungen im Detail nicht näher erhellen, denn wie sieht die Instanz aus, die hier wählt? Es wird doch nicht jeder Eindruck gleichgewichtig aufgenommen, nicht jedes gesellschaftliches Bild, nicht jede zugewiesene Rolle, auch 77

Hans Joas, Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M., 21999, 34. Es ist auf den großen Einfluss Meads auf die Theorie des kommunikativen Handelns Habermas’ hinzuweisen. Vierzig Jahre vorher war schon Gehlen vom Handlungsbegriff des Pragmatismus angezogen worden: „Da der Pragmatismus die einzige bisher erschienene Philosophie ist, welche grundsätzlich den Menschen als handelndes Wesen sieht, so ist seine Auffassung zunächst einmal jeder anderen vorzuziehen“ (Mensch, 326f). 79 Vgl. die Einschätzung von Joas, Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, 57–60 u. 114–145. Joas weist auch auf den gesellschaftlichen Hintergrund Meads und die Zielsetzung der Chicagoer Schule hin, nämlich „unter den Bedingungen einer Hegemonie der großen Kapitalgesellschaften und des Zentralstaates die demokratischen Ideale der Gemeindeselbstverwaltung zu bewahren, indem sie zu neuen städtischen Gemeinschaften weiterentwickelt wurden“ (40). 78

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wirklich übernommen. Der grobe Hinweis auf das kontingent aus dem „me“ erwachsende „I“ hilft hier nicht weiter, zumal ja gerade dessen Konstitution erklärt werden soll. Wie geht das „I“ aus dem „me“ hervor? Der beschriebene Prozess der Rollenübernahme und der Internalisierung des generalisierten Anderen ist doch nur eine sehr abstrakte, rein interaktionistische Beschreibung dessen, was konkret abläuft, und Mead muss mit der Individualität, der nie ganz verrechenbaren Subjektivität der Person, umgehen. Dabei befriedigt der bloße Hinweis auf die Leibverbundenheit und Einzigartigkeit, mithin die numerische Identität der Person, nicht. Das „I“ und damit – im umfassenden, ‚europäischen Sinn‘ – auch das Ich ist die unbekannte Größe in der Theorie Meads, zu dessen Bestimmung noch andere Kontexte80 herangezogen werden müssen. Es zeigt sich hierin die Aporie einer konsequent pragmatischen Theorie, die das Selbstverhältnis des Menschen allein aus seinem Weltverhältnis, die Identität aus der Sozialität ableiten will. 2.3.2 Der psychoanalytische, entwicklungspsychologische Diskurs Im Zentrum der Theorie Meads stand die soziale Interaktion, das Wachsen der Identität aus dem gesellschaftlichen Prozess. Das hatte Mead zwar weitgehend unter Auslassung der affektiv-emotionalen Aspekte und ausschließlicher Fixierung auf den kognitiv-rationalen Austausch von Zeichen rekonstruiert, aber er stieß damit in einen ganz neuen Fragehorizont vor. Wie entwickelt sich der Mensch, welche qualitativen Stufen, evtl. auch Typen, von Identität oder Persönlichkeit lassen sich eingrenzen? Wie lassen sich die Prozesse der Rollenübernahme und des Zusammenspieles von „me“ und „I“ näher fassen? Wie sieht aber nun auch das ‚psychische Substrat‘ dieser Vorgänge aus, und wie wird es im sozialen Leben verändert? Die Antworten auf diese Fragen konnten nur auf dem Hintergrund einer Theorie der Psyche gegeben werden, die Leerstelle Meads in bezug auf das „I“ wurde mit psychoanalytischen Mitteln gefüllt. Neben den Blick auf die Sozialität musste wieder in verstärktem Maße die Introspektion treten, gerade um die Bedeutung des Sozialen für das Individuum erweisen zu können. 80

Konrad Raiser, der die Sozialpsychologie Meads insbesondere für die Praktische Theologie erschlossen hat (Identität und Sozialität), weist auf den viel kritisierten „unklaren Status des ‚I‘ bei Mead“ (170) hin. Mead scheint eine kritische Haltung zu Freuds Psychoanalyse eingenommen zu haben (Raiser, 114, Anm.65), so dass das „I“ nicht einfach mit dessen „Ich“ zu identifizieren ist, selbst wenn es dafür Hinweise gäbe (128). Raiser schließt überdies ein „biologistisches Mißverständnis des ‚I‘“ (170) aus und folgert: „Das ‚I‘ bleibt also ein Postulat, eine Voraussetzung aller bewußten Erfahrung, ein transzendentales Ich im Sinne Kants, das kein Korrelat in der unmittelbaren Erfahrung hat“ (129).

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2.3.2.1 Soziale Identität und Ich-Identität bei Erik H. Erikson Mit diesem Ansatz ist der Name Erik H. Erikson verbunden.81 Erikson hat zu einem Begriff von Identität gefunden, der sich nun – wie bei James – wieder stärker auf das Selbstgefühl des Menschen bezieht, aber sich immer noch „mit dem deckt, was verschiedene Autoren das ‚Selbst‘ nennen.“82 Erikson greift dabei auf die Psychoanalyse Freuds zurück, die er aber im Blick auf den Außenbezug der Person zu erweitern und zu verändern sucht: „Die traditionelle psychoanalytische Methode [...] kann die Identität nicht ganz erfassen, denn sie hat keine Ausdrücke entwickelt, um die Umgebung in Begriffe zu fassen.“83 Freuds Triebtheorie richtete sich in erster Linie introspektiv auf die Verteilung der Libido in der Psyche und deren diese regelnde Instanzen. Während das Ich, im Dreierschema Es – Ich – ÜberIch, die aktive Instanz des Verhaltens nach innen und außen bezeichnet, kann Freud das Eingebundensein des Individuums in die Gesellschaft eigentlich nur unter der Kategorie des Über-Ichs, zuvor auch des Ich-Ideals, verhandeln. Das Über-Ich entsteht in der psychosexuellen Entwicklung (Ödipuskomplex etc.) durch die Introjizierung zunächst der Elterninstanz: „dies ist das höhere Wesen, das Ichideal oder Über-Ich, die Repräsentanz unserer Elternbeziehung. Als kleine Kinder haben wir diese höheren Wesen gekannt, bewundert, gefürchtet, später sie in uns selbst aufgenommen.“84 Später sieht Freud aber im Über-Ich nicht die Elterninstanz als solche, sondern – komplexer – das Über-Ich der Eltern repräsentiert: „es erfüllt sich mit dem gleichen Inhalt, es wird zum Träger der Tradition, all der zeitbeständigen Wertungen, die sich auf diesem Wege über Generationen fortgepflanzt haben.“85 Das soziale Außen kommt in dieser Konzeption in erster Linie im Bezug auf die Vermittlung von Tradition und Moralität zur Sprache, während der aktuelle gesellschaftliche Prozess und dessen Bedeutung für das Ich im Lebenszyklus noch nicht in den Blick genommen werden. 81 De Levita (Der Begriff, 7) behauptet nicht zu unrecht, dass die Popularität des Identitätsbegriffs („identity“ und bezogen auf die Ich-Funktion der Person: „Ego identity“) auf Erikson zurückgehe. Erikson (Jugend und Krise. Die Psychodynamik im sozialen Wandel, Stuttgart 1979) selbst weist daraufhin, dass sein Begriff der Identität und der Identitätskrise in die Umgangssprache übernommen wurde: „Die Geschichte der letzten zwanzig Jahre scheint darauf hinzudeuten, daß es klinische Ausdrücke gibt, die nicht nur von Diagnostikern, sondern auch von denen übernommen werden, die ‚überdiagnostiziert‘ wurden“ (15). „Manche jungen Leute scheinen tatsächlich zu lesen, was wir schreiben, und benutzen unsere Ausdrücke fast als Umgangssprache“ (24). 82 Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, übers. von K. Hügel, Frankfurt a.M. 171988, 188. Erikson bezieht sich hier ausdrücklich auf Mead, den er als ersten noch vor den Psychologen Sullivan, Federn und Hartmann nennt. 83 Erikson, Jugend und Krise, 20. 84 Sigmund Freud, Das Ich und das Es, Studienausgabe Bd. III, hg. von A. Mitscherlich u.a., Frankfurt a.M. 2000, 303. 85 Freud, Neue Folge der Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse, Studienausgabe Bd. I, 505.

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An diesem Punkt setzt Erikson an. Er greift auf die Vorstellung sozialer Identität zurück und betrachtet deren Bedeutung für die Ich-Synthese des Menschen. Ihm schwebt eine Zusammenarbeit von Sozialwissenschaft und Psychoanalyse vor, in dem in zweierlei Hinsichten vorgegangen wird. Einerseits soll die Psychoanalyse verfeinert werden, um die Umwelt mit zu erfassen und andererseits soll die Sozialpsychologie psychoanalytisch verfeinert werden, d.h. die Gesellschafts- und Sozialstruktur in psychoanalytischer Sicht durchdacht werden.86 Diesen zweiten Aspekt bringt Erikson etwa in seinen Forschungen über amerikanische Indianerstämme oder in gesellschaftstheoretischen Ausführungen über Amerika zum Tragen.87 Grundlegend bleibt dabei die Ausgangsthese, dass über Identität nur gesprochen werden kann, wenn die Identität der Gruppe oder des gesellschaftlichen Zusammenhangs näher erfasst wurde. Erikson versucht zu zeigen, dass ein ganz bestimmtes Umfeld und ganz bestimmte Sozialisationsmechanismen die psychische Struktur des Individuums prägen. Es kommt zu Reifikationen88 in der Person, d.h. gleichsam zu einem Niederschlag der Interaktionen in der Psyche des Einzelnen. Die Identität der gesellschaftlichen Gruppe gibt dabei die Bandbreite der möglichen Identität des Individuums vor. Er will verdeutlichen, „wie der Lebenskreis des Einzelnen von Anfang bis Ende von der Geschichte der Gemeinwesen durchwoben ist.“89 Das bedeutet allerdings, dass sich auch bei Erikson eine Verdopplung des Identitätsbegriffes bzw. der Perspektiven andeutet. Er differenziert diese Perspektiven – nicht immer konsequent – folgendermaßen: „Identität“ bezeichnet den sozialen Ort des Individuums im gesellschaftlichen Prozess, während „Ich-Identität“ das Gefühl des Menschen meint, ein Ich unter anderen zu sein: Das Gefühl der Ich-Identität ist also das angesammelte Vertrauen darauf, daß der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrechtzuerhalten.90

86

Vgl. Erikson, Jugend und Krise, 20. Vgl. Erikson, Kindheit und Gesellschaft, 85–162; Identität und Lebenszyklus, 42/43. Erikson (gebürtiger Deutscher) versteht sich als guter Amerikaner, der etwa „die Frage nach der gesunden Persönlichkeit“ für einen Ausschuss des Weißen Hauses erarbeitet (55). Seine Gesellschaftsanalysen sind weitgehend aus der Perspektive des weißen, der Mittelschicht angehörenden Mannes formuliert und wollen die Bedingungen einer solchen Sozialisation umreißen. In einer späteren Phase (Jugend und Krise, 1968) finden sich aber auch kritischere Töne und Fragen, ob es nicht grundsätzliche gesellschaftliche Hürden für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung gibt. 88 Vgl. zum Begriff der Reifikation: De Levita, Der Begriff, 191 u.a. 89 Erikson, Identität und Lebenszyklus, 11. 90 Ebd., 107. Leider wird die Differenzierung Eriksons zwischen Identität und Ich-Identität häufig übersehen, was zu großer Verwirrung führen kann. 87

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Es wäre nun zu einfach, das Gegenüber von Zuschreibung und Fähigkeit, sich dazu zu verhalten, einfach zu postulieren und als gegeben hinzustellen. Einerseits wird deutlich, dass sich solch ein Gefühl erst entwickeln muss. Ich-Identität ist also kein von Anfang an gegebenes Gefühl oder eine Fähigkeit, sondern entsteht erst im Zuge der Identitätsbildung, bildet sich an der Identität oder sozialen Identität aus. Andererseits kann das reine Faktum einer sozialen Identität, im umfassenden Sinne: das Außen des Individuums, nicht erklären, wie im Innen sich etwas verändern soll. Erikson will aber gerade die introspektive Psychoanalyse durch den Außenbezug erweitern. Deshalb führt er den Begriff des Selbst ein, den er von Heinz Hartmann übernommen hat.91 Erikson sieht hierin eine Art Zwischeninstanz, die einerseits äußerlich von den gesellschaftlichen Zuschreibungen affiziert wird, auf das Innenleben bezogen aber alle möglichen Verobjektivierungen der Person bezeichnet – die übrigens nicht bewusst vollzogen werden müssen. So gehört zum Selbst etwa das Körper-Selbst, das von außen durch die Anderen betrachtet und behandelt wird, dass aber von innen durch das Körpergefühl oder die bewusste Reflexion über den eigenen Körper konstituiert wird. Es muss also im Bereich des Selbst eine Vermittlung von Außen und Innen stattfinden: „Die Gegenspieler der ‚Selbste‘ sind die ‚Anderen‘, mit denen das ‚Ich‘ die Selbste ständig vergleicht“.92 Wie kommt es aber nun zur Ausbildung der Ich-Instanz, die die verschiedenen Selbste, dann auch die verschiedenen Rollen integriert und den Menschen zum selbstbestimmten Handeln befähigt? 2.3.2.2 Krisen im Lebenszyklus und die Bildung von Ich-Identität Erikson nimmt sich dieser Frage in enger Anlehnung an Freuds Rekonstruktion der psychosexuellen Entwicklung an. Er zeichnet verschiedene Phasen des Selbstbezuges und des darüber vermittelten sozialen Bezuges nach, ein Schema, das zu enormer Popularität gekommen ist.93 Als heuristisches Prinzip dient ihm die Analyse verschiedener Krisen, die er als klinischer Psychoanalytiker direkt, gleichsam ‚empiriegesättigt‘, studieren kann. 91 Vgl. ebd., 191/192; Jugend und Krise, 225–230. Hartmann definiert „das Selbst als Struktur, die keine Instanz ist, wie Es, Ich, Über-ich, sondern sich über die Instanzen hinweg erstrecke. Das Selbst wird als die eigene Person verstanden, in Gegenüberstellung zu den Objekten“, so Christiane Ludwig-Körner (Der Selbstbegriff in Psychologie und Psychotherapie, Wiesbaden 1992, 155). 92 Erikson, Jugend und Krise, 227. 93 Ich gehe hier nicht näher auf die einzelnen Phasen ein, sondern versuche nur die entscheidenden Übergänge, die Dynamik, zu beschreiben. Vgl. zum überaus populären Phasenmodell: Erikson, Kindheit und Gesellschaft, 228–248; Identität und Lebenszyklus, 55–122; De Levita, Der Begriff 78–98; im Rahmen theologischer Rezeption: Fraas, Glaube und Identität, 105–161. (Die folgenden Zitate im obigen Haupttext sind alle dem Werk „Identität und Lebenszyklus“ entnommen.)

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In der ersten, der sogenannten ‚oralen Phase‘, ist das Kind noch ganz eng mit der Mutter verbunden (Stillen) und erlebt sich – wenn es gut geht – getragen und aufgehoben in ihrer Zuwendung. Den Gegensatz dieser Phase nennt Erikson nun „Ur-vertrauen gegen Ur-mißtrauen“. Das heißt, in der Beziehung zur Mutter bzw. zu den Eltern wird ein „Gefühl des SichVerlassen-Dürfens“ (62) aufgebaut, oder es wird durch verschiedenste Einflüsse geschädigt, so dass der erwachsene Mensch ein Misstrauen gegenüber seiner Umwelt ausbildet, sich in sich zurückzieht. Erikson hält das Urvertrauen für den „Eckstein der gesunden Persönlichkeit“ (63), so dass seine Bedeutung für eine gesunde Entwicklung keinesfalls überschätzt werden kann. Das Handeln der Eltern soll deshalb ganz auf die Herausbildung eines Urvertrauens gerichtet sein, das die nun einsetzende Krise erfolgreich zu überwinden hilft.94 Das Kind kann zunächst noch nicht klar zwischen sich und der Umwelt differenzieren, sein Selbst schließt das Außen gleichsam noch ein. Die Krise dieser Phase setzt ein, wenn die Aktivität des Kindes aufgrund physiologischer Veränderungen zunimmt, die Aufmerksamkeit der Eltern aber abnimmt (Abstillen etc.). Das Urvertrauen muss in dieser Zeit bewahrt werden, nun aber gerade unter Einschluss der Erfahrung der Trennung und Enttäuschung. Das sich entwickelnde Ich des Kindes und die damit sich kristallisierende Struktur des Selbst wächst aus der umfassenden Einheitssituation heraus, muss diese also aufbrechen, ohne aber das Gefühl der Geborgenheit gänzlich zu verlieren oder zu diskreditieren. Diese Grundambivalenz hält sich durch alle weiteren Phasen der Entwicklung des Ich, als regulative Instanz der Person, durch. In der zweiten (analen) Phase steht „Autonomie gegen Scham und Zweifel“, es kommt zur verstärkten Empfindung von „Selbstbeherrschung ohne Verlust des Selbstgefühls“ (78), so dass das Kind nach erfolgreich überwundener Krise weiß, „daß es ein Ich ist“ (87) und in der nächsten Phase „Initiative gegen Schuldgefühle“ herausfinden kann, „was für eine Art von Person es werden will“ (87). In dieser dritten Phase entwickelt sich das Sprachvermögen, und seine Vorstellungswelt erweitert sich. Meads Beobachtung des Rollen-Spielens, hier bei Erikson die „Kindheitsidentifikation“ (140), trifft hier zu, so dass sie die Phase des bewussten Eintretens in den gesellschaftlichen Prozess 94

Erikson weist im Blick auf die Phase des Ur-vertrauens auf die Bedeutung der Religion hin. Die Religion hat ihren tiefsten Sinn in der Vermittlung von Ur-vertrauen, in der Überwindung von Angst und im kollektiven Misstrauen gegen das Böse. Auf gesellschaftlicher Ebene übernimmt sie damit die Funktion der Eltern in der individuellen Entwicklung und kann sich, ja muss sich, soll sie denn einen Sinn für das Individuum haben, in der Sozialisation als helfende Größe einbringen: „Wer also behauptet, religiös zu sein, muß aus seiner Religion einen Glauben ableiten können, den er dem Kleinkind in Gestalt des Urvertrauens weitergeben kann“ (75). Vgl. zur theologischen Rezeption der Rede vom Urvertrauen als Grundvertrauen: Wolfhart Pannenberg, Anthropologie, 217–235; besonders Hans Küng, Existiert Gott? Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit, München 31985, 490–528.

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Prozess bezeichnet, während sich gleichzeitig das Über-Ich im Sinne Freuds, „das Gewissen“ (94), ausbildet. In der vierten Phase „Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl“ tritt das Kind in eine Latenzzeit ein, in der es die eigenen Kräfte in geregeltem Verhalten, etwa in der Schule, erfährt. Es vergewissert sich seiner selbst als ein Handelndes und integriert sich in größere Zusammenhänge. Mit der Pubertät gerät das Kind in die fünfte und für die Identitätsbildung entscheidende Phase: „Identität und Identitätsdiffusion“. Erikson beschreibt damit die Krise, die am Eingang zum Erwachsensein eintritt, an deren Ende der Erwerb von „Ich-Identität“ steht: Es sollte damit (sc. Ich-Identität) ein spezifischer Zuwachs an Persönlichkeitsreife angedeutet werden, den das Individuum am Ende der Adoleszenz der Fülle seiner Kindheitserfahrungen entnommen haben muß, um für die Aufgaben des Erwachsenenlebens gerüstet zu sein (123).

Die enorme Spannung in dieser Phase hängt mit der Konvergenz von psychosexueller und psychosozialer Entwicklung zusammen. Auf beiden Ebenen verändert sich soviel, dass der „Zusammenbau aller konvergierender (und der Abbau der divergierenden) Identitätselemente“ (144) eine schwierige Aufgabe darstellt. Denn einerseits ist das Ich des Jugendlichen noch nicht soweit ausgebildet, dass es ein „dauerndes inneres Sich-Selbst-Gleichsein“ (124) erfährt. Andererseits steht es aber vor der Aufgabe, nun viele verschiedene Identifikationen und Zuschreibungen – auch solche unterschiedlicher Wertigkeit – in eine positive Balance zu bringen. Es geht nicht mehr um Einzelsynthesen, sondern um die Synthese des Ganzen. In der Krise der Adoleszenz muss also die Ich-Instanz psychosexuell zur vollen Reife kommen; Erikson postuliert hier ein Selbstgefühl, das soviel bedeutet, wie sich innerlich zu spüren, zu kennen, und ein Identitätsgefühl, d.h. sich als einzigartigen Menschen zu begreifen, der sich im sozialen Handeln als Einheit betätigt. Auf der psychosozialen Ebene heißt das, dass der Jugendliche eine Position im gesellschaftlichen Gefüge bewusst einnehmen kann, seinen Platz in der Welt gefunden hat. Erikson hält für diesen Reifungsprozess die Identifizierung mit einzelnen gesellschaftlichen Gruppen (Cliquen, Vereine) für äußerst wichtig, weil der Jugendliche sich hier in komplexeres Rollenerkennen und –verhalten einüben, die Spannweite seiner sozialen Identität ausmessen kann. Das kann auch bedeuten, dass der Jugendliche bestimmte Gruppenideologien95 übernimmt, und diese gegen die Position der Eltern und sonstiger Bezugspersonen durchsetzt. Erikson wertet das als einen wichtigen Schritt im Prozess des Ablösens und Übergehens. 95

187.

Vgl. zur Bedeutung der „Ideologie“ in der Adoleszenzphase: Identität und Lebenszyklus,

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Andererseits hat er in seiner klinischen Praxis nun aber auch ein breites Bild des Noch-nicht-Synthetisierten oder gar des Scheiterns vor Augen. Er nennt das: Identitätsdiffusion; die als kurzzeitige Bedrohung in jeder gesunden Entwicklung auftritt, aber als dauerhafter Zustand der „Ich-Zerstreuung“ oder der „Zersplitterung des Selbst-Bildes“ (154, Anm.6) als pathologisch betrachtet werden muss. So listet er in einer Pathographie verschiedene Zustände auf, in denen sich zeigt, dass die vergangenen Phasen der Identitätsentwicklung nicht erfolgreich integriert wurden (Probleme mit Intimität; Zeitdiffusion; Diffusion des Werksinnes; negative Identität u.a.). Es kann dann nicht zum Zustand der „relativen Ganzheit“ (168) kommen, die dem Ich die Kraft gibt, die eigene Identität vor dem Forum der Gesellschaft zu bilden und zu behaupten. Ist die Integration der vorhergehenden Phasen allerdings gelungen, dann ist die Identitätsbildung damit zwar nicht abgeschlossen96 – es werden ja weiterhin Identifikationen und Rollen zu prüfen und zu integrieren sein –, aber das Ich ist jetzt in der Lage, diese Integrationsleistung immer wieder zu erbringen und zum selbstbestimmten Handeln gerüstet: Die Ich-Identität des Erwachsenen bewährt sich in der Fähigkeit, neue Identitäten aufzubauen und zugleich mit den überwundenen zu integrieren, um sich und seine Interaktionen in einer unverwechselbaren Lebensgeschichte zu organisieren.97

2.3.2.3 Abschied von Erikson? Erikson war sich der Ambivalenz seines Identitätsbegriffes durchaus bewusst, wollte er doch beide Seiten, das psychoanalytisch betrachtete Innen und das soziale Außen zusammenhalten. In seinem späten Werk „Jugend und Krise“ scheint der Eindruck dieser Spannung noch stärker zu werden. Er verwendet nun den Begriff der Ich-Identität immer seltener, auch vorsichtiger, und betont dagegen die Dialektik von sozialer und personaler Identität und deren Prozesscharakter: denn wir haben es mit einem Prozeß zu tun, der im Kern des Individuums ‚lokalisiert‘ ist und doch auch im Kern seiner gemeinschaftlichen Kultur, ein Prozeß, der faktisch die Identität dieser beiden Identitäten begründet.98

96

Die letzten drei Stadien des Erwachsenenlebens nennt Erikson: „Intimität und Distanzierung gegen Selbstbezogenheit“, „Generativität gegen Stagnierung“ und „Integrität gegen Verzweiflung und Ekel“. Damit weist er auf weitere krisenhafte Situationen im Leben hin, die zur erfolgreichen Überwindung ebenfalls die Integration der vergangenen Phasen zur Voraussetzung haben, die aber nicht mehr Grundsätzliches zur Bildung von Ich-Identität beitragen. 97 Rainer Döbert, Jürgen Habermas, Gertrud Nunner-Winkler, Entwicklung des Ichs, Gütersloh 1977, 11. 98 Erikson, Identität und Lebenszyklus, 18.

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Damit nimmt Erikson in gewisser Weise schon die spätere Kritik auf, die sich auf seinen Identitätsbegriff und sein Phasenschema bezieht. Zunächst aber wurde sein Konzept durch weitere Perspektiven ergänzt. Die Entwicklungspsychologie Jean Piagets,99 die sich in erster Linie auf die kognitive Entwicklung des Menschen bezieht, konnte mit Eriksons psychoanalytischer Sicht verbunden werden. Der Anschluss an Meads Interaktionismus konnte damit erreicht und eine Modifikation und Erweiterung des Phasenschemas aus stärker prozesshafter Sicht erarbeitet werden.100 Dennoch verschärfte sich die Kritik zuletzt dahingehend, dass Erikson eine unterkomplexe Vorstellung von Gesellschaft habe. Er beziehe sich auf das real existierende amerikanische Gemeinwesen der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts, in dem jeder Mensch, jeder Jugendliche eine klare Position einzunehmen hatte – und habe deshalb auch klar folgern können, was als gesunde und was als kranke Entwicklung zu gelten habe. Er lege zu großen Wert auf die Unterstützung einer durchschnittlichen Identitätsbildung, die stark an unhinterfragten gesellschaftlichen Normen orientiert sei und keine größere Variationsbreite zuließe. Erikson nehme überhaupt die sozialpsychologische Seite nicht ernst genug und unterschlage die Massivität gesellschaftlicher Konstruktion von Identität. In seinen Identitäts- und Selbstbegriff sei diese Pluralität nicht wirklich eingegangen, da er zu schnell auf die psychoanalytische Seite und damit zum Postulat von Ganzheit und Integration wechsle. In Zeiten einer beschleunigten Ausdifferenzierung der Gesellschaft scheint nun solch ein Modell, das in seiner Zuspitzung „Ich-Identität“ als einen Besitz aufzufassen scheint, nicht mehr tragfähig zu sein. In letzter Konsequenz hat das zu einer radikal dynamisierten und pluralisierten Auffassung von Identität geführt und zum Postulat eines „Abschied(s) von Erikson“101. Das Problem der Vermittlung von Außen- und Innenperspektive, das sich insbesondere im letztlich doch ungeklärten Begriff des Selbst andeutet, verschafft Eriksons Konzept jedenfalls eine offene Flanke. Diese könnte nun aber auch von entgegengesetzter Seite angegangen werden, denn etwa aus tiefenpsychologischer Sicht lässt sich das Selbst dagegen nicht als Instanz verstehen, die allein aus den verschiedenen Zuschreibungen, aus den möglichen Objektbeziehungen besteht, sondern der Individualität eignet, die sich wiederum in der Entwicklung des Selbst nur zeigt und diesem zugrunde liegt. So unterscheidet Heinz Kohut den Begriff der Identität von 99

Etwa Jean Piaget, Das moralische Urteil beim Kind, Frankfurt a.M. 1973. Vgl. hierzu insbesondere die Arbeiten von Jürgen Habermas: Moralentwicklung und IchIdentität; Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?, in: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a.M. 61995, 63–91 u. 92–126. 101 Heiner Keupp, Bedrohte und befreite Identitäten in der Risikogesellschaft, in: Identität, Leiblichkeit, Normativität, 382. 100

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dem des Selbst. Die Identität wird erst thematisiert, wenn sich die Person soweit entwickelt hat, dass sie in größerem Maße an dem gesellschaftlichen Prozess teilhaben kann, während sich das Selbst schon in frühester Kindheit bildet und als Kern der Persönlichkeit einer bewussten, interaktiven Entwicklung vorausgeht.102 Noch schärfer wird die Individualität und das Selbst in Carl Gustav Jungs analytischer Psychologie betont. Jung unterscheidet zwischen Persona, als einem „Funktionskomplex, der aus Gründen der Anpassung oder der notwendigen Bequemlichkeit zustande gekommen, aber nicht identisch [...] mit der Individualität“103 ist, und dem Selbst, das die Bewusstes und Unbewusstes einschließende Ganzheit der Persönlichkeit meint. Entwicklung heißt für Jung deshalb „Individuation“, nämlich der eigenen Individualität inne zu werden und diese gerade gegen die Persona – als die das Selbst verdeckende Maske und Rolle – zum Tragen zu bringen: Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte „Individuation“ darum auch als „Verselbstung“ oder als „Selbstverwirklichung“ übersetzen.104

Auch wenn man Jungs Begriff des Selbst und erst recht den des Archetypus u.a. als substantialistisch und mystisch kritisch betrachten kann, macht er dennoch auf die allgemeine „Gefahr des Identitätskonzeptes“ aufmerksam. Sie liegt darin, „Individualität als Singularität hinter die Anpassung an die soziale Realität zurücktreten zu lassen und damit durch die Kategorien des Allgemeinen zu verdunkeln.“105 Der Identitätsbegriff bleibt also nicht nur bei Erikson ein Grenzbegriff, in dem das Selbst- und Weltverhältnis, das personale Innen und das soziale Außen zusammengehalten werden soll, in dem sich aber eine echte und durchsichtige Vermittlung beider Perspektiven nur andeutet, letztlich nur andeuten kann. Dadurch, dass Erikson diese unauflösliche Spannung ins Zentrum seiner Entwicklungspsychologie stellt, bleibt diese trotz fortgeschrittener Forschung und unterschiedlichster Kritik weiterhin aktuell.

102 Heinz Kohut, Narzißmus, Frankfurt a.M. 1973. Vgl. hierzu auch Christiane Ludwig-Körner, Der Selbstbegriff, 271–281. 103 Carl Gustav Jung, Psychologische Typen, GW 6, Zürich 1960, 505. Vgl. zum Begriff der „Persona“ bei Jung: De Levita, Der Begriff, 167–169. Besonders eindrücklich wird die Identitätstheorie Jungs dargestellt bei Verena Kast: Trotz allem ich. Gefühle des Selbstwerts und die Erfahrung von Identität, Freiburg i.Br. 42007, 118–130. 104 Jung, Zwei Schriften über Analytische Psychologie, GW 7, Zürich 1964, 191. 105 Werner Bohleber, Zur Bedeutung der neueren Säuglingsforschung für die psychoanalytische Theorie der Identität, in: Identitätsarbeit heute, 94.

Die Identitätsvorstellung in den Diskursen der Moderne

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2.3.3 Der soziologische Diskurs In der Soziologie ist diese Spannung des Identitätsbegriffes nicht der primäre Untersuchungsgegenstand. Vielmehr richtet sich der Blick hier ganz auf die Interaktionen und deren Bedeutung für das gesamtgesellschaftliche Gefüge. Es geht nicht (zuerst) um die psychische Struktur des Individuums, um die personale Identität, sondern um die Struktur der sozialen Identität eines Teilnehmers am gesellschaftlichen Prozess. Der Rückgriff auf Meads Bestimmungen von Identität und Sozialität, insbesondere auf seine Konzeption der Rollenübernahme, wird hier leitend. Dabei können grundsätzlich aber zwei unterschiedliche Perspektiven eingenommen werden, so dass sich eine neue Spannung ergibt: Einerseits kann man beim Individuum ansetzen, indem die Bestimmung des Einzelnen als Handelnder untersucht wird, und andererseits bei der Gesellschaft, indem die kleinste soziologische Einheit, das aktuell sich verhaltende Individuum vom Gesamtgefüge her bestimmt wird. Auf beiden Wegen, dem der Sozialpsychologie bzw. des sozialen Interaktionismus als auch dem der Rollen- bzw. der Gesellschaftstheorie wird soziale Identität unterschiedlich bestimmt. Auch hier wird sich also zuletzt die Frage nach dem Verhältnis von Zuschreibung und selbständig personaler Identität als Kernfrage erweisen. 2.3.3.1 Soziale Rolle und Identität In beiden Perspektiven findet sich die Beobachtung, dass die Interaktionen des Individuums ein hohes Maß an Kontinuität besitzen. Der Mensch verhält sich häufig gleich, sein Handeln ist bis zu einem gewissen Grad ‚berechenbar‘. Das liegt freilich nicht allein an dem individuellen Menschen, sondern vielmehr an seiner sozialen Umwelt, die ihm einen bestimmten Handlungsraum eröffnet, zumeist aber klare Handlungsgrenzen setzt. Die Evidenz der sozialen Struktur, in die das Individuum eingefügt ist und die sein Handeln weitgehend bestimmt, hat zur Ausbildung der soziologischen Grundkategorie, des Begriffs der „Rolle“ geführt. Die soziale Rolle ist die kleinste, abgrenzbare und stereotype Verhaltenserwartung der Gesellschaft oder einer gesellschaftlichen Gruppe an das Individuum. Als „typifizierte Erwartung“ ruft sie die entsprechend „typifizierte Antwort“ des Individuums hervor.106 In der Rollentheorie handelt es sich gleichsam um die „soziologische Atomphysik“, insofern sie das Grundelement des Aufbaus der Gesellschaft 106 Peter L. Berger, Einladung zur Soziologie. Eine humanistische Perspektive, München 1977, 107. Vgl. den Überblick zum Rollenbegriff von Hans Joas, Die gegenwärtige Lage des soziologischen Rollenbegriffes, Frankfurt a.M. 21975.

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Der Aufstieg der Identität

untersucht, so Ralf Dahrendorf. Der Mensch ist der „Träger sozial vorgeformter Rollen. Der Einzelne ist seine sozialen Rollen, aber diese Rollen sind ihrerseits die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft.“107 Nach Dahrendorf ist das Handeln, sogar das soziale Sein des Einzelnen also ganz durch die Zuschreibungen des sozialen Außen vorgegeben. Dieses weist dem Menschen Rollen zu, gleich wie einem Schauspieler, der verpflichtet wird, mehrere verschiedene Charaktere darzustellen.108 Je besser der Einzelne seine Rollen spielt, sich den Erwartungen anpasst, um so höher wird die Gratifikation, das Maß gesellschaftlicher Anerkennung sein; verweigert er sich, dann unterliegt er entsprechenden Sanktionen. Solche Rollen sind nun aber vom Einzelnen prinzipiell unabhängige Verhaltensvorschriften, sie werden allein von der Gesellschaft bestimmt und verändert und sie begegnen mit einem verbindlichen Anspruch, so Dahrendorf. „Soziale Rollen sind ein Zwang“, der dem Individuum kaum Freiheit lässt, denn selbst in der Privatsphäre wird der Einzelne nicht aus den Verhaltenserwartungen der Gemeinschaft entlassen, er unterliegt auch hier den Werten und Normen des Ganzen. Er hat seine Rollen internalisiert und nimmt sich auch abstrahiert von der konkreten Kommunikation darin wahr. Allenfalls ein kleiner freiheitlicher Rest bleibt, nämlich die Möglichkeit, eine Rolle auf die je eigene Art zu spielen, sie individuell auszufüllen, und die Wahl bestimmter Rollen – etwa, welchen Beruf man erlernen will. An der Struktur der Rolle ändert das allerdings nichts. Das, was in der Rollentheorie „Person“ genannt wird, ist also letztlich ein ganzes Repertoire von Rollen, zu der auch jeweils eine ganz bestimmte Identität gehört, die sie trägt. Die umfassende soziale Identität des Individuums wird damit als bloße Addition aller Rollenzusammenhänge verstanden. Identität ist der für den Einzelnen eingegrenzte Raum innerhalb der Gesellschaft. Für die soziologische Forschung bzw. für die Rollenanalyse ergeben sich nach Dahrendorf im Wesentlichen vier Frage- und Aufgabenbereiche:109 Zunächst gehe es um eine empirische Klassifikation von sozialen Rollen, um die nähere Bestimmung und Typisierung bestimmter Verhaltenserwartungen. Dann solle auf die sozialen Bezugsgruppen geschlossen werden, in denen diese Rollen gebildet und zuweilen ausdrücklich formuliert werden. 107 Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, Opladen 151977, 20. 108 Die Metaphorik des Theaterspieles, in der auch der Begriff der Person beheimatet ist, hat Erving Goffman (Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, aus dem Amerikanischen von Peter Weber-Schäfer, Vorwort von Ralf Dahrendorf, München 61988) in seinem interaktionalen Konzept aufgenommen und deshalb scharf zwischen Rolle und Selbst unterschieden. Bei Dahrendorf ist diese Differenzierung (oder die von Rolle und Identität) noch nicht explizit getroffen. 109 Dahrendorf, Homo Sociologicus, 72–80.

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Zum dritten müsse eine genaue Bestimmung der Rollenerwartung aber auch der Sanktionen erfolgen, die ein ‚aus der Rolle fallen‘ nach sich ziehe. Zum letzten würden so auch Erwartungskonflikte ansichtig, die innerhalb der ermittelten Rolle auftreten könnten – so, wie etwa ein Arzt nicht nur seinem Patienten, sondern auch der Krankenkasse verpflichtet ist. Es fällt nun aber auf, dass nicht danach gefragt wird, wer die Rollen eigentlich spielt und ob es nicht zwischen den verschiedenen Rollenerwartungen zu Konflikten kommen kann. Der rollentheoretische Ansatz zielt vielmehr auf eine Art soziale Mechanik, die dazu dient, den gesellschaftlichen Prozess näher zu beschreiben, nicht aber das interagierende Individuum. Die Rollentheorie führt in dieser Form110 aber nur bis zur Grenze, an der sich die differenzierte Identitätsfrage, als Frage nach dem Schnittpunkt von Gesellschaft und Individuum, überhaupt erst ergibt. Denn es lässt sich mit seinem Begriff der Rolle – im Singular – zwar eine bestimmte Verhaltenserwartung und ein daran orientiertes Handeln beschreiben, es lassen sich – im Plural – unterschiedlichste Bezüge des Individuums zur Gesellschaft ermitteln, aber der Träger der Rollen, die vermittelnde und integrierende Instanz der sozialen Bezüge wird damit nicht erfasst. Es kommt nicht zu einer Verhältnisbestimmung von Soziologie und Anthropologie, von Rollen- und Identitätstheorie.111 Die Rollentheorie geriet aufgrund dieser Auslassung in die Kritik und wurde von den Vertretern des sozialen Interaktionismus Meadscher Prägung heftig angegangen.112 Diese sahen darin nicht nur einen Mangel, sondern die prinzipielle Beschränkung jeder systemischen Gesellschaftstheorie. Jürgen Habermas113 sah die Rollentheorie von einem Integrationstheorem, einem Konformitätstheorem und einem Identitätstheorem bestimmt, die notwendigerweise die Freiheit des Individuums bis auf ein Mindestmaß einschränken müsse. Er setzt deshalb dem Integrations- ein Repressionstheorem entgegen, dem Konformitäts- ein Distanztheorem und dem Identitätsein Diskrepanztheorem. Es geht ihm darum, dass die Persönlichkeit nicht 110 Hier geht freilich die Rollentheorie Talcott Parsons und Berger/Luckmanns weiter, auch wenn sie ihr Paradigma nicht verlässt: Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, mit einer Einleitung von H. Plessner, übersetzt von M. Plessner, Frankfurt a.M. 51977, bes. 185ff. Vgl. zu Parsons Rollenbegriff: Hans Joas, Die gegenwärtige Lage, 27–30. 111 Vgl. in dieser Hinsicht die vehemente Kritik Plessners an Dahrendorf – etwa in: Soziale Rolle und menschliche Natur, in: ders., Diesseits der Utopie. Beiträge zur Kultursoziologie, Frankfurt a.M. 1974, 23–35. 112 Vgl. zum Übergang von der Rollentheorie zur Identitätstheorie (im Sinne Meads) das zentrale Werk Lothar Krappmanns: Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen, Stuttgart 51978. 113 Jürgen Habermas, Stichworte zur Theorie der Sozialisation, in: ders., Kultur und Kritik, Frankfurt a.M. 1973, 118–194, bes. 127f.

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hinter den Rollen verschwinden darf, dass durch die Mechanik der Rollenbezüge die Initiative der Person und dadurch die Veränderung der Gesellschaft nicht verhindert werden. Der heuristische Wert der Kategorie Rolle wird dadurch nicht geleugnet, aber sie dient nun nicht mehr zur Erklärung und Festschreibung sozialer Realität, sondern ein eindimensionales Rollenverhalten soll gerade überwunden werden. Die Rollentheorie wird hier folgerichtig zur Identitätstheorie weiterentwickelt, und der Blick auf die Rolle als gesellschaftliche Vorgabe wird durch den Blick auf den Schauspieler und dessen genuinen Beitrag zum ‚gespielten Stück‘ abgelöst. Im Rückgriff auf Meads Vorstellung von der Rollenübernahme erscheint das „role-taking“ nun nämlich als ein „role-making“.114 Jede Rolle wird vom Charakter des Schauspielers geprägt, er akzeptiert sie, wehrt sich innerlich gegen sie, er identifiziert sich mit ihr oder versucht sie in seinem Sinn zu verändern. Die geforderte Klassifizierung und Typisierung von Rollen bricht sich damit am konkreten Verhalten des Individuums. Die klassische Rollentheorie konnte sich nur durch die Abstraktion in diesem Punkt halten – durch eine undifferenzierte Annahme von Kontinuität und Komplementarität in der Struktur der Rolle. Damit trifft sie aber eher auf die Verhältnisse repressiver Interaktion in totalen Institutionen zu. In solchen wird der Beitrag des Individuums zur Gemeinschaft, seine Freiheit, von der Konformität der Verhaltenserwartung erdrückt. Doch schon hier ist die Möglichkeit des Widerstands gegen den Rollendruck von außen, wenn auch als innerlicher Rückzug, gegeben. Wer von Rolle spricht wird deshalb immer auch von Rollendistanz115 sprechen müssen, deren das Individuum als Integrationsinstanz mannigfaltiger Verhaltenserwartungen fähig ist. Der Einzelne kann nicht identisch mit seinen Rollen sein, er muss sich distanzieren können, gerade um einen Ausgleich der verschiedenen Rollenerwartungen zu erreichen; er muss sich gegen völlige Konformität wehren, um sich gegebenenfalls für die Konformität einer Rolle oder einiger weniger Rollen entscheiden zu können. Ein angemessener Rollenbegriff lässt sich damit nur im Blick auf die Aufnahme und Modifikation der Verhaltenserwartungen durch das Individuum und dessen konstruktives Verhalten gewinnen.

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Vgl. hierzu Krappmann, Soziologische Dimensionen, 142–152. Vgl. hierzu Joas, Die gegenwärtige Lage, 75–77; Krappmann, ebd., 133–142; Thomas Luckmann, Persönliche Identität, Soziale Rolle und Rollendistanz, in: Identität, 293–313, hier bes. 309–313. 115

Die Identitätsvorstellung in den Diskursen der Moderne

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2.3.3.2 Die balancierende Identität Die Identitätsfrage entzündet sich also an der Notwendigkeit des ‚Rollenmanagements‘ des Individuums. Dieses Management erstreckt sich nun aber auch noch auf andere Phänomene, als allein auf das Phänomen relativ klar abgrenzbarer Rollen. Nicht jede Interaktion lässt sich in das grobe Raster der Rollentheorie zwängen; es gibt Kommunikationsformen und -situationen, die schlicht aus ‚der Rolle fallen‘ – etwa die Ich-Du-Beziehungen nach Buber, die den Ich-Es-Beziehungen entgegengesetzt werden.116 Die Identitätstheorie setzt deshalb tiefer an, indem sie die Interaktion als solche betrachtet, indem sie versucht, deren Spielregeln und die Voraussetzung zur Beteiligung an ihr zu erheben.117 Es ist der Blick auf das Verhältnis von „I“ und „me“ Meads, den der soziale Interaktionismus nun gegen die Rollentheorie und deren Fixierung auf die Struktur der gesellschaftlichen Zuschreibungen einsetzt. Lothar Krappmann hat deshalb einen konsequent dynamisierten Identitätsbegriff formuliert: Die vom Individuum für die Beteiligung an Kommunikation und gemeinsamem Handeln zu erbringende Leistung soll hier mit der Kategorie der Identität bezeichnet werden. Damit das Individuum mit anderen in Beziehungen treten kann, muß es sich in seiner Identität präsentieren; durch sie zeigt es, wer es ist.118

Die Identität wird hier zu einer Vermittlungskategorie zwischen sozialer Zuschreibung und Handeln des Individuums, sie beschreibt nicht mehr einen bestimmten Status oder Ort in der Gesellschaft; sie ist vielmehr die Fähigkeit zur Balance, die Fähigkeit, Zuschreibung und eigenes Verhalten aufeinander abzustimmen und somit immer Teil des Kommunikationsprozesses zu bleiben. Ein solches Balancieren ist der Fluchtpunkt jeder Interaktion. Krappmann macht das deutlich anhand einer einfachen ‚face to face‘-Beziehung. Indem mir ein anderer Mensch im Gespräch gegenübertritt, äußert er eine 116 Buber, Ich und Du, 37. Buber spricht von „Du-Momenten“, die „den erprobten Zusammenhang“ des Es erschüttern und aufbrechen können. 117 In der Konsequenz dieses Ansatzes liegt es, dass das Rollenmanagement nur als eine entwicklungspsychologische Vorstufe der Ich-Identität angesehen wird. Habermas benennt in Anlehnung an Piaget drei Stufen der Identität: die natürliche Identität – das Kind kann sich und seinen Leib von der Außenwelt unterscheiden –, die Rollenidentität – das Kind lernt durch die Übung der Rollenübernahme in deren Strukturen zu kommunizieren – und die Ich-Identität – der Heranwachsende unterscheidet zwischen Rollen und Person, und er wird „sein Ich hinter die Linie aller besonderen Rollen und Normen zurücknehmen und einzig über die abstrakte Fähigkeit stabilisieren, sich in beliebigen Situationen als jemand glaubwürdig darzustellen, der auch angesichts unvereinbarer Rollenerwartungen und im Durchgang durch eine Folge widersprüchlicher Lebensabschnitte den Forderungen nach Konsistenz genügen kann“ (Moralentwicklung und Ich-Identität, 80). 118 Krappmann, Soziologische Dimensionen, 8.

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bestimmte Verhaltenserwartung. Sprechen wir etwa über ein Sachthema, dann bin ich genötigt, das aufzunehmen was mein Gegenüber sagt, es zu verstehen, um dann meine Reaktion, meine Bewertung folgen zu lassen. Diese Antwort wird – in einer reziproken, ‚herrschaftsfreien‘ Beziehung – allerdings meine Antwort sein und deshalb mit meinen individuellen Voraussetzungen, meinen persönlichen Erfahrungen und meinem Wissen vermittelt werden. Der Verhaltenserwartung wird also eine Repräsentation der eigenen Position entgegengestellt, die einerseits eng auf die Erwartung bezogen sein muss, andererseits aber das Eigene einbringen will. Es gilt zu balancieren zwischen der Anforderung des Anderen und den eigenen Bedürfnissen. In Interaktionen, die explizit mein Selbstverständnis zum Thema haben, aber selbst in eher sachbezogenen, die immer auch eine persönliche Ebene haben, geschieht das gleiche. Einer Verhaltenserwartung setze ich meine Identität entgegen, d.h. ich versuche mich als ganze Person in der Interaktion zu halten, meine Identität zu präsentieren. Identitätspräsentation ist somit die Leistung, die vom interagierenden Individuum gefordert wird, wodurch eine gewisse Zuschreibung antizipiert wird, aber eine völlige Rollenkonformität vom Individuum her durchstoßen wird. Das heißt aber nun, dass im Rückgriff auf rekonstruierte Identität neue Identität erzeugt bzw. für die Interaktion aufbereitet werden muss: Identität zu gewinnen und zu präsentieren ist ein in jeder Situation angesichts neuer Erwartung und im Hinblick auf die jeweils unterschiedliche Identität von Handlungsund Gesprächspartnern zu leistender kreativer Akt. Er schafft etwas noch nicht Dagewesenes, nämlich die Aufarbeitung der Lebensgeschichte des Individuums für die aktuelle Situation.119

Es ist allerdings nicht die Regel der Kommunikation120, dass sich solch ein reibungsloser Verlauf ereignet. Die vollkommene Reziprozität einer Interaktion ist eher die Ausnahme und nicht immer kann und wird es zu einer umfassenden Selbstdarstellung kommen. Dennoch zeigt sich auch an defizitären Kommunikationssituationen die Grundstruktur von Interaktion, insofern auch hier die Balance zwischen „sozialer Identität“ und „persönlicher 119 Ebd., 11. Vgl. zu den Begriffen der Identitätspräsentation und der Lebensgeschichte: Hermann Lübbe, Zur Identitätspräsentation der Historie, in: Identität, 277–292. Lübbe weist auf eine Schwachstelle der interaktionalen Identitätstheorie hin, indem er darauf aufmerksam macht, dass Identität „kein Handlungsresultat“ (280) sei, was etwa bei den Interaktionalisten verdeckt erscheint. Identität ist nicht einfach das Resultat einer Leistung, einer Präsentation, sondern enthält gerade auch Aspekte des Widerfahrnisses, des Schicksalhaften. Gerade deshalb sei Identität nur als Geschichte ‚erzählbar‘. Vgl. unten 2.3.5.4. 120 Vgl. etwa Albert Martin/Volker Drees, Vertrackte Beziehungen. Die versteckte Logik sozialen Verhaltens, Darmstadt 1999; den Klassiker der Transaktionsanalyse: Thomas A. Harris, Ich bin o.k. – Du bist o.k. Wie wir uns selbst besser verstehen und unsere Einstellung zu anderen verändern können – Eine Einführung in die Transaktionsanalyse, Hamburg 1993.

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Identität“121 zumindest angestrebt wird. Erving Goffman hat das anhand stigmatisierter Personen und deren Interaktionsmöglichkeiten erläutert. Jedes Individuum hat in den Augen der Gesellschaft eine soziale Identität, die rollentheoretisch differenziert erscheinen kann – unter Beachtung der oben erwähnten Beschränkungen. Diese soziale Identität lässt sich nun aber noch einmal in eine „virtuale soziale Identität“, die Zuschreibung bzw. das Vorurteil der Gesellschaft, und die „aktuale soziale Identität“ als faktisches Sosein des Individuums im Interaktionsprozess aufteilen. Ein Stigma weist dann auf „eine besondere Diskrepanz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität hin.“122 Von der Gesellschaft wird diese Diskrepanz häufig festgeschrieben, indem sich in ihr eine ‚Normalität‘ vermittelt, die zwangsläufig zur Stigmatisierung des ‚Unnormalen‘ führt. Der Stigmatisierte versucht nun, diese Diskrepanz aufzulösen, etwa durch Selbstkorrektur und Anpassung; oder er akzeptiert diese, setzt ihr aber eine unkonventionelle Auffassung der eigenen Identität entgegen – was freilich einer hohen ‚IchStärke‘ bedarf. Das Vermitteln zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität stößt überdies dann an eine harte Grenze, wenn die Individualität des Individuums eine Anpassung an die soziale Identität erschwert oder verhindert. Es kann gerade die Einzigartigkeit123 eines Menschen sein, aufgrund derer er stigmatisiert wird. Die interaktionale Identitätstheorie kann also, indem sie sich auf die Analyse der grundlegenden Interaktionen bezieht, auch zur strukturellen Betrachtung der Gesellschaft hin aufschließen. 121

Der Begriff „persönliche Identität“ darf nicht mit dem oben erwähnten Begriff „personale Identität“ verwechselt werden. Persönliche Identität bezieht sich (im Bereich der interaktionalen Identitätstheorien) nicht auf die Struktur der Person, die Sphäre der Subjektivität, sondern bezeichnet den ans Individuum gebundenen Anteil sozialer Identität: „Persönliche Identität hat folglich mit der Annahme zu tun, daß das Individuum von allen anderen differenziert werden kann und daß rings um diese Mittel der Differenzierung eine einzige kontinuierliche Liste sozialer Fakten festgemacht werden kann, herumgewickelt wie Zuckerwatte, was dann die klebrige Substanz ergibt, an der noch andere biographische Fakten festgemacht werden können“, so Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a.M. 131998, 74. Ein Stigma als Produkt gesellschaftlicher Zuschreibung kann sich deshalb an einem körperlichen Defekt ‚entzünden‘. Es kann aber auch mit einer bestimmten Herkunft, mit der Fremdheit einer Person oder mit einer (Straf-)Tat zusammenhängen. 122 Ebd., 11. Goffman hat sein Konzept weiter ausgebaut in seinem Buch: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt a.M. 1974. 123 Goffman hält den Begriff der Einzigartigkeit im soziologischen Zusammenhang allerdings für irreführend, wenn „das, was ein Individuum von allen anderen unterscheidet, das Innerste seines Seins“ (74) sein soll. Einzigartig ist eine Person zunächst nur dadurch, dass sie eine bestimmte Position in der sozialen Umwelt einnimmt, dass sie Glied einer Familie, eines Verwandtschaftszusammenhanges und einer gesellschaftlichen Gruppe ist. Sie ist einzigartig nur in diesem undurchdringlichen Bezogensein und in ihrer Geschichte als interagierendes Wesen. Es geht nur um „die einzigartige Kombination von Daten der Lebensgeschichte, die mit Hilfe dieser Identitätsaufhänger (sc. Name und Körper) an dem Individuum festgemacht wird“ (74). Vgl. unten Abschnitt 2.3.5.2.

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Der Aufstieg der Identität

Als kritische Gesellschaftstheorie wird sie deshalb die kollektiven Hindernisse für das Balancieren aufweisen und auf die Veränderung der Verhältnisse drängen, damit ein solches möglich wird. 2.3.3.3 Identität als Fähigkeit Mit der Fokussierung der Balance zwischen Verhaltenserwartungen und Selbstpräsentation wird der Identitätsbegriff konsequent formalisiert; es werden keine inhaltlichen Aussagen über eine positiv gegebene oder anzustrebende Identität mehr getroffen. Die Identität wird vielmehr in die aktuale Interaktion hinein verflüssigt und lässt sich nur als punktuell konstruierte Identitätsdarstellung fassen: Identität gilt in aller Regel als ein beständig zu erneuerndes, grundsätzlich nur vorläufiges Resultat einer praktischen und psychischen, kognitive, affektiv-emotionale, sinnliche und imaginative Aspekte umfassenden Integrations- und Syntheseleistung.124

Aus dieser Perspektive ist der Rückbezug auf den Begriff der „IchIdentität“ folgerichtig, insofern es um die Ausbildung identitätsfördernder Fähigkeiten geht. Krappmann fasst diese unter vier Stichpunkten zusammen: Rollendistanz, Empathie bzw. role-taking, Ambiguitätstoleranz und Identitätspräsentation.125 Hat ein Mensch diese Fähigkeiten ausgebildet, so vermag er sich einerseits als identisches Einzelwesen zu erfahren und andererseits dauerhaft und gegen Widerstände in der Interaktion zu halten. Er bildet sich dann, indem er die Gesellschaft aktiv verändert, an ihr aus; er ist dann in ihre Diskurse nicht nur verwickelt, er ist diskursfähig. Diese Fähigkeiten werden normalerweise auf einer bestimmten Stufe der psychosozialen Entwicklung erworben. Auf die Bildung einer natürlichen Identität im Säuglingsalter folgt die Rollenidentität im Kindesalter, während sich in der Adoleszenz die Ich-Identität ausbilden sollte. Der soziale Interaktionismus gewinnt damit wieder den Anschluss an den entwicklungspsychologischen Diskurs, aber gerade ohne die Identität „an festen Identifikationen, […] stabilen Selbstbildern“126 festzumachen, wie es bei den Psychoanalytikern so häufig geschähe. Überdies ist eine ‚Identitätspathologie‘ auch in dieser Perspektive erstellbar, insofern es sich gleichsam um das Negativ der entwickelten Identitätsvorstellungen handelt, nämlich um die Unfähigkeit zu balancieren oder sich als Einheit zu präsentieren.127

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Straub, Identitätstheorie im Übergang, 59. Vgl. Krappmann, Soziologische Dimensionen, 132–173. 126 Ebd., 19. Vgl. hierzu auch die Aufsätze von Jürgen Habermas. 127 Vgl. die eindrücklichen Belege bei Krappmann, Soziologische Dimensionen, 174–206. 125

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Mit dem interaktionalen Identitätsbegriff, in dem wesentliche Linien der vorhergehenden Diskurse zusammenlaufen, ist ein Niveau erreicht, das der Komplexität und Dialektik des Themas gerecht wird. So urteilt etwa Jürgen Straub: Von Identität wird in einem theoretisch anspruchsvollen Sinn dann gesprochen, wenn der Lebensprozeß, die Handlungs- und Interaktionspraxis eines Subjektes und dessen psychische Binnenstruktur einen einheitlichen Zusammenhang bilden, der als solcher durch die formaltheoretisch bestimmbaren Formelemente der „Kontinuität“, der „Konsistenz“ oder „Kohärenz“ und schließlich durch „Autonomie“ charakterisiert ist.128

Die meisten ‚vorkritischen‘ und auch noch viele ausgearbeitete Identitätsbegriffe erreichen dieses Niveau nicht, sondern fixieren Identität entweder immer noch in einem bestimmten Status bzw. einem Rollenset, identifizieren Identität mit der Individualität einer Person oder mit einem substantiellen Selbst. Dennoch findet sich in der Subtilität des interaktionalen Identitätsbegriffes auch dessen Hauptproblem. Dieses strukturtheoretische Konzept ist nämlich äußerst abstrakt und weist idealisierte Züge auf. Indem das Gewicht ganz auf die aktuelle Interaktion und auf die Vermittlung von personaler und sozialer Identität gelegt wird, droht aber die Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit sowohl des personalen Innen als auch des sozialen Außen zu verschwimmen. So macht sich zum ersten die ‚Altlast‘ des ungeklärten „I“ Meads wieder bemerkbar, wenn von Identitätspräsentation und Ich-Identität als Aspekt der Interaktion – des Weltverhältnisses – gesprochen wird, nicht aber davon, wie die Person in und aus sich selbst Konsistenz gewinnt – im Selbstverhältnis. Ein Identitätsbegriff, der das Substrat der Interaktionen in der Persönlichkeitsstruktur kaum berücksichtigt und die innere Reflektiertheit der Person, sei es in psychoanalytischer oder Bewusstseinstheoretischer Begrifflichkeit, nur als Voraussetzung für gelungene Interaktion in Anspruch nimmt, ohne deren Struktur zu erhellen und deren Problematik in Anschlag zu bringen, unterschlägt letztlich den psychischen, individuellen Faktor.129 Wollte doch 128

Straub, Identitätstheorie im Übergang, 59. Krappmann geht im behavioristischen Ansatz Meads letztlich unter, wenn er sich von einer introspektiven Sicht des Phänomens ‚Psyche‘ distanziert und das ‚Innenleben‘ der Person lediglich als Reproduktion des ‚Außen‘ versteht. Er setzt relativ unkritisch voraus, dass „sich die psychische Struktur eines Individuums als die innere Reproduktion eines sozialen Systems begreifen“ (ebd., 23) lässt. Hier wäre das Identitätskonzept De Levitas zu Ehren zu bringen, insofern dieser zunächst einen geistesgeschichtlichen Abriss liefert, der insbesondere die europäische bzw. deutsche Philosophie nach Kant mit einbezieht und von einer unhintergehbaren Differenz von psychologisch betrachtetem und metaphysisch vorauszusetzendem Ich ausgeht: „Wir müssen also annehmen, daß an dieser Sackgasse (sc. dieser Gegensatz) etwas Prinzipielles ist, und daß die Einheit des Selbstbewußtseins 129

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das interaktionale Identitätskonzept gerade die Eigenständigkeit und Autonomie des Individuums stärken, so gerät das zu einem unklaren Postulat, wenn das Subjekt als bloßes Resultat des gesellschaftlichen Prozesses verstanden wird. Es bedeutet eine Unterbestimmung von Individualität, wenn das Individuum diese allein „aus der Art, wie es balanciert“130 bezieht. Zum zweiten erscheint die Vorstellung von Interaktion trotz entgegen lautender Aussagen als ein Konstrukt idealer Kommunikation, mit dessen Hilfe die ständige Bedrohtheit und das Misslingen menschlicher Beziehung nicht scharf genug in den Blick genommen werden kann. Aus Goffmans Analyse der Interaktionsmöglichkeiten Stigmatisierter wäre zu entnehmen, dass die Balance zwischen Gemeinschaft und Einzelnem ein äußerst fragiles Unternehmen bedeutet und oft durch gesellschaftliche Vorgaben verhindert wird, dass eine ‚herrschaftsfreie‘ Kommunikation ein Ideal bezeichnet.131 Außerdem ist die polemische Abstoßung von der Rollentheorie nur bis zu einem gewissen Grad gerechtfertigt, nämlich solange diese als idealisiertes Konstrukt sozialer Wirklichkeit die Interaktionsmöglichkeiten festschreibt. Wird hingegen aber die Theorie der Interaktion idealisiert und zum Prinzip dynamisiert, dann droht ein Realitätsverlust, der die immer noch bestehenden Freiheitsräume der Gesellschaft zunächst überschätzt und zuletzt übersieht. Ein solch dynamisiertes Konzept läuft deshalb Gefahr, sich von empirisch überprüfbarer Kommunikation abzukoppeln. Es sei denn, es wird immer wieder ‚geerdet‘ und bezieht sich auf die Erhebung sozialer Milieus und entsprechender Kommunikationsstrukturen. Die interaktionale Identitätstheorie wäre dann aber als eine Metatheorie zu verstehen, die ihre ‚Brauchbarkeit‘ an der sozialen Wirklichkeit erweisen, die empirische Ergebnisse erschließen und einen Deutungsrahmen erstellen muss.132 empirisch nicht erworben werden kann“ (Der Begriff, 41). De Levita sieht – introspektiv – die Eigenständigkeit und Unableitbarkeit des „I“ und schließt darüber hinaus wieder zum psychoanalytischen Begriff der Psyche und des Selbst auf, indem er zwar die Selbst- und Identitätsgefühle als von den „Reifikationen“ sozialer Identität bewegt und geprägt versteht, aber diese gerade nicht ursprünglich aus dem gesellschaftlichen Außen ableiten will. Identität betrachtet de Levita – gleichsam von innen – als eine Deduktion aus der Mannigfaltigkeit der „Identitätsgefühle“, die im Individuum durch die verschiedenen Rollen, die es spielt, ausgelöst werden (vgl. besonders: Der Begriff, 185–197). Vgl. auch Dieter Geulen, Das Gesellschaftliche der Seele, in: G.Jüttemann/M.Sonntag/C.Wulf (Hg.), Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Göttingen 2005, 528–552. 130 Krappmann, Soziologische Dimensionen, 79. 131 Lothar Krappmanns Ausführungen zu einer an Jürgen Habermas orientierten Konzeption einer ‚repressionsfreien Interaktion‘ als auch zur Kritischen Theorie lassen sich als Verteidigungsrede einer letztlich doch idealisierten Interaktionstheorie verstehen, die aber den zentrifugalen gesellschaftlichen Kräften in der Postmoderne wehrlos ausgeliefert erscheint. Inwiefern schon die Identitätstheorie Krappmanns eine gesellschaftskritische Spitze haben soll, bleibt dunkel: „Schon der Versuch einer Identitätsbalance ist wegen des kritischen Potentials, das er enthält, ein Angriff auf bestehende Verhältnisse“ (ebd., 25–31, hier 31). 132 Vgl. Krappmanns kurze Ausführungen: ebd., 199–206.

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Den ‚idealen‘ Charakter der Ich-Identität kann auch Jürgen Habermas nicht verbergen, wenn er im Blick auf die Struktur der Gesellschaft und ihre geschichtliche Ausdifferenzierung fragt: „Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?“133 Er beantwortet diese Frage mit einem – freilich nur verhaltenen – ‚Ja‘, formuliert damit aber das Bildungsideal insbesondere der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts: Es ist die kritische, emanzipierte Ich-Identität, die als Fluchtpunkt etwa der schulischen Curricula134 eingesetzt wird. Diese hätte als voll ausgebildete „kollektive Identität“, die Gestalt einer inhaltlich kaum präjudizierten, von bestimmten Organisationen unabhängigen Identität einer Gemeinschaft derer, die ihr identitätsbezogenes Wissen über konkurrierende Identitätsprojektionen, also: in kritischer Erinnerung der Tradition oder angeregt durch Wissenschaft, Philosophie und Kunst diskursiv und experimentell ausbilden.135

Angesichts dieser optimistischen Konstruktion lässt sich aber die Frage pessimistisch wiederholen, welche Gesellschaft und welche Individuen in der Lage sein sollen, solch eine flexible und vernünftige Identität auszubilden? 2.3.4 Der kritische und postmoderne Diskurs Dieser Diskurs, in dem viele verschiedene Einflüsse aus der Soziologie, der Psychoanalyse und der Philosophie zusammenlaufen, stellt die oben erwähnte Frage Habermas’, behandelt sie skeptisch, kritisch und beantwortet sie zuletzt mit einem – nur zuweilen verhaltenen – ‚Nein‘. Dietmar Kamper spricht deshalb von einer Tendenz zur „Auflösung der Ich-Identität“136, die sich daraus ergibt, dass das Projekt der Moderne weniger positiv beurteilt wird, sondern vielmehr dessen negative Seite, die Verdinglichung, Beherrschung und zuletzt Destruktion des Individuums hervorgehoben wird. Die Identitätstheorie scheint damit im Übergang zu sein – von der Identität zum Nicht-Identischen, von dem Ideal der Ganzheit zur Fragmentarizität.137 Zuletzt wird sich auf dieser Linie die Frage stellen, ob eine Identität überhaupt neu konstruiert werden kann, oder ob die Leitvorstellung ‚Identität‘ ganz fallengelassen werden muss. 133

Habermas, Können komplexe Gesellschaften, 92–126. Ebd., 119f. 135 Ebd., 121. 136 Dietmar Kamper, Die Auflösung der Ich-Identität. Über einige Konsequenzen des Strukturalismus für die Anthropologie, in: Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, F.A. Kittler (Hg.), Paderborn 1980, 79–86. 137 Vgl. hierzu programmatisch Straub, Identitätstheorie im Übergang. 134

128

Der Aufstieg der Identität

2.3.4.1 Die Identität und das Nicht-Identische Ein entscheidender identitätskritischer Impuls kommt aus der Kritischen Theorie. Hier wird ebenfalls das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und damit die Möglichkeit von Identität in den Blick genommen. Dabei ist nicht das rollentheoretische Paradigma, als Einzelanalyse der Verhaltenserwartungen an das Individuum, noch das interaktionale Paradigma, als ständige Vermittlung von gesellschaftlichen Erwartungen und Eigenbedürfnissen, leitend, sondern der globale Blick auf die Machtstrukturen der Gesellschaft und die Verstrickung des Individuums in ihr. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird in der Kritischen Theorie als ein verhängnisvoller Zusammenhang betrachtet, der sich geschichtlich aus der Dialektik der Aufklärung ergibt.138 Indem die Vernunft bzw. das vernünftige Subjekt immer mehr zu sich selbst fand, der eigenen Kräfte gewahr wurde, ergab sich auch die Möglichkeit, diese Vernunft instrumentell als reines Mittel der Weltbewältigung zu benutzen. Das autonome Ich bzw. das bürgerliche Subjekt assimilierte sich an die Macht des gesellschaftlichen Zusammenhanges und arbeitete selbst an der Erstellung eines entmündigenden Machtapparates. In der fortgeschrittenen Industriegesellschaft verdichtet sich nun das gesellschaftliche Gewebe zu einem monistischen Block, der die Freiräume des Individuums – als autonomes Ich – nicht nur einengt, sondern konsequent einebnet. Der Einzelne wird in diese Einheitsstruktur aufgesogen. Er ist nicht mehr nur Träger verschiedener Rollen, sondern er ist so tief in die Verhaltenserwartungen, die Zuschreibungen der Gesellschaft, eingelassen, dass er immer mehr zu einem verrechenbaren Teil der Gesamtstruktur wird. Dieses Aufgesogensein lässt sich nicht mehr mit rollentheoretischen Mitteln beschreiben, weil darin die Macht des Ganzen, der Masse, des „man“ unterschätzt und damit die Verhaltenserwartung der Gesellschaft kleinteilig festgeschrieben würde.139 Noch viel weniger ist eine Identitätsbalance vorstellbar, weil diese nur auf dem Hintergrund herrschaftsfreier Interaktion denkbar ist, und ein Ich erforderte, das sich der Gesellschaft in völliger Freiheit entgegenstellen müsste. Diese tritt dem Individuum aber als eine eindimensionale Zwangsstruktur gegenüber, die ihm den entsprechenden Platz in ihr zuweist, und das heißt, seine Identitätsbildung bestimmt. Das Verheerende ist dabei, dass sich die Subjektivität bzw. die sich ausbildende Ich-Identität letztlich als eine bloße Kopie der sozialen Identität innerhalb des Systems darstellt. Die

138

Vgl. oben Abschnitt 1.3.4. und 1.3.5. Adorno, Negative Dialektik, 275: Mit dem Rollenbegriff „verordnet das Ich, wozu die Gesellschaft es verdammt, nochmals sich selbst. Das befreite Ich, nicht länger eingesperrt in seine Identität, wäre auch nicht länger zu Rollen verdammt.“ 139

Die Identitätsvorstellung in den Diskursen der Moderne

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äußerliche Machtstruktur wird internalisiert bzw. introjiziert.140 Der Mensch versteht sich so, wie die Gesellschaft ihm zu verstehen gibt, dass er sein solle, nämlich genauso eindimensional, wie sie selbst. So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens, worin Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und Handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder zu Begriffen dieses Universums herabgesetzt werden.141

Wenn vom Menschen und von Identität die Rede ist, dann muss der ganze Zusammenhang von Gesellschaft und Individuum als einer der Machtausübung und – in noch düsterer Perspektive – als ein sich selbst reproduzierender desavouiert werden. Er ist zum Verhängnis geworden: Die Gesellschaft bestimmt das Ich und das Ich bestimmt sich selbst nach den Erfordernissen der Gesellschaft. Es geht zuletzt um die Manipulation der Bedürfnisse: „Wenn dieser Punkt erreicht ist, erstreckt sich Herrschaft – in der Maske von Überfluß und Freiheit – auf alle Bereiche des privaten und öffentlichen Daseins, integriert alle wirkliche Opposition und verleibt sich alle Alternativen ein.“142 Das Subjekt ist damit gleichgeschaltet, das Individuum wird gleichsam ‚liquidiert‘, durch Integration abgeschafft.143 Dennoch bleibt im Geschichtsverlauf vorerst etwas Widerständiges, Nicht-Integrierbares übrig, das gesellschaftliche Ganze konnte nicht alles in sich aufsaugen: Es gibt noch Widerstandskräfte im Menschen. Es spricht gegen den sozialen Pessimismus, dass trotz des fortwährenden Anstürmens der kollektiven Schemata der Geist der Humanität noch lebendig ist, wo nicht im Individuum als einem Glied gesellschaftlicher Gruppen, so doch im Individuum, sofern es allein gelassen wird.144

Diese Residuen der Subjektivität, des Ichs, versucht die Kritische Theorie, eingedenk der Tatsache einer drohenden Totalitarität des Ganzen, aufzuspüren und zu stärken. Adorno hat das philosophisch untermauert, indem er in der „Negative(n) Dialektik“ dem im Ganzen herrschenden Identitätsprinzip die unauflösliche Widersprüchlichkeit, d.h. das Verfahren entgegensetzt, „in Widersprüchen zu denken“.145 Etwa die Dialektik Hegels hatte als Me140

Hier sind insbesondere die Arbeiten Erich Fromms zu berücksichtigen, der marxistische Gesellschaftskritik und Sozialpsychologie bzw. Psychoanalyse verbindet, etwa: Die Furcht vor der Freiheit, Frankfurt a.M. 1966 oder: Der moderne Mensch und seine Zukunft. Eine sozialpsychologische Untersuchung, Frankfurt a.M. 1960. 141 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, übers. von A. Schmidt, Hamburg 31998, 32. 142 Ebd., 38. 143 Horkheimer, Instrumentelle Vernunft, 160; Adorno, Negative Dialektik, 259. 144 Horkheimer, Instrumentelle Vernunft, 147. 145 Adorno, Negative Dialektik, 148.

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Der Aufstieg der Identität

thode das Ziel, alle Gegensätze im Absoluten aufzuheben bzw. als Teil dieses Systems zu erweisen. Diesem Zwang zur Versöhnung des Einzelnen mit dem Allgemeinen stellt Adorno das Beargwöhnen alles Identischen entgegen: „Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität.“146 Das Ganze ist damit das Unwahre; die nun herrschende „Logik ist eine des Zerfalls“.147 Sie öffnet den Blick auf das Konkrete, das Nicht-Identische, auf die eigentliche Fragmentarizität allen Lebens. Das von der Gesellschaft Abgespaltene und Ausgestoßene kann Träger echter Individualität sein, ein Restbestand wahrer Subjektivität, da es sich nicht gleichschalten ließ. Damit rekurriert Adorno allerdings nun doch wieder auf die Möglichkeit eines autonomen Ichs148 – zumal sich nur von dieser Position aus die totalitäre Struktur moderner Gesellschaft überhaupt analysieren und kritisieren lässt. Das Individuum findet also einerseits im Ganzen, d.h. seiner zugewiesenen Identität, ein Ende, andererseits gibt es immer noch kontingente Räume für freie Subjekte, die sich der Gesellschaft in kritischer Kraft entgegenstellen. Aus diesem letzten Faktum darf sich nun aber keine neue Positivität ergeben, als könne und dürfe ein Konzept, ein neues Ganzes, erstellt werden, das wiederum die Bildung autonomer Subjekte oder einer wie auch immer gefassten „Ich-Identität“ zum Ziel hat. So wie die Vorstellung der Selbstentfremdung149 abgelehnt wird, weil sie – sowohl in der Fassung Hegels als auch der Marx’ – suggeriert, der Mensch sei von seinem wahren Selbst abgefallen, so kann und darf schwerlich ein Weg zur Selbstverwirklichung ausgewiesen werden. Das Prinzip des Nicht-Identischen würde damit negiert und die Ideologie des Ganzen wieder greifen. Das Postulat eines „neuen Menschen“ muss die Kritische Theorie selbst wieder kritisieren, insofern ihre Dialektik nicht positiv sein kann und dem kontingenten Verlauf des Geschichtsprozesses unterworfen bleibt.150 146

Ebd., 17. Ebd., 148. 148 Habermas (Moralentwicklung und Ich-Identität, 65) erinnert daran, „daß die kritische Gesellschaftstheorie am Begriff des autonomen Ichs auch da noch festhält, wo sie die düstere Prognose stellt, daß dieses Ich seine Basis verliert.“ Zumindest bei Adorno kann von einer prinzipiellen Auflösung des Subjektes und einer Ablösung des transzendentalen Ichs noch keine Rede sein. Nur insofern die Dynamik und Konkretion durch Gleichschaltung mit dem Ganzen abgezogen wird, verliert es die Freiheit echten Subjektseins: „Leben wird nach dem ganz Abstrakten und dem ganz Konkreten polarisiert, während es einzig in der Spannung dazwischen wäre; beide Pole sind gleich verdinglicht, und selbst was vom spontanen Subjekt erübrigt, die reine Apperzeption, hört durch ihre Ablösung von jedem lebendigen Ich, als Kantisches Ich denke, auf, Subjekt zu sein, und wird in ihrer verselbständigten Logizität von der allherrschenden Starre überzogen“ (Negative Dialektik, 98). 149 Vgl. Adorno, Negative Dialektik, 274. 150 Vgl. Erich Fromm, Haben oder Sein, in: Analytische Charaktertheorie, Gesamtausgabe Bd. II, hg. von R. Funk, Stuttgart 1980, 390: „Die Funktion der neuen Gesellschaft ist es, die Entstehung eines neuen Menschen zu fördern, dessen Charakterstrukturen folgende Züge aufweist: – die Bereitschaft, alle Formen des Habens aufzugeben, um ganz zu sein ...“ Dagegen bleibt der 147

Die Identitätsvorstellung in den Diskursen der Moderne

131

2.3.4.2 Der Tod des Subjektes Das ‚negative Identitätskonzept‘ der Kritischen Theorie kann nun auf zweierlei Weise weitergeführt werden. Einerseits kann es gegen die erklärte Negativität wieder ins Positive gewendet werden, indem das Nicht-Identische zur Identität ausgebildet werden soll. Das ist der Weg der Humanistischen Psychologie Erich Fromms und – wie wir sahen – der Kommunikationstheorie von Jürgen Habermas151. Andererseits kann es aber dahingehend radikalisiert werden, dass selbst noch das Nicht-Identische und damit die letzten Reste freier Subjektivität, destruiert werden. Die Machttheorie und die erhobene Liquidierung des Individuums durch das gesellschaftliche System würden damit ins Anthropologisch-Prinzipielle gewendet, so dass jede Rede vom Individuum, vom Subjekt, letztlich vom Menschen, als Konstrukt eines zeit- und interessebedingten Zuganges zum bloßen Phänomen „Mensch“ zu verstehen wäre. Diese Radikalisierung verbindet sich mit dem französischen Strukturalismus, der Psychoanalyse Lacans und besonders der Diskurstheorie Michel Foucaults152, der sich darin ausdrücklich als Erbe Nietzsches versteht. Dessen Verabschiedung des transzendentalen Ichs Kants und des idealistischen Subjektes nimmt er auf und führt sie auf dem Hintergrund einer Machttheorie aus.153 Seiner Meinung nach ist der Mensch eine „junge Erfindung“154, die sich durch eine Verschiebung in der Ordnung des Wissens ergab. Der Mensch wurde im 18. Jahrhundert nicht nur verstärkt zum Objekt – der sich ständig erweiternden Wissenschaften –, sondern er wurde darin gerade auch als erkennendes Subjekt erkannt. Mit dem Niedergang der mittelalterlichen Metaphysik konnte Gott nicht mehr der unhinterfragte Grund der menschlichen Erkenntnis und des menschlichen Wesens sein, so dass nun die transzendentale Frage in die Anthropologie selbst einging. Dadurch kam es aber zu einer fatalen Duplizierung des Menschen, einerseits ist er nun der Gegenstand der Wissenschaften, empirisches Objekt, andererseits muss nun aber auch „die Frage nach dem Sein des Menschen als Begründung aller Kritischen Theorie einerseits nur der Verweis auf das Prinzip der Dialektik: „Die dialektische Theorie [...] kann kein Heilmittel bieten. Sie kann nicht positiv sein“ (Marcuse, eindimensionaler Mensch, 263). Und andererseits die Orientierung am gesellschaftlichen „Substrat der Geächteten und Außenseiter [...]; ihr Leben bedarf am unmittelbarsten und realsten der Abschaffung unerträglicher Verhältnisse und Institutionen“ (Marcuse, eindimensionaler Mensch, 267). 151 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. 152 Vgl. etwa Hinrich Fink-Eitel, Michel Foucaults Analytik der Macht, in: Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, 38–78; besonders Wolfgang Pircher, Das Verschwinden des Menschen. Postmoderne Anthropologie, in: Philosophische Anthropologie der Moderne, hg. von R. Weiland, Weinheim 1995, 205–216. 153 Nach Habermas (Der philosophische Diskurs, 104–129) ist Nietzsche geradezu als „Drehscheibe“ am Eintritt zur Moderne zu verstehen. Heideggers Metaphysikkritik und Foucaults Anthropologiekritik aktualisieren seine Argumentationen. Vgl. deshalb Abschnitt 1.3.2. 154 Foucault, Ordnung der Dinge, 462.

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Der Aufstieg der Identität

Positivitäten“155 geklärt bzw. ständig neu gestellt werden. Die Anthropologie erhält damit einen Sonderstatus unter allen anderen Wissenschaften, indem sie sich der Methoden und Ergebnisse der grundlegenden Wissensgebiete – Foucault nennt die Biologie, die Ökonomie und die Sprachwissenschaften – bedient, um den Menschen als Objekt zu begreifen, indem sie andererseits aber ständig die transzendentale Frage stellt und dieses Wissen wiederum zu begründen sucht, also als Konstitutionstheorie der Erkenntnis überhaupt auftritt. Kants zusammenfassende Frage: Was ist der Mensch? wird damit zur verordneten Grundlage der Wissenschaften. Nun könnte man meinen, die Entdeckung der Geschichte bzw. der Geschichtlichkeit des Menschen würde die transzendentale Frage verstummen lassen, da nun keine statische Basis für einen umfassenden Begriff des Menschen gegeben ist, doch die Anthropologie hat sich auch dieser Dynamik bemächtigt – nicht nur in der idealistischen Geschichtsphilosophie sondern auch im Evolutionismus –, um „für den Menschen einen festen Aufenthalt auf dieser Erde herzustellen, von der die Götter sich abgewandt hatten oder auf der sie erloschen waren.“156 Foucault will diese Form der Anthropologie und das dahinterstehende Verständnis des Menschen als transzendentales Subjekt auflösen und das heißt, zunächst entwurzeln: Vielleicht müßte man das erste Bemühen dieser Entwurzelung der Anthropologie, der zweifellos das zeitgenössische Denken gewidmet ist, in der Erfahrung Nietzsches sehen. Durch eine philologische Kritik, durch eine bestimmte Form des Biologismus hat Nietzsche den Punkt wiedergefunden, an dem Mensch und Gott sich gehören, an dem der Tod des zweiten synonym mit dem Verschwinden des ersten ist und wo die Verheißung des Übermenschen zunächst und vor allem das Bevorstehen des Todes des Menschen bedeutet. [...] In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken.157

Foucault will zu diesem Denken durchdringen, indem er die anthropologische Sucht ergründet, im Menschen mehr zu sehen, als er eigentlich ist, nämlich ein Wesen, das auf der Oberfläche des unergründlichen Seins schwimmt und von jeder Welle hin und her geworfen wird, das von anonymen Mächten bestimmt und gesteuert wird. Er hält deshalb die Psychoanalyse, die Ethnologie und zuletzt die Linguistik für wirksame Mittel, die Anthropologie zu zerschlagen und in die Weite des Wissens zu führen. Hier wird das Unbewusste, die kulturelle Abhängigkeit und Kontingenz, zuletzt die Sprache158 analysiert, die davon zeugen, dass der Mensch nur ein Pro155

Ebd., 414. Ebd., 460. Zum Thema Geschichte auch: Ebd., 439–447. 157 Ebd., 412. 158 Hermann Lang, Struktural-analytische Aspekte der Subjektivität, in: Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, 188–203) verdeutlicht die Bedeutung der Sprache als Grund 156

Die Identitätsvorstellung in den Diskursen der Moderne

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dukt eben solcher unbewusster, kultureller und sprachlicher Machtkonstellationen ist, und dass analog dazu auch die Begriffe vom Menschen sich als bloße Produkte bestimmter – aber lediglich zufälliger – Diskurse erweisen lassen. Anthropologie im Sinne Foucaults wird also zur „Archäologie“ und zur Genealogie, indem sie nur noch die Geschichte dieser Diskurse und Machtbedingungen rekonstruiert, letztlich, um das gegenwärtige Selbstverständnis des Menschen zu dekonstruieren. Hatte die Kritische Theorie nur das verfestigte Ganze kritisieren, das Nicht-Identische aber zum Widerstand ermächtigen wollen, so hat Foucault dafür nur noch das Lachen des Zarathustra159 übrig, spricht hingegen ungerührt von der „absoluten Zerstreuung des Menschen“ und möchte „sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“160 2.3.4.3 Die Destruktion der Identität und der neue Individualismus Mit dieser Konzeption ist nun einerseits die Rede von der Identität, d.h. besser: von Ich-Identität unmöglich geworden, denn die Identität, die wir unter einer Maske notdürftig wahren wollen, ist selber nur eine Parodie: der Plural regiert sie, unzählige Seelen machen sie einander streitig [...] Die genealogisch aufgefaßte Historie will nicht die Wurzeln unserer Identität wiederfinden, vielmehr möchte sie sie in alle Winde zerstreuen; sie will nicht den heimatlichen Herd ausfindig machen, von dem wir kommen, jenes erste Vaterland, in das wir den Versprechungen der Metaphysiker zufolge zurückkehren werden; vielmehr möchte sie alle Diskontinuitäten sichtbar machen, die uns durchkreuzen.161

Es gibt kein einheitliches, transzendental verwurzeltes, aber auch empirisch gesichertes Ich, das als Instanz eine Identität synthetisieren könnte; und deshalb ist ein wertender, humanistischer Bildungsbegriff nicht notwendig, aber auch nicht als Mittel zur Herrschaft über die Gewissen zu desavouieder Anthropologie im Werk Jacques Lacans, Martin Heideggers und Hans-Georg Gadamers. Ähnliches ließe sich auch im Blick auf die Sprachanalytik Ludwig Wittgensteins sagen. Der Mensch bleibt in der Analyse der Zeichensysteme und Begriffe eine „Stelle absoluter Fraglichkeit“, er kann mit Schweigen übergangen werden, denn indem er sich der Sprache bedient, verschleiert er, wie er aus der Sprache erwächst. „Nur weil die Sprache in all ihrem Benennen, in all ihren Bedeutungsartikulationen immer eines unbenannt und unbedeutet läßt, sind wir immer nur Frage, nie Antwort, bleibt unsere eigentliche Identität unausgemacht“ (202). 159 „Allen, die noch vom Menschen, von seiner Herrschaft oder von seiner Befreiung sprechen wollen, all jenen, die noch fragen nach dem Menschen in seiner Essenz, jenen, die von ihm ausgehen wollen, um zur Wahrheit zu gelangen, jenen [...], die nicht denken wollen, ohne sogleich zu denken, daß es der Mensch ist, der denkt, all diesen Formen linker und linkischer Reflexion kann man nur ein philosophisches Lachen entgegensetzen – das heißt: ein zum Teil schweigendes Lachen“ (Foucault, Ordnung der Dinge, 412). 160 Ebd., 461 u. 462. 161 Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, München 1974, 106. Vgl. dazu auch die zitierte Vorstellung Nietzsches einer „Polysubjektivität“ oben unter 2.3.4.3.

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Der Aufstieg der Identität

ren. Andererseits kann aber von Identität dahingehend wieder gesprochen werden, dass zwar das Ich und ein normierendes gesellschaftliches Ganzes zerfallen sind, aber das Individuum eine Identität im Rahmen eines kontingenten Zusammenhanges behält. Das starke idealistische Subjekt und das transzendentale Ich Kants sind verendet, es bleibt die bloße Identität des Menschen mit der anonymen äußerlichen Machtstruktur. Das Ich ist damit auf seine numerische Identität reduziert und zum solitären Einzelindividuum geschrumpft. Dem Einzelnen bleibt somit nur der Individualismus, das unreglementierte und offene ‚Dass‘ der Existenz und der völligen Freiheit des Selbstentwerfens. Denn als Produkt eines nicht näher bestimmbaren Machtgewebes ist der Einzelne zwar aufs höchste determiniert, aber diese Determination ist eben undurchdringbar, sie ist so komplex, dass sie nicht dekonstruiert werden kann und deshalb als bloßer Hintergrund angenommen werden muss, der gerade in seiner Kontingenz den Einzelnen ermutigen soll, sich selbst zu ergreifen und auszubilden. Es verwundert deshalb nicht, dass auch bei Foucault das Subjekt seinen beschworenen Tod überlebt hat. Nun lässt sich also zum einen fragen, wer eigentlich die Destruktion des Subjektes durchführt. Es muss doch eben solch ein Subjekt sein, dem Subjektivität eignet und das eine Bildung zur Ich-Identität und zum autonomen Ich erfuhr – von dem es sich nun nur in gewisser Weise absetzen kann. Die Diskurstheorie ist das Werk eines diskursfähigen Philosophen, die Destruktion oder Dekonstruktion (Derrida) ist das Werk eines Dekonstruierenden, der in sein Tun das volle Gewicht seines eigenen solipsistischen Selbstentwurfes einlegt und sich damit gerade gegen anonyme Machtstrukturen wendet. Während die Humanwissenschaften, Foucaults Diagnose zufolge, der ironischen Bewegung szientistischer Selbstbemächtigung nachgeben und in einem heillosen Objektivismus enden, besser: verenden, vollzieht sich an der genealogischen Geschichtsschreibung ein nicht minder ironisches Schicksal; sie folgt der Bewegung einer radikal historistischen Auslöschung des Subjektes und endet in heillosem Subjektivismus.162

Foucault spricht in seinem Spätwerk von der „Sorge um sich“ oder von „Selbstsorge“163, d.h. von der Notwendigkeit, sich selbst zu kultivieren und in die Zukunft zu projizieren. Er spricht von einer „asketischen Praxis“, die „die eines Einflusses des Selbst auf sich selbst (sei), womit man versucht, sich herauszuarbeiten, sich zu transformieren und zu einer bestimmten Seinsweise Zugang zu finden.“164 Dabei geht es freilich nicht um eine neue 162

Habermas, Der Philosophische Diskurs, 324. Michel Foucault, Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorlesung 1982, hg. und übers. von H. Becker u.a., Frankfurt a.M. 1985. 164 Foucault, Freiheit und Selbstsorge, 10. 163

Die Identitätsvorstellung in den Diskursen der Moderne

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Form von Ich-Identität, sondern um die „Ästhetik der Existenz“, um die „private Vervollkommnung – ein selbstgeschaffenes, autonomes, menschliches Leben.“ Der Mensch soll damit Mut fassen, sich selbst zu verwirklichen, das, was sich kontingent in ihm findet, auszuleben. Er soll etwas aus dem Leben machen, ohne darauf zu achten, was es aus ihm und den anderen gemacht hat. Die Selbstverwirklichung wird damit eine ohne den anderen, wahrscheinlich sogar eine gegen den anderen.165 Es scheint also, dass die Destruktion des Subjektes nur als die eine Seite oder der erste Schritt der destruktiven Anthropologie Foucaults gelten kann. Aus dem Nichts der Destruktion erheben sich die Reste und werden im Projekt autonomer Ästhetisierung zu einem neuen Subjekt, zu einer neuen Identität ausgebaut, so die Theorie.166 Damit wird in philosophischer Hinsicht sowohl die Problematik der im Fluss der Modernisierung unter Druck geratenen Identität formuliert und radikalisiert, als auch die Selbstverwirklichungsthematik der Romantik aufgegriffen und auf die Spitze getrieben.167 Die Identität wird zerschlagen, dadurch aber der Individualismus evoziert. Es bleibt hier nur noch im Vorblick auf das Weitere zu fragen, ob nicht beides eine Überforderung des Individuums bedeuten muss. Einerseits ist da die – bei Foucault – begrüßte ‚Identitätsdiffusion‘, die den Menschen zu zerreißen droht und andererseits der Druck, sich selbst entwerfen zu müssen, sein Leben selbst gestalten und es zu einem völlig einzigartigen und unvergleichlichen machen zu müssen. Es melden sich deshalb aufs Ganze gesehen Zweifel an, ob das als eine realistische Sicht des Menschen gelten kann. 2.3.4.4 Der Zerfall des Ganzen und die Identität des Einzelnen Die zuletzt geschilderte Tendenz zur Auflösung der Ich-Identität einerseits und zur Ästhetik bzw. Ästhetisierung des eigenen Lebens andererseits scheint grundlegend für die postmodernen Identitätstheorien zu sein. Auch wenn Foucaults Radikalität und sein Antihumanismus nicht allgemein auf Zustimmung stoßen, und die in der Kritik am Ganzen verharrende Kritische Theorie nicht mehr aktuell erscheint, das Thema einer prinzipiellen Identi165 Foucault versucht sich freilich gegen den Vorwurf zu wehren, die Selbstsorge sei ‚unethisch‘ und individualistisch. Doch das gelingt m.E. nicht, insofern er mit Blick auf die griechische Antike bloß von der „Kenntnis einer gewissen Anzahl von Verhaltensregeln oder von Prinzipien, die Wahrheiten und Vorschriften zugleich sind“ spricht, die aber nicht wirklich als Sorge um den Anderen, als echtes Gegenüber und Begrenzung der eigenen Freiheit, zu verstehen ist. „Sich um sich selbst zu kümmern heißt, sich mit diesen Wahrheiten auszustatten“ (ebd.,13; Hervorhebung von T.W.). 166 Vgl. Franz Josef Wetz, Wie das Subjekt sein Ende überlebt. Die Rückkehr des Individuums in Foucaults und Rortys Spätwerk, in: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, hg. von R. L. Fetz u.a., Bd. 2, Berlin 1998, 1277–1290. 167 Vgl. hierzu die Abschnitte 2.2. und 2.3. Die Grenze einer „experimentellen Selbstverwirklichung“, wie Theunissen es nennt (Selbstverwirklichung, 10), ist hier allerdings längst überschritten.

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Der Aufstieg der Identität

tätskritik wird weitgehend aufgenommen und in Vermittlung mit dem soziologischen, sozialpsychologischen oder psychoanalytischen Kontext variiert. Es scheint gerade so, dass die philosophische Analyse des Neostrukturalismus angesichts der Megatrends der Pluralisierung und Individualisierung auch soziologisch Recht behält. Identität – und auf der Linie Mead–Erikson–Habermas zugespitzte „IchIdentität“ – ist ein zum Scheitern verurteiltes Projekt, da es auf das Ganze einer homogenen Gesellschaft rekurrieren muss. Mit dem Zerfall des Ganzen, zumindest aber der Homogenität, zerfällt auch eine einheitliche Identität. Deshalb wird in den postmodernen Diskursen und Diagnosen vom fraktalen Ich, vom Zerfall des Selbst, von der Zersplitterung der Identität in Teilidentitäten oder von der Patchwork-Identität gesprochen – die Liste ließe sich leicht verlängern. Es herrscht das Prinzip der Analogie: Der Zersetzungsprozess auf gesellschaftlicher Ebene führt zu einem entsprechenden Prozess auf der Ebene des Individuums. Bis in die Sphäre der Psyche, in die IchSynthese, wirkt sich der Zerfall aus. Mit der These von der Pluralisierung des Selbst, der Aufspaltung in verschiedene Teilselbste oder -identitäten ist dabei nicht nur der Rückbezug auf Nietzsche, Foucault oder Lyotard verbunden, sondern es kann gerade so erscheinen, als verifizierte sich die ursprüngliche Rollentheorie, in der von der Identität als vermittelnde Instanz noch nicht gesprochen wurde – nur dass nun nicht mehr von ihr gesprochen wird. Auch die psychoanalytische Rede von der Ich- oder Identitätsdiffusion lässt sich hier wiederholen, nun aber nicht mehr bloß auf die Phase der Adoleszenz bezogen, sondern auf den gesamten Lebenszyklus ausgeweitet. Entwicklungspsychologisch gesehen erscheint der postmoderne Mensch in einer ‚prinzipiellen Pubertät‘ zu stecken, da er es nicht mehr schafft, eine IchIdentität auszubilden, von der man damals – vor 40 Jahren – noch meinte, dass sie als Status mit dem Erwachsenwerden erreicht würde. Der Einzelne muss sich nun also damit begnügen, dass es keine Ganzheit mehr gibt, dass die Synthese einer Identität ein hoffnungsloses Ideal ist. Wilhelm Schmid hat deshalb von einer bloßen „Kohärenz“ gesprochen, die als „Band, das die vielen ‚Selbste‘ in einem vielfarbigen Selbst organisiert“168, fungiert. Das traditionelle Subjektdenken habe nur als Versuch zu gelten, die geringer werdende Kraft der Ständeordnung in einem philosophischen Prinzip fortzuschreiben. In spätmodernen Zeiten müsse man aber das internalisierte Streben nach Identität aufgeben und sich mit einer gemilderten Kohärenz zufrieden geben. Das Subjekt ist in seinem Sinne der (immerhin) „relativ feste Rahmen, der Subjektpunkt springt darin herum.“169 168 Wilhelm Schmid, Der Versuch, die Identität des Subjektes nicht zu denken, in: Identität, Leiblichkeit, Normativität, 371. 169 Ebd., 377.

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Dennoch scheint sich die „Sucht nach Identität“170 nicht so leicht dekonstruieren und in die kleinere Münze einer Kohärenz oder bloßer Kohäsion verwandeln zu lassen. Es scheint für den Einzelnen immer noch von elementarer Notwendigkeit zu sein, sich nicht nur als Einheit zu repräsentieren, sondern – für sich selbst – eine solche auch zu sein. Die Semantik des Zerfalls macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass es sich bei der Modernisierung um eine Entwicklung handelt, die weitgehend nicht als Befreiung verstanden wird, sondern als Belastung und Zerdehnung des Lebens.171 Ulrich Beck hat relativ früh (1986) die soziologischen und politischen Prozesse in der Spätmoderne umfassend beschrieben. Er spricht von Individualisierung, Enttraditionalisierung und Entstandardisierung und thematisiert damit die Dynamik der sozialen Welt, an der das Individuum in der Spätmoderne teilhat. Auch bei ihm findet sich die Semantik des Zerfalls, allerdings weist er immer wieder auf die Chancen hin, die sich aus der veränderten Lage ergeben.172 Zuletzt hat Hartmut Rosa überdies auf den Zerfall einer gesunden Zeitdimension hingewiesen: Kennzeichnend für die spätmoderne Identität auch jenseits ihrer paradigmatischen Pathologien scheint damit aber der Verlust der Wahrnehmung einer gerichteten Bewegung des Selbst oder des Lebens durch die Zeit, und daher der Verlust der Entwicklungsperspektive, zu sein.173

Im Prozess der Individualisierung verlagern bzw. projizieren sich die Probleme des Zerfalls, aber auch die Problemlösungsstrategien von der gesellschaftlichen auf die individuelle Ebene. Eine sich ausdifferenzierende Gesellschaft wird immer komplexer und reflexiver. Die Interdependenzen und Divergenzen nehmen zu und neue Problemkonstellationen entstehen. Die Grundreflexivität wird nun dadurch noch erhöht, dass die Gesellschaft sich immer wieder selbst thematisieren muss, sich über die eigene Komplexität und die Kräfte, die sie zusammenhalten, aufklären muss. Ebenso versucht 170

Peter Sloterdijk, Zur Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1983, 156. Heiner Keupp (Identitätskonstruktionen, 45–53) listet zehn negative „Umbruchserfahrungen in spätmodernen Gesellschaften auf“ (46): „1. Subjekte fühlen sich ‚entbettet‘. 2. Entgrenzung individueller und kollektiver Lebensmuster. 3. Erwerbsarbeit wird als Basis von Identität brüchig. 4. ‚Multiphrene Situation‘ wird zur Normalerfahrung. 5. ‚Virtuelle Welten‘ als neue Realitäten. 6. Zeitgefühl erfährt ‚Gegenwartsschrumpfung‘. 7. Pluralisierung der Lebensformen. 8. Dramatische Veränderungen der Geschlechterrollen. 9. Individualisierung verändert das Verhältnis vom einzelnen zur Gemeinschaft. 10. Individualisierte Formen der Sinnsuche“ (46). Auch diese Liste ließe sich leicht verlängern und natürlich auch präzisieren. Es soll hier nur darauf hingewiesen werden, dass das Individuum in den spätmodernen Umbrüchen immer größere Lasten zu Schultern hat. 172 Ulrich Beck (Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986, 206) erkennt in der Individualisierung einen vielschichtigen Prozess, der eine „Freisetzungsdimension“, eine „Entzauberungsdimension“ aber auch eine „Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension“ habe. Die Ambivalenz dieser Veränderungen liegt auf der Hand. 173 Rosa, Beschleunigung, 390. 171

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das Individuum sich zusammenzuhalten, zumal der äußere, gesellschaftliche Zusammenhang diesen Dienst nicht mehr leisten kann. Anthony Giddens behauptet deshalb: „The reflexivity of modernity extends into the core of the self. Put in another way, in the context of a post-traditional order, the self becomes a reflexive project“.174 2.3.4.5 Reflexivität und Ästhetisierung in der Spätmoderne Die Reflexivität des Individuums erscheint zunächst als eine ständige Selbstbefragung als „art of self-observation: What is happening right now? What am I thinking? What am I doing? What am I feeling? How am I breathing?“175 Der Einzelne erlebt sich als konsequent ‚rückgekoppeltes Wesen‘, das sich selbst und die eigenen Handlungen ständig in Frage stellt. Die erhöhte Reflexivität bezeichnet als solche also nicht nur ein gesteigertes Bewusstsein, sondern erscheint auch als Belastung, denn die eigene Endlichkeit, Belanglosigkeit und die Möglichkeit der Lebensverfehlung wird darin – wenn nicht erfasst, so aber doch – präsent. Es tritt eine elementare Beunruhigung des menschlichen Lebens auf. Die Selbstobservation dehnt sich dabei auf die verschiedenen Bereiche des eigenen Lebens aus. So sind nicht nur die soziale Anerkennung oder die eigenen Gedanken Gegenstand der Reflexion, sondern auch der eigene Körper. Die wissenschaftliche Forschung stößt zudem immer neue Türen auf, die die alten Bahnen des Körperbezuges und der Selbstreflexion gründlich diskreditieren und noch tiefer in einen sorgenvollen Blick verwandeln.176 Die Selbstverständlichkeit im Umgang mit sich selbst und mit der Welt hat sich weitgehend aufgelöst; nur, ohne Selbstverständlichkeit und ohne Beheimatung im eigenen Leben scheint aber der Mensch nicht existieren zu können. Das Erzeugen neuer Selbstverständlichkeit und Beheimatung fällt nun aber ins Ressort des Einzelnen. Das Leben als reflexives Projekt liegt in seiner Hand, d.h. er ist für sich selbst verantwortlich und muss das Risiko des Scheiterns selbst minimieren bzw. für den Erfolg sorgen. Individualisierung heißt gerade, dass immer mehr Kompetenzen und Lasten auf die Schultern des Individuums übertragen werden und dieses sich selbst ‚managen‘, sein Leben zusammenbasteln, sich seinen eigenen Sinn konstruieren muss.

174

Anthony Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Cambridge 1992, 32. 175 Ebd., 76. 176 Hier wäre überdies auf die alltägliche Gesundheitsaufklärung in einschlägigen Zeitschriften (Apotheken-Rundschau etc.) hinzuweisen, die eine große Verunsicherung in den Bezug zum eigenen Körper eintragen.

Die Identitätsvorstellung in den Diskursen der Moderne

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Die Metapher der ‚Patchwork-Identität‘ will deshalb auch weniger den Zerfall, als die Konstruktionsleistung des Individuums hervorheben. Heiner Keupp spricht überdies prononciert von „Identitätsarbeit“ – ein Begriff, der auf die Implikationen dieses Projektes, etwa eine mögliche Überbelastung, besonders aber die Alltäglichkeit der Integration, aufmerksam macht. Die Reflexivität hat in dieser Arbeit nun also nicht mehr nur eine analytische, sondern auch eine synthetische Seite; in ihr findet sich das Mittel, um aus den Fragmenten und auseinanderstrebenden Teilen (wieder) ein Ganzes zu machen: Wer ein Haus nach vorgegebenen Plänen errichten soll, muß nicht intensiv über sich selbst nachdenken, wohl aber derjenige, der die Pläne mitgestaltet und dabei das Ziel im Auge hat, sich später in dem Haus wohlzufühlen. Auf dem Bauherrn lastet die Bürde der Reflexion; alle anderen müssen bloß ihr Handwerk beherrschen.177

Bleibt man in diesem Bild, dann hat das spätmoderne Individuum also nicht nur handwerkliche Tätigkeiten zu vollbringen, sondern sitzt auch am Zeichentisch und muss sich selbst als zu verwirklichendes Objekt entwerfen. Das geschieht zunächst dadurch, dass es sich nicht mehr nur in einer Lebensgeschichte bloß vorfinden kann bzw. darf, denn diese birgt ja ein hohes Potential an Desintegration, sondern es muss selbst eine Geschichte erfinden, rekonstruieren und antizipieren. War schon in der interaktionalen Identitätstheorie die Notwendigkeit einer Identitätsrepräsentation für die Interaktion betont und die Rekonstruktion der eigenen Lebensgeschichte als eine als Hintergrundbild der eigenen Identität zu aktualisierende verstanden worden, so wird nun die ‚Selbst-Narration‘ ein immer stärkerer Faktor im Aufbau neuer Selbstverständlichkeiten, einer präsentationsfähigen Identität. Es wird immer wichtiger, sich und anderen zu erklären, wer man ist, wer man geworden ist und vermutlich werden wird. Die Selbsterzählung wird dann soweit zusammengeführt, dass sie sich zu „Kernnarration(en)“178 und Überzeugungen verdichten. Diese Verdichtungen sind für den Einzelnen sehr gut handhabbar und helfen ihm, sich als Einheit in den Interaktionen zu repräsentieren, selbstbestimmt zu handeln. Giddens fasst deshalb zusammen: The line of development of the self is internally referential: the only significant connecting thread is the life trajectory as such. Personal integrity, as the achievement of an authentic self, comes from integrating life experiences within the narrative of self-development: the creation of a personal belief system, by means of which the individual acknowledges that his first loyality is to himself. The key

8

177 Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2000, 52. 178 Keupp, Identitätskonstruktionen, 229 u.a.

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reference points are set from the inside, in terms of how the individual constructs/ reconstructs his life history.179

Auf dieser Linie der Selbstinterpretation und -narration soll sich so etwas herauskristallisieren wie ein persönlicher Stil180 oder eine unverwechselbare Lebensart. Der Einzelne strebt danach, sich seiner Individualität inne zu werden, wie sie auch nach außen zu beweisen. Durch den Rückbezug auf die interne Referenzlinie der Selbsterzählung kann nun scheinbar auch aus der Not der Identitätsdiffusion die Tugend der Selbstverwirklichung gemacht werden. Gerhard Schulze spricht in diesem Zusammenhang vom „Projekt des schönen Lebens“181, einer ästhetischen Existenz, die eine möglichst dichte Abfolge von „Erlebnissen“ zum Ziel hat. Allerdings übersieht das Subjekt dabei leicht drei wesentliche Aspekte, zum einen, dass Erlebnisse sich nicht nur auf Widerfahrnisse reduzieren lassen, sondern immer vom Subjekt des Erlebens mitkonstruiert werden. In der „Erlebnisgesellschaft“ kommt es deshalb zu einer Neukonstruktion des Subjektes auf eine möglichst hohe Erlebensintensität hin. Zum anderen braucht das eigene Leben dafür aber Kriterien, d.h. um als ein schönes Leben identifiziert zu werden, müssen die Kriterien eine gewisse Objektivität besitzen, die nicht allein im Subjekt liegen können, also wenigstens intersubjektiv vermittelt sind. Und das heißt zuletzt, um eine (neue) Identität zu gewinnen, muss der Einzelne sich in den Raum der Gemeinschaft ausstrecken, vor deren Hintergrund diese bestätigt wird: „Dies ist die Stelle, wo sich das Subjekt in der Erlebnisgesellschaft kollektiven Schematisierungen öffnet, fast immer, ohne es zu merken. Man übernimmt intersubjektive Muster.“182 Die Selbsterzählung und der Selbstentwurf erweisen sich deshalb auf den zweiten Blick als Patchwork aus verschiedenen gesellschaftlichen Versatzstücken. Der Einzelne ist keineswegs autonom in der Arbeit an seiner Identität, noch kann er etwas völlig Eigenes, Neues schaffen, er kann vielmehr nur auswählen, aus dem freilich vielfältigen Angebot des Marktes der Möglichkeiten. Die Individualität des Einzelnen stellt sich damit als Zusammenstellung verschiedenster Teilidentitäten, „vorgefertigter Identitätshappen“183 dar. Diese – nun selbst noch im Blick auf den Prozess der Synthese von Identität – kritische Sicht lässt sich noch erhärten, wenn man etwa mit Wolfgang 179

Giddens, Modernity and Self-Identity, 80. Eine theologische Adaption des Stilbegriffs findet sich bei Dietrich Korsch, Religion mit Stil. Protestantismus in der Kulturwende, Tübingen 1997, bes. 17–66. 181 Schulze, Erlebnisgesellschaft, 35. Vgl. auch Wilhelm Schmid, Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst, Frankfurt a.M. 2000. 182 Schulze, Erlebnisgesellschaft, 53. 183 Gerhard Gramm, Die Vertiefung des Selbst oder das Ende der Dialektik, in: Identität, Leiblichkeit, Normativität, 345f. 180

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Welsch das Ästhetische als „Schlüsselkategorie unserer Zeit“184 versteht und einen wahren „Ästhetik-Boom“ diagnostiziert. Dabei geht es nicht nur darum, dass vordergründig – was durchaus bezweifelt werden kann – das Gefühl für das Schöne wächst, sondern vielmehr werden „immer mehr Elemente in der Wirklichkeit [...] ästhetisch überformt, und zunehmend gilt uns Wirklichkeit im Ganzen als ästhetisches Konstrukt.“185 Neben einer „Oberflächenästhetisierung“ hat sich damit auch in der Wirklichkeitswahrnehmung des Subjektes selbst eine Verschiebung ereignet. Das „Styling von Körper, Seele und Geist“186, was sich angesichts technologischer und gentechnologischer Mittel immer stärker auf die Grundlagen der biologischen Existenz des Menschen ausweitet187, verrät eine „Tiefenästhetisierung“, durch die die Außenwelt als Konglomerat verschiedener kunstvoller Gestaltungen wahrgenommen wird, die es in das eigene kunstvoll gestaltete Leben zu integrieren gilt – der kleine semantische Sprung von kunstvoll zu künstlich lässt dabei die Spannweite und Ambivalenz der Ästhetisierung zu Tage treten. Die Ästhetisierung erfasst zuletzt sogar noch die ‚tiefsten‘ Bereiche des Selbst- und Weltverhältnisses, sie ist eine die „unsere Erkenntnis- und Wirklichkeitskategorien einschließlich der Kategorie Wahrheit“188 – zumindest in ihrer Absolutheit – auflöst. Denkt man diesen Prozess konsequent zu Ende, dann droht das ganze Projekt der Identitätsarbeit aber (wieder) in postmoderner Beliebigkeit zu münden und läuft zur radikalen Identitäts- und Wahrheitskritik im ‚Stile‘ Foucaults zurück. Überdies verwandelt sich damit die Ethik in „eine Subdisziplin der Ästhetik“189, so dass auch abseits seiner philosophischen Ermächtigung, der Individualismus Blüten treiben kann und die noch bestehende gesellschaftliche Kohäsion zerreißen könnte. Eine bloße Vermittlung ästhetischer Ansprüche im Konzept einer „transversalen Vernunft“190 scheint der Grundproblematik der Ästhetisierung der Wirklichkeit nicht wirklich begegnen zu können. 184 Wolfgang Welsch, Das Ästhetische – eine Schlüsselkategorie unserer Zeit?, in: ders. (Hg.), Die Aktualität des Ästhetischen, München 1993, 13–47, bes. 13. Vgl. auch den im selben Band folgenden Aufsatz von Karl Heinz Bohrer, Die Grenzen des Ästhetischen, 48–64. 185 Welsch, Das Ästhetische, 13. 186 Ebd., 20. 187 Gramm, Die Vertiefung, 350, sieht deshalb etwa in der Reproduktionsmedizin das gleiche Prinzip am Werk: „Der gleiche Geist des Erfindens, Konstruierens, Isolierens. Selbstwahl und Kopiewahl gehen Hand in Hand.“ Peter Sloterdijks Aufsehen erregender Artikel liegt ganz auf dieser Linie: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus, in: Die Zeit 38/1999, 15.18–21. 188 Welsch, Das Ästhetische, 34. 189 Ebd., 44. 190 Welschs Konzept der transversalen Vernunft lässt sich als ein Versuch werten, der Ästhetisierung abseits eines anachronistischen Wahrheitsanspruches zu begegnen, sie mit ihren eigenen Mitteln, nämlich „ästhetischer Reflexion“ (ebd., 45–47.), in die Schranken zu weisen. Ob damit dem Zirkel der Ästhetisierung zu entfliehen ist, lässt sich bezweifeln.

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2.3.5 Der subjektivitätsphilosophische Diskurs Die zuletzt rekonstruierte Diagnose einer dekonstruierten Identität, die auf dem Hintergrund einer ästhetisierten Welt zwar wieder aufgebaut wird, aber wie ein gestylte Kopie des gestylten Außen erscheinen kann, hat sich weitgehend an der Vorstellung sozialer Identität orientiert. Identität und Individualität konstituieren sich im Weltverhältnis, während das Selbstverhältnis als bloße Folge nachgeordnet wird bzw. als parallele Struktur die Vorgänge nach innen kopiert. Diese Konzeption bahnte sich schon im Ursprungsdiskurs bei Mead an, der das (Selbst-)Bewusstsein aus der Interaktion ableiten wollte, und wird auch in der Sprachanalytik und bei Habermas weitergeführt, wenn auch verfeinert. Demgegenüber werden nun aber im – ebenfalls kritischen – Rückgriff auf das (idealistische) Subjektdenken zunehmend Einwände gegen die postmodernen Dekonstruktionsvorstellungen und einseitige Reduzierungen des Einzelnen auf seine soziale Identität vorgebracht. Individualität und Subjektivität sind dabei unhintergehbare Instanzen einer Identitätstheorie, die das einzelne Ich auf dem Hintergrund eines Freiheitsraumes verstehen, der ihm qua bewussten Lebens gegeben und aufgegeben ist. Dieses Leben ist in den Prozess seiner Verwirklichung gezogen, ohne dass dieses in einen zügellosen Individualismus abgleiten muss bzw. soll. Eingedenk der Tatsache, dass die „Frage der Identität ein privilegierter Ort von Aporien ist“191, kann es im engeren philosophischen Kontext dennoch zu einer Klärung – oder zumindest einer Erhellung – des Identitätsbegriffs kommen. 2.3.5.1 Die Widerständigkeit des Subjekts Die Verabschiedung des Subjekts und die diagnostizierte Erschöpfung des „Paradigma(s) der Bewußtseinsphilosophie“192 bezog sich eigentlich auf einen ‚starken Subjektbegriff‘. Das transzendentale Ich Kants und das absolute Subjekt der Idealisten waren zunächst gemeint. Die Dekonstruktionsversuche griffen aber auch auf das ‚schwache Subjekt‘ und auf das, was Kant das empirische Ich nennt, über – zumindest aber wurde keine klare Abgrenzung in der Rede vom Tod des Subjektes eingeführt, dass damit nicht auch die Fähigkeit des Menschen betroffen würde, sich selbstbestimmt zu verhalten. Foucault u.a. kokettierte mit dieser Unklarheit, um die

191 Paul Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, aus dem Französischen von J. Greisch, München 1996, 166. 192 Habermas, Der philosophische Diskurs, 346.

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Radikalität und Neuheit der Ästhetik der Lebensführung zu betonen.193 In diesem Überschwang, der sich auch in mancher Analyse der gesellschaftlich bewirkten Identitätsdiffusion findet, übersieht man aber leicht die ‚Behäbigkeit‘ der Wirklichkeit gegenüber radikalen Thesen: Wieviele theoretische Argumente auch gegen die Behauptung eines transzendentalen und eines empirischen Ich sprechen mögen, praktisch dürfte dessen völlige Ausschaltung unmöglich sein. Die Tatsache des wirklich gelebten Lebens steht einem solchen machtvoll entgegen.194

Natürlich erlebt sich der spätmoderne Mensch als ein endliches, bedingtes und fragmentarisches Wesen, das sich selbst nicht völlig im Griff hat und haben kann, andererseits lebt er aber als ein Handelnder, mit Spontaneität und einem gewissen Grad an Freiheit begabt. Der Mensch ist immer noch Urheber seiner Selbstentwürfe, er wird nicht nur von seiner Geschichte determiniert, sondern verändert und gestaltet sie nach seinen Vorstellungen. Das Gefühl für diese Freiheit und Handlungsfähigkeit scheint im alltäglichen Gebrauch deshalb auch niemand anzuzweifeln, zumal nur auf dessen Hintergrund die Zunahme psychischen Drucks in der spätmodernen Situation des Menschen verständlich wird – insofern dem Subjekt die Aufgabe zukommt, sich angesichts einer sich ausdifferenzierenden Welt zusammenzuhalten, um handlungsfähig zu bleiben. Die Unterbewertung dieses Aspektes menschlichen Seins – wie auch die Unterbewertung des anderen – kollidiert letztlich mit der menschlichen Realität, der alltäglichen Wirklichkeit.195 Überdies lässt sich die Frage wiederholen, warum es eigentlich eine solche Suche und vielleicht auch „Sucht nach Identität“ (Sloterdijk) gibt, warum sich der Einzelne nicht mit der Pluralität der Teilidentitäten zufrieden geben kann und es bei einer Kohäsion bewenden lässt. Reicht zur Erklärung 193 Henrich (Bewußtes Leben, 83) spricht hier vom philosophischen „Jugendstil der entspannten Lässigkeit“, der zusammengeht, „mit einer Fertigkeit beim Deflationieren aller Problemlagen, beim Dekonstruieren von Traditionen und von Begriffsformen sowie in flinken Nachweisen, daß alles, was ehedem Kopfzerbrechen bereitete, ebenso gut auch ganz leicht zu nehmen sei, da sich zeigt, daß es bei genügend gescheiter Betrachtung auf ein Geringes herunterkocht.“ Vgl. auch die Bewertung des Neostrukturalismus bei Taylor (Quellen des Selbst, 844–849), der in diesem Zusammenhang von einer „Modewelle“ spricht. 194 Wetz, Wie das Subjekt sein Ende überlebt, 1281. 195 In dieser Bewertung konvergieren die folgenden philosophischen und manche empirischen Identitätstheorien. So führt Keupp u.a. (Identitätskonstruktionen, 298) im Blick auf die Analyse Zygmunt Baumans aus: In der „Flüchtigkeit von Identitätskonstruktionen sieht Bauman ‚das Selbstbild des Menschen in eine Ansammlung von Schnappschüssen (zersplittern)‘ (48). Dem hochkompetenten Beobachter der Gegenwartsgesellschaft wollen wir nicht bestreiten, daß er Erfahrungen in verdichteter Form artikuliert, die durchaus Menschen in der postmodernen Gesellschaft machen; aber sie decken sich nicht mit der empirischen Breite, die wir in unserem Projekt gesucht [und gefunden (T.W.)] haben.“

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der Verweis auf die Notwendigkeit aus, immer an gesellschaftlicher Interaktion beteiligt sein zu müssen (Krappmann)? Versucht der Einzelne sich als Identität zu präsentieren, weil es die Gesellschaft ob seiner zugeschriebenen Identität verlangt? Oder ist die Einheitssehnsucht in der Struktur des menschlichen Individuums selbst fundiert, gehört es also zu seinem Wesen, sich als eines und ganzes bzw. – negativ – als zerfallendes und diffundierendes zu begreifen? Die Subjektphilosophie setzt an dieser Stelle an, ohne allerdings ein absolutes Subjekt repristinieren und die Fragmentarizität des Individuums leugnen zu müssen. Dieter Henrich möchte zeigen, dass „Subjektivität sehr wohl als Prinzip in der Philosophie gelten kann“, dass man also das Problem und den Ansatz des Idealismus übernehmen sollte, gegenüber dessen Lösungen – im Gedanken des Absoluten, im System – aber vorsichtig sein müsse. Eine „erneuerte Subjektphilosophie (sei) vielmehr mit den Erfahrungen von Begrenztheit und Ambivalenz in Einklang“196 zu bringen und müsse sich wieder stärker als „Tiefenanalyse unserer Erfahrung“197 verstehen. In ähnlicher Weise geht auch Paul Ricoeur seine Untersuchung „Das Selbst als ein Anderer“ an, indem er sich in seiner „Hermeneutik des Selbst ebenso weit von einer Apologie des Cogito wie von seiner Absetzung entfernt“198 halten will. Die Vorsicht, in der sich Ricoeur u.a. von einer Apologie des „Ich denke“, als Grundlage aller Welt- und Selbsterkenntnis, fernhält, resultiert aus der Krisengeschichte des Subjektes, die in der Postmoderne mündet; die Zurückhaltung im Blick auf die Verabschiedung desselben folgt aber aus dem Faktum, dass sich das Subjekt gleichsam immer wieder einmischt, dass alle Dekonstruktionsversuche auf die Widerständigkeit des Subjekts stoßen. Von hier aus gesehen scheint es sogar noch nicht ausgemacht, dass keine Rede mehr von der Seele des Menschen sein könne, insofern mit diesem freilich schillernden Begriff zumindest eine „Leerstelle im Menschen und in der Natur (bezeichnet wird), die sich nicht ausfüllen läßt, die bleibt und die das Denken beunruhigt.“199 Auch das Phänomen der Psyche bleibt widerständig und hat sich als Stachel für die interaktionalen Identitätstheorien erwiesen. 196 Henrich, Bewußtes Leben, 52, zuvor 51. Hier wäre überdies der Vorschlag Rortys zu verzeichnen, die Unverfügbarkeit des Subjekts durch Gelassenheit und Selbstironie zu überspielen. Das führt allerdings im ethischen Kontext zu einer Haltung des Gewährenlassens und zu einer problematischen Ablehnung starker Wertungen – im Gegensatz etwa zu Charles Taylor. Vgl. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. 1989; und die Auseinandersetzung damit bei Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M. 1999, 227–251. 197 Ebd., 5. 198 Ricoeur, Selbst als ein Anderer, 13. 199 Christoph Wulf, Präsenz und Absenz. Prozeß und Struktur in der Geschichte der Seele, in: Die Seele, 5. Vgl. auch den programmatischen Band von Dietmar Kamper und Christoph Wulf (Hg.), Die erloschene Seele. Disziplin, Geschichte, Kunst, Mythos, Berlin 1988.

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Wie sieht aber nun dieser Grund des Subjekts und dann auch der Identität aus, von dem her das explizite Selbst- und Weltverhältnis sich aufbauen kann? Zunächst muss hier die Unfähigkeit diagnostiziert werden, das Wesen des Ich mit den Mitteln menschlicher Erkenntnis aufklären zu wollen. Das macht den ‚blinden Fleck‘ jeder Subjektivitätsphilosophie aus und mahnt – nicht nur – diese zur Bescheidenheit. Denn jeder Versuch, den Grund des eigenen Bewusstseins zu erhellen, muss scheitern bzw. endet in einer letzten Undurchsichtigkeit. Sobald sich der Mensch selbst begreifen will, sich als Subjekt auf sich selbst als Objekt zurückwendet, gerät er in eine Aporie. Das erkennende Subjekt hat nämlich keinerlei Gewähr, dass es sich bei dem zu erkennenden und erkannten Objekt auch um sich selbst handelt: Aber wie kann das Selbstbewußtsein wissen, daß es von sich weiß, wenn dieses Wissen durch einen Akt der Reflexion zustande kommen soll? Offenkundig ist, daß es dies reflektierte Wissen gar nicht haben kann, ohne schon ein vorausgehendes Wissen von sich in Anspruch nehmen zu können. Denn reflektiert weiß es von sich nur, wenn es zu sagen vermag, daß das, wovon es weiß, es selbst ist.200

Die klassische Subjektivitätsphilosophie (Descartes, Leibniz, Kant) hatte relativ alternativlos das Reflexionsmodell von Selbstbewusstsein angenommen, in dem das Ich durch einen durativen Akt der Selbstreflexion zustande kommt. Indem sich das Ich denkt, setzt es seinen Grund. Das Ich wurde also als Subjekt und Objekt zusammengebunden und für identisch erklärt. Diese Lösung verdeckt aber die zugrunde liegende Aporie und ist deshalb durch einen Begriff von Subjektivität abzulösen, der nicht mehr als ein sich selbst denken und dadurch begründen verstanden werden kann, sondern als ein präreflexives mit sich Vertrau-Sein, das analytisch nicht erreicht werden kann, von dem vielmehr jedes selbstbewusste Leben ausgeht. Subjektivität ist, wenn es ist, nicht der Niederschlag einer auf sie gerichteten Vorstellung (also nicht das Werk einer Reflexion). Subjektivität ist vielmehr unmittelbar mit sich bekannt – und die Reflexivpronomina, die sich in diese Formulierung schleichen, müssen als Fallen betrachtet werden, die uns die Sprache stellt.201

Der Mensch lebt als selbstbewusstes Leben also auf dem Grund einer vorbewussten „Selbstvertrautheit“ (Henrich), dieser ist ihm aber radikal entzogen und alle Verstehensversuche enden in dessen Opakheit.

200

Dieter Henrich, Fichtes ‚Ich‘, in: ders.: Selbstverhältnisse, Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe, Frankfurt a.M. 1993, 64. Vgl. ders., Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt a.M. 1967. 201 Manfred Frank, Die Unhintergehbarkeit des Individuellen. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer ‚postmodernen‘ Toterklärung, Frankfurt a.M. 1996, 34.

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Hat damit die neuere Subjektivitätsphilosophie selbst den Nachweis des Endes des Subjektes geführt und sich selbst ad absurdum geführt? Nein, denn es mag sich um das Ende einer bestimmten optimistischen Subjektivitätstheorie handeln, nicht aber um das Subjekt selbst; vielmehr versucht man hier nicht das Ende, sondern den Anfang oder den Ursprung des Ich zu beschreiben und wie sich aus dieser Selbstvertrautheit ein explizites Selbstund Weltverhältnis aufbaut. Der Ursprung ist der Reflexion zwar entzogen, aber er geht als Grund in jede Reflexion, in das Handeln und Selbstentwerfen des Menschen ein. Er macht das Selbstbewusstsein und die Freiheit des Menschen nicht verständlich, sondern begründet sie vielmehr. Im expliziten Selbstverhältnis und im Weltverhältnis, etwa dem intersubjektiven Verhalten und Werden, nimmt das Subjekt stets – nicht ausdrücklich – seinen vorgängigen Grund in Anspruch, und diese Notwendigkeit ist auch mit den Mitteln der Sozialpsychologie oder Sprachanalyse nicht aufzulösen oder zu erreichen (s.u.). Ricoeur spricht hier von der „Bezeugung“202 des Subjektes, des Ich oder des Selbst. Es ist nicht aufzuklären, was das Subjekt in der Tiefe ausmacht, aber es bezeugt sich als virulentes Problem: Es ist „im Hohlraum der Aporie nur der Fortbestand der Wer-Frage, die sozusagen durch das Ausbleiben einer Antwort aufgedeckt wird, der sich als das uneinnehmbare Refugium der Bezeugung erweisen wird.“203 Das Subjekt zeigt gerade in seiner Undurchdringbarkeit und Unerreichbarkeit seine prinzipielle Widerständigkeit gegen alle Auflösungsversuche. 2.3.5.2 Numerische und interaktionale Identität Überführt man die oben skizzierte subjektivitätsphilosophische Position in eine Identitätstheorie, dann wird eine widerständige und belebende Größe eingebracht, von der aus sich diese neu aufbauen kann. Der Widerstand bezieht sich zunächst auf eine Überbewertung des „me“ gegenüber dem „I“ in der Terminologie Meads. Das Eingebundensein des Einzelnen in gesellschaftliche Zusammenhänge, in die Welt allgemein, wird nicht geleugnet, aber es wird nur adäquat beschrieben, wenn die Subjektivität des Einzelnen204 voll in Rechnung gestellt wird. Es lassen sich nun also verschiedene Identitätsbegriffe oder Identitätsaspekte gegeneinander abheben, die wiederum miteinander vermittelt werden sollen.205

202

Ricoeur, Selbst als ein Anderer, 32 u.a. Er gebraucht die Termini Selbst, Cogito, Ich, Subjekt, ohne deren Differenz näher zu bestimmen. 203 Ebd., 34. 204 Vgl. zur Abgrenzung von Identität und Individualität De Levita, Der Begriff, 193–195. 205 Ich lehne mich hier weitgehend an die Argumentation und Begrifflichkeit Ricoeurs (Selbst als ein Anderer, 144ff) an.

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Zum ersten ist die numerische Identität zu nennen. Sie bezeichnet die „Selbigkeit“ (Ricoeur) eines Dinges oder auch einer Person im Weltzusammenhang, d.h. im Anschauungsfeld von Raum und Zeit. Jedes Einzelding hat darin eine besondere Position und lässt sich daher als völlig einzig(artig) vor dem Horizont mannigfaltiger Bezüge verstehen. Die numerische Identität ist auch der Grund für die Möglichkeit der Identifizierung des Dinges oder der Person. Der Name eines Menschen bezieht sich auf diese Möglichkeit, er soll als Identifikationsmittel dienen. Das gleiche gilt für besondere körperliche Merkmale, die die Einzigkeit im Unterschied zu allen anderen erweisen können. Freilich sind der Name und der Körper keine hinreichenden Identifikationsmerkmale, denn ein Name kann geändert und der Körper verändert werden. Der Personalausweis, der sich beider Aspekte bedient, ist deshalb weniger ein völlig klares Identitäts- als vielmehr ein Identifikationspapier. Die numerische Identität wäre folglich in die qualitative Identität zu differenzieren, die den näheren Identifizierungsvorgang beschreibt. Es geht dabei um den Aspekt des Vergleichens bzw. der größtmöglichen Ähnlichkeit. Identität wird dann bestimmt durch den Vergleich mit anderen Einzeldingen oder Personen. Ist eine solche Differenz nicht zu erheben, dann handelt es sich um ein und dasselbe Ding oder ein und dieselbe Person. Als Maßstab fungiert hier die Ähnlichkeit, die allerdings häufig als graduelles Kriterium betrachtet werden muss, wodurch wiederum bestimmte Schwierigkeiten auftreten können, insbesondere wenn der Aspekt der Zeit nicht berücksichtigt wird. Von einem Klon würde man – im Blick auf sein Genom – von Identität mit dem Original sprechen, aber im Rückbezug auf den Zeitaspekt numerischer Identität besteht eben keine, weil zwei verschiedene Personen leben. Deshalb kommt noch der Aspekt der zeitlichen Identität oder Kontinuität hinzu. Über die Zeit hinweg kann eine Beständigkeit der Struktur des Identischen beobachtet werden. Auch hier handelt es sich – allein – nicht um eine völlig hinreichende Bestimmung von Identität, denn Zeit bedeutet Veränderung und Wachstum. Außerdem ist es denkbar – und ein Faktum –, dass die Bestandteile eines Dings oder etwa des biologischen Individuums Mensch sich auswechseln können (Körperzellen), ohne dass die Struktur zerfällt und dass man ihm deshalb Identität absprechen müsste. Was ist nun mit dieser näheren Beschreibung bestimmter Aspekte des Identitätsbegriffs gewonnen? Zunächst ist damit der grobe kriteriologische Rahmen für die Anwendung des Begriffs als numerische Identität in Bezug auf ein Ding oder eine Person in der Welt bezeichnet. Überdies ist dadurch der enge Zusammenhang zwischen Individualität und Identität (und Identifikation) sichtbar geworden. Wie wir sahen, lässt sich mit guten Gründen vermuten, dass die Konjunktur des Identitätsbegriffes auch in der virulenten

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Frage nach der Individualität des Einzelnen begründet ist.206 Der Blick auf die numerische Einzigartigkeit kann nämlich dem Einzelnen versichern, dass er eine Identität, einen Ort in der Welt immer schon hat. Diese Identität zu leugnen hieße, die Existenz der Welt als solche zu negieren. Robert Spaemann hebt die numerische Identität deshalb positiv – gegenüber einer solipsistischen Identitätsauffassung – hervor: Dieser Ort [...] ist bestimmt durch die Stellung zu allen anderen Örtern, die Person also durch ihre Beziehung zu allem anderen, das niemals sie selbst sein kann. Und dies ist nicht nur von außen betrachtet so, sondern es ist für die Person selbst; sie selbst weiß von dieser Einmaligkeit des Ortes, von der Unverwechselbarkeit der Beziehung zu allem anderen und damit von ihrer eigenen wesentlichen Einmaligkeit.207

Wer aber um diese Einmaligkeit weiß, der kann sie auch den anderen Menschen und Wesen in seiner Umwelt zubilligen und diese darin achten. Dieser Ansatz bleibt allerdings im Äußeren stehen, wenn versucht wird, die Kriterien für die Identität und Individualität der Person ausschließlich aus allgemeinen Erwägungen über positiv gegebene Dinge abzuleiten, d.h. als numerische Identität zu betrachten. Geht es aber um eine Person, dann ist gerade zu fragen, ob die Außenperspektive zur Bestimmung von Identität ausreicht, d.h. ob Personalität sich wie Dinghaftigkeit behandeln lässt, als bloßer Gegenstand identifizierender Referenz, oder ob die Selbstreferentialität der Person stärker in Anschlag gebracht werden muss.208 Das geschieht etwa in der Sprachanalytik bei Ernst Tugendhat, der sich der Selbstreferenz über Selbstaussagen im Sinne von: „ich tue, bin, denke etc. ...“ zu nähern versucht. Er verabschiedet sich ebenfalls von einem Subjekt transzendentalphilosophischer oder idealistischer Prägung und spricht vom „Abstieg vom Ich zum ‚ich‘“.209 In der Analyse der Verwendung des Ausdrucks „ich“ wird deutlich, dass man mit dem ‚Index-Wort‘ „ich“ auf sich selbst als identifizierbare Person unter Personen verweist. Das „ich...“ ist gleichsam die Ortsangabe und Identifizierung des Sprechers. Es macht nun aber 206 De Levita sieht das Interesse des Menschen an seiner Identität gerade darin begründet, dass er seine Individualität, seine Einzigartigkeit behaupten will bzw. muss. Die Suche nach Identität ist in diesem Sinne eine „Hilfskonstruktion der Einzigartigkeit“ (Der Begriff, 194). 207 Robert Spaemann, Über das Identifizieren von Personen, in: Identität, Leiblichkeit, Normativität, 225. 208 Dieser Ansatz wird paradigmatisch von Peter Strawson (Einzelding und logisches Subjekt, übers. von Freimut Scholz, Stuttgart 1972) vertreten. Für ihn ist die Einzelperson ein Sonderfall der Einzelheit in gegenständlicher Einstellung, insofern sich die Person per definitionem durch sowohl Bewusstseinszustände als auch durch körperliche Eigenschaften auszeichnet. Person bin ich und Identität habe ich letztlich aufgrund der Tatsache, dass ich mich mit der Kategorie Person identifiziere, mir selbst, wie auch anderen meiner Art, Bewusstseinszustände und körperliche Eigenschaften zuschreiben kann. 209 Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, 68.

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keinen prinzipiellen Unterschied aus, ob ich etwas von mir selbst sage oder ob ein anderer etwas über mich sagt – also aus Sicht der dritten Person –, denn die Aussagen haben den gleichen Wahrheitsgehalt, sofern sie die identische Person in Raum und Zeit bezeichnen. Freilich ist die Position zur Identität der Person als Einzelding unterschiedlich: ich rede eben von mir aus der Ich-Perspektive, während andere über mich in der Er-Perspektive sprechen, dennoch ist das gleiche Wesen gemeint und letztlich nur ein differenter Zugang zur Wirklichkeit aktiviert. In dieser sprachanalytischen Sicht gibt es also keinen qualitativen Hiatus zwischen Außen- und Innenperspektive, vielmehr wird eine „veritative Symmetrie“210 zwischen beiden angenommen. Tugendhat kann deshalb auf der Linie Meads – wie auch Habermas’, als Protagonisten des ‚linguistic turn‘ – aus dem sprachlich rekonstruierten Weltzusammenhang das Selbstverhältnis ableiten. Als bloß positional verschiedener Zugang zur Welt verfügt die Ich-Perspektive über das gleiche Mittel: die Sprache. Unter dem Entwicklungsaspekt betrachtet, entspringt das Selbstbewusstsein somit aber aus Interaktion, ist letztlich als internalisiertes Sprechen zu verstehen. Hat das Individuum aber sprechen, d.h. also auch denken gelernt, dann kann es sich interaktiv betätigen und den Weltzusammenhang verändern. Man könnte das als die interaktionale Identität bezeichnen, die sich in der Stufung von natürlicher Identität, Rollenidentität und zuletzt Ich-Identität oder Identitätsbalance entwickelt.211 Wesentlich ist dabei, dass diese Vermittlung von Welt und Selbst, von Gesellschaft und Individuum den Rekurs auf das Subjekt etwa im Sinne Henrichs nicht voraussetzt: Die reziproken, durch die Sprecherrollen festgelegten interpersonalen Beziehungen ermöglichen ein Selbstverständnis, welches die einsame Reflexion des erkennenden oder handelnden Subjekts auf sich als vorgängiges Bewußtsein keineswegs voraussetzt. Vielmehr entsteht die Selbstbeziehung aus einem interaktiven Zusammenhang.212

2.3.5.3 Interaktionale und personale Identität Das größte Problem dieser Konzeption besteht aber darin, dass eine solche Bestimmung der interaktionalen Identität, auf dem Hintergrund der numerischen, nicht wirklich gegen den Versuch geschützt ist, das Subjekt bzw. die Identität zu destruieren, als bloßes Resultat einer bestimmten Machtkonstellation oder – in biologistischer Perspektive – als schlichtes ‚Geneset‘ zu erweisen. In letzter Konsequenz wird hier Identität auf dem Hintergrund 210

Ebd., 89 u.a. Vgl. oben Abschnitt 2.3.3.2. 212 Habermas, Nachmetaphysisches Denken, 32. 211

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von allgemeinen Referenzen, als Abgrenzung eines einzelnen Ortes, bestimmt. Damit ist aber die eigentliche Entscheidung über die Identität auf der Ebene des Allgemeinen und Ganzen gefallen. Die Re- oder Dekonstruktion des Weltzusammenhanges bestimmt die Vorstellung von Identität. Dagegen besteht für Manfred Frank Identität nicht in der Selbigkeit, d.h. Individualität lässt sich nicht aus dem Allgemeinen ableiten: Individuell ist dagegen, was von jedem Universalitätsanspruch ausgenommen und aus einem Allgemeinen auch nicht bruchlos deduziert werden kann. Ein aus einem Allgemeinen Ableitbares nenne ich Besonderes, nicht Individuelles.213

Dieser Begriff von Individualität steht dem obigen, aus der numerischen Identität resultierendem, entgegen, insofern er gleichsam auf die innere Tiefe des Besonderen, der Person hinweist. Es gibt eine eigenständige Sphäre der Individualität, die sich auf dem unverfügbaren Grund des Subjektes aufbaut. Deshalb wird eine prinzipielle Differenz zwischen Ich- und Er-Perspektive anerkannt und der sprachanalytische Ausgriff auf die Sphäre der Subjektivität als fehlgehender Versuch gewertet, der Aporie der Selbstbezüglichkeit zu entfliehen: So setzt die Bezugnahme auf einen beliebigen Gegenstand (als mir zugehörend) Selbstbewußtsein aufgrund des Subjektgebrauchs von „ich“, „mein“ oder „mir“ voraus. Das Bezugssystem jeder Person hat diese Person selbst zum letzten Ausgangspunkt der Weltorientierung [...]. Damit entgehen wir einem radikalen Reduktionismus, der die Rede von Bewußtsein an die Beobachtung rückbindet, die sich in einer rein objektiven oder behaviouristischen Sprache beschreiben lassen. [...] Eine solche Vertrautheit bekundet sich authentisch allein im Subjektgebrauch von „ich“; sie kann durch keinen Blick von außen ersetzt werden.214

Dieser Blick von außen bricht sich überdies an der Existenz des „Eigenleibes“, der vom Körper als Einzelding zu unterscheiden ist. Der „Körper ist zugleich eine Welttatsache und das Organ eines Subjektes, das nicht zu den Objekten gehört, über die es spricht.“215 Das heißt aber, dass der Mensch nicht nur einen Körper hat, mit dem er sich selbst identifizieren kann oder durch den er identifiziert wird, sondern dass er auch ein Leib ist, insofern er seinen Körper im Denken, Fühlen und Handeln in Anspruch nimmt, ohne dass er sich dessen völlig bewusst sein kann. Ich schreibe mir einen Körper nicht nur zu, sondern finde mich immer schon in ihm vor. Mein Körper als Eigenleib entzieht sich deshalb meiner kritischen Reflexion, meinem expliziten Selbstverhältnis, da er es erst möglich macht und gleichsam der Grund 213

Frank, Die Unhintergehbarkeit, 25. Ebd., 97. Diese Konzeption von Subjektivität wäre auch gegenüber einer hirnphysiologischen Reduktion des Geistes auf chemische Prozesse in Anschlag zu bringen. 215 Ricoeur, Selbst als ein anderer, 72. 214

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für dessen Auftreten und Wachsen ist. Die präreflexive Selbstvertrautheit ist damit auch als eine präreflexive Leibvertrautheit zu verstehen. Wesentlich ist dabei festzuhalten, dass durch meine Existenz als Eigenleib ein genuiner Zugang zu meinem Fühlen und Erleben erschlossen ist, das wiederum nicht als ‚Reimport‘ gegenständlicher Betrachtung des eigenen Körpers zustande kommt.216 Natürlich kann etwa das Verstehen des Körpers im Rahmen medizinischer Zusammenhänge oder auch gesellschaftlicher Konventionen (Schönheitsideale etc.) auf mein eigenes Körperbild und mein Selbstverhältnis einwirken, aber dass ich ein solches Selbstverhältnis ausbilde und immer die Möglichkeit habe, vertraute Denkweisen aufzugeben, das lässt sich so nicht erklären. Mit dem Eintritt in das bewusste Leben, muss sich vielmehr gleichzeitig auch meine innere, nur mir selbst zugängliche Sphäre erschließen. Personale Identität217 über die Zeit hinweg lässt sich also kaum, wie John Locke versuchte, als ein Produkt der eigenen Erinnerungsleistung, als Folge des ordnenden Gedächtnisses verstehen.218 Insofern sich Subjektivität von außen nicht erreichen und konstituieren, noch als Folge einer wie auch immer konstruierten Reflexionsleistung verstehen lässt – ohne in der Aporie zu enden –, erschließt sie sich nur von innen. Personale Identität lässt sich aber auch nicht einfach auflösen und die Aufspaltung in Teilidentitäten, wie auch das Bild einer multiplen Persönlichkeit, gutheißen, so als läge darin eine neue Freiheit. Es bleibt einzig der Verweis auf das Einheitsstreben des Subjektes, welches zu einer Verbindung der Einzelwahrnehmungen und Zustände im „stream of thought“ (James) führt und daraus resultierend die Behauptung des Phänomens ‚Subjekt‘. Diese Sphäre der „Individualität“ (Frank) oder der „Selbstheit“ (Ricoeur) bleibt zwar undurchdringbar, insofern sie der Reflexion vorausliegt, aber sie bestimmt die Herausbildung einer Identität, sie setzt einen Prozess in Gang, in dem sich ein bewusster Umgang mit Selbst und Welt vollzieht. Denn nicht nur auf der biologischen Ebene, versucht sich das Leben selbst zu erhalten, sich Beständigkeit und Einheit zu sichern, sondern auch auf der Ebene bewussten Lebens. Der Mensch ist „in einer Aktivität der ständigen und vielgestaltigen Einheitsstiftung begriffen“.219 Er versucht sich im Blick 216

Vgl. zur Verschränktheit von Leib und Körper: Hermann Schmitz, Anthropologie ohne Schichten, in: Identität, Leiblichkeit, Normativität, 127–145; den in diesem Buch folgenden Aufsatz von Gesa Lindemann, Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib, 146–175. 217 Vgl. hierzu Searle, Geist, 288–308. 218 Im Blick auf Locke ist insbesondere die ethische Problematik hervorzuheben, die darin besteht, dass die Kategorie der Personalität nicht an die des Bewusstseins gebunden werden darf. Vgl. zu diesem Problemfeld etwa die Position Peter Singers, Praktische Ethik. Neuausgabe, Stuttgart 1994. 219 Henrich, Bewußtes Leben, 16.

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auf seine Umwelt zu verorten, sucht den Ausgleich mit seiner zugeschriebenen, auch numerischen Identität, die freilich in vielerlei Identitätsrelationen und Identifikationsmöglichkeiten zergliedert ist. Der Einzelne versucht dann nicht nur sich selbst, sondern auch die Ordnung zu verstehen, in die er eingebunden ist. Er repräsentiert sich in Beziehungen und Interaktionen als Einheit und versucht, so Einheit zu gewinnen. Dieser Prozess gründet nun zwar in diesem Sich-Selbst-Gegeben-Sein, in einem „Wissen von sich“ (Henrich), das ihm die qualitative Einmaligkeit und Identität versichert, aber er vollzieht sich im gelebten Leben und das heißt: in aller Angefochtenheit und im Modus der Frage nach sich selbst.220 Es wird also ein Ausgleich von personaler und sozialer bzw. interaktionaler Identität, von Selbigkeit und Selbstheit angestrebt, der aus der inneren Dynamik des Individuums kommt, der nicht nur von außen erzwungen wird und sich als existentielles Fragen und Suchen verstehen lässt. Dabei bleibt festzuhalten, dass sich das Selbstverhältnis des Menschen nicht aus seinem Weltverhältnis ableiten lässt. Das Selbstverhältnis entsteht zwar im Vollzug des Weltverhältnisses, es wächst gleichsam aus ihm hervor, aber es lässt sich nicht damit begründen. Das Subjekt ist einer Durchdringung des nach sich selbst fragenden Subjekts ‚Mensch‘ entzogen und deshalb auch nicht von ihm zu destruieren oder für ‚tot‘ zu erklären. 2.3.5.4 Selbstverständnis und narrative Identität Wenn sich die volle Spannweite des Identitätsproblems gleichsam nur ‚von innen‘ erschließt und wenn eine Identitätstheorie von dem individuellen Erleben des Subjekts her aufgebaut wird, um von dort aus mit dem Weltzusammenhang vermittelt zu werden, dann wird sich diese Theorie an das Selbstverständnis und die Selbstbeschreibung des Menschen halten. Philosophie wird dann zur Tiefenanalyse und zur Hermeneutik, insofern sie den Menschen als „self-interpreting animal“ (Charles Taylor) versteht. Taylor hat versucht, dem Selbstverständnis und den Selbstbeschreibungen nachzuspüren, die als „Hintergrundbild“ oder „Rahmen“ (engl.: frame) das Handeln des Einzelnen bestimmen.221 Er sucht die „Quellen der Moral“, indem er erkundet, in welchem Bezugssystem sich die Menschen verstehen und selbst deuten. Er tut das gleichsam mit archäologischem Interesse, indem er zeigt, wie die Vorstellungen vom „guten Leben“, wie die Grundmuster des Welt- und Selbstverständnisses konturiert sind und sich entwickelt haben.222 220

Vgl. hierzu unten: 2.4.2. Taylor, Quellen des Selbst. 222 In gewisser Hinsicht handelt es sich bei Taylors Buch „Die Quellen des Selbst“ um ein ähnliches Unterfangen wie bei Foucaults „Die Ordnung der Dinge“, nur dass er kein dekonstruktives 221

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Taylor sieht dabei eine elementare Verbindung zur Identitätsfrage. Nur von diesen Hintergrundbildern wird nämlich verständlich, was und wer einer ist: Was ich als Selbst bin – meine Identität –, ist wesentlich durch die Art und Weise definiert, in der mir die Dinge bedeutsam erscheinen, und das Problem meiner Identität wird einer Lösung nur durch eine Sprache der Interpretation zugeführt, die ich im Laufe der Zeit als gültige Artikulation dieser Fragestellungen akzeptiert habe. Wollte man bei der Frage nach dem, was eine Person ausmacht, von deren Selbstdeutung absehen, würde man eine grundverkehrte Frage stellen, die nicht zu beantworten wäre.223

Es kann also gar nicht allein darum gehen, die Identität vor dem pauschalen Hintergrund einer Konzeption numerischer Identität zu bestimmen, sondern der individuelle Anteil der Selbstbestimmung muss mit erhoben werden. Der Blick verschiebt sich damit vom wie auch immer rekonstruierten Ganzen auf den Einzelnen, um dann (erst) zu fragen, wie im einzelnen Subjekt die Ganzheit des Lebens und der Welt vorgestellt wird. Manfred Frank fasst diese Perspektive im Anschluss an Schleiermachers Hermeneutik und Dialektik zusammen: Die „persönliche Identität“ einer individuellen Lebensgeschichte ist keine solche (oder reduziert sich nicht auf eine solche) von lückenlos verzahnten objektiven Tatsachen; sie ist eine der kontinuierlichen Selbstdeutungen, in deren Licht jene vermeintlich objektiven Tatsachen die Qualität, diese oder jene zu sein, allererst erwerben.224

Will der Einzelne sich selbst verstehen und sein Handeln ausrichten, dann muss er also eine Einheit konstruieren, die ihm das Leben als ganzes für sich selbst wie für andere – wobei beide Prozesse zu unterscheiden sind – erschließt. Ein Hintergrundbild tendiert dann (erst) zur Einheit, die Schicksalhaftes und Selbsterworbenes, Handeln und Erleiden einschließt. Dabei wäre eine synchrone Beschreibung und Verortung des Lebens allerdings zu wenig, denn das Leben ist im Werden und jede Ortsangabe verwandelt sich dadurch unter diachronem Aspekt in eine Angabe der Richtung: „Es geht also nicht nur um die Frage, wo wir uns gerade befinden, sondern auch um die Frage, wohin wir unterwegs sind“.225 Von daher wird von Identität und Einheit adäquat nur zu reden sein, wenn die Rekonstruktion und Konstruktion der Lebensgeschichte226 mit in den Blick genommen Interesse an den Tag legt, sondern am Wahrheitsgehalt des Selbstverstehens und Selbstdeutens festhält. 223 Ebd., 67. 224 Frank, Die Unhintergehbarkeit des Individuellen, 129/130. 225 Taylor, Quellen des Selbst, 93. 226 Vgl. hierzu grundlegend Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Wiesbaden 21976; Hermann Lübbe, Zur Identitätspräsentation der Historie, 277–292. Vgl. außerdem Hermann Lübbe, Identität und Kontingenz, in: Identität, 655–659; als auch die

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wird. Wer sich selbst zum Handeln bestimmen muss und will, der wird sich sein Leben als zusammenhängende Geschichte in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorstellen, selbst wenn er einzelne Teile davon am liebsten abstoßen würde. Nur dadurch gewinnt er die Maßstäbe und den Hintergrund, vor dem sein tägliches Leben Sinn und Erfüllung erhalten kann. Wie lassen sich diese kontinuierlichen Selbstdeutungen verstehen? Paul Ricoeur227 (u.a.) hat dazu den Begriff der „narrativen Identität“ gebraucht, durch den die Vermittlung zwischen der Selbigkeit, d.h. numerischer und sozialer Identität, und Selbstheit, d.h. personaler Individualität und Subjektivität, bezeichnet wird. Die Unterscheidung von „Selbigkeit“ und „Selbstheit“ veranschaulicht er zunächst an den Begriffen des „Charakters“ und des „Wort-haltens“. Der „Charakter“ eines Menschen ist zu großen Teilen durch den kontingenten Weltzusammenhang bestimmt. Die Beschaffenheit des Körpers, die Tradition und Familie, in der jemand groß wird, und die Widerfahrnisse des Lebens, sie prägen den Menschen in seiner Persönlichkeit, sie bestimmen seine Identität in der Zeit. Im Charakter verbindet sich das Unverfügbare des Am-Leben-Seins mit der Notwendigkeit, genau das anzuerkennen und damit zu leben. Ricoeur führt mit dem Charakter überdies den Begriff des Habitus und der Gewohnheit ein, die in Vorgängen der „Sedimentierung“ in den Charakter absinken und die das Leben weitgehend bestimmen. Dennoch bleibt dem Einzelnen schon in diesem Prozess eine gewisse Freiheit, bestimmte Identifikationen auszuwählen oder abzulehnen. Ricoeur beschreibt die Sphäre der Freiheit darüber hinaus aber durch das Phänomen des „Wort-haltens“. Damit ist die Fähigkeit des Versprechens bezeichnet, durch das ich für die Identität eines Wortes oder Verhaltens über die Zeit hinweg bürge, auch wenn etwa die Beständigkeit des Charakters diesem Versprechen völlig entgegenstehen sollte. Ich kann einem anderen und mir selbst treu bleiben, obwohl sich vieles im Leben ändert. Aus der Selbstheit kann also die bestimmende Zeitdimension des Charakters bzw. der Selbigkeit aufgebrochen und eine andere Zeitdimension zum Maßstab werden. Diese Zeitdimension erschließt wiederum die Möglichkeit, sein Leben außerhalb der lebensweltlichen Determination, durch Erstellung von Lebensplänen oder einer gedachten Einheit, relativ frei zu gestalten.228 kritische Korrektur durch Dieter Henrich, Identität und Geschichte – Thesen über Gründe und Folgen einer unzulänglichen Zuordnung, in: Identität, 659–664; insgesamt die dortige Dokumentation der Diskussion: Identität in Geschichten, 655–684. 227 Die folgenden Ausführungen beziehen sich im Kern auf Ricoeur, Selbst als ein anderer, 141–206. 228 Im Moment einer Lebens- und Identitätskrise, wenn die Identitätszuschreibungen und meine Gewohnheiten, mich selbst zu verstehen, in Frage stehen, kann die Selbstheit ganz „entblößt“ werden. Die Frage „Wer bin ich?“ verliert dann ihre Unterstützung durch die Frage „Was bin

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Ricoeur sieht nun beide Pole in der „narrativen Identität“ vermittelt bzw. verbunden: „Die wahre Natur der narrativen Identität offenbart sich meiner Auffassung nach nur in der Dialektik von Selbstheit und Selbstsein.“229 Er geht davon aus, dass man anhand der Konstruktion von Erzählungen, erhellen kann, wie der Einzelne an seiner Lebensgeschichte teilhat und diese selbst mitbestimmt. In der literarischen Konstruktion einer Geschichte wird die Identität einer Figur erstellt. Es wird eine bestimmte Handlungsfolge erzählt, aber auch innere Überlegungen der Person. Einerseits wird die Beständigkeit des Charakters beschrieben, die Zusammenhänge, die eine Person so werden ließen, wie sie ist, aber auch die kontingenten Ereignisse, die diese Zeitbeständigkeit aufbrachen. Diese Zufälle werden in der Erzählung und damit in die Lebensgeschichte der Figur als ganzer wiederum integriert. Ebenso die Selbstheit des Einzelnen, der sich in der erzählten Zeit auch gegen seine Selbigkeit behaupten konnte, indem er Lebenspläne erstellte, oder sein Leben an einer gedachten Einheit ausrichten konnte und damit die Beharrlichkeit des Charakters unterminierte. In der rekonstruierten Geschichte fließen diese verschiedene Aspekte zusammen, die in der erzählten Zeit durchaus kollidieren konnten; hier ist die zeitliche Schichtung des damaligen Lebens – und damit die Spannung zwischen Bestimmtsein von außen und der Selbstbestimmung – mit aufgehoben. Die narrative Identität hält Selbigkeit und Selbstheit zusammen.230 Es lässt sich nun fragen, ob diese literarische Konstruktion auch die Wirklichkeit gelebten Lebens beschreiben kann. Ricoeur hält das für möglich, denn das tertium comparationis zwischen narrativer Identität im Rahmen einer Erzählung oder Fiktion, dessen Urheber ein Mensch ist, und der Lebensgeschichte231, dessen Urheber er nicht ist, liegt (nur) in der Kombinaich?“, also durch die beharrliche Identität vor meiner Umwelt und den Anderen. Die postmodernen Dekonstruktionsversuche scheinen diese Möglichkeit, auf die etwa auch religiöse Bekehrungsberichte rekurrieren, in die allgemeine Rede vom Tod des Subjektes verwandelt zu haben. Vgl. Ricoeur, Selbst als ein Anderer, 204. 229 Ebd., 173. 230 Das Verhältnis von Selbigkeit und Selbstheit beim Zustandekommen von Identität kann unterschiedlich bestimmt werden. Hermann Lübbe etwa versteht die „Historie als Medium einer Kontingenzerfahrungskultur“ (Identität, 658) und betont damit die Unverfügbarkeit der Geschichte, d.h. deren Widerfahrnischarakter. So etwa auch Pannenberg, Anthropologie, 490 u.a. WolfDieter Stempel, Historisch und pragmatisch konstituierte Identität, in: Identität, 669–674 (hier: 672) spricht dem hingegen von der Gefahr – bei Hermann Lübbe –, einer „Ausschaltung der Mitbestimmung des Subjekts im Prozess seiner Identitätskonstitution“ zu erliegen. Ricoeurs Konzept kann die Vermittlung beider Aspekte – Geschichte als Handlung des Menschen und Geschichte als Geflecht von kontingenten Widerfahrnissen – leisten, d.h. diese Spannung offen halten. 231 Vgl. hierzu den Aufsatzband: Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, hg. von Walter Sparn, Gütersloh 1990. Insbesondere Walter Sparn, Dichtung und Wahrheit. Einführende Bemerkungen zum Thema, 22f betont die Spannung von Autonomie und der – im Kontext der Selbstentzogenheit des

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tion von Beständigkeit des Charakters und Selbstbestimmung über die Zeit hinweg. Der Mensch ist deshalb nicht im Vollsinne der Autor seiner Lebensgeschichte, aber durch die Möglichkeit sich selbst zum Handeln zu bestimmen, indem die Ganzheit des Lebens rekonstruiert und antizipiert wird, schreibt er an seiner Lebensgeschichte mit, ist er der Co-Autor.232 Freilich ist der faktische Verlauf meiner Lebensgeschichte mir nicht einsichtig. Bei der Rekonstruktion meiner Geschichte aktiviere ich die Erinnerung, wobei ich nur Weniges aus dem Vergessen retten kann und dazu noch auswählen und werten muss, was meinen Weg bestimmt hat. Vor allem überschaue ich nicht den Anfang, meine Geburt und Herkunft, sondern komme aus einer ‚Erzählung‘, die meiner Konstruktionsmöglichkeit vorausliegt. Auch in der Antizipation meiner Zukunft muss ich spekulieren und eine Auswahl aus möglichen Entwicklungsszenarien treffen, ohne dass ich über deren Realistik etwas sagen kann. Das Ende meines Lebens entzieht sich in ähnlicher Weise meinem Zugriff, denn auch hier kann ich nur spekulativ vorausschauen. Allein in der Erzählung anderer kann mein Tod ein erzähltes Ende werden. Dennoch setze ich immer wieder an und versuche mein Leben als Ganzes zu verstehen, als Einheit über die Zeit hinweg, aus der heraus ich mich gleichsam in den Progress meines faktischen Lebens einschreibe und es deshalb mitschreibe. Um die Wirklichkeit meines Lebens aber als Konvergenz von Selbigkeit und Selbstheit beurteilen zu können, müsste ich außerhalb desselben stehen. Ich müsste einen absoluten – im Wortsinne: abgelösten – Standpunkt, jenseits von Raum und Zeit, einnehmen. Auch in der Frage nach meiner Lebensgeschichte öffnet sich also eine Sphäre der Unverfügbarkeit und Undurchdringbarkeit.

Menschen – „unhintergehbaren Verdanktheit des menschlichen Daseins“ (24). Sparn spricht vom Menschen als „Co-Autor“ (24 u.a.) seiner Lebensgeschichte. 232 Vgl. hierzu auch Marquards hilfreiche Differenzierung zwischen „Urheberverantwortung“ und „Treuhänderverantwortung“ (Identität – Autobiographie – Verantwortung, in: Identität, 690– 699, hier: 697). Für die Selbigkeit im Sinn Paul Ricoeurs, für seinen psychophysischen Bestand, hat der Mensch keine Urheberverantwortung, wohl aber eine Treuhänderverantwortung, insofern er mit diesem Bestand leben soll und leben muss. „Die Identitätspräsentation durch Geschichten ist die bekräftigende oder resignierte Hinnahme je unserer – personalen, sozialen – Identität, so zwar, daß man diese unverfügbare Notwendigkeit, der zu sein, der man (geworden, O.M.) ist, dadurch erträgt, daß man zugleich die einzige Freiheit sich nimmt, die dabei bleibt: sich in verschiedenen Geschichten zu erzählen“ (698).

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2.3.5.5 Identitätsbildung im Spannungsfeld von Anerkennung und Autonomie Das Konzept der narrativen Identität wird aus der Psychologie und der Identitätsforschung gestützt und dort als Interpretationshilfe für das Phänomen alltäglicher Identitätsarbeit verwandt. Heiner Keupp fasst zusammen: Identität ist weitgehend eine narrative Konstruktion. Das zentrale Medium der Identitätsarbeit ist die Selbsterzählung. Damit meinen wir die Art und Weise, wie das Subjekt selbstrelevante Ereignisse auf der Zeitachse aufeinander bezieht und „sich“ und anderen mitteilt.233

Heiner Keupp u.a. untergliedert den Prozess der Identitätsbildung und -stabilisierung in vier wesentliche Aspekte.234 Zum ersten werden „Teilidentitäten“ ausgebildet und durch Erzählungen gestützt. Diese werden dann und ständig auf der Folie zunehmender Generalisierung verdichtet und gehen in ein „Identitätsgefühl“235 ein. Dieses Gefühl umfasst negative und positive Selbstgefühle, die die Selbstbeurteilung begleiten, wenn etwa selbst gesetzte (Identitäts-)Ziele oder Ideale nicht erreicht wurden oder verwirklicht werden konnten; und es umfasst ein Kohärenzgefühl, das die subjektinterne Einheit und Stimmigkeit, wie die Einheit nach außen, anzeigt. Vom nicht immer bewussten Identitätsgefühl unterschieden werden zum dritten die „Kernarrationen“, „in denen das Subjekt einerseits für sich selbst ‚die Dinge auf den Punkt‘ zu bringen versucht, zum anderen um [...] dies anderen mitzuteilen.“236 Wesentlich ist dabei, dass alle drei Aspekte auf eine Einheit zustreben und damit zum vierten die „Handlungsfähigkeit“ des Subjektes aufbauen und sichern. Hier wird aber nun die ethische Frage virulent, die Frage danach, wie diese Handlungsfähigkeit gewonnen und vor allem dann auch ausgeübt wird. Die Einheits- und Identitätssuche ist nämlich auf zwei wesentliche Ziele ausgerichtet, auf Anerkennung und Autonomie: „Das wohl schicksalhafteste Paradoxon besteht in unserem Bedürfnis nach Anerkennung und gleichzeitig nach Unabhängigkeit.“237 Identität bildet sich im Lebenslauf durch Interaktion und Identifikation mit anderen Menschen, gesellschaftlichen Gruppen, Werten und auch Dingen. Dabei wird nach Anerkennung, nach Aufmerksamkeit und Wertschätzung, gesucht, die dem Menschen in einer solchen Identitätsrelation zu Teil werden kann. Anerkennung ist geradezu eine Art ‚Nährstoff‘, der das Indi233

Keupp, Identitätskonstruktionen, 216. Ebd., 217–242. 235 Vgl. hierzu De Levita, Der Begriff, 206: Es „ergibt sich der Unterschied zwischen ‚Identitätsgefühl‘ und ‚Selbstgefühl‘. Selbstgefühl ist der Sammelbegriff für alle Gefühle und Empfindungen, die sich auf das Selbst beziehen. Identitätsgefühl betrifft meine Gefühle über meinen Platz zwischen anderen, es ist ein Sektor des Selbstgefühls.“ 236 Ebd., 229. 237 Jessica Benjamin, zitiert nach Keupp, Identitätskonstruktionen, 252. 234

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viduum mit Leben versorgt und in einer Identitätsrelation vermittelt bzw. ausgetauscht wird. Insbesondere im inneren Kern der Sozialität, den Liebesund Freundschaftsbeziehungen, wird diese deshalb zum wesentlichen Ziel. Aber auch auf der Ebene gesellschaftlicher Gruppen spielt die Suche nach Anerkennung, d.h. hier nun Fairness und Chancengleichheit, eine wichtige Rolle. Axel Honneth spricht geradezu vom „Kampf um Anerkennung“238, da nicht alle Individuen oder Gruppen den gleichen Zugang zu diesem hohen Gut haben. Ist die Identitätsbildung also elementar vom Grad der Anerkennung abhängig, dann lässt sich hier geradezu von einer Art ‚Ressource‘ sprechen. Der kritische Blick auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge mündet dann in den Versuch, die Bedingungen für die strukturelle Verteilung oder Nichtverteilung von Anerkennung und Gratifikation zu erheben.239 Versucht man aber nun die Vorstellung von der Identität eines Einzelnen zu ergründen, dann wird man auf eine komplexe Gesamtstruktur des individuellen Selbst-, Welt- und vielleicht auch Gottesverhältnisses stoßen, in der Anerkennung vermittelt und der Horizont konstituiert wird, vor dem sich die Identität im Laufe des Lebens bilden und verändern kann. Es wird sich zwar eine relative Stufung der Instanzen beobachten lassen, die als Quelle der Anerkennung dienen.240 Allerdings wird es auch ein gegenseitiges Durchdringen und Zusammenfließen der Quellen sein, aus denen das Individuum seine Identität und Einheit bezieht, ohne dass es sich dabei um einen völlig erschließbaren Vorgang handelt. Es besteht nun aber auch die Möglichkeit, dass die Suche nach Anerkennung zur Sucht wird, insbesondere, wenn die Konformitätsforderung eines Identitätsangebotes voll übernommen und mit allen Mitteln – vor allem gegen sich selbst, aber auch gegen andere – durchgesetzt wird. Der komplexe Identitätshorizont schrumpft dann auf eine oder einige wenige Identitätsrelationen zusammen, die dann auch zu einer „verengten Identität“ (G.H. Mead) führen können. Überdies richtet sich der eigene Selbstwert bzw. die Selbstanerkennung 238 Axel Honneth, Der Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M. 1992. Vgl. dazu den ausführlichen Bezug zu Axel Honneths Begriff der Anerkennung unten unter: 5.4.2.2–5.4.2.4. 239 Vgl. hierzu Keupp, Identitätskonstruktionen, 260f; Charles Taylor, Die Politik der Anerkennung, in: ders. (Hg.), Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a M 1993, 13–78. 240 Taylor geht davon aus, dass die Suche nach Anerkennung das eigentliche Movens der Identitätsbildung ausmacht. Den Prozess der Modernisierung und Säkularisierung rekonstruiert er als Kräfteverschiebung im Haushalt der Anerkennung: „Die ursprüngliche Einheit des theistischen Horizonts ist zersplittert, und die Quellen können nun in verschiedenen Grenzbereichen geortet werden, zu denen der Bereich unserer eigenen Kräfte ebenso gehört wie der der Natur“ (Quellen des Selbst, 856). Dabei sieht Taylor die Bedeutung des „theistischen Horizontes“ nicht völlig schwinden – zumal in seiner nordamerikanischen Heimat –, aber er rückt als eine Quelle – unter vielen Identitätsrelationen – in die moderne Pluralität ein.

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dann weitgehend am Maß der von außen zukommenden Anerkennung aus. Es droht dann aber ein Kollektivismus und Fundamentalismus, der in der pluralisierten Moderne zwar nur mehr kleine Gruppen zu betreffen scheint, der aber auf dem Mechanismus von Anerkennung und Identitätsbildung fußt und in dem bewusst verengte Identitäten erzeugt und zusammengefasst werden.241 Dem steht allerdings das Streben nach Autonomie gegenüber, das sich gegen eine Vereinnahmung durch das gesellschaftliche Außen richten kann. Autonomie bedeutet zunächst allgemein – und im wörtlichen Sinne – ‚Selbstbestimmung‘; schließt aber das Gefühl der Selbstwirksamkeit und der vollen Handlungsfähigkeit ein. Das Bewusstsein, dass ich ein Leben führe und nicht ‚gelebt werde‘, die Freude an der Gestaltung und am Tätigsein aus der ‚eigenen Mitte‘ heraus, steht dem Aufgehen in anonymen und entmündigenden Strukturen entgegen. Autonomie kann dann auch auf die Vorstellung der Individualität und „Originalität“ des eigenen Lebens verweisen. Es gibt etwas im eigenen Leben, das sich allein in mir findet und das ich zu verwirklichen suche. Das Ideal der „Selbstverwirklichung“ speist sich aus diesem Empfinden. Lässt sich das Autonomiestreben nun aber geradezu als Kerngedanke der Moderne verstehen, insofern (die) Aufklärung als Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit betrachtet werden kann, zeigt sich bald auch die Gefährdung dieser Vorstellung. Sie kann nämlich in die Illusion der Autarkie abgleiten und einer Vergötzung instrumenteller Vernunft Vorschub leisten, wie die Kritische Theorie analysierte. Autonomie kann gerade auch ohne den Gegenpol einer Theorie der Anerkennung zum Programm einer Selbstverwirklichung ohne den Mitmenschen degenerieren.242 Der diagnostizierte Individualismus und soziale Atomismus bezeichnen dann also nicht nur die Schwierigkeit eines zerfaserten Identitätshorizonts, sondern in erster Linie die aktive Durchsetzung des vermeintlich unabhängigen 241 Vgl. zur Frage nach kollektiven Identitäten den Aufsatzband: Identität und Moderne, bes. 398–555. 242 Es ist angesichts dieser Gefahr deutlich, dass alle Ansätze beim Subjekt, in dieser Hinsicht nun gleichgültig ob vor oder nach dessen ‚Toterklärung‘, in einen ethischen Diskurs münden müssen. Wenn dem Subjekt eine Fähigkeit zur Selbstdeutung und darüber hinaus zur Selbstbestimmung, d.h. zum Handeln, zugesprochen wird, dann wird die Frage virulent, wie das näher hin aussehen soll. Vgl. hierzu die Aufsätze unter der Überschrift „Ethik zwischen Identität und Humanität“ im Band: Identität, Leiblichkeit, Normativität. 213–312. Hervorzuheben ist dabei der Ansatz von Roughley, Selbstverständnis und Begründung. Zum Status von Bezugnahmen auf die Identität des Handelnden bei moralischer Rechtfertigung, ebd., 245–273, der den Begriff der „Identität“ mit dem der „Integrität“ verknüpft und seine Identitätstheorie somit ethisch zuspitzt (255ff). Vgl. überdies das optimistische Fazit von Jean-Pierre Wils, Anmerkungen zur Wiederkehr der Anthropologie, in: Anthropologie und Ethik: biologische, sozialwissenschaftliche und philosophische Überlegungen, hg. von J.-P. Wils, Tübingen 1997, 9–40, hier 40: „Anthropologie macht die Empirie normfähig und die Ethik empiriefähig.“

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Ichs ohne Rücksicht auf die Beziehungen, von denen jeder Mensch getragen wird, ohne Rücksicht auf Verluste im sozialen Außen, wie im personalen Innen. In psychoanalytischer Sicht kann dieser breitenwirksame Egoismus als kollektive Regression verstanden werden, die weit über die Phase der Identitätsdiffusion hinaus in den frühkindlichen Narzissmus zurückreicht. Der Identitätshorizont ist dann ganz vom eigenen Ich, besser: von einem selbst angeeigneten, aufgeblähten Selbstbild angefüllt. Es geht dann nur noch um das eigene Leben. 2.3.5.6 Das Ideal der Authentizität Die Beurteilung der Moderne bzw. der Spätmoderne hängt aufs engste mit der Beurteilung der Spannung von Anerkennung und Autonomie, von Intersubjektivität und Subjektivität zusammen. Die Kulturpessimisten der einen Seite sehen die menschliche Identität und Sozialität ganz von einem zügellosen Individualismus bedroht, dem durch ein stärker normierendes Einwirken entgegen gesteuert werden muss, während die der anderen Seite auf die Uniformierung und Auflösung der Identität in gesellschaftlich reglementierten Bahnen aufmerksam machen und noch immer den Gedanken der Emanzipation propagieren. Gibt es einen Mittelweg? Kann das Projekt der Moderne ‚realistischer‘ oder zumindest optimistischer beurteilt werden? An der Subjektorientierung der Moderne wird sich nichts ändern lassen. Die subjektive, individuelle Sicht des Menschen auf die Wirklichkeit, sein selbstbestimmtes und selbstbewusstes Handeln, wie die Bildung seiner Identität vor einem nicht mehr einheitlichen Horizont werden sich nicht rückgängig machen lassen; damit aber auch nicht die Gefährdung: „Niemals können wir zu dem Zeitalter zurückkehren, in dem sich die Menschen noch nicht von diesen ichbezogenen Formen verlocken und anregen lassen konnten.“243 Andererseits wird aber die Abhängigkeit von anderen, vielleicht nicht mehr von einer allumfassenden Gesellschaft oder Institution, ebenso wenig aufzulösen, ja noch höher zu veranschlagen sein, da die Beheimatung im gesellschaftlichen Ganzen durch andere kleinteiligere Bezugssysteme und neue soziale Konstellationen ersetzt werden muss. Ein alles umschließendes System – politischer, religiöser oder weltanschaulicher Art – kommt nicht mehr zustande, aber die Notwendigkeit der Orientierung des Einzelnen im sozialen Raum hat sich nicht aufgelöst, noch auch die Suche nach Anerkennung. Charles Taylor hat deshalb den Begriff der „Authentizität“ eingeführt, der die zentrale Rolle in (s)einer Beurteilung der Moderne spielt, die wie243

Taylor, Unbehagen an der Moderne, 88.

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derum entschieden mit dem Kulturpessimismus beider Provenienzen bricht. Das neuzeitliche Ideal der Autonomie und Selbstverwirklichung schließt nämlich nicht automatisch die Vermittlung der Selbstbestimmung mit der Existenz der anderen Menschen aus, vielmehr kommt die Vorstellung der Authentizität nur dadurch zustande, dass zunächst einmal die eigene Individualität vor dem Forum der anderen antizipiert wird. Nur im Dialog und der Begegnung kann mir meine eigene Originalität und Individualität im Vollsinne aufgehen. In unserer Terminologie heißt das, dass auf dem Hintergrund numerischer Identität und Individualität die Tiefe der personalen Identität und Einmaligkeit erschlossen werden kann. Wird aber Authentizität nur im Dialog mit meiner sozialen Umwelt gewonnen, dann legt es sich auch nahe, dass sie sich ebenfalls (nur) in Beziehung zu ihr ausleben lässt: Die Authentizität ist augenscheinlich selbstbezüglich, denn im Einzelfall geht es um meine Orientierung. Das bedeutet aber nicht, daß auf einer anderen Ebene auch der Inhalt selbstbezüglich sein muß, daß also meine Ziele die eigenen Wünsche oder Bestrebungen im Gegensatz zu etwas über sie Hinausgehendem ausdrücken oder verwirklichen müssen. Es kann durchaus sein, daß ich meine Erfüllung in Gott, im politischen Engagement oder in der Landschaftspflege finde.244

Subjektivität bedeutet also nicht automatisch Subjektivismus oder Individualismus, vielmehr sind diese ‚Ismen‘ weiterhin als Verfallsformen zu betrachten und zu benennen – die überdies nur im Rahmen einer sozialpsychologischen Pathologie adäquat thematisiert werden können. Der Begriff der Subjektivität verweist bei Taylor – wie bei Ricoeur und Henrich – also auf die innere Dynamik, die das Subjekt über sich hinaus in den Raum der Intersubjektivität führt, um einerseits im sozialen Austausch Anerkennung und Identität zu gewinnen, andererseits aber in Übereinstimmung mit und Abgrenzung zu ihr aus der inneren Tiefe heraus zu handeln. Die Identitätstheorie findet somit zu den Vorstellungen des „guten Lebens“ und gelungener Identität zurück und bestimmt diese als Balance zwischen Anerkennung und Autonomie, als Selbstverwirklichung nicht ohne, gegen oder auf Kosten des Anderen, sondern mit ihm. Auch die empirische Analyse alltäglicher Identitätsarbeit scheint diese Sicht der Dinge weitgehend zu stützen. Dennoch kann eine solche Identitätstheorie und Ethik – angesichts der breiten Strömung der Identitätsdiffusion und des Individualismus – nur als Appell an die Gewissen der Einzelnen verstanden werden, als Aufklärung (der Konstitutionsbedingungen) „authentischer Subjektivität“245. Wie der Theologie steht der Philosophie hier nur das Mittel des Wortes zur Verfügung, kann sie Identität und Welt zunächst nur anders und mit dem An244 245

Ebd., 93/94. A. Ferrara, zitiert nach Keupp, Identitätskonstruktionen, 269.

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spruch auf Wahrheit interpretieren. Verändern könnte sie die Lage nur über einen neuen Zugriff auf die Identitätsbildungsprozesse und somit durch die Gestaltung der Sozialisationsbedingungen insbesondere der Heranwachsenden.246 In einer Welt der Unterbewertung der Geisteswissenschaften, der Tiefen- und Oberflächenästhetisierung und auch des zügellosen Kapitalismus, in dem der Einzelne lediglich als Konsument thematisiert wird, erscheint das als immer schwieriger zu verwirklichende Aufgabe. Es handelt sich also zunächst (nur) um Appelle, was in den Ausführungen Taylors deutlich wird: (Wir sollten) uns bemühen, die Menschen dazu zu überreden, daß die Selbstverwirklichung weit davon entfernt ist, uneingeschränkte menschliche Beziehungen und Forderungen, die von Instanzen jenseits des eigenen Ich gestellt werden, auszuschließen, und in Wirklichkeit solche Beziehungen und Forderungen in einer gewissen Form verlangt. Bei dieser Auseinandersetzung sollte nicht für oder wider die Authentizität gekämpft werden, sondern es sollte um sie selbst, d.h. um eine Bestimmung ihres eigentlichen Sinns gerungen werden. Wir sollten versuchen, diese Kultur wieder emporzuheben, so daß sie näher an das sie motivierende Ideal heranrückt.247

2.4 Zur Unabschließbarkeit der Identitätsdiskurse Zur Unabschließbarkeit der Identitätsdiskurse 2.4.1 Die doppelte Verborgenheit des Selbst Im Durchgang durch die Identitätsdiskurse und -theorien ist deutlich geworden, dass der Identitätsbegriff eine Spannung zwischen zwei Polen oder zwei Fragebereichen aufweist. Es geht immer um das Verhältnis zwischen personaler und sozialer Identität, zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Subjektivität und Intersubjektivität. Die Relation, wie auch die Relate können zwar in unterschiedlicher Weise, mit Hilfe des entsprechenden philosophischen, soziologischen oder psychoanalytischen Instrumentariums, benannt und beurteilt werden, dennoch wird jede ernstzunehmende Identitätstheorie eine Vermittlung beider Pole anstreben. Die Attraktivität des Identitätsbegriffes liegt wohl darin, dass diese Zweipoligkeit umfasst bzw. thematisiert werden kann. Aber auch die Schwierigkeiten bei der Bestimmung dessen, was mit „Identität“ – nicht nur im ‚vorkritischen‘, ‚profanen‘ Gebrauch – gemeint ist, resultieren aus dieser 246

Die hier rekonstruierten Identitätsdiskurse müssten nun also in einen ethischen Diskurs übergehen bzw. durch einen solchen ergänzt werden. In einem solchen Diskurs wäre insbesondere der Begriff der Bildung identitätstheoretisch zu profilieren und die Identitätstheorie normativ auszuwerten, etwa indem Identität und Integrität verbunden würde. Das kann hier allerdings nur als bleibende Aufgabe angezeigt werden. 247 Taylor, Das Unbehagen, 83.

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Dynamik. Einerseits wird also die soziale Identität, der Ort in der Gesellschaft gesucht, zumal er in der Spätmoderne nicht mehr fest zugeschrieben wird. Das Gefühl der Beheimatung und Verbindung zum Ganzen, aber auch die Einzigartigkeit und Einmaligkeit, die im (sozialen) Weltzusammenhang aufgehen kann, lässt sich als Hintergrund des Strebens nach Einheit und Identität verstehen. Andererseits erlebt sich der Einzelne aber auch als ein Wesen mit Tiefe, als ein aus sich heraus handelndes und autonomes Subjekt. Individualität wird hier als Gefühl der Jemeinigkeit und des Wissens von sich als einzelnem, unverwechselbarem Menschen erlebt. Als solcher lässt er sich nicht auf seine soziale Identität reduzieren, sondern wird vielmehr durch eine innere Dynamik in den Prozess des Lebens, in die Vermittlung mit den Zuschreibungen von außen, gezogen. Zuletzt – im subjektivitätsphilosophischen Diskurs – zeigte sich aber, dass das Durchdringen von Subjektivität mit Hilfe der Reflexion nicht möglich ist, da es in einem Zirkel endet. Es handelt sich beim menschlichen Leben um ein – existentialistisch ausgedrückt – „Geworfensein“ in das Sein als autonomes Ich. Der Mensch ist gleichsam eingesetzt in das selbstbewusste Sein bzw. Werden; und dieses Sein und Werden kann er nur vollziehen, ausleben, ohne sich darin in der Tiefe zu verstehen. Bezeichnet man den unfassbaren Grund dieses Seins mit dem Begriff des Selbst, dann muss man also von der Selbstentzogenheit oder Selbstverborgenheit sprechen, von einem „hidden self“ (William James).248 Der Mensch kann seinen Ursprung nicht fassen, er bleibt sich bei aller Vertrautheit immer auch fremd. Deshalb ist der Begriff der Selbstverwirklichung nicht gegen Missverständnisse geschützt. Denn wenn mein Selbst mir verborgen bleibt, wie kann ich es dann verwirklichen? Selbstverwirklichung kann eigentlich nur bedeuten, das zu verstehen, was das Leben von sich und von mir selbst zu verstehen gibt, um daraus eine narrative Einheit herzustellen, die mir erlaubt, selbstbestimmt zu handeln. Dieses Selbst ist dann aber (nur) ein Produkt meiner Konstruktionsleistung, welches ich angesichts des ‚wirklichen‘ Lebens zu verwirklichen suche. Greife ich auf mein Selbst auf dem Weg der Selbstreflexion aus, dann greife ich ins Verborgene. Hier kommt dann aber auch die zweite Verborgenheit des Selbst in den Blick. Indem der Mensch sein Gestern rekonstruiert und sich ins Morgen hinein entwirft, greift er auch auf sein Leben als eine raum-zeitliche Einheit aus, die er nicht überblicken und in diesem Zugriff noch verfälschen kann. Auch indem ich über mich selbst hinausgehe und die Welt und meinen Standort in ihr zu verstehen suche, komme ich zu keiner klaren, völlig kon248

Hier sei noch einmal auf die Bestimmung des Begriffs der Gottebenbildlichkeit als eine Kategorie der Selbstentzogenheit, etwa bei Moxter, hingewiesen. Vgl. oben 1.1.1.

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sistenten Antwort. Selbst der Gedanke der Einmaligkeit, der nach Robert Spaemann direkt mit der numerischen Identität zusammenhängt, ist deshalb eher als eine ‚Ahnung‘ zu verstehen. Denn aus dem Gedanken des Allgemeinen lässt sich zwar der des Besonderen und Einzelnen ableiten, wie aber das Leben des Einzelnen dann genau zu bestimmen ist, darüber entscheidet wiederum eine genaue Bestimmung des Allgemeinen. Wie oben erwähnt, müsste man aber zur vollen und wahrheitsgemäßen Erfassung des Allgemeinen eine absolute Position – jenseits von Raum und Zeit – einnehmen. Das „wahre Selbst“ (C.G. Jung) ist auch in dieser Hinsicht dem endlichen, bedingten Menschen nicht zugänglich. Wenn es nun aber so ist, dass die beiden Pole der Identität (Selbst und Welt) ins Undurchdringliche auslaufen, dann wird die Identität eines Menschen keine absolut bestimmbare Instanz (mehr) sein. Identität wird dann – als nur relative Einheit von Selbst und Welt – zur Frage, sie wird Gegenstand der Suche des Einzelnen, sie wird zur regulativen Idee von Authentizität. Der Einzelne hat in der Frage nach seiner Identität dann folgende Fragen lebenslang abzuarbeiten: „Wer bin ich?“ und „Wer ist der andere?“ – auf die Beziehung zum gesamten Seienden erweitert: „Was ist die Welt?“ In diachroner Perspektive können sich diese Fragen dann in die nach der Herkunft („Wo komme ich her?“) wie nach der Zukunft („Wo gehe ich hin?“) ausfalten und sich wiederum auch auf die Herkunft und das Schicksal der Welt ausdehnen. Die Identitätssuche kommt in diesem Fragen und im Vermitteln der beiden Fragerichtungen prinzipiell nie zu einem Ende. Die Identitätsvorstellung verweist deshalb auf eine niemals abschließbare Suchbewegung, die unter der oberflächlichen Statik, die der Identitätsbegriff suggerieren mag, in jedem Fall verborgen mitläuft. Der Mensch ist in seiner Tiefe als ein Wesen der Frage anzusehen, der sich aber gerade im Vollzug der Suche, im Fragen ausbildet. Noch weiter gefolgert besteht menschliche Reife gerade darin, dass das Fragen nicht zum Stillstand kommt, sondern sich intensiviert, ohne dass die erfahrene radikale Fraglichkeit in Skepsis oder Pessimismus umschlägt. Das Leben gewinnt an Tiefe, wenn sich der Mensch als ein solches Wesen der Frage zu verstehen lernt und die Bildung in diesem Prozess bejaht und aus freien Stücken mit vorantreibt.249

249 Eriksons Charakterisierung der achten Stufe im Lebenszyklus bzw. des „reifen Erwachsenenalters“ als „Integrität gegen Lebens-Ekel“ (Identität und Lebenszyklus, 150/151) lässt sich als Illustration hier anfügen. Auch bei Erikson ist eine Integrität des Fragens, eine spannungsvolle Identität gemeint, die aber nicht mehr in eine Diffusion abgleitet, sondern vielmehr als ‚unversehrte‘ die relative Einheit und Ganzheit des Lebens bejaht.

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2.4.2 Die Identität als Frage Dabei können die Intensität und vor allem die Spannweite des Fragens nach Identität zwischen den Menschen stark differieren. Überdies können sich im Lebenslauf Veränderungen ergeben, so dass sich die Identitätsfrage dann soweit zusammenzieht, dass sie sich weitgehend auf das Verhältnis zum näheren Lebensumfeld beschränkt. Identität kann dann durch die Einbettung in einem sozialen Zusammenhang als sichere Größe gelten. Man weiß dann, wer man ist; man hat Identität. Auch das andere ist denkbar, dass eine Person ihre Identität gerade durch Abgrenzung von den anderen allein aus sich selbst zu gewinnen meint. Wie wir sahen bezeichnet gerade der postmoderne Narzissmus die Möglichkeit, sich allein vor dem Selbstbild eines autarken unhinterfragten Selbst Identität zuzuschreiben. Diese ‚Identitäten‘ wiederum können aber in die Krise geraten – und damit an der analysierten kollektiven Krise partizipieren –, wenn sich der enge Horizont, vor dem sie sich bestimmen lassen, weitet oder Risse bekommt. Zudem gibt es noch immer eingrenzbare Abschnitte im Lebenszyklus, in denen die Krise aufgrund biologischer und psychischer Veränderungen besonders virulent wird. Schaut man überdies mit Hilfe des sozialen Interaktionismus noch genauer hin, dann erscheint schon die alltägliche Identitätsarbeit als ein ständiges In-die-Krise-Geraten und als Bearbeitung und Überwindung dieser Erfahrung. Nur, die Erfahrung einer Identitätskrise provoziert nicht automatisch die weit ausgespannte Frage nach Grund und Ziel des eigenen Lebens. Der Alltag und selbst die meisten Krisen können durch relativ geringe Veränderung am Selbst- und Weltbild bewältigt werden. Doch die Frage kann an die Oberfläche treten, wenn es etwa zu existentiellen Krisen kommt, in denen der Horizont zerreißt, vor dem die Identität gebildet wurde bzw. die Identitätsfrage zur Ruhe kam. In den „Grenzsituationen“ (Karl Jaspers) des Lebens, angesichts von Krankheit und Tod, aber auch in Glücksmomenten, kann sich die ganze Weite und Undurchsichtigkeit des eigenen Lebens eröffnen und die Identitätsfrage den Charakter einer ‚letzten Frage‘ bekommen. Es lässt sich deshalb schließen, dass eine Theorie erst dann zu einem adäquaten Verständnis von „Identität“ kommt, wenn sie die volle Spannweite der Identitätsfrage entfaltet, oder zumindest entfalten kann, und gegen jede Statik die Unabschließbarkeit der Identitätssuche betont. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Identitätstheorie die Aufgabe hat, jegliche Sicherheit und Beheimatung zu erschüttern, und sich damit zum Vollstreckungsgehilfen postmoderner Fragmentierungsprozesse zu machen. Im Gegenteil, gerade indem sie die Fragmentarizität des Lebens analysiert und auf die doppelte Verborgenheit des Selbst aufmerksam macht, klärt sie die Sphäre von Subjektivität und Intersubjektivität auf, in der das dem Menschen ein-

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gestiftete Einheitsstreben zu Tage tritt. Die Fähigkeit zur Akzeptanz einer nur relativen Einheit und Ganzheit soll durchaus gestärkt werden; ein SichEinrichten im eigenen oder zugeschriebenen Identitätsgehäuse, in dem man mit allem fertig ist, soll hingegen desavouiert oder – wenn man nun so will – dekonstruiert werden. Auch in diesem Zusammenhang sind die ethischen Konsequenzen einer Identitätstheorie zu bedenken.

2.5 Der Aufstieg der Identitätsvorstellung – Eine Bilanz Der Aufstieg der Identitätsvorstellung – Eine Bilanz 2.5.1 Gründe für den Aufstieg Mit der zuletzt behaupteten Selbstverborgenheit und Fraglichkeit der Identität ergibt sich die Rückfrage, inwiefern sich überhaupt von einem Aufstieg der Identitätsvorstellung sprechen lässt. Die These vom Aufstieg bzw. Abstieg beinhaltet, dass es sich zum einen um den Relevanzgewinn bzw. -verlust der Vorstellung handelt, zum anderen um die wachsende oder abnehmende Häufigkeit der Verwendung des Begriffs, was wiederum auf seine Eignung aufmerksam macht, die aktuelle Problematik zu erfassen. Im Blick auf diese beiden Aspekte kann man tatsächlich im umfassenden Sinne von einem Aufstieg des Identitätsbegriffes sprechen. Denn es haben sich im Durchgang durch die Identitätsdiskurse die Vermutungen bestätigt, dass sich im Zuge der Modernisierung und sozialen Differenzierung das Problem der Identitätsbildung verschärft hat, wie auch der Drang, dieser Dauerkrise der Identität durch den Ausdruck der inneren Tiefe – mit Authentizität – zu begegnen. Der Identitätsbegriff hat sich als geeigneter Verwalter dieser Lage erwiesen, insofern er das Ausmitteln der eigenen Position vor dem komplexen Horizont des eigenen Selbst- und Weltbildes, wie vor der faktisch gegebenen Umwelt, bezeichnen kann. Er konnte sogar den umfassenden Angriff einer postmodernen Anthropologiekritik überstehen, der angesichts der Zersetzung des einenden Horizontes auch die Vorstellung von der (absoluten) Identität zersetzen wollte, dabei aber auf dessen widerständiges Einheitsstreben traf, das aus der Dynamik des Einzelnen Einheit synthetisiert. Es ist festzuhalten, die Eignung und die Widerständigkeit des Begriffes sind auf dessen relationalen Charakter zurückzuführen.250 Ihm inhäriert eine Beziehung, ohne diese ausdrücklich zu nennen. Im Begriff „Identität“ wird die Erfahrung gleichsam aufgespeichert – da im absoluten Gebrauch die

250

seipso.

In der Theologie spricht man von „coram“-Strukturen: coram deo, coram mundo, coram

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„adjektivische Form ‚ist identisch mit‘ wegfällt“251 –, dass die Beantwortung der Frage: „Wer bin ich?“ immer an ein Relat gebunden ist, vor dem sich die Antwort abzeichnet. Wer bin ich – vor meinem Freund, vor meinem Partner? Wer bin ich – vor mir selbst, vor der Gesellschaft oder vor Gott? Das heißt zunächst, dass der Gebrauch des Begriffs Identität eigentlich nur Sinn macht bzw. der jeweilige Sinn der Rede von „Identität“ nur erhoben werden kann, wenn die Identitätsrelation in den Blick genommen wird, die jeweils aktiviert ist. Es müsste also eigentlich im Detail die jeweilige Beziehung benannt werden: Von welchen Instanzen wird Selbigkeit ausgedrückt? Welche Relate werden miteinander identifiziert? Da der Mensch aber in einer Mannigfaltigkeit von Bezügen und Beziehungen steht, da die Interdependenzen, in denen sich das Leben des Einzelnen vollzieht, höchst komplex sind und es sich letztlich um einen ‚Identitätshorizont‘ handelt, vor dem sich die Identität eines Menschen bestimmt – der zudem noch in der Entwicklung begriffen ist – wären diese Einzelanalysen in jedem Falle defizitär. Im Blick auf die Identität eines Menschen geht es aber gerade darum, eine Ganzheit zu synthetisieren, ein handhabbares Selbstbild zu entwerfen, mit dem er leben kann. Die Identitätsvorstellung reduziert nun diese Komplexität, aber gerade nicht, indem sie einzelne Beziehungen herausgreift und Identitätsrelationen festschreibt und definiert, sondern indem sie gleichsam die Relationen in das Prinzip der Relationalität hinein auflöst. Er bezeichnet nur das InBeziehung-Sein, gerade ohne die Relate ausdrücklich zu nennen. Er thematisiert das bloße Bezogensein des Einzelnen auf das Ganze, das Bezogensein des Individuums auf die ihn umgebende Welt. Wenn das ‚Ganze‘ aber in der Spätmoderne zerfallen ist, so bleibt allein die Relationalität und das Prinzip der Ganzheitssuche übrig. Die Attraktivität des Identitätsbegriffs liegt deshalb gerade in seiner Unbestimmtheit. Es ist letztlich ein Problem thematisiert, das jeder hat, das von keinem völlig durchdrungen wird, und das jeder anders zu lösen versucht. Dabei scheut der spätmoderne Mensch auf der Suche nach seiner Identität die Konkretion bzw. die Festlegung, etwa indem er seine Identitätsbildung an der Instanz Gott orientiert und damit eine Relation als grundlegende priorisiert. Die Erfahrung von Kontingenz, das Bewusstsein der Fraglichkeit aller ehemals festgefügten weltanschaulichen Instanzen lässt eine solche Begrenzung und Verbindlichkeit als irrationale Fixierung der eigenen Identitätssuche erscheinen.252 Dem hingegen stellt die Weite und Unbe251

Roughley, Einführung, in: Identität, Leiblichkeit, Normativität, 19. Man könnte etwa das monastische Leben in einer klösterlichen Gemeinschaft, das sich durch sexuelle Enthaltsamkeit, Besitzverzicht und Gehorsam auszeichnet, geradezu als Gegenbild zum gesellschaftlich leitenden Identitätsideal verstehen. 252

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stimmtheit des gesellschaftlichen Prozesses den Hintergrund für die Bildung des eigenen Identitätsideals dar – ein Ideal, das auch die Aufgabe hat, gerade die Realität des Zerfalls auf allen Ebenen erträglich zu machen. Man kann das freilich als postmoderne Beliebigkeit und realitätsferne Träumerei abtun, in der insbesondere übersehen wird, dass auch, wenn man keine Relation mehr ausdrücklich hervorheben will, so doch ein Bestimmtwerden in jedem Fall gegeben ist – nun eben durch die pluralisierte Gesellschaft –, allerdings ist das gerade die gesellschaftliche Verhaltenserwartung an das Individuum, nämlich: Flexibilität und Mobilität. Die Identitätsvorstellung suggeriert, dass das Leben ein offener Prozess, ein offenes Spiel ist und betont die Freiheit des Akteurs. Die Identitätsvorstellung legt damit ein Ideal nahe, dass die Heteronomie des Individuums im Blick auf den gesellschaftlichen Prozess durch dessen Autonomie überzeichnen will. (Ob das der faktischen Lebenswirklichkeit entspricht oder nicht, ist eine zweite Frage.) Oder anders formuliert: Die zugeschriebene Identität in der klassischen Moderne bezeichnete das Set klarer, etwa rollenorientierter Verhaltenserwartungen. In der Spätmoderne ist es nun aber gerade seine Individualität, die dem Einzelnen als soziale Identität zugeschrieben und zugemutet wird. Die vom Individuum geforderte Konsonanz mit dem Weltgefüge soll sich gerade darin verwirklichen, dass der Mensch sich selbst ergreift und selbstbestimmt seine Individualität auslebt bzw. darin seine Identität ausbildet. Insofern müssen die Vorstellung und der Begriff der Identität notwendig unter- bzw. unbestimmt bleiben, handelt es sich doch gerade um ein individuelles Ideal. Weil also der Identitätsbegriff hier alle Freiheiten und Beliebigkeiten lässt, konnte er in einer pluralisierten Welt so fulminant aufsteigen. 2.5.2 Die Identitätstheorie als Suche nach relativer Einheit des Menschenbildes Die These vom Aufstieg wird außerdem durch die Breite der anthropologischen Bemühungen, die sich unter dem Stichwort „Identität“ zusammenfinden können, gestützt und darin abgebildet. Jede Wissenschaft vom Menschen wird dabei ihren eigenen Identitätsbegriff ausbilden; auch hier bestimmt wieder der Horizont den Umgang und die Beantwortung der Thematik. Die neue Identitätsterminologie und deren Unklarheit – oder besser Unbestimmtheit – scheint dabei einen neuen, innovativeren Zugang auch zu grundsätzlichen Aussagen über den Menschen aus der eigenen Perspektive zu provozieren. Es eröffnen sich Spielräume, die gerade daraus resultieren, dass nicht mehr in voller Breite gefragt wird: „Was ist der Mensch?“ Denn damit werden die scheinbar alten Diskussionen und An-

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sprüche nicht weiter prolongiert und der Schwierigkeit aus dem Weg gegangen, zunächst über den Begriff des Menschen verhandeln zu müssen. Die Hoheit der Philosophie, zuletzt die der philosophischen Anthropologie Schelers und Plessners und der Fundamentalontologie Heideggers, als Instanz, die ein einheitliches Menschenbild erarbeiten und umreißen kann, wird in der Identitätstheorie gebrochen bzw. als gebrochen vorausgesetzt. Das bedeutet sicherlich eine nachhaltige Erschütterung des Urvertrauens zur Einheit der menschlichen Selbst- und Welterkenntnis. Doch diese konnte im vielfarbigen Identitätsbegriff nun Ausdruck und Bearbeitung finden, und der ausdifferenzierte Kanon der Humanwissenschaften bekam in der Kategorie „Identität“ eine begriffliche Instanz relativer Einheit.253 Damit hat die Frage nach dem Menschen im Bereich der Identitätstheorie zunächst also an Breite und Facetten gewonnen. Und dieser positive Aspekt ist nicht gering einzuschätzen. Denn die Anthropologie hat zwar ihre Einheit verloren, aber damit hat sich gleichzeitig das Wissen vom Menschen ausgedehnt und vervielfacht. Die einzelnen Wissenschaften fördern immer weiter Neues zu Tage, verfeinern ihre Erkenntnisinstrumente und verändern das Bild des Menschen zusehends. Der Identitätsbegriff bietet die Chance, dass die Entwicklung der Wissenschaften miteinander vermittelt werden, was auch bedeutet, dass sich einzelne Theorien kaum noch verabsolutieren können, zumal sie nur eine relative Sicht mit einbringen und durch andere Positionen begrenzt werden. Diese spätmoderne Entwicklung bedeutet also nicht unbedingt (nur) Zerfall, sondern kann das Gespräch der Disziplinen auf eine relative Einheit hin fördern.254 In der Erörterung der Identitätsdiskurse konnte überdies kaum sauber zwischen den einzelnen Disziplinen unterschieden werden. Genauso wenig konnten die vermeintlich empirischen von den nicht-empirischen Anthropologien getrennt behandelt werden. Unter dem Oberbegriff ‚Identitätstheorie‘ liefen deshalb sowohl philosophische, soziologische, sozialpsychologische, psychoanalytische als auch – aus Raumgründen kaum thematisierte – naturwissenschaftliche Einsichten zusammen. Die Identitätstheorie kann also analog zur Verwendung des Begriffs Identität im Leben des einzelnen Individuums, als Suchbewegung der Wissenschaften vom Menschen verstanden 253

Vgl. hierzu Anette Barkhaus, Einleitung zu I. Anthropologie zwischen Biologie und Philosophie, in: Identität, Leiblichkeit, Normativität, 31: „Der von einigen Beiträgen eingeschlagene Weg, Biologie, Soziologie und Philosophie zu einer gemeinsamen Anstrengung zu bewegen, stützt sich auf die Annahme, eine solche Vermittlung entlang des Begriffs der Identität leisten zu können.“ 254 Unter Einheit soll hier die gemeinsame Beschäftigung mit den Phänomenen verstanden werden, was nicht bedeutet, dass man zu den gleichen Ergebnissen kommt, etwa im Blick auf das Verständnis personaler Identität und dem zugrundeliegenden Verhältnis von Natur und Geist. Vgl. hierzu den anregenden Aufsatz von Dieter Kuhlmann, Biologische Möglichkeiten zum Entstehen von Identitätsvorstellungen, in: Identität, Leiblichkeit, Normativität, 36–57.

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werden. Wie das einzelne Individuum nach Identität fragt und sucht, so wird auch die Identitätstheorie gleich welcher Provenienz als der Versuch zu werten sein, mit den je eigenen Mitteln und aus der entsprechenden Perspektive einen konsistenten, immer aber begrenzten Begriff von Identität zu finden. Dabei kann der Begriff der Identität eine heuristische Hilfe sein, die die Phänomenbreite des Menschlichen gerade nicht zusammendrängt, sondern zugänglich macht. Hiermit hängt nun aber auch ein weiterer Aspekt zusammen, der nun allerdings Zweifel aufkommen lässt, ob es sich wirklich um einen „Aufstieg“ im Blick auf die Sache handelt. Das Motiv des Aufstiegs suggeriert nämlich, dass es sich auch um einen Erkenntnis- und Wahrheitsgewinn handelt, dass sich nun Probleme lösen lassen, die zuvor nicht lösbar erschienen. Genau das scheint aber nicht der Fall zu sein, vielmehr ist die Beantwortung der Frage: „Was ist der Mensch?“ in immer weitere Ferne gerückt. Freilich, es ist deutlich geworden, dass diese Frage mit den Mitteln menschlicher Erkenntnis im Vollsinne nicht zu beantworten ist, das jedoch wusste schon die Anthropologie vor dem vermeintlichen Aufstieg des Identitätsbegriffs. Aber manche Identitätstheorie gerät in die Gefahr, mit dem Misstrauen gegenüber einheitlichen Antwortversuchen auch die Suchbewegung zu früh abzubrechen. Wir sahen, dass die Identitätsfrage in der doppelten Verborgenheit des Selbst ausläuft und dass sie damit zu einer Frage nach dem Absoluten wird, also auf das Feld der Metaphysik und Religion übergeht. In der idealistischen Philosophie nahm man sogar eine letzte Einheit der beiden Identitätspole an und folgte der „Explikationsbewegung“ der Selbstbeziehung, „über die sich das Wissen von sich zum Wissen von Grund und Welt ausfaltet, womit die Philosophie zum System werden sollte.“255 Durch den Relevanzverlust der Gottebenbildlichkeit, vor allem im Zuge der Religionskritik, wie auch durch die Kritik am absoluten Subjekt, geriet dieser Weg aber in die Krise. Die Identitätstheorie schlug nun aus dieser Krise ihr (Anfangs)Kapital. Der Identitätsbegriff lässt sich deshalb geradezu als Verwalter der Konkursmasse des absoluten Subjekts, der absoluten Identität und damit der Gottebenbildlichkeit – insofern mit dieser Vorstellung die endliche Einheit an der absoluten Einheit Gottes gewonnen wurde – verstehen. Problematisch wird diese Verwaltung allerdings, wenn auch noch die letzten Einheitsbestrebungen und nicht nur die Absolutheit aufgegeben werden. Das Eingeständnis der Philosophie: „In diesem Sinn kann Subjektivität uns nicht mehr Prinzip sein“256 wird dann dahingehend radikalisiert, dass in gar 255 256

Henrich, Bewußtes Leben, 71/72. Ebd., 72.

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keinem Sinne mehr vom Subjekt, d.h. von einem solchen, das auf einen jenseitigen Grund verweist, gesprochen werden kann.257 Die (Frage nach der) Identität droht dann aber zur rein immanenten Angelegenheit zu werden. Die Analyse des „me“ oder auch des faktischen Antagonismus von „I“ und „me“ umfasst dann alles, was es zum Thema Identität zu sagen gibt. Der Mensch wird dann aber nur noch vor der Welt und vor sich selbst – als dessen Produkt – bestimmt; metaphysische Fragen werden für obsolet erklärt oder in den dunklen Bereich der Religion lediglich abgeschoben.258 Doch die – vorsichtiger ausgedrückt – Abstinenz insbesondere mancher soziologischer Identitätstheorie im Blick auf ‚letzte Fragen‘ und das Verharren in der Detailanalyse der Synthese von Identität ist angesichts der oben beschriebenen Aufgabe, nämlich den Einzelnen in seiner Einheitssuche zu stärken und zu stützen, als kontraproduktiv zu bewerten. Im Grenzgebiet der Identitätstheorie warten (alte) metaphysische Fragen, aber auch die Antwortversuche philosophischer und theologischer Anthropologie. Wer sie ausblenden will, der sehe zu, dass die Identitätsvorstellung nicht zum „Schwundtelos und (zur) Mini-Essenz“259 verkommt. 2.5.3 Identitätstheorie und theologische Anthropologie Analog zum Aufstieg des Identitätsbegriffs lässt sich der Abstieg des Gottebenbildlichkeitsbegriffs als Relevanzverlust der Vorstellung und geringe Eignung der Kategorie für die säkulare Anthropologie und das nichtreligiöse Selbstverständnis der Menschen verstehen. Allerdings hat dieser Abstieg nicht zu einer völligen Eliminierung des Themas geführt, sondern dieses hat sich im Rahmen postmoderner Pluralität einerseits auf das Feld explizit religiöser bzw. christlicher Anthropologie zurückgezogen, andererseits aber in die latente, weit ausgreifende Frage nach dem Grund und dem Ziel von Identität verwandelt – die allerdings nur mehr oder weniger ge257 Hagenbüchle (Subjektivität, 78) hat die Entwicklung pointiert resümiert: „‚Vom Subjekt zur Subjektivität‘, so könnte man die Geschichte des modernen Subjekts seit Descartes kurz und prägnant betiteln. Damit hätte Foucault auf unerwartete Weise recht behalten.“ Aber so fährt er später fort: „Die Geschichte insgesamt erweist sich bei näherem Zusehen als fortlaufender Wechsel von Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion des Subjekts.“ Vgl. dazu auch Henrichs Ausführung zum Einfluss der Frankfurter Schule (Inflation in Subjektivität?, 224): „Aber ihr Grundgedanke, Subjektivität auf gesellschaftliche Wirklichkeit hin zu hinterfragen und in einem damit die Theorie der Subjektivität auf Intersubjektivität umzuorientieren, hat nicht mehr den Schub hinter sich, der denen zugute kommt, die dem, was in Tendenzen der Zeit angelegt ist, mit triftigen Argumentationen in einer Theorieform entsprechen.“ 258 Wolfram Fischer stellt zu Recht die Frage: Identität – die Aufhebung der Religion? (Der Identitätsbegriff als religionssoziologische Fundierungskategorie, 141–161) 259 Vgl. Marquard, Identität. Schwundtelos und Mini-Essenz, in: Identität, 347–369.

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stellt wird. Deshalb ist der Begriff des Abstiegs auch hier mit Vorsicht zu gebrauchen. Man darf wohl davon ausgehen, dass sich die metaphysischen Fragen nicht einfach aufgelöst haben und der Einfluss religiöser Anthropologie nicht einfach ausfällt. Lässt sich hier aber nun, d.h. in einer Identitätstheorie, die als Identitätsfrage in der doppelten Verborgenheit des Selbst ausläuft, der Kontaktpunkt zur theologischen Anthropologie finden? Finden die Theologie und das christliche Menschenbild hier wieder Zugang zum Selbstverständnis des spätmodernen Menschen? Man mag geneigt sein, hier einfach mit „Ja“ zu antworten, und im Folgenden wird auch die Hypothese vertreten, dass es im Blick auf den Identitätsbegriff zu einer verstärkten Bezugnahme zur theologischen Anthropologie kommen kann und muss. Allerdings gibt es zunächst zwei Aspekte, die es geraten erscheinen lassen, dieses vorkritische „Ja“ zurückzustellen, um es im Durchgang durch zwei gewichtige Entwürfe moderner theologischer Anthropologie, nämlich den Karl Barths und den Wolfhart Pannenbergs, bewähren und aufklären zu lassen. Zum ersten könnte man meinen, aus der doppelten Selbstverborgenheit des Menschen ließe sich mit Leichtigkeit das notwendige Kapital für die theologische Anthropologie schlagen. Weil der Mensch sich selbst verborgen bleibt, Selbst- und Welterkenntnis nicht tief genug reichen, kann die Theologie Abhilfe und Klarheit schaffen, indem sie den Gottesgedanken einführt bzw. ‚ent-deckt‘. Diese Konstruktion kann allerdings in die Gefahr geraten, zu übersehen, dass sich die Sphäre der Verborgenheit nicht nur auf den Menschen, sondern auch auf Gott ausdehnt. Der Begriff der Säkularisierung bezeichnet ja gerade den Prozess des Absinkens der Gottesbeziehung gleichsam in immer tiefere Bereiche der Verborgenheit. Die Theologie wie die Anthropologie kommen also gerade von dieser Erfahrung her, dass nämlich die ‚Selbstverständlichkeit Gottes‘ nicht mehr vorausgesetzt werden kann, sondern vielmehr in Frage steht. Man muss geradezu sagen, dass die Verborgenheit Gottes eine höhere Evidenz besitzt, als die des Menschen selbst. Denn dass sich die Identitätsfrage zur vollen Frage nach dem Grund von Selbst und Welt ausfaltet und der Mensch darin der eigenen Entzogenheit innewird, scheint schon kein obligatorisches Phänomen des Menschseins zu sein. Noch viel weniger muss deshalb, mit zwingender Notwendigkeit, die Vorstellung Gottes als Interpretament der Selbstverborgenheit herangezogen werden. Nimmt man nun also eine dreifache Verborgenheit an, nämlich die des Selbst, der Welt und die Gottes, dann legt sich zwar der Gedanke nahe, dass es sich im Gottesgedanken um das Thema der doppelten Selbstverborgenheit des Menschen handelt, es kann aber gerade nicht erwiesen und erst recht nicht bewiesen werden, dass das der Fall sein muss. Das tertium comparationis liegt zunächst allein in der Verborgenheit des Selbst-, Welt und Gottesverhältnisses. Dass es zu einer Zusammenschau

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und Identifizierung kommt, bleibt ein Postulat der Religion, mithin der theologischen Anthropologie. Überdies entsteht ein zweites Problem, gerade wenn man davon ausgeht, dass der Gottesgedanke die doppelte Selbstverborgenheit des Menschen umfasst, wenn also die Identitätsfrage auf dem Hintergrund der Beziehung zu Gott vom Menschen selbst beantwortet wird. Findet nämlich der Mensch seine Einheit und Identität in seinem Gottesverhältnis und wird damit der Glaube an Gott zur maßgeblichen Identitätsrelation, dann wird auch die Frage virulent, wer dieser Gott eigentlich ist. Die Verborgenheit Gottes wird nun zum eigentlichen und bewegenden Thema, so dass es nun nicht mehr allein um die Identität des Menschen, sondern in erster Linie um die Identität Gottes geht! Die theologische Anthropologie hat deshalb nicht nur die Aufgabe, den Kontaktpunkt zur Anthropologie und damit zur Identitätsfrage des Menschen zu finden, sondern sie muss auch die Identität Gottes klären und diese gegenüber dessen vom Menschen antizipierter Identität – oder den Identitäten – vertreten. Sie hat die Aufgabe, das Gottesverhältnis des Menschen, wie es sich im christlichen Glauben darstellt, zu rekonstruieren und es mit dessen Selbst-, Welt- und Gottesverständnis in Beziehung zu setzen. Die Identitätstheorie kann sich also im Bereich der theologischen Anthropologie zur Religionstheorie entfalten; sie wird dann aber auch zur Religionskritik, im Wortsinne des Unterscheidens – nicht notwendigerweise des Diskreditierens –, fortschreiten. Denn selbst wenn das Phänomen des menschlichen Gottesverhältnisses mit dem in der christlichen Dogmatik rekonstruierten Verständnis der Offenbarung Gottes in Verbindung gebracht würde, so bliebe doch immer eine notwendige Differenz zwischen Religion und Offenbarung, zwischen menschlichem Phänomen und göttlicher Selbstvorstellung. Die theologische Anthropologie hat also die doppelte bzw. dreifache Zielrichtung: die Erhebung der Phänomene des Menschlichen, die Bezeugung der Identität Gottes und – darin – die Vermittlung beider Seiten. Die Komplexität dieser Aufgabe ist schwerlich zu übersehen und ist nicht durch die Formulierung eines einfachen und kohärenten – sondern nur eines höchst dialektischen – Schemas von Frage und Antwort abgegolten.260 Ähn-

260 Hier ist Paul Tillichs „Methode der Korrelation“ (Systematische Theologie, Bd. I, Stuttgart 1956, 73–80) zu Ehren zu bringen. Tillich konzipiert kein einfaches Schema von Frage und Antwort, denn „der Mensch ist die Frage nach sich selbst“ (76). Der Theologe nimmt als Philosoph zwar eine Analyse der menschlichen Situation vor und „ordnet diesen Wissensstoff in bezug auf die von der christlichen Botschaft gegebene Antwort“ (77), aber „sein Sehakt (bleibt) autonom“, so Tillich (78). „Er hält an dem fest, was er gesehen hat, und formuliert seine theologische Antwort neu“ (78). 2

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liches gilt auch für den Begriff des „Anknüpfungspunktes“. Denn wenn der Mensch als Frage bzw. seine Identität in radikaler Fraglichkeit und Verborgenheit von der nicht-theologischen Anthropologie betrachtet wird, dann heißt das noch nicht, dass die Theologie auch die passende Antwort auf die so rekonstruierte Frage geben kann oder auch darf. Ebenso eröffnet die Umkehrung des Schemas, indem man konstatiert: „Fragen erwachsen aus Antworten“261 und die theologische Bestimmung des Menschen als Grund für die Frage bestimmt, allererst den Raum des Fragens, der dann auch wirklich gefüllt werden muss. In beiden Fällen, d.h. gleich ob man den Ausgang bei der Frage oder der Antwort nimmt, muss man sich zwar auf eine vorgängige Einheit beziehen, zumindest auf eine solche, die nicht im Zirkel von Frage und Antwort mit eingeschlossen ist, andererseits aber zu einer gegenseitigen Durchdringung und Bezugnahme gelangen, die die Vermitteltheit allererst darstellt. Die Rekonstruktion der Frage kann sich die theologische Anthropologie genauso wenig abnehmen lassen, wie die der Antwort. Mit anderen Worten: Theologische Anthropologie ist darin theologisch, dass sie im Lichte der – auf dem Hintergrund der jüdischchristlichen Überlieferung – rekonstruierten Gottesbeziehung das Phänomen Mensch betrachtet, und sie ist darin anthropologisch, dass sie in dem rekonstruierten Phänomenbestand die Gottesbeziehung als Grund und Ziel erkennt und zum Tragen bringt; und sie ist nur darin im Vollsinne theologische Anthropologie, dass sie beides aufeinander bezieht und das dynamische Verhältnis näher bestimmt. Das ist eine bleibende Aufgabe262, insofern nicht von einer einmal für alle Zeiten gestellten Frage und gegebenen Antwort auszugehen ist; sondern theologische Anthropologie muss sich immer neu aufs Fragen einlassen und Antwortversuche wagen, will sie eine aktuelle sein und „die Aufgabe (bewältigen), die christliche Wahrheit kommunikabel zu machen“263. Diese komplexe Aufgabe soll nun im Blick auf die Anthropologien von Karl Barth und Wolfhart Pannenberg angegangen werden. Dabei soll herausgearbeitet werden, wie sie jeweils das menschliche Selbstverständnis auf die Bezeugung des christlichen Menschenbildes beziehen und somit das Gespräch zwischen Humanwissenschaften und theologischer Anthropologie anlegen. Das Gegenüber von Identität und Gottebenbildlichkeit soll dabei so etwas wie eine heuristische Hilfe sein – eingedenk der Tatsache, dass Barth etwa (noch) keinen expliziten Bezug zum oben erarbeiteten sozialIn diesem Sinne soll, durch Karl Barths und Wolfhart Pannenbergs theologische Anthropologien kundig geworden, zuletzt die freie aber ‚evangeliumsgebundene‘ Antwort formuliert werden (s.u.: Kapitel 5.). 261 Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, 296. 262 Vgl. dazu Sauter, Mensch sein – Mensch bleiben, 116–118. 263 Hermann Fischer, Tendenzen, 16.

Der Aufstieg der Identitätsvorstellung – Eine Bilanz

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psychologischen Identitätsbegriff nimmt, während Pannenberg diesen Bezug seiner Anthropologie gerade zugrunde legt. Als Leitgedanke kann formuliert werden: Inwiefern ermächtigen Barth und Pannenberg eine „authentische Subjektivität“ (Charles Taylor) aus bzw. in der Gottesbeziehung? Wie sieht die menschliche Identität als Gottes Ebenbild aus?

3. Gottebenbildlichkeit und Identität bei Karl Barth Gottebenbildlichkeit und Identität bei Karl Barth Vorbemerkungen

Vorbemerkungen Im Folgenden sollen die Grundlinien der Anthropologie Karl Barths nachgezeichnet werden, um daran das Gegenüber von Gottebenbildlichkeit und Identität darzustellen. In der Vorordnung des Begriffs der Gottebenbildlichkeit vor den der Identität und der Theologie vor den der Anthropologie soll deutlich werden, dass Barths Denkrichtung gleichsam von oben nach unten, von Gott aus zum Menschen verläuft. Er setzt damit, wie die reformatorische Theologie, bei der Gottesbeziehung ein und vermittelt damit die – wie auch immer erhobenen – anthropologischen Befunde, das Selbst-, Welt und Gottesverständnis des Menschen. Dieser Ansatz, das heißt die „Entscheidung, mit Gott selber zu beginnen“,1 aber freilich auch die Durchführung, hat Barth allerdings den Ruf eines unmodernen bzw. eines vormodernen Denkers eingebracht.2 Er greife nämlich hinter das Grundproblem des modernen Menschen, die Konstitution der Freiheit und Autonomie, auf die vorneuzeitliche Bestimmung durch Gott zurück, so als wolle er den Abstieg der Gottebenbildlichkeit nicht wahr haben; problematischerweise nehme er den Gedanken der Autonomie als Problem zwar auf, ziehe aus dessen Krise aber den Schluss, allein Gott solche zubilligen zu dürfen, unter dessen Herrschaft aber alle menschliche Selbstbestimmung in die Knie ginge. Es ist der diagnostizierte „Grundgedanke der alleinigen Autonomie Gottes“3 (und 1

Pannenberg, Anthropologie, 16. Scharf hat das Odo Marquard (Das Individuum: Resultat oder Emigrant der Religion?, in: Individualität, 161–163, hier 163) formuliert: „So scheint Karl Barths Einspruch gegen diese individualitätsbewußte Theologie (sc. reformatorischer Tradition) – man solle nicht mehr den Menschen, sondern wieder den schlechthin souveränen Gott zum Zentrum der Theologie machen – nicht nur ein Angriff auf die liberale Theologie zu sein, sondern ein Angriff auf die ganze bürgerliche Moderne: die dialektische Theologie ist […] die protestantische Variante des theologischen Antimodernismus.“ 3 So die scharfe und profunde Kritik Trutz Rendtorffs in seinem Aufsatz: Radikale Autonomie Gottes. Zum Verständnis der Theologie Karl Barths (in: ders., Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung, Gütersloh 1972, 161–181, hier 171). Die prominente Grundthese Rendtorffs wird von Falk Wagner und Friedrich Wilhelm Graf in dem Aufsatzband: Die Realisierung der Freiheit. Beiträge zur Kritik der Theologie Karl Barths (hg. von T. Rendtorff, Gütersloh 1975) anhand der einzelnen Teile der Kirchlichen Dogmatik ausgeführt. Graf etwa kommt zu dem Ergebnis: Es „zeigt sich, daß die Entsprechung der Freiheit Gottes und der Freiheit des Menschen als die Entsprechung der abstrakten Herrscher-Freiheit Gottes und der Unterordnungs-Freiheit des Menschen gedacht ist“ (Die Freiheit der Entsprechung 2

Vorbemerkungen

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eines „Offenbarungspositivismus“, der eine „Neu-Orthodoxie“4 nach sich ziehe), der die Theologie Barths, häufig sogar ohne Differenzierung ihrer Entwicklungsphasen, ins Abseits einer überholten theologiegeschichtlichen Epoche stellt.5 Diese Kritik ist überaus ernst zu nehmen, allerdings wird ihr im weiteren die Würde des ‚letzten Wortes und definitiven Urteils‘ verweigert, um im genauen Blick auf das ‚erste Wort‘ der theologischen Anthropologie Karl Barths die Frage der Modernität – und darüber hinaus der Bedeutung für die Spätmoderne – neu zu stellen. Wir sahen ja, dass sich angesichts der beschleunigten Entwicklung der Moderne, ob man nun von einer Post-, Spätmoderne oder einer radikalisierten Moderne spricht, die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Anthropologie, von christlichem Menschenbild und säkularem Selbstverständnis (immer wieder) neu stellt. Vielleicht lässt sich die Position Barths im Pluralismus und in der Vielfalt der Zugänge zur Wirklichkeit doch besser vermitteln als vermutet. Möglicherweise handelt es sich in seiner Anthropologie nicht um eine bloße Destruktion oder Dekonstruktion von Identität, sondern um ihre Rekonstruktion im Lichte Gottes, die erst von da aus auch kritisiert wird. Ermächtigt Barth vielleicht sogar die Vorstellung „authentischer Subjektivität“, nur unter dem Vorzeichen der Gottesbeziehung des Menschen? Wo aber liegen auch die Grenzen des anthropologischen Denkens Karl Barths? zu Gott. Bemerkungen zum theozentrischen Ansatz der Anthropologie Karl Barths, 115). Vgl. auch Gunther Wenz, Neuzeitliches Christentum als Religion der Individualität? Einige Bemerkungen zur Geschichte protestantischer Theologie im 19. Jahrhundert, in: Individualität, 155–160; Michael Menke-Peitzmeyer, Subjektivität und Selbstinterpretation des dreifaltigen Gottes. Eine Studie zur Genese und Explikation des Paradigmas ‚Selbstoffenbarung Gottes‘ in der Theologie Karl Barths, MBTh 60, Münster 2002, bes. 582–587. 4 Vgl. die Auflistung der Urteile über Barths Theologie: Thies Gundlach, Selbstbegrenzung Gottes und die Autonomie des Menschen. Karl Barths Kirchliche Dogmatik als Modernisierungsschritt evangelischer Theologie, Frankfurt a.M. 1992, 14–19. Gundlach formuliert die „zentrale Grundsorge“ im Blick auf die Theologie Karl Barths folgendermaßen: „Daß die protestantische Theologie des 20. Jahrhunderts in der Gestalt Karl Barths die säkularisierte, restlos profan gewordene Neuzeit in ihrer faktischen Gottesvergessenheit gleichsam theologisch aufgebe, sie als verstockt verstehe und daher im Grunde einem ekklesiologisch fixierten Heilsegoismus fröne, der die moderne Welt entweder strafend sich selbst überlasse oder mit einem Gestrüpp normativer Setzungen überziehe“ (19). 5 Hier sind allerdings auch die Vertreter einer Gegenbewegung zu nennen, die Karl Barths Theologie zu aktualisieren versuchen und in den Kontext der Spätmoderne stellen. So vor allem Dietrich Korsch, Dialektische Theologie nach Karl Barth, Tübingen 1996 (bes. 74–92: Theologie in der Postmoderne. Der Beitrag Karl Barths; 146–177: Christologie und Autonomie. Zur dogmatischen Kritik einer neuzeittheoretischen Deutung der Theologie Karl Barths); Ernstpeter Maurer, Sprachphilosophische Aspekte in Karl Barths ‚Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik‘, Frankfurt a.M. 1989 als auch – in problematischer Weise – Thies Gundlach, Selbstbegrenzung Gottes. Vgl. außerdem die Aufsätze von G.J. Ward, Karl Barth‘s Postmodernism, ZDT 1998/1999, Heft 27, 32–51; H.J. Adriaanse, Die Barthrezeption in den neuen hermeneutischen Entwicklungen, ZDT 1998/99, Heft 27, 52–64.

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Gottebenbildlichkeit und Identität bei Karl Barth

In diesen Fragen verbergen sich natürlich schon Vermutungen, auf deren Spuren die Anthropologie Barths neu zum Sprechen gebracht werden soll. Als materiale Grundlage dient dazu die Schöpfungslehre der Kirchlichen Dogmatik (KD), insbesondere die eigentliche Anthropologie in KD III/2, zuvor aber auch schon die schöpfungstheologischen Ausführungen in KD III/1 und die Verschränkung von „Beruf“ und „Berufung“ später in KD III/4, die insbesondere im Blick auf das Verständnis von Identität und Subjektivität bei Karl Barth von Bedeutung ist. An den Spekulationen über die genaue Abgrenzung von Entwicklungsphasen oder Brüchen im anthropologischen Denken Karl Barths werde ich mich nicht (in extenso) beteiligen, so dass sich die Gültigkeit der Aussagen weitgehend auf die (Anthropologie der) KD beschränken.6 Der Duktus der Darstellung ist eng an den der KD angelehnt. Wo der Gedankengang Barths unterbrochen und durch Umstellungen oder Sprünge verändert wird, weise ich ausdrücklich darauf hin. Die Fragestellung und der begrenzte Raum dieser Arbeit lassen eine allseits befriedigende Aufarbeitung der Anthropologie nicht zu, was insofern nicht allzu schlimm ist, als auf viele Einzeluntersuchungen, besonders auf die gründliche Monographie von Konrad Stock verwiesen werden kann.7 Nach einer Besinnung über das Verhältnis von Theologie und Anthropologie zu Beginn (3.1), die insofern schon in medias res führt, als hier noch einmal die spezifische Differenz des Ansatzes Barths zu anderen theologischen Anthropologien zum Tragen kommt, und auch sein Verhältnis zu nicht-theologischen Anthropologien verständlich wird, soll der Ort und die Struktur der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit im Denken Karl Barths rekonstruiert werden (3.2). Von dort aus wird in einem dritten Teil analysiert, wie Barth sich auf das ‚Feld der Menschenbilder‘ zurück bewegt, nun allerdings, indem er auf dem Hintergrund der Gottesbeziehung das Sein des Menschen beschreibt, d.h. aus der Gottebenbildlichkeit die Identität des Menschen in seiner Sozialität, in seinem Selbst- und Weltver-

6 Vgl. hierzu die immer noch vorzügliche Darstellung Hans Urs von Balthasars: Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie, Köln 1951, der insbesondere von einem Bruch zwischen einer dialektischen und einer analogischen Phase ausgeht. Dagegen hat Eberhard Mechels (Analogie bei Erich Przywara und Karl Barth. Das Verhältnis von Offenbarungstheologie und Metaphysik, Neukirchen-Vluyn 1974, z.B.: 266) und zuletzt Bruce L. McCormack (Theologische Dialektik und kritischer Realismus. Entstehung und Entwicklung von Karl Barths Theologie 1909–1936, übers. von Matthias Gockel, Zürich 2006) stärker die Kontinuität – freilich im Übergang – von Dialektik zur Analogie betont. 7 Konrad Stock, Anthropologie der Verheißung: Karl Barths Lehre vom Menschen als dogmatisches Problem, München 1980. Die Auseinandersetzung mit Stocks Darstellung und seinem Fazit, die theologische Anthropologie Karl Barths sei „aporetisch“ (13, 236, 238 u.a.), wird die Ausführungen begleiten.

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hältnis und in seiner Geschichtlichkeit extrapoliert wird (3.3). Eine kritische Würdigung schließt die Untersuchung der Anthropologie Barths ab (3.4).

3.1 Theologie und Anthropologie Theologie und Anthropologie 3.1.1 Schöpfungstheologie auf dem Boden der Offenbarung Karl Barth beginnt seine Schöpfungslehre mit einer Auslegung des Credo, genauer: des ersten Satzes des apostolischen Glaubensbekenntnisses. Der Schöpfer wie die Schöpfung sind Gegenstände des Glaubens und können nur in diesem adäquat erkannt werden. Eine Analyse dessen, was sich dem Menschen ‚von der Welt‘ zeigt oder eine ausführliche Behandlung verschiedenster Weltanschauungen und Anthropologien könnte somit (noch) nicht als Schöpfungslehre verstanden werden. Der Weg ‚von unten‘ kommt für Barth nicht in Frage, vielmehr: (Gottes) Offenbarung und der Glaube an ihn vermittelt uns auch in Sachen der Schöpfung die eine, wahre, klare und gewisse Erkenntnis, neben der es wohl Vermutungen, Hypothesen und Postulate, wohl die Aufstellungen frommer Weltanschauungen gibt, aber keine andere Erkenntnis.8

Für die materiale Darlegung der Schöpfungslehre bedeutet das, dass Barth auf das göttliche Selbstzeugnis verwiesen ist, so wie es sich in den Schriften Alten und Neuen Testaments findet. Schöpfungstheologie – vielleicht noch stärker als dies für andere Topoi der Dogmatik gilt – ist für Barth nur als konsequent biblische Theologie denkbar. Das Kernstück von KD III/1, §41, ist deshalb – nach freilich entscheidenden Vorbemerkungen – als minutiöse Auslegung des 1. und 2. Schöpfungsberichtes konzipiert. Sie gehe „auf eigenen Füßen“ und dürfe sich nicht genieren „zu bekennen, daß sie von den Schöpfungssagen der Genesis nach wie vor alle, von alten, modernen und zukünftigen Weltanschauungen aber keine sachliche, keine direkte Belehrung erwartet.“9 Dieser eng umgrenzte Zugang entspricht freilich dem Ansatz der gesamten Dogmatik, insofern diese – als Lehre vom Wort Gottes – der Offenbarung in Jesus Christus ‚nach-denkt‘. Die Schöpfungslehre führt dabei den bisherigen Gedankengang der Kirchlichen Dogmatik weiter, der gleichsam in der Höhe innertrinitarischen Seins beginnt (KD I/1, II/1) und nach der 8

KD III/1, 25. KD III/1, 394. Barth behauptet lapidar: „Der unbewegliche Grund dieses Satzes (sc. von der Schöpfung) ist in der Tat der, daß er in der Bibel steht.“ Vgl. zum Schriftverständnis: KD I/1, 101– 113 und bes. KD I/2, 505ff. Als Abbreviatur der Wertigkeit der Heiligen Schrift bei Karl Barth sei der Obersatz zitiert: „Gottes Wort ist Gott selbst in der heiligen Schrift (505). 9

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vor- bzw. unzeitlichen Erwählung Jesu Christi (der Gemeinde und des Einzelnen – KD II/2) nun die Existenz des Geschaffenen in den Blick nimmt. Die Welt und in dessen Zentrum der Mensch, haben ihren ontischen Grund in Gott und ihren noetischen Zugang in der Selbstkundgabe oder Selbstoffenbarung Gottes.10 Allein von hier aus kann deshalb sachgemäß von ihrem Sein und Sosein gesprochen werden, allein von hier aus ist Schöpfungstheologie und später auch theologische Anthropologie möglich. Diesen Grundsatz versucht Barth im Folgenden abzugrenzen und anzuwenden. 3.1.1.1 Die Welt als Schöpfung Gottes Es ist also im Blick auf das Denken Karl Barths durchaus richtig zu behaupten: „Das Ganze der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths ist allein TheoLogie im strengen und engen Sinne des Wortes.“11 Allerdings darf hier nun nicht übersehen werden, dass die Schöpfungslehre bzw. der Satz, dass die Welt Schöpfung Gottes sei, nicht einfach apodiktisch als articulus fidei behauptet wird und die theologische Spekulationen gleichsam alles in sich aufsaugt oder einebnet. Vielmehr ist sich Barth von Anfang an der Problematik bewusst, dass auch seine Schöpfungstheologie, wie jede andere Weltanschauung auch, ihr erstes und grundsätzlichstes Problem in der Behauptung der Existenz der Welt findet: „Der Satz, daß Gott den Himmel, die Erde und den Menschen geschaffen hat, behauptet, daß diese ganze, von Gott verschiedene Wirklichkeit ist. [...] Sie ist aber nicht beweisbar; sie ist und bleibt anfechtbar.“12 Barth vollzieht damit ein Doppeltes: Zum einen stellt er seine Schöpfungslehre bewusst in die Pluralität der Weltanschauungen – hier nun zunächst auf den gemeinsamen Grund bzw. Abgrund der Existenzfrage –, weil er genau weiß, dass auch die Theologie, als Nachvollzug der Selbstkundgabe Gottes, sich coram publico als eine religionsphilosophische Theorie darstellt, deren Allgemeingültigkeitsanspruch nicht bewiesen, sondern nur bezeugt werden kann.13 Die Schöp10 Vgl. hierzu Barths Ausführungen in Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms, Darmstadt 21958, 39–57. Barths Anselmbuch ist von grundlegender Bedeutung für seine Dogmatik (so Barth selber in Fides quaerens, 10: wichtiger „Schlüssel zum Verständnis der Denkbewegung ... in der ‚Kirchlichen Dogmatik‘“) und für meine folgenden Ausführungen zur Schöpfungstheologie Barths. Vgl. hierzu zuletzt Menke-Peitzmeyer, Subjektivität und Selbstinterpretation, 236ff. 11 Graf, Freiheit der Entsprechung, 76 (Hervorhebung im Original). 12 KD III/2, 3. 13 Vgl. Karl Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 31985, 13: „Sie (sc. wahre evangelische Theologie) muß es sich aber gefallen lassen, mit jenen anderen zusammen in einer Reihe gesehen und verstanden und also, ohne sich selbst an diesem Versuch beteiligen zu können, sich unter dem Titel ‚Religionsphilosophie‘ mit ihnen verglichen und in Beziehung gesetzt zu

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fungslehre als Rekonstruktion des Schöpfungsglaubens gehört aber auf das Feld der – im Gespräch oder im Konflikt befindlichen – Weltanschauungen. Die Theologie kann ja unmöglich die Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit eines kirchlichen Gettos zum Ziel haben. Sie ist vielmehr dazu da, immer und überall Rechenschaft abzulegen über die Hoffnung und die Liebe Gottes, deren Kenntnis ihr anvertraut ist (vgl. 1Petr 3,15). Barth bildet dazu aber keine Apologie oder Eristik im großen Stile aus, obwohl dies im Blick auf das Stimmengewirr der Weltanschauungen zu erwarten wäre, sondern er will durch sein theologisches Arbeiten der Selbstevidenz Gottes Raum verschaffen. Damit vollzieht er das, was er zuvor in seiner Schrift zu Anselms Gottesbeweis „Fides quaerens intellectum“ programmatisch erarbeitet hat. Dort schreibt er: Es ist der Versuch, (die) ratio fidei nach bestem Wissen und Gewissen an Hand der Offenbarungsdokumente zu erforschen, bzw. sie als erforschte vor den Augen des Anderen auf den Plan zu führen, damit sie daselbst für sich selber rede, selber zu ihm (sc. dem ‚Ungläubigen‘) rede.14

Setzt Barth also bei Gott an, und entspricht diesem Ansatz das formale Vorgehen der Schöpfungslehre, als Auslegung des Glaubensbekenntnisses und der Heiligen Schrift, so hat dieses immer die Sphäre der Welt und der Phänomene des Menschlichen zum Ziel. Die Erkenntnis der Kondeszendenz Gottes zieht die Theologie in die analoge Bewegung hin zur Anthropologie, allerdings ohne der Vorstellung Vorschub zu leisten, die Theologie brächte aus oder in sich selbst die Wahrheit allererst zur Welt und habe deshalb die volle Arbeit der Anknüpfung15 zu leisten. Vielmehr ist die Theologie als Entdeckungsversuch der Wahrheit, nämlich der Person Jesu Christi, in der Sphäre der Schöpfung zu verstehen, als Nachvollzug dessen, dass und wie Gott selbst angeknüpft hat. An diesem Punkt ist allerdings schon zu bemersehen.“ Auch Sauter (Mensch sein – Mensch bleiben, 77) urteilt im Blick auf Barths christologische Begründung ähnlich: „Diese Antwort versteht sich als eine christlich-theologische. Sie ist aber, so meine ich, ihrer Struktur nach durchaus religionsphilosophisch und entspricht deshalb der gestellten Frage. Denn auch sie stellt sich auf das Problem der Grenze ein und ist eine spezifische Grenz-Betrachtung.“ Hier ist schon kritisch auf den Aktualisierungsversuch der Theologie Thies Gundlach, Selbstbegrenzung Gottes, hinzuweisen, insofern dieser von einer durch Barths selbst vollzogenen „Zuständigkeitsbegrenzung“ (295 u.a.) seiner Theologie spricht. Gundlachs Aussage ist im Blick auf Barths Wahrheitsanspruch und seine Erwählungslehre nicht nachzuvollziehen: „Denn die Theologie beansprucht keine Zuständigkeit für die Analyse und Beschreibung der Weltwirklichkeit, sondern für die der erwählten Wirklichkeit“ (297). 14 Fides quaerens intellectum, 61. 15 Vgl. zu diesem Terminus den Streit zwischen Karl Barth und Emil Brunner: Emil Brunner, Die Frage nach dem ‚Anknüpfungspunkt‘ als Problem der Theologie, ZZ 19 (1932), 505–532; ders., Natur und Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth, in: ‚Dialektische Theologie‘ in Scheidung und Bewährung 1933–1936, hg. von W. Fürst, München 1966, 169–207; Karl Barth, Nein! Antwort an Emil Brunner, in: ebd., 208–258.

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ken, dass Barth nicht wirklich klarmachen kann, woran sich die Differenz eines bloß menschlichen Behauptens der ratio fidei und einem der Selbstevidenz Gottes Raum-Geben erkennen lässt. Warum sollte nur Barths Theologie der Wirklichkeit Gottes auf den Plan helfen und nicht auch die von ihm kritisierten Weltanschauungen? Mit diesem Vorgehen Barths verbindet sich nun aber zum anderen die bewusste Auswahl gleichsam des Ortes, an dem der Schöpfungsglaube auf das plurale Feld der Weltanschauungen geführt wird; ein gewisses apologetisches Interesse ist dabei nun allerdings nicht zu übersehen. Es ist die Frage nach der Existenz der Welt und in Verlängerung dieses Gedankens, die nach der Existenz der Welt als Schöpfung. Barth antizipiert die mögliche und grundsätzlichste Kritik seiner Behauptung – Gott habe die Welt geschaffen, sich die Schöpfung gegenübergestellt und sie auf sich bezogen –, nämlich, ob die Wahrheit dieser Behauptung erwiesen werden kann. Er wendet diese Kritik nun aber auf alle Weltanschauungen an. Damit thematisiert er die oben beschriebene Sphäre der Verborgenheit16, hier nun zunächst die Frage nach der Verborgenheit der Welt, und stellt die Schöpfungslehre als (eine) mögliche Deutung und Erhellung dieser Verborgenheit dar. Dabei treibt er das Wissen um die Verborgenheit des Grundes von Welt und Selbst bis in die Frage nach deren Existenz hinein. Er vollzieht nach, was im anthropologischen Horizont als Frage nach dem Grund oder Abgrund der Identität in den Blick kam und die Identitätsfrage in der Verborgenheit auslaufen lässt – wie Schelling konstatiert: „Gerade er, der Mensch, treibt mich zur letzten verzweiflungsvollen Frage: warum ist überhaupt etwas? warum nicht nichts?“17 Die pure Frage nach dem Grund ist also der Grund aller Weltanschauung; so sieht das gemeinsame Feld von Schöpfungsglaube und Weltglaube aus. Nichts anderes als Glaube bzw. Vermutung ist nämlich auch die Basis für den Satz, dass die Welt sei, auch wenn er die ‚normale Haltung‘ des Menschen bezeichnen mag: „wir vermuten das Sein und nicht den Schein, nicht das Nichtsein. Wir leben mit dieser und nicht mit der entgegengesetzten Vermutung.“18 Mit der bloßen Allgemeinheit der Vermutung, dass die Welt sei, lässt sich aber keine sinnvolle Schöpfungstheologie treiben und weder ein Akosmismus noch ein Nihilismus widerlegen, vielmehr werden diese immer als Grundmöglichkeiten der Weltanschauung in Betracht kommen.19 Lassen sie sich vielleicht aber doch, auf einem anderen Weg, als legitime Deutungen ausscheiden? Kann die Existenz der Welt (als Schöp16

Vgl. oben Abschnitt 2.5.3. und Korsch, Dialektische Theologie, 17–20 u. 303–309. Schelling, Philosophie der Offenbarung, 7. 18 KD III/1, 396. 19 Vgl. ebd., 3–4. 17

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fung) bewiesen werden und die Selbsttäuschung des Menschen darüber, dass er und seine Welt ist, prinzipiell verhindert werden? Lässt sich „unser Ichbewußtsein und Weltbewußtsein [...] der Sphäre des Scheins“20 entheben? 3.1.1.2 Der Selbsterweis Gottes und die Begründung der Welt Barth hält die positive Beantwortung dieser Fragen für möglich, aber nur von der göttlichen Selbstkundgabe in Jesus Christus aus. Nur, indem man bei Gott ansetzt und damit „also nicht von einer weiteren Setzung unseres Bewußtseins, sondern von einer unserem Bewußtsein widerfahrenden Entgegensetzung“21 ausgeht, eröffnet sich die Möglichkeit einer positiven – dann aber doch einer – Beweisführung. Die Frage nach der Existenz der Welt erweitert sich nun, wie in jeder anderen religiösen Betrachtung, zur Frage nach der Existenz Gottes: „Weiß einer, durch Gott selber belehrt, um Gott selber und seine Existenz, dann weiß er also eben damit auch um sich selbst und seine – und um seine Umwelt und ihre Existenz.“22 Und wiederum setzt Barth seinen Ansatz in Beziehung zu anderen Welt- und Gottesanschauungen, um die im Schöpfungsglauben erschlossene Erkenntnis zu bewähren. Es geht also nun um die Grundalternative, ob vom Selbstbewusstsein des Menschen – auch wenn dieses sich als religiöses verstünde und sich zu einem Gottesbewusstsein erweiterte – oder von der Selbstkundgabe Gottes aus – indem auf die interne Rationalität des Glaubens an den Schöpfer vertraut wird – die Existenz der Welt und die Gottes bewiesen werden kann. Barth stellt sich dazu in §40 kurze Ausführungen zur Schule Schleiermachers gegenüber, später dann einen ausführlichen Exkurs zu René Descartes’ „Meditationes de prima philosophia“ von 1641.23 In diesem Exkurs blickt er auf die Tatsache zurück, dass „am Anfang der neueren, entscheidend durch die Renaissance des antiken Humanismus und durch den Aufstieg der modernen Naturwissenschaft bestimmten Philosophie [...] eben die prinzipielle Frage nach der Realität alles Seienden“24 steht. Barth ist sich der Gewichtigkeit, der Grundsätzlichkeit und auch der 20

Ebd., 397. Ebd., 399. 22 Ebd., 400. 23 Es ist hier freilich darauf hinzuweisen, dass sich die Perspektive des Einleitungs- und Übersichtsparagraphen 40 zum Paragraphen 42 verschoben hat. Barth hat schon die positive Darlegung des Schöpfungsglaubens (in §41) hinter sich und aus dem unverbrüchlichen Zusammenhang von Schöpfung und Bund die „Schöpfung als Wohltat“ des gegenwärtigen Gottes (III/1, 377–394) zu verstehen gegeben. Indem er gleichsam den ‚Charakter‘ der Schöpfung und des Schöpfers beschreibt, kommt er nun (§42, Abschnitt 2: Schöpfung als Verwirklichung, 395–418) noch einmal auf die grundlegende Frage der Existenz der Welt und Gottes zurück. 24 KD III/1, 401. 21

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Aktualität der Position des großen französischen Philosophen durchaus bewusst. Gerade deshalb fällt die Wahl auf Descartes, weil Barth darin die grundsätzliche und exemplarische Auseinandersetzung mit den nichttheologischen, wenn auch religiösen, Weltanschauungen führen kann. Insofern präjudizieren diese Ausführungen schon die Grundaussagen der kommenden anthropologischen Diskurse und Exkurse.25 Dass nun Descartes die Existenz der Welt auf die des denkenden Ichs zurückführt und dass er die Behauptung des Cogito nur auf dem Boden des Gottesbewusstseins, der vorgängigen Annahme seiner Existenz, für möglich hält, eröffnet für Barth die Möglichkeit, seinen Ansatz bei der Selbstkundgabe Gottes eben nicht nur gegen einen Akosmismus oder Nihilismus durchzusetzen, sondern gerade gegen eine religiöse Begründung des Seienden.26 Barth rekonstruiert nun die sechs Meditationen, mit besonderem Augenmerk auf die 3. und 5., da hier der (ontologische) Gottesbeweis geführt bzw. eingeführt wird. Er kommt zu dem Fazit: Es macht Descartes Erkenntnis alle Ehre – und es wirft ein merkwürdiges Licht auf die ganze von ihm inaugurierte neuere Philosophie – daß er es zur Begründung der Gewißheit des menschlichen Ich- und Weltbewußtseins für nötig und für möglich hielt, die Existenz Gottes zu behaupten. Man kann aber nicht verkennen, daß er sie – gemessen an seiner eigenen Voraussetzung und Methode – wohl behauptet, aber nicht bewiesen hat und dass damit auch seine Begründung aller anderweitigen Gewißheit mißlungen ist. Der Zirkel des cogitare ist nicht durchbrochen. Der Boden des esse ist nicht betreten.27

Barth hält den Versuch, die Existenz der Welt, auf dem Boden des Ichs, und die des Ichs, auf dem Boden der Existenz Gottes, zu beweisen, für gescheitert, weil darin jeweils vorausgesetzt wird, was eigentlich erst zu beweisen wäre. Es ist der menschliche Geist selbst, der den Beweis führt und an den 25 Vgl. hierzu die große Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die Descartes bei Pannenberg zu Teil wird: Abschnitt 4.1.1. Während Barth Descartes‘ Religionsphilosophie kritisch betrachtet und das zirkuläre Scheitern einer Ableitung des Selbst- und Weltbewusstseins aus dem Gottesbewusstseins diagnostiziert, stellt sich Pannenberg ganz bewusst auf den Boden der Meditationes und räumt Descartes damit einen prominenten Platz in seiner theologischen Ahnenreihe ein. 26 Barths theologisches Gegenüber war Zeit seines Lebens – grob gesagt – das der natürlichen Religion bzw. der natürlichen Theologie. Seine Theologie musste sich also immer von einer Theologie absetzen, die im religiösen Bewusstsein ihre Begründung fand, also etwa die Schleiermachers oder Troeltschs. Der Atheismus oder eine dezidiert unreligiöse Weltauffassung kommt dagegen viel seltener als Gegenüber in den Blick. Nun hat sich aber im Zuge der Modernisierung und Säkularisierung die selbstgenügsame Auseinandersetzung zwischen Offenbarung und Religion, wenn nicht erledigt, so aber doch relativiert. Es hat sich eine neue Lage ergeben, die die Frage virulent werden lässt, ob das Gegeneinander nicht doch eher in ein Miteinander zu verwandeln wäre. Korsch hat deshalb programmatisch von einer „Dialektische(n) Theologie nach Karl Barth“ gesprochen, was nicht Diskontinuität – ‚ohne Karl Barth‘ – bedeutet, sondern kritische Kontinuität, im Sinne einer „Entfaltung über ihn hinaus“ (Dialektische Theologie, VIII). 27 KD III/1, 411.

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entscheidenden Stellen die Idee Gottes, die als angeborene Idee des vollkommensten Wesens seine Existenz mit einschließt, hervorholt, um sich Boden zu verschaffen, der doch eigentlich nur der der abgründigen Frage nach sich selbst ist und bleibt. Barth geht es dabei nicht um die Konstitution des Gottesbeweises als solchen – er hält diesen sogar für notwendig –, sondern um das denkende Ich, das die Gottesidee als „Machtinstrument“ der Selbstbegründung verwendet. Für Barth ist aber „dieser Gott (...) hoffnungslos drinnen“ und „die Kraft des Beweises doch nur die Kraft des Beweisführenden“.28 Der Grundvorwurf besteht also in der Zirkularität des Vorgehens, insofern der denkende Mensch zwar die eigenen Grenzen durch die Gottesidee erweitert, er selbst aber der Urheber dieser Erweiterung bleibt und sich damit wiederum nur sich selbst zugrundelegt. Barth wird diese Zirkularität immer wieder diagnostizieren29, insofern der Mensch auf die sich selbst verschaffte Selbsterkenntnis und nicht auf die in der Selbstkundgabe eröffnete Erkenntnis rekurriert. Allerdings meldet sich gerade angesichts der Diagnose des zirkulären Scheiterns die Ahnung, dass Barth selbst in diesen Zirkel tiefer verstrickt ist, als ihm lieb sein kann. Die Setzung der Selbstkundgabe Gottes, die den Zirkel durchbrechen soll, bleibt doch selbst eben eine menschliche bzw. dogmatische Setzung. Das, was Barth seinen Gegnern vorwirft, werden sie ihm ‚eins zu eins‘ entgegenschleudern.30 Barth sieht nun aber in der – nur scheinbar geringen – Verschiebung von der religiösen Selbsterkenntnis des Menschen zur Selbstkundgabe Gottes die Grundlage des theologischen Denkens, von der her sich aber alles verändert und die den Gottes-, Selbst- und Weltbeweis möglich macht, ja sogar fordert. Gott selbst muss der menschlichen (Selbst-)Erkenntnis Boden verschaffen, sonst wird jener Zirkel nicht durchbrochen: „Es hängt vielmehr die Kraft des Beweises für die Existenz Gottes an seiner Begründung auf die Kraft von Gottes Selbstbeweis und also daran, dass er diesem Raum läßt“.31 Es ist deutlich, dass Barth die menschliche Erkenntnis, den Beweis Gottes mit den Mitteln der Vernunft, nicht diskreditiert, sondern ermächtigen will, indem er die Erkenntnis von Gott in Anspruch genommen und bestimmt sieht. Es handelt sich wiederum um die Wiederholung des theologischen Programms der Anselmschrift. Gott offenbart 28

Ebd., 412. Vgl. etwa KD III/2, 87. Es sei an dieser Stelle auf die Position Dieter Henrichs zurück verwiesen, wie oben dargestellt: 2.3.5., insofern Henrich die Aporie einer Selbstbegründung durch Zurückwenden des Subjektes auf sich selbst aufdeckt. 30 Vgl. hierzu etwa Pannenberg, Anthropologie, 16; Ders., Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997, 259f. 31 KD III/1, 412. 29

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sich und gibt sich dem Glaubenden zu erkennen, d.h. er eröffnet dem Menschen eine dem Gegenstand (Gott) angemessene Erkenntnis bzw. einen angemessenen Erkenntnisgang. Den Gottesbegriff Anselms: „Deus est aliquid quo maius cogitari nequit“ versteht Barth deshalb – zunächst – nicht als philosophische Formel, die auf die Gottesfrage angewendet wird und bis zum Ziel des Beweises gelangt, sondern als offenbarten Namen Gottes, der vom Menschen nun gleichsam ‚nachbuchstabiert‘ werden soll und nur von Gott her, in der Rationalität des Glaubens, auch bis zum Beweis der Existenz Gottes durchdringt. Der Gottesbeweis ist nur im Glauben, d.h. allein aus und in der Kraft des Selbstbeweises Gottes möglich und nötig; der Gottesbeweis des Menschen ist (nur) als die Analogie des Selbstbeweises Gottes zu verstehen. Damit sieht Barth nun die menschliche Selbst- und Welterkenntnis auf den einzig sicheren Boden gestellt, nämlich den der Gotteserkenntnis, die aus der Anerkennung der Selbstkundgabe Gottes resultiert: Ist der Bund der Gnade kein Schein, keine Täuschung, ist Gottes Liebe und unser Geliebtsein in Jesus Christus kein Traum, dann auch nicht Gottes, dann auch nicht unsere Existenz und die unserer Umwelt, dann auch nicht unser Bewußtsein, dass wir sind und daß etwas außer uns ist, dann auch nicht unser Ichbewußtsein und Weltbewußtsein, dann nicht einmal unser an sich so problematisches Gottesbewußtsein.32

Mit der positiven Beantwortung der Frage nach Gottes Existenz scheint nun also auch der Schöpfungsglaube legitimiert. 3.1.1.3 Das Verhältnis von Schöpfungstheologie und religiöser Weltanschauung Nun ist aber noch einmal die Rückfrage möglich: Hat damit nicht auch eine im weitesten Sinne religiöse Weltanschauung Grund gewonnen, insofern sie mit der Existenz Gottes rechnet? Schaut man nämlich noch einmal auf das Verhältnis von Schöpfungsglaube und Weltanschauungen (zurück), dann lässt sich zunächst einmal der Eindruck einer Parallelität der Aussagen nicht abwehren, denn in aller Verschiedenheit der Begründungen, und selbst wenn man zirkuläre Argumentationen in Rechnung stellt, gibt es doch viele Überschneidungen. Die Grundüberschneidung mag eben in der Annahme der Existenz der Welt und des Ichs liegen, ja mit vielen anderen Weltanschauungen teilt der Schöpfungsglaube auch die Annahme der Existenz Gottes – wie am Beispiel Descartes’ deutlich wurde. Barth wehrt sich gegen den Eindruck dieser Parallelen nicht, aber er stellt nachdrücklich die entscheidende Differenz und damit Divergenz heraus: 32

Ebd., 418.

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die christliche Schöpfungslehre ist nicht nur von anderswoher, sondern dementsprechend auch in einer nicht zu verwechselnden Weise anders als die Lehre aller Weltanschauungen. Sie hat nicht nur einen anderen Ursprung, sondern auch einen anderen Gegenstand und darum einen anderen Weg als diese.33

Denn mit dem Beweis der Existenz Gottes ist die Identitätsfrage – wer dieser Gott eigentlich ist und wie damit die Schöpfung als sein Gegenüber bestimmt ist – noch nicht geklärt: „Die Gottheit ist (vielleicht) nur der ungeheure Hohlspiegel, in dem sich die verschiedensten Meinungen des geschöpflichen Geistes wieder zu erkennen vermögen.“34 Schon gegen Feuerbachs Verdacht, es handele sich in der Gottesvorstellung um eine bloße Projektion des menschlichen Geistes, ist die Annahme der Existenz Gottes auf dem Grunde des Selbstbewusstseins wehrlos; erst recht aber gegen die Möglichkeit, dass Gott ein Betrüger sein könnte, ein böser Geist.35 Für die Weltanschauung bzw. Schöpfungstheologie bedeutet die ungeklärte Identitätsfrage also, dass der Charakter der Schöpfung, ihre Identität, ebenso wenig geklärt werden kann. Dabei ist es nicht nur die Existenz der Welt, die zur Debatte steht, sondern auch ihre Beschaffenheit, ihre Güte. Vom Gutsein der Welt, von der Schöpfung als Wohltat kann aber nur gesprochen werden, weil sich Gott selber als gütiger Schöpfer und Bundesgott offenbart, weil er sein Geschöpf bejaht, verwirklicht und damit in seinem Sein rechtfertigt, so Barth. Die Vermutungen der Gottesanschauungen hängen mit Vermutungen der Weltanschauungen zusammen, insofern diese aus der Analyse des Phänomenbestandes ‚Welt‘ äußerst unterschiedliche Schlüsse ziehen. Die Welt ist ein Konglomerat aus Erfahrungen, die zum Jubel wie zum Jammer Anlass geben. Die Schöpfung hat eine Licht- und eine Schattenseite, und diese Erkenntnis kann dann in einem philosophischen Pessimismus (Marcion, Schopenhauer) oder einem Optimismus (Leibniz, Wolff u.a.) münden. Nur, den wirklichen Grund für die Behauptung der Vollkommenheit der Schöp33

Ebd, 390 (Hervorhebung im Original). Ebd., 421. Vgl. auch KD III/1, 11: Der „christliche Philosoph“ kann dasselbe tun, was alle Philosophen und Mythendichter tun: „indem er sich auf dem Wege von Wahrnehmung und Reflexion eine ‚Weltanschauung‘ bildet, kommt er zu dem Ergebnis, daß die Annahme eines weltüberlegenen Prinzips unvermeidlich sei und entschließt er sich, eben dieses unvermeidlich zu postulierende Prinzip als Wirklichkeit gelten zu lassen und Gott zu nennen.“ Er entschließt sich, „dem Produkt seiner Spekulation oder Dichtung nachträglich den Namen ‚Gott‘ zu geben.“ 35 Pannenberg (Reden von Gott angesichts atheistischer Kritik, in: Gottesgedanke und menschliche Freiheit, Göttingen 1972, 30) macht Barth gerade die Übernahme einer religionskritischen Perspektive zum Vorwurf: „Der Atheismus kann dann geradezu als Bestätigung der Exklusivität der Offenbarung geschätzt werden, als Bestätigung ihres Anspruchs und ihrer Verheißung, allein Gotteserkenntnis zu bieten. In diesem Sinne hat man mit Recht gesagt, daß Barths Theologie den Atheismus Feuerbachs in ähnlicher Weise zur Voraussetzung habe wie die scholastische und altprotestantische Theologie sich auf eine natürliche Gotteserkenntnis und Theologie gründete.“ 34

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fung verfehlen diese Anschauungen, solange sie sich nicht auf den Grund der Selbstkundgabe Gottes und das darin implizierte Urteil über seine Schöpfung stellen: „Gen. 1, 31 muss hier gelten: ‚Gott sah Alles an, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut‘.“36 Am Ende dieses ersten Ganges der Erörterung des schöpfungstheologischen Ansatzes Barths lässt sich also resümieren, dass die Theologie und der Schöpfungsglaube auf dem gemeinsamen Feld der Weltdeutungen, der philosophischen und religiösen Anschauungen stehen, während sie ihren Grund in der Selbstkundgabe Gottes haben und auf diesen aufmerksam machen wollen. Das Verhältnis von Theologie und Philosophie, von Schöpfungstheologie und Weltanschauung ist damit aber ein höchst ambivalentes. Einerseits lässt sich nämlich die Theologie von den nicht-theologischen Argumentationen herausfordern, durchdenkt diese, ja übernimmt manches, andererseits aber stellt sie sich schroff gegen die Weltanschauungen und lehnt ihre Ergebnisse ab. Einerseits sieht sie – im Rahmen einer Dialogik – die Philosophie als Gesprächspartnerin an und lässt sie – häufig in der Paraphrase – ausführlich zu Wort kommen, signalisiert sogar Einverständnis, andererseits betrachtet sie diese – im Rahmen einer Dialektik – als Dienerin, schlägt Kapital aus ihrer Arbeit und vor allem ihrem (zirkulären) Scheitern und hebt sie in eine verwandelte und konzentrierte offenbarungstheologische Ansicht auf. Es ist diese Ambivalenz des theologischen Vorgehens bei Barth, die verwirrt und neue Fragen aufwirft: Einerseits ist Barth offen für die Rationalität der Weltanschauungen, rekonstruiert die Selbstkundgabe Gottes mit den Mitteln der Vernunft, andererseits zieht er sich auf die völlige Andersartigkeit der Rationalität des Glaubens zurück und will (lediglich) das Wirken des lebendigen Gottes bezeugen. Barth sendet hier in KD III/1 unterschiedliche Signale im Blick auf das Verhältnis von Natur- auch Geisteswissenschaft und Glaube, Weltanschauungen und Schöpfungstheologie aus. Dabei bleibt ein gewisser ‚Verdachtsraum‘ bzw. Raum für Spekulationen37, was auch die folgenden Ausführungen bestätigen: Sie (sc. die Schöpfungslehre) führt das Gespräch mit den Weltanschauungen in der Weise, dass sie ihre eigene Erkenntnis ihres eigenen Gegenstandes in der ihr eigenen Begründung und Folgerichtigkeit nicht besserwissend, aber anderswissend, und ihr

36

KD III/1, 419. In seiner Bemerkung zum Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaften im Vorwort von KD III/1, räumt Barth insgeheim Schwierigkeiten in der näheren Bestimmung der Grenze zwischen beiden ein: „Es ist aber auch meine Meinung, daß künftige Bearbeiter der christlichen Lehre von der Schöpfung in der Bestimmung des Wo und Wie dieser beiderseitigen Grenze noch dankbare Probleme finden werden.“ 37

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anderes Wissen nicht verleugnend, sondern entfaltend neben und gegen jene stellt. Sie erwartet von ihrer Begegnung mit jenen für sich: die sich aus dem Vergleich ergebende zunehmende Läuterung und Präzisierung ihres eigenen Verhaltens ihrem eigenen Thema gegenüber. Sie erwartet davon für die Weltanschauungen: daß sie, indem ihre Vertreter das ungebrochene Zeugnis von Gott dem Schöpfer zu hören bekommen, auf die grundsätzliche Überholtheit ihrer durch beschränkte Fragestellungen bedingten Systeme aufmerksam und mindestens zu deren „Verbesserung“, endlich und zuletzt aber zu deren Abbau eingeladen werden können.38

Es lässt sich hier freilich schon fragen, in welchem Verhältnis das „anderswissend“ zum „besserwissend“, die Forderung nach „Verbesserung“ zur Einladung zu „deren Abbau“ steht. Barth argumentiert in der KD wie der Anselmschrift mit den Mitteln philosophischer Theologie, er rekonstruiert das ontologische Argument Anselms zunächst ganz im Sinne der Religionsphilosophie, um dann aber anzuregen bzw. zu fordern, dass die jeweilige Weltanschauung mit dieser Erkenntnis in das offenbarungstheologische System übertreten oder sich ‚über- und einholen lassen‘ solle – ansonsten verliere sie ihren Anspruch auf Wahrheit.39 Er suggeriert damit, dass substantiell, an der Erkenntnis bzw. am Inhalt eigentlich nichts verbessert werden müsse, dass aber der Ansatz und Kontext schief liege. Barth geht es also wie der religionsphilosophischen Theologie in erster Linie um die Begründung von Subjektivität. Das ist das ‚geheime Thema‘ der Schöpfungstheologie und Anthropologie Karl Barths.40 Allerdings wird dabei hier schon deutlich, dass Barth sich in der Konfrontation von theologischen Systemen wähnt und das gedankliche Ringen mit ihnen dankbar in Angriff nimmt. Es geht dabei nie allein um eine Einzelerkenntnis, sondern immer um metatheoretische Fragen, um die theologische Axiomatik, von der her sich das theologische System aufbauen lässt. Die Problematik des Verhältnisses von Weltanschauung und Schöpfungslehre wird bald im Blick auf die tiefere Ebene bzw. im engeren Kreis der Frage nach dem Menschen wiederkehren – deshalb bedarf es hier noch 38

KD III/1, 394 (Hervorhebung von T.W.). In der Spätphase seiner Theologie werden die Töne den Weltanschauungen gegenüber wohl milder, allerdings bleibt der prinzipielle Hiatus zwischen der christologisch erschlossenen Schöpfung und den eigenmächtig erarbeiteten Weltanschauungen bestehen. Die Weltanschauungen sind gerade Zuspitzungen des „Widersetzlichen im Menschen“ (KD IV/3, 292 u.a.) Vgl. die sich anschließende Typologie der Weltanschauungen (ebd., 293–295). 40 Vgl. hierzu die Interpretation der Anthropologie Karl Barths bei Christopher Frey (Zur theologischen Anthropologie Karl Barths, in: Anthropologie als Thema der Theologie, 39–69, hier 41): „Barths Theologie (ist) neuzeitliche Kritik der Neuzeit. Daher benutz(te) Barth Argumentationsfiguren neuzeitlicher Subjektivität, um sie zu überwinden.“ Das Interesse am Thema Subjektivität in den Reihen der Barthschüler, etwa bei Ingolf U. Dalferth (etwa: Subjektivität und Glaube. Zur Problematik der theologischen Verwendung einer philosophischen Kategorie, NZSTh 36 [1994], 18–58), ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. 39

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keines abschließenden Wortes bzw. kann es ein solches noch nicht geben. Barth zieht nun nämlich, in KD III/2, den Kreis enger. 3.1.2. Christologie und Anthropologie Was Barth im Allgemeinen zur Schöpfungstheologie und zu den Weltanschauungen gesagt hat, konkretisiert er nun im Blick auf die Anthropologie. Es handelt sich dabei allerdings nicht nur um eine Konkretion, sondern um die Erörterung des Kerns der Schöpfungslehre. Hier in der theologischen Anthropologie findet diese zu ihrem eigentlichen Thema, so dass die vorherigen Ausführungen als Prolog zum folgenden zu verstehen sind. Die Fokussierung der Anthropologie wird dabei nicht nur aus Gründen der inneren Stringenz seines Gedankengangs der Schöpfungslehre notwendig, sondern sie resultiert aus dem intensivierten Blick auf die Selbstkundgabe Gottes. Aus dem Rand- und Grenzbezirk der Schöpfungslehre mit ihren Fragen und Antworten zur Weltanschauung kommt Barth nun in deren Zentrum, wobei die Abgrenzungs- und Unterscheidungsbemühungen gerade auf diesem Feld weiterhin intensiv verfolgt werden. 3.1.2.1 Schöpfungstheologie und Christologie Noch in KD III/1 kann Barth die Frage nach der Existenz des Seienden in einer Kurzformel beantworten: „Die Person Jesu Christi ist der Erweis, daß das Geschöpf ist“.41 Barth spitzt damit seine Rede von der Selbstkundgebung Gottes und seiner darin bewiesenen Existenz zu. Jesus Christus ist die Selbstkundgabe Gottes in Person, und deshalb liegt die Antwort auf die Frage nach dem Sein, nach dem ontischen Grund alles Seienden, in ihm. In ihm, dem Sohn Gottes, im logos, gründen Himmel und Erde, d.h. die Sphäre des Geschaffenen, insofern er göttliche – genauer die zweite – Person der Trinität ist. Noch vor der ins zeitliche Sein gehobenen Welt hat sich Gott in Jesus Christus diese Welt erwählt und sie sich darin gegenüber gestellt; sie ist in ihm geschaffen und findet in ihm ihren wahren Begleiter und Versöhner. Das göttliche Handeln der Schöpfung bekommt, insbesondere durch die intensive Aufnahme der Vorstellung von der Schöpfungsmittlerschaft und Präexistenz Jesu Christi, also eine unverkennbar christologische Färbung.42 Das gilt auch umgekehrt für die Christologie, die nun ontologische – und damit schöpfungstheologische – Bedeutung erhält und auf diese Gehalte hin untersucht wird. Schon diese Entscheidung, als konsequente Ratifi41 42

KD III/1, 26. Vgl. hierzu grundsätzlich: Stock, Anthropologie der Verheißung, 72–83.

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zierung der Grundentscheidung, bei Gott und seinem innertrinitarischen Sein einzusetzen – das in Jesus Christus offenbart wird –, vor allem aber, die Erwählungslehre der Schöpfungslehre vorzuordnen, kann als wesentliche Neuerung im Bereich evangelischer Dogmatik verstanden werden. Die Schöpfung wurde in der herkömmlichen Dogmatik, per appropriationem, als eine Sache Gottes des Vaters verstanden, während Gott, dem Sohn, das Versöhnungshandeln zugeschrieben wurde.43 Die Erkenntnis des Schöpfungshandelns Gottes wurde damit nach Ansicht Barths aber nicht konsequent genug an der Selbstkundgabe Gottes in Jesus Christus orientiert, zumindest bestand die Gefahr, das Handeln des dreieinen Gottes aufzuspalten und auf die Personen zu verteilen, d.h. allein Gott Vater für die Schöpfung zuständig sein zu lassen und nicht auch den Sohn und den Heiligen Geist. Dadurch wurde aber der Weg einer natürlichen Theologie und der Kosmologie zumindest nicht verbaut, sondern vielmehr Raum für die religiöse Spekulation eröffnet – da die theologische Erkenntnis nicht eng genug an die Christologie gebunden wurde. Auf dem Feld der Schöpfungslehre im weiteren Sinne führte das zu ‚natürlichen‘ Spekulationen über den Kosmos, über das Sein als solches, während in der theologischen Anthropologie die Frage nach der Seele, dann nach der Subjektivität und damit die Bestimmung des Menschlichen gegenüber anderen Lebewesen zum vorherrschenden Thema wurde. Barth sieht sich selbst also – nun entschieden von dieser Form theologischer Spekulation Abstand nehmend – auch in der Frage nach dem noetischen Grund der Anthropologie ganz eigene Wege gehen: Den Weg zur theologischen Erkenntnis des Menschen, den ich für den allein möglichen halte, hat von den älteren und neueren Kirchenvätern, bei denen ich mich umgesehen habe, nun eben keiner wählen wollen. Umgekehrt habe ich mich nicht davon überzeugen können, daß die Frage nach der sogen. „Seele“ diesen Bereich der Dogmatik so völlig beherrschen und daß sie an ihrem Ort so behandelt werden dürfe.44

Barths Neuansatz besteht darin, das Sein des Menschen nicht nur auf dem Grunde des allgemein gedachten Seins Gottes, sondern des Seins Jesu Christi bestehend denken und es vor allem auch konsequent von dort her erhellen zu wollen. Also erst eine dezidiert christologische Besinnung eröffnet den Weg zu einem wirklich menschlichen Verstehen des Menschen. Das Programm bezeichnet Barth als „die Begründung der Anthropologie

43 Stock (ebd., 237) sieht einen weitgehenden Konsens evangelischer Theologie darin, dass „theologische Anthropologie als soteriologische Anthropologie“ zu entfalten sei. Barth fällt für ihn aus diesem Konsens heraus, wenn er die Anthropologie in den Zusammenhang der Schöpfungslehre stellt. 44 KD III/2, Vorwort, VII.

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auf die Christologie.“45 Es wird sich zeigen, dass damit auch das Thema ‚Seele‘ – und im engeren Sinne das des Selbstbewusstseins – an den entsprechenden Ort kommt, dass es nämlich nicht mehr als Zugangs- und Fundamentalfrage theologischer Anthropologie verstanden werden kann, sondern als sekundäre, partielle Frage in den materialen Bestand der Aufgabe derselben einrückt (vgl. KD III/2, §46). Mit der in KD III/1, §40 sich erst andeutenden Präzisierung und Einschränkung der Theologie auf die Christologie hat Barth also letztlich die Identitätsfrage des Schöpfers in den Blick genommen und geklärt. Das christliche Menschenbild bzw. die Identität des wirklichen Menschen wird sich (nur) gegenüber der in Jesus Christus offenbarten Identität Gottes, d.h. als deren Ableitung, formulieren lassen. Die Identität des Schöpfers wird ansichtig in dem, was die Hymnen in Joh 1, Hebr 1 oder Kol 1 von Christus sagen: „Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung. Denn in ihm ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist [...]. Und er ist vor allem und es besteht alles in ihm“ (Kol 1,15–17).46

45 Ebd., 50 (Hervorhebung von T.W.). Barth steht hierbei eigentümlicher Weise nicht allein. Vgl. hierzu etwa den Aufsatz Wolfhart Pannenbergs, Das christologische Fundament christlicher Anthropologie, Conc(D) 9, 1973, 425–434. 46 Schon hier ist auf die grundsätzliche Kritik Konrad Stocks hinzuweisen, der weniger in der Anthropologie Barths als solcher, sondern in seinem christologischen Ansatz das Problem sieht – welches seiner Meinung nach zur Aporie wird. Denn die Christologie ist nach Stock auf die Soteriologie zu beschränken: „der Mensch Jesus – sein Tode am Kreuz und vom Tode her – ist die Versöhnungsgeschichte Gottes“ (Anthropologie der Verheißung, 236). Die Verwandlung der „Aussagen über Gottes schöpferisches Wort und über den Menschen als Gottes Bild in christologische Aussagen“ (ebd.), führe dann zu einer Kollision mit der Soteriologie, selbst wenn ein inneres Verheißungsverhältnis postuliert wird. Stock hebt damit das zentrale Problem der theologischen Anthropologie hervor, damit aber – das hat er aus welchem Grund auch immer nicht klar herausgestellt – nicht nur das Karl Barths, sondern das aller Vertreter dieser Disziplin. Die Beantwortung der Frage, wie Schöpfungshandeln und Versöhnungshandeln Gottes zusammen zu denken sind, ist doch eine Hauptaufgabe jedes dogmatischen Gesamtentwurfs, jeder theologischen Anthropologie. Freilich wird man mit Stock genauer und kritisch auf Barths Konstruktion schauen müssen, aber dem Verdikt, es müsse sich hier um eine Aporie handeln, kann schon an diesem Punkt nicht zugestimmt werden. Denn Stock hat nicht hinreichend auf die biblischen Hintergründe geachtet, die explizit und implizit die Christologie der Schöpfungslehre Barths bestimmen, und die damit konsequenterweise auch unter das Verdikt der Aporie fallen müssten. Etwa im Kolosserhymnus werden ausdrücklich das Schöpfungshandeln und das Versöhnungshandeln Gottes in Christus nebeneinandergestellt. Auch wenn das Verhältnis beider zueinander nicht näher erläutert wird, so wird hier nicht einfach eine Aporie zu diagnostizieren sein, sondern das „Geheimnis Gottes, das Christus ist, in welchem verborgen liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ (2, 2b.3.) erkannt werden. Vgl. auch KD III/2, 199: „Aber die Existenz des Menschen Jesus ist ja im Neuen Testament zwar auch eine soteriologische, die soteriologische Wirklichkeit und darum Joh. 1, Kol. 1, Hebr. 1 dennoch und wohl gerade darum auch in ihrer ontologischen Bedeutung sichtbar gemacht.“ Vgl. auch unten: Abschnitt 3.2.2. und Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik I, 21959, 511–514.

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3.1.2.2 Die Konzentration der Schöpfungstheologie in der christologischen Anthropologie Dass es sich in der Anthropologie nun aber um den Kern der Schöpfungstheologie handelt, resultiert aus der Tatsache, dass Christus, das Wort Gottes, Mensch geworden ist. Gott der Schöpfer – wie der Versöhner – hat seine Identität bestimmt, indem er der Mensch Jesus von Nazareth wurde. Nur als solcher ist er auch der Christus. Die Relation Gott – Schöpfung, stellt sich nun also gleichsam als ‚Identitätsrelation‘ Jesu Christi dar. Das schließt für die Schöpfungslehre den Erkenntnisraum einerseits als theologische bzw. christologische Anthropologie auf, andererseits begrenzt diese Tatsache ihre Möglichkeiten, insofern sie nur über das Verhältnis von Gott und Mensch Aussagen treffen kann. Es zeichnet sich also eine unhintergehbare Differenz von ontischem und noetischem Grund ab: Einerseits ist in der Person Jesu Christi der Kosmos, alles Seiende, geschaffen und wird von ihm getragen – das ist nicht in Abrede zu stellen –, andererseits aber gibt das Wort Gottes nur den Blick auf das eine Verhältnis frei: Das Wort Gottes handelt von Gott und vom Menschen. Es enthält darum zweifellos eine Ontologie des Menschen und eben mit ihr werden wir es in der theologischen Lehre vom Geschöpf zu tun bekommen: mit der Ontologie des Menschen unter dem Himmel auf der Erde. Das Wort Gottes enthält aber keine Ontologie des Himmels und der Erde.47

Die Näherbestimmung Gottes des Schöpfers, seine Identität in Jesus Christus, verjüngt den Zugang zum Phänomenbestand Welt auf den des Menschlichen. Aus der Christologie lässt sich nur eine Anthropologie, nicht aber eine elaborierte Kosmologie ableiten. Von der Welt lässt sich dann wiederum nur behaupten, dass sie ist und dass sie gut ist, insofern sie Gegenstand des schöpferischen Handelns Gottes in Jesus Christus ist. Vom Menschen muss natürlich ebenfalls behauptet werden, dass er ist und gut ist, insofern er Teil der Schöpfung, im Kosmos ist, aber es kann und muss darüber hinaus noch mehr von ihm gesagt werden, insofern er in seinem Menschsein gleichsam der intime Partner Gottes ist. Gott selbst hat seine Existenzform geteilt und – allein – diese damit ein für allemal als eine auf Gott ausgerichtete bestimmt und für die theologische Erkenntnis erschlossen. Es ist die ‚Logizität‘, die Worthaftigkeit des Menschseins Jesu Christi, die die ‚Logizität‘ des Menschseins überhaupt erschließt und theologischer Anthropologie und von dort aus der Schöpfungstheologie Boden verschafft. Als Entzifferung des Wortes Gottes werden die Theologie zur Christologie und die Christologie zur Anthropologie.

47

KD III/2, 5.

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Barth setzt in §43 deshalb mit einer erneuten Kritik der Weltanschauungen ein und nimmt die Ambivalenz des Verhältnisses zwischen ihnen und der Theologie wieder in den Blick. Nun aber von der Einsicht her, dass der Schöpfungstheologie, aufgrund der Offenbarung Gottes im Menschen Jesus, nur eine anthropozentrische Sicht möglich ist. Das Verhältnis zur nichtchristlichen Weltanschauung entschärft sich deshalb zunächst merklich, da sich die christliche Schöpfungslehre aus dem Bereich der Kosmologie auf den der Anthropologie zurückzieht und sich erkenntnistheoretisch selbstbeschränkt. Diese Selbstbeschränkung bedeutet aber andererseits einen Gewinn an neuer, innerer Freiheit, die jederzeit auch zur äußeren Freiheit gegenüber der Weltanschauung werden kann. Der christliche Glaube kann sich zwar mit ihr verbinden, bis hin zur ‚Symbiose‘, er kann aber nie zur Weltanschauung degenerieren, sondern wird sich ihr gegenüber immer frei und ‚eklektisch‘ verhalten, will er sich als ‚christlicher‘ Glaube nicht ad absurdum führen.48 Die Reduktion der Erkenntnis auf das Wort Gottes und damit auf das Verhältnis von Gott und Mensch in Jesus Christus hat also einerseits zur Folge, dass der Raum der Kosmologie für die exakte Wissenschaft freigegeben wird, insofern theologische Anthropologie und christliche Schöpfungslehre keine detaillierten Aussagen über die Welt machen können – das Wort Gottes enthält „keine Eröffnungen über das Innere der Verhältnisse zwischen Gott und den anderen Kreaturen.“49 Andererseits wertet Barth diese Fokussierung positiv, indem er behauptet, dass die Schöpfungslehre genug „an dem Wissen darum (habe), wie es zwischen Gott und dem Menschen steht.“50 Der Mensch sei als Zentrum der Welt auch dessen Licht: „Es ist der Ort in der Welt, wo sie hinsichtlich ihres Verhältnisses zu Gott hell, von woher sie in ihrem ganzen übrigen Bestand hinsichtlich ihres Verhältnisses zu Gott beleuchtet wird.“51 Barth legitimiert also aus dem Wort Gottes das Fortschreiten vom schöpfungstheologischen Grenz- zum anthropologischen Kernbereich und damit die notwendige Anthropozentrik der Schöpfungslehre. Dass diese Entscheidung nicht in allen theologischen Lagern Freunde finden konnte, insbesondere im Blick auf die heraufziehende ökologische Krise, ist verständlich.52 48 Ebd., 6–10. Barth lehnt später folgerichtig auch die Lehre vom Menschen als Mikrokosmos ab, da hier „der Versuch gemacht wird, der Anthropologie selbst und als solcher die Funktion und die Würde einer Kosmologie zuzusprechen“ (15). Der Anthropologie steht aber eine solche Spekulation nicht zu, da sie auch hier über ihren – auf das Verhältnis von Gott und Mensch beschränkten – Zugang im Wort Gottes hinaus gehen müsste. 49 Ebd., 17. Der Versuch in das Innere des Verhältnisses von Gott und der nicht-menschlichen Kreatur zu blicken sei nicht „verboten“, aber es gäbe „kaum eine Anleitung“ in der Heiligen Schrift für solche Spekulationen (vgl. ebd.). 50 Ebd., 18. 51 Ebd., 19. 52 Vgl. oben Abschnitt 1.3.5.

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Es darf dabei aber nicht übersehen werden, dass es sich nur um eine noetische Anthropozentrik handelt, die keinesfalls die Beziehung Gottes des Schöpfers – und auch des Versöhners – zu den Geschöpfen leugnet und damit einen instrumentellen Umgang mit der Schöpfung Vorschub leisten will. Hier ist Barth in Schutz zu nehmen, insofern er zuvor klargestellt hat und später klarstellen wird53, dass die Behauptung, die Welt und die Kreaturen seien Schöpfung und Geschöpfe Gottes, auf ein bestehendes Rechtsverhältnisses verweisen. Die Schöpfung gehört Gott, weil er sie ins Sein gerufen hat, in ihm hält und sie vollenden wird. Deshalb steht sie dem Menschen ‚nicht zur herrschaftlichen Verfügung‘, sondern nur zum treuhänderischen Bebauen und Bewahren.54 Dennoch bleibt in Barths Theologie etwas Unabgegoltenes, wenn er die Reduktion auf die Anthropologie und den Menschen als Licht des Kosmos, nicht wieder aus der Begrenzung in die Weite führt. Inwiefern ist der Mensch, ist Christus, das Licht des Kosmos? Barth betont: „Was vor uns liegt, ist also nicht willkürlicher, sondern legitimer Weise die Anthropologie und nur die Anthropologie.“55 Folgt man Barth im Ersten, dass es sich um die Behandlung der Anthropologie als Kern christlicher Schöpfungslehre handeln muss, so lässt sich doch das Zweite, nämlich die Ausschließlichkeit, das „nur“, hinterfragen. Gerade im Blick auf das biblische Zeugnis (insbesondere Gen 1und 2) kann diese Konzentration der Schöpfungslehre auf die Anthropologie nur relativen Wert beanspruchen. Zum Menschen gehört nämlich elementar auch seine ‚Mit-Geschöpflichkeit‘. Nach alttestamentlichem Zeugnis ist es der gleiche „Odem“, der den Menschen wie auch die Tiere beseelt.56 Eine Begrenzung der theologischen Erkenntnis – über eine Konzentration hinaus – allein auf den Bereich der Anthropologie ist dem Alten Testament fremd. Und auch im Neuen Testament lässt sich die Logoschristologie etwa der Hymnen in ihrer Reichweite nicht auf eine Schöpfungsmittlerschaft im Blick auf das menschliche Wesen beschränken. Wenn Barth sich hier beschränkt, dann hat das ein äußeres, d.h. apologetisches Interesse, insofern jeder Spekulation natürlicher Theologie gewehrt werden soll, und auch ein inneres, d.h. programmatisches Interesse, insofern er sein Verständnis des Logos als personalistisch-dialogisches Schema positionieren will. Nur im Bereich des Menschlichen ist von einem wirklich 53

Vgl. KD III/1, 38–41 und KD III/4, §55, 366ff. KD III/1, 231–233. Vgl. hierzu auch Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, 306ff: „Weil der Mensch ein Herr ist, kann er dienen“ (307). 55 KD III/2, 20. 56 Vgl. hierzu Hans Walter Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, Gütersloh 61994. Wolff macht deutlich, dass der eingeblasene Geist Gottes (ruach) nicht nur den Menschen zur lebendigen Seele (näphäsch) macht, sondern auch die Tiere. Der Mensch ist Fleisch (basar), er hat einen Körper, wie die Tiere. 54

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personalen Gegenüber zu sprechen, für alles andere gilt ein theologisches Schweigegebot. Barth schließt sich und die theologische Anthropologie damit aber ein Stück weit ab und legt sich schon hier auf sein dialogisches Schema fest. Er sieht die Weite des Logos eher als Bedrohung denn als Chance oder Herausforderung, auf gleicher Augenhöhe in ein Gespräch mit den Weltanschauungen einzutreten. Aber ließe sich nicht doch ein freilich kritisches Gespräch mit anderen Bereichen der Naturwissenschaften an das mit den nicht-theologischen Anthropologien, anschließen? Wird die ‚Struktur‘ des Wortes Gottes, im Sinne eines personalistischen Dialogdenkens, nicht überschätzt? Sollte die Vorstellung des Logos als eine Art Weltprinzip einfach apodiktisch ausgeschlossen werden? Die Fragen werden von Barth hier nicht beantwortet. In der Spätphase seiner Theologie wird er sie aber aufnehmen und in einer neuen Weite bearbeiten.57 3.1.2.3 Die Lehre vom wahren Menschen und die anderen Anthropologien Barth betritt nun also das Feld der Anthropologie. Ähnlich wie zu Beginn der Schöpfungslehre in KD III/1 formuliert er hier zunächst einmal den Anspruch theologischer Anthropologie, der im Wort Gottes bzw. im Glauben begründet ist: sie entfaltet [...] die Wahrheit des menschlichen Wesens. Indem ihr der Mensch gerade so zum Erkenntnisgegenstand wird, sieht und erklärt sie nicht nur eine Erscheinung, sondern die Wirklichkeit, nicht ein Äußeres, sondern das Innerste, nicht einen Teil, sondern das Ganze des menschlichen Wesens.58

Die theologische Anthropologie hat – insofern sie die Heilige Schrift auslegt, insofern sie im Lichte Gottes, von Christus her, den Menschen in den Blick nimmt – den genuinen Zugang zum „wahren und wirklichen Menschen“59. Wiederum wird dieser – freilich absolute – Anspruch nicht nur klar ausgesprochen, sondern er soll im wahrsten Sinne des Wortes auch ‚behauptet‘ werden, indem er zunächst in den Vergleich mit anderen Anthropologien geführt wird: „Mit jenem besonderen Ursprung (sc. das göttliche 57 Hier muss tatsächlich auf die weitere Entwicklung in der KD hingewiesen werden. In der sog. Lichterlehre (KD IV/3‚ 40–187) – so könnte man sagen – lichtet sich der Bereich des Kosmos dann wieder ein Stück weit von Christus her. Die Christozentrik Barths wird freilich nicht aufgehoben, aber vor ihrem Hintergrund kann er positiv vom „Dasein“, vom „Rhythmus“, von „Gesetzen“ und „Ordnungen“ und zuletzt von der „Freiheit und Tat“ des Menschen sprechen (KD IV/3, 162–171). 58 KD III/2, 21 (Hervorhebungen, T.W.). 59 Barth befindet sich mit dieser Terminologie automatisch im Gegenüber zu Emil Brunner, der gerade unter dem „wirklichen Menschen“, den Sünder, unter dem „wahren Menschen“ den Gerechtfertigten versteht. Der „wirkliche Mensch“ ist nach Brunner, der Mensch im Widerspruch, der Rebell Gottes, während Barth gerade darin den in Christus erwählten Menschen erkennt.

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Licht) und mit diesem besonderen Anspruch grenzt sie sich ab gegenüber den sie hier scheinbar konkurrenzierenden andersartigen Versuchen menschlicher Selbsterkenntnis.“60 Auch die theologische Anthropologie, wie die Schöpfungslehre, gehört auf das ihr entsprechende Feld der Bewährung, also der Humanwissenschaften, auch sie muss ihr säkulares Gegenüber suchen, um die Wahrheit des Menschen in der Öffentlichkeit zu bezeugen. Barth vermerkt, dass sich die Anthropologie lange Zeit in der Kosmologie und Theologie verhüllen konnte, dass sie zwar schon für Sokrates und Augustin im Altertum, dann für Descartes, von großer Bedeutung war, in der Neuzeit aber besonders von Feuerbach in den Rang der Grundwissenschaft erhoben worden sei. Die theologische Anthropologie wird also zu Recht zur zentralen Kontaktdisziplin zwischen Theologie und Philosophie; ihre notwendige Fokussierung im Bereich der Schöpfungstheologie entspricht dieser hohen Wertigkeit. Barth versucht sich aber auch hier nicht einfach die Wissenschaftlichkeit theologischer Reflexion absprechen zu lassen, nur weil sie einen absoluten Anspruch und einen anderen Inhalt als andere Anthropologien aufweist und somit eine „Wissenschaft sui generis“61 zu sein beansprucht. Vielmehr wird sie, indem sie ihrer eigenen Rationalität, dem Licht Gottes, treu bleibt, auf dem Feld der Anthropologie ihren Platz suchen und finden; sie wird ihre Kontakt- und Verbindungsmöglichkeiten zu anderen anthropologischen Reflexionen ausloten. Das vollzieht Barth in einem ersten Gedankengang zum Verhältnis von nicht-theologischer und theologischer Anthropologie. Dabei kommt es zunächst zu einer Grenzbetrachtung, die die theologische Anthropologie als Wissenschaft des Ursprungs anthropologischen Wissens, als epistemische Metatheorie erscheinen lässt. Die theologische Anthropologie geht aufgrund ihres Ursprungs und Anspruchs nicht einfach in der Masse der Anthropologien unter, sondern sie führt „Mindestanforderungen“ und „Kriterien“62 ein. Im Gegensatz zu den oben erwähnten Verhältnisbestimmungen von Theologie und Weltanschauung wird hier nun nicht mehr nur zwischen theologischer und nicht-theologischer Anthropologie, sondern auch zwischen den säkularen Anthropologien als solchen differenziert. Tritt die theologische Anthropologie ‚auf den Plan‘, dann ergibt sich ein klares Bild, dann wird sie Feinde und, wenn nicht Freunde, so doch ‚NichtFeinde‘ finden, dann wird die Differenzierung zweier Typen anthropologischer Theorien nötig und möglich: Zum ersten erscheint der spekulative Typ der Anthropologie, ‚der Feind‘, der vor allem im Mythos und der Philosophie zu finden ist. Er zeichnet sich 60

Ebd., 22. Karl Barth, Einführung, 24. 62 Vgl. KD III/2, 82–86. 61

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dadurch aus, dass er im Zusammenhang einer entfalteten Weltanschauung steht, die selbst unter Einschluss des Gottesgedankens – ein Faktum, das Barth auch hier bezüglich der Beurteilung für unwesentlich hält – noch ein ungebrochenes Selbstvertrauen an den Tag legt. Der spekulative Typ meint, dass „der Mensch mit sich selbst bzw. mit seinem Urteil so etwas wie einen absoluten Anfang setzen“63 könnte, um von dort aus die Selbsterkenntnis auf- und ausbauen zu können – damit weist Barth auf das Thema der Zirkularität der Erkenntnis zurück bzw. vor. In jedem Fall begnügt sich die Spekulation nicht mit einer begrenzten Hypothesenbildung und mit dem Wissen um die eigene Relativität, vielmehr muss sie sowohl in die Richtung der Begründung ihre Voraussetzungen in Axiome vertiefen, als auch in die Richtung der Ergebnisse diese zu einem ganzheitlichen Bild zusammenstellen und ihre Erkenntnis in Suffizienz hinein erhöhen. Sie muss deshalb zum Feind der theologischen Anthropologie werden, insofern diese für sich Absolutheit beansprucht.64 Diesem anthropologischen Typ steht der zweite entgegen, die exakte Wissenschaft vom Menschen. Barth verwehrt diesen Anthropologien, die er mit den Disziplinen der Physiologie, Biologie, Psychologie und Soziologie identifiziert – und die man unter dem nicht unumstrittenen Begriff der empirischen Humanwissenschaften zusammenfassen könnte –, nicht den Namen Wissenschaft, gerade weil sie um ihre Beschränktheit wissen und somit, nur von Hypothesen ausgehend, ‚exaktes‘ Wissen zu Tage fördern. Sie bauen sich nicht zu umfassenden Anschauungen aus, respektieren die Pluralität der Zugangsweisen zum Menschen und setzen eigentlich schon voraus, „daß er und was er ist“; sie versuchen nur „aufzuklären, wie er ist“. „Die exakte Wissenschaft vom Menschen kann (deshalb) nicht der Feind des christlichen Bekenntnisses sein.“65 Sie ist vielmehr dem Menschen als gutes Werk aufgegeben, welches das gute Werk theologischer Anthropologie als Bestimmung der Wahrheit, Wirklichkeit und Ganzheit des Menschen nicht verhindert, sondern dieses zu konkretisieren und durchzuführen hilft. Der Wahrheitsanspruch theologischer Anthropologie ist hier nicht tangiert, so dass diese sich mit der exakten Wissenschaft eben so weit verbinden kann, wie deren Bescheidenheit reicht.

63

Ebd., 24. KD IV/3, 169: „Es geht, im Grunde einfach, darum, daß (die Kreatur) – zwar Kreatur, mehr als das aber nicht ist: begründet, aber nicht in und durch sich selbst begründet.“ Alle spekulative Wissenschaft läuft für Barth auf eine solche Selbstbegründung hinaus. 65 KD III/2, 26. 64

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3.1.2.4 Die Möglichkeit theologischer Anthropologie und die Wirklichkeit der Sünde Barth führt diese Unterscheidung hier noch nicht an konkreten Beispielen aus, wendet die erhobenen Kriterien nicht an, denn es stellt sich zunächst eine ganz andere Frage, die sich aus dem behaupteten Anspruch ergibt und zur Klärung der Möglichkeit theologischer Anthropologie überhaupt, wie des besonderen Charakters der Anthropologie Barths, von zentraler Bedeutung ist. Mit der Differenzierung der nicht-theologischen Anthropologien und der Ausscheidung der spekulativen Theorie aus dem Kreis der möglichen Partner, hat Barth nun die Rückfrage evoziert, wie die theologische Anthropologie nun aber positiv ansetzen und sich entfalten kann. Dabei schiebt sich gleichsam die spezifisch theologische Frage zwischen die Beschreibung der anthropologischen Typen und die Durchführung seiner Anthropologie, inwiefern nämlich überhaupt die Möglichkeit besteht, angesichts der Sünde vom Menschen zu sprechen. Diese Zwischenfrage ist der Auseinandersetzung mit Emil Brunner geschuldet, hat aber hier sicher ihren sinnvollen Ort. Kann also die Anthropologie im Lichte des Wortes Gottes die Wahrheit und Wirklichkeit des Menschen überhaupt erreichen, wenn das Wort Gottes selbst von der Unwahrheit des Menschen und der Möglichkeit spricht, dass er sein Leben verwirken kann? Lässt sich die Wahrheit und Ganzheit der Geschöpflichkeit überhaupt erheben, wenn sich die Sünde ständig in den Weg stellt, den Blick nicht nur trübt, sondern ganz nimmt? Der wichtigste Kontrahent Barths – jedenfalls auf dem Feld der theologischen Anthropologie – war seit der Spätphase der Dialektischen Theologie Emil Brunner. Brunners anthropologische Schriften waren zunächst ganz auf den Streit mit Barth66 bezogen, wobei sich die Diskussion an den Begriffen des „Anknüpfungspunktes“ und der „Offenbarungsmächtigkeit“ entzündete. Dann hatte Brunner eine umfängliche Monographie zur theologischen Anthropologie vorgelegt. Ihr Titel, „Der Mensch im Widerspruch“67, war auch Programm. Brunner stellt sich darin ebenfalls dem Gespräch mit den nicht-theologischen Anthropologien und grenzt sich ähnlich wie Barth scharf von ihnen ab, nur dass diese Grenzlinie anders verläuft. Der Mensch hat zwar die Möglichkeit, etwas von sich und über sich in Erfahrung zu bringen, durchaus Wahres und Wirkliches, aber diese natürliche Erkenntnis kann in ihrer höchsten Aufgipflung nur eine vorläufige Sündenerkenntnis sein, nicht mehr und nicht weniger. Die eristische Theologie hat nun die Aufgabe, „an das natürliche Selbstverständnis des Menschen anzuknüpfen und seine Erfüllung in der Glaubenserkenntnis, 66

Vgl. oben 3.1.1.1. Emil Brunner, Der Mensch im Widerspruch und seine Kleinschrift: Gott und sein Rebell. Eine theologische Anthropologie, bearb. und hg. von U. Berger-Gebhardt, Hamburg 1958. 67

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jenes Auslaufen in der negativen Spitze vom Glauben aus deutlich zu machen.“68 Sie erweist den über sich selbst sprechenden Menschen als einen im Widerspruch zum Wort Gottes. Die theologische Anthropologie hat damit also die menschliche Wirklichkeit aufzubereiten und darin den Sünder zu erkennen und gleichsam herauszuarbeiten. Dieses Vorgehen muss allerdings auf den Widerspruch Barths stoßen, denn es könnte einer Ermächtigung des spekulativen Typs der Anthropologie gleichkommen, insofern die theologische Anthropologie den Weg der Spekulation mitgeht, um ihr im entscheidenden Moment die Wahrheit über sich selbst als Sündenerkenntnis zu eröffnen und die Antwort des Glaubens ins Spiel zu bringen. Einerseits wird eine solche theologische Anthropologie sich aber viel zu spät verweigern und damit ihren Ursprung und absoluten Anspruch verleugnen; sie bleibt die Bezeugung der Wahrheit Gottes schuldig, die schon im Ansatz den Erkenntnisgang der Anthropologie bestimmen muss. Andererseits wird sie aber auch die Wahrheit und die Wirklichkeit des Menschen verfehlen, denn indem sie das anthropologische Wissen aufbereitet und in die negative Spitze hinein verdichtet, kann sie die Ergebnisse der exakten Wissenschaften letztlich nicht recht würdigen und übersieht dabei die Äußerungen der guten Geschöpflichkeit des Menschen. Diese Konzeption wäre überdies nicht davor geschützt, in einen Sündenpessimismus69 abzugleiten, in dessen Zug dem Menschen etwas eingeredet werden könnte, was eigentlich gar keine Sünde ist – sondern nur ein Zeichen der Schattenseite der Schöpfung –, und der von den nicht-theologischen Anthropologien als Diskreditierungsversuch abgelehnt werden müsste: (Man) wird, indem man dieses Menschliche übersieht und leugnet, wenn man von des Menschen Sünde redet, den Menschen wahrscheinlich an einer Stelle anklagen, wo er sich zwar sicher als fehlbar und unvollkommen erkennen muß, aber nun doch ehrlicherweise nicht als eigentlich und radikal böse im Sinn des christlichen Begriffs der Sünde erkennen kann.70

Es fällt also auf, dass Barth den Weg der spekulativen Theorie und erst recht den der exakten Wissenschaften nicht einfach unter den Generalverdacht der Sündhaftigkeit stellt. Überhaupt bringt er das Thema Sünde nicht 68

Brunner, Die Frage nach dem Anknüpfungspunkt, 531. Barth ist in dieser Kritik meines Erachtens Recht zu geben, insofern Brunner in seinem Buch „Der Mensch im Widerspruch“ knapp 500 Seiten für die Darstellung des „wirklichen Menschen“ benötigt, allerdings für „die Aufhebung des Widerspruchs zwischen dem wirklichen und dem wahren Menschsein“ (499) lediglich knapp 20 Seiten übrig hat. 70 KD III/2, 336: Barth setzt sich hier mit einem Grundtyp der Verkündigung auseinander, der in klarem Schema den Menschen zunächst durch die Gesetzespredigt zerknirscht, um ihn dann mit dem Evangelium wieder aufzubauen. 69

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in die Auseinandersetzung mit den nicht-theologischen Anthropologien ein, vielmehr ist die Sünde eine interne, theologische Frage, während die gute Geschöpflichkeit sehr wohl zum interdisziplinären Thema werden kann und muss. Es ist gerade und allein das Wort Gottes bzw. die Heilige Schrift, die von des Menschen Sünde und davon sprechen kann, dass der „wirkliche Mensch“71 als „Verräter an sich selbst, als Sünder gegen sein geschöpfliches Wesen“72 verstanden werden muss. Es gibt gar keine natürliche Erkenntnis der Sünde, keine Erkenntnis, die aus den anthropologischen Phänomenen herausdestilliert werden könnte; dafür aber ist das Zeugnis der Heiligen Schrift umso eindeutiger. Jede theologische Anthropologie sieht sich zunächst mit der Verkehrung und der Verderbnis des Menschen, nicht mit der ‚Art‘, sondern der ‚Unart‘ konfrontiert. Aus solcher Primärerkenntnis theologischer Anthropologie wird dann freilich auch verständlich, dass der Ansatz bei der Selbsterkenntnis für sie nicht in Frage kommen kann: Der Widerspruch zu uns selbst, in welchem wir uns wegen unseres Widerspruchs zu Gott befinden, ist ernstlich. Er verhindert wirklich auch das, daß wir uns selbst einsichtig werden können. Wir sind uns weder einsichtig, noch durchsichtig, noch übersichtlich.73

Nur, wie ist dann theologische Anthropologie überhaupt möglich, wenn sie die Geschöpflichkeit des Menschen beschreiben will? Allein wenn ein Blickwinkel oberhalb bzw. jenseits der Sünde eingenommen werden könnte, wenn diese als Primärerkenntnis durchstoßen und als sekundär erwiesen werden könnte, ist theologische Anthropologie im Sinne Barths möglich. 3.1.2.5 Sündenerkenntnis als Element der Gnadenerkenntnis Es ist also der zweite Blick auf das Wort Gottes, der eine neue Ordnung offenbart und die Erkenntnis des wahren Menschen überhaupt möglich macht. Das Wort Gottes spricht eben nicht nur von der Sünde, sondern in erster Linie von der Gnade Gottes, und wenn es von der Sünde spricht, dann als Gegenstand der Überwindung in Jesus Christus. Stellt sich also das 71

Erneut zum Terminus „wirklicher Mensch“. Zum ersten kann er den Menschen in seiner Geschöpflichkeit, also seine Natur bezeichnen (vgl. etwa KD III/2, 27f; 68 u.ö.), zum zweiten aber auch den Menschen im Widerspruch (Mensch im Widerspruch, 29f; 36 u.ö.) – was dem Gebrauch Brunners entspricht (ebd., 499ff), zum dritten kann aber auch Jesus Christus als „der wirkliche Mensch“ (ebd., 51) bezeichnet werden. Der Begriff umspannt damit die ganze Weite seines Ansatzes, den im engeren Sinne anthropologischen, soteriologischen und christologischen Aspekt, so dass es auf die rechte Unterscheidung ankommt, die dem Leser auf dem Hintergrund des Kontextes aufgegeben ist. Vgl. hierzu Stock, Anthropologie der Verheißung, 16 (Anm. 11) und 18. 72 KD III/2, 29. 73 Ebd., 34.

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Phänomen der Sünde der theologischen Anthropologie zunächst in den Weg, so wird es durch den Blick auf die Gnade an einen anderen Ort der Erkenntnisordnung verwiesen und als Phänomen dort erst in adäquater Form erkannt. Die Sünde, so radikal und total sie ist, hat nicht den Rang des ersten und nicht den des letzten Wortes über den Menschen, sie ist vielmehr von der gnädigen Zuwendung in Jesus Christus ausgeschieden worden und die „Sündenerkenntnis ist somit (nur noch) ein Element der Gnadenerkenntnis.“74 Wird aber die Sünde erst von ihrer Überwindung her erkannt, dann gehört sie folglich auch nicht in den Zusammenhang der theologischen Anthropologie, der es ja um die gute Geschöpflichkeit und Natur des Menschen geht, sondern „in den Zusammenhang der Lehre von der Versöhnung.“75 In voller Breite finden sich hamartiologische Ausführungen deshalb erst in KD IV, wo sie direkt an die Soteriologie gebunden sind, man könnte sagen, als in der Versöhnung in Christus verschlungene thematisiert wird.76 Barth führt in der Ausscheidung des Themas Sünde für die theologische Anthropologie damit aber auch eine folgenschwere Differenzierung innerhalb der Christologie ein bzw. durch – wie es sich schon zuvor abzeichnete. Er spaltet die Christologie in eine ontologische, schöpfungstheologische und in eine soteriologische auf. Das einmalige Handeln Gottes in Jesus Christus konstituiert sowohl die geschöpfliche Natur als auch die Rettung gegen den menschlichen (Selbst-)Widerspruch. Dadurch entsteht eine innere Spannung, von Schöpfungs- und Versöhnungslehre, die Barth durch die Kategorie der Verheißung und des Bundes umfasst und überbrückt sieht, die er nun aber für den ausschließlichen Blick auf die schöpfungstheologische Grundlage des Menschseins nutzt. Barth thematisiert die Sünde hier zu Beginn von KD III/2 (nur) und macht den Eindruck ihrer Gewichtigkeit als Einspruch gegen den Ansatz seiner theologischen Anthropologie so stark, um sie als Thema aus ihrem Gang nachhaltig auszuschließen, um freie Bahn zur Erörterung des Wissens Gottes zu bekommen: „Eben das, was Gott – über des Menschen Sünde hinaus, in der Freiheit seiner Gnade auch des Menschen Sünde relativierend, überblickend und durchschauend – vom Menschen weiß, ist des Menschen geschöpfliches Wesen“.77 74

Ebd., 41 (Hervorhebung von T.W.). Ebd., 39. 76 Die Komposition von KD IV/1 suggeriert dieses Bild des Verschlungenseins als auch gleichsam ein ans Licht Gezogen-Werden des Menschen: §60 „Des Menschen Hochmut und Fall“ folgt dem christologischen Paragraphen: „Der Gehorsam des Sohnes“. Paragraph 61 heißt dann: „Des Menschen Rechtfertigung“. Ebenso gestaltet Barth später die Abfolge von §64 „Die Erhöhung des Menschensohnes“ – §65 „Des Menschen Trägheit und Elend“ – §67 „Des Menschen Heiligung“ und §69 „Die Herrlichkeit des Mittlers“ – §70 „Des Menschen Lüge und Verdammnis“ – §71 „Des Menschen Berufung“. 77 KD III/2, 43/44. 75

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Die theologische Anthropologie als Beschreibung der geschöpflichen Natur des Menschen ist also nur aufgrund der Tatsache möglich, dass im gnädigen Verhalten Gottes gegenüber dem Sünder dessen Natur erkennbar wird, weil sie von Gott gegen die Sünde durchgehalten und bejaht wird.78 Indem Gott Mensch wird, bestimmt er das Wesen des Menschseins, das er gleichzeitig gegen den Widerstand und die Verkehrung in Schutz nimmt. Die Möglichkeit theologischer Anthropologie im Sinne Barths basiert deshalb auf der Möglichkeit einer ontologischen Christologie. Der zeigende Finger des Pilatus – nicht der des Johannes –, das „ecce homo!“ (Joh 19, 5), wird zur Grundlage der Anthropologie: „Dieser Mensch ist der Mensch“.79 Das bedeutet konsequenterweise: daß wir also bei der Entfaltung der Lehre vom Menschen Punkt für Punkt zunächst auf das Wesen des Menschen blicken müssen, wie es uns in der Person des Menschen Jesus entgegentritt, um dann erst und von da aus [...] auf das Wesen des Menschen zu blicken, wie es das Wesen jedes Menschen, aller anderen Menschen ist.80

Barth wird diese Vorgabe methodisch einlösen, indem er jeder anthropologischen Betrachtung, zur Sozialität (§45), zum Verhältnis von Leib und Seele (§46) und zur Zeitlichkeit des Menschen (§47), jeweils einen christologischen Abschnitt voranstellt. Freilich ist dabei die Differenz zwischen Christologie und Anthropologie zu wahren, insofern es sich in der Beschreibung des Menschseins Jesu um das Menschsein Gottes, des Sohnes, handelt. Er allein existiert also in der Einheit mit dem Schöpfer und nur in ihm sind die vielen mit ‚hinzuerwählt‘, in die Gemeinschaft mit Gott – schon qua Schöpfung – hinein genommen; darin besteht das Privileg Jesu, das nicht übersehen werden darf. Überdies ist er allein ohne Sünde, denn er überwindet gerade, ganz aus der Beziehung zu Gott lebend, den grundlosen Widerstand des Menschen. Und deshalb wird nur in ihm die ursprüngliche gute Natur des Menschen wirklich offenbar, denn der Schleier der Sünde verhüllt die Erkenntnis seiner Natur nicht. Jesus ist deshalb aber der erste Mensch, wie Gott ihn gewollt und geschaffen hat. Die Wahrheit, Ganzheit und Wirklichkeit des Menschen lässt sich nur als Beschreibung des Menschseins Jesu Christi ermitteln: „Wir wissen durch ihn, was wir als Menschen eigentlich sind, oder wir wissen es überhaupt nicht. Unsere Selbsterkenntnis kann nur ein Akt der 78

Insofern hat Stock (Anthropologie der Verheißung, 18) recht, wenn er behauptet: „Die christologische Begründung erreicht das Thema theologischer Anthropologie auf dem Wege eines Rückschlußverfahrens aus dem versöhnenden auf das schöpferische Wirken Gottes“. Im Gedankengang, d.h. der Makrostruktur, der KD ist die innere Abfolge der Christologie, nämlich von Soteriologie und Ontologie umgekehrt und dadurch in ein Verheißungsverhältnis umgeformt worden. 79 KD III/2, 49. 80 Ebd., 54.

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Nachfolge sein. Aber eben als Akt der Nachfolge kann sie wirkliche, begründete, gewisse Erkenntnis werden.“81 An dieser Stelle ist allerdings auch schon kritisch festzuhalten, dass Barths Entscheidung, die Sünde aus dem Gedankengang seiner Anthropologie auszuscheiden, ein ambivalentes Ergebnis erzeugt. Einerseits verschließt er sich nicht den nicht-theologischen Anthropologien, etwa indem er deren Ergebnisse ins dunkle Licht der Sünde rückt und so als defizitäre Erkenntnis bekrittelt, andererseits aber rückt er von den Phänomenen des Menschen gerade im Widerspruch und in der Selbst- und Gottesentfremdung so weit ab, dass nur mehr das Idealbild des wirklichen Menschen Jesus Christus, im Sinne des eigentlichen Seins des wahren Menschen als Thema übrigbleibt. Das konsequente Schweigen von der Sünde im anthropologischen Teil der KD ist allerdings zu radikal, weil es dem Menschen seine gebrochene Wirklichkeit nicht zugesteht und den ‚wirklichen Menschen‘ als Sünder vom ‚wahren Menschen‘ in der Beziehung zu Christus zu weit entfernt. Barth vermeidet zwar eine Aufspaltung der Sündenerkenntnis in eine natürliche, gleichsam vor-theologische und eine christologisch begründete, verstellt sich aber – hier in der Schöpfungslehre – mit seinem Schweigen zur dunklen Seite des Menschen den Zugang zu einem realistischen, an der Erfahrung orientierten Menschenbild.82 3.1.2.6 Die Phänomene des Menschlichen und das Wesen des Menschen Die theologische Anthropologie hat in der Christologie also ihren Grund gefunden, von dem aus sie den wirklichen Menschen erkennen kann. Für jede andere Anthropologie bedeutet das aber, dass diese, insofern sie die Wirklichkeit und das Wesen des Menschen zu erkennen beansprucht, theologische Anthropologie in diesem Sinne sein bzw. werden muss, oder auf ihren Anspruch und den jeweiligen spekulativen Erkenntnisversuch zu verzichten hat. Damit lässt sich aber die Frage nach dem Verhältnis von theologischer und nicht-theologischer Anthropologie und dadurch vermittelt von Schöpfungstheologie und Weltanschauung immer noch nicht von der Tagesordnung nehmen, denn die nicht-theologische Anthropologie hat nicht unbedingt eine unwahre, unwirkliche oder sündhafte, sondern bloß eine – freilich prinzipiell und entscheidend – defizitäre Erkenntnis. Das 81

Ebd., 61. Pannenberg sieht das ganz anders, indem er gerade von einer natürlichen Erkenntnis des Elends des Menschen und seiner Entfremdung spricht, die allerdings erst in der theologischen bzw. christologischen Erkenntnis der Sünde vollkommen erfasst werden kann. Vgl. hierzu unten 4.2.4. Es bleibt letztlich die Herausforderung der theologischen Anthropologie, das Verhältnis von Sünde und Erfahrung näher zu bestimmen. Ist aber ein Erfahrungsbezug nur unter dem Vorzeichen der Sünde möglich? 82

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hängt im Kern mit ihrer Zirkularität zusammen, die Barth hier nun – in §44, Abschnitt 2 – (erneut) ausdrücklich diagnostiziert: „Menschliche Selbsterkenntnis [...] muß von allen unseren Kriterien her als Zirkel bezeichnet werden, in welchem wir an den wirklichen Menschen niemals herankommen werden.“83 Insofern die Anthropologie vom Menschen ausgehend, dessen Wesen erheben will, bleibt sie der Sphäre des Menschlichen verhaftet, sie geht von einem Grund aus, den sie eigentlich erst begründen müsste. Barth nimmt damit das Hauptargument der kritischen Subjektivitätsphilosophie Dieter Henrichs vorweg84 und wendet es auf den gesamten Bereich anthropologischer Erkenntnis, etsi Christus non daretur, an. Solange nicht eine Erkenntnis von außen – von dem sich in Christus selbstoffenbarenden Gott – ermöglicht und auf den Weg gebracht, solange nicht der Zirkel von außen durchbrochen wird, bleibt es bei einer bloß immanenten Erhellung des betrachteten Phänomens. Barth resümiert in KD IV/1: Was in Jesus Christus geschehen ist, ist der Durchbruch durch (den) circulus vitiosus und zugleich positiv: die Geburt eines neuen, mit Gott und seinem Nächsten und endlich auch mit sich selbst im Frieden lebenden Menschen und damit die Erscheinung eines neuen Himmels und einer neuen Erde, auf der Gerechtigkeit wohnt.85

Nach Barths Ansicht ist nun also zwischen den Phänomenen des Menschlichen und der Wirklichkeit, dem Wesen des Menschen zu differenzieren. Unter Phänomenen des Menschlichen versteht Barth zunächst alles humanwissenschaftlich Untersuchbare, Erhebbare, das zu einem klareren Bild des Menschen in seiner Geschöpflichkeit, Sozialität oder auch Geschichtlichkeit beiträgt.86 Dabei setzt er eine Neutralität der Phänomene voraus, die erst dann aufgehoben wird, wenn sie – negativ – in das Spannungsfeld einer Anthropologie des spekulativen Typs kommt, oder aber – positiv – in das Licht des wirklichen Menschen, also des Wesens. Die Erhebung der Phänomene ist deshalb die Aufgabe der anthropologischen Besinnung im engeren Sinne, die Erkenntnis und Behauptung des Wesens des Menschen ist dagegen eine Aufgabe der christologischen Besinnung. Die theologische Anthropologie bezieht nun beides aufeinander, bringt 83

KD III/2, 87. Das hat F.W. Graf (Freiheit der Entsprechung, 88ff) genau gesehen und beschrieben – wenn auch problematische Schlüsse gezogen. Die Konvergenz der Kritik der Zirkularität bei Barth und Henrich zeigt sich schon in dem Grundfaktum, dass beide Fichtes Philosophie als Hauptgegenstand ihrer Ausführungen wählen. Barth in einem ausführlichen Diskurs (KD III/2, 113–128) und Henrich in seiner Monographie: Fichtes ursprüngliche Einsicht. 85 KD IV/3, 757. 86 Barth differenziert hier nicht zwischen einer naturwissenschaftlichen oder geisteswissenschaftlichen Erkenntnis, oder zwischen einer Einzelerkenntnis bzw. Untersuchung und einer anthropologischen Theorie. Alles Anthropologische, das gleichsam unterhalb des Anspruchs, das Wesen des Menschen erfassen zu wollen, verhandelt wird, gilt Barth als ‚Phänomen‘. 84

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aber immer wieder die absolute Differenz zum Tragen, da die „Fremdheit“ der christologischen Erkenntnis des Wesens unter allen Umständen gewahrt werden muss, um nicht im anthropologischen Zirkel unterzugehen. Also, Barth betont die absolute qualitative Differenz der Erkenntnis der Erscheinung und des Wesens des Menschen, aber er disqualifiziert die anthropologische Erkenntnis nicht, will er sie doch gerade nutzen, um innerhalb seiner theologischen Anthropologie die Natur des wirklichen Menschen zu erhellen. Der Zirkel der Erkenntnis wird somit aber nur in einer bestimmten Hinsicht aufgebrochen, d.h. er wird eigentlich gar nicht aufgelöst, sondern in die theologische Betrachtung hinein aufgehoben.87 Indem nämlich das Licht des Wortes Gottes auf das Phänomen trifft, indem also der sich selbst erkennende Mensch als ein von Gott bzw. in Christus wahrhaft erkannter verstanden wird, wird diese Erkenntnis nicht mehr nur die Bedeutung einer Erkenntnis der Erscheinung, sondern der des Wesens haben. Barth bringt hier den Begriff des Symptoms ins Spiel, insofern, von der Kenntnis des wirklichen Menschen aus, ein bloßes Phänomen zum Zeichen desselben werden kann. Der Zirkel beginnt dann aber bei dem theologisch erhobenen Wesen des Menschen und läuft durch die anthropologische Reflexion in das Phänomen hinein, durchdringt es, und dieses kann als Symptom des wirklichen Menschen erkannt werden und kehrt gleichsam bereichert zu diesem zurück. Es hat dann eine echte Erkenntnis des Menschen stattgefunden, denn sie ist zu jeder Zeit im Licht des Wortes Gottes gewesen, das allein die 87 F.W. Graf folgert meines Erachtens zu unrecht, dass Barth darauf abziele, „mit Jesus Christus die Möglichkeit einer in sich zirkelfreien Selbstbegründung und Selbstmitteilung des Selbstbewußtseins darstellen zu können“ (Freiheit der Entsprechung, 98). Indem Graf diesen Versuch Barth unterschiebt, kann er seine scharfe und weit überzogene Kritik an der angeblich absoluten Autonomie Gottes bei Barth ausführen. Barth behaupte zwar ein solches absolutes und zirkelfreies Selbstbewusstsein, nämlich das Gottes, aber es müsse in seiner göttlichen Allgemeinheit alles endliche und widerständige Bewusstsein einebnen, in Adäquanz bringen, gleichschalten. Indem es aber genau dies tue, sei es im Verhalten dagegen gerade durch das endliche Bewusstsein bestimmt, dessen Widerstand es aufheben müsse. Insofern könne es nicht zirkelfrei sein und Barths Versuch müsse in dieser Hinsicht als gescheitert bezeichnet werden. Die Problematik der Interpretation Grafs besteht darin, dass er Barth vor dem Hintergrund eines idealistischen und monistischen Vorverständnisses der Konstitution des absoluten Selbstbewusstseins liest. Er trägt damit aber eine Voraussetzung in die Interpretation ein, die Barth als – nicht nur in dieser Hinsicht – personalistischer Denker gar nicht teilen kann. Die Selbstbestimmung Gottes hebt die des Menschen nicht auf, sondern begründet sie, macht sie möglich und setzt sie frei. Die Wirklichkeit der Anerkennung des Menschen durch Gott geht der Möglichkeit der Anerkennung Gottes durch den Menschen voraus (vgl. KD I/1, 217 u.a.), es geht um eine Ich-DuBeziehung, einen Bund, der nur zwischen Instanzen besteht, die Personalität besitzen und deshalb frei sind zur Liebe. Korsch folgert zurecht: Es „läßt sich die Anthropologie Barths lesen als der Versuch, dem Zirkel des Selbstbewußtseins so zu begegnen, daß er bestehen bleiben kann, ohne in einem anderen Selbstbewußtsein gelöst zu sein“ (Christologie und Autonomie, in: Dialektische Theologie, 160).

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Kraft hat, das Phänomen der Wahrheit entsprechend zu erhellen und als Symptom zu entdecken.88 Wohlgemerkt, Barth kritisiert im eigentlichen Sinne gar nicht die Zirkelhaftigkeit der anthropologischen Erkenntnis – jede Selbsterkenntnis, auch die der theologischen Anthropologie, ist per definitionem selbstbezüglich –, sondern das Problem liegt darin, dass ein notwendiges Element zum Erkenntnisgewinn im Blick auf den wirklichen Menschen fehlt, nämlich das vorgängige Wissen um diesen. Die theologische Anthropologie und die christliche Selbsterkenntnis nehmen in ihrem Zirkel zwar ebenfalls eine Selbstvertrautheit in Anspruch, die aber insofern nicht präreflexiv ist, als sie nicht in der Dunkelheit der undurchdringbaren Prämisse bleibt, sondern im Blick auf Jesus Christus sichtbar und offenbar – wenn auch in anderer Weise mit Christus in Gott verborgen – ist. Mit Sören Kierkegaard gesprochen, „gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte“89, so dass die theologische Anthropologie kein verzweifelter Versuch des „Schattenmenschen“90 sein muss, in das Phänomen Mensch das notwendige Licht zu bringen. Dass es sich dabei aber um eine Setzung von außen handelt, also die Erkenntnis des Wesens des Menschen von außen an den anthropologischen Zirkel herangetragen wird, das bleibt festzuhalten. Es lässt sich an diesen Eindruck dann nämlich die Frage anschließen, inwiefern diese Erkenntnis von außen die anthropologische Erkenntnis im Zirkel überhaupt tangiert und verändert? Bleibt es letztlich nicht bei einer Spaltung zwischen Phänomen und Wesen? 3.1.2.7 Vier Zugänge zu den Phänomenen des Menschlichen91 Barth rekonstruiert nun zunächst aber vier verschiedene solcher – nicht unbedingt ‚verzweifelter‘ – Versuche, vier Zugänge zu den Phänomenen des Menschlichen, die er in eine Abfolge, genauer, in eine aufsteigende Linie bringt. Die Unterscheidung zwischen spekulativer und exakter Wissenschaft, die Barth so wichtig war, wird hier nun auf eigenartige Weise gebrochen, insofern sich auch in den eigentlich spekulativen Anthropologien exaktes Wissen verbirgt und herausgestellt werden muss. 1.) Zunächst wendet sich Barth einer naturwissenschaftlichen Betrachtung zu, die die Frage nach der natürlichen Eigenart des Menschen – gegenüber dem nicht-menschlichen Leben – zu beantworten sucht. Barth nimmt die 88

Die Paragraphen 45–47 werden diesen Zirkel beschreiben. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, 14. 90 KD III/2, 87 u.a. 91 Vgl. zum folgenden Konrad Stock, Die Funktion anthropologischen Wissens in theologischem Denken – am Beispiel Karl Barths, EvTh 34 (1974), 523–538. 89

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„Deszendenztheorie“ Lamarcks, Darwins und Haeckels indirekt durch ihre religiöse Rezeption bei Otto Zöckler, Rudolf Otto und Arthur Titius in den Blick. Das Phänomen des Menschen als ein sich unter anderen Geschöpfen entwickelndes Wesen betrachten diese Denker, aber verteidigen seine Eigenart als animal rationale. Diesen Versuch begrüßt Barth, gleich ob es im Postulat des Geistes und der höheren Humanität (Zöckler), der Persönlichkeit (Otto) oder der Gottebenbildlichkeit als Anlage (Titius) kulminiert. Angesichts des düsteren 19. Jahrhunderts, in dem „der Mensch gleichzeitig mit einem ruckartigen Fortschritt in der Entfaltung seiner Möglichkeiten sich selbst ein Unbekannter wurde“, hat die religiöse Anthropologie die Existenz und die Besonderheit des Menschen gegen den Atheismus und Nihilismus behauptet: „Es ist gewiß am Platz, vor allem die Tatsache zu anerkennen, dass die neuere Theologie sich wenigstens hier verteidigt hat und also sich selbst wenigstens an dieser Stelle nicht auch noch geradezu aufgeben wollte.“92 In dieser Verteidigung bleiben sie allerdings völlig im Bereich der Sphäre des Phänomens stecken und müssen sich als spekulative Theorie auf die zirkuläre Selbsterkenntnis verlassen. Der Gegensatz von spekulativer Theorie und exakter Wissenschaft greift hier auf dieser Stufe nicht-theologischer Anthropologie noch. Als Gegenbeispiel führt Barth nämlich Adolf Portmanns Studie „Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen“ (1944) an: „Was er bietet, ist exakte Wissenschaft vom Menschen: von des Menschen Eigenart inmitten seiner nichtmenschlichen Umgebung.“93 Portmann bleibt als echter Fachmann bei seinen biologischen Leisten, zeigt, dass der Mensch als „physiologische Frühgeburt“ zu verstehen ist und die Verarmung der Instinkte durch den Reichtum der Sprache und der Kultur bei weitem aufwiegt. Portmann ist sich der Fragmentarizität seiner Ausführungen bewusst und kann gerade deshalb exakt und wohlbegründet vom Besonderen des Menschen sprechen: Wir haben vom Geist gehört. Der zurückhaltendere Naturwissenschaftler hat sich begnügt, von seiner Weltoffenheit, von seiner Kultur, von seinem Sozialverhalten, von seiner Geschichtlichkeit zu reden. [...] Es wäre Verstocktheit, sie nicht sehen, und es wäre Undankbarkeit, sie nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen.94

Dennoch, auch die Weltoffenheit des Menschen ist nur ein Phänomen des Menschlichen, nicht sein Wesen. 92

KD III/2, 98 und zuvor 104. Ebd., 99. 94 Ebd., 102. Es lässt sich nur vermuten, dass Barth sich aufgrund der Einführung bzw. Verteidigung des Geistbegriffes nicht auf die Arbeiten Max Schelers bezieht, der als Nestor der philosophischen Anthropologie biologische und philosophische Einsichten verbindet und den Begriff der Weltoffenheit geprägt hat. Auch Helmuth Plessner und sein Rede von der „Exzentrizität“ wird hier bei Barth noch nicht erwähnt. 93

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2.) Barth stellt nun in einem zweiten Gang die Frage, ob eine direkte Analyse des Selbstbewusstseins die Sphäre des Phänomens, den Zirkel, durchbrechen kann. Der Mensch ist ein Teil der Welt und als solcher natürlich determiniert; insofern er sich durch sein Denken über diese Determination erheben kann, insofern ihm Weltoffenheit eignet und er ein Glied der intelligiblen Welt ist, ist er frei. Doch erst indem er zur Tat, zum Handeln, fähig ist und sie vollzieht, verwirklicht er seine zunächst nur gedachte Freiheit. Es ist das Phänomen, dass der Mensch er selbst ist: „er in dem, was er nicht nur ist, sondern ist als Täter seines Seins, als Subjekt des Aktes, den wir das menschliche Leben nennen. Indem wir uns selbst wissen, wollen wir, verhalten wir uns, handeln wir selbst.“95 Handelt es sich hier bei der Subjektivität des Menschen, in seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung, ja zur Selbstsetzung, aber um sein Wesen? Barth beantwortet diese Frage anhand einer Relektüre von Fichtes Schrift „Die Bestimmung des Menschen“ (1800). Fichte führt durch die natürliche Determination („Zweifel“) zur gedachten, aber – noch – nicht realen Freiheit („Wissen“) weiter bis zur echten Freiheit des Handelns bzw. im Handeln („Glaube“). Indem sich der Mensch durch seinen Willen selbstbestimmt, vollzieht er die Tathandlung, in der er sich nicht nur selbst als Subjekt, sondern auch die Außenwelt als Objekt allererst setzt. Erst das erhebt ihn über die Sphäre der natürlichen Bedingtheit, aber diese Erhebung reicht bis in die Höhe absoluter Freiheit, weil diese eben nicht mehr von außen, natürlich bedingt ist. Barth kritisiert nun das idealistisch-monistische Konzept Fichtes als suffizienten Zirkel – insofern hat die Auseinandersetzung mit Fichtes Anthropologie exemplarische Bedeutung.96 Diesem Menschen fehle „von Haus aus und gänzlich das Gegenüber, im Verhältnis zu dem er selbst sein könnte. Er kann für das Alles immer nur auf sich selbst verwiesen werden.“ Der Mensch rekurriert auf sich selbst als Grund, insofern er das Ich wie das Nicht-Ich selbst setzt; damit ist aber „alles Draußen auch drinnen, alles Drinnen auch draußen.“97 Die Funktion der Begründung des Menschseins, seine Bestimmung, übernimmt er selbst, spricht damit aber Gott seine ureigenste Bedeutung ab und vergottet den Menschen. Nach Barth war Fichte entschlossen, „den Menschen ohne Gott zu sehen“98, ihn durch eine ethische 95

Ebd., 108. Auch für Pannenberg hat die Auseinandersetzung mit Fichte exemplarische Bedeutung. Vgl. Anthropologie, 194–198 u.a. 97 KD III/2, 126. 98 Ebd., 127f. Barth sieht sich von der idealistischen Spekulation in der grundlegenden Hinsicht geschieden, dass es für ihn ein echtes Außen, ein Gegenüber des Menschen, geben muss. Er macht sich den Vorwurf des Personalismus zueigen, dass es sich im Idealismus um eine Icheinsamkeit (Ferdinand Ebner) – selbst wenn diese als eine absolute verstanden werden muss und als eine, die Gegensätze einschließt – handle. Das „Du“ fehlt. 96

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Absolutheit und nicht durch seine Abhängigkeit zu adeln. Damit hat Fichte sich aber einer Spekulation schuldig gemacht, die nun selbst das Phänomen, das Barth hier behandelt und gewürdigt sieht, nämlich die menschliche Freiheit, verstellt. Indem sich der Zirkel völlig gerundet und abgeschlossen hat, werden das Subjektsein und der Vorgang der Selbstbestimmung des wirklichen Menschen verkannt. Zwar bedeutet menschliche Existenz die Fähigkeit, sich selbst bestimmen und setzen zu können, aber dabei wird immer ein Grund in Anspruch genommen, der der menschlichen Setzung entzogen ist. Barth hatte das schon in KD I/1,§6 im Blick auf die Erfahrung des Wortes Gottes behauptet, und das lässt sich hier für die Ontologie des wirklichen Menschen aufnehmen, dass die Selbstbestimmung des Menschen der Bestimmung durch Gott bedarf, nicht als Begrenzung, sondern als Ermöglichung des Subjektseins.99 Wenn aber die ethische und zuvor auch schon die naturalistische Ansicht den Menschen „als geschlossene Wirklichkeit“ ansieht, dann könnte vielleicht eine Besinnung auf die prinzipielle Unabschließbarkeit des Menschseins, auf seine ‚Ex-istenz‘ das Phänomen und sogar das Wesen menschlichen Subjektseins erfassen. 3.) Barth schließt deshalb eine existentialistische Analyse an. Mit Karl Jaspers stellt er die absolute Fraglichkeit, das Menschsein als ein ständiges „Über-sich-selbst-hinausgreifen“, als Suche heraus; denn: Wer nach des Menschen Existenz und also nach jenem Subjekt fragt, der fragt nach einem Punkt, der grundsätzlich, der voraussetzungsmäßig außerhalb jedes Bildes vom Menschen und also außerhalb aller Einsichtigkeit, Übersichtlichkeit, Durchsichtigkeit, aller Verfügbarkeit liegt.100

Jaspers hat das Menschsein als ein solches echtes Fragen verstanden, das insbesondere in den sogenannten Grenzsituationen sich so sehr zuspitzt, dass die Frage nach Grund und Ziel sich zu der nach der Transzendenz öffnet. Die Weltoffenheit des Menschen wird in der existentiellen Situation zur Transzendenzoffenheit; die in sich geschlossene und abgerundete Wirklichkeit wird durch die Erkenntnis der eigenen Zerrissenheit aufmerksam auf die „faktische Bezogenheit zu diesem Anderen und damit zur Erfahrung seiner wirklichen Existenz.“101 Das ist es also, was Jaspers und andere als Phänomen hervorgehoben und eindrucksvoll beschrieben haben: „des Menschen Geschichtlichkeit und des Menschen Bezogenheit auf ein Anderes.“ Ist damit aber der wirkliche Mensch erkannt und der Zirkel durchbrochen? Barth sagt „nein“, denn eigentlich sei keine echte Transzendenz gemeint. Der religiöse Philosoph hat gar kein selbstständiges, sich selbst eröffnendes Gegenüber im Blick, er behauptet es nur, das ganz Andere. Vielmehr ver99

Vgl. KD I/1, 206–213. KD III/2, 129. 101 Ebd., 133. 100

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längert er das Fragen des Menschen ins scheinbar Unendliche und fordert zur Hingabe ans Unbegreifbare auf, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, dass auch dieses Unbegreifbare nur die dunkle Tiefe des Menschseins sein könnte. Dass es zu einer echten Hingabe an diese und überhaupt die Annahme einer Transzendenz in diesem Sinne kommen muss, das ist doch nur ein Postulat, das im faktischen Trotz der Atheisten und der religiösen Gleichgültigkeit, der Indifferenz vieler Menschen, seine sprechendste Widerlegung erfährt.102 Die geschlossene und gerundete menschliche Wirklichkeit hat also keinen qualitativen Bruch, keine seinsmäßige Offenheit erfahren, die den Ausblick auf eine ‚wirkliche‘ Transzendenz freigibt. Es handelt sich bei den Begriffen der Offenheit und der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz also nur um eine – immerhin aber unbestreitbare – Ähnlichkeit zum wirklichen Menschen bzw. zum christlichen Verständnis des Menschen. 4.) Wenn aber die natürliche, ethische und existentiale Sicht des Menschen nicht zum wirklichen Menschen durchstoßen kann, dann könnte dies vielleicht doch im Zuge eines letzten, tieferen Blicks auf das Phänomen des Menschseins gelingen; wenn nämlich das Menschsein aus der Beziehung zu Gott verstanden würde, wenn sich eine theistische Anthropologie der Sache annähme und die existentiale Analyse, der Geschichtlichkeit und Aktualität des Seins, weiterführte – bis in den Kern, nämlich das Verhältnis zu Gott. Barth geht nun vom Feld der philosophischen auf das der theologischen Anthropologie über, indem er einerseits die erhobenen Phänomene in den Begriffen der Freiheit, der Personhaftigkeit, der Geschichtlichkeit, der Entscheidungsfähigkeit und der Aktualität – im Akt des Gegenüberseins zu Gott ist der Mensch „eigentlich“ – zusammenfasst, und andererseits deren Aufnahme in der Theologie thematisiert, d.h. den Versuch nachzeichnet, von dieser anthropologischen Grundlage aus auf den wahren, wirklichen Menschen zu schließen. Als Beispiel der theistischen Anthropologie bemüht er erneut seinen wichtigsten Kontrahenten, Emil Brunner, und unterzieht dessen Ausführungen einer grundsätzlichen Kritik. „Das menschliche Selbstverständnis müßte, um Erkenntnis des wirklichen Menschen zu werden, umgekehrt und neu begründet, es müßte aus einem autonomen in ein theonomes Selbstverständnis gewandelt werden.“103 Vollzieht Brunner – und er ist hierin für Barth nur ein Beispiel der ‚herkömmlichen‘ theologischen Anthropologie – diese Umkehrung? Barth sieht bei Brunner eine Identifizierung des wirklichen Menschen mit den freilich verdichtet vorgestellten Phänomenen des Menschlichen. Bei Brunner ist zwar der wirkliche Mensch als einer aus Gott und in Gott 102 103

Vgl. oben Abschnitt 1.4.2. und den dort erörterten Begriff „religiöser Indifferenz“. KD III/2, 148.

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verstanden, er ist eine Person, hat also die von Gott geschenkte Fähigkeit, sich vernünftig und verantwortlich zu verhalten, aber das ist eine von Natur aus – ihm selbst – gegebene, so dass der Mensch auch in Widerspruch zu diesem Aspekt seiner Geschöpflichkeit geraten kann. Der Mensch ist nach Brunner zwar das „im Wort Gottes seiende Wesen“, aber Barth hält diese Formulierung für mindestens missverständlich, insofern der Mensch bloß in „responsorischer Aktualität“104 wirklich und eigentlich sein könnte und also eine gewisse „Neutralität“ des Menschen möglich ist. Diese Neutralität schließt nun die Möglichkeit der Sünde ein, den Abfall von Gott. Insofern wird hier nicht der wirkliche Mensch, in seiner guten Geschöpflichkeit, Existenz und Natur erfasst, sondern nur der durch die Sünde verdeckbare und verdeckte. Damit bleibt aber der wirkliche Mensch unerkannt, denn Brunner muss sich am bloßen Phänomen, nun auch der Verkehrung, des Menschseins abarbeiten. Der Mensch ist in dieser Perspektive nur potentiell ein wirklicher, ganz von Gott in seinem Sein bestimmter. Brunner setzt nach Barth also nicht tief genug an, er findet nicht zu einer ontologischen Bestimmung des Menschen, sondern er bleibt bei einer hamartiologischen und – zwar auch – soteriologischen Betrachtung stehen, blickt damit aber nicht auf den ganzen Grund der Gnade, ein Geschöpf Gottes zu sein: Auch die Liebe und die Erwählung Gottes sind dann für den Menschen insofern noch ein leeres Gegenüber, als sie wohl seine allgemeine Zugehörigkeit zu Gott, aber gerade noch nicht seine positive, der ewigen göttlichen Absicht entsprechende, Beteiligung an Gottes geschichtlichem Handeln zu seinen Gunsten in sich schließen. (Es) muß mindestens die Frage offen bleiben, ob wir uns nicht auch noch in der Brunnerschen Anthropologie innerhalb der Grenzen befinden, in denen wir schließlich doch nur der Phänomene des Menschlichen, nicht aber des wirklichen Menschen selbst ansichtig werden können.105

3.1.2.8 Die Anthropologie Barths und die Humanwissenschaften: eine Zwischenbilanz Mit dieser letzten Wendung führt Barth die Distinktion zwischen Phänomen und Wesen bis auf das Feld der theologischen Anthropologie und bereitet damit nicht nur das Gespräch mit den nicht-theologischen Anthropologien, sondern auch die innertheologische Diskussion auf – um daran die Profilierung der eigenen Position, das heißt die Darstellung des wahren Verständnisses des wirklichen Menschen106 aller erst anzuschließen. Der Durchgang 104

Vgl. zu diesem Begriff Brunners Ausführungen in: Mensch im Widerspruch, 88; ders., Wahrheit als Begegnung, Zürich 21963, 35ff. 105 KD III/2, 157. 106 In §44,3 und §45–47.

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durch die nicht-theologischen Anthropologien hat dabei aber wiederum die Ambivalenz des Verhältnisses von Theologie und Anthropologie bzw. Philosophie zu Tage treten lassen.107 Einerseits bewegt sich Barth, vom Postulat des wirklichen Menschen aus, auf die Anthropologie zu, tritt in ein Gespräch ein. Es lässt sich also nicht behaupten, dass er sich nicht mit den Humanwissenschaften auseinandersetzt und sich auf ihre Ergebnisse bezieht. Andererseits aber exekutiert er in dieser Bewegung die vorgängige Distinktion zwischen Wesen und Phänomen, so dass es sich nicht gerade um ein freies Gespräch, ein Geben und Nehmen handelt. Wozu führt Barth aber dann das Gespräch, und warum an dieser Stelle? Es scheint so, als versuche Barth die Phänomene des Menschlichen als solche in den Blick zu nehmen, ohne allzu tief auf einzelne anthropologische Entwürfe einzugehen. Es scheint zunächst so, als wolle Barth die Phänomenbeschreibung der nicht-theologischen Anthropologien zu Ehren zu bringen, um sich in seiner Darstellung des wahren Menschen dann darauf zu beziehen. Dabei könnte man meinen, Barth gehe es darum, die Phänomene gleichsam aus der Verflochtenheit in spekulatives Denken zu retten. Doch Barth stellt noch nicht die eigene Auffassung der Phänomene dar, etwa anhand des Gegenübers einer philosophischen Theorie, sondern er dekonstruiert die nicht-theologische Anthropologie solange, bis er einerseits festgestellt hat, dass der wirkliche Mensch so nicht erreicht wird bzw. werden kann und andererseits das anthropologische Einzelthema profiliert wurde und als grob skizzierter Gegenstand zur adäquaten Erörterung innerhalb der theologischen Anthropologie festgehalten werden kann. Barth verfolgt hier also ein höchst apologetisches Interesse. Der nicht-theologischen Anthropologie wird nämlich nur zugestanden, sich um die rechten Dinge, das Phänomen der guten Geschöpflichkeit zu kümmern, aber dieses Kümmern ist von der Theologie aus kritisch zu sehen. Barth ist somit gar nicht an der Sache, dem jeweiligen Phänomen, interessiert, sondern – auf der Metaebene – daran, wie die jeweilige anthropologische Theorie im Bemühen um die Phänomene am Wesen des Menschen scheitert. Die Unterscheidung von spekulativer und exakter Theorie108 hat gerade hier ihren Ort, wobei sie in voller Reinheit von Barth nicht durchgehalten wird und auch nicht durchgehalten werden kann. Der Grundsatz der Anschauung Barths scheint vielmehr ein gradueller zu sein und ließe sich folgendermaßen umreißen: Je höher der Anspruch einer Anthropologie und je ‚wesentlicher‘ ihre Folgerungen, desto tiefer ist deren Verstrickung in 107

Vgl. auch Stock, Funktion anthropologischen Wissens, 532. Barth hält an dieser Unterscheidung bis zuletzt fest, vgl. dazu: KD IV/3, 166. Stock urteilt ähnlich: Es „deutet sich an, daß sich die Unterscheidung von spekulativer Theorie und exakter Wissenschaft, an der Barth vor allem aus theologischen Gründen gelegen war, in der Durchführung nicht bewähren will“ (Funktion anthropologischen Wissens, 532, Anm.54). 108

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den Schein und desto wahrscheinlicher die Konsequenz, selbst noch am Phänomen vorbei zu gehen. Es lässt sich aber fragen, welchen Sinn die Unterscheidung von spekulativer und exakter Wissenschaft dann überhaupt hat, wenn es dafür keine klaren Kriterien gibt. Barths Ansicht nach erreicht keine der nicht-theologischen Anthropologien – und gerade auch nicht die religiöse Anthropologie Brunners – den wirklichen Menschen, denn sie bleiben alle im Zirkel, sie bleiben alle im Bann der Phänomene. Die aufsteigende Linie bzw. die Verschärfung der Kritik, die im Blick auf Brunner kulminiert, entsteht dadurch, dass Barth hier die Auseinandersetzung mit dem religionsphilosophischen System führen muss, weil er selber sein offenbarungstheologisches System behaupten will. Also wiederum: Das Thema Barths sind nicht die Phänomene des Menschlichen in ihrer Neutralität, etwa die Beschreibung der Weltoffenheit des Menschen, des Selbstbewusstseins oder auch der Entfremdung, sondern es ist die Abrechnung mit den konkurrierenden religiösen Anschauungen des Menschen. Die Distinktion von Phänomen und Wesen hat somit die wesentliche Aufgabe, den eigenen absoluten Anspruch – nämlich allein das Wesen des Menschen zu erfassen –, gegenüber den feindlichen Anthropologien zu behaupten. Dabei bleibt noch eine weitere Frage offen: Scheitern damit die nichttheologischen Anthropologien also nicht nur allein am Wesen des Menschen, sondern notwendig auch an den Phänomenen, weil sie vom Wesen keine adäquate Erkenntnis haben? Muss also der Anthropologe doch aller erst ein theologischer werden, um das Phänomen als Symptom wirklich zu verstehen? Hier bleibt bei Barth etwas in der Schwebe, eine klare Antwort findet sich nicht. Einerseits will er nämlich die Möglichkeit nicht – jedenfalls prinzipiell – leugnen, dass die Wissenschaften vom Menschen die Phänomene des Menschlichen adäquat beschreiben können. Barths Sympathie für die sogenannten „exakten Wissenschaften“, allen voran Portmanns Anthropologie, weist auf diese Möglichkeit hin. Andererseits aber vertraut er den nicht-theologischen Anthropologien nicht genug, als dass er die konstruktive Darlegung des eigenen Verständnisses des Wesens, selbst aber auch das der Phänomene, an ihnen orientiert und im Gespräch mit ihnen durchführt. Vielmehr versucht sich Barth in diesem Abschnitt eher von der Verpflichtung des direkten Gespräches zu dispensieren, denn die Anthropologie wurde hier am Eingang zur eigentlichen theologischen Anthropologie schon auf ihre Möglichkeiten hin befragt, behandelt und in gewisser Hinsicht abgehandelt. Barth beendet das mühsame Hin und Her zwischen Theologie und Anthropologie, um freie Bahn für eine theologische Anthropologie zu erhalten, die die Erhellung der Geschöpflichkeit anhand der Phänomene mit einschließt, die auch in anderen Bereichen der Frage nach dem Menschen zum Thema werden. Für Barth scheint also eine einfache Adaption des

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anthropologisch rekonstruierten Phänomens durch die das Wesen beschreibende Theologie nicht möglich zu sein. Auch wenn ab und an die Kontinuität zu und die Gemeinsamkeit mit der Anthropologie betont wird, muss Barth doch neu einsetzen, konsequent vom wirklichen Menschen her die Phänomene als Symptome erfassen und zur Darstellung bringen. Das bedeutet allerdings auch, dass Barth den materialen Bestand der Anthropologie alleine, ohne fremde Hilfe der Humanwissenschaften – etwa im direkten Gespräch mit der philosophischen Anthropologie –, bewältigen will und muss. Pointiert gesagt: Er braucht die Humanwissenschaften für sein anthropologisches System nicht wirklich, dafür aber ein ‚anthropologisches Schema‘. Es wird das dialogische Schema, die analogia relationis, sein.

3.2 Gottebenbildlichkeit bei Karl Barth Gottebenbildlichkeit bei Karl Barth Der Mensch ist nur von Gott her und nur ‚von oben‘ zu verstehen. Das heißt aber, dass nur im Blick auf die Identität Gottes die Identität des Menschen beschrieben werden kann. Für Barth koinzidieren in der Person Jesu Christi beide Identitäten, insofern er wahrer Gott und wahrer Mensch ist.109 In ihm ist der einzige „archimedische Punkt oberhalb des Menschen und damit die einzige Möglichkeit zu dessen ontologischer Bestimmung“110 gegeben. Das ist der noetische (und ontische) Grundsatz, den Barth in seiner christologischen Anthropologie anwenden und entfalten will. Es kommt damit gleichsam zu einer Erkenntniskaskade, indem zunächst in Jesus Christus die Identität des wahren Gottes erkannt werden muss, um von dort aus die des wahren Menschen festzustellen. Dann erst folgt die daraus resultierende Erkenntnis des wirklichen Menschen, dem unerklärlich aber faktisch in die Sünde geratenen. Der Begriff der Gottebenbildlichkeit, der die Gottesrelation als maßgebliche und identitätsbegründende Relation thematisiert, wird zunächst also konsequent auf Jesus bezogen, erst dann auf die übrigen Menschen. Er ist das Bild Gottes, das Urbild, dem alle anderen Menschen als Bilder Gottes nachgebildet sind. Wie aber gelangt Barth nun im Blick auf Jesus als Urbild und als Ebenbild Gottes, zum wirklichen Menschen, zu dessen Gottebenbildlichkeit und seiner Identität, zum Dasein und damit zum Sosein des Geschöpfs? Welche Schritte geht er, und welches Prinzip legt er zugrunde? 109 Vgl. KD III/2, 79: „Es ist der Mensch (sc. Jesus) unter allen Geschöpfen dasjenige, in dessen Identität mit sich selber wir sofort auch die Identität Gottes mit sich selber feststellen müssen. [...] In und mit dem Menschen finden wir hier sofort auch Gott existierend. Das kann man von keinem anderen Geschöpf sagen.“ 110 Ebd., 158.

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3.2.1 Gott im Bunde mit dem Menschen Der Kern und kleinste gemeinsame Nenner aller theologischen Anthropologie lässt sich folgendermaßen umreißen: „Menschsein heißt: mit Gott zusammen zu sein.“111 Nur im Blick auf die Gottesbeziehung des Menschen lässt sich das Wesen, d.h. auch der Ursprung, die Konsistenz und das Ziel des menschlichen Lebens, formulieren. Für Barth bietet aber dieser kleinste Nenner noch keine hinreichende Gewähr, dass es auch zu wahren Aussagen über den Menschen kommen muss, das hat er insbesondere im Gegenüber zu Brunner festgestellt. Allein wenn der Einsatz bei der Selbstoffenbarung, bei der Selbstbestimmung Gottes gewählt und konsequent entfaltet wird, dringt die theologische Anthropologie zu wahren Aussagen durch. Barth entfaltet nun also diesen bisher nur grob skizzierten Ansatz und beginnt den „konstruktiven Teil“ der Anthropologie mit dem programmatischen Obersatz: „Die ontologische Bestimmung des Menschen ist darin begründet, daß in der Mitte aller übrigen Menschen Einer der Mensch Jesus ist.“112 3.2.1.1 Jesus ist der Bund Gottes Die Bestimmung des Menschen ist die Folge der Selbstbestimmung Gottes in Jesus Christus. Der Mensch ist als Wesen coram Deo eines coram Christo. Er ist mit Gott zusammen, weil und indem er mit Jesus zusammen ist. In Jesus begegnet dem Menschen die (wirkliche) Transzendenz Gottes, so dass die Nachbarschaft mit dem Menschen Jesus mit der Beziehung des Menschen zu Gott identisch ist, d.h. ‚in eins gesetzt werden muss‘. Jesus Christus existiert als Beziehung, als Bund zwischen Gott und Mensch, der allerdings differenziert, d.h. ‚auseinandergesetzt‘ werden kann, freilich ohne auflösbar zu sein. Die theologische Anthropologie Barths hat die Darstellung des Bundes Gottes mit dem Menschen in Jesus Christus, als Grundlage aller anthropologischen Aussagen, zum Ziel. Dabei macht Barth nochmals nachdrücklich deutlich, dass es sich hierbei um eine Bestimmung mit Seinscharakter handelt. Der Blick auf Jesus macht also nicht nur das Menschsein aller Menschen erkennbar, beschreibbar – der noetische Aspekt. Die Nachbarschaft Jesu begründet vielmehr auch das Sein des Menschen – der ontische Aspekt –, insofern in ihm Gott selbst gegenwärtig ist, der Schöpfer und Erhalter allen Lebens. Die Existenz Jesu ist deshalb von allumfassender Bedeutung für das menschliche Leben und verborgen auch für alles nicht-menschliche Leben. Jesus selbst ist das, was den Menschen und jedes Geschöpf unbedingt angeht, da er sie aus dem 111 112

Ebd., 167 (Hervorhebung von T.W.). Ebd., 158.

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Nicht-sein heraushält, ihnen Existenzgrund verschafft – sollte dieses Faktum auch vom Menschen geleugnet werden. Barth findet in Jesus Christus also nicht bloß eine Art Zwischenbestimmung, als Bindeglied oder Mittler zwischen Gott und Mensch – diese Bilder wären missverständlich und gingen nicht weit genug –, sondern Jesus ist die Beziehung von Gott und Mensch, an der jeder Mensch qua Existenz teilhat. Er ist also gleichsam der Bund Gottes mit dem Menschen in Person; er ist der Nukleus des Verhältnisses Gottes zum Menschen. Nur in ihm ist dieses Verhältnis wirklich und möglich, in ihm ist das Sein der Welt und des Menschen begründet, in ihm ist Gott, der Raum und Zeit schuf und umfasst, in Raum und Zeit113 gegenwärtig. Die Christologie, die als Zwei-Naturen-Lehre um das Verhältnis von Göttlichkeit und Menschlichkeit Jesu Christi kreist, wird damit zum Ort, von dem aus der Blick auf das Verhältnis von Gott und Mensch, die ontologische Bestimmung des Menschseins, in all seiner Breite freigegeben wird. Indem also die innerchristologische Relation von Göttlichkeit und Menschlichkeit Jesu zunächst in den Blick genommen wird, kann die Gottesbeziehung des Menschen adäquat erfasst werden und damit sein Wesen. Barth wendet sich deshalb dem Sein Jesu Christi zu und formuliert zunächst programmatisch: „Jesus (ist) der Mensch für Gott“.114 Er ist einerseits ganz Mensch, aber als solcher ist er einer, der ganz für Gott lebt und das heißt, der Mensch ist, in dem Gott handelt und rettet. Die Göttlichkeit Jesu und damit die Einzigartigkeit und Besonderheit seines Seins gegenüber allen anderen Menschen besteht darin, dass Gott sich in ihm dem Menschen rettend zuwendet. Der göttliche Logos ist in ihm und nur in ihm präsent. Der Mensch Jesus ist deshalb nicht Gegenstand, sondern Werkzeug bzw. – besser – das Ereignis und die Geschichte der Rettung: Er ist „ganz und gar und ausschließlich die Geschichte der göttlichen Rettung für alle und jeden Menschen. Der Mensch – dieser Mensch – existiert also, indem diese Geschichte geschieht. Er ist selbst diese Geschichte.“115 Es lässt sich hier schon festhalten, dass die beiden Naturen somit nicht zwei substantielle Wirklichkeiten nebeneinander sind, die in einer nicht aufzulösenden Spannung stehen oder gar miteinander kollidieren könnten, sondern es handelt sich um eine relationale Wirklichkeit, insofern Jesus gerade als Mensch für die Menschen auch der Mensch für Gott, die Geschichte Gottes mit dem bzw. den Menschen ist. Die erkenntnistheoretische Grundrelation bzw. die Uranalogie116 ist das Sein Jesu Christi als ein Gott 113

Vgl. hierzu insbesondere ebd., §47, Abs. 1, 514–516. Ebd., 64–82 etc. 115 Ebd., 81. 116 Vgl. Jüngel, Die Möglichkeit theologischer Anthropologie, 212: „Das Sein des Menschen Jesus ist der Seins- und Erkenntnisgrund aller Analogie.“ 114

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und Mensch verbindendes, als die Identität des Schöpfers mit dem Geschöpf. Das Geschöpf, eingedenk der prinzipiellen Einschränkung auf den Menschen, findet also aufgrund seiner Teilhabe an Jesus Christus die eigene Identität als ein Wesen im Bund mit Gott. Barth bezieht sich zur Bestimmung des Seins Jesu auf die Lehre von der An- bzw. Enhypostasie und will damit festhalten, dass die menschliche Natur, seine Geschöpflichkeit, ihren Seins- und Beweggrund in der göttlichen Natur, seine Geschichte als Retterwerk, findet. Hier besteht ein unumkehrbares Gefälle, indem Jesus als Mensch zuerst und an sich derjenige von Gott her ist. Auch und besonders hier macht Barth deutlich, dass von oben, von Gott her gedacht werden muss, damit das menschliche Wesen Jesu und in der Folge das des Menschen überhaupt erfasst werden kann. Der göttliche Logos ist ins Fleisch eingegangen, hat sich untrennbar mit ihm verbunden, aber ohne dass die Unterscheidbarkeit zwischen göttlicher und menschlicher Natur aufgehoben würde. Der Maßstab des Menschseins Jesu, nämlich für die anderen Menschen zu sein, ist sein Gottsein, ganz von ihm her zu sein und gleichsam als Rettungsgeschichte zu existieren. Der Maßstab des Menschseins aller Menschen wird damit aber die Gottesbeziehung, d.h. genauer hin die Christusbeziehung. 3.2.1.2 Die Erwählung in Christus und die Wortgestalt des Seins Es lässt sich nun aber fragen, wie dieses Zusammensein und das Von-Gotther-sein des Menschen, also seine Christusbeziehung, näher verstanden werden. Barth hebt hervor, dass eine Gottlosigkeit im ontologischen Sinne nicht mehr möglich sei, denn Gott habe sich in Jesus dem Menschen prinzipiell verbunden. Die Bestimmung durch Jesus liegt also jenseits der Selbstbestimmung, jenseits der bewussten Zustimmung und Ablehnung durch den Menschen. Es ist vielmehr das Menschsein als solches, in der Terminologie Feuerbachs: die Gattung, die ontologisch bestimmt wird. Barth drückt dies folgendermaßen aus: Der ganze Raum des Menschen, die ganze menschliche Gemeinschaft und Geschichte ist durch die Existenz des einen Menschen Jesus grundlegend dadurch ausgezeichnet und bestimmt, daß Gott hier Geschichte macht, daß Gottes Reich hier im Kommen ist.117

Nun wird aber das Sein Jesu Christi zunächst und zuerst doch als ein kontingentes Ereignis in der Zeit, als das Christusgeschehen, d.h. die Geschichte des Menschen Jesus von Nazareth, zu verstehen sein – so wie es das Neue Testament bezeugt, insbesondere die Evangelien. Und dieses Gesche117

KD III/2, 168.

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hen ist eines, das sich gegen die Sünde, gegen die Verkehrung der Gottesbeziehung richtet, sie ist die Geschichte der Rettung. Der Name des Sohnes Gottes bezeichnet deshalb seine Identität: Jeschua – Retter. Wie lässt sich aber nun aus diesem Ereignis eine ontologische Bestimmung – und nicht bloß eine soteriologische – ableiten? Wie kann die Versöhnung zwischen Gott und Mensch als „die Erfüllung des Bundes“118 verstanden werden? Wie muss das Leben Jesu aufgefasst werden, damit es den ganzen Raum des Menschen auszeichnen und bestimmen kann? Barth bringt hier in §44, 3 den Begriff der Erwählung – im Rückgriff auf KD II – ein. Damit bezeichnet er gleichsam die Tiefe des Seins Jesu und des durch ihn bestimmten Seins des Menschen. In der Geschichte Jesu handelt es sich um die „Kampfes- und Siegesgeschichte, die auf Grund des ewigen göttlichen Dekretes in dem einen Menschen Jesus inmitten der Geschöpfwelt Ereignis wird, zuerst und für das Ganze entscheidend in seinem, dem menschlichen Raum, Ereignis.“119 Das Christusereignis, die Versöhnung Gottes mit dem Menschen, ist ein begrenztes; es hat seine Zeit und seinen Ort im Raum-Zeit-Gefüge der Welt. Überdies hat es als Kampfes- und Siegesgeschichte den Charakter einer Auseinandersetzung, zunächst mit der menschlichen Sünde, darin aber mit der Gottlosigkeit bzw. der Nichtigkeit überhaupt. Gleichsam die Tiefe und den eigentlichen Grund findet dieses Ereignis in der Erwählung, im Faktum der Vorherbestimmung des Menschen Jesus, den Willen Gottes zu exekutieren. Das Christusgeschehen in der Zeit ist somit (nur) die „realisierende und offenbarende Spitze des zu Gunsten der Kreatur sich vollziehenden Willens Gottes.“120 Die Erwählung des Menschen, vermittelt durch die Erwählung Jesu Christi, liegt außerhalb der Zeit im ewigen Ratschluss Gottes begründet. Das Christusereignis ist darin wiederum das innere Ziel, die Spitze, in der die Erwählung in die Zeit hinein ausläuft. Der Raum des Menschseins bzw. die Menschen sind deshalb durch das rettende Ja bestimmt, das sich gegen die Versuche der Verneinung von Ewigkeit her durchgesetzt hat und im Leben Jesu Ereignis wurde. Darin werden aber das begründende und alles überspannende Ja und das „sehr gut“ über die Schöpfung durchgehalten und ins Recht gesetzt. So bestimmt die Gegenwart Jesu das Sein des Geschöpfs ontologisch, denn der Mensch bekommt es in ihm mit dem Willen Gottes zu tun, mit dem das Sein des Geschöpfs wollenden und schützenden Gott. Insofern, das heißt im ontologischen Zusammenhang, kann von der Sünde wiederum nur als „ontologischer Unmöglichkeit“ gesprochen werden, die im Rahmen theologischer Anthropologie, nur am Rande, als unerklärli118

KD IV/1, 22 (hervorgehoben von T.W.); vgl. auch KD IV/1, 71–83. KD III/2, 174. 120 Ebd., 173. 119

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cher „Zwischenfall“, erwähnt wird.121 Barth will damit unmissverständlich ausschließen, dass das Handeln Gottes in Jesus als Reaktion auf die Sünde verstanden wird. Es muss vielmehr als in der Vorsehung, im eigenen freien Liebeswillen gründende Aktion Gottes verstanden werden, in der das Sein des Geschöpfs konstituiert wird, die Sünde und das Nichts aber negiert werden und als Negierte aller erst zutage treten. Die Sünde und das Nichtige sind deshalb zwar als Phänomene zu konstatieren, aber sie bleiben letztlich unerklärbar; es handelt sich um „das unbegreifliche, wahnsinnige Können der Sünde.“122 Das Sein Jesu und damit die Bestimmung des Menschen, als hinzuerwähltes Geschöpf, gründet in der Erwählung, es hat aber den Charakter des Wortes. Jesus ist das Wort Gottes, der Logos; er bestimmt den Menschen, indem Gott in ihm den Menschen anredet: Der „Anruf und Aufruf Gottes ist inmitten der übrigen Kreaturwelt die Person des Menschen Jesus.“123 Barth bringt damit den Grundzug seiner Dogmatik als Wort-Gottes-Theologie zum Tragen und hebt die ‚Worthaftigkeit‘ des göttlichen und des menschlichen Seins hervor. Das Handeln Gottes hat Wortgestalt; die Beziehung zwischen Gott und Mensch ist ein Geschehen zwischen einem Redenden und einem Hörenden; es ist ein personales Geschehen – auch im Wortsinne des lateinischen ‚personare‘.124 Jesus ist das Wort der Versöhnung (2Kor 5,19; vgl. auch Hebr 11,3) und das ‚Ja‘ (2Kor 1,19.20), das Gott zu den Menschen spricht. Der Mensch ist nur, indem er dieses Ja hört und gelten lässt. Er kommt nur ins Sein und zur Sprache, wenn er zunächst der Angeredete ist. Nun lässt sich aber fragen – was Barth ausdrücklich tut –, welche Voraussetzung gegeben sein muss, damit der Mensch das Wort Gottes hört, ein Angeredeter sein kann. Diese Rückfrage ist insofern heikel, als sie erneut die Grenzlinie zu Emil Brunners Konzeption und die Abgrenzung zum Personalismus verschiedenster Provenienz125 thematisiert. Was geht dem Hören und damit dem Sein des Menschen voraus? Barth beantwortet die 121 Vgl. etwa KD III/2, 174–176 und KD III/1, 213: Der Sündenfall wir hier (u.a.) als der „Zwischenfall“ verstanden. 122 KD III/2, 244. 123 Ebd., 177. Vgl. hierzu insbesondere die Arbeiten Eberhard Jüngels, in denen der Mensch grundsätzlich als Sprachwesen verstanden wird und die Theologie und Anthropologie Karl Barths mit der hermeneutischen Tradition (etwa Ernst Fuchs‘) verschmolzen wird: Die Möglichkeit theologischer Anthropologie, 227 (bes. Anm.46) u.a. 124 Auf die Verbindung zum personalistischen, dialogischen Denken ist auch hier hinzuweisen. Insbesondere die oftmals bemühte „Ich-Du“-Terminologie (bes.: KD III/1, 220; KD III/2, 261) ist ein Zeichen für die engen Beziehungen und Abhängigkeiten. 125 Vgl. die Nachbarschaft auch zu Gogarten, Der Mensch zwischen Gott und Welt, und besonders Buber, dem wohl einflussreichsten Vertreter des sogenannten Personalismus. Zum Verhältnis zwischen Buber und Barth ist die Studie von Dieter Becker, Karl Barth und Martin Buber – Denker in dialogischer Nachbarschaft? Zur Bedeutung Martin Bubers für die Anthropologie Karl Barths, FsöTh 51, Göttingen 1986 heranzuziehen.

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Frage nach der Voraussetzung, nach einer Potentialität, einer „Wortmächtigkeit“ und natürlichen Bestimmung des Menschen für Gott mit dem ausführlichen Rekurs auf die Lehre von der „creatio ex nihilo“. Es überrascht nur auf den ersten Blick, dass er dieses Theologumenon an dieser Stelle aufnimmt. Diese Lehre gehört zwar traditionellerweise in den engeren Zusammenhang der Schöpfungslehre, hätte also in KD III/1 abgehandelt werden können, aber Barth nutzt deren Pointe für die Anthropologie, indem er das Handeln Gottes in seinem Wort als ein voraussetzungsloses, als ein Schaffen aus dem geschöpflichen Nichts, charakterisiert.126 Der Mensch bzw. das Geschöpf ist keine Emanation Gottes, es ist ein geschaffenes, selbständiges Gegenüber; aber es kommt in das Sein allein durch den Anruf, durch die Anrede Gottes (vgl. Hebr 11,3; Röm 4,17). Damit ist aber die „Potentialität seines Daseins nicht in, sondern außer ihm“127. Die Anrede im Wort Gottes impliziert die Wortmächtigkeit des Menschen, im Akt des göttlichen Sprechens wird sie dem Hören vorausgesetzt. Nichts anderes geht also dem Sein voraus, als Gott selbst, in seinem schaffenden Wort, im Logos. 3.2.2. Schöpfung, Bund und Analogie128 An diesem Punkt tut sich nun aber die ganze Spannung endgültig auf, die die Rede von Jesus Christus als ontologischer Bestimmung bestimmt. Wie wir sahen, besteht Barth auf der Identität des Schöpfungs- und des Versöhnungshandelns in Jesus als dem Christus; er betont in §44, 3 die Einheit des in Jesus Ereignis gewordenen Werkes Gottes. Zuvor aber, in §41 – der nun Gegenstand der Erörterung werden soll –, versucht er die innere Struktur, die Differenz der Werke Gottes bzw. die Momente des einen Werkes darzustellen. Indem Barth zwischen Schöpfung und Bund differenziert, ermöglicht er sich den tiefenscharfen Blick auf die geschöpfliche Voraussetzung, die Möglichkeit, einerseits und die göttliche Anrede, seine Wirklichkeit, die die geschöpfliche Voraussetzung in Anspruch nimmt, andererseits. Indem er aber die Schöpfung als auf den Bund zielendes und den Bund als die Geschöpflichkeit verwirklichendes, diese implizierendes Werk versteht, kann er die Einheit der Geschichte Gottes mit den Menschen und den Geschöpfen festhalten und so von Jesus als der ontologischen Bestimmung 126

Vgl. hierzu Stock, Anthropologie der Verheißung, 44ff und bes. 77–79. KD III/2, 186. Vgl. auch: III/2, 152.153. 128 Im Hintergrund der folgenden Ausführungen stehen insbesondere: Eberhard Mechels, Analogie bei Erich Przywara und Karl Barth; Wilfried Härle, Sein und Gnade. Die Ontologie in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik, Berlin 1975; Eberhard Jüngel, Die Möglichkeit theologischer Anthropologie; Stock, Anthropologie der Verheißung, 142–153. 127

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sprechen. Die Schöpfung ist somit zwar das erste Werk Gottes, dem Gott aber in seinem zweiten Werk, der Versöhnung bzw. dem Gnadenbund treu bleibt und sich auf diese Weise im Schöpfer-, Erhalter- und Versöhnersein und -handeln als der eine Bundesgott erweist. Mit der Schöpfung beginnt das von Gott unterschiedene Leben, sie bildet den Anfang und die Voraussetzung der Existenz. In ihr wird der Raum des Lebens und der Geschichte erstellt: „Es geht aber in dem christlichen Begriff der Schöpfung aller Dinge konkret um den Menschen und seine ganze Welt als Raum für die Geschichte des Gnadenbundes“.129 In der klassischen Formulierung Barths: „Die Schöpfung als äußerer Grund des Bundes“.130 Das Verhältnis zwischen Schöpfung und Bund lässt sich nun aber in verschiedenen Hinsichten näher beschreiben. 3.2.2.1 Das Verhältnis von Schöpfung und Bund Zum einen handelt es sich um ein Verhältnis gleichsam mit Gefälle. Die Schöpfung ist aus zeitlicher Perspektive zwar das erste Werk Gottes, dem das zweite Werk der Versöhnung logischerweise folgt, insofern gerettetes und versöhntes Sein zunächst einmal überhaupt und notwendigerweise ein Sein sein muss. Diese Abfolge ist aber zunächst eine äußere, geschichtliche, die der inneren und sachlichen entgegenläuft. Die Schöpfung zielt nämlich auf den Gnadenbund, die Versöhnung; sie läuft auf die Spitze des Willens Gottes zu, gibt ihm den Raum, in dem er Ereignis werden kann. Sie ist nur die Ermöglichung und als solche auf die Verwirklichung in Jesus hingeordnet. „Die organisierende Mitte aller Taten Gottes“131, die Wirklichkeit Jesu Christi, ist deshalb sachlich das eigentlich erste Werk, der Fluchtpunkt, dem die Schöpfung als zweites nur dient. So ist der Bund der innere Grund der Schöpfung. Zum anderen ist dieses Verhältnis eines der Entsprechung. Wenn Gott Mensch wird, wenn der Logos in die Welt eingeht, dann kommt er in sein Eigentum (vgl. Joh 1, 11). Die Welt bzw. die Schöpfung kann dem Handeln Gottes in Jesus also nicht fremd sein, sondern ist nicht nur zeitlich-sachlich, sondern auch strukturell auf dieses Ereignis hingeordnet. Die Schöpfung und das Sein der Geschöpfe sind so ge- und beschaffen, dass es die Offenbarung Gottes beherbergen kann; es entspricht dem sprechenden Gott. Damit besteht also eine Analogie zwischen Natur und Gnade, zwischen Schöp129

KD III/1, 46. Vgl. ebd., 103–258. Barth legt unter dieser Überschrift die priesterschriftliche Schöpfungsgeschichte (Gen 1,1–2.4a) aus und stellt ihr den jahwistischen Bericht (Gen 2,4b–2.25) entgegen; d.h. er schreibt ihn in diese Vorgabe unter dem Titel „Der Bund als innerer Grund der Schöpfung“ ein – ebd., 258–377. 131 Ebd., 65. 130

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fung und Bund. Die Schöpfungslehre und als deren Kern die Anthropologie ist nur aufgrund dieser bestehenden Analogie möglich und wird in deren Entdeckung und Aufdeckung wirklich.132 Das sachliche Gefälle zwischen Bund und Schöpfung und ihr Entsprechungsverhältnis gründen zuletzt und zuerst in dem einen Willen und Sein Gottes: „Die entscheidende Verankerung der Erkenntnis der Zusammengehörigkeit von Schöpfung und Bund ist die Erkenntnis, daß Gott der Schöpfer der dreieinige Gott ist, Vater, Sohn und Heiliger Geist.“133 Es ist das Sein des dreieinen Gottes ad intra, das den Grund für seine Werke ad extra bildet. Barth überschreitet hier also die Grenze zwischen Schöpfung und Schöpfer, zwischen Zeit und Ewigkeit, indem er wiederum einen analogischen Rückschluss vollzieht, d.h. die zentrale Analogie aufdeckt, in der alle anderen Analogien und Verhältnisse gründen. Das Sein Jesu Christi, als Kernstück der Beziehung von Gott und Mensch in der Zeit, als Ziel und Zusammenfassung von Schöpfung und Bund, resultiert aus dem innertrinitarischen Sein Gottes, wurzelt in ihm. Die Trinität ist damit der ewige „Quellort“, in dem das Sein wie die Bewahrung des Seins ihren Ursprung haben. Die Gnadenwahl bzw. Erwählung bedeutet, dass zunächst im innertrinitarischen Sein eine Entscheidung und Selbstbestimmung Gottes für den Menschen Jesus und darüber hinaus für den Menschen als solchen gefallen ist; eine ewige Selbstbestimmung zur Gemeinschaft mit dem Menschen, die die zeitliche Verwirklichung im Bund und die vorhergehende Ermöglichung in der Schöpfung nach sich zieht. Gott selbst ist also eine relationale Wirklichkeit, die sich nun aber nicht damit begnügt, allein in sich selbst Beziehung zu haben, sondern eine Beziehung zur Welt und zum Menschen ins Sein setzt, die dem eigenen göttlichen Sein entspricht: Es findet also die ewige Gemeinschaft zwischen dem Vater und dem Sohn oder zwischen Gott und seinem Wort jene Entsprechung (ganz anderer, aber doch nicht unähnlicher Art) in der Gemeinschaft zwischen Gott und seinem Geschöpf.134

Das göttliche Wesen besteht im ewigen Gegenüber von Gott, dem Vater, und Gott, dem Sohn, dessen Prinzip die aus beiden gegenseitig hervorgehende Liebe, der Heilige Geist – selbst wahrer und ewiger Gott –, ist.135 Gott, dem Vater, steht genauer hin der von ihm erzeugte Sohn gegenüber, das ewige Wort Gottes, auf das hin und in dem die Welt geschaffen wird. Barth verwendet die Vorstellung des Blickes. Indem der Vater auf den Sohn blickt, schafft er die Welt:

132

Vgl. hierzu nochmals Jüngel, Die Möglichkeit theologischer Anthropologie, bes. 213. KD III/1, 51. 134 Ebd., 53. 135 Vgl. ebd., 59ff. 133

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Im Blick auf diesen seinen Sohn, der Mensch und Träger der menschlichen Sünde werden sollte, hat Gott den Menschen und mit dem Menschen seine ganze Welt von Ewigkeit her, noch ehe er sie schuf, geliebt, trotz und in ihrer ganzen Niedrigkeit, Nicht-Göttlichkeit, ja Wider-Göttlichkeit – und hat er sie geschaffen.136

Damit ist Jesus Christus nicht nur das Ziel und die Spitze des Handelns Gottes in der Welt, sondern zunächst der ihr Präexistierende, das Urbild aller Schöpfung. Die Präexistenz Jesu bedeutet aber nicht, dass Jesus bloß vor der Schöpfung da wäre oder zwischen ihr und Gott stehen könnte, sondern er existiert zuerst und zuletzt als der fleischgewordene Sohn Gottes und ist deshalb gerade die Gott und Mensch verbindende göttliche Existenz. Denn Gott, dem Vater, steht nicht ein bloßes Logos-Prinzip gegenüber, sondern es ist „von dem vor den ewigen Augen Gottes schon mit unserer menschlichen Natur Bekleideten“137 Logos zu sprechen. 3.2.2.2 Das Prinzip der Analogie Mit der Präexistenz Jesu, seiner Liebe und seinem Geliebtwerden durch den Vater, mit dem Heiligen Geist als innergöttliches Beziehungsprinzip, ist damit aber auch die Schöpfung in gewisser Weise präexistent; als wahrer Gott und wahrer Mensch steht er ihm von Ewigkeit her vor Augen. Das heißt zunächst, es kann ‚keine Menschenlosigkeit‘, keine Weltlosigkeit Gottes geben, ist doch der Logos selbst Mensch und in ihm die Welt gleichsam in Gott repräsentiert; und es kann keine Gottlosigkeit des Menschen geben, denn im Wort ist er von Gott geliebt, ist er von ihm geschaffen und versöhnt. Die Existenz des Menschen und der Welt hat in der Existenz Jesu als Sohn des Vaters in der Kraft des Heiligen Geistes also ihre „innergöttliche Analogie und Rechtfertigung“138. Dabei betont Barth durch das duale Prinzip der Analogie die Einheit des Werkes Gottes in Jesus. Nur in ihm offenbart sich Gott selbst, nur in ihm und für ihn wird die Welt geschaffen. Damit steht, wie der Vater dem Sohn, der Sohn der Welt gegenüber und deshalb sind alle Aussagen über die Schöpfung bzw. das Verhältnis von Schöpfung und Bund christologisch fundiert oder, wie kritisch angemerkt werden könnte, christologisch engge136

Ebd., 53/54. Ebd., 58. 138 Ebd., 59. Vgl. auch 63, wo die Funktion des Heiligen Geistes dahingehend beschrieben wird, dass er die „innergöttliche Garantie des Geschöpfs“ sei und als die Grundbedingung der Beziehung zwischen Gott und Mensch zu verstehen sei, insofern er die verwirklichende und lebensschaffende Kraft Gottes ist – und zwar in der Schöpfung vom Vater ausgehend und in der Versöhnung vom Sohn. Vgl. gleichsam zur innertrinitarischen Begründung der Analogie im Kontrast zu Pannenbergs Ansatz: Shults, Constitutive Relationality, bes. 310–316. 137

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führt. Der Vorwurf des „Christomonismus“ (Dietrich Bonhoeffer) hat hier seinen Sitz im Leben, denn die Analogie von Schöpfung und Bund erscheint bloß als innerchristologische Differenz, insofern zwischen dem Schöpfungsaspekt – „in ihm ist alles geschaffen“ (Kol 1,16a) und dem Versöhnungsaspekt – „dass Gott durch ihn alles mit sich versöhnte“ (Kol 1,20) unterschieden wird. Es wird deutlich, dass Barth den Weg (bestimmter Traditionsbereiche) der urchristlichen Gemeinde bis zum Ende mit gegangen ist, der vom Erleben des Jesus von Nazareth über die ersten Hoheitstitel bis zur Vorstellung der Präexistenz, dem „ontischen Zusammenhang zwischen Jesus Christus und der Schöpfung“, führten und in den neutestamentlichen Christushymnen ihren Niederschlag fanden.139 Im Zuge dessen tritt aber die Lehre von den „Appropriationes“140, in der den drei Seinsweisen Gottes bestimmte Besonderheiten im Blick auf ihr Handeln zugeschrieben werden, in den Hintergrund bzw. wird ebenfalls durch die christologische Perspektive in ihrer Bedeutung eingeschränkt. Natürlich ist der dreieine Gott in seinen Werken ad extra immer als Vater, Sohn und Heiliger Geist, also als Einheit am Werk, so dass jede Seinsweise Gottes an der Schöpfung, der Versöhnung und der Erlösung oder Heiligung auf ihre Weise teilhat. Aber, weil in dem einen Wort Gottes, Jesus Christus, dem Versöhner, Gott zur Welt kommt, Gott selber in der Welt gegenwärtig ist, kann nur von dort aus auf den Vater als Schöpfer und den Geist als Erlöser geblickt und geschlossen werden. Die Schöpfung – per appropriationem – als Werk des Vaters und die Erlösung – per appropriationem – als Werk des Heiligen Geistes sind deshalb nicht ‚selbständig und selbstverständlich‘, sondern lassen sich nur von der Versöhnung her – per appropriationem – als Werk des Sohnes erschließen. Alle Gotteserkenntnis resultiert aus der Erkenntnis Jesu Christi, das Denken ist gefangen genommen, von dem, in dem die Fülle der Gottheit wohnt (vgl. 2Kor 10,5 u. Kol 2,9). Hier liegt zuletzt auch der Grund, weshalb Barth die analogia relationis so scharf von der analogia entis, gleich welcher Provenienz, abgrenzt.141 Zum einen wird in der analogia relationis nicht ein Sein, insbesondere substanzhaft gedachtes göttliches Sein, mit anderem Sein, sondern eine Relation mit einer anderen Relation verglichen. Es geht immer um Beziehungen, nur in solchen spielt sich das göttliche, wie das geschöpfliche Leben ab, nur in ihnen findet es seine Struktur. Barth denkt in allem ‚relationsontologisch‘. Damit hängt zum anderen aber zusammen – und das ist für die Kritik der Lehre von der analogia entis noch wichtiger –, dass zuerst und zuletzt die erwähnte Urentsprechung nicht nur eine Urähnlich139

Vgl. etwa KD III/1, 54–59, zuvor 54. u.a. Vgl. hierzu ebd., 52ff; überdies Weber, Grundlagen der Dogmatik I, 436ff. 141 Vgl. Mechels, Analogie, bes. 189–199. 140

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keit von Gott und Mensch ausdrücken will – beide leben in Beziehung –, sondern dass es sich hier um eine das Sein begründende Beziehung handelt. Nur dort, wo Gott gegenwärtig, lebendig da und am Werk ist, in Jesus Christus, findet sich die Beziehung, die dem Geschöpf und – im Kern – dem Menschen Sein verschafft und dieses Sein bewahrt. Die Lehre von der analogia entis, so Barths Befürchtung, sucht abseits von dieser wirklichen und alle Möglichkeit einschließenden Beziehung in Jesus Christus die Begründung und den Charakter des Seienden, so als ließe sich – auch wenn in aller Ähnlichkeit immer noch größere Unähnlichkeit bestünde – von der Natur auf Gott schließen, als sei Gott, der Vater, als Schöpfer aus seinem Werk erkennbar oder der Geist in seinem freien Wirken. Sie findet den Menschen als ein von Natur aus auf Gott bezogenes Wesen, muss sich aber fern der noetisch und ontisch bestimmenden Beziehung, fern von der Gnade, in Spekulationen über das Wesen Gottes und des Menschen verlieren. Dagegen ist im Prinzip der analogia relationis die Erkenntnis zusammengefasst, dass der Mensch in Jesus Christus ontologisch bestimmt ist; und das heißt, dass er in ihm von Gott her ist und in ihm in seiner Natur erkannt werden kann. An dieser Stelle muss allerdings noch einmal hervorgehoben werden, dass es sich bei der von Barth veranschlagten analogia relationis um ein streng duales und personales Prinzip handelt. Es ist streng dual, insofern Barth keine Beziehungssysteme, die über einen einfachen Bezug zweier Relate hinausgehen, erkennt oder erkennen kann. Allein schon diese Beschränkung lässt sich im Blick auf die Trinität aber kritisch befragen. Wenn die Relation von Gott und Mensch in der innertrinitarischen Relation, der Uranalogie von Gott Vater und Gott Sohn, verankert ist, welche Bedeutung hat dann der Heilige Geist? Neben dem Dual von Vater und Sohn ist dann kein gleichwertiger Platz für die dritte Person. Barth ersetzt (deshalb) den Begriff der „Person“ durch den der „Seinsweise“142 und hält das Besondere der Seinsweise des Heiligen Geistes für das den Vater und den Sohn verbindende Prinzip: „er ist die Gemeinschaft, er ist der Akt des Gemeinsamseins des Vaters und des Sohnes.“143 Es scheint gerade so, dass der Heilige Geist bei Barth mit dem Beziehungsprinzip der analogia relationis identifiziert wird: Vater und Sohn sind im Heiligen Geist aufeinander bezogen. Stimmt das, dann lässt sich mit Konrad Stock kritisch resümieren: „Die Thematisierung der Gemeinsamkeit beider als besondere Seinsweise bedeutet aber eine Reduktion der Dreiheit Gottes auf eine Beziehung zweier.“144 Überdies steht dann auch die Personalität des Geistes – im biblischen Sinne 142

Vgl. schon KD I/1, 379. KD I/1, 493. 144 Stock, Anthropologie der Verheißung, 111. 143

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als eines eigenständigen anred- und anbetbaren Gegenübers – in Frage; bezeichnet er lediglich die Beziehungswirklichkeit der ersten und zweiten Person der Trinität.145 Dem entspricht der Eindruck, dass das Prinzip der Analogie bei Barth ein personales ist, das heißt, es ist am Gegenüber von zwei menschlichen Personen gewonnen. Auch wenn Barth gerade diesen Personbegriff nicht in die Gottheit transponieren will und deshalb von „Seinsweisen“ spricht, so bleibt Barths Verständnis der Seinsweise des Vaters und des Sohnes und deren Relation stark an der durch die dialogische Philosophie geprägte Vorstellung der sog. Ich-Du-Beziehung orientiert.146 Im Sohn steht Gott dem Vater, als Ich, ein Du gegenüber; insofern erscheinen zwei sprachfähige, ansprechbare und sich aussprechende Partner aufeinander bezogen. Die Auffassung der ‚Wortgestaltigkeit‘ der Offenbarung Gottes in Jesus Christus bestätigt diese Auffassung der Vorstellung der „Person“.147 Das schränkt aber die analogia relationis in einer zweiten Weise nachhaltig ein, indem letztlich nämlich nur personale Relate in den Blick kommen (können).148 Lag hier schon die Beschränkung der Schöpfungstheologie auf die Anthropologie begründet, da Gott nur im Menschen ein personales Gegenüber hat, so wird das Prinzip der Analogie zu einer sehr engen Angelegenheit. Komplexere Beziehungssysteme und später dann die Subjektivität des Menschen als Selbstbeziehung sind somit gar nicht adäquat beschreibbar. Barth gewinnt mit der analogia relationis also ein fruchtbares heuristisches Prinzip, auch wenn es freilich viel mehr ist als eine Entdeckungshilfe, aber durch seine Beschränkung auf den Dual und die Personalität der Relate verliert er die theologische und anthropologische Weite. Alles Sein ist in Beziehung, aber nicht nur als Ich und Du. Die Unterbewertung des Heiligen Geistes als bloßes Prinzip der Beziehung von Vater und Sohn entspricht dieser Engführung. Dabei ließe sich möglicherweise gerade in einer höheren Bewertung des Geistes die nötige Offenheit finden.

145 Der Geistbegriff Barths erinnert an die Kategorie des „Zwischen“ bei Buber, insofern dieser dem Begegnungsgeschehen zwischen einem Ich und Du eine eigenständige Wirklichkeit zuschreibt. Zur Bedeutung des „Zwischen“ bei Buber und die auch für Barth zutreffenden Grenzen des dialogischen Denkens sind die Ausführungen von Michael Theunissen wichtig: Der transzendentalphilosophische Entwurf der Sozialontologie und die Philosophie des Dialogs. Eine Nachschrift, in: Der Andere, 483–507. Vgl. auch Becker, Karl Barth und Martin Buber, 79f. 146 KD III/1, 207 (u.a.): „So ist das tertium comparationis, die Analogie zwischen Gott und Mensch sehr schlicht die Existenz im Gegenüber von Ich und Du.“ 147 S.u. Abschnitt 3.3.1. 148 Vgl. dazu Becker, Karl Barth und Martin Buber, 215. Becker spricht von „Engführungen Bubers auf den Dual(, die) durch Barths Konzentration auf die personale Zweierbeziehung, […] noch verstärkt“ würden.

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3.2.3 Das Ebenbild Gottes149 Den gleichsam emblematischen Ausdruck für das Verhältnis Gottes zum Menschen findet Barth in der biblischen Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit. Im Rahmen der Auslegung des ersten Schöpfungsberichts nimmt er sich der zentralen Stelle Gen 1,26f an und versucht daran seine Konzeption zu bewähren.150 Barth hat mit deren Auslegung nicht nur in der systematischen Theologie bzw. der theologischen Anthropologie, sondern auch in der Exegese einen Meilenstein gesetzt, der für die einen ein Grundstein, für die anderen ein Stein des Anstoßes wurde.151 Er unterzieht Gen 1,26f einem genauen Blick, in dem er sich an den exegetischen Problemen, im Kern der Frage nach der Übersetzung, abarbeitet und diese von seinem analogischen Ansatz her zum Sprechen bringt. Da Barth aber in §41,2 die Schöpfung als äußeren Grund des Bundes darstellt, treten das teleologische Moment – die Schöpfung zielt auf den Bund, die Natur auf die Gnade in Jesus – und die explizit christologischen Aussagen zunächst zurück; in §41,3 wird das anders sein, insofern dort direkter vom Bund her argumentiert wird. Freilich denkt Barth auch hier vom Bund und von Christus her, denn nur so kann er zeigen, wie die Schöpfung auf Christus hin geschaffen ist. Aber der Beginn der Bundesgeschichte findet sich für Barth erst am Ende der Schöpfungsgeschichte, indem sich Gott selbst am Sabbat seiner Welt und seinen Geschöpfen verbindet: Am Sabbat „hat Gott, nachdem er die Welt und den Menschen gemacht hat, sich selber weltlich und menschlich gemacht, d.h. sich selber in einem 149

Vgl. hierzu grundlegend Stock, Anthropologie der Verheißung, 113–130. Es ist hier wohl nicht anders zu formulieren, als „eine Konzeption zu bewähren“, denn Barth fügt die Auslegung der Schöpfungsberichte in das systematische Konzept von äußerem und innerem Grund ein und führt darin seine Grundthese am Textmaterial aus. Natürlich leuchten sich die Konzeption und der Text gegenseitig aus; aber es melden sich berechtigte Zweifel an, dass es sich hier um „konsequente Exegese“ (Jüngel) handelt. Walter Groß urteilt aus exegetischer Sicht scharf: „Die Sätze von Gen 1 über die Gottebenbildlichkeit werden vom systematischen Verständnis der Gott-Mensch-Beziehung her, aber fast ohne jeden argumentativen Kontakt zum konkreten Wortlaut und zum Kontext ausgelegt“ (Gottebenbildlichkeit, 36). Vgl. zur milden Beurteilung des Umgehens mit der Schrift bei Karl Barth: Gabriele Obst, Veni Creator Spiritus! Die Bitte um den Heiligen Geist als Einführung in die Theologie Karl Barths, Gütersloh 1998, 167–233. 151 Vgl. zur Diskussionslage der imago-Dei-Interpretation bei Karl Barth den Aufsatzband: Der Mensch als Bild Gottes. Die Beurteilung reicht von offener Ablehnung und Diskreditierung – etwa bei Leo Scheffczyk (Gottebenbildlichkeit in der modernen Theologie), der unverständlicherweise von einer „minimalistischen Auffassung von der Bedeutung dieses Ausdrucks“ (XI) und „der anspruchslosen Art“ (XII) spricht, in der Barth die Gottebenbildlichkeit interpretiere – bis zur kritischen Würdigung und sanften exegetischen Korrektur durch den Schüler – bei Johann Jakob Stamm, Die Imago-Lehre von Karl Barth und die alttestamentliche Wissenschaft, 49–68. Es besteht darin aber Übereinstimmung, dass Barths Interpretation das Zentrum einer eigenständigen Auslegungsphase von Gen 1,26f bildet und seine Ausführungen von kaum zu überschätzendem systematisch-theologischem, wie exegetischem Wert sind. Vgl. hierzu auch den oben genannten Aufsatz von Groß, Gottebenbildlichkeit, bes. 36. 150

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zeitlichen Akt mit dem Sein und Sinn und Lauf der Welt, mit der Geschichte des Menschen verbunden.“152 Ähnlich verläuft die Linie in der Auslegung und Erörterung der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit, die in der Exegese der neutestamentlichen Stellen mündet. Der Zielpunkt – und damit verborgen auch der Ausgangspunkt – ist Jesus Christus als Ebenbild Gottes: „Das Bild ist in ihm auf den Plan getreten, angesichts dessen die Frage nach dem Original schlechterdings und restlos beantwortet ist.“153 3.2.3.1 Gottebenbildlichkeit in Bund und Bündnisfähigkeit Barth beginnt zunächst aber mit der Auslegung der göttlichen Selbstaufforderung: „Lasset uns Menschen machen!“, dem Eingangssatz des sechsten Schöpfungstages, der durch diese Beschlussfassung und Selbstaufforderung Gottes gegenüber den anderen Schöpfungstagen abgegrenzt und qualifiziert wird. Die Schaffung des Menschen hebt sich aus den Werken des Schöpfers dadurch hervor, dass es zu einer besonderen Beschlussfassung und deren Artikulation kommt. Dabei handelt es sich nach Barths Ansicht nicht (bloß) um die Stilform eines pluralis deliberationis154 und er denkt auch nicht an biblische und altorientalische Parallelen der Vorstellung eines himmlischen Hofstaates, sondern wertet den Plural scheinbar schlicht als Hinweis auf die „Nicht-Einsamkeit Gottes“ in sich selbst: eine im göttlichen Bereich und Wesen stattgefundene Geschichte, eine göttliche Bewegung zu einem göttlichen Anderen hin und von diesem zurück, ein göttliches Gespräch, ein göttlicher Aufruf und eine göttliche Entsprechung dazu war und ist der schöpferische Grund seiner (sc. des Menschen) Existenz.155

Barth findet hier den Ansatzpunkt für seine analogia relationis, die im relationalen Sein Gottes vorgebildet ist und im menschlichen Wesen wiederholt wird. Dabei solidarisiert er sich weitgehend mit der Auslegung der Alten Kirche, die diese Stelle trinitätstheologisch deutete; zumindest will er zu denken geben, dass diese Auslegung – im gesamtbiblischen Kontext – eine nicht zu verachtende Plausibilität besitze.156 Mit der Übersetzung des zweiten Halbsatzes von Gen 1,26 (bezalmenu kidmutenu) formuliert Barth den Kern seiner ganzen theologischen Anthropologie, hier findet sich gleichsam das biblische Axiom, von dem her sich 152

KD III/1, 244. Ebd., 227. 154 Westermann urteilt gegen die ‚trinitarischen Assoziationen‘ und die Vorstellungen vom himmlischen Hofstaat: „der pluralis deliberationis im Kohortativ ist belegt und reicht zur Erklärung aus“ (BKI/1, 201). 155 Ebd., 205, zuvor 204. 156 Vgl. ebd., 216 und auch 123. 153

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alles Weitere erschließen lässt: „Lasset uns Menschen machen, in unserem Urbild nach unserem Vorbild!“157 Der Mensch ist in Gottes Urbild geschaffen, insofern „im Bereich und Wesen Gottes selbst ein göttliches und also in sich selbst begründetes Urbild existiert“, in dem er seinen „Rechtsgrund“ hat.158 Er ist aber insofern nach dem Vorbild Gottes geschaffen, als er – zwar nur als Entsprechung, mit gewisser Ähnlichkeit – die Existenzform Gottes teilt bzw. wiederholt. Für Barth liegt also beides im Begriff der Gottebenbildlichkeit, beides ineinander: einerseits die Gottesbeziehung des Menschen, insofern er, weil er ein Urbild in Gott hat, das Abbild oder Nachbild ist und andererseits sein Welt- und Selbstverhältnis, seine Existenzform, insofern die Struktur seiner Geschöpflichkeit der Struktur des göttlichen Wesens nachgebildet ist und entspricht, so dass er das Abbild oder Nachbild sein kann. Für Barth sind Bund und Schöpfung, Akt und Potentialität, Wirklichkeit und Möglichkeit, Im-Bunde-Sein und Bündnisfähigkeit in der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen verbunden.159 Durch seine Übersetzung wird wiederum dieses Verhältnis – schon im Bereich des Alten Testamentes – zu Tage gefördert: Es ist die Koexistenz Gottes und des Menschen einerseits und die eigentümliche Existenz des Menschen andererseits, in welcher das in Gott selbst bestehende reale und doch einmütige Gegenüber geschöpfliche Gestalt gewinnt und dem Geschöpf offenbar wird.160

Barth hat mit seiner Übersetzung und Auslegung freilich ein exegetisch höchst umstrittenes Terrain betreten, das bis heute kaum an Eindeutigkeit gewonnen hat; und er hat eine Deutung ins Spiel gebracht, die an systematischer Kohärenz kaum zu überbieten ist, aber exegetischer Genauigkeit ermangelt. Im Blick auf die Substantive: zälem und demut und die Präpositionen ke und be lässt sich Barth großzügigen Interpretationsspielraum, der durch altorientalische Parallelen, aber auch durch die Problematik von Gen 5,3 – hier wird die Präposition be mit demut und ke mit zälem (bidmuto kezalmo) verbunden und von einer ‚Adamsebenbildlichkeit‘ gesprochen – etc. keine wirkliche Begrenzung oder Korrektur erfährt.161 157

Ebd., 205 (hervorgehoben von T.W.). Ebd. 159 Stamm (Die Imago-Lehre, 68) fällt hinter die Klarheit Barths zurück, wenn er – im Blick auf die Ergebnisse der alttestamentlichen Wissenschaft – von einer „Gottesverwandtschaft“ spricht, in der „ein gestaltmäßig Äußeres und ein damit verbundenes geistiges oder wesensmäßiges Inneres gleichermaßen vorhanden sind.“ Hier wäre Moxters Kritik an einer Bestimmung der Gottebenbildlichkeit durch die Vorstellung des Abbildens – statt der der Repräsentation – heranzuziehen (Der Mensch als Darstellung Gottes, 275ff). 160 KD III/1, 206. 161 Vgl. zur exegetischen Diskussion: Westermann, BKI/1; Groß, Gottebenbildlichkeit. Für die Deutung der Substantive kann Barth eine gewisse Plausibilität geltend machen, insofern zälem die 158

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Nun ist aber die Frage zu stellen, wie Barth sein Verständnis der Gottebenbildlichkeit konkretisiert, und wie er es gegen mögliche, alternative Deutungen abgrenzt. Wie wir sahen, geht es einerseits um die Koexistenz Gottes und des Menschen, die Gottesbeziehung, in der der Mensch von Gott her ist, und andererseits um die Existenz des Menschen, die das Sein Gottes in seiner Geschöpflichkeit und Natur abbildet. Barth sieht hier die Analogie der Beziehung: So wie Gott in Beziehung lebt, und so wie er sich zum Menschen in Beziehung setzt, so muss der Mensch selbst in Beziehung leben. Er verifiziert diese These bzw. entdeckt diese Analogie anhand von Vers 27b: „Als Mann und Frau schuf er sie.“ Barth wertet die Konkretisierung des zum Ebenbild geschaffenen Menschen durch den Hinweis auf seine Geschlechterdifferenz nicht – in erster Linie – als Bezeichnung einer bloßen Differenz zwischen den Geschlechtern und damit als Näherbestimmung des Umfanges des Begriffes ‚Mensch‘ – Männer und Frauen sind Menschen –, sondern als Bezeichnung seines Seins in Beziehung, der natürlichen, aufgrund der Entsprechung zum Sein Gottes bestehenden und deshalb auch ontologisch zu nennenden, Grundstruktur: Indem „der Mensch im Gegenüber zu Gott und zum Gegenüber zu seinesgleichen – in echter, eigentlicher Andersheit geschaffen wird, ist erst er und er allein ‚im Bilde‘ und ‚nach dem Bilde‘ Gottes geschaffen.“162 Die Differenz ist damit nicht der eigentliche Vergleichspunkt, sondern die Beziehung; sie allein ist das ‚Eben- oder Abbildliche‘ des Menschen, in dem er Gottes Sein in aller Ungleichheit entspricht.163 Man darf freilich nicht vergessen, dass der Statue oder Rundplastik als Gegenstand bedeutet und demut als Abstraktbildung von damah soviel wie Ähnlichkeit oder Gleichheit bedeuten könnte. Allerdings wird zälem und demut etwa in Gen 5,3 in umgekehrter Reihenfolge verwandt und Stellen wie 2Chr 4,3 u.a. machen deutlich, dass demut auch die Bedeutung von zälem, Figur oder Plastik, übernehmen kann. Der Austauschbarkeit der Substantive entspricht auch eine der Präpositionen im Hebräischen, so dass es sich bloß um „eine Aussage“ (Westermann, BKI/1, 201) handelt, die freilich durch die Wiederholung eine besondere Betonung erfährt. Besonders problematisch wird für Barth Gen 5,3, da hier tatsächlich die Substantive und Präpositionen ‚ausgetauscht‘ wurden und die Ebenbildlichkeit des Menschen sich auf den ersten Menschen und nicht Gott selbst bezieht. Barth wehrt sich nun vehement gegen die möglichen Konsequenzen, dass hier nämlich ein starker Traduzianismus (vgl. hierzu auch KD III/2,§47, 697) in den Blick kommen könnte, der die Gottebenbildlichkeit an die Geschlechterfolge anbindet und diese deshalb als natürlichen Besitz qualifizieren könnte. Demgegenüber hält Barth an der völligen Unverfügbarkeit der Gottebenbildlichkeit und Würde des Menschen fest, insofern sie diesem allein in und durch die Beziehung zu Gott zukommt. Die exegetischen Schwierigkeiten weisen also darauf hin, dass es sich in Gen 1,26f u.a. nicht um eine völlig durchsystematisierte oder -systematisierbare Lehre von der Gottebenbildlichkeit handelt, sondern um die Aufnahme und Neuinterpretation einer religiösen Tradition (vermutlich aus Ägypten), die dem/n Verfasser/n der Priesterschrift die Möglichkeit bot, von der Sonderstellung und Würde des Menschen zu sprechen. Vgl. dazu die Ausführung zu Beginn unter 1.1.1. 162 KD III/1, 206. 163 Stamm (Die Imago-Lehre, 51) fasst die Ungleichheit der Entsprechung Treffenderweise folgendermaßen zusammen: „Bei Gott handelt es sich um ein Ich und ein Du in einem Wesen, beim

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Mensch die geschlechterdifferente Existenzform der höheren Tiere teilt und ihnen auch darin gleich ist, dass er den göttlichen Segen zur Mehrung braucht und auch erhält (Gen 1,28). Noch stärker wird die Gemeinsamkeit mit den Tieren im 2. Schöpfungsbericht betont, da der aus Erde geformte Mensch durch den gleichen Atem belebt wird (Gen 2,7 u.a.) und Gott sogar den Versuch macht, dem Menschen im Tier ein Gegenüber zu schaffen (Gen 2,18ff). Aber, dass im Gegenübersein, d.h. in der Differenz der Geschlechter, auch eine echte Beziehung möglich und wirklich wird, scheint nur im Falle des Menschen gegeben zu sein, insofern er durch das Verhältnis Gottes zu ihm allein auch befähigt ist, in Beziehung zu leben. Gott spricht den Menschen an und lässt ihn einen Sprechenden werden. Hier wird erneut der duale und personale Charakter der analogia relationis – nach Barth – deutlich. 3.2.3.2 Gottebenbildlichkeit als Beziehung und andere Deutungen164 Barth kann vom konkreten Verhältnis von Mann und Frau nun aber wiederum abstrahieren – und das scheint sein eigentliches Ziel zu sein –, denn es geht um das Prinzip der Beziehung, insofern der Mensch nicht nur zum anderen Menschen in Beziehung treten kann, sondern auch und zuerst zu Gott. Barth nutzt dazu die Terminologie des Personalismus: So ist das tertium comparationis, die Analogie zwischen Gott und Mensch sehr schlicht die Existenz im Gegenüber von Ich und Du. Sie ist zuerst für Gott konstitutiv; sie ist es dann auch für den von Gott geschaffenen Menschen.165

Dass der Mensch in der Differenz der Geschlechter lebt, ist ein mit keiner anderen Differenzierung (Rasse, Völker etc.) vergleichbares Faktum, keine Unterscheidung reicht so tief. Es scheint diese Einsicht zu sein, die Barth

beim Menschen stets um das Verhältnis zwischen zwei Individuen. Und wie beim Tier hat dieses Ich-Du-Verhältnis bei ihm die Form der Geschlechtlichkeit. Beides gehört nicht zur Gottebenbildlichkeit, sondern zur Geschöpflichkeit des Menschen.“ Stamm thematisiert deshalb aber schon die Grenze der Ich-Du-Beziehung der Geschlechter als Gottebenbildlichkeit. Ist die Geschlechterdifferenz nicht lediglich eine geschöpfliche Struktur, eine Schöpfungsordnung? 164 Vgl. hierzu prinzipiell die Ausführungen von Suzanne Selinger (Charlotte von Kirschbaum und Karl Barth. Eine biografisch-theologiegeschichtliche Studie, übers. von R. Brenneke, Zürich 2004, bes. 154–214), die auf die Bedeutung der Zusammenarbeit Barths mit Charlotte von Kirschbaum aufmerksam macht, insofern gerade die dialogische, am Gegenüber von Mann und Frau orientierte Anthropologie Barths von ihr mitbestimmt wurde. 165 KD III/1, 207. Vgl. auch ebd., 220, wo Barth die ganze Kaskade der analogiae relationis entfaltet: „Wie sich das anrufende Ich in Gottes Wesen zu dem von ihm angerufenen göttlichen Du verhält, so verhält sich Gott zu dem von ihm geschaffenen Menschen, so verhält sich in der menschlichen Existenz selbst das Ich zum Du, der Mann zur Frau“; auch: KD III/2, 261.262, 384– 391.

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dazu bewogen hat, das Verhältnis der Geschlechter zur Beschreibung der geschöpflichen, dialogischen Existenzform zu nutzen. Damit aber, dass Barth in der Ich-Du-Beziehung des Menschen dessen Gottebenbildlichkeit erkennt, hat er eine folgenschwere Entscheidung getroffen. Denn mit dem Blick auf die Sozialität des Menschen öffnet sich Barth zwar ein Kernbereich menschlichen Seins, den er damit auch als wichtigsten und tiefsten qualifiziert, aber der Zugang zu anderen Phänomenbereichen ist damit noch nicht erschlossen, ja vielleicht sogar verstellt.166 So erwähnt Gen 1,26f zwar nicht ausdrücklich die Vernunftbegabung des Menschen, aber der Hinweis auf seine Herrscherfunktion – die er eben nicht ohne Vernunft oder seine Exzentrizität (Plessner) ausüben kann – nimmt doch einen breiten Raum ein und scheint doch elementar(er) mit der Rede von der Gottebenbildlichkeit zusammenzuhängen (vgl. auch Ps 8). Barth fokussiert aber ausschließlich die Analogie der Beziehung und schließt damit nachhaltig folgende Interpretationen der Gottebenbildlichkeit aus: die Identifizierung mit der Seele oder dem Geist (altkirchliche Exegese, Herder, Hegel), mit dem „Prinzip der geschichtlichen Entwicklung“ (Troeltsch), aber auch mit der körperlichen Gestalt (Gunkel) oder eben der Herrschaft, dem dominium terrae (Delitzsch).167 Barth folgt damit einer seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, unter dem Einfluss des personalistischen Denkens, entstandenen Auslegung, die vor allem von Wilhelm Vischer und Dietrich Bonhoeffer vertreten wurde. Das Ich-Du-Verhältnis des Menschen zum Mitmenschen, seine Beziehungsfähigkeit, ist analog zum Verhältnis Gottes zum Menschen, Gottes begründende Beziehung zu ihm, zu denken. Allerdings geht Barth über Vischer und Bonhoeffer darin hinaus, dass er die Analogie bis ins innertrinitarische Sein Gottes verfolgt, und mit großer systematisierender Kraft den Hinweis auf die Geschlechterdifferenz in sein umfassendes analogisches Schema einbaut. Die anderen Interpretationen der Gottebenbildlichkeit haben angesichts dieses Zusammenhanges zwar ihr Recht als aufgewiesene Phänomene, in denen der gottebenbildliche Mensch lebt, aber sie sind keine wesentlichen Bestimmungen, denn darin bildet sich nicht die Gottesbeziehung bzw. Gottes Sein selbst ab; es geht hier nicht ums Sein, sondern (bloß) ums ‚Da- und Sosein‘ des Menschen. Die Herrschaft des Menschen über die Schöpfung etwa ist für Barth deshalb nur „ein Accessorium seiner ei-

166

Vgl. zu dieser Kritik beispielsweise Hummel (Theologische Anthropologie und die Wirklichkeit der Psyche, 33), der von einem „Gemeinschafts- und Weltmangel“ bei Barth spricht und gerade die hier greifende Reduzierung der Komplexität von Gemeinschaft auf den Dual im Blick hat. „Kennt Barth das Wort ‚Wir‘ nur in dualer Bedeutung?“ 167 KD III/2, 216–221. Vgl. zur Vollständigkeit auch die Aufstellung der Interpretationen der Gottebenbildlichkeit bei Westermann, BKI/1, 205–214; Groß, Gottebenbildlichkeit, 47.

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gentlichen Bestimmung“168, eine Konsequenz der Gottebenbildlichkeit, und die Vernunftbegabung bzw. das Selbstverhältnis kommt erst in KD III/2,§46 adäquat zur Sprache – und das nur über eine sogenannte „Ordnungsanalogie“, die Analogie von Leib und Seele. Barth versucht durch seine Interpretation der Gottebenbildlichkeit eines besonders abzuwehren: die Vermutung, es könnte sich um einen Habitus, eine natürliche Beschaffenheit des Menschen, handeln. Denn wäre die Gottebenbildlichkeit mit der Herrschaft des Menschen über die Geschöpfe zu identifizieren, also hätte sie der Mensch, dann wäre die Herrschaft Gottes, als eine absolute, in Gefahr und Gott in seiner Freiheit durch sein eigenes Geschöpf begrenzt. Eine ähnliche Problematik könnte in anderen Vorstellungen liegen, etwa in der Identifizierung mit der Vernunft oder dem Geist des Menschen, da sich das Ebenbild an diesem Sein gleichsam berauschen und das Bewusstsein, nur ein Abbild zu sein, abstreifen könnte. Die Gottebenbildlichkeit könnte somit zur Illusion einer Gottebenbürtigkeit depravieren. Dagegen macht Barth klar, dass die Gottebenbildlichkeit als Abbild der Beziehung Gottes zum Menschen nur in dieser Beziehung ihren Rechtsgrund hat und damit nur eine ihm von außen, unverfügbar zukommende ist. Die Gottebenbildlichkeit ist die in jedem Moment aus der gnädigen Zuwendung Gottes – extra et pro me – resultierende Beziehungsfähigkeit und Lebensmöglichkeit. Sie ist und wird kein Besitz, sondern bleibt eine von Gott zugeeignete. Selbst die Sünde kann diese Zueignung nicht aufheben, denn die menschliche Möglichkeit – als eigentlich ontologische Unmöglichkeit – der Verkehrung und Verdeckung der Gottebenbildlichkeit kann ihren Ursprung in der Gnade, im von Gott (durch)gehaltenen Bund, nicht tangieren. Die Gottebenbildlichkeit ist unverlierbar, denn: „Was der Mensch nicht besitzt, das kann er wie nicht vererben, so auch nicht verlieren.“169 Hier liegt der Punkt, an dem sich Barth bewusst und nachhaltig von der reformatorischen Tradition trennt.170 Die Gottebenbildlichkeit wurde dort in enge Verbindung mit dem status integritatis gebracht, so dass mit dem Sündenfall auch die imago Dei verlorenging, allenfalls Reste übrig blieben, bis sie durch Jesus Christus wiederhergestellt wurde.171 Barth fügt dagegen die Vorstellung von 168

Ebd., 211. Vgl. auch 231–233. KD III/1, 225. Vgl. die nachdrückliche Behauptung der Unverlierbarkeit der Imago Dei in KD III/2, 391. 170 An dieser Stelle sah sich Barth auch von Brunner getrennt, hier läuft „der Topf […] über“, insofern Brunner nach Barths Meinung einen „formalen Imago-Rest“ postulierte und darin den „Anknüpfungspunkt“ der Gnade an die eben nicht völlig korrumpierte Natur sah. Dazu Karl Barth, Nein!, 225–231. 171 Vgl. dazu die Ausführungen zu Martin Luther oben 1.2.1. Weber (Grundlagen der Dogmatik I) spricht in diesem Zusammenhang von der „Inkonsequenz der reformatorischen Auffassung“ (627) und folgert: „Dem reformatorischen Ansatz würde dagegen eine imago-Lehre entsprechen, 169

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der Gottebenbildlichkeit nicht in ein solches heilsgeschichtliches Schema ein, sondern bleibt auf der ontologischen, schöpfungstheologischen Ebene, so dass die Gottebenbildlichkeit als eine überzeitliche, in der Zeit bzw. Ewigkeit Gottes wurzelnde verstanden wird. Von hier aus wird auch Barths Rede vom Sündenfall als Zwischenfall und die Betonung der Kontinuität verständlich. 3.2.3.3 Die Gottebenbildlichkeit Jesu Christi Die Kontinuität und Unverlierbarkeit der Gottebenbildlichkeit – in aller Diskontinuität und Sünde – hat ihren Grund und Halt allein in Gott, in seinem von ihm initiierten und gehaltenen Bund. Darauf läuft die Auslegung von Gen 1,26ff hinaus. Barth stellt Folgendes in Aussicht: Es wird sich zeigen, daß Gottebenbildlichkeit für ihn (sc. den Menschen) tatsächlich nicht in der Fortdauer oder wohl gar in der immer höheren Entwicklung einer ihm beigelegten Qualität, sondern nur Gegenstand seiner Hoffnung auf Gott seinen Schöpfer sein kann, daß er als Mensch nach dem Menschen immer nur ausblicken kann, der in diesem Urbild nach diesem Vorbild nicht nur geschaffen, sondern ihm entsprechend Gottes Ebenbild sein wird.172

Barth überschreitet mit dem Blick auf das teleologische Verhältnis von Schöpfung und Bund nun auch die Grenze vom Alten zum Neuen Testament, geht von der dialogischen Struktur des Menschseins als Verheißung, zur ontologischen Begründung durch Jesus Christus als Erfüllung über. Erst jetzt, d.h. erst bei Jesus Christus, ist von der eigentlichen Gottebenbildlichkeit zu sprechen, insofern in ihm der abgebildete Gegenstand selbst wirklich und gegenwärtig wird. Hatte Barth für die alttestamentliche, auf alle Menschen bezogene Vorstellung der Gottebenbildlichkeit die altorientalische Auffassung abgewiesen, dass die Gottheit in ihrem Bild gegenwärtig ist, so behauptet er diese um so vehementer für die neutestamentliche Vorstellung, d.h. für die Stellen, in denen Jesus Christus als Ebenbild Gottes bezeichnet wird.173 In ihm ist das Urbild, das Original, zur Welt gekommen, das Bild von dem her und auf das hin der Mensch ist und geschaffen wurde. Wenn man diese Aussage wieder in die oben genannten beiden Aspekte der Gottebenbildlichkeit – Gottesbeziehung und Mitmenschlichkeit – differenziert, dann bleibt festzuhalten, dass zum einen der Mensch nur von Jesus die den Menschen ganz in seiner Relation vom Schöpfer her und zwischen Ich und Du ansähe“ (638). 172 KD III/1, 213. 173 Barth bezieht sich hier besonders auf Kol 1,15; 1Kor 11,7 und 15,49; 2Kor 3,18 und 4,4; aber auch Röm 1,23 und 8,29. Zum altorientalischen Bilderverständnis und zum alttestamentlichen Bilderverbot vgl. etwa Werner H. Schmidt, Alttestamentlicher Glaube in seiner Geschichte, Neukirchen-Vluyn 71990, 96–99.

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her Gottes Ebenbild sein kann und ist, insofern dieser den Bund Gottes mit den Menschen darstellt. Dass er zum anderen aber in seiner geschöpflichen Struktur, im Leben in der Ich-Du-Beziehung bzw. der Geschlechterdifferenz, das Sein Gottes ad extra und darüber hinaus das ad intra abbildet. Die Sozialität des Menschen bildet die Sozialität Gottes ab, so dass die Wirklichkeit ‚Jesus Christus‘ also eine dialogische, relationale Struktur haben und damit dem Verhältnis von Mann und Frau in aller Ungleichheit doch auch ähnlich sein muss. Barth erkennt die Sozialität Gottes und darin das Urbild des Verhältnisses von Mann und Frau im neutestamentlichen Zeugnis von der Gottebenbildlichkeit Jesu Christi, die das Verhältnis Jesu zur Gemeinde einschließt: Man darf „freilich nicht daran vorübergehen, daß Paulus nach 1Kor 11,7 bei dem Mann, der Gottes HLNZQNDLGR[D ist, tatsächlich durchweg (also bestimmt auch an den Stellen, wo das nicht direkt sichtbar wird) an den Mann mit seiner Frau und also nicht an Jesus als isolierte Figur, sondern an Jesus den Christus Israels, das Haupt seiner Gemeinde, gedacht hat.“174 Das heißt aber, dass Jesus das Ebenbild Gottes nicht ohne ein Gegenüber sein kann; er ist es also nur bzw. gerade darin, dass er nicht ohne die Mitmenschen, sondern mit ihnen und somit für sie ist. „Jesus, der Mensch für den anderen Menschen“175, so überschreibt Barth seine einleitenden Überlegungen zur Sozialität des Menschen. In der IchDu-Beziehung zwischen Jesus und den Menschen, durch die sie ontologisch bestimmt sind, findet sich der eigentliche Grund für die Ich-Du-Beziehungen zwischen Menschen. Für Barth ist diese Analogie in dem weitläufigen exegetischen Zusammenhang des Vergleichs der Beziehung von Mann und Frau mit der Gottesbeziehung verbürgt. Später räumt er der Entfaltung dieses Vergleichs breiten Raum ein, um zu zeigen, in welcher Kontinuität die Geschöpflichkeit zum Bund steht. So weist die Darstellung der Schaffung der Frau und das natürlich geschlechtliche Verhältnis von Mann und Frau in Gen 2 auf das Hohelied voraus, in dem ebenfalls deren erotische Beziehung beschrieben wird, nun aber als Bild für das Verhältnis von Jahwe und Israel. Nach Barth münden diese biblisch aufweisbaren protologischen Analogien in der einen Beziehung Jesu Christi zu seiner Gemeinde, so wie es in Eph 5,22 in gewisser Weise abschließend zum Ausdruck kommt: Wenn das Alte Testament dem Geschlechtsverhältnis jene Würde gibt, so zielt es faktisch auf dessen Urbild, auf des Menschen Gottebenbildlichkeit als Mann und 174

KD III/1, 229. Vgl. KD III/2, 242–264. Für Barth besteht ebenfalls eine Analogie zwischen dem Verhältnis von Jesus und Gemeinde und dem von Gemeinde und Welt. So wie die Schöpfung auf den Bund hingeordnet ist, so auch die Welt auf die Gemeinde – wohlgemerkt nicht ‚die Kirche‘ –, freilich als bloß „vorläufige Darstellung der ganzen in ihm (sc. Jesus Christus) gerechtfertigten Menschenwelt“ (KD III/4, §62, 718). Vgl. dazu dann aber KD IV/3. 175

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Frau, die in Gottes Plan und Erwählung zuerst das Verhältnis zwischen Jesus Christus und seiner Gemeinde, dann das Verhältnis zwischen Jahve und Israel und dann erst – aber von jenem ihrem Ursprung her nun doch auch ganz direkt das Verhältnis der menschlichen Geschlechter ist.176

Es bleibt festzuhalten: Indem Barth diese Analogien in der biblischen Überlieferung ‚ent-deckt‘, hält er Schöpfung und Bund in ihrem teleologischen Verhältnis zusammen, erschließt er sich gleichsam rückwirkend vom Ebenbild Gottes Jesus Christus die Gottebenbildlichkeit des Menschen und sieht die Geschöpflichkeit als unter dem „sehr gut“ Gottes stehende. Allerdings wirken die biblischen Analogien eigentümlich gezwungen, so als müsste er das biblische Zeugnis auf sein Prinzip der dualen und personalen Analogie hin ‚trimmen‘. Die Geschlechterdifferenz allein auf die mögliche Beziehung von Mann und Frau hin zu deuten, das wirkt doch wie ein Hineininterpretieren des Schemas des Ich-Du-Verhältnisses. Barth kann das bloße Phänomen des geschlechterdifferenten Seins nicht einfach stehen lassen, sondern befrachtet es mit theologischem Sinn im Rahmen des Analogieprinzips. Das Verhältnis von Mann und Frau bekommt dadurch aber eine unglaublich hohe Bedeutung für die Beurteilung der Struktur des Menschseins, meines Erachtens eine zu hohe. Überdies versucht Barth sein streng duales und personales Beziehungsprinzip in problematischer Weise beizubehalten, wenn er der Analogie von Vater und Sohn die von Jesus und der Gemeinde gegenüberstellt. Die Gemeinde ist aber ein Plural, es ist eine Gemeinschaft. Für Barth scheint hier aber gar keine Schwierigkeit vorzuliegen, geht er doch von einer Art Kollektiv-Person ‚Gemeinde‘ aus. Ähnlich unproblematisch sieht er die Bestimmung des Menschen – im Sinne der Gattung oder des Wesens der Menschen. Auch wenn es dafür gute Gründe gibt, gerade auch exegetische, so reduziert Barth doch die Komplexität des Plurals, um den Dual der Beziehung behaupten zu können. Darüber aber gibt er sich keine Rechenschaft und wird nicht auf die problematische Enge des analogischen Schemas aufmerksam. Vielmehr überspielt er die Defizite seiner analogia relationis, indem er recht ‚kreativ‘, man könnte aber auch scharf sagen: ‚willkürlich‘ Analogieschlüsse zieht.177

176 KD III/1, 369. Barth zeichnet diese Linie zweimal recht ausführlich nach – in KD III/1, 357–377 und KD III/2, 351–391 –, natürlich auch, um das Verhältnis von Mann und Frau näher zu beschreiben und sozialethisch zu beurteilen. 177 Vgl. die übersichtliche Aufstellung der Analogieschlüsse etwa bei Shults, Constitutive Relationality, 315; Jüngel, Theologische Anthropologie, 213–216.

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3.2.4 Die Geschichte Gottes mit den Menschen Schon in der Schöpfung handelt Gott, wenn dieses Handeln auch als ein Voraussetzen für das zentrale Handeln Gottes im Bund zu verstehen ist. Mit der Schöpfungsgeschichte beginnt also das Verhalten Gottes zur Welt, seine Geschichte mit dem Menschen. Allerdings, Verhalten, Handeln oder eine Beziehung zwischen Ich und Du, das Hin und Her zwischen den Menschen, aber auch zwischen Gott und Mensch brauchen Zeit bzw. können sich nur im Medium Zeit ereignen. Barth sieht hier wiederum eine wichtige Analogie, die den ‚entdeckten‘ Analogien zugrunde liegt. So wie sich das Ich zum Du in Gottes Ewigkeit zueinander verhält, so auch das Ich und das Du in der Schöpfung, in der Zeit.178 Die Analogie von Ewigkeit und Zeit findet ihre Entsprechung wiederum in der Gnadenzeit und der Schöpfungszeit, der Geschichte des Gnadenbundes und der ihr vorausgesetzten Schöpfungs- und Naturgeschichte. Auch hier ist wiederum das Gefälle von Schöpfung und Bund zu konstatieren, insofern die Schöpfungszeit nur als die Abbildung der „Gnadenzeit als das eigentliche Urbild aller Zeit“ betrachtet werden muss. „Die wirkliche Zeit ist dann primär die Lebenszeit Jesu Christi, [...], samt der Vorzeit und Nachzeit dieses Geschehens in der Geschichte Israels und in der Existenz der christlichen Kirche.“179 Der Bund Gottes mit den Menschen hat also gleichsam zeitliche Tiefe – was übrigens auch für die Schöpfung gilt, ist sie doch nur als Schöpfungsgeschichte zu erzählen180 –, insofern er schon im Verhältnis von Jahwe und Israel anhebt und im Verhältnis von Jesus und der Gemeinde zu seinem Ziel kommt. Barth kann überdies konstatieren: „Der Bund der Gnade entsteht, vollzieht und vollendet sich in lauter Geschichten: nicht neben, nicht ideenmäßig hinter oder über, sondern in diesen Geschichten.“181 Die Bundes- und Heilsgeschichte ist der Zusammenschluss dieser einzelnen Geschichten Gottes mit den Menschen durch die Zeit hindurch, insofern Gott hier am Werk ist und es vorwärts bringt. Beispielhaft ließe sich auf die Vätergeschichten der Genesis verweisen, in denen in Familiengeschichten die Bundesgeschichte des Volkes Israel erzählt wird. Für Barth ist die Exegese in einem prinzipiellen Sinne also immer eine narrative, da sie die Werke Gottes, die Geschichten mit den Menschen genau betrachtet, um die sich darin

178

Vgl. KD III/1, 72 und besonders KD III/2,§47, Abs. 1. KD III/1, 82. 180 Vgl. die prinzipiellen Überlegungen Barths zum Charakter der Schöpfung als Geschichte, in ebd., 65–72; und die Überlegungen zur literarischen Gattung Schöpfungsgeschichte gegenüber der Sage und dem Mythos in ebd., 84–103. 181 Ebd., 84. 179

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vollziehende, übergreifende Geschichte Gottes mit den Menschen nacherzählen zu können.182 3.2.4.1 Der wirkliche Mensch in seiner Geschichte Mit dem Begriff der Geschichte fügt Barth nun seinem Analogiedenken ein wesentliches Element ein: die Dynamik in der Beziehung; damit komplettiert er seine Anschauung vom Bund. Beziehung bedeutet unter dem zeitlichen Aspekt, dass Ich und Du sich immer wieder neu begegnen, dass es eine Bewegung und eine Ereignisabfolge gibt, dass etwas zwischen ihnen ‚geschieht‘. Das Verhältnis Gottes zum Menschen ist durch die Beschreibung eines Zustandes also nicht adäquat zu erfassen. Die synchrone Darstellung von Analogien, als bloße Zuordnung von Ich und Du, von Mann und Frau, von Gott und Mensch, muss durch den diachronen Blick auf das Geschehen ergänzt werden. Interessanterweise hat Barth diesen Aspekt in der Auslegung von Gen 1,26ff nicht zum Tragen gebracht, zum einen, weil ihm der Text keinen festen Anhalt dafür bot und zum anderen, weil sich der Begriff der Geschichte nur im direkten Blick auf den Bund Gottes mit den Menschen in Jesus Christus darlegen lässt.183 Erst in KD III/2, §44, Abschnitt 3 – dem hier nun wieder die ganze Aufmerksamkeit gilt – fasst Barth dann die Geschichte bzw. Geschichtlichkeit des Menschen näher ins Auge. Barth beschränkt sich hier auf die Erörterung der Gottesbeziehung des Menschen, da er den Begriff des „wirklichen Menschen“, d.h. durch Jesus ontologisch bestimmten Menschen, weiter ausführen will. Wie wir sahen (3.2.1.) hatte er das menschliche Sein als ein Zusammensein mit Gott und darin als ein Von-Gott-her-sein verstanden, das auf Gottes Erwählung beruht und im Wort Gottes besteht. Diese Sätze fasst er nun in der Aussage zusammen: „das Sein des Menschen ist eine Geschichte.“184 Auch dieser Satz über den wirklichen Menschen ist zunächst natürlich nur als christologischer möglich und gültig. Deshalb ist von Jesus Christus nicht nur zu behaupten, dass er das Urbild bzw. Ebenbild Gottes ist, son182 Allerdings dient dieses Nacherzählen letztlich immer der globalen Geschichte Gottes mit dem Menschen, so dass – etwa exegetisch – die Individualität bzw. das Besondere der Geschichten und Lebensgeschichten nicht hervorgehoben wird, sondern immer nur die Allgemeinheit der Beziehungsgeschichte zwischen Gott und Mensch ausgelegt, ja eigentlich verdeutlicht wird. Von der oben dargestellten Funktion der Geschichte als fragmentarische „Identitätspräsentation“ (2.3.5.4), ist das weit entfernt. 183 Deshalb wendet sich Barth auch gegen die Interpretation der Gottebenbildlichkeit, die am ehesten das Element der Geschichtlichkeit mit eingebracht hätte, die Auffassung Troeltschs, es handle sich um „das Prinzip der geschichtlichen Entwicklung“ (KD III/1, 217). Hier verläuft eine wichtige Bruchlinie zwischen Barth und Pannenberg. 184 KD III/2, 188.

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dern auch die „Urgeschichte“185, in der alle anderen Geschichten wurzeln und ihr Ziel finden. Barth bestimmt den Begriff der Geschichte im Gegenüber zu dem des Zustandes. Das Verhältnis von Gott und Mensch und zunächst das von Gott und dem Menschen Jesus befindet sich in einer Dynamik. Die Bewegung dieses Verhältnisses ist allerdings klar strukturiert: Geschichte eines Wesens hebt darin an, geht darin weiter und vollendet sich darin, daß etwas, was es nicht ist, ein seiner Natur Transzendentes, ihm begegnet, zu ihm hinzukommt, sein Sein in der ihm eigenen Natur bestimmt, so daß es seinerseits genötigt und befähigt wird, sich selbst in der Richtung auf dieses Andere und Neue und im Verhältnis zu diesem zu transzendieren.186

Der Begriff der Geschichte umfasst also eine doppelte Grenzüberschreitung, zunächst vom Außen zum Innen und dann – als Reaktion darauf – vom Innen zum Außen, zunächst vom Ich zum Du und dann vom Du, welches nun zum (re)agierenden Ich geworden ist, zum Ich – als Du – zurück. In der Kaskade der analogiae relationis bedeutet das, dass zunächst in Gott eine solche doppelte Grenzüberschreitung stattfindet, vom Ich des Vaters zum Du des Sohnes und vom Sohn zurück zum Vater. Insofern ist Gott in seiner Ewigkeit nicht ‚geschichtslos‘ und, im Rahmen menschlicher Erkenntnismöglichkeit und damit nur unter Vorbehalt, nicht zeitlos, da ein solches Hin und Her nur als in der Zeit geschehendes denkbar ist. Im Verhältnis Gottes zur Welt, zunächst in seinem Verhältnis zum Menschen Jesus, ist die gleiche Dynamik vom Ich zum Du und zurück zu erkennen, nur dass hier, in dieser Bewegung, allererst das Sein der Welt begründet und erhalten wird.187 Jesus Christus ist damit die Gottesgeschichte mit der Welt, insofern in ihm Gott die Grenze zum Menschen ‚erschaffend‘ und ‚versöhnend‘ überschreitet: Der Mensch ist, indem er sich in dieser Bewegung befindet: in diesem ‚zu ihm hin‘ von außen, in diesem ‚von ihm her‘ nach außen, [...] er ist, indem ihm das geschieht, dem Menschen Jesus gleich zu sein und also der in ihm sich ereignenden Geschichte teilhaftig zu sein.188

Barth entfaltet nun den Satz, dass des Menschen Sein eine Geschichte ist und genauer: die Geschichte Gottes mit ihm ist. Die dynamisierte Bezie185

Ebd., 188.193 (Hervorhebung, T.W.). Ebd., 189. 187 Die Schöpfungslehre hatte zunächst die Aufgabe, das Verhältnis von Gott und Mensch zu rekonstruieren, wobei leicht der Eindruck entstehen konnte, dass es sich in den aufgewiesenen Analogien um bloß statische Ordnungen handeln könnte. In der Lehre von der Erhaltung, d.h. im Blick auf den concursus divinus (KD III/3, bes. §49), wird der Aspekt der Geschichtlichkeit des Handelns des Schöpfers am Geschöpf, die Grenzüberschreitung vom Ich zum Du und zurück, näher thematisiert. 188 KD III/2, 193. 186

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hung zwischen Ich und Du, als Begegnungsgeschehen, charakterisiert und konkretisiert er wiederum mit dem Rückbezug auf die These vom ‚wortgestaltigen Sein‘. Das Ich Gottes wendet sich dem Du des Menschen zu und kommt damit zur Sprache: „Gott sagt ihm, daß er ihm gnädig ist.“189 Durch diesen Anruf, dessen ‚Inhalt‘ die Gnade ist, wird das Du herausgerufen und allererst sprachfähig gemacht, so dass es nun seinerseits antwortet und sich in Zuversicht auf seinen Schöpfer hin ‚ver-lässt‘. Dem gnädigen Angerufensein entspricht somit das „Sein im Danken“, anders kann die Reaktion des angesprochenen Du und damit des sprechend gewordenen Ichs nicht verstanden werden. Der Begriff des Danke(n)s als Geltenlassen der Gnade bringt nochmals zum Ausdruck, dass die Bewegung vom Ich Gottes ausgeht und das Sein des angesprochenen Du zunächst ein ‚Verdanken‘ bedeutet, ehe es in die Aktion, in die Spontaneität Gott gegenüber hineinkommt. Der Dank gehört im eigentlichen, ontologischen Sinne somit nur in die Gottesbeziehung des Menschen, sollte er auch als Phänomen in zwischenmenschlichen Beziehungen zu konstatieren sein.190 Ist aber das Sein des Menschen als ein Gott sich verdankendes verstanden, dann kann auch allgemeiner, ungeschützter vom Sein des Menschen als „Verantwortung“ – allerdings nicht als Verantwortlichkeit, das wäre bloß die Potentialität – gesprochen werden. Der Mensch ist, indem er im Wort Gottes ist, d.h. das Wort Gottes hört und sich ihm ‚ver-antwortet‘. 3.2.4.2 Die Subjektivität des wirklichen Menschen Das Sein des wirklichen Menschen, als Gegenüber von Ich und Du, ist also durch die beiden ‚Phasen‘ der Beziehung von Ich und Du, d.h. von Wort und Antwort, Rezeptivität und Spontaneität bestimmt. Barth beschreibt nun wiederum dieses Gegenüber, mit besonderem Blick auf die Spontaneität, näher und kommt dadurch zu einer Theorie des Selbstbewusstseins, zu seinem Begriff von Subjektivität.191 Er beginnt zunächst mit der Bestimmung, dass das Sein des Menschen den Charakter der Erkenntnis habe. Gott 189

Ebd., 196. Vgl. hierzu Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, in: Bewußtes Leben, 152–193, bes. 189/190. Henrich stellt die Frage nach dem Adressaten des Dankes und sieht von hier aus die Frage nach dem Absoluten geöffnet. Dank gründet im Verdanken und braucht ein Gegenüber, das das Sein des Menschen und der Welt übersteigt: „Wer in seinem Weltverhältnis zur Dankbarkeit findet, wird kaum im ganzen Ernst daran festhalten können, daß er seinen Dank der Welt gibt […] Soweit der Dank als kommunaler verstanden wird, müßte er also eine Adresse haben, welche nicht die Welt selbst sein kann, sondern das sein müßte, woraus sich die Welt bildet und erschließt – also ein Grund, dem Züge der Personalität zugedacht werden können.“ 191 An dieser Stelle ist auch innerhalb der KD auf I/1,§6, Abs. 3, 206–239: „Das Wort Gottes und die Erfahrung“ zurückzuweisen – insbesondere auf den dort gebrauchten Begriff der „Selbstbestimmung“ (210 u.a.) – und etwa auf IV/3, 167ff. 190

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überschreitet in Jesus Christus die Grenze zum Geschöpf, gibt sich darin zu erkennen und provoziert damit das Erkennen bzw. die Anerkennung durch den Menschen. Er setzt sich selbst, dem Geschöpf gegenüber, und ermöglicht es diesem, sich selbst zu setzen. Barth nimmt hier bewusst die Terminologie Fichtes auf, um die Alternative zu dessen Zirkel bzw. dessen zirkulären Scheitern zu umreißen. Er fragt, wie sich der Mensch selbst zum Objekt werden kann, und das heißt, wie Selbstbewusstsein zustande kommt, wenn es nicht aus sich selbst, aus der bloßen Rückwendung auf sich selbst, Konsistenz gewinnt. Barth macht klar, dass es nur im Zusammenhang der Erkenntnis Gottes, im Zusammenhang des Selbstbewusstseins Gottes zu adäquatem Selbstbewusstsein des Menschen kommen kann: Ist es wahr, daß der Mensch in diesem Zusammenhang selbst ist und sich selbst setzt – und ist es wahr, daß sich dies darin ereignet, daß er sich Gott gegenüber entschließt, aufschließt und auf den Weg macht, dann wird es eben darin wahr, daß er sich auch selbst gegenständlich, zum Objekt wird.192

Hier wird zweierlei deutlich, zum einen, dass Barth die Subjektivität des Menschen anerkennt, dass er aber das Sich-selbst-Setzen nur als Konsequenz der Subjektivität Gottes denken kann. Gott ist das erste Subjekt, das den Mensch befähigt und verwirklicht – indem dieser ihn zu seinem Objekt gemacht hat –, selber das zweite Subjekt zu sein.193 Es besteht nur eine Ähnlichkeit, eine Analogie zwischen dem Subjektsein Gottes und dem Subjektsein des Menschen. Zum anderen aber wird hier nun verständlich, dass Barth den Zirkel des Selbstbewusstseins ins Licht der Erkenntnis Gottes hinein hebt. Der Mensch überschreitet hier nun eine echte Grenze – was für den Zirkel Fichtes oder Descartes’ nicht gelten konnte, insofern sich dort zwar der Mensch zum Objekt wird, aber darin bei sich selbst, in der Sphäre des Eigenen bleibt, so Barth. Es ist die Grenze zwischen Mensch und Gott, die er transzendiert und dadurch sich selbst – eben im Zuge der Gotteserkenntnis – als ein wirklich Anderer findet. Sein Selbst als fragendes gründet damit in dem neuen, wirklichen Selbst als gefundenes. Wer also nach sich selbst fragt, der wird sich als das von Gott begründete und gerettete Wesen finden, oder er findet sich nicht, denn darin allein ist er wirklich. Barth schreitet fort zur Näherbestimmung des Seins des Menschen als Verantwortung als eines des Gehorsams gegen Gott und der Anrufung Gottes. Durch diese Begriffe macht Barth erneut deutlich, dass es keine Neutralität des Menschen Gott gegenüber geben kann, sonst wäre er nicht der wirkliche Mensch. Er muss dem gebietenden Gott gehorchen, aber er will es auch, 192

KD III/2, 212. Vgl. ebd., 213.217 und KD III/3, 115ff. Das Verhältnis bleibt in dem Gefälle von Gott zum Menschen, denn die Konsequenz einer Verobjektivierung Gottes, der somit zum zweiten Subjekt würde, ist keine echte Möglichkeit, sondern nur die ontologische Unmöglichkeit der Sünde. 193

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denn er ist so ge- und beschaffen. Der wirkliche Mensch gehorcht und lebt gerne, denn er vollzieht darin sein sehr gut geschaffenes Sein.194 Indem er nämlich Gottes Sprechen entspricht, handelt er seiner Natur gemäß und verwirklicht seine Bestimmung. Das Ziel und die Bestimmung des Menschseins ist aber die Ehre Gottes, an deren Verwirklichung der Mensch teilhat, indem er im Gehorsam und in der Anrufung lebt und so Gott ‚alle Ehre macht‘. Der „Majestätsakt“ Gottes, seine Herrlichkeit, die dem Geschöpf entgegengebracht wird, provoziert den „Demutsakt“ des Menschen, sich Gott darzubringen, als Medium seiner Verherrlichung. Die Existenz des wirklichen Menschen ist damit, anders ausgedrückt, eine des Gebetes: „Vater unser, dein Name werde geheiligt“; ja, der wirkliche Mensch ist dieses Gebet.195 Damit hat er aber teil an der globalen Verwirklichung Gottes und wird darin von ihm selbst verwirklicht: Es gibt „kein von Gott geschaffenes menschliches Selbstsein als das, das sich darin verwirklicht, dass der Mensch selbst erkennt, selbst gehorcht, selbst betet.“196 Den Begriff der Selbstverwirklichung, von dessen Konjunktur Barth noch nichts wissen konnte, lehnt er also nicht ab, sondern nutzt ihn, um das Subjektsein des Menschen in der Bewegung von Rezeptivität und Spontaneität auszudrücken. Es ist damit einerseits richtig, von Selbstverwirklichung zu sprechen und das nicht nur in dem Sinn, dass Gott die causa des Verwirklichens ist, während der Mensch bloß sein Sein ‚ver-wirken‘ könnte, sondern dass er es tatsächlich selbst ist – als abgeleitete, sekundäre causa –, der es tut. Andererseits kann aber von Selbstverwirklichung nur mit Vorbehalt gesprochen werden, denn der Mensch ist ein Selbst, und reflektiert er auf sich selbst, dann kann er sich darin nicht selbst begründen; er ist sich entzogen.197 Der Mensch hat also ein Selbst nur in dem Sinn, dass Gott es ‚ihm gibt‘ und ihn damit zur causa seiner Selbstverwirklichung macht: Er ist er selbst, indem Gott es ihm gibt, er selbst zu sein, indem er selbst sich von Gott gegeben wird. Das ist die unergründliche Tiefe, in die wir wissend oder unwissend, immer hineinblicken, wenn wir Ich, Du, Er oder Sie oder irgendein Personalpronomen oder auch irgendein Possessivpronomen aussprechen. Hinter Ich, Du und Er, aber auch hinter Mein, Dein und Sein steht ja unausgesprochen aber notwendig immer das menschliche Selbst und also die menschliche Freiheit, die wir uns nicht

194

Vgl. Barths Bestimmung des „gerne“ der Mitmenschlichkeit in KD III/2,§45, 318ff. Vgl. die eindrückliche Stelle in KD II/2, 197: „Der ewige Wille Gottes ist der Akt des Gebetes (in welchem alles Selbstvertrauen dahinfällt zugunsten des Gottvertrauens) als Akt der Geburt echten menschlichen Selbstbewußtseins, in welchem Erkenntnis und Handlung gewagt werden darf und muß“. 196 KD III/2, 233 und 227. 197 Vgl. hierzu Korsch, (Dialektische Theologie, 17–20), der die Kategorie der „Verborgenheit“ – Gottes wie auch des Menschen – und der „Selbstentzogenheit“ des Menschen anhand Barths Römerbriefkommentar entfaltet. 195

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nehmen und die uns, weil Gott allein ursprünglich frei ist, nur von Gott gegeben sein kann und tatsächlich gegeben ist.198

3.2.4.3 Die Freiheit des wirklichen Menschen199 In der Konstatierung der menschlichen Freiheit kulminiert die Näherbestimmung des Seins des wirklichen Menschen. In der Ich-Du-Beziehung Gottes zum Menschen, in seiner Geschichte mit ihm, ist der Mensch Subjekt, ist er ein sich selbst bestimmendes, autonomes Wesen, ist er frei. Barth nimmt damit die Kernfrage der philosophischen Anthropologie, die durch Luther und Erasmus, Kant und die Idealisten ins Zentrum gerückt wurde, auf und beantwortet sie auf dem Hintergrund seiner Differenzierung von Wirklichkeit und Möglichkeit bzw. Möglichkeit und Unmöglichkeit. Er versucht dem Dilemma zu entgehen, das in der radikalen Konsequenz des Gegenübers von Theonomie und Autonomie besteht: Entweder ist der Mensch unfrei und hat einen geknechteten, von Gott zu befreienden Willen, oder er ist frei und autonom. Barth versucht sich vor dieser Alternative zu schützen, indem er gleichsam vor der drohenden Konsequenz eine Grenze einzieht und das heißt eine Neubestimmung des Freiheitsbegriffs versucht. Freiheit heißt Einwilligung in den Willen des Schöpfers, Freiheit heißt, sich selber als den Willen Gottes vollziehenden, in der Verantwortung vor ihm lebenden, zu wählen. Sie ist also (nur) in der Hinsicht eine Wahlfreiheit, dass sie „als Freiheit einer geschehenden Tat die Freiheit, in der das Rechte gewählt wird“, ist. Der Mensch hat die Wahl, aber: Nicht zwischen zwei ihm gegebenen Möglichkeiten also, sondern zwischen seiner einen und einzigen Möglichkeit und seiner eigenen Unmöglichkeit und also zwischen seinem Sein und seinem Nichtsein, und also zwischen dem Bestand und der Nichtigkeit auch seiner Freiheit. Frei wählen heißt: sich selbst in seiner Möglichkeit, sich selbst in seinem Sein, sich selbst in seiner Freiheit wählen.200

Der Mensch ist also nur in der Gottesbeziehung frei, er ist autonom in der Theonomie. Diese Bestimmung der Freiheit und die Versöhnung von Theonomie und Autonomie sind allerdings nur durch die Differenzierung des Begriffs des Menschen überhaupt möglich, so dass das Freiheitsproblem nicht gelöst, sondern auf eine andere Ebene geschoben wird. Wenn nämlich der wirkliche Mensch sich in seiner Möglichkeit wählt und nur so frei und wirklich 198

KD III/2, 231. Vgl. hierzu auch Barths Ausführungen in KD I/2,§16: „Die Freiheit des Menschen für Gott“ und in KD IV/3,§71: „Des Menschen Berufung“, darin besonders Absatz 6: „Des Christen Befreiung“, in dem der statische Begriff der Freiheit gleichsam als „Befreiung“ dynamisiert wird. 200 KD III/2, 234/235. 199

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ist, und wenn andererseits die Wahl der ontologischen Unmöglichkeit möglich ist, der Mensch also auch als ein sich ‚verwirkender‘ zu betrachten ist, dann kann Barth zwar den Begriff der Freiheit aus diesem Gegenüber zurückziehen und ganz auf die Seite der von Gott gut geschaffenen Schöpfung und seine Bestimmung beziehen, dafür tritt aber die Frage um so stärker in den Blickpunkt, wie das Verhältnis von wirklichem Menschen und dem Menschen der Sünde zu verstehen ist. Welchen Anteil hat dieser wirkliche Mensch an dem ‚faktischen Menschen‘, der immer auch einer der Sünde ist? Und, die Frage kommt dann auch wieder in den Blick, welchen Anteil hat er am ‚empirischen Menschen‘, der von den Humanwissenschaften beschriebenen leib-seelischen Kreatur? Es wird zum Schluss – sollte das in der Reihe der systematischen Erwägungen in den Hintergrund getreten sein – deutlich, dass Barth nicht so vom Menschen redet, wie man es gemeinhin – auch in weiten Teilen der theologischen Anthropologie – tut, nämlich so, wie der Mensch sich selbst vorfindet, sondern wie Gott ihn in Jesus aufsucht und bestimmt. Es lässt sich etwas naiv fragen: Bin ich dieser wirkliche Mensch, den Barth beschreibt? Und ist es eigentlich meine Freiheit, wenn sie in der ontologischen Bestimmung durch Gott verankert ist, also durch mein freies Verhalten gar nicht tangiert wird?201 Kann man überhaupt noch von Selbstbestimmung sprechen, wenn die Bestimmung durch Gott sich durch nichts ins Wanken bringen lässt, nicht einmal durch ein Wählen der Sünde – insofern sie lediglich eine Unmöglichkeit ist? Man wird den Eindruck nicht los, dass es sich um ein sehr ideales Konzept vom Menschen handelt, dass sich eher auf der Seite des transzendenten Zuspruchs der Gnade Gottes befindet, aber die menschliche Tiefe, das Aufdem-Spiel-Stehen der Identität (noch) nicht adäquat thematisiert. Es bleibt festzuhalten, dass Barth konsequent bei der Gottesbeziehung des Menschen einsetzt, von ihr deduktiv ausgeht und nicht versucht, sich induktiv auf sie hinzubewegen. Er spricht hier vom neuen Menschen,202 201 Darin besteht die Grundfrage aller Barthinterpreten, die von einer absoluten, die menschliche Freiheit einebnenden Autonomie Gottes (Rendtorff, Graf u.a.) sprechen. Vgl. dazu MenkePeitzmeyer, Subjektivität und Selbstinterpretation, 588–607, der im Anschluss an Thomas Pröpper, die Frage nach der menschlichen Freiheit aufwirft und Barth daran gescheitert sieht. Anders urteilt Korsch, Dialektische Theologie (Christologie und Autonomie), 146–177: Er setzt sich mit dem kritischen „Akkord“ auseinander, „dass auf Kosten der Freiheit Gottes die Freiheit des Menschen eingeschränkt oder sogar theoretisch verunmöglicht werde“ (166), hält aber die Christozentrik Barths als eine „Theorie des prinzipiellen (singulären) Faktums“ (170f) entgegen, aus der resultiert, dass Barth sehr wohl einen positiven Freiheitsbegriff innerhalb einer theologischen Anthropologie entwickelt habe – die Freiheit allerdings „nur im Zusammensein mit Gott und den Mitmenschen“ (176) für möglich hält. „Diese Bezüge ineins mit der Konstitution von Subjektivität zu denken“, darum ginge es Barth und von dort aus bliebe seine Theologie (von KD IV her) „entwicklungsfähig“ (177). 202 Vgl. KD III/2, 244/245: Barth verwendet die Termini neuer Mensch – alter Mensch (aber auch irdischer – himmlischer oder innerer – äußerer) nicht gerne, denn er sieht darin eine Quelle

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nicht vom alten Menschen der Sünde und noch nicht vom darin implizierten Menschen in der Kontinuität seiner guten Geschöpflichkeit. Damit hat er aber eine verborgene Wirklichkeit in den Blick genommen: Ist uns der wirkliche Mensch verborgen, weil eben der wirkliche Mensch in der unbegreiflichen und ihn selbst in Unbegreiflichkeit verhüllenden Untat der Sünde begriffen ist, können wir seine Spuren in uns selbst und in Anderen und in der ganzen menschlichen Geschichte nicht wiedererkennen, so ist er doch Gott wie nicht verloren, so auch nicht unbekannt, und in seinem Wort – in demselben Wort, durch das er uns unserer Sünde überführt – hat er uns auch mit dem wirklichen Menschen, der durch unsere Sünde nicht ausgelöscht ist, bekannt gemacht.203

Mit dem Begriff der Verborgenheit schließt sich vorerst der Kreis der Erörterung des Menschenbildes Karl Barths, insofern nun verständlich wird, dass er mit seiner Anthropologie die in der Verborgenheit auslaufende Identitätsfrage aufnehmen will und sie von der Selbstoffenbarung Gottes her deutet und beantwortet. Barth hat sich in den Raum der Selbstverborgenheit des Menschen begeben, diesen aber durch das Licht der Offenbarung ausgeleuchtet. Was er dort zu sehen bekam, war der Mensch Jesus, das Urbild und Ebenbild Gottes, der Bund und die Geschichte Gottes mit dem Menschen. Insofern der Mensch durch diesen Jesus Christus ontologisch bestimmt ist, ist auch er Gottes Ebenbild, hat er eine Geschichte und eine Identität. Die Identität des Menschen besteht in seiner Gottebenbildlichkeit, seiner Geschichte mit Gott, sie muss deshalb vom Menschen nicht hergestellt, angestrebt oder verwirklicht werden, denn Gott hat sie durch Jesus wirklich gemacht. Bleibt die Identität des Menschen aber auch verborgen, so ist sie in diesem Verborgensein auch geborgen mit Christus in Gott (vgl. Kol 3, 3).

3.3 Identität bei Karl Barth Identität bei Karl Barth Mit dem zuletzt im Blick auf die Gottebenbildlichkeit wieder aufgenommenen Identitätsbegriff soll deutlich gemacht werden, dass Barth die Gottesbeziehung allen anderen Beziehungen, in denen der Mensch lebt, vorordnet. Die Gottebenbildlichkeit ist die Antwort auf die in der Verborgenheit auslaufende Identitätsfrage des Menschen. Das hatte Barth in der Auseinandersetzung mit den Phänomenen des Menschlichen und deren Interpreten, insbesondere aber mit dem Begriff des „wirklichen Menschen“ zeigen wollen. Dennoch oder gerade deshalb stellt sich die Frage nach der Identität der Verwirrung, insofern die Neuheit des neuen Menschen nicht darin besteht, dass er abseits jeglicher geschöpflicher Kontinuität etwas völlig anderes wäre. Der neue und wirkliche Mensch ist der von Gott gut geschaffene, von Jesus ontologisch bestimmte Mensch. 203 KD III/2, 237.

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des Menschen nun unter anderem Blickwinkel neu; und damit nehmen wir den oben entwickelten Identitätsbegriff, der die beiden Aspekte der personalen und sozialen Identität bzw. deren Vermittlung beinhaltet, wieder auf. Wie gewinnt der Mensch Identität, in seinem Welt- und Selbstverhältnis, und – im Kontext der Theologie Barths – wie kann er die alles begründende Identität von Gott haben, als diese zu existieren, sie in seinem Leben abzubilden? Barth geht zur Erörterung in den folgenden Kapiteln (§45–47) von der Beschreibung des Bundes zur Darstellung der geschöpflichen Voraussetzung über. Er fragt, im ‚analogischen‘ Rückschluss, wie sich das Sein des Bundesgenossen Gottes in seiner Natur abbildet. Von der Wirklichkeit des Bundes lenkt er den Blick zu dessen Möglichkeit, vom Bund zur Bündnisfähigkeit, von der Gottebenbildlichkeit zu der gottebenbildlichen Struktur des Seins. Das, was sich in Barths Auslegung von Gen 1,26ff im Bezug auf das Verhältnis von Mann und Frau anbahnte, führt Barth nun über eine ausführliche Erörterung der Sozialität (§45) zur Frage nach Leib, Seele und Vernunft (§46) fort, um schließlich zur Zeitlichkeit des Seins des Menschen zu kommen (§47 – meinerseits ergänzt durch einen Blick auf §56). Damit bewegt sich Barth wieder auf das Feld der Phänomene zurück, nun aber als Konsequenz der Erkenntnis des wirklichen, wenn auch verborgenen Menschen; deshalb wird Barth im konkreten Vorgehen immer mit einem christologischen Kapitel beginnen, um an der Identität des wirklichen Menschen die Identität des Menschen in seiner Geschöpflichkeit abzulesen. 3.3.1 Die Sozialität des Menschen Das Verständnis der Gottebenbildlichkeit nach Gen 1,26ff und das Prinzip der analogia relationis machen es notwendig, mit der Sozialität des Menschen als „Grundform der Menschlichkeit“204 zu beginnen. Kein anderes anthropologisches Thema kann sachlich und formal den gleichen Rang beanspruchen, denn die Sozialität des Menschen bildet direkt die Sozialität Jesu – und damit die Gottes – ab. Der Mensch muss die Fähigkeit zur Beziehung haben, damit er in der Beziehung zu Gott stehen kann; freilich ist eigentlich umgekehrt zu formulieren: Der Mensch hat die Fähigkeit zur Beziehung, weil er in einer Beziehung zu Gott steht. Barth hat sich damit weitgehend auf ein personalistisches, dialogisches Schema eingelassen. Das heißt zum einen, dass dem Menschen nicht ein bloßes göttliches Prinzip gegenüber tritt, sondern eine Person: der Mensch gewordene Gott. Wie wir sahen, denkt Barth in Dualen, im Gegenüber von Ich und Du, in Relationen 204

KD III/2, §45, Abs. 2, 264ff (Hervorhebung, T.W.).

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von personalen Relaten. Es geht um eine Beziehung zwischen sprachfähigen Wesen, deren Verhältnis eine gewisse Reziprozität aufweist, die zur Abbildung der Gottesbeziehung in Frage kommen. An dieser Stelle wird noch einmal besonders deutlich, wie tief Barth in der personalistischen Tradition verwurzelt ist. Dennoch, obwohl er deren Terminologie nutzen kann und sich ebenfalls von einer idealistisch monistischen Denkweise fernhalten will, geht er doch an zentralen Stellen auch auf Distanz zu einer personalistischen Anthropologie – zumindest zu möglichen Konsequenzen. So kann Barth nicht von einer Egalität von Gott und Mensch in ihrer Beziehung sprechen, sondern muss beim göttlichen Ich einsetzen, um das menschliche Du verständlich zu machen. Im Blick auf den wichtigsten Vertreter der personalistischen Philosophie, Martin Buber, kann mit Dieter Becker deshalb formuliert werden: „Buber geht aus vom Dusagen des Menschen Gott gegenüber und Barth geht aus vom Ichsagen Gottes dem Menschen gegenüber.“205 Nicht die Sozialität ist das Maß der Gottesbeziehung, sondern umgekehrt, die Gottesbeziehung das der Ich-DuBeziehung in der menschlichen Sphäre. Die Wege trennen sich an diesem Punkt also auch von einer personalistischen Anthropologie, denn auch sie läuft in dieser Umkehrung aus, auch sie denkt ‚von unten‘: „Die verlängerten Linien der Beziehungen schneiden sich im ewigen Du. Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm.“206 Aber Gottes Sein ist bei Barth, ähnlich wie bei Bubers ewigem Du, als ewiges Ich gedacht, ihm selbst eignet in dem Sinn Personalität, dass er eine andere Person als Gegenüber hat bzw. sich gegenübersetzt. Er ist ein Ich für ein Du und ein Du für ein Ich. Und das gleiche gilt auch für den Menschen, der allerdings nur dadurch leben kann, dass Gott mit ihm leben will, ihn sich in Jesus Christus gegenüberstellt. 3.3.1.1 Die Mitmenschlichkeit Jesu Der Mensch bildet also die Humanität bzw. das Personsein Jesu ab, der insofern selbst nur Person ist, als er das Gegenüber Gottes ist. Die Humanität Jesu fasst Barth deshalb in dem Satz zusammen: „Jesus, der Mensch für den Menschen“207. In der ‚Pro-Existenz‘ besteht das Sein Jesu. Indem er nämlich den Menschen ontologisch bestimmt, ist er. Das Sein Jesu als ontologische Bestimmung des Menschen ist freilich ihm alleine vorbehalten, als solcher ist er der einzige wahre Mensch für Gott. Aber um den Menschen ontologisch zu bestimmen, muss er dessen Nachbar, muss er selbst Mensch sein. Jesus ist deshalb mit den Menschen, insofern er ihre Existenzform 205

Becker, Karl Barth und Martin Buber, 130. Buber, Ich und Du, 76. 207 KD III/2,§45, Abs.1, 242ff. 206

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teilt, eine Person ist. Jesus ist aber für den Menschen, insofern er diese Existenzform allererst begründet und vor dem Nichtsein bewahrt: „Wo ein Wesen für ein anderes ist, da muß es irgend einen ihnen gemeinsamen Raum, eine ihnen gemeinsame Existenzform geben, in welcher dieses ‚für‘ möglich und wirksam werden kann.“208 Barth bringt zunächst noch einmal den zweiten Aspekt zum Tragen, indem er die XSHU-Formel(n) im NT analysiert und programmatisch formuliert: „Man kann die neutestamentliche Botschaft sehr wohl zusammengefaßt sehen in der Frage Röm. 8, 31: ‚Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?‘“209 Jesu Leben, Sterben und Auferstehen – und das heißt Jesus als der Christus in seiner Ganzheit – ist für den Menschen geschehen. Das kann aber nur so sein, weil er zunächst auch mit den Menschen ist und somit das Urbild aller Mitmenschlichkeit darstellt. Barth wendet sich nun also der Mitmenschlichkeit Jesu zu und folgert daraus das erste und oberste Prinzip seiner im engeren Sinne anthropologischen Erwägungen: „Wer den Menschen für sich und also ohne den Mitmenschen sieht, der sieht ihn gar nicht.“210 Für Barth ist ein „abstraktes“ Menschenbild unmöglich geworden. Hatte er schon zuvor die Rede vom Menschen in abstracto211 in dem Sinne ausgeschlossen, dass der Mensch ohne Jesus Christus überhaupt nicht gesehen werden könne, so folgert er daraus nun konsequent eine „Humanität der Mitmenschlichkeit“. In der Beziehung zu Jesus sind alle Menschen zusammengefasst; er begründet die Menschheit oder – in der Terminologie Feuerbachs – die Gattung, so dass alles, was menschliches Antlitz trägt oder tragen könnte, von dort her bestimmt ist und von dort her zu einer Einheit und Beziehung zusammengefügt ist. Dieses faktische Aufeinander-Bezogensein der Menschen ist mit dem Sein gegeben und unverbrüchlich. Dadurch wird auch jeder Einzelne in der Menschengemeinschaft gehalten, selbst wenn er sich verhältnislos212 gegenüber Gott oder auch dem Mitmenschen wähnen und verhalten sollte. Die Sünde richtet sich zwar, wie gegen die Gottesbeziehung, auch gegen die zum Nächsten, zum Mitmenschen, aber sie ist auch in diesem Falle machtlos, kann sie doch das Gegenübersein des anderen nicht tangieren. Sie greift zu kurz, weil sie die Struktur des Menschseins, die gute Geschöpflichkeit nicht aufheben kann. Kurzum, die Mitmenschlichkeit des Menschen ist die direkte Folge der ‚Mit- und Fürmenschlichkeit Jesu Christi‘ und für Barth ist deshalb allein die christli208

KD III/2, 266. Im auf Jesus bezogenen Namen Immanuel: „Gott mit uns“ fallen beide Bestimmungen zusammen, das Für-den-Menschen-Sein und das Mit-dem-Menschen-Sein. Vgl. hierzu KD IV/1, 1–22. 209 KD III/2, 254. 210 Ebd., 270. 211 Vgl. ebd., 174/175. 212 Vgl. hierzu den Begriff der „Verhältnislosigkeit“ bei Eberhard Jüngel, Tod, Gütersloh 4 1990, 98–101.

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che Anthropologie – die diesen Grund zu beschreiben versucht – fähig, eine Humanität ohne den Mitmenschen radikal auszuscheiden: Die Ausschließlichkeit [...], jene Humanität als Inhumanität und also a limine, diskussionslos abzulehnen, dürfte, soweit das Auge reicht, doch nur von der christlichtheologischen Anthropologie und Ethik her möglich sein.213

3.3.1.2 Die Humanität ohne den Mitmenschen Nach Barth bietet allein die Christologie den festen Grund für das Verständnis der Sozialität des Menschen. Dennoch sieht er sich in der Behauptung einer Humanität der Mitmenschlichkeit einerseits mit „Weiseren der Weisen dieser Welt in einer gewissen Übereinstimmung“214, obwohl er aus anderen Gründen zu seinen Aussagen kommt: Es ist wohl wahr, daß die theologische Anthropologie hier auf ihrem eigenen Weg und indem sie diesen entschlossen zu Ende geht, zu Sätzen kommt, die denen ganz ähnlich sind, in denen die Humanität auch schon von ganz anderer Seite (z.B. von dem Heiden Konfuzius, von dem Atheisten L. Feuerbach, von dem Juden M. Buber) beschrieben worden ist.215

Andererseits sieht er sich aber von den Traditionen geschieden, die bewusst oder unbewusst eine Humanität ohne den Mitmenschen propagieren. Zuerst und als höchste Aufgipfelung einer solchen Ideologie betrachtet Barth das Werk Friedrich Nietzsches. Er habe diese „Konzeption der Humanität mit einer Konsequenz und Hellsichtigkeit sondergleichen zu Ende gedacht“ und zur „christlichen Konzeption der Humanität [...] entschlossen und leidenschaftlich Nein gesagt, Nein sagen müssen.“216 Doch Nietzsche ist im Urteil Barths nur der schärfste Vertreter einer Humanität ohne den Mitmenschen, der auch offen und kompromisslos zu einer unmoralischen und antichristlichen Ethik und Lebensführung durchgedrungen sei. In der Konsequenz steht er weitgehend allein, nicht aber im Ansatz: Auch Goethe, auch Hegel und weiter rückwärts: auch Kant und Leibniz würden von diesem Urteil getroffen – und nicht etwa nur ein spezifisch deutscher Geist, sondern der Geist der ganzen europäischen Humanität, wie sie sich seit dem 16. Jahrhundert gestaltet und entfaltet hat.217 213

KD III/2, 273. Ebd., 334. 215 Ebd., 333. 216 Ebd., 276. 217 Ebd., 281. Für Barth besteht die Besonderheit und Hellsichtigkeit Nietzsches gerade darin, dass er nicht nur eine Humanität ohne den Mitmenschen propagiert, sondern auch den eigentlichen Gegner und Feind einer solchen Humanität ausgemacht hat: den christlichen Glauben. So habe Goethe zwar das Christentum auch nicht sonderlich gemocht und wäre wohl noch ein „viel hartge214

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Die Alternative einer Humanität mit oder ohne den Mitmenschen versucht Barth anhand einer fast existentialistisch anmutenden Analyse des Ausdrucks „Ich bin“ zu profilieren. Das neuzeitliche Selbstverständnis, der Geist der europäischen Humanität verdichtet sich in diesem Satz. Kein Nebensatz, keine Bedingung oder Beschränkung begleitet das „Ich bin“; es kann nur vom Ich her und auf es hin gelesen werden. Dieses Ich ist absolut, im Wortsinne: losgelöst. Es hat keinen Anderen, von dem es her oder zu dem es hin ist. „‚Ich bin‘ – das ist die gewaltige Setzung, in der wir alle begriffen sind und von der wir alle überzeugt sind, daß ihr an Wichtigkeit und Dringlichkeit keine andere gleichkommt: die Setzung unseres Selbst“.218 Hatte Barth zuvor das Setzen seiner selbst und damit das ‚Ich bin‘-Sagen als Freiheit des Menschen vor Gott begriffen, so ist mit diesem Setzen ein anderes gemeint, nämlich eine autonome, d.h. besser eine autarke Selbstbehauptung, die nicht mehr auf die eigenen Grenzen achtet und kein echtes Außen anerkennt. Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung sind die Ideale eines solchen Strebens, wobei das Selbst als feste, nicht entzogene Größe in Anspruch genommen wird. Das Selbst wird vom Ich gesetzt und nicht von einem Du vorausgesetzt; doch diese Setzung bedeutet eigentlich die krampfhafte Durchsetzung des Selbst, weil es sich nicht in den Widerständigkeiten verlieren darf, weil es keine andere Begründung als den inneren Drang der Selbstbehauptung haben kann. Ein echtes Du steht diesem Ich nicht gegenüber, vielmehr entsteht ein Quasi-Gegenüber aus der Projektion des Ich, das dann auch göttliche Konturen haben kann: Zu diesen Projektionen gehört dann gewiß auch die Herausbildung eines Verhältnisses zu dem, was in der Bibel der „Himmel“, sonst aber „Gott“, die „Götter“ oder das „Göttliche“ genannt wird: die Herstellung einer positiven oder negativen, gläubigen oder skeptischen, originellen oder konventionellen Beziehung zu den letzten Grenzen, zum Geheimnis des Lebens, zu dem Unbegreiflichen, das allem unserem Begreifen, immer wieder gegenüberstehen wird.219

Barth wendet hier den religionskritischen Projektionsvorwurf gegen die idealistische Ich-Philosophie, um sie als monistisch und rücksichtslos zu sottenerer Heide“ als Nietzsche gewesen, aber er habe den Gegensatz zum christlichen Glauben nicht besonders betont oder sich wie Nietzsche leidenschaftlich darauf festgelegt. Barth erweitert den Adressatenkreis seines Vorwurfs hier ebenfalls: „Dasselbe gilt aber auch von den großen philosophischen Idealisten seiner (sc. Nietzsches) Zeit, von Kant, Fichte, Schelling, Hegel. Wußten auch sie mit dem Christentum des Neuen Testamentes nicht eben viel anzufangen, so haben sie es doch nur mit Zurückhaltung, Vorsicht und Schonung geradezu kritisiert, so haben sie doch vielmehr alle versucht, es im Rahmen ihrer Systeme, in den Grenzen ihres eigenen Geistes möglichst positiv zu deuten. Sie haben ihm keinen Zarathustra entgegengestellt“ (ebd., 286). An anderer Stelle (ebd., 334) behauptet Barth pointiert, die Humanität sei in die Irre gegangen, „in der Richtung des Idealismus und schließlich in der Richtung von Nietzsche“. 218 Ebd., 274. 219 Ebd., 275.

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desavouieren.220 Weil hier ein echtes Gegenüber, nicht nur das des Mitmenschen, sondern vor allem das Gottes fehlt, muss die Leere durch eine Aufblähung des Ich kompensiert werden. Auf seine Weise stellt sich Barth – mit der ganzen Wucht der personalistischen Philosophie – dem absoluten Ich entgegen und lässt seine Kritik in dem engagiert vorgetragenen Vorwurf gleichsam einer „Icheinsamkeit“ (Ferdinand Ebner) kulminieren: Drinnen aber – ursprünglich und eigentlich drinnen – bin und bleibe ich selbst ganz allein: ich in meiner Freiheit gegenüber dem ganzen Kosmos, ich mit meiner Dichtung und mit meiner Wahrheit, ich mit meiner Frage, was ich brauche und nicht brauche, [...] ich mein eigener Arzt, ich der souveräne Architekt, Dirigent, General, Diktator des Ganzen, nämlich meiner Erde und meines Himmels, meines Kosmos, meines Gottes, meines Mitmenschen, ich der Erfinder und Selbstversorger ohnegleichen, ich zuerst und zuletzt ich ganz allein.221

Wie schon angedeutet, führt Barth diesen Vorwurf anhand der Philosophie Nietzsches, im Blick auf dessen Schrift „Ecce homo“ (1888), aus. Barth sieht in der „azurnen Einsamkeit“ Nietzsches, seinem Verhältnis zu Frauen bzw. seiner Konzeption der Beziehung der Geschlechter, vor allem aber in der Polemik und bewussten Opposition (des Dionysos) gegen den Gekreuzigten, die höchste Verwirklichung der Philosophie des „Ich bin“, die hier alle Masken abgelegt hat. Es bleibt ein einziger unchristlicher Immoralismus. 3.3.1.3 Das Sein in der Begegnung Barth stellt dieser Humanität ohne den Mitmenschen zunächst folgende Definition thetisch entgegen: „Humanität schlechthin, die Humanität jedes Menschen besteht in der Bestimmtheit seines Seins als Zusammensein mit

220 Mir scheint Karl Barths Kritik des Idealismus, seine Kritik an jeder transzendentalen Subjektivität, insbesondere aber an einem absoluten Subjekt, von zentraler Bedeutung für das rechte Verständnis seiner theologischen Anthropologie – aber auch seiner gesamten Theologie – zu sein. Der Vorwurf von Rendtorff, Graf u.a., „Barths Gottesbegriff stehe im Banne der transzendentalen Subjektivität oder projiziere die neuzeitliche Subjektivität auf Gott bzw. den die Welt tragenden Sinngrund“, so Frey (Zur theologischen Anthropologie Karl Barths, 41), um von da aus dann die menschliche Freiheit unmöglich zu machen, übersieht die prinzipielle, paradigmatische Orientierung am personalistischen Denken. Dazu hat insbesondere aber die Barthinterpretation Pannenbergs beigetragen, der vor dem Hintergrund eines idealistischen Subjektivitätsbegriffs, insbesondere im Blick auf die Philosophie Hegels, Barths Gotteslehre interpretiert und etwas anders als etwa Rendtorff, „Barths Theologie der göttlichen Subjektivität […] damit wider willen auf das bloß Subjektive individueller Frömmigkeit zurück()fallen“ sieht (Problemgeschichte, 260; vgl. vorher auch ders., Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre. Ein Beitrag zur Beziehung zwischen Karl Barth und der Philosophie Hegels, Grundfragen Bd.2, 96–111). Dabei unterschätzt aber auch Pannenberg die Bedeutung der personalistischen Philosophie – die ja gerade auch reformatorisches Erbe aktualisiert –, die hinter Barths analogia fidei steht. 221 KD III/2, 275/276.

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dem anderen Menschen.“222 Mit dieser Formulierung führt Barth wesentliche Begrenzungen ein, die er der Darstellung des Seins des Menschen in der Begegnung notwendigerweise voraussetzt. Zum einen handelt es sich (nur) um eine Bestimmtheit des Seins, nicht um eine Bestimmung, denn die Mitmenschlichkeit ist nur die Abbildung und Folge der Mitmenschlichkeit Jesu, seines Seins als Bestimmung des Menschen. Zum anderen ist es ein Zusammensein, ein Mitsein des Einen mit dem Anderen und nicht ein ‚Fürsein‘. Die Humanität ist der Ausdruck einer Reziprozität, die im Vergleich mit dem Sein Jesu nicht den Charakter etwa einer ‚Stellvertretung‘ annehmen kann. Im Vergleich zum Mitsein des Menschen mit den anderen Geschöpfen, insbesondere den Tieren, kann die Humanität aber auch nicht in einer Herrschaft bestehen. Sie kann zwar dahingehend degenerieren, aber dann ist sie keine Humanität mehr. Das Ich und das Du stehen sich also immer auf gleicher Augenhöhe gegenüber. Zum letzten geht es um ein Zusammensein des Menschen mit dem Menschen, also um das Gegenübersein zweier einzelner Personen. Darin besteht die Grundform der Humanität, die dadurch vor einer Verwechslung mit einem Individualismus wie einem Kollektivismus geschützt ist: „es ist also der Dualis die Voraussetzung, ohne die es Humanität im Pluralis nimmermehr geben könnte.“223 Besonders im Blick auf diese letzte Bestimmung muss aber erneut auf die prinzipielle Beschränkung verwiesen werden, die Barth damit der Bearbeitung des Phänomens der Sozialität gibt. Den Zugang zur Erörterung größerer Zusammenhänge, von Gemeinschaften oder gar der Gesellschaft, hat sich Barth mit der Fokussierung des Duals nach eigenen Angaben verunklart, jedenfalls beträchtlich erschwert. In der Einleitung zu KD III/2 macht er folgende Problemanzeige: Einen in einer ersten Fassung vorhandenen Paragraphen ‚Der Mensch und die Menschheit‘, der vom Einzelnen, von den Gemeinschaften und von der Gemeinschaft der Menschen handelte, habe ich fallen lassen, weil ich des theologischen Zugangs zu dieser Frage und darum dann auch ihrer richtigen Behandlung nicht sicher genug war.224 222

Ebd., 290. Ebd., 291. 224 Ebd., Vorwort VIII. Vgl. hierzu aber auch KD III/4,§54, Abs. 2 und 3, 269–366, wo in gewisser Weise die Auslassung in der Anthropologie in sozialethischem Kontext gefüllt wird. Barth versucht hier die Beziehungsphänomene von Eltern und Kindern, von Nahen und Fernen, d.h. des Volkes und der Menschheit zu beschreiben. Ergänzt Barth den ersten „Kreis natürlicher Mitmenschlichkeit“ (336) durch das Verhältnis von Eltern und Kindern, insofern er hierin einen besonderen Dual erkennt, nämlich eine „Entsprechung (der) Elternschaft zum Sein und Handeln Gottes“ (274), so kann er in der Größe des Volkes, der gemeinsamen „Sprache“, des gemeinsamen Lebensraumes, der „Heimat“ oder der gemeinsamen Geschichte und Abstammung eines bestimmten Kreises von Menschen, keinen neuen anthropologischen Bereich oder Kreis erkennen. „Daß es diese und diese Völker gibt, das beruht auf solchen Anordnungen (ordinationes) von Gottes 223

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Karl Barths Anthropologie auf dem Grunde des personalen Duals dringt nicht zu einer konsistenten Konzeption von größeren Zusammenhängen menschlicher Gemeinschaft und einer Gesellschaftstheorie durch; über die Frage, ob sie es könnte, ist damit aber noch nicht entschieden.225 Barth nimmt nun den Terminus „Ich bin“ erneut auf und unterzieht ihn einer zweiten, vom personalen Dual bestimmten Analyse. Das Ich, das Barth nun beschreibt, ist das der Beziehung zum Du. Denn indem einer „ich“ sagt, benennt er oder kennzeichnet er sich selbst als eine Person, die notwendigerweise im Gegenüber zu Anderen steht. Dieses Ichsagen ist der erste Teil oder die erste Phase der Vollzugsform der Grundstruktur des Menschseins als Beziehung von Ich und Du. In Anlehnung an Martin Bubers Lehre vom „Grundwort: Ich-Du“226 formuliert Barth: So ist das Wort „Du“ dem Worte „Ich“, obwohl und indem es ein anderes Wort ist, immanent, von Haus aus und in der Wurzel nicht fremd, sondern zugehörig. So impliziert das Wort „Ich“, mit dem ich meine Humanität denke und ankündige, als solches die Humanität nicht ohne den Mitmenschen, sondern mit ihm.227

Es ist dieses Ich, von dem Barth im Blick auf das Sich-selbst-Setzen des wirklichen Menschen gesprochen hat. In dessen Selbstsetzung handelt es sich nun aber nicht um das eines „leeren Subjektes unter Eruptionen seines reinen, absoluten, sich selbst genügenden Abgrundes“228, sondern gleichsam um das Betreten eines Raumes, der schon gefüllt ist, in dem schon das Du gegenwärtig ist. Mit dem Sprechen des „Ich“ oder des „Ich bin“ aktiviere und offenbare ich mein Sein, als ein „Sein in der Begegnung mit dem anderen Menschen“. Der Terminus „Ich bin“ ist deshalb nur in dem Sinn recht zu verstehen, dass sofort ein Nebensatz angefügt wird: „Die Grundformel zu ihrer (sc. der Begegnung) Beschreibung muß lauten: Ich bin, indem Du bist.“229 Vorsehung, das sind aber gerade keine permanenten Ordnungen (ordines) seiner Schöpfung wie das Sein von Mann und Frau oder wie das von Eltern und Kindern. [...] das Gegenüber von Nahen und Fernen [...] ist nicht ursprünglich und nicht endgültig; es ist kein natürlich-notwendiges Gegenüber“ (341). Vgl. dann auch KD IV/3,§72: „Der Heilige Geist und die Sendung der christlichen Gemeinde“, bes. 780–872. 225 Es ist auf die personalistischen Ansätze Bubers, Rosentstock-Husseys, besonders aber auf Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ zu verweisen. Vgl. aber auch Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung der Kirche, hg. von Joachim von Soosten, in: ders.: Werke Bd. 1, hg. von Eberhard Bethge, München 1986. 226 Buber, Ich und Du, 7ff. 227 KD III/2, 293. 228 Ebd., 294. 229 Ebd., 296. Barth grenzt sich mit dieser Bestimmung nicht nur gegenüber der idealistischen Anschauung ab, sondern nun auch gegenüber dem Personalismus: „Das Wort ‚indem‘ darf natürlich nicht dahin verstanden werden, als ob das ‚Du bist‘ die Ursache oder auch nur die Mittelursache, als ob es wohl gar die eigentliche Substanz des ‚Ich bin‘ wäre. Man hat in dieser Hinsicht im Kampf gegen den Humanitätsbegriff des Idealismus des Guten zuviel getan, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Man hat den Menschen ganz und gar nur noch vom Mitmenschen her kon-

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Hat Barth damit die Struktur der Humanität – synchron – in den Blick genommen, so muss er, in Analogie zur Gottesbeziehung, die Humanität als Mitmenschlichkeit auch diachron begreifen, d.h. als Geschichte verstehen. Der Satz: „Ich bin, indem du bist“ lässt sich dahingehend präzisieren, dass das Ich nur sein kann, wenn es am und mit dem Du wird; wenn es aus sich herausgeht, dem schon gegenwärtigen Du entgegen und von diesem eine Reaktion, ein Sich-selbst-entgegen-Setzen erfährt. Es handelt sich also um zwei, „sich begegnende Seinskomplexe. Als zwei Geschichten begegnen sich das ‚Ich bin‘ und das ‚Du bist‘.“230 Die Humanität als personale duale Seinsstruktur ist somit gleichsam das „leere Blatt“, das erst im Vollzug der Begegnung bzw. den Begegnungen von Ich und Du „beschriftet“ wird. 3.3.1.4 Die Struktur des Begegnungsgeschehens Für den Vollzug dieser Beschriftung, für das Sein in der/den Begegnung(en) führt Barth nun vier Kategorien oder Merkmale auf. Dabei verweist er – emblematisch – auf verschiedene Sinnesorgane: 1.) Die Menschen sehen einander an [Auge], 2.) sie reden miteinander, vor allem aber hören sie (auf-)einander [Mund und Ohr], 3.) sie leisten sich gegenseitig Beistand [Hand] und 4.) tun das gerne, d.h., sie vollziehen eine in ihnen bestehende Struktur [Herz]. 1.) Der humane Sinn des Auges besteht für Barth in der Möglichkeit, den anderen zu sehen, ihn als Gegenüber wahrzunehmen. Mit dem gegenseitigen Sehen beginnt die Begegnung, denn so tritt das Du für das Ich überhaupt erst in Erscheinung. In einem tieferen Sinne geht es dabei aber um die „Offenheit“ des Ichs für das Du und umgekehrt, insofern es zum „Augenblick“ kommt, d.h. dazu, „dass sie sich in die Augen blicken, sich gegenseitig entdecken.“231 Wahrnehmung bedeutet – wieder im (tieferen) Wortsinn – den anderen in seinem Dusein, seiner Anderheit (M. Buber) und Einzigartigkeit ‚wahr-zunehmen‘. Eine Begegnung hebt mit dem gegenseitigen Wahrnehmen und Stehenlassen notwendig an, denn dadurch positionieren sich zwei Personen im direkten Gegenüber. Nur so wird gleichsam eine ‚Vergegnung‘ verhindert.232 struieren, man hat das ‚Ich bin‘ von dem ‚Du bist‘ her förmlich zum Verschwinden bringen wollen. Das Wort ‚indem‘ sagt nicht, wo das menschliche Sein her – hier könnte ja nur von Gott seinem Schöpfer geredet werden – sondern wie es beschaffen ist“ (ebd.). Unter diese Kritik könnte etwa Martin Buber mit seinem Begriff des „Zwischen“ oder später Emmanuel Levinas mit dem ‚ontologischen Primat des Anderen‘ fallen. 230 Ebd., 297. Es liegt möglicherweise ein – freilich genialer – Druckfehler vor, wenn Barth später vom „Sein in der Bewegung“ spricht (302). 231 Ebd., 301. 232 Barth führt als Beispiel einer ‚Vergegnung‘ die „Bureaukratie“ an, in der die „Zweisamkeit um der Einfachheit einer allgemeinen Betrachtung und eines allgemeinen Verfahrens willen

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2) Das zweite Element des Seins in der Begegnung bezieht sich auf die Sprachfähigkeit des Menschen. Durch die Sprache hat der Mensch die Möglichkeit, das gegenseitige Sehen bzw. die Bilder, die von einander bestehen, zu transzendieren, zu korrigieren und näher zu bestimmen. Erst durch die Artikulation des Ichs kann dieses sich dem Du adäquat öffnen und sich als Ich präsentieren; und erst durch dessen Artikulation wird wiederum das Du als eigenständiges Ich erkannt. Es sind vier Aspekte, die in der Kommunikation von Ich und Du miteinander verschränkt vorliegen: a) Das Ich spricht sich aus und präsentiert sich dadurch, b) es lässt das Du sich aussprechen, d.h. vernimmt es, c.) es spricht das Du an, teilt ihm etwas mit und fordert es zur Antwort heraus und d.) es vernimmt den Anspruch und die Mitteilung des Du. Erst wenn diese Struktur vollkommen vollzogen ist, kann, so Barth, von einer echten Begegnung und Kommunikation gesprochen werden; erst dann wird die Individualität des Kommunikationspartners, sein einzigartiges Ich-sein, klar herausgestellt, die Individualität des Anderen aber ebenfalls zu ihrem Recht kommen. Barth bezieht sich hier nicht auf humanwissenschaftliche Kommunikations- oder Interaktionsmodelle, aber gewisse Parallelen etwa zum sozialen Interaktionismus Meads oder der (späteren) Kommunikationstheorie Watzlawicks lassen sich erkennen.233 3.) Die wahre Begegnung erschöpft sich nicht im Austausch von sprachlichen Zeichen, im gegenseitigen Erschließungsprozess. Sie kommt vielmehr erst zu einer angemessenen Form, wenn sich in ihr das gegenseitige Angewiesensein der Partner ausdrücken kann. Der Mensch bedarf der helfenden Hand des Anderen, das Ich braucht den Beistand des Du. Der Ruf des Ich wie des Du ist nämlich in Wirklichkeit ein Hilferuf aus der Einsamkeit. Das Beistandleisten in Notsituationen ist deshalb wiederum nur eine greifbare Konkretion dessen, dass der Mensch allein durch den Beistand des Anderen selbst ‚zum Stehen‘ kommt. Barth erkennt deshalb auch in solchen Beziehungen, die scheinbar jeglicher Reziprozität entbehren – etwa das Verhältnis von Arzt und Patient oder von Pflegendem und Gepflegtem etc. –, eine Gegenseitigkeit und strukturelle Symmetrie. Denn obgleich hier Einer für den Anderen da ist, aktiv an ihm handelt – und dieser sich passiv verhält –, bleibt doch das Mitsein die Grundkategorie seines Handelns, denn „für ihn sein in jenem strengen Sinn des Begriffs kann er nicht, das kann Gott allein.“234 Die Kategorien der ‚Stellvertretung‘ und des ‚Opferbringens‘ können zur Charakterisierung einer zwischenmenschliche Beziehung durchaus Verwendung umgangen wird. Bureaukratie ist die Begegnung von Blinden mit solchen, die von diesen als Blinde behandelt werden“ (ebd., 302). 233 Mögliche Depravationen von sprachlicher bzw. verbaler Kommunikation finden sich eindrücklich beschrieben in Paul Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein, München 261988 und Martin/Drees, Vertrackte Beziehungen, 10–69. 234 Ebd., 315.

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finden, aber sie sind im Vergleich zur Gottesbeziehung nur in einem depotenzierten Sinn zu gebrauchen. Es kann und darf nicht verdeckt werden, dass auch derjenige, der einen Anderen vertritt und Opfer bringt, selbst davon lebt, dass ein Anderer das Gleiche für ihn tut bzw. tun kann. 4.) Mit der letzten Bestimmung des Seins in der Begegnung stößt Barth zum „Geheimnis der Humanität“, zum Herzen des Menschseins vor. Das „Ich bin, indem du bist“ steht „unter dem Zeichen [...], daß es hinüber und herüber gerne geschieht.“235 Es kann zunächst etwas verwirren, dass Barth hier nun keine weitere formale Kategorie, sondern eine intentionale, ja emotionale Kategorie einführt: das „gerne“. Doch das entspricht gerade der Betrachtung des Herzens der Mitmenschlichkeit und deren Charakterisierung als Geheimnis – das Barth hier übrigens als das „kleinere“ im Gegensatz zum „größeren“ Geheimnis der Gottesbeziehung bezeichnet. Aber, auch um Missverständnisse zu verhindern, flankiert Barth später den schillernden Begriff des „gerne“ durch den der Spontaneität und der Freiheit des Menschen im Vollzug seines Seins in der Begegnung. In Analogie zur Charakterisierung des wirklichen Menschen, als ein sich selbst setzendes, freies und spontanes Ich Gott gegenüber, versteht er den Menschen in seiner Humanität, d.h. dem Mitmenschen gegenüber: Indem er ihm (sc. dem Gesetz des Schöpfers) so, als dem Gesetz seiner eigenen Freiheit gehorsam ist, realisiert er jenes „mit“ – mit dem Mitmenschen, mit dem Du – nicht aus äußerer, sondern aus innerer Notwendigkeit und also gerne, also wirklich von sich aus. Es bekommt dann jenes Miteinander den Charakter des schlechthin Spontanen.236

Das Geheimnis der Humanität besteht also darin, dass der Mensch im Gegenübersein zum Anderen eine natürliche Anlage verwirklicht. Er handelt im Einklang mit seinem geschöpflichen Wesen. Eine von Gott geschaffene Struktur vollzieht aber das Geschöpf „gerne“. Menschsein ist als solches ein ganzheitliches, denn es geschieht unter Aktivierung der natürlichen Kräfte; Menschsein macht ist erfüllt von Freude, salopp gesagt‚Menschsein macht ‚Spaß‘. Barth hebt davon zwei Depravationsformen ab: Zum einen das SichVerlieren an einen Anderen, die oft selbst verschuldete Unmündigkeit und Unterwürfigkeit, zum anderen aber das korrespondierende Verhalten des Herrschens und des Gebrauchens des Anderen. Im Blick auf die Humanität der Mitmenschlichkeit sind beide Wege abzulehnen, denn verliere ich mich an den Anderen oder aber finde ich mich im Anderen, es bleibt immer nur ein Ich, das dominiert und dem anderen die Luft zum Atmen nimmt – selbst 235 236

Ebd., 318ff. Ebd., 323.

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wenn dies vordergründig „gerne“ zu geschehen scheint. Zu sich selbst findet der Mensch nur, wenn er dem Anderen zugesteht, sich ebenfalls selber zu finden, nicht aber in dem Anderen, sondern im Angesicht des Anderen: Der Mensch entdeckt die Einmaligkeit und Unersetzbarkeit des anderen Menschen in dessen Wirklichkeit als des ihm geschenkten Gefährten, Gesellen, Kameraden, Genossen, Gehilfen und eben damit – nicht anders, sondern eben damit: in der ganzen Notwendigkeit der Gegenwart des Anderen – seine eigene Einmaligkeit und Unersetzlichkeit und so sein eigenes Wesen, seine eigene Wirklichkeit als Mensch.237

Warum aber spricht Barth hier noch nicht von der Liebe, mit der das Geheimnis und das Herz der Humanität bezeichnet werden könnte und häufig bezeichnet wird? Barth spart den Begriff der Liebe238 für die Beschreibung der Humanität aus, weil er eine Verwechslung mit der christlichen Liebe, der DJDSK, vermeiden will. Die christliche Liebe hat ihren Ort im Gottesverhältnis des Menschen, in der Bestimmung und Versöhnung durch Gott in Jesus Christus und noch nicht in der Bestimmtheit zur Mitmenschlichkeit: Es kann hier „nur die natürliche Betätigung, der natürliche Vollzug des menschlichen Daseins“ beschrieben werden: „ein Geschehen, das formal auf einer Stufe steht mit den entsprechenden Lebensfunktionen oder auch den bloßen Daseinsbestimmtheiten irgendwelcher anderer Wesen“.239 Die christliche Liebe ist eine Gnadengabe des Heiligen Geistes und wird in die Herzen der versöhnten und gerechtfertigten Christenmenschen ausgegossen (Röm 5,5). Sie ist im Zusammenhang des Bundes und noch nicht in dem der Schöpfung zu thematisieren. Allerdings heißt das, dass sich im Begriff der Liebe, wenn man ihn denn nicht ausschließlich auf die christliche Liebe beschränkt, die Analogie von Schöpfung und Bund spiegelt und deshalb, insofern durch diesen analogischen Rückschluss gerade die Natur des Menschen als gute qualifiziert wird, die Humanität nicht kleingeredet werden darf. Die Analogie des „gerne“ der Humanität ist die christliche Liebe im engeren Sinn, von der es her und auf das es hin ist. Auf der Stufe der Humanität kann deshalb weitgehende Konvergenz mit nicht-christlicher Anthropologie konstatiert werden, auch wenn die Hinordnung auf die DJDSK wohl kaum in den Blick kommen dürfte und diese selbst nicht erkannt werden kann – abseits des Chris237

Ebd., 327. Barth bezieht sich im Blick auf den Liebesbegriff auf die große Arbeit von Anders Nygren, Eros und Agape, Bd. I./II., Gütersloh 1930, teilt leider aber dessen problematische Unterscheidung und Trennung von Eros und Agape. „Eros ist Humanität als Dämonie“ (337) und steht deshalb noch unter dem „gerne“ der Mitmenschlichkeit, so Barth – vgl. auch KD IV/2, 853ff. Vgl. dagegen aber etwa Josef Pieper, Über die Liebe, München 1972. 239 KD III/2, 332. 238

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tusereignisses.240 Doch Barth wendet sich hier nicht gegen diese nichtchristlichen Auffassungen sondern gerade gegen die christliche Anthropologie und Verkündigung, die im falsch verstandenen Schema von Gesetz und Evangelium zunächst aller Welt die Erkenntnis der Humanität absprechen und diese der Sünde überführen will, um sie dann mit der Gnade der christlichen Liebe zu konfrontieren, vor der sie dann in die Knie gehen soll. Barth stellt dem entgegen, dass nur, wer mit der Humanität der Mitmenschlichkeit ernst macht und darin die gute Schöpfung Gottes entdeckt, auch von dem ganz Neuen und der Gnade der christlichen Liebe sprechen darf und kann: Wo es im christlichen Glauben und in der christlichen Hoffnung nicht zur Erweckung, d.h. aber zur positiven Erfüllung gerade der Humanität kommt, da ist auch die Hoffnung nicht, denn da fehlt es offenbar an der christlichen Liebe, und wenn alle ihre inneren und äußeren Werke in Fülle da wären.241

3.3.1.5 Die Beziehung von Mann und Frau242 Mit dem Verweis auf die christliche Liebe hat Barth wieder die andere Blickrichtung angedeutet: Die Humanität ist nicht ohne ihre Hinordnung auf die Humanität Gottes, auf die Gottesbeziehung zu verstehen. In einer letzten Gedankenbewegung zur Sozialität des Menschen lenkt Barth wieder zum Thema der Analogie von Bestimmtheit und Bestimmung, von Schöpfung und Bund, Mitmenschlichkeit und Gottesbeziehung zurück. Dazu dient nicht zufällig eine erneute Erörterung des Geschlechterverhältnisses (– insofern kann die Darstellung hier relativ kurz ausfallen). Die Mitmenschlichkeit als Grundform der Menschlichkeit hatte Barth in der Auslegung von Gen 1,26ff ja aus dem Verhältnis von Mann und Frau abgeleitet, und er konnte dieses Verhältnis wiederum als Analogie der Gottesbeziehung, des Verhältnisses Jesu zur Gemeinde, begreifen. Das Zusammensein von Mann und Frau ist deshalb gleichsam eine Zwischenstufe zwischen dem „kleinen Geheimnis“ der Mitmenschlichkeit und dem „großen Geheimnis“ der Gottesbeziehung, kommt ihm doch im Zeugnis der Bibel die Würde des ersten und wichtigsten 240 Im Blick auf Barths Rede vom „gerne“ als Herzstück der Humanität bzw. seine Behauptung, es sei zwar eine Konvergenz mit den „Weiseren unter den Weisen“ zu konstatieren, allerdings zu fragen, ob diese wirklich eben bis zum „gerne“ durchdringen könnten (334), antwortete Buber: „Und da, bei den Chassidim – in einer Glaubenswelt, deren Lehre letztlich ein Kommentar zu einem gelebten Leben ist – ist das ‚gern‘ der Herzensfreiheit zwar nicht Konsequenz, wohl aber die innerste Voraussetzung, Grund des Grundes. [...] Aber ich wollte, ich könnte Karl Barth hier, in Jerusalem zeigen, wie die Chassidim die Freiheit des Herzens zum Mitmenschen – tanzen“ (Nachwort: Zur Geschichte des dialogischen Prinzips, 319). 241 KD III/2, 340. 242 Vgl. hierzu erneut Selinger, Charlotte von Kirschbaum und Karl Barth, 154–214; zuletzt Obst, Veni Creator Spiritus!, 361–382.

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Vergleichs mit der Beziehung zu Jahwe, dann zu Jesus Christus zu. Das Geheimnis der Gegenwart des Schöpfers im Leben des Geschöpfs kündigt sich im Zusammensein von Mann und Frau an. Barth ging und geht es nicht um die „Physiologie und Psychologie der Geschlechter“, sondern um ihre Differenz und besonders die daraus resultierende Beziehung, in der die Mitmenschlichkeit ihren klarsten und unanfechtbaren Ausdruck findet: „In der Tatsache der Zweiheit von Mann und Frau, die in keine höhere Einheit aufzulösen ist, haben wir dieses Kontinuum so vor Augen, daß wir es schlecht und recht zu leben haben.“243 Die Mitmenschlichkeit als synchrone Struktur kann aufgrund der Differenz der Geschlechter bzw. des unhintergehbaren Gegenübers von Mann und Frau nicht geleugnet und nicht aufgehoben werden.244 Die Mitmenschlichkeit als Geschichte, als das Sein in der Begegnung, hat in der Beziehung von Mann und Frau ihre Entsprechung. Hier ist also auch der erste und exemplarische Ort, Auge, Mund und Ohr offenzuhalten, zur Hilfe bereit zu sein und besonders das „gerne“ zu leben: Die Begegnung von Mann und Frau“ kommt „da zu ihrer Eigentlichkeit und Erfüllung [...], wo die besondere, in gegenseitiger freier Wahl sich vollziehende und auf die volle Lebensgemeinschaft zielende Beziehung eines diese Frau liebenden Mannes zu einer diesen Mann liebenden Frau Ereignis wird.245

Es ist der Aspekt der Beziehung, in seiner höchsten Form, der Ehe, den Barth nutzt, um die Analogie von Mitmenschlichkeit und Gottesbeziehung erneut deutlich zu machen. Die Ehe entspricht dem Verhältnis zu Jahwe – wieder verdeutlicht Barth das anhand der ersten (Gen 2, 18ff) und zweiten („Lied der Lieder“) alttestamentlichen „Magna Charta der Humanität“. Die Ehe ist zuletzt dann auch die Analogie zum „Bund zwischen Jesus und seiner Gemeinde“246; das macht ihr Geheimnis aus, so wie es sich in Eph 5,32 enthüllt. Doch Barth lässt den Aspekt der Differenz nicht völlig fallen, wohl aufgrund des biblischen Zeugnisses, das er im Blick auf die neutestamentlichen Stellen zum Vergleich der Beziehung von Mann und Frau, Christus und Gemeinde breit entfaltet. Schon in Gen 2, dann aber besonders in 1Kor 11 und Eph 5 wird der Aspekt der Über- und Unterordnung im Verhältnis der Geschlechter virulent: Das Weib wird aus der Rippe Adams gebaut (Gen 2,22; nach der Lutherübersetzung); die Frau ist nur um des Mannes willen da 243

KD III/2, 349, zuvor 346. Selbst die Möglichkeit einer Geschlechtsumwandlung oder das Phänomen eines Zwitterseins bestätigt gerade die prinzipielle Struktur der Geschlechterdifferenz. 245 Ebd., 348. Hier deutet sich Barths Eheverständnis an, das er in KD III/4 (§54, Abs. 1, 127– 269) ausführlich darlegt. 246 KD III/2, 361. 244

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(1Kor 11,9), sie muss sich unterordnen im Rahmen der sogenannten Haustafeltradition (Eph 5,22–33), denn ihr Haupt ist der Mann. Die Geschlechterdifferenz versteht Barth auf dieser Linie nun nicht mehr nur als unangreifbares Zeichen für die Beziehung in der Reziprozität von Ich und Du, sondern als eine qualitative Differenz, in der dem Mann die „Suprematie“ zukommt. Barth muss diesen Aspekt zum Tragen bringen, auch wenn er merklich mit den Konsequenzen ringt und um Milderung bemüht ist,247 denn 1Kor 11,3 und Eph 5,23.32 schärfen die Analogie ein, auf der alles aufbaut: Das Haupt der Gemeinde ist Jesus und das findet seine Entsprechung darin, dass der Mann das Haupt der Frau ist. Die Beziehung von Jesus zur Gemeinde und als Konsequenz daraus das von Mann und Frau hat damit ein massives Gefälle. Ein Gefälle, um dessen Ausräumung Barth auf der Ebene der personalistischen Bestimmung der Mitmenschlichkeit, im Verhältnis von Ich und Du, andererseits sichtlich bemüht war. Im Blick auf das Verhältnis von Mann und Frau ist er aber nun gezwungen – was er nur am Rande andeutet –, auch eine „natürliche Suprematie des Ich vor dem Du“248 zu behaupten, damit aber seine Aussagen zum Sein in der Begegnung zu konterkarieren. Überdies will er sich von „kurzsichtigen Exegeten“, die insbesondere auf die Spannungen im neutestamentlichen Zeugnis aufmerksam machen und einen Widerspruch gegen die Überordnung des Mannes im Blick auf Gal 3,28 ausmachen, nicht aus dem Konzept bringen lassen. Barth meint, der Grundsatz, dass Jesus der Mensch für den Mitmenschen ist, dass die Humanität der Mitmenschlichkeit die Humanität Gottes abbildet, ließe sich im Rahmen einer biblischen Theologie am besten mit der Entsprechung des Zusammenseins von Mann und Frau einschärfen. Dabei deutet er die Analogie aber nicht nur in ihrem Beziehungs-, sondern auch in ihrem Differenzaspekt – bis in die Über- und Unterordnung hinein – aus; obwohl er zuletzt nochmals betont, dass es sich beim tertium comparationis der Analogie allein um „eine unaufhebbare Beziehung und Gemeinschaft zwischen zwei unaufhebbar verschiedenen Subjekten handelt.“249 Ist in der Beziehung Gottes zum Menschen ein klares ‚Gefälle‘ zu konstatieren, insofern der Mensch hier allererst begründet bzw. ontologisch bestimmt wird, so ist doch die Humanität der Mitmenschlichkeit gerade eine auf Reziprozi247 Dieses Bemühen wird gleichsam zu einem regelrechten Grundton, wenn er sich zu Aussagen über die Differenz im Verhältnis der Geschlechter veranlasst sieht; zum Beispiel in ebd., 352: „...weil die Frau so ganz vom Manne her ist, muß der Mann auch seinerseits ganz zur Frau hin sein; […] darum weil er der Erste, Stärkere, aber nun doch nur im Verhältnis zu ihr überhaupt Einer, ein Starker sein kann, muß er sie, die Zweite, die Schwächere, gerade als solche seine Erste sein, seine Stärkere sein lassen und dementsprechend mit ihr umgehen.“ Obst (Veni Creator Spiritus!, 375) u.a. nennen diese Suprematie treffend einen „Liebespatriarchalismus“. 248 Ebd., 352. 249 Ebd., 386.

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tät und Gleichberechtigung basierende Bestimmtheit – keiner muss oder kann das Sein des anderen begründen. Vielmehr stehen sich die Menschen auf gleicher Augenhöhe gegenüber, und deshalb würde doch Barths Beschreibung der imago Dei ‚genügen‘: Weil er (sc. Gott) in sich selbst nicht einsam ist und so auch nach außen nicht einsam bleiben will, darum ist es dem Menschen nicht gut, allein zu sei, darum schuf er den Menschen nach seinem Bild: den Mann und die Frau.250

Dass Barth hier also eine Überordnung des Mannes über die Frau annimmt, resultiert letztlich weder aus der Logik seines Analogieschemas251, noch notwendigerweise aus der – eben disparaten – exegetischen Lage im Blick auf das Geschlechterverhältnis; vielmehr ist die „Suprematie“ dem eigenen Konservativismus geschuldet, der Orientierung am klassischen Rollenbild der christlichen Haustafeltradition bzw. der Mitte des 20. Jahrhunderts.252 Dass er damit insbesondere zum Gegenstand feministischer Kritik wurde, ist verständlich.253 3.3.2 Identität und Selbstverhältnis Barth hat das Sein des wirklichen Menschen im Bund mit Gott und in der Begegnung mit dem Mitmenschen breit entfaltet und damit die Antwort auf die Frage nach seiner Identität gegeben. Der Mensch ist im Gottesverhältnis (begründet) und er lebt im Gegenüber zum Mitmenschen, als ein Ich, dem ein Du korrespondiert. Wie lässt sich nun aber dieses Ich näher fassen? Bevor sich Barth auf seinen Weg zu einer Antwort begibt, macht er noch einmal deutlich, dass er sich mit dieser Bestimmung – d.h. mit der Vor- und Überordnung des Themas der Gottesbeziehung und der Sozialität – gerade nicht auf dem Weg der Tradition befinde: Die Anthropologie der alten christlichen Dogmatik pflegte ohne diese Grundlegung sofort mit dem Problem einzusetzen, an das wir nun erst herankommen: mit dem Problem der Beschaffenheit jenes Seins, mit dem Problem des menschlichen Daseins und Soseins.254

250

Ebd., 390. Gegen Obst, Veni Creator Spiritus!, 378, die (mit anderen) hier von einem „Systemzwang“ im Rahmen des Analogieschemas spricht. 252 Eine ähnlich klassisch-konservative Interpretation des Verhältnisses der Geschlechter – allerdings vor einem ganz anderen Hintergrund – vertritt auch Pannenberg. Vgl. dazu Anthropologie, 415ff; ders., Grundlagen der Ethik. Philosophisch-theologische Perspektiven, Göttingen 1996, 124ff. 253 Vgl. dazu die zusammenfassende Kritik bei Obst, Veni Creator Spiritus!, 378–382. 254 KD III/2, 391. 251

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Barth weigert sich, insbesondere der Vernunftnatur des Menschen die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken wie etwa der Sozialität; er stuft das Selbstverhältnis des Menschen gegenüber dem Verhältnis zu Gott und dem Mitmenschen zurück und fasst es als einfaches Ordnungsverhältnis des Ich auf. Es geht hier nicht ums Sein, sondern ums Da- und Sosein, um die Art und Weise der Existenz. Schon in der Auslegung von Gen 1,26ff255 wurde die Vernunftbegabtheit bzw. das Bewusstsein, das den Menschen zum Herrschen und Verwalten befähigt, nicht gleichsam in den inneren Kreis der Gottebenbildlichkeit aufgenommen. Sie war nur die Folge der Gottebenbildlichkeit, sie wurde notwendig, insofern nur durch sie die aktive Entsprechung Gott und dem Anderen gegenüber ermöglicht wird. Was aber das Ich zum Ich macht, ist das Gegenüber des göttlichen und dann auch des menschlichen Du. Dass dem Ich die Fähigkeit eignet, sich selbst zu verobjektivieren, „ich selbst...“ zu sagen, ist nur die Konsequenz aus dem Sein des Ich und ist nur in Hinordnung darauf zu verstehen. Einer Anthropologie, die mit dem Problem des Selbstverhältnisses und des Bewusstseins des Menschen ansetzt, erteilt Barth damit eine klare Absage – ohne aber das Phänomen verlieren zu wollen, gehört es doch nur an eine andere Stelle in der Erkenntnisordnung theologischer Anthropologie. Also, wie ist das Ich beschaffen? Barth knüpft zur Beantwortung dieser Frage dann doch wieder an das Verständnis der Beschaffenheit des Menschen in der „alten Dogmatik“ an: Darum ging es ja in ihrer (mächtig betonten) Lehre von der menschlichen Seele auf der einen und in ihrer (fast immer stark vernachlässigten) Lehre vom menschlichen Leib auf der anderen Seite. [...] Daß der Mensch Seele und Leib ist, das ist also schlicht die konkrete Beschaffenheit seines Seins.256

Es ist dieses schlichte und einfache Verhältnis von Seele und Leib, dass der Mensch nicht nur als leibhafte Seele, sondern auch beseelter Leib zu verstehen ist, was Barth im weiteren auslegen wird und unter dessen „Überschrift“ er auch noch andere Begriffspaare behandeln kann, wie: „‚Der Mensch als Geist und stofflicher Organismus‘, ‚der vernünftige und sinnliche‘, ‚der innere und äußere‘, [...], der intelligible und empirische‘, [...]“257 3.3.2.1 Jesus, der ganze Mensch Barth verweist zunächst aber auf zwei wesentliche Schwierigkeiten, dass – im Blick auf die Frage nach der Beschaffenheit des Menschen und seine Existenz im Ordnungsverhältnis von Seele und Leib – zum einen eine große Nähe zur nicht-theologischen Wissenschaft bestehe, mit der das Risiko der 255

Vgl. hierzu oben Abschnitt 3.2.3. KD III/2, 391. 257 Ebd., 392/393. 256

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Verirrung steigen könnte, dass zum anderen aber die biblische Überlieferung „kein allzu großes direktes Interesse“ an der Beantwortung dieser anthropologischen Fragen habe und deshalb in dieser Hinsicht einiges gewagt werden müsse. Dennoch will Barth diese Schwierigkeiten eher als Herausforderungen betrachten und trotz des Schweigens der Quellen eine genuin christliche Erkenntnis entfalten. Er behauptet sogar offensiv: Dass der Mensch als Seele und Leib existiert, und dass es sich hier um den Kern der Frage nach dem Dasein des Menschen handelt, das ist kein „Lehnsatz aus anderweitiger Wissenschaft“258, sondern eine echte theologische Erkenntnis, die sich aus den Aussagen über den wirklichen Menschen ergibt. Es muss insbesondere in dieser Frage also mit dem Grundsatz ernst gemacht werden, dass die Anthropologie auf die Christologie aufbaut. Jesus, so Barth, ist nach dem biblischen Zeugnis der ‚einige‘ und ganze Mensch. Bei ihm liegen die beiden Bereiche, das Seelische und das Leibliche, nicht im Kampfe miteinander, sondern sind in vollkommener Ordnung und Harmonie.259 Barth schließt das aber gleichsam e silentio. Vom persönlichen Leben Jesu, von Seelenregungen und Leiblichem wird kaum gesprochen, nie aber ein innerer Konflikt von Seele und Leib thematisiert. Für Barth ist es gerade die „Armut dieses Bildes, in der sein Reichtum liegt und in der man diesen zu entdecken hat. Sein Reichtum ist eben Jesus selbst, der da ‚leibt und lebt‘, Seele und Leib ist“.260 Es wird nur gesagt, dass Jesus Person ist als Seele und Leib. Die Pointe besteht dabei in der Betonung der sinnhaften, geordneten Struktur im Miteinander und Gegenüber von Leib und Seele im Sein Jesu. Es ist offensichtlich, „daß das Einige, Ganze dieses Menschenlebens aus sich selbst heraus gestaltet, strukturiert, bestimmt und eben damit von innen heraus und also notwendig dauernd sinnhaft ist.“261 Das Sein Jesu als geordnetes Verhältnis von Seele und Leib ist nun zum einen als das Vorbild und Urbild des Daseins der Menschen überhaupt zu verstehen. Dazu ist ja der Blick auf Jesus notwendig, um die Struktur des Daseins des Menschen ‚ent-decken‘ zu können. Lebt der wirkliche, neue Mensch als Einheit von Seele und Leib, dann wird das – in Folge der Analogie von Schöpfung und Bund – auch für den natürlichen Menschen gelten. Dem liegt aber zum anderen zugrunde, dass das Sein Jesu gerade als das Geschehen zu denken ist, in dem das Verhältnis – als das der Mensch 258

Ebd., 393 und zuvor 392. Vgl. ebd., 402: Barth spricht hier vom „Bild des Friedens zwischen jenen beiden Momenten menschlichen Seins.“ 260 Ebd., 398. Barth weist daraufhin, dass Jesus als Persönlichkeit im NT nicht wirklich profiliert wird. Ein Charakterbild ist schwer zu erstellen. Und, „es liegt ein undurchdringlicher Schleier von Schweigen über der Tatsache, daß er ein männliches Geschlechtswesen gewesen ist (Joh 4, 27)“ (397). 261 Ebd., 399. 259

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besteht –, allererst konstituiert wird. Es handelt sich im Dasein Jesu gleichsam um die ‚In-Formation‘ des menschlichen Daseins überhaupt. Der Logos stiftet die Struktur des menschlichen Daseins. Jesu Dasein besteht folglich in dem Ereignis, „in welchem Seele und Leib in Gestalt und Ordnung kommen, in welchem das Chaos dahinten bleibt, der Kosmos sich verwirklicht ...“262 Das ist der qualitative Vorrang des Menschen Jesus, dass in seinem Leben die Struktur des Daseins allererst erstellt und zum Erkennen freigegeben wird. Was da nun aber erkannt wird, ist zunächst die Einheit und Ganzheit von Seele und Leib, dann aber auch ihr näheres Verhältnis zueinander. Dabei gibt es auch in diesem Verhältnis eine Über- und Unterordnung, einen Vorrang, eine Suprematie: „Die Seele ist das Erste, der Leib das Zweite in diesem Frieden, das ist die Ordnung in diesem Verhältnis.“263 Es nimmt da nicht Wunder, dass Barth das Verhältnis von Seele und Leib zuletzt als Ordnungsanalogie aus den anderen grundlegenden Analogien ableiten kann, ja ableiten muss, die sich als Beziehung und als Über- und Unterordnung verstehen lassen.264 Der Grundanalogie von Gott und Mensch entspricht zunächst das innerchristologische Verhältnis von Gottheit und Menschheit Jesu, von seinem Sein als Gottessohn und als Mensch. Daraus lässt sich auf das Verhältnis von Seele und Leib schließen – in aller Unähnlichkeit –, insofern dem Sein des Gottessohnes die Seele und dem Menschsein Jesu der Leib entspricht. Wohlgemerkt handelt es sich hier nur um eine Analogie der Proportion. Wesentlich ist dabei, dass der Einheit Gottes bzw. Jesu Christi die Einheit des Menschen entspricht, dass darin aber nur (!) die Funktion, die der Seele in dieser Einheit zukommt, mit der Gottheit zu vergleichen ist, während die abgeleitete Funktion des Leibes in ihrer Unterordnung der Menschheit Jesu ähnlich ist. Die Seele ist die Herrin und Führerin des Leibes.265 Eine weitere Analogie, die sich auch schon terminologisch nahe legt, findet Barth zwischen Jesus und seinem Leib, der Gemeinde, und Seele und Leib. Auch hier geht es nur um die Proportion, um die Über- und Unterord262

Ebd., 405. Ebd., 407. Die Führungsfunktion der Seele im Verhältnis zum Leib findet Barth im Blick auf das Leben Jesu in der Versuchungsgeschichte (Mt 4,1ff) und in der Episode von Maria und Martha (Lk 10,38ff) dokumentiert. Die Seele ist nur Seele, weil sie den Leib regiert und leitet und der Leib nur Leib, weil er dient. Ähnliches sieht Barth im Blick auf Wort und Tat Jesu: „Das Wort ist die eigentliche, die Tat die bestätigende, offenbarende Bewegung seines Werkes“ (409). 264 Vgl. hierzu KD III/2, 410–414. 265 An diesem Punkt zeigt sich die Problematik der analogischen (Rück-)Schlüsse, denn man könnte dem Verhältnis von Seele und Leib – besonders im Blick auf den Aspekt der Über- und Unterordnung – das Verhältnis von Mann und Frau zur Seite stellen. Der Mann wäre dann – wie – die Seele, die Frau – wie – der Leib. Es bedürfte großer Anstrengungen, solche Analogien gegen Missverständnisse abzusichern. Vgl. hierzu oben: 3.2.3.3. 263

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Gottebenbildlichkeit und Identität bei Karl Barth

nung von Jesus und Gemeinde bzw. Seele und Leib, denn Jesus ist ja gerade als Seele und Leib das „Haupt“, während die Gemeinde als die ‚vielen Seelen‘ ein bzw. sein „Leib“ sind. Barth beschränkt sich zuletzt auf diese beiden Analogien, auf die christologische und die ekklesiologische, obwohl er noch viele andere für bedenkenswert hält266, um nur das eine einzuschärfen: „daß wir uns auch mit unserer Erkenntnis Jesu als des ganzen Menschen in der Mitte aller christlichen Erkenntnis befinden.“267 3.3.2.2 Der Geist und die Ordnung von Seele und Leib Barth versucht die Struktur des menschlichen Daseins nur an Jesus Christus abzulesen und stellt sich nun die Frage, wie er sein Dasein vollzieht, wie das menschliche Leben in actu durch Gott bestimmt wird. Hatte Barth diese Frage im Blick auf den Begriff vom wirklichen Menschen (§44) und in der Konzeption der Mitmenschlichkeit (§45) nicht recht in den Blick gefasst, so kommt er nun – wohl aufgrund des biblischen Zeugnisses vom Geist des Schöpfers (Gen 2,7 u.a.) – zu nichts weniger als einer pneumatologischen Reformulierung der ontologischen Bestimmung und Bestimmtheit des Menschen: „Der Mensch ist, indem er Geist hat. Daß er Geist hat, bedeutet aber: daß er als Seele seines Leibes von Gott begründet, konstituiert und erhalten wird.“268 Die Ordnung von Seele und Leib wird durch den Geist ermöglicht und getragen. Ist die Struktur des Daseins – und im Sinne Barths auch des Seins – nur durch den Aufweis einer christologischen Analogie als geordnetes Verhältnis zu erkennen, so lässt sie sich nur in der Kraft des Geistes ‚lebendig‘ denken. Barth macht zunächst im Blick auf die menschliche Person Jesu geltend, dass nach dem biblischen Zeugnis eine einzigartige Beziehung zum Heiligen Geist bestünde. Auf Jesus ruht der Geist, er hat ihn dauernd und ganz, wird also nicht nur immer wieder von ihm belebt, sondern lebt im Geist und repräsentiert die Fülle des Lebens. Jesus „ist der Mensch, dem Gottes schöpferische Zuwendung von Hause aus und ursprünglich und damit auch definitiv widerfahren ist, der schon in seiner Existenz als Seele und Leib von dieser Zuwendung herkommt“.269 Um die Bedeutung Jesu als Geistträ266

Barth könnte unter der Überschrift der Analogien der Proportion ein ganzes Füllhorn solcher ausschütten. Er nennt hier (ebd. 412) in schlichter Aufzählung die von Himmel und Erde, Rechtfertigung und Heiligung, Evangelium und Gesetz, Glaube und Werke, Predigt und Sakrament, das bekennende Wort und die bekenntnismäßige Haltung und Aktion, Kirche und Staat. Diese Aufzählung regt aber nicht nur zum Nachdenken an, sondern stimmt auch bedenklich, welchen Wert eine solche Analogie noch haben kann, wenn sie als bloße Hilfe zur Strukturierung bestimmter Topoi dienen kann. Hat sie ontologische oder lediglich heuristische Qualität? 267 Ebd., 413. 268 Ebd., 414. 269 Ebd., 402.

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ger zu verstehen, ist an die oben erwähnten trinitätstheologischen Aussagen zu erinnern.270 Gott, dem Vater, als göttliches Ich, steht Gott, der Sohn, als sein Du, im Heiligen Geist gegenüber. Der Heilige Geist ist damit „das aus beiden gemeinsam hervorgehende und ihnen beiden wesensgleiche Prinzip ihrer gegenseitigen Liebe […] und ihrer Beziehung.“271 Die Beziehungsbzw. Ich-Du-Aussagen werden dadurch gleichsam pneumatologisch flankiert und in dem Differenz- und Einheitsprinzip des Geistes unterschieden, aber auch zusammengeführt. Der Vater und der Sohn sind in der Kraft des Geistes aufeinander bezogen, er macht ihre Beziehung möglich und wirklich. Der Geist ist darüber hinaus aber auch das göttliche Lebens- und Beziehungsprinzip überhaupt, denn im Geist lebt nicht nur Gott selbst, sondern auch Gott mit seinem Geschöpf. Im Heiligen Geist wird „Gott für die Kreatur, wird die Kreatur für Gott möglich und tragbar.“272 Diese Aussage ist zunächst wieder ganz christologisch aufzufassen, denn der erwählte Mensch Jesus ist das (erste) Geschöpf, das in Gott bzw. im Heiligen Geist präexistiert. Jesus Christus existiert damit – urbildlich und bestimmend – das Verhältnis von Gott und Mensch im Heiligen Geist. Von dort aus gilt aber die pneumatologische Um- bzw. Reformulierung für alle Analogien: In der Diktion Barths formiert der Geist somit auch das Dasein und Sosein des Menschen als Seele und Leib – ein Verhältnis, das eben nur im Geist wirklich und lebendig sein kann.273 Es lässt sich eine gewisse Doppelung oder – schwächer formuliert – eine Parallelität von pneumatologischen und analogisch-christologischen Aussagen hier nun nicht übersehen. Warum Barth aber erst jetzt pneumatologisch redet, abgesehen von der Veranlassung zur Erörterung der terminologischen Trias: Geist – Seele – Leib, lässt sich nicht klar erheben. Die Bestimmung des Menschen durch Jesus Christus, als Gottes Geschichte mit den Menschen, und das Sein in der, ebenfalls als Geschichte gedachten, Begegnung mit dem Mitmenschen hätte doch schon durch eine pneumatologische Erörterung präzisiert werden können. So dringt Barth erst hier, im Blick auf die Beschaffenheit des menschlichen Seins, zu anderen – nicht gerade ‚barthianisch‘ wirkenden – Formulierungen durch.274 Gott bestimmt den Menschen, indem er ihm als frei und „lebendig handelnder Urgrund“ 270

Abschnitt 3.2.2. KD III/1, 59. 272 Ebd., 60. 273 Warum Barth allerdings erst hier pneumatologisch redet, bleibt unverständlich, es sei denn, dass die Pneumatologie dem engen Analogieschema aufhelfen muss. Dort, wo nicht mehr im analogischen Schema geredet werden kann, muss pneumatologisch weitergeredet werden. Obst (Veni Creator Spiritus, 381) spricht – im Blick auf die menschliche Ich-Du-Beziehung und vom Gegenüber von Mann und Frau – zu Recht von einem „pneumatologischen Defizit“. 274 Zitate im Folgenden: KD III/2, 419.421.424f.436. 271

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gegenwärtig ist. Barth nimmt den Begriff „Leben“275 auf und versteht Gott als den „Lebendigmacher“ und als die „Quelle des Lebens“. Gott ist in pneumatologischer Perspektive nun nicht mehr nur für uns und mit uns, sondern auch „in uns“. Freilich betont Barth die absolute Differenz zwischen dem als Seele und Leib belebten Menschen und dem ihn belebenden göttlichen Geist.276 Nur von Jesus kann behauptet werden, er habe den Geist und sei ganz in ihm, ist doch gerade das Besondere und Einmalige seiner Person, dass Gott im Geist mit ihm identisch ist. Dagegen kommt der Geist dem Menschen als solchem nur von außen, kontingent und aus dem freien Willen Gottes zu. Im eigentlichen Sinne hat deshalb der Mensch den Geist nicht, sondern der Geist hat ihn und bestimmt ihn, ohne von ihm lokalisierbar und greifbar zu sein (vgl. Joh 3,8). Der Geist ist die Wirkung Gottes auf sein Geschöpf, und speziell die Bewegung Gottes zum Menschen hin, so dass er nicht (mehr) als anthropologisches Phänomen betrachtet werden kann und in einem Trichotomismus der Seele und dem Leib bloß über- oder gar zugeordnet werden könnte. Der Geist ist Gott und nicht ein Teil des Geschöpfs; es ist gnädiges göttliches Wirken, dass er den Menschen belebt und erneuert. Den Geistbegriff Hegels (der Mensch als „endlicher Geist“) muss Barth deshalb ablehnen, denn hier findet seiner Meinung nach eine Identifizierung von Gott und Mensch statt – Pneumatologie geht in Anthropologie über und umgekehrt. Vielmehr ist der Mensch Seele und Leib nicht als, sondern durch den Geist. Die Einhauchung der Ruach (Gen 2,7 u.a.) als von der eigentlichen Schöpfung des Menschen unterschiedener Akt betont das freie Handeln Gottes; in Analogie dazu wird jeder Atemzug des Menschen zum Geschenk. Der Geist Gottes hat nun aber nicht nur im Blick auf den Menschen, sondern auch auf das Tier die Seele und den Leib belebende Funktion.277 Geist haben heißt zunächst nur, am Leben sein zu dürfen. Im Falle des Menschen trifft aber der Geist auf eine vom Tier verschiedene Struktur und Beschaffenheit. Das Verhältnis von Seele und Leib ist hier ja dem Vorbild Jesu nachgebildet und durch ihn bestimmt, so dass die Gemeinsamkeiten mit dem Tier nur soweit behauptet werden können, wie allgemein vom 275

Vgl. hierzu etwa Jürgen Moltmann, Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991. Moltmann lehnt sich an die Lebensphilosophie etwa eines Henri Bergson, mit dessen Begriff des élan vital (97), an und spricht im Blick auf den Geist von der „immanenten Transzendenz“ (47 u.a.). 276 Vgl. hierzu besonders: Karl Barth/Heinrich Barth, Zur Lehre vom Heiligen Geist, Beiheft 1, in: ZZ, 1930. 277 Barth scheut sich übrigens nicht davor, von der Seele des Tieres zu sprechen, konstatiert allerdings die Begrenztheit des menschlichen Erkennens in dieser Frage: „..., daß wir die Art ihres Lebens, ihrer Seelen, indem wir ihnen solche nicht abstreiten können, doch nicht zu verstehen, sondern bestenfalls nur zu ahnen wissen“ (432).

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Geistwirken gesprochen werden kann. Barth fasst das in den plakativen Satz: „Menschen und Tiere können geboren, aber nur Menschen können auch getauft werden.“278 Nur weil der Mensch der direkte Gegenstand nicht nur des Geistwirkens, sondern des Handelns Gottes in Jesus Christus ist, kann er in seinem Sein und Sosein erkannt werden. Die Pneumatologie hat also in der analogischen Christologie eine klare Grenze und ihr Kriterium. Ohne diese Bestimmung wäre es auch nicht möglich, das besondere Sein des Menschen in Augenschein zu nehmen. Denn nur aus der christologischen Analogie lässt sich folgern, dass der Geist im Fall des Menschen auf eine den Leib bestimmende Seele trifft. Der Geist ist zwar „das Prinzip, das den Menschen zum Subjekt macht“279, allerdings nur dadurch, dass er auf eine im Sein Jesu vorgebildete Struktur trifft. Der Geist macht den Menschen zum Subjekt, indem er „an und in der Seele“ – als das apriorische Element der Zuwendung Gottes zum Menschen – wirkt und nur a posteriori an und in dem Leib. Pneumatologie und analogische Christologie sind nach Barth also klar zu unterscheiden, dann aber umso konsequenter aufeinander zu beziehen. Festzuhalten ist hier nun, dass Barths Anthropologie durch seine pneumatologischen Ausführungen einen belebenden Impuls bekommen. Die Starrheit des Analogieprinzips scheint dadurch eigentümlich gebrochen, ohne dass sich Barth davon distanzieren muss. Die Anschaulichkeit und Plastizität biblischer Anthropologie, etwa im Bild des Einhauchens des Lebensatems, tut Barths Schematismus gut, bezeugt aber erneut die Notwendigkeit, das Analogieprinzip zu ergänzen, ‚ihm gleichfalls Leben einzuhauchen‘. Dass gerade im Blick auf das Selbstverhältnis die Pneumatologie zum Zuge kommt, könnte damit zusammenhängen, dass sich das Analogieprinzip nur recht schwer durchhalten lässt, wenn es um zwei nichtpersonale Relate (Ich und Selbst) geht. Zudem entzieht sich die Analyse des Selbstverhältnisses dem Blick des theologischen Beobachters, hier befindet er sich mitten in der ‚Sphäre der Verborgenheit‘. Der Bezug zum Geist allerdings löst noch nicht das Problem – der detaillierten Konzeption der Beziehung von Ich und Selbst, von Leib, Seele und Geist. Und so bleibt letztlich das Verhältnis des göttlichen Geistes zum menschlichen Geist, zu seiner Ratio im Dunklen. In all dem fühlt sich Barth allerdings nicht zu einem Abrücken vom Schema der Analogie genötigt oder gar zu einer Öffnung gegenüber humanwissenschaftlichen, etwa subjektivitätsphilosophischen oder psychologischen Einsichten.

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KD III/2, 432. Ebd., 437.

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3.3.2.3 Psychosomatik und Subjektivität Mit der theologischen Besetzung des Geistbegriffs und dessen Auszug aus der materialen Anthropologie hält Barth die Bestimmung des Menschen durch Gott fest, von der her erst christliche Anthropologie möglich wird. Ohne den Geist wäre der Mensch nicht, bliebe er Staub vom Staube. Dennoch, so wenig die Beschaffenheit des Menschen mit dem Geist Gottes zu identifizieren ist, so sehr muss es aber doch eine Analogie geben, die seinem Wirken entspricht; ein Verhältnis, das gleichsam wie ein Resonanzraum die Schwingungen des Geistes aufnehmen kann. Wie wir sahen führte Barth dazu relativ unvermittelt das Verhältnis von Seele und Leib ein, indem er sich auf die Tradition, vor allem aber auf das biblische Zeugnis von Jesus Christus bezog.280 Damit traf Barth einige wichtige Grundentscheidungen: Zum einen handelt es sich im Fall der Beschaffenheit des Menschen um ein Verhältnis und nicht um eine substantielle Bestimmung. Es geht nicht um „Teile“ oder Substanzen des Menschen, die in einem losen Zueinander oder Nebeneinander bestehen, sondern es geht auch hier um Bezogensein und Beziehung, allerdings nicht um das Gegenübersein eines (echten) „Ich“s und eines „Du“s, sondern um die interne Wirklichkeit der Verobjektivierung des Selbst. Für Barth ist dieses innere Verhältnis eine Subjekt-ObjektBeziehung. Der Mensch als Ich kann sich selbst betrachten, ja noch grundlegender, er ist sich, dem Subjekt, als Objekt gegeben; er ist sich selbst bewusst, hat Bewusstsein. Diese Struktur kann er immer neu vollziehen, d.h. eigentlich kommt dem Menschen nur als solcher aktueller Vollzug Bewusstsein zu: Es gehört zu mir, dass ich „fortwährend auch im Akt des Selbstbewußtwerdens, und also in dieser Rückwendung begriffen bin.“281 280 Vgl. zur Kritik dieses Ansatzes Karl Barths bei Hummel, Theologische Anthropologie, 35: „Ob das Wissen davon (sc. der genau differenzierten Relation von Seele und Leib) dem Menschsein Jesu entspringt, wie es der Weg von der Christologie zur Anthropologie verlangt, oder doch dem allgemeinen Menschsein, was den besagten Weg in Frage stellt, teilt Barth aus einsichtigen Gründen nicht mit“. Etwas später spricht Hummel von dem unauslöschbaren „Verdacht“, dass „Barth hier stillschweigend sein eigenes, unmittelbares Selbstverständnis dem Weg von der Christologie zur Anthropologie voraussetzt“ (37). 281 KD III/2, 450. Zum Selbstverhältnis wäre insbesondere nochmals Ricoeurs Studie, Selbst als ein Anderer, bes. 9–38 heranzuziehen. Eine Exegese des Titels führt hier weiter, denn indem die – vorsichtiger formuliert – Ich-Instanz sich auf sich selbst bezieht, hat sie sich zunächst von sich selbst unterschieden und als „Anderen“, Fremden gegenübergestellt. Die Substantivierung des „sich selbst“ [franz.: Soi-même] zum Selbst darf allerdings nicht verschleiern, dass es sich um eine Aneinanderreihung von Akten des Selbstbezugs handelt, die nicht einfach in ein – fast schon wieder – substantiell gedachtes Selbst aufgehoben werden dürfen. Ricoeur und auch Barth meinen überdies, dass dieses „sich-selbst“ einerseits die „präreflexive“ Struktur des Daseins bezeichnet, die aber gleichsam zum Bewusstwerden hin offen erscheint. Im Deutschen lässt sich daraufhin der Begriff „Selbstbewusstsein“ in seiner merkwürdigen Doppelbedeutung verstehen: Mit Selbstbewusstsein wird einerseits – in der philosophischen Tradition – der präreflexive Selbstbezug bezeichnet, andererseits kann er aber auch eine Bezeichnung für eine charakterliche Eigenart bedeuten, dass jemand ‚selbstbewusst‘, d.h. eingedenk seiner selbst, insbesondere der eigenen Stärken auftritt.

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Zum anderen macht Barth deutlich, dass dieses Selbstverhältnis zunächst eine Fähigkeit und ein Akt der Seele ist. Die „Seele ist Leben, selbstständiges Leben [...] Aktuosität, Eigenbewegung, Eigentätigkeit, Eigengestaltung“; sie ist dort, „wo ein bestimmtes Subjekt lebendig ist.“282 Der Geist findet damit sein direktes Gegenüber in der Seele, die er von innen erfüllt; der Geist als Gottesverhältnis trägt und verwirklicht die Seele als Selbstverhältnis. Barth betont mit der Priorisierung der Seele als Kontaktpunkt zum Geist also die Rationalität und Geistigkeit des Menschen, insofern er sie zunächst von seiner Leiblichkeit ab- und dadurch hervorhebt. Einer Irrationalität kann Barth ja auf gar keinen Fall das Wort reden, zieht doch die Rationalität Gottes die des Menschen nach sich. Die Differenz von Seele und Leib darf deshalb nicht eingeebnet werden und das Verhältnis von Seele und Leib muss damit als eines der Über- und Unterordnung formuliert werden.283 Zum dritten schärft Barth aber – fast noch im selben Atemzug – ein, dass die Fähigkeit meiner Seele zur Rückwendung auf sich/mich selbst daran gebunden ist, „dass ich auch Körper bin und indem ich von ihr Gebrauch mache und also jene Rückwendung vollziehe, vollziehe ich notwendig auch einen körperlichen Akt.“284 In ihrer Fähigkeit zur Rückwendung ist die Seele damit aber wiederum auf den Leib, d.h. zunächst den Körper, bezogen. Das Selbstverhältnis des Menschen ist zwar in erster Linie eine Struktur der Seele, die aber nur durch und in der Struktur des Körpers, als „räumlich-stoffliches Beziehungssystem“285, möglich ist. Indem die Seele den Körper erfüllt, als Eigenbewegung in ihm in Erscheinung tritt, wird der Körper zum Leib. Die Seele ist also nur im Gegenüber zum Leib, das heißt, als die ihn belebende Instanz zu verstehen. Ebenso ist der Leib nur im Verhältnis zur Seele, als von ihr belebter und ihrem Leben raumgebender, zu bestimmen. Barth schärft damit – insbesondere im Blick auf den alttestamentlichen Begriff der „nephesch“ – die Zusammengehörigkeit von Seele und Leib ein. Es geht ihm um die biblisch-anthropologisch Einsicht, dass der Mensch als psychosomatische Einheit existiert. Der Mensch ist nicht reines Denken oder reine Materie, er ist nur im Verhältnis von Denken und Materie, Innen und Außen, von Seele und Leib. 282

Ebd., 449. Hummel macht zu recht auf die Schattenseite dieser – in erster Linie – Bewusstseinstheoretischen Bestimmungen aufmerksam. Indem Barth von einem Primat der Seele spreche, vollziehe er „in Wahrheit die Identifikation von Seele und Ich“ (Theologische Anthropologie, 36). Der Mensch werde ausschließlich „im Horizont des Bewußtseins beschrieben“ (ebd.). Hummel ist Recht zu geben, insofern das Grundproblem darin besteht, dass sich Barth – durch diese aus dem Analogieschema resultierenden Festlegung und seiner Abstinenz im Blick auf die humanwissenschaftliche Forschung – etwa dem Phänomen der Psyche, aber auch dem Phänomen des Leibes, nicht wirklich nähern kann. Psychoanalytische Einsichten, Bezüge etwa auf Freud, Jung etc. fallen völlig aus. 284 KD III/2, 450. 285 Ebd., 452. 283

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Barth wendet sich von einer substantiellen Seelenmetaphysik ab und einer relationalen Auffassung des menschlichen Daseins zu; er betont die Differenz, besonders aber die Beziehung der psychosomatischen Relate. Warum er aber für seine Position keinerlei konvergente Aussagen der Humanwissenschaften bemüht, wird nicht recht einsichtig. Weder im Blick auf das Selbstverhältnis des Menschen, seine Eigentätigkeit als Seele und den Begriff des Leibes, noch im Blick auf die psychosomatische Forschung kennt bzw. erwähnt Barth ‚Weisere unter den Weisen‘, wie er es in der Frage der Sozialität tun konnte.286 Hingegen listet er in einem langen apologetischen Exkurs die Positionen seiner Gegner auf. Er wendet sich gegen den a) Dualismus von Seele und Leib, der seit Plato und Aristoteles leider auch die christliche Anthropologie – im Widerspruch zum biblischen Zeugnis – geprägt und bestimmt habe. Der Charakter und das Ergebnis dieser Anthropologie ist im Allgemeinen gekennzeichnet durch eine Entfernung von Seele und Leib […], in der in Wahrheit beide nicht nur zu Abstraktionen, sondern wirklich zu zwei ‚koexistierenden‘ Gespenstern wurden.287

Aber auch die Gegenbewegung zum Dualismus, zunächst b) der materialistische Monismus, wird von Barth kritisiert. Die Körperlichkeit werde hier überbewertet und die Beschaffenheit des Menschen, insbesondere das Bewusstsein, auf Gehirnvorgänge und Nervenprozesse reduziert. Barth bezieht sich insbesondere auf die Position Ernst Haeckels288 und den historischen Materialismus des Marxismus. Dabei versucht er zu zeigen, dass beide Formen des Materialismus, der naturwissenschaftliche, wie der gesellschaftstheoretische gerade in ihrer Verquickung so verheerend wirken konnten. Die christliche Anthropologie habe aber, indem sie sich jenem „abstrakten Dualismus von Seele und Leib verschrieben“ hatte, „gegen den Aufstieg jenes materialistischen Menschenbildes [...] nichts tun können.“289 Der Übergang ‚vom Sein zum Bewusstsein‘ in der nachidealistischen Philosophie traf damit auch die christliche Anthropologie im Mark. Deren Wehrlosigkeit und die der idealistischen Philosophie selbst ist dann aber der beste Beleg für die Problematik des c) monistischen Spiritualismus’, der die Seele und das Geistige als einzige Substanz menschlicher Wirklichkeit behauptet. Das Körperliche und Materiale müsse nach dessen Ansicht immer aufs Psychologische und Geistige hin durchschaut werden. Auch diese 286

Es findet sich auch hier kein Bezug etwa zu Helmuth Plessner, Max Scheler oder – im Blick auf die Psychosomatik – Victor von Weizsäcker. 287 KD III/2, 458 288 Vgl. hierzu die Ausführungen in 1.3.3 und 1.3.4 – auch im Blick auf die Verbindung zu marxistischen Auffassungen. 289 Ebd., 467.

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Ansicht hält Barth für kritikwürdig, denn macht der „Materialismus den Menschen mit seiner Leugnung der Seele subjektlos [...], so macht ihn der Spiritualismus mit seiner Leugnung des Leibes objektlos.“290 Barth setzt dem Dualismus und den beiden Spielformen des Monismus einen – auf dem biblischen Zeugnis von der durch den Geist belebten Leibseele beruhenden – „konkreten Monismus“ entgegen. Der wirkliche Mensch lebt als konkrete Einheit von Seele und Leib und das heißt, wenn sich der in der Gottesbeziehung selbst gegebene Mensch auf sich selbst zurückwendet, dann bekommt er sich sofort als Einheit in der Verschiedenheit von Seele und Leib zu Gesicht. In Analogie zu Barths Grundsatz von der Mitmenschlichkeit könnte formuliert werden: Entweder sieht sich der Mensch als Identität von Seele und Leib oder er sieht sich gar nicht. 3.3.2.4 Der Mensch als vernünftiges und handelndes Wesen Barth hat damit die Subjektivität des wirklichen Menschen in den Blick genommen. Der Mensch ist in der Einheit von Seele und Leib ein Subjekt und ein Wesen mit Selbstbewusstsein, insofern es sich Gott und dem Mitmenschen gegenüber setzt. Barth bestand ja darauf (vgl. §44), dass der Mensch nur im Vollzug des Sich-selbst-Setzens ist bzw. der wirkliche Mensch ist. Nun ist aber noch einmal genauer zu fragen, wie er als ein solcher sein kann; es geht um die Möglichkeit und Potentialität des Daseins für die Wirklichkeit des Seins. In der Analogie von Schöpfung und Bund geht Barth im Blick auf die Subjektivität des Menschen gleichsam zur Schöpfung zurück. Die behauptete Differenz und die Einheit von Seele und Leib muss sich deshalb auch im näheren Blick auf das Subjektsein des Menschen finden lassen. Der Mensch lebt durch den Geist, er ist im Worte Gottes und vernimmt Gott. Wenn er vernimmt und nur dadurch überhaupt ist, muss er aber auch zum Vernehmen fähig sein. Vernehmen heißt aber: „ein Anderes als solches in sein Selbstbewußtsein aufnehmen.“291 Der Mensch ist also nicht nur des Selbstbewusstseins, sondern auch des Bewusstseins von Anderem fähig, genauer, nur aufgrund dieser Fähigkeit und Wirklichkeit, dass Anderes dem 290

Ebd., 470. Hier ist allerdings im Blick auf Barths Argumentation ein Problem anzuzeigen. Barth beschreibt einerseits das Selbstverhältnis bzw. die Rückwendung als Fähigkeit der Seele, die freilich körperlich fundiert, ermöglicht und in gewisser Weise ‚abgebildet‘ wird: „ein seelischer Akt, der einen körperlichen unmittelbar in sich schließt“ (451). Andererseits – wie im obigen Zitat – wird das Selbstverhältnis aber als das von Subjekt – also der Seele – und Objekt – nämlich des Leibes – aufgefasst, so dass es auf die Vergegenständlichung des Selbst als Körper reduziert erscheint. Das wiederum scheint von Barth aber nicht intendiert zu sein, insofern er ja gerade zeigen will, dass der Mensch, der sich auf sich selbst bezieht oder rückwendet, sich gerade als Seele und Leib erfasst und erkennen wird. 291 Ebd., 479.

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Menschen gegenübertritt und dieser sich dazu in Beziehung setzen kann, hat der Mensch dann auch Selbstbewusstsein. Barth bringt hier also – sogar auf dem Wege der Etymologie – seinen Ansatz beim wirklichen Menschen zur Geltung, denn der Gott vernehmende Mensch hat Vernunft.292 Aus der Wirklichkeit des Vernehmens Gottes resultiert die geschöpfliche Fähigkeit des Vernehmens, nur so ist von der Vernunftnatur zu sprechen. Ähnlich könnte ungeschützt formuliert werden: aus dem Gottesbewusstsein resultiert das Selbstbewusstsein des Menschen. Das ist jedenfalls die Ordnung: das Selbstverhältnis folgt aus dem Gottesverhältnis und – abgestuft davon – aus der Sozialität des Menschen. Der einheitliche Akt des Vernehmens ist dann aber in Analogie zur Differenz von Seele und Leib wiederum zu differenzieren. Das Vernehmen besteht aus dem Wahrnehmen und dem Denken. Wiewohl beides nicht einfach auf Leib und Seele zu verteilen ist, so ist doch dem Leib im Akt des Vernehmens die Wahrnehmung und der Seele das Denken zuzuordnen. Das Außen der Gottesbegegnung, die sinnliche Perzeption des Gegenübers fällt in den Bereich dessen, was Barth den Leib nennt, während der innerliche Akt, das Kräftigwerden der Begegnung und die gedankliche Durchdringung die Sache der Seele ist. Das Vernehmen kommt deshalb erst in der Seele, im Inneren des Menschen, zum Ziel. Dem Vernehmen, als Rezeptivität, stellt Barth das Tätigsein, als Spontaneität, zur Seite. Gott und dann auch der Mitmensch werden nicht nur als Gegenüber vernommen, sondern sie provozieren auch das Handeln, das in der Beziehung als Antworten des Menschen verstanden werden muss. Der Mensch wird in die Tat herausgerufen und wird darin aktiv als Leibseele. Barth differenziert nun wiederum auch dieses Vermögen, indem er das Begehren und das Wollen unterscheidet. Das Begehren lässt sich nun zunächst dem Leib zuordnen, denn der „leibliche Trieb [...] ist gewissermaßen das notwendige Material meines Begehrens.“293 Der Trieb, als Lust oder Unlust, ist gleichsam das Gesetz des Leibes, das der Mensch mit den Tieren gemein hat. Das Begehren geht aber über das triebhafte Verhalten hinaus, insofern es eine Bestimmung des Menschen als Subjekt ist. Der Mensch kann sich seinem Trieb gegenüber distanzieren und die Kraft des Begehrens durch das Wollen in Bahnen lenken.294 292

Vgl. ebd., 478–487; KD III/4, 80 und im Rahmen der Christologie KD IV/2, 349. Barth (KD III/2, 503) verweist aber auf die ‚Gefährdung‘ des Vernunftbegriffs, dass dieser nämlich zu einseitig das Denkvermögen betonen könnte und in Analogie zur falschen Überordnung der Seele zum Stehen kommt. Dahingegen will er den deutschen Begriff durch den lateinischen ratio und den griechischen logos, als „sinnhafte Ordnung“ von Seele und Leib, ergänzt und korrigiert wissen. Das Vernehmen Gottes ist eine Sache des ‚ganzen Menschen‘. Vgl. zur Etymologie etwa Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. von Elmar Seebold, Berlin 231999, 859. 293 KD III/2, 489. 294 Die Funktion der Triebhemmung wird hier also der Seele zugesprochen, damit aber nicht als direkter Beleg für den „Geist“ des Menschen gewertet. Barths Opposition zum idealistischen Geist-

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Im Fall des Menschen wird der Trieb durch die Anwesenheit der Seele zum Begehren. Das Wollen oder der Wille ist damit der Seele zuzuordnen, die den Menschen befähigt, (sich) zu entscheiden und sein Handeln auszurichten. Auch hier ist also ein Gefälle hin zur Seele, zur rationalen, kognitiven inneren Kraft des Menschen gegeben. Die Seele, d.h. der Mensch in seinem Wollen, kann zum einen nur durch den Leib tätig werden, insofern er das Mittel des Handelns ist, zum anderen aber spitzt sie das Begehren, das nicht unbedingt gegen den Willen des Menschen gerichtet sein muss, zu und macht die Tat eindeutig. Der Mensch ist aber nur in der Ganzheit der Dimensionen des Begehrens und des Wollens wirklich, insofern jedes Wollen Anteile des Begehrens und umgekehrt hat.295 In der Bibel wird der (wirkliche) Mensch im Begehren wie im Wollen – und das heißt in der Liebe – Gott gegenübergestellt. Er ist aus Gottes Liebe zur Liebe Gottes geschaffen. Der Mensch sehnt sich nach Gott, er begehrt ihn und will ihn; in der Liebe ist der Mensch tätig. Barths Beschreibung der Subjektivität des Menschen, in ihren beiden Dimensionen von Rezeptivität und Spontaneität, erschließt sich ganz aus der Erörterung der Gottesbeziehung. Es geht um das Ich, dem sowohl das göttliche als auch das mitmenschliche Du gegenüber stehen und das dann auch vom eigenen Selbst differenziert, aber auch auf es bezogen ist. Der Umfang der Aussagen über die Beschaffenheit des Menschen ergibt sich aus dieser relationalen, dualen Perspektive. Was aber nicht im Rahmen dieses Schemas zur Frage wird, findet dann auch keine Erwähnung. So wird eigentlich kaum etwas über die Gefühlswelt296 des Menschen oder seine Emotionen gesagt. Genauso fallen weitere wichtige anthropologische Themen aus wie zum Beispiel: das Gewissen, die Phantasie oder das Un- und Unterbewusste.297 Auch das Phänomen des menschlichen Willens, das spätestens seit der Reformation eines der zentralen anthropologischen Themen darstellt, hätte hier detaillierter behandelt werden können, zumindest aber eine klarere Beschreibung des Selbstbewusstseins und des Willens gegeben begriff wird hier erneut deutlich, damit allerdings auch die Unschärfe im Verhältnis von menschlichem Geist und Seele. Vgl. dagegen Scheler, Die Stellung des Menschen, 34–36 und dann bes. 36–49. 295 Der konkrete Monismus Barths kann auch als Polemik etwa gegen die Metaphysik und Ethik des reinen Willens bei Kant gelesen werden (vgl. hierzu Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, bes. 42). Barth hat nicht das Interesse, den Willen vom Begehren, vom Trieb und den Neigungen etc. zu reinigen, um ihn als quasi göttliches Prinzip der anthropologischen Unreinheit zu entziehen. Es ist eben nicht der reine Wille, der einzig und allein gut ist und sich als kategorischer Imperativ zum Menschen hin öffnet, sondern es ist Gott, der in seinen Geboten und Verboten das Menschsein kategorisch bestimmt und zum Handeln ausrichtet (vgl. KD III/2, 507!). 296 Vgl. dagegen Pannenberg (Anthropologie, 237ff), der durch seine Orientierung am Gefühlsbegriff Schleiermachers hier ganz andere Akzente setzt. 297 Vgl. oben 3.3.2.3 und erneut Hummel (Theologische Anthropologie, 39), der im Blick auf Barths Anthropologie resümiert: „So bleibt der offene Horizont einer theologischen Lehre vom Menschen verschlossen.“

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werden können. Wie im Blick auf die Sozialität des Menschen die Frage nach größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen im Rahmen von KD/III offen bleibt, so bleibt es auch hier dem Leser überlassen, die ausgelassenen Themen als in die Barthsche Konzeption der Analogie integrierbare oder damit kollidierende zu betrachten. Das Schweigen kann unterschiedlich interpretiert werden. Barth beschließt jedenfalls seine Ausführungen zum Selbstverhältnis des Menschen mit einer letzten Affirmation der Relation von Leib und Seele: Versteht sich der Mensch in seinem durch Gott begründeten und geordneten Verhältnis zu Gott, dann kann er sich im Blick auf die zwei Momente seines Wesens, Seele und Leib, auf keinen Fall als doppeltes, auf jeden Fall nur als ein einfaches, als Seele mit seinem Leib, als Leib mit seiner Seele identisches Subjekt verstehen.298

Auch für die abschließende Formulierung dieses Grundsatzes ist nach Barth ein Bezug auf humanwissenschaftliche Parallelen nicht notwendig, ja irreführend, denn weder kann das Verhältnis als psychophysischer Parallelismus noch als psychophysische Wechselwirkung verstanden werden, in beiden Konzeptionen wäre seiner Meinung nach der Ausgangspunkt die künstliche Trennung der beiden Dimensionen des Menschen. Barth lässt sich nicht darauf ein, die Einheit des ganzen Menschen mit Hilfe der Humanwissenschaften zu ergründen und näher zu beschreiben. Er will sich auch hier nicht von den Tatsachen distanzieren, aber „von den einseitigen wie von den vermittelnden Interpretationen“, die den einfachen Blick auf die Subjektivität des wirklichen Menschen nur verstellen können. Die Belehrung in der Frage nach der Beschaffenheit des Menschen musste wieder auf dem Hintergrund des biblischen Menschenbildes geschehen, „das des sog. primitiven Menschen.“299 Der spricht dann auch nicht von zwei separierten Wirklichkeiten, sondern von der einen Wirklichkeit des Herzens. Das Herz ist sowohl eine physische Instanz, ein leibliches Organ, als auch eine symbolisch-seelische Größe, die Bezeichnung für den anthropologischen Kontaktpunkt von Gott und Mensch. Hier ist der Mensch der ganze Mensch, denn hier wird auf die nach Leib und Seele differenzierbare aber einfache Wirklichkeit und Möglichkeit verwiesen, Gott zu lieben und den Nächsten wie sich selbst (Mk 12,29–31 par). So sympathisch aber diese Ausführungen zur Ganzheit des Menschen auch erscheinen, so bleibt doch der Eindruck, dass Barth die ideale Einheit des Phänomens Mensch nur benennt, nur postuliert und durch die Suprematie der Seele eine Bewusstseinstheoretische ‚Kopflastigkeit‘ in Kauf nimmt. Auf die Ebene der detaillierteren Diskussionen um das Verhältnis von Leib 298

KD III/2, 511. Ebd., 520 und zuvor 519. Vgl. hierzu insbesondere die Ausführung Wolffs, Anthropologie des AT, 68–95. 299

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und Seele begibt er sich nicht, und das Niveau heutiger „mind-brainDebatten“ erreicht er ebenfalls nicht. Man fragt sich dann aber, was nach Barth das Herz eigentlich ist und auch die Seele.300 Wie ist darüber hinaus der Leib des Menschen näher zu verstehen? Er gebraucht diese Begriffe ohne klare Definition und ordnet sie in einer Relation an, die durch den göttlichen Geist von außen getragen wird. Auch hier bleibt aber der Eindruck eines anthropologischen Schematismus und eines theologischen Gestaltungswillens, der die Phänomene als solche vernachlässigt, da er am systematischen Zusammenhang interessiert ist und auf der Metaebene verharrt. Barth hätte sich hier den Phänomenen wirklich öffnen müssen und so auch den humanwissenschaftlichen Einsichten und Diskursen, um etwas Konkreteres sagen zu können. Möglicherweise ist dazu aber der Ansatz beim Ideal des wirklichen Menschen nicht geeignet, ergeben sich doch echte Einblicke ins Menschliche häufig gerade dort, wo dieses in Frage steht, wo sich das Abgründige des Menschen auftut.301 3.3.3 Identität und Zeitlichkeit Mit der Erörterung der Zeitlichkeit des Menschen, durch die Barth die Frage nach der Beschaffenheit des Seins bzw. Daseins fortführt, fügt er den gewichtigen Schlussstein in den Bogen seiner Anthropologie ein. Die Taten Gottes brauchen Zeit, der wirkliche Mensch ist auf dem Weg, er verändert sich in der Beziehung zu Gott und zum Mitmenschen. Die synchrone Betrachtung der Natur des Menschen wird nun also in eine explizit diachrone überführt, eine Perspektive, die Barth zuvor nur angedeutet hatte. Barth stellt hier umfassend dar, wie der Mensch in und mit der Zeit lebt; er scheut sich 300 Das Problem im Bezug auf den Begriff der Seele bei Barth besteht darin, dass die Seele einerseits als natürliches Prinzip verstanden wird, insofern gerade auch die Tiere eine solche haben, andererseits aber ist die menschliche Seele mehr als das, da sie ja gerade das Vernehmen und die Vernunft möglich macht, also Medium der Anwesenheit des göttlichen Geistes im Menschen ist. Barth verzichtet – in Abgrenzung zum Idealismus – auf die Zwischeninstanz des ‚menschlichen Geistes‘, aber diese vakante Stelle muss die Seele dann doch besetzen. Als natürliches Prinzip aber ist die Seele nach Barth konsequenterweise sterblich, endlich. Das hat aber der sog. Ganz-tot-Anschauung geführt, die besagt, dass von einer postmortalen Kontinuität der Person allein im transzendenten göttlichen Geist, in der Erinnerung Gottes, die Rede sein könnte. Insofern hier aber in die Sphäre der Verborgenheit ausgegriffen wird, solle davon konsequent geschwiegen werden. Christof Gestrich (Was hülfe es dem Menschen. Zur Wiederherstellung der theologischen Rede von der Seele, Zeitzeichen 12/2006, 26–29) hat dagegen vor dem Hintergrund pastoraltheologischer Erwägungen zu recht klargestellt: „An der Kontinuitätsgewissheit hängt die Menschlichkeit: Ich muss hinaussehen können über Irdisches, und auch über den Tod, ohne mich zu verlieren“ (29). 301 Es ist dabei etwa an Freuds Psychoanalyse, wie auch Eriksons Identitätstheorie zu denken. In beiden Fällen ist die Pathologie der Entdeckungszusammenhang des Menschlichen.

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dabei übrigens nicht, in die Nähe existentialistischen Denkens zu kommen, geht es doch um das ‚Grundexistenzial‘, das damals – insbesondere bei den hoch aktuellen Denkern Martin Heidegger und Karl Jaspers – den Ansatzpunkt der Philosophie bildete. Mit dem Zeitproblem, insbesondere mit der Frage nach der Herkunft und der Endlichkeit des Menschen, verdichtet sich aber auch noch einmal die Frage nach der Identität des Menschen im engeren Sinne: Wie bleibt der Mensch identisch in der Zeit? Außerdem lässt sich die Frage „Was oder wer bin ich?“, unter dem Gesichtspunkt der Zeit umformulieren: „Was oder wer werde ich? Wo komme ich her? Wo gehe ich hin?“ In einem letzten Blick auf §56 der KD wird die Identitätsfrage konkretisiert und durch eine zusammenfassende Erörterung abgeschlossen.302 3.3.3.1 Der Herr der Zeit Mit der Frage nach der Zeit kommt Barth an ein Kernproblem des menschlichen Seins, aber auch an das seiner Dogmatik und Anthropologie heran.303 Wie wir sahen, wird die Geschichte des Menschen durch Jesus Christus bzw. dessen Geschichte bestimmt. Barth beginnt deshalb auch hier wieder mit der Christologie, um daraus die anthropologischen Aussagen zur Zeitlichkeit extrapolieren zu können. Dabei stößt er allerdings sofort auf ein zentrales Problem, wie nämlich Jesus das Sein des Menschen bestimmen kann, wenn seine irdische Geschichte längst schon Vergangenheit ist. Wie ist ‚der garstige Graben‘ zu überspringen und wie kann – weiterhin frei nach Lessing – eine zufällige Geschichtswahrheit zum Grund oder Beweis notwendiger Vernunftwahrheiten werden? Es ist nur möglich, wenn das Sein Jesu Christi transtemporal gedacht wird, wenn also Jesus nicht nur der 302

Die Notwendigkeit für diesen Seitenblick entspringt aus der Konzeption Barths. Barth erörtert in der Ethik der Schöpfungslehre (KD III/4) das Gebot Gottes, das den Menschen in seiner Natur in Anspruch nimmt, die Freiheit des Menschen in der Begrenzung durch Gott thematisiert. KD III/4 ist parallel zu KD III/2 konzipiert: Nach einem einleitenden Paragraphen erläutert Barth die Freiheit zum Handeln und Sein in und aufgrund der Gottesbeziehung [§44–§53], in der Beziehung zum Mitmenschen [§45–§54]; dann geht es um das schützenswerte Leben und Dasein [§46– §55] und zuletzt um das von Gott in Anspruch genommene, durch die Geburt und den Tod begrenzte Menschsein [§47–§56]. §56 ist ausführlich zu thematisieren, weil erst hier nicht mehr nur von der allgemeinen Natur des Menschen unter dem Gesichtspunkt der Zeit gehandelt wird, sondern gleichsam vom Gebot der Kultivierung der damit eröffneten Lebensgelegenheit. Wie Gott den Menschen in der Zeit anspricht, wie er ihn zum Handeln ruft und der Mensch so seine Identität bewährt und findet, wird hier thematisiert. 303 Frey (Zur theologischen Anthropologie Karl Barths, 47f) hat auf die unterschätzte Bedeutung der Zeit in der Anthropologie Barths hingewiesen: „Offenkundig ist in Abhandlungen zu Barths Anthropologie die konstitutive Bedeutung des Zeitthemas nicht genügend berücksichtigt worden.“ Diesem Mangel haben etwa Stock, Anthropologie der Verheißung, 191–233; bes. aber Gotthard Oblau, Gotteszeit und Menschenzeit. Eschatologie in der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths, München 1985; sowie Ingolf U. Dalferth, Gott und Zeit, in: ders., Gedeutete Gegenwart. Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungen der Zeit, Tübingen 1997, 233–267 abgeholfen.

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räumliche, sondern auch der zeitliche Nachbar ist, wenn er jedem Menschen gleichzeitig werden kann, als sein Zeitgenosse existiert. Barth begnügt sich freilich nicht damit, lediglich zu behaupten, dass Jesus in der Gleichzeitigkeit zum Menschen existiert und über die Zeit wie ein Herr verfügen kann, sondern er versucht gerade anhand der Lebensgeschichte des Menschen Jesus dessen Sein als Herr der Zeit und darüber dann im analogischen Rückschluss das Sein des Menschen in der Zeit plausibel zu machen. Nur im Blick auf die kontingente und vergangene Geschichte Jesu kann die immer aktuelle Geschichte Gottes mit den Menschen erkannt werden: „Schlechterdings Alles hängt für das ewige Heil aller Menschen daran, dass man diese Geschichte erzählen kann: ‚Es war einmal ...‘“304 Mit dieser Frage steht Barth gleichsam sofort mit beiden Beinen in der biblischen, insbesondere der neutestamentlichen Überlieferung305; zeugt diese doch gerade von dem Ereignis des Einbruchs der Ewigkeit in die Zeit bzw. von den Bemühungen der ersten Christen, in der kontingenten Geschichte des Menschen Jesus die ewige Geschichte Gottes mit den Menschen zu erkennen und dies zu verkündigen. Barth differenziert nun zunächst die Geschichte Jesu; der Vorgeschichte des Lebens Jesu folgt eine Nachgeschichte, insofern der Tod hier nicht das Ende, sondern eine – genau zu bestimmende – Grenze markiert. Freilich, beides gehört zur Geschichte Jesu Christi, seine Worte und Taten vor und nach Ostern, aber sein Sein erschließt sich erst von dieser Nachgeschichte her, denn angesichts des Lebens Jesu nach dem Tod wird die Frage nach dem Leben Jesu vor dem Tod in ein ganz neues Licht gerückt. Barth stellt für die Autoren des Neuen Testamentes – und in gewisser Weise für sich selbst – fest: „Es ist die Ostergeschichte […] das Axiom, von dem sie in ihrem ganzen Denken über diesen Menschen in seiner Zeit herkamen.“306 Die Ostergeschichte bzw. – genauer – das Ereignis der 40 tägigen Anwesenheit Jesu nach seinem Tod (vgl. Apg 1,3) ist es, was die Geschichte Jesu als die Geschichte für und mit dem Menschen erschließt; denn Jesus war „in dieser Zeit offenkundig in der Weise Gottes unter ih304

KD III/2, 529. Es muss ergänzt werden: und in der exegetischen Auseinandersetzung der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts. Barth bezieht sich auf Oscar Cullmann, Walter Georg Kümmel und besonders Rudolf Bultmann, dessen Programm der Entmythologisierung durch existentiale Interpretation – sogar der Auferstehung Jesu – er mit Einschränkung ablehnt. Die Ostergeschichte ist nicht allein die Glaubensgeschichte der ersten Christen und Jesus nicht gleichsam ins Kerygma hinein auferstanden, sondern Barth hält an der Faktizität des Geschehens fest, an der sinnfälligen, 40 tägigen Gegenwart des Auferstandenen in seiner Gemeinde. Bultmann ist für ihn ein Beispiel, „wie man einem allzu schneidigen Fertigsein mit dem Ganzen jenes mythischen Weltbildes als Theologe richtig zum Opfer fallen kann“ (ebd. 537). Vgl. dazu die Position Pannenbergs zur Auferstehung: Dogmatische Erwägungen zur Auferstehung Jesu (160–173); Die Auferstehung Jesu und die Zukunft des Menschen (174–187), in: Grundfragen systematischer Theologie, Bd.2, Göttingen 1980. 306 Ebd., 531. 305

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nen“307 und das wiederum heißt, die ersten Christen erkannten in der Begegnung mit dem Auferstandenen, dass in ihm Gott selbst gegenwärtig ist und war (vgl. 2Kor 5,19) – eben nicht nur in dieser Nachzeit, sondern auch schon vorher in seinem Leben und Sterben. Aus der Erfahrung der Diskontinuität der Existenzweisen Jesu vor und nach seinem Tod entspringt gerade die Erkenntnis der Kontinuität und Einheit seines Seins als wahrer Mensch und wahrer Gott in seiner ganzen Geschichte. Die Differenzierung zwischen einer bloß leiblichen Gegenwart des Menschen Jesus vor Ostern und einer bloß geistig-seelischen nach Ostern lehnt Barth deshalb konsequent ab. Jesus ist schon vor Ostern der Christus und bleibt auch nach Ostern der Mensch als Einheit von Seele und Leib – davon zeugen die Erscheinungsberichte, etwa die Begegnung mit dem Jünger Thomas (Joh 20,24–29). Für Barth hängt nun aber alles an dem einfachen, ganzheitlichen Verständnis des Schlüsselereignisses308 der 40 Tage nach Ostern, denn es ist die Offenbarungszeit, in der sich das Geheimnis öffnet, dass Jesus als Mensch in der Zeit identisch ist mit dem Herrn der Zeit. Es wird offengelegt und für die ersten Jünger – als zur direkten Begegnung mit dem Auferstandenen privilegierten (1Kor 15,5–8) – verständlich, dass Gott in der Lebensspanne des Jesus von Nazareth – und darüber hinaus – gegenwärtig ist und genauer in ihm für sie da ist. Barth formuliert im Blick auf Gottes Handeln in der ganzen Geschichte Jesu Christi eindrucksvoll: Es ist die Zeit, die er sich genommen und die er eben damit den Menschen aller Zeiten geschenkt hat, die Zeit, die er für uns haben wollte zur Begründung und Aufrichtung, zur Durchführung und Vollendung seines Bundes.309

Das analogische Prinzip wendet Barth hier also auf die Zeit an. Die Zeit Jesu Christi als Zeit der Gegenwart Gottes in der Welt ist das Urbild der Zeit überhaupt, seine Geschichte die Urgeschichte. Indem diese Zeit ‚einmal‘, das heißt als begrenzte Lebensspanne des Menschen Jesus in der Zeit war, wird diese in all ihren Abschnitten – ob vor oder nach Jesus – als Zeit von Gott für den Menschen gewürdigt. Die Zeit hat damit nur ein relatives Recht und eine relative Würde: „Es gibt keinen Gott Chronos.“310 Aber die Zeit ist damit als 307

Ebd., 537 u. 538. Barth beschränkt sich hier tatsächlich ganz auf die Bedeutung der 40 Tage zwischen Ostern und Himmelfahrt, d.h. der leiblichen Gegenwart des Auferstandenen, der nicht nur kurz und wortlos erscheint, sondern mit den Jüngern spricht – etwa in der Emmausperikope: Lk 24,13–35 – und sie übers Reich Gottes belehrt – nach Apg 1,3. Das Pfingstfest als Datum der Ausgießung des Geistes tritt dagegen zunächst in den Hintergrund. Barths Argumentation bleibt hier ganz im Rahmen der analogisch-christologischen Denkweise, d.h. auch hier bekundet sich ein pneumatologisches Defizit. 309 Ebd., 546. 310 Ebd., 547. Barth stellt zuvor (ebd., 546) aber auch fest: „...von dem in der Philosophie so mannigfach vertretenen Theorem, daß die Zeit gar nicht wirklich, sondern eine bloße Anschauungs308

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Lebens- und Existenzraum des Menschen wirklich gemacht; indem Gott in ihr handelt, ist sie zur Form des Daseins des Menschen geworden. Damit aber ist das irdische Leben Jesu gleichsam das „Tor“, durch das die Zeit Gottes in die Zeit eintrat und sich von dort aus als ewige Gegenwart der Zeit bzw. den Zeiten verband. Das war die Erkenntnis der ersten Jünger. Jesus ist der NXULR9der Herr über Mächte und Gewalten, und das heißt, er ist auch der Herr der Zeit, ist sie doch erfüllt von seiner Gegenwart. Barth blickt nun anhand der drei Zeitdimensionen auf die Geschichte Jesu, die jetzt als entgrenzte erscheint und sich nicht mehr nur auf die Vorund Nachgeschichte des vergangenen Lebens Jesu, zwischen Geburt und Himmelfahrt, beschränken lässt, sondern bis zu den absoluten Grenzen der Zeit überhaupt – Schöpfung und Vollendung – zurück- bzw. vorausreicht. Die Differenzierung der Zeit in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft resultiert für Barth dabei nicht aus einer philosophischen Anschauung der Zeit, aus dem gesunden Menschenverstand, sondern sie drängt sich biblisch und theologisch auf, entspringt also gleichsam aus dem Gottesverstand und geht von dort aus auf den des Menschen über. In dem gewichtigen Wort aus der Apokalypse (1,8): „‚Ich bin das Alpha und das Omega, spricht der Herr, Gott, der da ist, der da war und der da kommt, der Allherrscher‘“,311 das Barth auf Gott in concreto, in seiner Identität mit dem Menschen Jesus, bezieht, sieht er die vergangene Geschichte Jesu als die gegenwärtige Geschichte Gottes mit den Menschen qualifiziert. Jesus ist gerade darin der Herr der Zeit, dass er seine Lebensgeschichte vergegenwärtigen kann, sie also jedem Menschen, ob er vor, nach oder zur Zeit Jesu gelebt hat, zur Gegenwart werden lassen kann. Barth spricht hier von der Realpräsenz der Person Jesu Christi, die sich nicht nur auf die Sakramente beschränken lässt, sondern in der Kraft des Geistes sich den Herzen vermittelt. Es ist gerade Jesus selbst, der die Erinnerung an seine vergangene Geschichte bewirkt: Indem, auf das Tun der Gemeinde gesehen, Erinnerung an ihn und Überlieferung von ihm stattfindet, ist objektiv und faktisch er selber das handelnde Subjekt, das die Schranke des Gestern öffnet, ins Heute schreitet, sich selbst vergegenwärtigt, als Herr auf den Plan tritt.312

form, Idee oder Einbildung sei, werden wir im Blick darauf, daß Gott selbst sich einmal Zeit genommen und also die Zeit als wirklich behandelt hat, endgültig Abschied nehmen.“ Barths Zeitbegriff orientiert sich dann aber dennoch an den Kantschen Anschauungsformen von Raum und Zeit, nur dass er aufgrund seines Begriffs von Wirklichkeit, als von Gott wirklich Gemachtes, die subjektive Komponente der ‚Anschauung‘ nicht übernimmt. 311 Ebd., 558. 312 Ebd., 564. Barth differenziert übrigens nicht zwischen der Gegenwart der Person Jesu Christi und der Gegenwart seiner Geschichte bzw. der Geschichten. Wenn Jesus gegenwärtig ist, dann vermittelt sich die Bedeutung seines Seins als eines für den Menschen und das heißt als das

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Barth flankiert erst an diesem Punkt – in einem biblischen Exkurs – die analogisch-christologischen Aussagen durch pneumatologische. Die Gegenwart Jesu Christi ist nur als Gegenwart des Geistes zu denken. Er ist die Kraft der Erinnerung (Joh 14,26), der Vergegenwärtigung (Apg 2), ja die Gegenwart Jesu selbst (2Kor 3,18). Das Wirken des Geistes im Allgemeinen – und das Pfingstereignis im Besonderen – ist deshalb „die Überbrückung der Kluft zwischen seinem gewesenen und ihrem gegenwärtigen Dasein, die Einbeziehung ihrer Zeit in die seinige.“313 Die Frage, wie Jesus den Menschen bestimmen kann, kommt also auch oder erst recht im Blick auf die Zeit nicht ohne pneumatologische Erwägungen aus, auch wenn Barth sie nur am Rand und durch das biblische Zeugnis ‚erzwungen‘ in den Blick nimmt. Jesu Sein ist nun zum ersten auch in die Vergangenheit entgrenzt zu denken, insofern er sich in der Geschichte Israels vergegenwärtigt hatte und so auch diese Zeitdimension erfüllte. Ja, noch weiter zurück – im analogischen Schlussverfahren – erscheint eben schon die Schöpfungszeit von der Gegenwart Jesu erfüllt, ist doch Jesus Christus der Realgrund der Schöpfung. Das wiederum gründet in Gott selbst, in seinem Ratschluss, so dass hier (wieder) von der Präexistenz des Menschen Jesus und der Welt in Gott gesprochen werden muss. Aber zum zweiten muss sich auch der Blick in die Zukunft anschließen. Die Entgrenzung der Zeit Jesu zur Zukunft hin habe der jungen Gemeinde dabei besonders nahegelegen, so Barth, insofern Jesus selbst als der Gekommene, sich mit dem Kommenden (Menschensohn) identifiziert. Das Himmelfahrtsfest ist der symbolische Ausdruck dafür, dass Jesus in die Zeit Gottes hinein aufgenommen wurde und dem Menschen gleichsam ‚entgegen-wartet‘. Ihr Gebet bzw. Bekenntnis lautet deshalb: Maranatha! (1Kor 16,22). Die bloße Rückwendung zum Leben Jesu und zu seiner Vergangenheit kann damit nicht verabsolutiert werden, vielmehr erschließt die Gegenwart und die Kenntnis der Vergangenheit des Auferstandenen die Zukunft, als personale Wiederkunft. Gerade in der Erfahrung des in seinem irdischen Leben ‚gegenwärtigen Jesus‘ liegt der Grund, weshalb die Naherwartung sich gegen den Eindruck einer Parusieverzögerung immer wieder erneuert und nicht enttäuschen lässt:

des Christus, der die Geschichte Gottes mit den Menschen ist. Im Einzelnen wird das aber wiederum durch konkrete Geschichten geschehen, durch die Vermittlung der Heiligen Schrift, so dass (nach Röm 6,1–11) die Geschichte Jesu die Geschichte des Menschen in sich aufnimmt. Es ist jedenfalls kein ‚neuer Jesus‘, der sich vergegenwärtigt, sondern ein an sich selbst – so wie er in seiner vergangenen Lebensspanne lebte und bezeugt wurde – erinnernder. 313 Ebd., 565.

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Macht sein Gestern und Heute in seiner Fülle den Ausblick auf seine Zukunft, und zwar auf seine nahe Zukunft unvermeidlich, so ist eben die Fülle dieses Gestern und Heute groß genug, um diesen Ausblick zu einem geduldigen Warten zu machen.314

Eine „Enteschatologisierung“ wäre verheerend, insofern dadurch die Zukunft als Zukunft des Menschen und nicht in erster Linie als Zukunft Gottes aufgefasst würde. Die Zukunft, in der das Werk Gottes abgeschlossen und er selbst alles in allem sein wird. Barth bleibt zum letzten aber bei einer prinzipiellen Gleichrangigkeit der drei Zeitdimensionen, um die transtemporal gedachte Gegenwart und Nähe Gottes in der ganzen Zeit festzustellen: Es gibt zwischen dem Sein Jesu in den drei Dimensionen der Zeit keine Unterschiede eines Mehr oder Weniger [...]. Er ist, von der für uns maßgebenden Zeit der Apostel her gesehen, in keinem Sinn weniger der Kommende als er der Gekommene und auch der Gegenwärtige ist.315

3.3.3.2 Der Mensch in der Zeit Durch die christologische Erörterung der drei Zeitdimensionen hat Barth dieses Schema als Grundlage für die Darlegung der Zeitlichkeit des Menschen ermächtigt. Auch für das menschliche Leben allgemein gilt das Faktum, dass es in der Zeit und damit ein Sein in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft ist. Aber in keiner der drei Dimensionen ist der Mensch ein Herr, niemals kann er über die Zeit verfügen. Vielmehr entzieht sich die Zeit, als Vergangenheit, indem sie ins Vergessen absinkt, uns nicht mehr gegenwärtig ist; und unsere Kraft der Erinnerung kann nur verschwommene Bruchstücke aktualisieren. Ebenso ist der Mensch nicht der Herr über seine Zukunft, kann er doch nur planen, Wünsche projizieren und Zustände antizipieren, (vorher-)bestimmen kann er sie aber nicht. Nichts anderes gilt für die Gegenwart, denn auch wenn diese Dimension dem Menschen zu gehören scheint – jetzt kann ich denken und handeln –, so ist sie eigentlich doch ohne Ausdehnung und nur als Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft zu betrachten. Die Gegenwart ist so immer schon unter das Zeichen der beginnenden Erinnerung oder bestehenden Erwartung gestellt. Die personale Identität des Menschen ist deshalb in dreierlei Hinsicht ein ungesichertes Postulat: nach hinten – dass ich es auch wirklich bin, an den ich mich erinnere und der ich geworden zu sein scheine, nach vorne 314 Ebd., 590. Barth behält damit sicherlich auch exegetisch recht, denn von einem Zerbruch der Hoffnung an dem sich verzögernden Ende ist in der frühen Christenheit kaum etwas zu sehen. Vielmehr hat es Transformationen der Hoffnung gegeben und Versuche, die Zeitfrage der Wiederkunft zu klären (vgl. etwa 2Petr 3,8). 315 Ebd., 582.

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– dass ich es wirklich sein werde, für den ich plane, für den ich etwas vermute, und dadurch auch im Jetzt – weil der Akt der Bewusstwerdung, das Wissen des „ich bin“ als Rückwendung immer seine Zeit braucht. Die Sphäre der Verborgenheit, in der die Identitätsfrage ausläuft, ist im zeitlichen Sinn, die des Gewordenseins, des Werdens und selbst des gegenwärtig gedachten Seins.316 Auch in der Gegenwart, in der wir uns „unserer Identität mit uns selbst, endlich einwandfrei versichern und erfreuen möchten – gerade da sehen wir uns gänzlich in die Luft gestellt.“317 Der Mensch ist sich gerade aus zeitlichen Gründen radikal entzogen und kann dadurch als Spielball der Zeit erscheinen; Barth zitiert hier Friedrich Hölderlin: Doch uns ist gegeben / Auf keiner Stätte zu ruh’n, / Es schwinden, es fallen / Die leidenden Menschen / Blindlings von einer / Stunde zur andern, / Wie Wasser von Klippe / Zu Klippe geworfen, / Jahrlang ins Ungewisse hinab.318

Eine solche existentialistische Analyse hat ihr Recht, insofern sie aufdeckt, dass der Mensch in der Zeit lebt und durch sie bestimmt wird, nicht aber der Herr über sie ist. Allerdings, es kommt darauf an, welche Konsequenzen daraus gezogen werden. Wird das menschliche Sein, in einer pessimistischen Version, als bloßes Geworfensein und Untergehen im Strudel der Zeit betrachtet, oder, in der optimistischen Version, dieses Geworfensein gerade als heroischer Akt interpretiert – der dem Menschen allererst Sein verschafft und im Augenblick Ewigkeit erkennen lässt –, dann ist damit nicht die gute geschöpfliche Existenzform der Zeitlichkeit beschrieben, sondern der von seinem geschöpflichen Wesen entfremdete Menschen, so Barth.319 Weder die schicksalshaft-pessimistische noch die heroisch-optimistische Anschauung der Zeit kann durchdringen zur guten Geschöpflichkeit des Menschen und damit zu einer wirklichen und wahren Auffassung der Zeitlichkeit. Allein wenn von der Zeit Gottes ausgegangen wird, wenn von der von Jesus erfüllten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geblickt wird, kann die Zeit als gute Existenzform des Menschen verstanden und können existentialistische 316 Die Begründung von menschlicher Subjektivität aus sich selbst wird dadurch prekär, dass der Mensch sich selbst in der Zeit entgleitet. Es ist gerade eine zeitliche Selbstentzogenheit des menschlichen Subjektes: „Mit Hilfe des Themas der beschränkten menschlichen Zeit schränkt er (sc. Karl Barth) das Ich ein: das Ich-bin ist kein selbständiger Satz. Aber es ist ‚entsprechend seiner Setzung durch Gott im Setzen seiner selbst begriffen‘. Zuflucht vor dem Zweifel und der entschwindenden Zeit bietet es in Wahrheit nicht“, so Frey, Zur theologischen Anthropologie Karl Barths, 48. 317 Ebd., 619. 318 Ebd., 621. 319 So will Barth gerade die Vorstellung der „Angst“ und der „Sorge“ im Blick auf die Endlichkeit, die gerade als Zugang zur Freiheit eigentlicher Existenz – etwa bei Martin Heidegger – verstanden wurde, abstoßen. Auch hier ist zu bemerken, dass Barth sich nicht (mehr) explizit etwa auf Denker des Existentialismus bezieht. Barth rekonstruiert also auch in diesem Abschnitt der KD das anthropologische Phänomen – hier nun der Zeitlichkeit – völlig selbständig.

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Missverständnisse verhindert werden. Indem Gott in Jesus Zeit für den Menschen hat, bekommt der Mensch seine Zeit, so dass nach Barth eine ganz andere – im Blick auf den Pessimismus tröstlichere und im Blick auf den Optimismus realistischere – Sicht der Zeitdimensionen ermöglicht wird. Die Gegenwart des Menschen bestimmt sich nun nicht mehr vom Eindruck des ausdehnungslosen Punktes, der Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft und damit der Unwirklichkeit, sondern von der Gegenwart Gottes her: Es gibt zuerst ein göttliches Gehen und Schreiten vom Gewesenen zum Künftigen. Das ist Gottes Gegenwart. [...] es gibt dann […] auch unser menschliches Gehen und Schreiten vom Gewesenen zum Künftigen. Das ist unsere Gegenwart und unsere Zeit.320

Weil Gott gegenwärtig ist, gibt es für den Menschen überhaupt erst so etwas wie Zeit und Gegenwart. Nur weil Gott der „Ich bin, der ich bin“ ist (Ex 3,14), kann der Mensch selbst „ich bin“ sagen; nur weil Gott Identität besitzt, kann der Mensch sich darauf verlassen, dass er als Gottes personales Gegenüber selber identisch ist. Gott macht für den Menschen die Zeit wirklich und eröffnet sie (ihm) damit, dass er darin gegenwärtig sein kann, d.h. im Jetzt denken und handeln kann. Die Gottesgabe der Zeit verpflichtet deshalb auch den Menschen, Gott in seinem Gegenwärtigsein zu entsprechen, und das heißt, einerseits das Jetzt zu ergreifen, verantwortlich zu gestalten, andererseits aber das Freudige, gleichsam die Rechtfertigung der Gegenwart durch Gott, geschehen zu lassen. Gott wendet sich uns als gegenwärtiger zu und eröffnet damit die menschliche Möglichkeit, selber Gott gegenwärtig werden zu wollen. In analoger Weise erstreckt sich die Bedeutung der Gegenwart Jesu auf die Vergangenheit und die Zukunft des Menschen. Die Gewähr der Kontinuität personaler Identität, dass ich derselbe bin, der ich damals war – ohne freilich der Gleiche geblieben zu sein –, liegt in der Gegenwart Gottes in meiner Vergangenheit.321 Weil Gott damals war, bin auch ich gewesen und kann deshalb diese Zustände heute zu recht als meine vergangenen betrachten. Gott macht die Vergangenheit wirklich und gewährleistet deshalb auch meine Gegenwart als aus dieser resultierende. Weil aber Gott auch meiner Vergangenheit gegenüber gegenwärtig ist, ist mein Gestern nicht einfach nicht mehr existent, sondern bei Gott gleichsam aufgehoben, vor ihm als meine Vergangenheit aktuell. Aus diesem Gedanken resultiert auch hier eine tröstliche und ermutigende Sicht auf die Vergangenheit. Die Erinnerung wird in all ihrer Beschränkung zum Hilfsmittel, die Gegenwart zu gestalten und 320

Ebd., 639. Es ist, mit William James zu sprechen, nicht der individuelle, menschliche „stream of thought“, der die personale Identität begründet, sondern der göttliche. 321

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die Zukunft zu planen, denn die Vergangenheit liegt in Gottes Händen und kann deshalb einerseits in Frieden ruhen, andererseits aber ein Reservoir an Gedanken und Bildern sein, das zur Lebensbewältigung dienen kann (vgl. Ps 103,2–5). Auch für das Vergessen gilt deshalb eine Entkrampfung, insofern derjenige, der seine Vergangenheit bei Gott geborgen weiß, durchaus vergessen kann, aber nicht zwanghaft vergessen muss. Ähnliches gilt für die Zukunft, die mir nicht als solche Gewähr sein kann, dass ich auch morgen derselbe bin, wie heute, ja ob ich überhaupt noch sein werde. Alles Projizieren und Antizipieren geschieht doch in eine dunkle Zukunft hinein, die nur darin hell wird, dass darin Gott (mir) ‚entgegen wartet‘. Auch im Blick auf die Zukunft – als die Zukunft Gottes, die deshalb eine für den Menschen ist – werden die beiden möglichen Haltungen der „Unbedenklichkeit“ oder der „Bedenklichkeit“, jeweils in ihren optimistischen oder pessimistischen Spielarten, entschärft aber auch neu in ihr Recht eingesetzt. Ohne Bedenken bzw. ohne Seinssorge kann der Zukunft entgegengegangen werden, weil es Gott selbst ist, der für sie sorgt, der sich um sie kümmert. Andererseits gilt es dann doch die Zukunft zu bedenken, allerdings in ihrem Sein als Kommen und Gericht Gottes. Es ist die Sorge um bzw. das Trachten nach dem Reich Gottes, das den Blick auf die Zukunft bestimmen soll. „An das Gebet im Blick auf unsere Vergangenheit: quod vixi tege! wird sich im Blick auf unsere Zukunft das Andere reihen: quod vivam rege!“322 Barth hat mit diesen Ausführung zur Zeit des Menschen keine ‚neue‘ Phänomenbeschreibung gegeben. Es geht ihm nicht um eine detaillierte Analyse des menschlichen Seins – als ein sich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erstreckendes. Vielmehr will er zeigen, wie das menschliche Sein durch die Gegenwart des Herrn der Zeit qualifiziert wird. Auch hier befindet sich Barth also auf der Metaebene, so dass das Phänomen der Zeit als Lebensraum des Menschen (nur) in ein anderes Licht gehoben wird. Der Zirkel anthropologischer Erkenntnis wird auch hier nicht aufgebrochen, d.h. etwa die existentialistische Auffassung von Zeit nicht negiert, sondern deren Voraussetzungen, etwa der Heideggers, das Sein des Menschen gewinne Eigentlichkeit durch den Bezug zum Tod, kritisiert. Die konsequente theonome Bestimmung – hier – des zeitlichen Seins des Menschen will Barth durchsetzen. 3.3.3.3 Die Befristung der Zeit Dazu vollzieht Barth im Weiteren einen Perspektivwechsel. Er betrachtet nun die dem Menschen eröffnete Lebenszeit – aus der Sicht des Individuums. Die Zeit ist ein begrenzter Raum, der dem Menschen schicksalhaft zugemessen ist. Zeit bedeutet beschränkte Lebensdauer, Zeit heißt Frist. In ihrer Begren322

Ebd., 667.

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zung ist die Zeit aber – kommt sie doch von Gott – eine gute Gabe an den Menschen, so dass Barth formuliert: Es handelt „sich in der Tat darum [...], die Befristung unserer Zeit nicht nur hinzunehmen, sondern dankbar und freudig gut zu heißen.“323 Einem solchen Gutheißen stellt sich allerdings die menschliche Erfahrung bzw. der Protest gegen die Endlichkeit und Begrenzung des Lebens massiv in den Weg. Barth sieht das Widerständige gegen die ‚Annahme‘ der Endlichkeit; aber er identifiziert diesen Widerstand nicht mit dem Protest des Sünders oder der Angst des um sich selbst besorgten Menschen, damit kann und wird er sich dann wohl (leider) auch verbinden, sondern er erkennt darin die Sehnsucht des wirklichen Menschen, sein Verlangen nach bleibendem dauerhaften Leben. Sowohl die Gottesbeziehung, wie auch die zum anderen Menschen – und man könnte über Barth hinausgehend ergänzen: auch zu sich selbst – sind auf Dauer angelegt und verlangen nach Bestand. Das Gutsein der Befristung steht doch gerade von hier aus in Frage und muss sich nicht nur gegen den Protest des Sünders, sondern scheinbar auch gegen die Sehnsucht des wirklichen Menschen erweisen lassen. Barth will hingegen zeigen, dass die Befristung, die dem sündigen Menschen Angst macht, letztlich doch die gute Geschöpflichkeit ist, gerade weil die rechte Sehnsucht nach Leben darin ihren Raum findet. Barth verweist dazu zunächst auf die Analogie, die zwischen Gottes Zeit und der des Menschen besteht. Gott lebt in der guten Ordnung nicht der Zeitlosigkeit, sondern der erfüllten, sich selbst Zeit gebenden Zeit. Die Ewigkeit oder Zeit Gottes ist also keine unendliche Zeit, nach Maßgabe menschlicher Zeitvorstellung, sondern immerwährende Gegenwart auch des Vergangenen und Zukünftigen; nur in diesem Sinn ist sie Zeit ohne Grenze. Das menschliche Leben findet demgegenüber in der befristeten Zeit seine gute Ordnung, bietet diese doch Lebensraum – hier besteht Analogie zum Sein Gottes –, indem sie dem Menschen heilsame Schranken und Begrenzungen setzt – hier ist eine völlige ‚Unähnlichkeit‘ zu konstatieren.324 Die Begrenzung der Zeit ist nun aber deshalb heilsam und gut zu nennen, weil dadurch der sehnsüchtige Mensch nicht immer auf dem Weg und nicht ein unendlich Suchender bleibt: „die Verwirklichung dieses Verlangens (sc. nach Dauer und Erfüllung) könnte auch ein unendliches Quantum menschlichen Lebens in einer ihm entsprechenden immerwährenden Zeit keineswegs garantieren.“325 323

Ebd., 673. Die Unähnlichkeit besteht allerdings nicht darin, dass die Ewigkeit oder Zeit Gottes keine Grenzen kennt, während die menschliche Zeit nur darin wirklich ist, sondern dass Gott sich selbst in seiner Ewigkeit Grenzen setzen kann – etwa Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft –, diese aber auch in aller Freiheit transzendieren kann: „Ein Sein in einer immerwährenden Zeit wäre ein nach allen Seiten zerfließendes Sein, nicht das eines konkreten Subjektes, dem Gott als ebenso konkretes Subjekt Gegenüber und Nachbar sein, zu dem er reden und mit dem er handeln kann“ (686). 325 Ebd., 680. 324

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Die Ewigkeit Gottes und damit die Gabe des ewigen Lebens kann gerade nicht als eine ‚verunendlichte‘ oder verlängerte Zeit verstanden werden; sie bliebe immer nur die neutrale Bereitstellung der Gelegenheiten zum Leben. Das Leben selbst bzw. die Sehnsucht nach Dauer käme so zwar mit dem Tod zu einem Ende, in einer postmortalen Existenz würde es aber einfach prolongiert. Es gäbe unendlich viele neue Gelegenheiten, aber das Leben käme nie zum Ziel.326 Die Befristung der Zeit des Menschen ist in diesem Sinn gerade seine Bewahrung vor diesem unendlichen Progress, vor dem Zerfließen des Seins. Subjektivität ist also einerseits nur durch die räumliche Begrenzung, d.h. als Verhältnis von Leib und Seele, und durch die zeitliche Befristung denkbar. Indem die Lebenszeit Grenzen hat, ist sie in ihrer Makrostruktur zur Gelegenheit geworden, das Leben im Gegenüber zu Gott und Welt zu bewähren, zu gewinnen und zu verwirklichen. Durch die Grenze ist es unendlich wertvoll geworden; es ist als ein Weg zu verstehen, der nicht zu einem Ende führt, sondern zu einem Ziel. Dieser Gedanke ist allerdings nur insofern theologisch vertretbar und erträglich, so Barth, als das Ziel des Lebens und damit das Jenseits der Grenze näher bestimmt werden muss. „Es ist offenbar zweierlei, ob wir unser Leben abstrakt als ein beschränktes oder ob es als ein durch Gott beschränktes Leben zu verstehen haben“.327 Barths Bestimmung der Befristung als „gut“ und „heilsam“ kann ihren Grund nicht in den Grenzen als solchen haben. Es ist nicht die Geburt und vor allem nicht der – zuweilen personifiziert gedachte – Tod, der das Leben als Lebensraum öffnet und zum Ziel führt, vielmehr ist er der Ausdruck und der Ursprung der Lebensangst, die Instanz, die Leben verschließt und es nimmt. Nur wenn Gott selbst den Menschen begrenzt, wenn er also als personales Gegenüber an den Grenzen des Lebens wartet, dann kann die Befristung der Zeit als gute Ordnung entdeckt werden und der Mensch im Vertrauen auf ihn diese transzendieren. Es ist der in Jesus dem Menschen gnädige Gott, der auf ihn wartet und zum Ziel führt, der den Menschen zuvor aber auch im Mutterleib bereitet und ins Leben geführt hat (vgl. Ps 139,13–16). Pointiert formuliert Barth den Kerngedanken von §47: „Es gibt nur ein Jenseits hinter uns und 326 Es scheint gerade die Vorstellung der nach dem Tode ermöglichten neuen Gelegenheiten, die die Reinkarnationsvorstellung in ihrer neuzeitlich-westlichen Variante so attraktiv macht. Während die ursprüngliche hinduistische Lehre negativ denkt und eher als Wiedertodslehre zu verstehen ist, verschieben sich die Gewichte in der profanen westlichen Ansicht völlig hin zu einer positiven Deutung: Es geht weiter! Ich bin nicht am Ende. Allerdings ist hier zu fragen, ob das konkrete Leben dadurch nicht entwertet wird und mit der Bedrohung durch die Grenze, die freilich auch Barth unterbetont, zu leichtfertig umgegangen wird. Vgl. hierzu den Sammelband: Reinkarnation oder Auferstehung? Konsequenzen für das Leben, hg. von H. Kochanek, Freiburg i.Br. 1992, darin bes.: Franz-Josef Nocke, Ist die Idee der Reinkarnation vereinbar mit der christlichen Hoffnung auf Auferstehung? Einige Überlegungen aus der Sicht systematischer Theologie, 263–284. 327 Ebd., 684.

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vor uns, vor unserem Anfang und nach unserem Ende. Er, Gott, ist dieses Jenseits.“328 3.3.3.4 Die Grenzen des Lebens a.) Barth differenziert seine Grenzbetrachtung nun noch einmal, indem er sich zunächst genauer der Frage nach dem Anfang bzw. der Geburt des Menschen und danach der nach dem Ende bzw. seinem Tod zuwendet. Woher komme ich? So lautet die Frage nach der Herkunft des Menschen, die bei weitem nicht so viel Sorge oder Angst auf sich zieht, wie die nach dem Tod. Barth vermutet Folgendes: Warum erschrecken wir vor unserem Ende? Doch wohl darum, weil wir, ob wir es bedenken oder nicht bedenken, so etwas wie ein Erschrecken von unserem Anfang her in uns tragen.329

Weil die Frage nach der Herkunft ins Dunkel ausläuft, also keine Identitätsbestimmung von dorther möglich erscheint, ist diese auch nicht vom eigenen Ende zu erwarten. Wie an der letzten, so scheint auch an der ersten Grenze des Menschen nur das dunkle Nichts zu stehen. Dennoch stellt sich der Mensch die Frage nach seiner Herkunft und greift nicht nur über sich selbst hinaus in die Erinnerung und familiäre Tradition zurück, sondern er erkennt es als eine kollektive Aufgabe, die Geschichte und noch grundsätzlicher die Naturgeschichte des Menschen zu begreifen. Es ist in allen Formen der Versuch des Menschen, die Sphäre des Nichts zu durchdringen und sich so „gerade dort, wo er noch nicht war, nun dennoch Lebensraum und also Zeit“330 zu verschaffen. Barth hält diesen Versuch freilich für gescheitert, wenn er sich nicht auf den in Jesus Christus auch in der Vergangenheit gegenwärtigen Gott bezieht. Für ihn ist hingegen die Frage nach der Herkunft geklärt: Der Mensch kommt von Gott und deshalb zwar aus dem Nichtsein, aber nicht einfach aus dem Nichts. Im Alten Testament wird die Frage nach der Identität über die Tradition und den Stammbaum geklärt. Ein Mensch ist das, was er im Zusammenhang der Sippe und das heißt der Generationen ist. Greift der alttestamentliche Mensch aber auf diese Tradition zurück (vgl. Dtn 6,20–25), dann wird er auf das Verhältnis Gottes zu den Urvätern (Gen 12–50) und auf den Ursprung seines Volkes im Handeln Gottes, nämlich im Exodusgeschehen (Ex 1–18) verwiesen. Das Sein des Israeliten hängt am Vorher Gottes, an der Erwählung, und es ist in den Strom des Segens von Abraham, ja in 328

Ebd., 685; vgl. auch 780. Ebd., 696. 330 Ebd., 700. 329

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schöpfungstheologischer Hinsicht von Adam, gestellt. Im Neuen Testament wird die Erwählung Israels als Erwählung des Menschen Jesus erfüllt und entdeckt. Der Mensch blickt nun nicht mehr auf die vergangene Geschichte Israels, sondern auf die gegenwärtige Geschichte Gottes in Jesus Christus. Diese Geschichte ist sein Ursprung, sein Woher. Daß er ein „Kind Gottes“ werden darf, das verdankt er dem Heiligen Geist, und daß er sich als solches erkennen und dieser Erkenntnis gewiß sein darf, das verdankt er seiner Taufe.331

Die Taufe lässt sich deshalb als das Identitätssymbol332 des christlichen Glaubens verstehen. Sie ist das Zeichen dafür, dass der Mensch in Gott seinen Ursprung hat, dass er an der Urgeschichte teilhat und von ihr ausgeht. Eine Geschichte, die nun den Tod mit ‚ein-schließt‘ (vgl. Röm 14,7– 9) und die Identität des Menschen als eine, die Grenzen des natürlichen Lebens nach hinten und nach vorne transzendierende, sicherstellt. b.) Eine solche Sicht gerade der letzten Grenze scheint allerdings keine ‚natürliche‘ zu sein. Der Eindruck der Endlichkeit, der Begrenzung durch den Tod333, führt vielmehr in die Angst vor dem Ende und in ein besorgtes Leben, so wie Barth es selbst formuliert: „Man kann diese Angst übertäuben. Aber indem man das tut, zeigt man nur, daß man sie doch hat.“334 Ist angesichts dieser existentiellen Wahrheit nun aber erneut die Befristung der Lebenszeit, genauer der Tod als gute geschöpfliche Ordnung zu verstehen? Die Lösung dieser Aporie ist nur durch ein gleichsam doppeltes Todesverständnis zu erreichen. Barth unterscheidet zwischen dem Tod, den der Mensch als Folge der Sünde stirbt und vor dem er Angst hat, und dem Tod als Grenze, der andererseits den Übergang zur vollendeten Gegenwart Gottes bezeichnet. Der erste völlig unnatürliche und widernatürliche Tod ist der Tod als der Sünde Sold (Röm 6,23). Als Folge der Sünde ist er zu allen Menschen in allen Zeiten, ja in die ganze Schöpfung hinein gedrungen. Er ist der Endpunkt der unnatürlichen Lebenslinie des sich selbst, den anderen und vor allem Gott verfehlenden Menschen, er ist der Fluch (vgl. Gal 3,13), der auf dem vorfindlichen, unwirklichen Menschen liegt. Für diesen Menschen ist 331

Ebd., 711. Vgl. hierzu Hans-Martin Barth, Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen. Ein Lehrbuch, Gütersloh 2001, 607–636. Hans-Martin Barth entfaltet die Lehre von der Taufe gerade unter der Überschrift „Spirituelle Identität“. Es besteht hier also eine Analogie zwischen der Taufe und der natürlichen Geburt des Menschen. Diesen Zusammenhang entfaltet der Evangelist Johannes eindrücklich als Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus (Joh 3,1–12). 333 Vgl. hierzu den stark an Barths Konzeption angelehnte Auffassung des Todes bei Jüngel, Tod, 75–171, bes. 145f. 334 KD III/2, 727. 332

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aber der Tod der Ursprung der Lebensangst, weil er das „Nein“ Gottes über ihn bedeutet. Die Drohung des Todes und seine enorme existentielle Angstwirkung entspringen aus dessen Charakter der Negation. Er verneint alles, was der Mensch für lebenswert, ja was er für das Leben selbst hält: „Der Tod, wie er uns Menschen faktisch begegnet, ist das Zeichen des Gerichtes Gottes über uns.“335 Barth sieht im Tod damit aber eine angemessene Antwort Gottes auf das Leben des Sünders. Allerdings ist es gerade die Antwort Gottes und nicht die eines blinden Schicksals: Es ist nicht irgend ein Nichts, von dem wir im Tode bedroht sind, nicht das harmlose, neutrale, am Ende wohl gar erfreuliche Nichts, von dem der Buddhismus und alle seine Geistesverwandten von jeher geträumt haben, sondern das sehr gefährliche, qualifizierte und peinliche Nichts unserer Nichtigkeit vor Gott.336

Das Leben mündet durch den Tod in der beschämenden Begegnung mit dem gerechten Gott. Aber, dieser Gott wird der gnädige Gott Jesu Christi sein. Weil er es ist, der im Tod wartet, muss nun der Tod als natürliche, von Gott selbst, gesetzte Grenze des Lebens verstanden werden. Nach dem Zeugnis des Alten Testamentes ist Gott der Herr über Leben und Tod; und im Blick auf die Geschichte Jesu kommt der Tod dann – nur noch – als besiegter in Sicht. In Jesu Tod hat Gott den (ersten) Tod besiegt (vgl. 1Kor 15,55; Röm 8,31ff u.a.): Die Wirklichkeit dieses Sieges ist der Tod Jesu, weil es in ihm geschehen ist, daß Gott bei sich selber in diesem Mitmenschen und Bruder jedes Menschen für dessen Sünde und Schuld eingetreten ist, damit den Tod als deren Folge gegenstandslos gemacht und eben so jenes Herausreißen des Menschen aus dem Tode, jene Erlösung vollzogen hat.337

Der angstmachende Sündentod hat seinen Gegenstand verloren; die Negation des Todes bzw. Gottes richtet sich nun nicht mehr gegen den Sünder, sondern hat sich ein für allemal gegen den die Sünde aller tragenden Christus gewandt. Damit verliert der Tod seine negierende Funktion, er wird zum bloßen Zeichen des Gerichtes Gottes. Barth kann deshalb nun vom Tod Jesu aus – im analogischen Rückschluss von der Soteriologie auf die Anthropologie – auf den natürlichen Tod, die zeitliche Grenze des vorfindlichen Lebens schließen. Es besteht zwar eine faktische Identität von Sündentod und anthropologischer Grenze, insofern der Tod weiterhin Angst macht und als kontingenter Le335

Ebd., 725. Ebd., 739. 337 Ebd., 756. Vgl. zur ‚Rede vom ersten und zweiten Tod‘ den Sonnengesang des Franz von Assisi: „Gepriesen seist du, Herr, durch unsern Bruder Tod, dem nie ein Lebender entrinnen kann. Weh‘ jenen, die in schweren Sünden sterben! Glückselig jene, die in deinen heiligen Willen sind ergeben, denn ihnen wird der zweite Tod kein Leides tun“ (Ausgewählte Texte, hg. von H.C. Meiser, München 1989, 124). 336

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bensabbruch die Welt- und Selbstbeziehung aufhebt, aber seit dem Tod und der Auferstehung Jesu ist der Tod auf Gott hin zu durchschauen: Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir, wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür; wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein.338

Der Tod als Grenze ist die eigentliche anthropologische Wirklichkeit, und die Endlichkeit ist nicht mit dem Zorn Gottes zu erklären, sondern vielmehr als seine gnädige Bestimmung, insofern der Mensch das – dann von Sünde und Tod gezeichnete – Leben hin zum ewigen Leben transzendieren darf. Seine Identität als dem ewigen Gott gegenüberseiendes Subjekt bleibt über den Tod hinaus erhalten. Wenn Barth aber nun diese Transzendierung in den Blick nimmt, dann kann er lediglich ‚Grenzgedanken‘ im Rahmen menschlicher Erkenntnismöglichkeiten formulieren. So spricht er von einer Verewigung des Lebens des Menschen. Damit will Barth nochmals dem Missverständnis einer linearen Zeitvorstellung, die das ewige Leben als Fortsetzung des zeitlichen Lebens versteht, entgegensteuern. Verewigung heißt, dass die Zeit des Menschen in Analogie zu der Jesu Christi entgrenzt wird, so dass der Mensch in der Fülle seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft leben wird. Barth hat dabei eher eine räumliche Vorstellung des Lebens; es wird gleichsam in allen seinen Gegenwartspunkten, in den vergangenen, vergehenden und kommenden, die Grenze zur Ewigkeit überschreiten und in die Gleichzeitigkeit der Momente eingehen. Wohlgemerkt, Barth meint das gelebte Leben: Es wird „eben dieses sein Sein in seiner Zeit und also mit seinem Anfang und Ende vor den Augen des gnädigen Gottes und so auch vor seinen eigenen und vor aller Anderen Augen“339 gestellt werden. Barth betont durch diese Vorstellung, dass etwas an oder mit dem zeitlichen Leben geschieht, dass es also in seiner Diesseitigkeit verewigt wird. Es gibt keine Erlösung aus oder von dem Diesseits, sondern die aufgedeckte, nicht mehr verborgene Gegenwart des Jenseits macht das Diesseits ewig. Damit wird aber dem diesseitigen Leben eine enorm hohe Bedeutung zugesprochen; von einer Vertröstung auf das Jenseits kann in keinerlei Weise gesprochen werden: (Diese Sicht kann) für den Sinn der christlichen Ethik die Bedeutung haben, dem menschlichen Leben als einem einmalig zu vollziehenden und dann nicht fortzusetzenden Lauf eine Wichtigkeit und dem, was von ihm erwartet ist, eine Dringlichkeit zu geben, die ihm dann offenbar fehlen würde, wenn wir unsere Hoffnung auf eine Befreiung von der Befristung unserer Zeit und also auf ein Jenseits der uns gegebenen Frist, statt auf den ewigen Gott selber zu setzen hätten.340

338

EG 85, 11. KD III/2, 771. 340 Ebd. 339

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Im Blick auf das Zeitverständnis Barths im Rahmen seiner Anthropologie ist auch hier seine Abstinenz bezüglich human- bzw. naturwissenschaftlich beschriebener Zeiterfahrung zu verzeichnen. Barth bleibt in seinen Analysen ausschließlich einer existentialphilosophischen Betrachtung der Zeit verhaftet – wenn auch nicht im expliziten Bezug zu deren Vertreter –, öffnet sich aber nicht etwa der Frage nach der Relativität von Zeit im physikalischen Kontext. Die grundstürzenden Einsichten der Relativitätstheorie Albert Einsteins oder später in der Quantenphysik Werner Heisenbergs werden nicht thematisiert, aber auch nicht die Relativität subjektiver Zeiterfahrung. Dabei konnte Barth freilich das spätmoderne Interesse am subjektiven Zeitgefühl341 noch nicht ahnen, aber die unterschiedlichen „Zugänge“ zum Zeitproblem werden nicht näher thematisiert.342 Es herrscht also auch hier keine wirkliche Offenheit für die Phänomene, obwohl sich Barth doch durchaus von der naturwissenschaftlichen Forschung – als „exakter Wissenschaft“ – in Kenntnis setzen lassen wollte. 3.3.4 Identität und Individualität in der Beziehung zu Gott Mit der Erwähnung der Bedeutsamkeit der Befristung des Lebens für die Ethik weist Barth schon auf ihre ausführliche Erörterung in KD III/4 voraus, der wir uns im genaueren Blick auf §56 abschließend zuwenden. Die Ethik der Schöpfungslehre hat die Aufgabe, den Anspruch Gottes, der aus der natürlichen anthropologischen Verfasstheit des Menschen resultiert, darzustellen. Der Mensch muss seinem Sein im Gegenüber zum Du, als Seele und Leib und als Subjekt in der Zeit, entsprechen, er muss es vollziehen, um der wirkliche Mensch zu sein. Gottes Gebot zielt deshalb darauf, den Menschen in seiner Wirklichkeit zum Handeln herauszurufen, und führt ihn dazu, seine Möglichkeiten zu verwirklichen, nämlich ein echtes Ich im Gegenüber zum Du Gottes und des Mitmenschen und ein ganzer Mensch zu sein – als auch den Anderen das zuzugestehen. In §56 geht es dann genauer darum, wie der 341

Vgl. hierzu etwa die Studie von Rosa, Beschleunigung. Vgl. hierzu Wolfgang Achtner/Stefan Kunz/Thomas Walter (Dimensionen der Zeit. Die Zeitstrukturen Gottes, der Welt und des Menschen, Darmstadt 1998, 1–12), die zwischen „endogene(r) Zeit“ – als unmittelbarem innerem Erleben des Menschen –, „exogene(r) Zeit“ – als Zeitformen der Umwelt – und „transzendente(r) Zeit“ – als religiöse Dimension der Zeiterfahrung – unterscheiden. Ebenso wenig werden bei Barth die unterschiedlichen Dimensionen der „endogenen Zeit“ in ihrem Verhältnis zueinander näher thematisiert: „Mystisch-holistische Zeiterfahrung – Mythisch-zyklische Zeiterfahrung – Rational-lineare Zeiterfahrung“ (Dimensionen der Zeit, 9). Dass Barth sich weitgehend an dem rational-linearen Zeitverständnis, in seinen Formen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft orientiert ist deutlich geworden, insbesondere aber wenn er von „Verewigung“ spricht, wird seine Vorstellung letztlich dunkel. Barth bezieht sich letztlich ganz auf die transzendente Zeit, die in Christus in die endogene und exogene Zeiterfahrung einbricht. Wie aber diese Zeiterfahrung verändert wird, das wird nicht recht deutlich. 342

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– in der Anthropologie näher bestimmte – wirkliche Mensch in der Beschränkung seiner Zeit lebt und leben soll. Barth setzt seine Überlegungen nun gleichsam tiefer an, indem er nicht mehr auf der prinzipiell anthropologischen, sondern auf der – zumindest etwas konkreteren – individualgeschichtlichen Ebene argumentiert. Hatte Barth in der Anthropologie die Identität des Menschen durch prinzipielle Analysen der Gottesbeziehung, der Sozialität, der Subjektivität und Zeitlichkeit bestimmt, so blieb doch die Frage nach der Individualität des Menschen unbeantwortet. Wenn Jesus Christus sich aber als die Geschichte Gottes mit den oder dem Menschen – aufgrund der Gleichzeitigkeit seiner einmaligen, begrenzten Existenz in der Kraft des Geistes – verstehen lässt, dann wird doch auch die Frage nach der konkreten, einmaligen Lebensgeschichte jedes einzelnen Menschen virulent. In der Frage: Was ist der Mensch? schwingt immer auch die Frage: Wer bin ich? mit. Wie wird also die prinzipielle Bestimmung des Menschen mit der konkreten Verfasstheit des Einzelwesens Mensch vermittelt? 3.3.4.1 Das Bewusstsein der Individualität Barth nimmt dazu den Gedanken der pluriformen Beschränkung des menschlichen Lebens auf. Der Mensch hat ein Gegenüber in Gott – sein Jenseits. Er hat aber auch ein Gegenüber im anderen Menschen, durch den es ebenfalls begrenzt wird. Im Hinblick auf die Seinsform aller anderen Lebewesen ist der Mensch zudem prinzipiell geschieden, insofern Gott Mensch wird und den Bereich des Menschlichen hervorgehoben hat. Durch den Leib ist das Innere des Menschen beschränkt, vom Außen geschieden. Und in Analogie dazu bilden die Geburt und der Tod die zeitliche Begrenzung des Lebens. Das heißt also, der Mensch nimmt im Gefüge von Raum und Zeit einen bestimmten Ort ein, er besitzt numerische Identität, oder besser: er ist als Einzelwesen identifizierbar, er ist einmalig.343 Barth formuliert den Gedanken der Einmaligkeit zunächst im Blick auf die zeitliche Dimension: „Was ist es denn in Wahrheit gleich mit der Einmaligkeit des dem Menschen in bemessener zeitlicher Befristung angebotenen Seins? ‚Einmal‘ heißt: exklusiv diesmal! Einmal und kein zweites Mal! Einmal und nie wieder!“344 Das Leben in seiner zeitlichen Befristung ist der einmalig dem einzelnen Menschen zugewiesene Raum zur Verwirklichung seiner Möglichkeiten – die im eigentlichen Sinn in seiner Wirklichkeit gründen. Das Leben ist „die einmalige Gelegenheit“345 und wird zum Angebot Gottes, dem Sein des Menschen bzw. sich selbst entsprechend zu leben. 343

Vgl. hierzu die Ausführungen oben Abschnitt 2.3.5.2. KD III/4, 655. 345 Ebd., 648–683. Es handelt sich hier freilich um die von Gott gegebene einmalige Gelegenheit des menschlichen Lebens, nicht um die Anschauung des Menschen, der sich selbst Zeit gibt 344

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Es geht Barth hier wieder um die Aufwertung des diesseitigen Lebens, des „heute“ als die von Gott gegebene Möglichkeit zum Handeln. Dazu verweist er zunächst auf die Bedeutung des einzelnen für die Gemeinschaft, der Geschichte des einzelnen für die Weltgeschichte. Jeder Mensch ist ein Teil, wenn auch ein winziges, das seinen Ort im Gesamtgefüge der Menschheit über die Zeiten hinweg hat. Dieser einzelne Mensch ist aber insofern von ungeheurer Bedeutung, als sich auch durch seine Lebensgeschichte hindurch die menschliche Gesamtgeschichte vollzieht. Wichtiger ist es allerdings, dass er in alledem der Gegenstand der Handlung Gottes in Jesus Christus ist. Wieder macht Barth hier eine Analogie aus: So wie Jesus selbst einmalig die Geschichte Gottes mit dem Menschen ist, so ist auch der Mensch einzigartig in seiner einmaligen Lebensgeschichte. So wie Jesus ganz an seinem Ort war, soll deshalb der Mensch auch ganz an seinem Ort sein: „Gottes Wille und Gebot lautet offenbar – ganz allgemein bezeichnet – schlicht dahin, daß wir diesen Ort als den unsrigen, als den uns zugewiesenen erkennen, ernst nehmen und beziehen sollen.“346 Es gibt deshalb ein christlich begründetes und gefordertes: „carpe diem“, ein Sich–selbst-Ergreifen und Verwirklichen. In regelrecht ‚weisheitlich‘ anmutenden Passagen versucht Barth Kriterien für das postulierte Bewusstsein von Individualität zu formulieren: Jeder Mensch soll seinen eigenen Weg suchen und begehen, sich zwar offenhalten für die Erkenntnis der Wege der anderen, ohne aber ihnen nachzufolgen. Individualität heißt auch Trennung, Einsamkeit und vor allem Entschlossenheit, das zu verwirklichen, was in ihn gelegt ist.347 Der Mensch wird deshalb ein Beschäftigter sein, der Prioritäten zu setzen vermag und sich durch Konzentration auf das eigene Proprium auszeichnet: Man erkennt den seine einmalige Gelegenheit wahrnehmenden Menschen daran, daß er bei Vielem, was Andere beansprucht und was an sich auch ihn beanspruchen könnte, nicht dabei – bei dem aber, was gerade ihn ernstlich beansprucht, ganz dabei ist.348

Als letztes und wichtigstes Kriterium nennt Barth aber das Bewusstsein des Todes, das heißt, des durch Gott in Frage gestellten Lebens. Der Mensch soll sich dadurch auszeichnen, „daß er immer bedenkt, daß er sterben wird und daß er sich vor dem Sterben nie fürchtet.“349 Das Leben wird durch das Wissen um den Tod zur einmaligen Gelegenheit, allerdings nur in der Hinsicht, oder nimmt, und so „das Leben als letzte Gelegenheit“ vor seinem Ende verstehen muss. Vgl. Gronemeyer, Leben als letzte Gelegenheit. 346 Ebd., 665. 347 Barths Ausführungen erinnern zuweilen an Kierkegaards Begriff des Einzelnen, auch wenn hier freilich keine Umpolung und Vorordnung der Wirklichkeit des Einzelnen gegenüber (der Unwirklichkeit) der Gattung vollzogen wird. Vgl. hierzu Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, hg. von L. Richter, Werke Bd. 4, Hamburg 1991, bes. 114/115. 348 KD III/4, 675. 349 Ebd., 675.

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dass der Tod als Grenze des Lebens verstanden wird und dass das „Memento mori!“ als ein „Memento Domini!“ zu stehen kommt. Denn bleibt es beim bloßen Bewusstsein der Endlichkeit und damit der Furcht vor dem Tod, dann würde das Leben nicht zur einmaligen, sondern zur letzten Gelegenheit und müsste voll ausgeschöpft werden – ohne Rücksicht auf Verluste. Für Barth muss von der Einmaligkeit und Individualität des Menschen zunächst aufgrund der zeitlichen Beschränkung des Lebens gesprochen werden. Damit ist aber noch immer nur relativ allgemein vom Ort des Menschen im Gefüge von Raum und Zeit und der Herausforderung, diesen zu beziehen, gehandelt. Barth geht deshalb noch einen weiteren Schritt in die Konkretion, gleichsam auf den einzelnen zu, indem er zwischen dessen „Beruf“ und seiner „Berufung“ unterscheidet.350 Der wirkliche Mensch ist darin ein einzelner, dass er ganz bestimmte Lebensumstände, ganz bestimmte – zunächst natürliche – Begrenzungen hat. Der „Beruf“ eines Menschen ist seine geschöpfliche kontingente Stellung im Ganzen der Welt, es „ist ‚der Ort der Verantwortung‘ (D. Bonhoeffer), der terminus a quo aller Erkenntnis und Erfüllung des Gebotes, der Stand (status) des Menschen, der durch das Gebot in die Freiheit gerufen wird.“351 Der Beruf des Menschen ist dadurch bestimmt, dass er seiner Verfügungsgewalt entzogen ist und auch nicht in allen seinen Dimensionen durchdrungen werden kann, er bezeichnet vielmehr das unverrechenbare faktische Sosein und Dransein des Einzelnen. Davon unterscheidet sich nun aber die Berufung des Menschen insofern, als sie das Neue (ist), das zu dem, was der Mensch von Gott her schon ist, hinzukommt, und zwar nun nicht bloß in Form einer weiteren göttlichen Fügung im Zusammenhang seines Waltens als Schöpfer und Herr, sondern im Modus des Gebotes, der Freiheit, des Gehorsams hinzukommt.352

350 Diese Differenzierung von Beruf und Berufung ließe sich mit Ricoeurs Konzeption der „narrativen Identität“, der die Unterscheidung von „Selbigkeit“ und „Selbstheit“ zugrunde liegt, vergleichen. Die Selbigkeit als Bezeichnung für das Faktische Sosein bzw. Gewordensein wäre mit Barths Verständnis von „Beruf“, die Selbstheit als individuelles Selbstergreifen wäre mit Barths Begriff der „Berufung“ – vorsichtig formuliert – in Verbindung zu bringen. Auch bei Ricoeur handelt es sich gleichsam um eine Identitätsdialektik, die allerdings nicht im theologischen Kontext, d.h. im Blick auf die Gottesbeziehung konzipiert ist. Vgl. hierzu oben Abschnitt 2.3.5.4. 351 KD III/4, 687. 352 Ebd. Hier ist nun auf die ausführliche Beschreibung der „Berufung“ im Rahmen der Versöhnungslehre KD IV/ 3,§71 „Des Menschen Berufung“ (553–779) vorauszuweisen. Barth beschreibt hier eindrücklich das Christwerden und das Christsein. Die Bedeutung der Zeit wird hier für Barth erneut wichtig (KD IV/3, 565): „Er (sc. der Mensch) ist auf Grund und in der Kraft seiner Koexistenz mit Jesus Christus […] virtuell schon ein anderer, ein neuer Mensch. Und das heißt praktisch: das es ihm von jenem her auf alle Fälle bevorsteht, durch ihn und zu ihm berufen zu werden, daß er von ihm her für das auch an ihm sich vollziehende Werk des Heiligen Geistes vorgesehen und also zum Hörer des Wortes Gottes – zwar noch nicht gemacht, wohl aber präordiniert und prädisponiert ist.“ Festzuhalten ist hierbei, dass Barth die Berufung als ein Wirken des

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Die Berufung ist das eigentliche Thema der christlichen Ethik, da der Mensch hier nun in seinem konkreten Herausgefordertsein durch Gott betrachtet wird. Durch Gottes Gebot wird der einzelne zunächst auf seinen Beruf verwiesen, er wird zur Annahme der eigenen Beschränkungen – die Barth als Freiheitsraum versteht – aufgefordert, um dann aber diese Beschränkungen zu transzendieren. Während der Beruf die Bezeichnung für das statische Faktum dessen ist, was Gott der Schöpfer und Erhalter aus dem Menschen – bis auf den heutigen Tag – gemacht hat, ist die Berufung die Bezeichnung für die konkrete Herausforderung des Menschen, in die er einwilligen soll, die Bezeichnung dafür, was Gott aus dem Menschen machen will. So sehr also jeder Mensch von Natur aus einen Ort im Gefüge von Raum und Zeit und damit in der Geschichte Gottes hat, so soll er doch diesen Ort in vollem Bewusstsein und vollem Gehorsam beziehen und ausfüllen. Der Mensch hat gleichsam eine Rolle im Plan Gottes, ist aber durch das Gebot Gottes aufgefordert, diese Rolle auch zu spielen, so wie es seinen Möglichkeiten entspricht. Der Mensch schreibt sich in die Geschichte Gottes mit ihm ein, er wird zum Co-Autor seines Lebens.353 3.3.4.2 Die Verwirklichung der Identität in der Dialektik von „Beruf“ und „Berufung“ Barth beschreibt nun vier wichtige Dimensionen des Berufs des Menschen, in dem ihn die Berufung trifft. 1.) Der Lebensprozess des Menschen gliedert sich durch verschiedene Lebensalter. Die sind zwar nach Barth nicht klar abgrenzbar, aber sie beschreiben relative Abschnitte im Lebenslauf, die jeder Mensch auf ähnliche Weise durchschreitet.354 Für Barth ist sowieso nicht wesentlich, einen Abschnitt genau zu charakterisieren, die Struktur des Berufs im Detail zu erhellen, sondern der Blick auf die Berufung, die gleichsam die Qualität des Lebensalters bestimmt. Die Berufung, oder die Herausforderung durch Gott, trifft den jungen Menschen auf eine andere Art als den alten Menschen, aber es gibt in der Jugend wie im Alter „unreifes“ und „reifes“, „weises“ und „unweises“ Verhalten. Eigentlich wichtig und bedeutsam kann offenbar die Bedingtheit des Lebensalters, in der jeder Mensch existiert, nur sein als die göttliche Bestimmtheit seines Jetzt, als das Heiligen Geistes versteht und dass prinzipiell jeder Mensch – aufgrund seiner Erwählung in Jesus Christus – prädisponiert ist für dieses Wirken. Dabei ist das Wirken des Geistes nicht an die Lebenszeit des Menschen gebunden, es ist frei, so dass Barths Ausführungen in Richtung einer Apokatastasis-Vorstellung führen. 353 Die Bedeutung von KD III/4,§56 ist Walter Sparn (Extra internum. Christologische Revision der Prädestinationslehre in Karl Barths Erwählungslehre, in: Die Realisierung der Freiheit, 44– 75) scheinbar entgangen, wenn er suggeriert, Barth löse die Individualität des Menschen auf. 354 Vgl. hierzu die Ausführungen oben zu Erikson: 2.3.2.

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jedesmal andere „von hier aus“, von dem her er laut des Gebotes nach jenen neuen Ufern aufzubrechen hat, als wäre es das erste und letzte Mal.355

2.) Eine weitere, nun eine Art äußere Beschränkung bedeutet der konkrete geschichtliche Standort des einzelnen Menschen. Keiner hat sich die Zeit und den Ort, an dem sich seine Lebensgeschichte vollzieht, frei gewählt. Wo er geboren und in welchem Milieu, welchem Land, welcher Religion etc. er groß wird, wann er mit seiner Lebensgeschichte in die Weltgeschichte eintritt ist für den Menschen nicht bestimmbar. Er muss – zumindest im größeren Zusammenhang – den Standort akzeptieren, die Situation annehmen, soll diesen aber als die bloße „Bereitstellung für seine Berufung“356 verstehen und die Determination von dort aus überschreiten. 3.) Ähnliches gilt auch für die innere Beschränkung des Menschen, seine konkrete psycho-physische Bedingtheit. Jeder Mensch hat bestimmte Begabungen und Neigungen und ist dadurch bis zu einem gewissen Grad ebenfalls determiniert. Aber auch hier ist für Barth nicht die genaue Bestimmung der inneren Grenzen vonnöten, und er regt auch keine investigative Selbsterkenntnis an, sondern es geht wiederum um die Inanspruchnahme des konkreten Menschen durch Gott in seiner Berufung, die den Voraussetzungen des einzelnen völlig angemessen ist, ist doch Gott, der den Gehorsam fordert, auch der Schöpfer, der die Anlagen dazu geschaffen hat. Durch die göttliche Berufung wird der Mensch in seiner natürlichen Ganzheit, „als sein wahres Selbst“357 von Gott in den Dienst genommen und nur im Achten auf die Berufung durch Gott kommt der Mensch sich damit sozusagen selbst auf die Spur. 4.) Zuletzt verweist Barth auf die näheren aktuellen Begrenzungen der Lebenssituation, den „Wirkungskreis“ des Einzelnen. Hier, im Blick auf den Menschen als „aktives Glied der menschlichen Gesellschaft“, wird nun aber offensichtlich, dass es sich um eine komplexe Dialektik von Beruf und Berufung handelt. Der Mensch lebt in einem engeren Lebensumfeld, einer Familie, hat evtl. einen Beruf – im herkömmlichen Sinn – und sucht sich ein Tätigkeitsfeld. Auch wenn hier wiederum viele Vorgaben zu konstatieren sind, so eignet dem Menschen doch eine gewisse Freiheit, sich dieses nähere Lebensumfeld selbständig zu gestalten. Die Dialektik besteht nun darin, dass die Berufung durch das Gebot Gottes den Menschen immer in diesem aktuellen Umfeld und – noch kleinteiliger – in einer bestimmten Situation trifft, diese aber sofort verändert, insofern der Ruf Gottes Gehör findet. Die Berufung assimiliert sich so gleichsam an den Beruf, der nun zur neuen Situation bereitet wird, in der die Berufung wieder als Neue gehört werden kann. 355

KD III/4, 702. Ebd., 714. 357 Ebd., 723. 356

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Barth versucht durch diese Dialektik folgendes festzuhalten: Zum einen ist der Beruf als ‚Schöpfung‘ Gottes, d.h. aus dem Schöpfungsund Vorsehungshandeln resultierender Zusammenhang, zu verstehen. Der Mensch kommt deshalb immer schon vom Handeln Gottes her, ja er steht gleichsam in ihm. Der einzelne kann und darf damit sein Gewordensein, insbesondere die unverfügbaren Anteile daran (Gene, geschichtliche Situation etc.), als gute Beschränkung Gottes verstehen und als Ort des neuen Handelns durch die göttliche Berufung. Zum anderen ist es aber das Gebot, die individuelle(!) Herausforderung des Menschen durch Gott, die den Menschen auf den Weg bringt, durch die er gleichsam provoziert wird, sich selbst zu verwirklichen.358 Damit kommt ein Element der Diskontinuität oder besser der Dynamik hinein, das aller erst das Sein des einzelnen als Prozess, als konkrete Lebensgeschichte verstehbar werden lässt. Überdies ist der Mensch durch das Vernehmen des Gebotes zum Gehorsam sozusagen als ‚eigenwillige‘, einwilligende Tat aufgefordert. Er ist in den Freiheitsraum der Entsprechung gerufen, ist damit aber an seinem Weg beteiligt, an der Planung und Durchführung; er kann die Freiheit des Berufes und besonders der Berufung nutzen. Aus diesen beiden Bestimmungen folgt die Erkenntnis, dass sich das Sein des wirklichen Menschen gerade durch den kontingenten diskontinuitiven Anspruch des Gebotes als – durchaus kontinuierliche – Abfolge von Ereignissen göttlicher Zuwendung verstehen lässt. Der Mensch ist der Gegenstand einer göttlichen Bildungsgeschichte, er ist im Werden, in der Verwirklichung, indem ihn Gott verwirklicht und auf seinem Weg führt. Indem der Mensch dem Anspruch im Rahmen seines „Berufs“ entspricht und seine „Berufung“ ergreift, ist er aber nicht mehr nur Objekt, sondern auch das CoSubjekt seiner Lebensgeschichte und Verwirklichung. Barth ermutigt deshalb ausdrücklich zur „authentischen Subjektivität“ (Charles Taylor), zum Selbstverwirklichungsstreben, wenn beides einen theonomen Hintergrund hat. Es entspricht jedenfalls nicht seiner Intention, die Individualität und Selbstbestimmung des Menschen durch das Konstrukt einer „alleinigen Autonomie Gottes“ (Trutz Rendtorff) zu erdrücken, auch wenn sich über weite Strecken der Anthropologie dieser Gedanke nahe zu legen scheint. Insbesondere im § 56 wird aber deutlich, dass es Barths Anthropologie verzeichnet, wenn ihm die Vorstellung einer „abstrakten Herrscher-Freiheit Gottes“ und einer „Unterordnungs-Freiheit des Menschen“ vorgeworfen wird.359 Es handelt sich in der Beziehung zwischen Gott und Mensch vielmehr um eine 358

Barth betont die Diskontinuität etwa in der folgenden Frage: „wird er [sc. der Mensch] praktisch Ja dazu sagen, daß Jesus Christus sich nun einmal nicht die Gewohnheit (auch nicht die heiligste), sondern die Wahrheit genannt hat?“ 359 Graf, Freiheit der Entsprechung, 115.

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Liebesbeziehung, die eingedenk der unendlichen Differenz der beiden Partner, in der Herrschaft, die liebende Verantwortlichkeit und Hingabe betont, sowie in der Unterordnung die eigene göttliche Kondeszendenz spiegelt und den heilsamen Lebensraum dem Geschöpf gönnt. Freilich, die Lebensgeschichte des Menschen bleibt als die konkrete Geschichte mit der Geschichte (Gottes mit dem Menschen) konsequent von außen und von oben bestimmt – und eben weniger von innen. Barth sieht aber gerade darin – im letzten Abschnitt von §56 „Die Ehre“ – die Würde des Menschen und seine Gottebenbildlichkeit garantiert. Die Würde und Ehre des Menschen kommt ihm von außen zu, sie liegt gleichsam im Verhalten Gottes und nicht im Verhalten oder Sein des Menschen. Die Identität des Menschen – und in diachroner Perspektive, die Identitätsgeschichte – besteht dann darin, der Gegenstand göttlichen Handelns zu sein, (immer wieder) von Gott gebraucht, geehrt und anerkannt zu werden, von ihm in den Dienst gerufen zu werden. Identität kommt dem Menschen zu, insofern er Gott gehört, ob er es wahrhaben will oder nicht: „‚Ich rufe dich bei deinem Namen, du bist mein!‘ (Jes 43,1). Eben von diesem Namen, bei dem Gott einen Jeden ruft, eben davon, daß der Mensch Gottes Eigentum schon ist“ und bleibt, handelt Barths Anthropologie und damit seine Identitätstheorie.

3.4 Kritische Würdigung Kritische Würdigung Mit dieser zusammenfassenden Würdigung der Anthropologie Karl Barths sollen die Grundlinien seiner Konzeption und die Anfragen daran noch einmal gebündelt vorgetragen und bewertet werden. Es geht um die positiven aber auch schwierigen Aspekte seines Denkens für das Verhältnis von Theologie und Humanwissenschaften, für die Gottebenbildlichkeits- und Identitätsvorstellung und infolgedessen für eine aktuelle, spätmoderne theologische Anthropologie. Es geht also nicht um ein Ja oder ein Nein, sondern um das abschließende Ausloten der Tiefen und Untiefen seiner Konzeption, d.h. also nicht darum, ob Barths Denken ‚von oben‘ sein darf oder kann360, 360 Als eine solche verkürzende und plakative Bewertung verstehe ich Konrad Stocks hypertrophe Verwendung des Begriffs der Aporie im Blick auf Karl Barths Anthropologie. Stock bündelt seine Kritik in der Behauptung, „daß eine Anthropologie der Verheißung in dem von Barth intendierten Sinne aporetisch“ sei (Anthropologie der Verheißung, 235). Was Stock mit dem verwendeten Begriff der Aporie zu verstehen geben will, wird aber nicht recht einsichtig. Kann eine ontologische, christologische Anthropologie nicht funktionieren? Hat Barth sich wirklich – im Wortsinn – in eine ‚Ausweglosigkeit‘ hineinmanövriert, und ist seine Lage als eine solche zu desavouieren? Allein, dagegen spricht schon die Tatsache, dass Barth selbst einen Weg geht und zwar in beeindruckender Konsequenz. Der Eindruck des Aporetischen drängt sich nun wirklich nicht auf, es sei denn, man stilisiert ein berechtigtes Problem, nämlich wie sich soteriologische und ontologische Anthropologie zueinander verhalten, zum ausweglosen Problem bzw. zu einem solchen, das man nur auf eine Art, die

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sondern darum, ob und wie es gleichsam ‚unten‘ auch ankommt. Die in der Darstellung anklingenden kritischen Bemerkungen nehme ich weitgehend auf. Daraus ergeben sich die folgenden Problembereiche: 3.4.1 Die biblische Anthropologie und die ‚Fairness‘ Barths Wie wir sahen, macht Barth kein Hehl daraus, dass er es für die einzige angemessene Vorgehensweise hält, von oben bzw. von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus her den Menschen zu verstehen. Nur die Anthropologie, die so strukturiert ist, lässt sich als theologische Anthropologie bezeichnen, so Barth. Der Bezug zum biblischen Zeugnis ist deshalb das wesentliche Konstituens, findet die theologische Anthropologie hier ja ihren Begründungszusammenhang. Barths Versuch, die anthropologischen Erörterungen immer auch an biblische Texte und Zusammenhänge anzubinden, sie im eigentlichen Sinn sogar daraus abzuleiten, ist deshalb folgerichtig und positiv zu würdigen. Seine biblischen Exkurse und insbesondere die breite Auslegung der Schöpfungsgeschichte(n) in KD III/1 sind beeindruckende Zeugnisse seiner exegetischen Fähigkeiten, seines enormen Systematisierungs- und auch ‚Einfühlungsvermögens‘. Der biblische Bezug bewahrt Barth überdies – jedenfalls zuweilen – vor einer völligen Durchsystematisierung, erweisen sich doch die Texte immer wieder auch als widerständige Bezugsgrößen. Barth versucht biblische Texte bzw. biblisch fundierte Aussagen nicht gegen ‚moderne‘ Einsichten der Humanwissenschaft auszuspielen, sondern beide in den Dienst der Darstellung seiner christologischen Anthropologie zu nehmen. Dennoch, Barth kann dabei zwar den Eindruck abwehren, als sei biblische Anthropologie und Schöpfungstheologie einfach überholt, allerdings wird ihr Potential als Deutungsmittel des gegenwärtigen Selbstverständnisses des Menschen nicht deutlich, weil sich Barth letztlich nicht auf die Ebene des Selbstverständnisses begibt, das die Texte implizieren, sondern in der Position des souveränen Systematikers verharrt, der die heterogenen Teilstücke biblischer Anthropologie von der Christologie her homogeninicht die analogisch-christologische Karl Barths ist, lösen kann. Dabei wird dann aber die eigentliche Aporie übersehen, die darin besteht, dass es für beide Wege, die soteriologisch-heilsgeschichtliche und für die ontologisch-christologische Anthropologie durchaus gute Gründe gibt und sich beide nicht aufeinander reduzieren oder in eine blanke Synthese aufheben lassen. Die Spannung bleibt bestehen, beide Positionen ‚funktionieren‘ auf ihre Weise und müssen als ‚gangbare‘ Alternativen betrachtet werden. Es ist deshalb die Aufgabe einer modernen Theologie, einen Ausweg aus den unfruchtbaren Alternativen und aus dem manchmal automatisiert erscheinenden Antagonismus der theologischen Schulen heraus zu finden. Knappe und missverständliche Schlagworte (Offenbarungspositivismus und -monismus, unmoderne Theologie, Supranaturalismus, Aporie etc.) aber auch unkritische Synthetisierungsversuche sind insbesondere im Blick auf die Theologie Karl Barths fehl am Platze.

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siert. Auch hier zeichnet sich ein Denken und Ordnen „von oben“ ab. Barth geht etwa in seinen hermeneutischen Ausführungen – in den Prolegommena zur Kirchlichen Dogmatik – von der „souveräne(n) Freiheit“ des Wortes Gottes im Menschenwort aus. Deshalb folgert er: Wir […] wissen, dass es dieser Sache gegenüber nicht, […], um jenes kecke, die Sache meisternde und hinter sich bringende Zugreifen gehen kann, dass vielmehr das Ergriffensein von der Sache […] Alles ist, dass wir nur als die von der Sache Gemeisterten, als die, die sie immer vor sich, nie hinter sich haben, das Wort und die Menschlichkeit des Wortes erforschen können, durch das sie uns gesagt ist.361

Es erscheint zuweilen so, dass Barth tatsächlich gemeistert ist durch die Sache des Wortes Gottes, dass er aber – mit dieser Sache im Rücken – die biblischen Texte selber wiederum meistert und hinter sich bringt, d.h. sie zur Auslegung der Sache, insbesondere seines Analogieschemas, in den Dienst stellt. Das allgemeine Prinzip der Geschichte Gottes mit den Menschen, nicht aber die Lebensgeschichten, die individuellen Erfahrungen der Menschen, sind in erster Linie der Gegenstand seiner biblischen Exkurse. Barth zieht von vornherein, mit dem biblischen Zeugnis im Rücken, eine klare Grenze zwischen theologischer und nicht-theologischer Anthropologie. Er will sich fernhalten von jeder Vermischung und den verschleierten Übergriffen von der einen oder anderen Seite: Wir müssen vielmehr davon ausgehen, dass der Mensch von vornherein nicht ohne Gott zu verstehen ist. Würde die theologische Anthropologie auf diesen Ansatz verzichten, dann würde sie mit ihrem Gegenstand und Thema sich selbst aufgeben und dann – wenn auch sie dann erst nachträglich auf die Frage nach Gott zurückkommen wollte – dann würde sie für die nicht-theologische Wissenschaft auf alle Fälle eine uninteressante Sache werden. Aber ob uns die Anderen interessant finden oder nicht – wir haben hier auf alle Fälle schon im Ansatz unseren eigenen Weg anzutreten.362

Barth hat Recht, wenn er sich auf die psychologische Einsicht bezieht, dass Interesse und Gesprächsbereitschaft eher dort evoziert werden, wo eine klare Position vertreten wird und der andere auf einen selbstbewussten Partner trifft. Barth signalisiert deshalb immer wieder einen selbstbewussten Umgang mit den Humanwissenschaften, gleichsam auf gleicher Augenhöhe, aber mit offenem Visier und ohne den Gesprächspartner an falscher Stelle zu schonen. An diesem Selbstbewusstsein theologischer Anthropologie kann man sich stoßen und reiben, man kann es für überzogen oder angemessen halten, man kann völlig opponieren oder zustimmen, aber sich zu diesem Anspruch neutral zu verhalten, fällt schwer. Barths Konzeption des

361 362

KD I/1, 520. KD III/2, 416.

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Verhältnisses von Theologie und Humanwissenschaften ließe sich deshalb als hart, aber fair bezeichnen. Bezieht man Barths Konzeption nun auf die veränderte Gesprächslage in einer säkularisierten Gesellschaft, die sich als Set pluraler Diskurse formiert hat, in denen sich die Frage nach dem Menschen in der Spätmoderne artikuliert, dann erscheint Barths harte Haltung und Grenzziehung zunächst als durchaus zeitgemäße und angemessene Positionierung theologischer Anthropologie.363 Das eigene Selbstverständnis scharf zu profilieren und dabei den eigenen Wahrheitsanspruch nicht zu verleugnen oder zu verdecken, sich andererseits aber bewusst zu sein, damit auf dem Feld der Anthropologie nur eine Stimme unter vielen darzustellen und in Konkurrenz zu anderen Deutung zu stehen, ist nicht nur eine Forderung, die aus Sicht der Theologie, sondern auch der aktuellen Wissenschaftstheorie entspringt. Auch wenn sich der Grund der theologischen Anthropologie, die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, als wahr, umfassend und allgemeingültig behaupten lässt, so werden doch die Diskurse, in denen diese Sicht eingebracht wird, fragmentarisch sein und bleiben und vor allem diesen Anspruch auch in und durch die Pluralität ‚gebrochen‘ erscheinen lassen. Barth könnte mit dieser Situation der Deutungspluralität, die sich seit damals freilich verschärft hat, recht gut umgehen.364 Zumal er sich nicht auf die Ebene der Erörterung geschichtlicher Entwicklungen anthropologischer Problemlagen begibt. Barth sieht zwar, dass die Anthropologie und nicht mehr die Kosmologie im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen Theologie und Philosophie stehen, dass außerdem eine christliche Weltanschauung und Anthropologie an Boden und Selbstverständlichkeit verloren und Anfeindungen zu ertragen haben – auf andere Art und Weise als zur Zeit des Nationalsozialismus –, aber er lässt sich gerade nicht auf eine Säkularisierungstheorie ein, d.h. darauf, dass das christliche Menschenbild mit Hilfe des genealogischen Verweises durchgesetzt werden soll.365 Barth trauert der 363 Geradezu zum postmodernen Denker wird Barth bei Gundlach (Selbstbegrenzung Gottes, 294) stilisiert: „Barths Theologie spiegelt das Ende der neuzeitlichen Monomythen wider, sie reagiert auf den Verlust eines Metarahmens und auf die Pluralisierung der Deutungssysteme. Darin kann man einen Modernisierungsschritt der Theologie Barths sehen, insofern sie auf ein wirklich gegebenes Problem angemessen reagiert.“ Es wird hier allerdings nicht verständlich auf welche geistesgeschichtliche Strömung Barth „reagiert“. Der Postmodernismus kommt erst in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts auf. Schwerer wiegt allerdings die These Gundlachs, dass es Barth als postmodernen Denker auszeichne, keinen exklusiven Wahrheitsanspruch mehr zu vertreten: „Denn der exklusive Wahrheitsanspruch der Christuserkenntnis wird nach außen als eigenständiger, aber nicht einziger Wahrheitsanspruch vertreten“ (300). Wie Gundlach zur These eines pluralen Wahrheitsverständnisses bei Barth kommt, bleibt allerdings völlig schleierhaft und verzeichnet die Sachlage nachhaltig. 364 In dieser Hinsicht ist Gundlach zuzustimmen. 365 Vgl. Pannenbergs Säkularisierungsthese in: Christentum in einer säkularisierten Welt; sowie unten Abschnitt 4.1.1.

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verlorenen Ganzheit christlicher Welt- und Selbstdeutung nicht nach, sondern möchte darauf vertrauen, dass die Selbstevidenz Gottes im Nachvollzug biblischer Anthropologie zum Tragen kommt. In diesem Sinne zeichnet sich Barths Ansatz nicht nur durch Fairness, sondern auch durch Freiheit aus. Ist allerdings diese Freiheit lediglich eine von oder auch eine Freiheit für die humanwissenschaftlichen Gesprächspartner? 3.4.2 Problematische Differenzierungen Nun lässt sich also fragen, wie diese Freiheit und mögliche Fairness im Bezug auf das interdisziplinäre Gespräch im Näheren zustande kommt. Barth kann seiner scharfen Grenzziehung zwischen Theologie und Humanwissenschaften nur Grund verschaffen, indem er zuvor andere ebenso scharf erscheinende Unterscheidungen und Grenzen einführt. So unterscheidet Barth zum ersten zwischen Phänomen und Wesen. Indem er aber der Theologie die Erkenntnis des Wesens des Menschen, aller anderen Anthropologie aber – und im Rahmen der theologischen Anthropologie nur sekundär – die Behandlung der Phänomene zuweist, wird der unterschiedliche epistemische Zugriff auf den Gegenstand scharf charakterisiert und das klare Gegenüber von Theologie und Humanwissenschaften begründet. Nur, ist die Unterscheidung von Phänomen und Wesen dem Gegenstand der Erkenntnis, nämlich dem Menschen, angemessen? Die Begrifflichkeit impliziert – zumindest suggeriert sie – doch eine Wertung und erinnert an andere Unterscheidungen, etwa die von Schein und Sein, von Akzidenz und Substanz oder von Schale und Kern. Will das aber Barth sagen: Die nichttheologische Anthropologie beschäftigt sich mit dem Schein oder der Schale, während die Theologie das Sein und den Kern erkennt? Würde dadurch nicht der wahre und vor allem ganze Mensch auch für die Theologie zerrissen? Und diskreditiert Barth die nicht-theologische Anthropologie nicht durch eine solche Unterscheidung, die faktisch nicht von einer Wertung und damit einer Überordnung theologischer Erkenntnis über die profane, freigehalten werden kann? Humanwissenschaftliche Erkenntnis wird zur defizitären Erkenntnis, weil ihr das Entscheidende fehlt; sie erreicht niemals das Wesen und arbeitet sich an der anthropologischen Oberfläche ab. Meiner Meinung nach ist die Unterscheidung von Phänomen und Wesen im Blick auf den Erkenntnisgegenstand der Anthropologie nicht angemessen und nicht konsistent; überdies ist es fraglich, ob die Konsequenzen auch wirklich im Sinne Barths sind. Denn, unbeschadet des Anspruchs theologischer Anthropologie, den Menschen von vornherein im Bund mit Gott und sein Sein darin begründet zu sehen, lässt sich doch etwa vom Phänomen des menschlichen Bewusstseins oder seiner Sozialität eben nicht behaupten, dass

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es nicht wesentlich für das Menschsein ist. Barth muss zwar die Perspektive theologischer Anthropologie, als Verständnis des Menschen aus der Gottesbeziehung, scharf von anderen Perspektiven abgrenzen, und er kann auch behaupten, dass nur in der Beziehung zu Gott der Mensch überhaupt und wirklich ist, aber er kann den nicht-theologischen Anthropologien doch nicht absprechen, sich mit dem Menschen zu beschäftigen bzw. behaupten, es sei nur ein Schatten- oder Scheinmensch. Damit entzieht Barth seinen Gesprächspartnern die gemeinsame Grundlage, den Gegenstand aller anthropologischen Bemühungen und okkupiert ihn für die theologische Anthropologie. Diese Okkupation drückt sich dann im Begriff des Symptoms aus, insofern ein Phänomen nur richtig erkannt wird, wenn es im Licht des Wesens betrachtet und so in seinem Bezogensein auf Gott ent-deckt wird. Barth konterkariert mit diesen Differenzierung aber seine freie, harte, und auch faire Haltung zu den anthropologischen Wissenschaften, denn er lässt ihnen keine wirkliche Freiheit in der Untersuchung der ‚Phänomene‘ des Menschlichen, insofern er dann doch einen genuinen – theologisch qualifizierten – Zugang ausweist; letztlich damit aber die Türen zum Gespräch schließt, um selbst und aus eigener Kraft Wesen und Phänomen zu rekonstruieren. Eine zweite Unterscheidung schließt sich an die erste und an deren Problematik an. Barth unterscheidet zwischen spekulativer und exakter Wissenschaft und versucht damit, seine Gesprächspartner näher zu charakterisieren und Licht ins dunkle Feld der nicht-theologischen Anthropologie zu bringen. Es scheint einen unterschiedlichen Umgang mit den Phänomenen zu geben, einen der empirischen, nachprüfbaren Forschung und einen des philosophischen, spekulativ verunreinigten menschlichen Selbstverständnisses. Beiden gemeinsam ist der Charakter des Zirkulären – der Mensch belehrt sich über sich selbst – und das Verhaftetsein in der Sphäre der Phänomene. Dennoch ist für Barth die spekulative Variante ‚schlimmer‘, weil sie sich in das Ringen um das Wesen des Menschen einschaltet. Barth wittert in ihr die Tendenz, die anthropologische Sachlichkeit zu verlassen und in den Versuch der Selbstkonstitution überzuwechseln. Dass es hier freilich zu schärferen Auseinandersetzungen mit der theologischen Anthropologie kommt, ist leicht verständlich, aber dass dadurch die Erkenntnis der Phänomene verstellt wird, ist nicht recht einsehbar. Es ist doch nur eine virtuelle, letztlich unbrauchbare Differenzierung zwischen exakter und spekulativer – Barth sagt übrigens nicht ‚nicht-exakter‘ – Wissenschaft. Die Grenzen sind viel fließender, exakte Wissenschaft kommt nicht ohne Axiomatik und theoretischen Über- oder Unterbau aus (etwa in der Psychologie etc.); genauso wenig verzichtet die Wissenschaft, die Barth als spekulative bezeichnet, auf empirische und exakte Forschung (philosophische Anthropologie). Wo liegt die genaue Grenzlinie zwischen Adolf Portmanns Verständnis von Weltoffenheit, die Barth als Beispiel exakter Wissenschaft

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anführt, und etwa Max Schelers? Ist es der Begriff des Geistes, den Scheler verwendet, der biologische Einsichten ins Spekulative kippen lässt? Wo würde Barth Helmuth Plessner einordnen, der in genauem Blick auf die biologische Wissenschaft den philosophischen(?) Begriff der „Exzentrizität“ geprägt hat? Hier handelt es sich ja gerade nicht um den Versuch der Selbstkonstitution, sondern um den der Beschreibung der anthropologischen Struktur des Menschen. Barth hält die Unterscheidung von exakter und spekulativer Anthropologie selbst nicht durch. Ja, er widerspricht seiner Vorliebe für exakte anthropologische Forschung, wenn er in der Auseinandersetzung mit den nichttheologischen Anthropologien durchweg solche des spekulativen Typs behandelt (Fichte, Jaspers, Brunner). Genau hier und nirgends sonst werden aber die Themen und Phänomene behandelt, die Barth in der eigenständigen Erörterung der „Bestimmtheit“ und des „Da- und Soseins“ des Menschen aufnimmt: Sozialität, Bewusstsein, Zeitlich- und Geschichtlichkeit. Barth scheint die exakte Wissenschaft zu loben, um schneller und nachhaltiger mit der gescholtenen spekulativen Wissenschaft fertig zu werden, die sein eigentliches Gegenüber ist, und um zu einer umfassenden, stringent aus dem Ansatz beim wirklichen Menschen folgenden Anthropologie überzugehen. Damit aber, dass Barth die nicht-theologische Anthropologie und dann auch die theologische Anthropologie Brunners zirkulär scheitern sieht und gleichsam tabula rasa auf dem anthropologischen Feld macht, gewinnt er zwar freie Bahn, bürdet sich aber auch die Last auf, alles selber machen zu müssen, so als müsse er das anthropologische Rad neu erfinden. Selbst die exakte Wissenschaft erfreut sich keinerlei Aufmerksamkeit mehr. Dieses Vakuum aber muss Barth mit einem strengen Prinzip, mit klarer ordnender Hand – vom Wesen zum Phänomen – füllen, um nicht in der Vielschichtigkeit des Phänomens Mensch unterzugehen. Nur in einer Nebenbemerkung spricht Barth von den Weiseren der Weisen, die Konvergentes etwa im Bezug auf die Sozialität gefunden haben, ansonsten muss sich der Theologe Barth auch mit allen Fragen der Anthropologie belasten, einen eigenen und einsamen Weg gehen. Wenn überhaupt noch in den §§44–47 von nicht-theologischer Anthropologie gehandelt wird, dann im Rahmen scharfer Polemik und Apologie. So stilisiert Barth das Gegenüber von Personalismus und Idealismus zu einer prinzipiellen Alternative, wobei er vor Überzeichnung und Pauschalisierungen nicht zurückschreckt. Etwa in §46 kennt Barth keinen Freund, sondern nur Feinde, bleibt zuletzt bei einer bloßen Behauptung eines „konkreten Monismus“ stehen, nachdem er die Alternative von Spiritualismus und Materialismus, Monismus und Dualismus aufgemacht hat. Barth verortet sich und die biblische Anthropologie damit doch im vielstimmigen Konzert anthropologischer Einsichten – später noch genauer zwischen der Theorie vom Parallelismus von Geist

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und Leib und der ihrer Wechselwirkung –, er bricht dann aber das Gespräch mit dem abschließenden und pauschalen Verweis auf den „ganzen Menschen“ ab. Fängt hier aber nicht das Gespräch überhaupt erst an? Jetzt würde man sich eine Diskussion auf der Ebene exakter Wissenschaft wünschen! 3.4.3 Das ambivalente Verhältnis zu den Humanwissenschaften Es lassen sich also zwei Linien im Umgang Barths mit den Humanwissenschaften erkennen. Einerseits will er mit ihnen sprechen, sich mit ihnen im Bezug auf die Phänomene unterreden. Dabei suggeriert er, dass es eine gemeinsame Grundlage für die theologische und nicht-theologische Anthropologie gibt, und dass die letztere durchaus adäquate Erkenntnis der Phänomene haben kann. Die Anthropologie verzichtet dann auf den Versuch der Selbstkonstitution und erscheint als lediglich deskriptive. Trotz oder gerade aufgrund der Klarheit und des Selbstbewusstseins theologischer Anthropologie ließe sich daraus ein Modell der Kooperation ableiten. Die Theologie erkennt den Menschen in seiner Gottesbeziehung und hält die Gottesrelation für die grundlegende, während die Humanwissenschaften ihre Erkenntnisse, etwa im Blick auf den Selbst- und Weltbezug des Menschen einbringen können und in dieser ihrer Kompetenz anerkannt werden. Freilich werden sie auch theologisch kritisiert und korrigiert, wenn sie ihr Maß überschreiten, aber das müsste dann im Einzelfall erörtert und in wirklich kundiger Auseinandersetzung vollzogen werden. Es wäre dann ein gleichberechtigtes Gespräch, ein offener Dialog, der auch an Wahrheitsansprüchen und Axiomen nicht zerbrechen muss, sondern in dem gerade die Konvergenzen und die Divergenzen bis auf den Grund ausgelotet werden. Die spekulative Anthropologie würde dann zwar in ihrem Überbau kritisiert, aber ihr Verständnis der Phänomene analysiert und zur theologischen Anthropologie in Beziehung gesetzt.366 Freilich bedeutet dieser Ansatz einen hohen Aufwand und erfordert den Mut und die Ausdauer für lang andauernde, nur noch fragmentarische Diskurse. Barth scheint beides letztlich aber (noch) nicht aufzubringen. Barth verstellt sich – andererseits – vielmehr diesen Weg, indem er der nicht-theologischen Wissenschaft vom Menschen auferlegt, dann doch vom wirklichen Menschen herkommen zu müssen, um adäquate Erkenntnisse zu 366 Hier ließe sich als Beispiel die Tiefenpsychologie C.G. Jungs anführen, deren spekulativen und religiösen Überbau die theologische Anthropologie kaum unbesehen übernehmen kann, während eine freilich immer auch kritische Auseinandersetzung mit dem Verständnis des Un- und Unterbewussten oder des Selbstbegriffs wesentliche Impulse für ein christliches Menschenbild geben kann. Vgl. Hummel, Theologische Anthropologie, bes. 492–545, der hier geradezu als Gegenmodell zu Barths Konzeption des Verhältnisses von theologischer Anthropologie und Humanwissenschaft gelten kann.

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erhalten. Die Humanwissenschaften werden diesen Ausgangspunkt aber kaum teilen können, so dass ihre Ergebnisse in den Augen der Theologie nicht gesprächswürdig sind. Es reicht Barth scheinbar nicht, die Hülle der elaborierten Menschenbilder und der geringsten Spuren der Spekulation (nur) abzustreifen, sondern er muss ganz neu einsetzen. Die Bearbeitung der Phänomene ist dann also auch die Aufgabe der theologischen Anthropologie, die sich von niemandem als von sich selbst über den Menschen belehren lässt. Es handelt sich dann aber um das Modell der Autarkie oder – scharf formuliert – um das des Autismus. Leider sprechen manche Passagen und vor allem die Neubearbeitung der Phänomene des Menschlichen in §45–47 für dieses Konzept. Barth hatte außerdem zwar versucht, den Begriff der Sünde bzw. der sündhaften Erkenntnis, und damit des Verkennens, aus der Beurteilung der nicht-theologischen Anthropologie herauszuhalten, aber in diesem Modell der Autarkie wird deutlich, dass Barth ihr doch keine Erkenntnis der guten Natur des Menschen zubilligt. Weil der wirkliche Mensch Jesus Christus nicht erkannt wird, ist alle Erkenntnis letztlich korrumpiert bzw. verfehlt diese ihr Ziel und ihren Gegenstand. Das dürfte dann aber auch auf die exakte Wissenschaft zutreffen, die sich für nicht-religiös hält – was Barth begrüßen würde –, die sich aber auch nicht für christlich hält und die Erkenntnis des wirklichen Menschen ihren Forschungen und Ergebnissen vorschaltet – was Barth eigentlich nicht begrüßen könnte. Mit der Behauptung der Autarkie theologischer Anthropologie aber schließt sich Barth von den Diskursen der nicht-theologischen Anthropologien letztlich ab. Er zieht sich zurück in das theologische System des wirklichen Menschen und extrapoliert die Aussagen über das Phänomen Mensch von hier aus. Das aber lässt seine Auffassung vom Menschen häufig schematisch erscheinen und hilft nicht auf das Niveau ‚tiefenscharfer‘ Humanwissenschaften zu finden. Es ist für die theologische Anthropologie in KD III/2 zu resümieren: Barth kennt lediglich die ‚Freiheit von‘, hat aber noch nicht die ‚Freiheit für‘ ein faires Gespräch mit den Humanwissenschaft. Nun ließe sich allerdings noch erwägen, ob es sich vielleicht um ein ‚noch‘ nicht handelt. Es ließe sich vermuten, dass das zweite Modell der Autarkie insbesondere die Früh- und – hier auch noch – Mittelphase seines Denkens bestimmte, dass es aber in der Spätphase, besonders in KD IV/3, aufgebrochen würde.367 Insbesondere die versöhnlichen Signale, die Barth Brunner gegenüber äußert, könnten dafür ein Beleg sein.368 Dazu lässt sich 367 Vgl. zur Bedeutung von KD IV im Rahmen spätmoderner Interpretationen Karl Barths besonders Korsch, Dialektische Theologie, 88–82 und 175–177. Es ist hier etwa an KD IV/3, 122ff zu denken. 368 Vgl. etwa Karl Barth, Brief vom 31.10.1957 an Emil Brunner, in: Karl Barth – Emil Brunner. Briefwechsel 1916–1966, hg. von E. Busch, Gesamtausgabe/5. Briefe, Zürich 2000, 384: „Es

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sagen, dass die Töne in Barths Theologie sicherlich milder werden und insbesondere in der sog. Lichterlehre die menschliche Selbsterkenntnis in ein weicheres Licht kommt. Es lässt sich deshalb zu recht vermuten, dass Barth die Beziehung zu den Humanwissenschaften wahrscheinlich offener gestaltet hätte, hätte er die Anthropologie 10 Jahre später noch einmal auf die theologische Agenda gesetzt. Allerdings ändert sich auch in KD IV am christologischen Zugang zu den Phänomenen des Menschlichen nicht viel. Barth entfaltet auch hier die Christologie als „prinzipielles (singuläres) Faktum“369, dessen Universalität zu erweisen ist und aus welchem sich der Phänomenbestand des Menschlichen erschließt. Das Analogieprinzip als Schema scheint hier durch die stärkere Betonung der Pneumatologie korrigiert worden zu sein, aber eine Freigabe der Phänomene scheint auch hier noch nicht gegeben zu sein. Aber das sind weitgehend Vermutungen, so dass eine konsistente Beurteilung letztlich nur für die Anthropologie in KD III/2 gelten kann. 3.4.4 Der wirkliche Mensch a.) Der einzige und wesentliche Ausgangspunkt der theologischen Anthropologie ist nach Barth der wirkliche Mensch, zunächst der wirkliche Mensch Jesus, dann auch der wirklich gemachte Mensch überhaupt. Barth setzt nicht in der Sphäre der Immanenz an, dem dunklen Bereich der Phänomene und damit vor allem nicht in der korrumpierbaren Schöpfung, sondern beim transzendenten, liebenden Gott, der den Menschen ins Sein bringt und vor dem Nichtsein in Schutz nimmt. Die Anthropologie kommt deshalb aus dem Dunkel der Sünde ins Licht der Gnade; der Mensch wird auf dem Hintergrund des „sehr gut“ Gottes bestimmt. Diese Betonung der guten Geschöpflichkeit und die konsequente Abwehr aller theologischer und anthropologischer Konzepte, die den Menschen bloß in seiner unsäglichen sündhaften Verstrickung zu Gesicht bekommen, sind zunächst positiv hervorzuheben. Barth weigert sich zu recht, das Menschliche von vornherein unter den Generalverdacht der Sünde zu stellen, alles Schwere aber auch das Frohe des menschlichen Lebens, von vornherein dem sündigen war uns Dei providentia hominum confusione nicht gegeben, auf der damals vorhandenen Basis weiter zu koexistieren und zusammenzuarbeiten. Doch kann es dich interessieren zu hören, daß ich eben vor einer Stunde ein Stück Kolleg bzw. KD diktiert habe, in welchem das anima humana naturaliter christiana – zwar nicht von einem ‚neuen Barth‘, im Zusammenhang des alten, aber immerhin ausdrücklich – bejaht wird. Wie denn eine der Wirkungen des Älter- – oder sagen wir doch ruhig: des Altwerdens – bei mir die ist, daß ich nur noch leidenschaftlich Ja, ja, ja! sagen, alle Diastasen aber zuvor in mir selbst ausmachen und im Übrigen Anderen überlassen möchte.“ Barth bezieht sich hierbei wohl auf KD IV/3, 564. 369 Korsch, Dialektische Theologie, 170.

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Wesen (!) des Menschen zuzuschreiben, sondern er durch-schaut die Phänomene, die freilich von der Sünde verdeckt werden (können), auf das gute wirkliche Wesen hin. Die Betonung der guten Geschöpflichkeit und der Begriff des wirklichen Menschen – der insofern ein vielschichtiger und schillernder ist, als er gerade in Frage stellt, was der sich selbst betrachtende Mensch gemeinhin annimmt, nämlich ‚wirklich‘ sich selbst zu erfassen – evozieren nun aber eine Rückfrage. Welchen Anteil hat der faktische Mensch, welchen Anteil habe ich selbst, so wie ich mich verstehe, an dem wirklichen Menschen bzw. welchen Anteil hat er an mir?370 Es ist vollkommen zu begrüßen, dass Barth sich nicht auf eine sündenpessimistische Sicht des Menschen einlässt, aber er macht nicht deutlich genug, wie der wirkliche Mensch mit dem Sünder zusammenhängt und wie die Grenzstellen aussehen. Hier prolongiert sich überdies die Problematik der Unterscheidung von Phänomen und Wesen, insofern nicht klar wird, ob und wie der wesentliche Mensch im Phänomen gleichsam enthalten ist. Gerade hier wären aber scharfe Differenzierungen gefordert, die dann das Verhältnis von wirklichem, sündigem und faktischem oder empirischem Menschen aufzuklären helfen könnten. So kann Barth aber den Eindruck einer Idealisierung des wirklichen Menschen nicht verhindern. Der Leser fragt sich zu recht, ob das der wirkliche Mensch bzw. die Wirklichkeit des Menschen ist: ein Leben in der Geschichte mit Gott, in der Dankbarkeit, der Anerkennung, dem Gebet, dem Gehorsam und – durch die vollkommene Entsprechung zu Gott – in der Freiheit. Gemeinhin wird doch ein solches Leben eher als höchste Möglichkeit menschlichen Seins verstanden, das nur von einzelnen, Heiligen, geführt wurde. Es fällt dem über sich selbst reflektierenden Menschen schwer, sich im wirklichen Menschen zu erkennen, weil er sich zunächst in seiner Alltäglichkeit und Ambivalenz wahrnimmt. Das Selbstverständnis setzt doch in der noch unaufgeklärten Mannigfaltigkeit der Erfahrung an, im Staunen über sich selbst, besonders aber im Ringen mit dem eigenen Sosein. Die Rede vom Gutsein einerseits und vom Sündersein andererseits wird hier höchstens als Bezeichnung der absoluten Pole des Menschseins betrachtet, nicht aber als Beschreibung der Wirklichkeit. Barth holt den Menschen in diesem seinem tastenden Selbstverstehen und, wie wir sahen, auch den nicht-theologischen Anthropologen in seiner wissenschaftlichen Arbeit, nicht wirklich ab, d.h. er schafft keine Klarheit an den Übergängen zu dem Selbstverständnis, das er in der Profilierung des wirklichen Menschen darlegt. Es sind aber gerade diese Übergänge interessant, und darin gerade die Spannung zwischen dem wirklichen Menschen in seiner Vorfindlichkeit, mithin auch Gebrochenheit, und 370

Peters, Mensch, 128 urteilt zu recht: So „liegt über dem angeblich ‚wirklichen Menschen‘ ein eigenartiger Schleier von Unwirklichkeit.“

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dem Ideal des wirklichen Menschen, in dem sich eine andere Selbstdeutung nahe legt. Barth hätte länger bei der Vorfindlichkeit des Menschen verweilen müssen, um die Selbstdeutung des Menschen als Ebenbild Gottes nachhaltiger einzuschärfen. So etwa, wie er von der (zeitlichen) Beschränkung des Menschen und von seiner Endlichkeit als guter Ordnung Gottes spricht.371 Mit dem Phänomen der Angst angesichts der Grenzen menschlichen Seins – nämlich als Todes- und Lebensangst – und dem Einspruch gegen einen solchen Optimismus wird er allerdings zu schnell fertig. Denn wird das Leben des ‚alten Adam‘ nicht ernst genug genommen und adäquat zur Sprache gebracht, so wird auch die Gnade des ‚neuen Adam‘ Jesus Christus keine Plastizität und Überzeugungskraft entfalten können. Die Ablehnung eines Sündenpessimismus muss nicht notwendigerweise eine Absetzung des Themas – der Mensch in seinem Verhängnis und Elend – von der anthropologischen Agenda nach sich ziehen. Außerdem kommt Barth erst relativ spät dazu, von der Verborgenheit des wirklichen Menschen, seiner Verdecktheit durch die Sünde zu sprechen, dann wird allerdings klar, dass er ein neues Selbstverständnis anbietet, das freilich den Anspruch hat, wahr zu sein, und das eine Deutung der Sphäre der Verborgenheit impliziert, in die alles menschliche Selbstverstehen, die Identitätsfrage, ausläuft. Wäre das klarer geworden, dann hätte Barth immer noch und vielleicht mit noch größerer Kraft die ‚Neuheit‘ des wirklichen Menschen entgegenstellen können. Die Umkehrung von Möglichkeit und Wirklichkeit372 bleibt ein schroffer Anstoß für das Selbstverständnis des Menschen, einer, der aber theologisch unerlässlich und heilsam ist. Denn der Mensch kommt von der Wirklichkeit Gottes her, er ist wirklich gemacht und muss sich deshalb nicht mehr krampfhaft selbst verwirklichen – in dem Sinne, dass er sich selber begründen und sich Sein verschaffen müsste –, sondern darf sich selbst – als von Gott sich selbst gegebener – verwirklichen, indem er die eröffneten Möglichkeiten des Lebens sucht und nutzt. In diesem Sinn kann Barths Rede vom wirklichen Menschen durchaus zum Evangelium werden, das die Gesetzlichkeit des sich selbst Leben verschaffenden Menschen offenlegt und aufheben will.373 b.) Die Vielschichtigkeit und Problematik der Rede vom wirklichen Menschen ist noch nicht erschöpft, wenn nur die Differenz von menschlichem 371

Vgl. dazu Abschnitt 3.3.3.4. Vgl. hierzu den Aufsatz von Jüngel, Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit. Zum ontologischen Ansatz der Rechtfertigungslehre (1969), in: ders., Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen, München 1972, 206–233. 373 Vgl. Frey, Zur theologischen Anthropologie Karl Barths, 42: „Als Barth seine Anthropologie verfaßte, wollte er seine Leser auf jene Freiheit verweisen, die – so die Kernaussage seiner Anthropologie – aus Gottes begegnendem Sein allein zu begründen ist.“ 372

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Selbstverständnis und zugemutetem Fremdverständnis – insofern die theologische Anthropologie darlegt, wie Gott den Menschen versteht – in den Blick genommen wird. Der wirkliche Mensch ist für Barth zunächst einmal der eine Mensch Jesus. Erst damit ist auch die andere inner-theologische Differenz und Grenze angesprochen, die sich zwischen der christologischen Anthropologie Karl Barths und den sonstigen – man könnte fast sagen – ‚bloß theologischen‘ Anthropologien erhebt. Barth bricht mit der Tradition theologischer Anthropologie nicht eigentlich, indem er bei Gott ansetzt und von oben den Menschen betrachtet, sondern indem er die anthropologische Erkenntnis ganz am Menschen Jesus orientieren will. Das heißt aber, dass Barth nicht mehr direkt beim Schöpfungshandeln Gottes, des Vaters, ansetzen kann, sondern dieses indirekt im Blick auf das Versöhnungshandeln in Jesus Christus ‚mitentdecken‘ muss. Die Christologie wird Schöpfungstheologie, zur Bestimmung des Seins hin ausgewertet. Die ontologische Christologie wird dann immer wieder von der soteriologischen unterschieden, um dann auch teleologisch zu ihr in Beziehung gesetzt zu werden. Barths Verhältnisbestimmung von Schöpfung und Bund macht deshalb einen äußerst ‚aufwendigen‘ Eindruck, weil immer wieder unterschieden werden und die Erkenntnis aus dem Bund abgeleitet auf die Schöpfung übertragen werden muss. Nun braucht man an diesem Punkt aber nicht sofort von einer Aporie oder von einem verwerflichen Christomonismus zu reden, insofern sich Barth hier auf der Entwicklungslinie neutestamentlicher Theologie befindet, die in den Christushymnen die Tradition der Schöpfungsmittlerschaft des Logos aufnahmen. Es ist grundsätzlich, im Prinzip, möglich, die Anthropologie an der Christologie zu orientieren. Aber, es muss genau darauf geschaut werden, was geschieht, wenn ein hymnisches Bekenntnis in den systematischen Zusammenhang theologischer Erkenntnis überführt wird. Was geschieht mit der Christologie, bevor und damit sie die Anthropologie begründen kann? Sie wird ontologisiert bzw. ihre seinsbegründende Dimension wird herausgearbeitet. Dabei muss aber erst einmal abstrahiert werden, genauer: vom Menschen Jesus in seiner kontingenten Lebensgeschichte. Das Interesse am historischen Jesus tritt für Barth deshalb völlig zurück, auch wenn er bewusst von Jesus – und nicht vom Christus – spricht, der den Menschen ontologisch bestimmt. Was Jesus gelehrt und getan hat, wie er gelebt und gestorben ist, was ihn als menschliche Person ausgemacht hat, das spielt keine wesentliche Rolle – schiebt Barth das in den Bereich des Phänomens ab? –; genauso wenig, wie das mögliche Verhalten zu oder der Glaube an diesen Menschen in seiner Geschichte. Vielmehr wird Jesus von seiner Funktion her verstanden, die mit seinem Sein als Christus aufs engste verbunden ist. Jesus ist der Retter, so die Grundaussage soteriologischer Anthropologie; Jesus ist aber auch das Prinzip der Schöpfung, nämlich die seinsbestimmende Relation von Gott und Geschöpf bzw. Gott und Mensch in Person. Anthropologie ist für

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Barth also überhaupt nur im Prinzip möglich, weil sie ja gerade die Grundstruktur geschöpflichen Seins erhellen will; bei Barth ist es das Christus- oder Logosprinzip, das die Bestimmung des Menschseins und erst von dort aus jedes einzelnen Menschen möglich macht. Bevor die Christologie also die Schöpfungsfunktion und die Ontologie übernehmen kann, muss sie umformuliert bzw. zum Prinzip zugespitzt werden. Das kann dann soweit gehen, dass insbesondere in der Darstellung des wirklichen Menschen kaum noch von Jesus die Rede ist und man sich fragt, ob überhaupt zwischen einer (bloßen) Bestimmung durch Gott oder durch Jesus unterschieden werden muss bzw. kann; ob sich eine Schöpfungstheologie vom 2. Artikel ausgehend überhaupt von einer solchen ‚herkömmlichen‘ abheben lässt, die vom 1. Artikel ausgeht. Es gibt dann gar keine klare Antwort mehr darauf, ob die Christologie ontologisiert, oder aber die Ontologie christologisiert wird. 3.4.5 Die Enge des Analogieprinzips Es legt sich nun also der Verdacht nahe, dass es sich auch hier im Verhältnis von Schöpfungstheologie und Christologie – auch wenn es noch so anstößig und schwierig erscheint, vom Bund aus die Schöpfung zu verstehen – gar nicht um die eigentliche Alternative, um einen echten unüberbrückbaren Gegensatz handeln muss. Es geht vielmehr um den Charakter des Prinzips – gleichgültig ob es als christologisches oder theologisches bezeichnet wird –, das die Bestimmung des Seins und seiner Struktur möglich macht. Dieses Prinzip ist für Barth das personalistische, in seiner Begrifflichkeit: das der Analogie bzw. analogia relationis (im Gegensatz zu einer analogia entis). Nur indem die Christologie auf dieses Prinzip zurückgeführt werden kann, also auf den Dual, das Gegenüber von Ich und Du, ist sie der Anthropologie zugrunde zu legen, so Barth. Jesus bestimmt den Menschen ontologisch, weil sich in ihm das Ich Gottes ein Du entgegensetzt und dadurch alle anderen zum Du Gottes werden. Schöpfung heißt also, durch Gott selber ein Du Gottes zu werden bzw. zu sein, und Versöhnung heißt, ein Du Gottes trotz aller Verleugnung und Abkehr von ihm zu bleiben. Barth hat sich somit im Bereich der personalistischen Philosophie umgetan und führt das duale Denken konsequent in die theologische Anthropologie ein und in ihr durch – freilich nur in kritischer Rezeption.374 Welche Kriterien für anthropologisches Den374

Man kann nun Barth den Vorwurf machen, er habe einfach einen philosophischen Ansatz ‚getauft‘ und damit ein fremdes Denken in die theologische Anthropologie eingeführt (vgl. etwa Shults, Constitutive Relationality, 310; Becker, Karl Barth und Martin Buber, 210–214) und seine Theologie und Christologie sei lediglich eine christliche Umformulierung derselben. Mit diesem Hinweis ist aber noch nicht viel gewonnen, denn inwiefern es illegitim sein soll, mit philosophischen Mitteln eine theologische Erkenntnis zu formulieren, die dazu noch breiten Anhalt an der Schrift hat (vgl. Ex

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ken ergeben sich nun daraus? Und was hat Barth damit erreicht? Bauen sich neue Gegensätze auf? Die Anthropologie ist auf diesem Prinzip basierend nur als relationale Ontologie zu entfalten. Wenn vom Menschen gesprochen wird, dann davon, dass er in Beziehung ist und aus ihr lebt. Wahre Aussagen über den wirklichen Menschen sind grundsätzlich Beziehungsaussagen. Sie sind aber zum ersten näherhin solche, die an dem Muster personaler Relationen orientiert sind, d.h. an Relationen, in denen ein ‚ich- und dufähiges‘ Relat, eine Person, auf ein anderes, eine andere Relation, trifft. Überdies geht es zum zweiten immer um eine einfache Relation, einen Dual, während komplexere Beziehungsformen, etwa Relationsnetze, nicht erfasst werden oder auf den Dual zurückgeführt werden müssen. Zum dritten sind diese Relationen häufig durch ein Gefälle, eine Suprematie, gekennzeichnet. Die Differenz der Relate kann nicht nur nicht aufgehoben werden, sondern die Relation kennt eine ebenfalls unaufhebbare Über- und Unterordnung. Barth meint nun, mit diesen Teilprinzipien der Analogie den Schlüssel in Händen zu haben, mit dem er den wirklichen Menschen, das heißt den Menschen in seiner Gottesbeziehung, beschreiben kann, mit dem sich dann aber auch die Tür zur Darstellung des Menschen in seinen anderen Bezügen, in der Sphäre der Phänomene, öffnen lässt. Doch die Analogie ist nicht der Universalschlüssel, der alle Türen öffnet und das hinlängliche Instrument, um das ganze Feld der theologischen Anthropologie zu ordnen und zu klären. Warum nicht? Es handelt sich um personale Relationen, die Barth gleichsam bis in das trinitarische Sein hinauf verfolgt. Gott, dem Vater als Ich, steht Gott der Sohn, als sein Du, gegenüber. Das Sein Gottes ist somit in Kategorien menschlicher Personalität gedacht, wird doch das Ich- und Du-Sein Gottes weitgehend analog zum Ich- und Du-Sein des Menschen verstanden. Personsein heißt, Sprache zu haben, von anderen Personen differenziert zu leben, sich aber in Beziehung setzen zu können. Dieses Denken ist freilich nicht verwerflich, lässt sich doch aus dem Faktum der Menschwerdung Gottes, eine solche personale Vorstellung durchaus begründen, wenn der scharfe Vorbehalt bleibt, dass Gott nicht in seinem Personsein aufgeht, sondern gleichsam immer auch über-personal sein kann, d.h. die menschliche Kategorie der Person übersteigen kann. Problematischer ist dabei, dass Barth das trinitarische Sein auf einen Dual, nämlich den von Vater und Sohn beschränkt. Die dritte Person (!) der Trinität, der Heilige Geist, passt aber in das Schema von Ich und Du gar nicht hinein, sondern er wird als dritte Größe 3,14 und die Ich-bin-Worte Jesu im Johannesevangelium) und in ihrer Genese schon früh innerhalb der Theologie (vgl. oben 1.2.1), zumindest aber auf der Grenze von Theologie und Philosophie ausgebildet wurde, ist nicht recht einzusehen. Es ergibt sich erst dann Verwirrung, die aufgeklärt werden muss, wenn das personalistische Denken als völlig neues, genuin christologisches ausgewiesen wird und das trinitarische Denken wie auch die Anthropologie ausschließlich bestimmt.

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zum Beziehungsprinzip, das das Verhältnis von Ich und Du be- und durchwirkt. Der Geist kommt so aber gleichsam noch hinzu, er muss in einer anderen Struktur gedacht werden als Vater und Sohn. Seine Personalität steht in Frage, wenn sich das Ich des Vaters und das Du des Sohnes gegenüberstehen, der Geist aber nicht in einem solch anthropomorphen Schema gedacht werden kann.375 Es folgt daraus jedenfalls eine – folgenschwere – Differenz von analogischem und pneumatologischem Denken für die Anthropologie – und auf diese Folgen muss hier aufmerksam gemacht werden. Barth verfolgt nämlich nun diesen innertrinitarischen Dual zunächst in das Verhältnis von Gott und Welt hinein. Dieses Verhältnis wiederum schränkt sich dann aber folgerichtig auf das von Gott und Mensch ein, denn nur hier ist ein wirklicher personaler Dual möglich. Der Logos wird Mensch, nicht Welt, und das heißt für Barth, dass nur ein ansprechbares, zum Hören fähiges Wesen als Gegenüber in Frage kommt. Das Verhältnis Gottes zur nicht-menschlichen Kreatur ist deshalb nicht bestimmbar.376 Es besteht zwar ein solches im Geist, aber dessen Struktur ist nicht zu erheben, da es dem analogischen Denken verschlossen bleibt; diese Tür – zur Beschreibung der Bestimmung der ganzen Schöpfung durch Gott bzw. Jesus – lässt sich also nicht öffnen. Barth schränkt die Analogie auf Gott und den Menschen ein. Das Bestehen dieser Beziehung bedeutet die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Wie wir sahen geht es hier um zwei Dinge: Einerseits verweist Barth damit auf die bestehende Relation, die Gottesbeziehung als solche: Indem der Mensch in der Beziehung Gottes zu ihm geschaffen und gehalten wird, ist er Gottes Ebenbild – letztlich, insofern der präexistente Jesus wahrer Gott ist und der wirkliche Mensch dessen Von-Gott-her-Sein abbildet. Andererseits ist er Gottes Ebenbild, indem die Struktur des menschlichen Seins dem göttlichen Sein in aller Unähnlichkeit entspricht; wie Gott lebt der Mensch in Beziehung. Damit lässt sich nach Barth also die Struktur des Menschseins, die phänomenale Sphäre erhellen. Genau an diesem Punkt zeigt sich aber zum zweiten Mal die Ambivalenz des analogischen Denkens. Denn nach Barth ist das zwischenmenschliche Verhältnis analog zu dem Verhältnis von Gott und Mensch zu denken, also ebenfalls als Dual. Damit aber kann Barth zwar einerseits seine Humanität der Mitmenschlichkeit durchsetzen, denn die prinzipielle Gleichrangigkeit der Menschen, insofern ihm als Gegenüber Gottes die gleiche Würde eingestiftet ist – er nur lebt, indem ein Du ihm gegenübersteht –, gründet in der einen unverfügbaren ontologischen Be375

Hier ist Pannenbergs (SY/I, 347) Konzept konsistenter, insofern er davon spricht, dass „die trinitarischen Beziehungen zwischen Vater, Sohn und Geist die Form wechselseitiger Selbstunterscheidung haben“ und „als Lebensvollzüge selbständiger Aktzentren aufgefaßt werden“ sollten. 376 Vgl. zu diesem Problem kritisch: Peters, Mensch, 132–134.

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stimmung durch Jesus. Der Selbstverwirklichung und Identitätsfindung ohne den Mitmenschen schneidet Barth deshalb konsequent den Weg ab. Diese Entdeckung der ethischen Bestimmtheit des Menschen in seiner geschöpflichen Struktur ist besonders positiv zu würdigen und zeigt, dass an dieser Stelle das analogisch-christologische Denken wirksam werden kann. Die Beziehung zum anderen ist per analogiam gut zu denken und einzuschärfen. Andererseits aber resultiert aus der Fixierung auf den Dual die Schwierigkeit, größere Beziehungskomplexe zu denken. Nur, in diesen bzw. als diese lebt doch der Mensch. Wie wir sahen, lässt sich interaktionale Identität nicht durch den ausschließlichen Blick auf einzelne Beziehungen ermitteln und festigen. Das social self lässt sich ja nicht einmal für die erste Lebensphase allein über Duale bestimmen, sondern es geht immer um die Teilhabe an gemeinschaftlichen und dann auch gesellschaftlichen Prozessen. Hier ist das analogische Denken wiederum zu ‚eng‘; auch diese Tür lässt sich so nicht öffnen.377 Eine weitere Problematik des analogischen Denkens tritt aber dort zutage, wo sich kein wirklicher personaler Dual im Blick auf das vielschichtige Phänomen Mensch erheben lässt. Das deutet sich schon in Barths Bestimmung der Gottebenbildlichkeit auf dem Hintergrund von Gen 1,26ff an. Der Begriff der Gottebenbildlichkeit umfasst nach Barth seine Gottesbeziehung und seine Sozialität, die sich in der Differenz bzw. Beziehung von Mann und Frau konkretisiert. Barth lässt dabei aber das Phänomen der Selbstbeziehung, des Selbstbewusstseins und damit auch seine Weltbeziehung und Fähigkeit zum dominium terrae völlig außen vor. Der Mensch findet in sich nämlich kein echtes personales Relat, kein Du, sondern ein ‚selbst‘, auf den ich mich in meinem Selbstbewusstsein beziehe. Und auch das Verhältnis zur Schöpfung vollzieht sich nicht im reziproken Dual personaler Instanzen. Für Barth scheint deshalb die Vernunft und der Herrschaftsauftrag eben nur ein Accessorium zu sein, etwas, das sich aus dem gottebenbildlichen Sein als Struktur des bloßen Daseins und Soseins dann erst sekundär ergibt. Nach Barth stehen diese Phänomene gegenüber der Sozialität auf einer niedrigeren Stufe, auch wenn die exegetische Forschung für den Begriff der Gottebenbildlichkeit die Zentralität des Gedankens der Herrschaftsbeauftragung und der Befähigung dazu herausheben mag. Barth ringt sich hier jedenfalls nicht zu dem Gedanken durch, d.h. er expliziert ihn nicht, dass der Mensch gerade vor dem Hintergrund seiner undurchdringlichen Struktur der Subjektivität als Handelnder das Sein Gottes abbildet – was Barth freilich möglich wäre. 377 Ich teile die Verwunderung Stocks, Anthropologie der Verheißung, 142: „Dass ein politisch so engagierter theologischer Denker wie Barth die Intersubjektivität in der dialogischen Beschränkung zu thematisieren sich begnügte, das bleibt erstaunlich.“

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Auch in §46 korrigiert Barth dieses Verständnis der Subjektivität nicht, führt er doch die Unterscheidung von Sein (Sozialität) und Da- bzw. Sosein (Subjektivität, Geschichtlichkeit) ein und durch. Aber er versucht das Phänomen der Subjektivität im Rahmen des analogischen Schemas aufzunehmen, indem er das Ich des Menschen als Du Gottes auf dem Hintergrund der Differenz und der Beziehung von Leib und Seele versteht. Handelt es sich hier auch nicht um personale, so doch überhaupt um Relate, deren Beziehung sich in der Kaskade der Analogien verorten lassen muss. Doch genau das wird zum Problem. Barth will die Anthropologie an der Christologie orientieren und konnte das im Blick auf die Sozialität plausibel verwirklichen, insofern der Gottesbeziehung die Beziehung zum Mitmenschen entspricht. Die christologische Besinnung zu Beginn von §46 sieht aber nun völlig anders aus, denn das Verhältnis von Leib und Seele kann nicht einfach am personalen Verhältnis von Gott und Mensch orientiert werden. Es erscheint dann aber wie ein Kunstgriff, wenn Barth zunächst thetisch behauptet, die Beschaffenheit des Menschen sei das Verhältnis von Leib und Seele, um dann in einer christologischen Besinnung das (Da-)Sein Jesu als vollkommene Ordnung und als Stiftungsereignis dieser Struktur zu erweisen. Damit führt Barth aber eine anthropologische Theorie (konkreter Monismus von Leib und Seele), die sicherlich biblisch zu begründen ist, auf die Ebene der Christologie, um sie von dort in die Erörterung des menschlichen Phänomens zu reimportieren.378 Das Verhältnis von Leib und Seele ist nicht als theologisch zwingende Analogie erwiesen worden, sondern wird durch die christologische Besinnung eigentlich nur theologisch aufgeladen und in den Stand einer Theorie theologischer Anthropologie erhoben.379 Das Selbstverhältnis des Menschen könnte doch noch ganz anders beschrieben 378

Das gleiche Schema verwendet Barth im Blick auf die Zeitlichkeit des Menschen. Barth unterscheidet die drei Zeitdimensionen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) bzw. übernimmt die aus der menschlichen Erfahrung stammende Unterscheidung und führt sie dann – freilich mit dem biblischen Zeugnis im Rücken (Apk 1,8) auf die christologische und dann auch trinitätstheologische Ebene. Von dort aus kann er sie dann wieder zur Erhellung der Zeitlichkeit des Menschen im theologischen Sinne nutzen. 379 Es ließe sich hier noch einmal auf den Begriff des wirklichen Menschen und der zirkulären Erkenntnis des Phänomens hinweisen. Während sich der wirkliche Mensch nur theologisch bzw. analogisch verstehen lässt – er steht in der Beziehung zu Gott und zum Mitmenschen –, lässt er sich, etwa in seinem Selbstverhältnis, aus dem durch die Kenntnis des wirklichen Menschen erweiterten Zirkel verstehen. Der Mensch ist in seinem Verhältnis von Leib und Seele; weil es aber gerade der wirkliche Mensch Jesus ist, der diese Beschaffenheit formiert hat, kann nur durch die Kenntnis des wirklichen Menschen die ganze Tragweite und Wahrheit dieser Theorie erkannt werden. Während es sich in der Gottesbeziehung und der Sozialität also gleichsam um eine direkte christologische Erkenntnis handelt, so kann die Erkenntnis der Subjektivität und der Zeitlichkeit nur im Rahmen eines Zirkels, der freilich durch das Licht der Christologie erleuchtet wurde, gewonnen werden. Möglicherweise stehen diese unterschiedlichen Erkenntnisformen hinter der oben aufgewiesenen Ambivalenz des Verhältnisses von Theologie und Humanwissenschaften bei Karl Barth.

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werden, in anderer Begrifflichkeit und eben nicht als Analogie, aber Barths Ansatz beim wirklichen Menschen zwingt die Erörterung der Subjektivität auf die Bahnen des analogischen Denkens. Damit ist aber einmal mehr die Sinnhaftigkeit der Differenzierung von Phänomen und Wesen in Frage gestellt, wenn das Phänomen durch die Übertragung auf Jesus Christus zum Wesen gleichsam geadelt wird, aber keine substantielle Veränderung erfährt. Die Unterscheidung macht also nur dann wirklich Sinn, wenn konstatiert wird, dass das Wesen des Menschen im Faktum der unanschaulichen ontologischen Gottesrelation besteht, also auf einer ganz anderen Ebene liegt und bleibt – in der Sphäre der Verborgenheit –, während die Phänomene aber wirkliche – im Wortsinn – Erscheinungen des Menschlichen bezeichnen, die durchaus empirisch begreifbar und analysierbar sind. Das müsste die theologische Anthropologie dann aber gar nicht bestreiten. 3.4.6 Die Notwendigkeit einer pneumatologischen Ergänzung Schaut man noch einmal auf das Verständnis von der Subjektivität des Menschen (§46), so sind Barths Ziele zu würdigen, dann aber auch zu kritisieren. Einerseits betont er die Rationalität und Vernunftbegabtheit des Menschen – aufgrund der Überordnung der Seele über den Leib; von einer Überbewertung der Sinnlichkeit und Feindschaft gegenüber der Vernunft ist bei Barth nichts zu sehen, führt er – ganz klassisch – eine Bewusstseinstheoretische Konzeption aus. Andererseits wendet er sich aber auch gegen eine Trennung der leiblichen von der seelischen Dimension. Das Leitbild des ganzen Menschen, der seine Sinnlichkeit nicht mehr unterdrückt, zu dessen Ich-sein gerade gegenüber Gott auch die Leiblichkeit gehört und nicht nur das Denken, hätte Barth noch deutlicher entfalten können, insbesondere um das „gerne“ in der Mitmenschlichkeit auch auf die Selbstbeziehung, mithin die Beziehung zum eigenen Leib, zu übertragen. Dass Barth das Selbstverhältnis des Menschen weitgehend auf das Verhältnis von Seele und Leib beschränkt, ist dann allerdings nicht plausibel. Der Selbstbezug erschöpft sich nicht nur im Faktum des unhintergehbaren Bezuges zum Eigenleib; vielmehr ist der Mensch in ein Selbstbewusstsein eingesetzt, dessen Relate gar nicht in allem näher bestimmbar sind, ist doch das Selbst immer in der Entwicklung begriffen. Der Bezug zum Leib bezeichnet dabei nur einen Aspekt dieser Grundstruktur. Überdies ist das Selbstbewusstsein hin zum Weltbewusstsein geöffnet, wie Barth selber sagt, dass „Anderes“ ins Selbstbewusstsein aufgenommen wird. Die Einsichten der Identitätstheorie, dass sich soziale und personale Identität gar nicht so leicht von einander trennen lassen, schlagen aber bei Barth nicht wirklich zu Buche. Die sozialen Interaktionen wirken sich personintern aus,

Kritische Würdigung

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es handelt sich um sozialpsychische Phänomene. Aber auch die Wirklichkeit der Psyche wird nicht adäquat thematisiert. Warum aber ringt sich Barth nicht dazu durch, den Menschen in seiner Sozialität, aber genauso – und nicht abgestuft – auch in seiner Subjektivität und in seiner Zeitlichkeit als Gottes Ebenbild zu bezeichnen? Gott ist sich selbst und der Welt bewusst, er hat eine Beziehung zur Welt und zum Menschen, aber diese Beziehung ist nicht auf den personalen Dual zu beschränken, sondern sie ist auch abseits des engen analogischen Prinzips zu denken. Wie Gott lebt der Mensch – in all seiner Unähnlichkeit – als auf sich selbst bezogenes Wesen und im Verhältnis zur Welt – nicht nur zum personalen Gegenüber, seinem Mitmenschen. Barth war sich an dieser Stelle der Enge seines personalistischen Ansatzes möglicherweise bewusst, weshalb er seine Analogien insbesondere im §46 durch pneumatologische Erwägungen flankieren muss. Mehr aber als eine ‚Ergänzung‘ der analogischen Struktur durch den Geist lässt sein Ansatz nicht zu. Dass Barth jedenfalls so verhalten im Blick auf den Geist argumentiert und sich hier (§46) und in den Paragraphen zuvor nicht recht aus den Gleisen seines analogischen Denkens herauswagt, ist eigentlich nur auf die alte Antipodenschaft von Personalismus und Idealismus zurückzuführen.380 Barth kommt aus dem prinzipiellen Gegenüber zur transzendentalphilosophischen Anthropologie, namentlich der Descartes’, Fichtes, Hegels und Schleiermachers, nicht heraus; im Geistprinzip, das den personalen Dual sprengt, sieht Barth die Gefahr, in die Beliebigkeit zu führen, so dass alles in der immanenten Sphäre der Phänomene des Menschlichen hängenzubleiben droht, ja dass die Dialogik und Suprematie von Ich Gottes gegenüber dem Du des Menschen in eine Dialektik aufgelöst wird, in der der fremde und freie Gott ins zwar absolute aber eigene Selbst eingebürgert wird. Wer auf diese Weise pneumatologische Anthropologie betreibt, der steht nach Barth in der Gefahr, die Differenz von göttlichem und menschlichem Geist zu nivellieren und durch ein Einheitsprinzip die Beziehung zu verdecken, aus und in der jeder Mensch lebt. Barth zögert deshalb, die Gottebenbildlichkeit und die Identität des Menschen in seinem Sein als Wesen mit Geist zu erkennen, allein um diesen personalistischen Vorbehalt – die Freiheit Gottes und des wirklichen Menschen – zu bewahren. Dennoch, auch Barth kann nicht umhin, sein analogisch-christologisches Prinzip mit einem pneumatologischen zu vermitteln, nicht nur um der erwähnten Enge zu entfliehen. Und das überdies auch nicht nur im Blick auf die Subjektivität des Menschen, sondern auch im Blick auf die Sozialität (§45) und im Blick auf das Sein in der Zeit (§47). Wie sollte etwa die transtemporale Gegenwart Jesu Christi, sein Vorher- und Mitschreiten, 380

Peters (Mensch, 117) spricht geradezu von einer „antiidealistischen Anthropologie“. So auch Becker, Karl Barth und Martin Buber, 202.

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anders zu denken sein als Gegenwart des Geistes bzw. im Geist? Ostern, die ganze 40 Tage währende Anwesenheit Jesu als Auferstandener und das Pfingstfest bilden eine unverbrüchliche sachliche Einheit, die von der Gegenwart Jesu Christi im Geist zeugen. Barth fokussiert auch hier das personale Gegenübersein Jesu381, kann es aber nur verständlich machen als ein Mitsein im Geist. Auch sein Identitätskonzept von „Beruf“ und „Berufung“ ist nicht anders zu Begreifen als eine Dialektik im Geist, da Gott dadurch dem Menschen die Teilhabe an dessen Verwirklichungsgeschehen eröffnet. Das Herausrufen des Menschen in die Freiheit des Selbstseins und die eröffnete Selbstverwirklichung ist das Wirken des Geistes, das wird insbesondere in KD IV/3 dann deutlich. Dass der Mensch ein Co-Autor seiner Geschichte in Entsprechung zu Gott werden kann, gerade ohne sich zu verfehlen oder zu verwirken, auch das ist nur als Wirkung des freimachenden Geistes zu verstehen. In dieser Perspektive allerdings ist (erneut) Barth vor der Kritik an seinem angeblichen theologischem Absolutismus in Schutz zu nehmen. Barth intendiert durch die Verschränkung von Beruf und Berufung im Wirken des Geistes sehr wohl eine Selbstbestimmung des Menschen und diskreditiert die Sphäre der Individualität, auch im religiösen Sinne, gerade nicht. Odo Marquards apodiktisches Urteil verfängt somit nicht: Es gibt immer wieder theologische Positionen, die Gott – durch ‚theologischen Absolutismus‘ (Hans Blumenberg) – so sehr zur absoluten Alleinmacht stilisieren (Karl Barth ist da nur ein später Repräsentant einer Tradition, in der er viele Vorgänger hat), dass mit ihm kein Mensch religiös zum Individuum werden kann.382

Erneut, Barth kann sein Analogieprinzip nur flankieren und ergänzen; er kann es nicht ersetzen oder ein neues pneumatologisches Prinzip einführen. Das wäre auch nicht sinnvoll; denn durch die bloße Verwendung des Terminus’ „Geist“ sind nicht automatisch alle anthropologischen Fragen gelöst, vielmehr die Probleme lediglich benannt, so dass eine ‚tiefenscharfe‘ Analyse der Phänomene gerade nicht ausfallen darf.383 Ein intensiverer Bezug 381 Die analogische und besonders personale Perspektive hat allerdings im Blick auf die Grenzen des Lebens ihr besonderes Recht und ihren ‚Sitz im Leben‘. Es ist ein äußerst tröstlicher und bestärkender Gedanke, dass es gerade eine menschliche Person ist, der gegenüber ich lebe, und die am Anfang, besonders aber am Ende meines Lebens auf mich wartet. Indem Barth das Jenseits personalisiert, gleichsam vom ‚Entgegen-Warten‘ Jesu Christi spricht, entzieht er die unzugängliche Sphäre des Nichtseins der furchtsamen und zuweilen trostlosen Spekulation. Meine Identität ist in Zeit und Ewigkeit wirklich und bewahrt, so wahr Jesus lebt. 382 Marquard, Das Individuum: Resultat oder Emigrant der Religion?, in: Individualität, 163. Insbesondere im Blick auf die Biographie Karl Barths selber ist wohl kaum davon zu sprechen, dass hier keine echte religiöse Individualität ausgebildet worden sei. 383 Darauf verweist Sauter, Ekstatische Gewißheit oder vergewissernde Sicherung? Zum Verhältnis von Geist und Vernunft, in: ders., In der Freiheit des Geistes. Theologische Studien, Göttingen 1988, 32–53, bes. 49ff. Diese Gefahr bestand meiner Meinung in der Phase der Popularität

Kritische Würdigung

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auf den Heiligen Geist schon in der theologischen Anthropologie Barths wäre aber dahin gehend sinnvoll gewesen, dass darin einerseits die Unverfügbarkeit und Verborgenheit Gottes und damit die des wirklichen Menschen hätte festgehalten, andererseits aber die Phänomene und die verschiedenen Zugänge zu diesen in der Freiheit des Geistes hätte geöffnet werden können. Der Heilige Geist ist die immanente Gegenwart des verborgenen Gottes, und er macht so nicht nur ein ‚von außen‘ und ‚von oben‘ möglich, sondern – in aller Transzendenz – auch ein ‚von innen‘. Die Phänomene wären so in ihrer Selbständigkeit aufgewertet worden und das Gespräch mit den Humanwissenschaften hätte dann im Vertrauen auf den Selbsterweis des im Geist präsenten Gottes unverkrampft aber kritisch geführt werden können.384 Es ist abwegig Karl Barths Anthropologie auf dem Grund des Analogieprinzips für gescheitert zu erklären, aber es findet als abgeschlossenes System und mit diesem pneumatologischen Defizit keinen echten ‚Sitz im Leben‘ der Spätmoderne und damit auch nicht in deren anthropologischen Diskursen, die fragmentarischen, heterogenen Charakter haben. Oder anders formuliert: Eine strenge Anthropologie des Prinzips ist prinzipiell nicht fähig, die Phänomene ‚freizugeben‘ und sich in den anthropologischen ‚Erfahrungsaustausch‘ wirklich überzeugend einzubringen. Karl Barth ermächtigt durchaus die Vorstellung einer „authentischen Subjektivität“ in der Beziehung zu Gott, aber er kann sie in der Identitätssuche des wirklichen, vorfindlichen Menschen nicht adäquat zur Sprache bringen.385 Das wird dann die Aufgabe einer theologischen Anthropologie sein, die in kritischer Kontinuität „Barths theologischen Ansatz sachgemäß, nicht literal, fortsetzt“.386

der Pneumatologie, so etwa bei Moltmann, Geist des Lebens, und Michael Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 21993. 384 Eine solche Weiterführung der Theologie Karl Barths findet sich – im Blick auf den Einfluss der Hermeneutik – bei Jüngel, Dalferth, auch bei Korsch, der den Begriff der Lebensdeutung einbringt, und – im Blick auf den Geist – bei Sauter. 385 Vgl. hierzu die zusammenfassende Kritik im Schlussteil (5.). 386 Frey, Zur theologischen Anthropologie Karl Barths, 69. Frey spricht von folgenden Kriterien für solch eine theologische Anthropologie; sie muss wissen „ – vom Scheitern der Versuche, menschliche Erkenntnis in der Subjektivität oder Vernunft konstituiert sein zu lassen, – von der Rätselhaftigkeit des Menschen, – von der Drohung und der Verheißung gerade der begrenzten Zeit menschlichen Lebens, – von der Versuchung des Wissenschaftlers, sich selbst aus dem Erkenntniszusammenhang herauszureflektieren, – von der Wirklichkeit, zu der alle Erkenntnis auf dem Wege ist, die sich aber nicht dem operationalen Denken erschließt, sondern im Lebensvollzug – und vor allem im Glauben – ganz anders auf dem Spiele steht“.

4. Identität und Gottebenbildlichkeit bei Wolfhart Pannenberg Identität und Gottebenbildlichkeit bei Wolfhart Pannenberg Vorbemerkungen

Vorbemerkungen Die Anthropologie und Theologie Wolfhart Pannenbergs lässt sich in ihren Grundzügen der Karl Barths entgegenstellen.1 Pannenberg denkt im Gegensatz zu Barth gleichsam von unten nach oben2, – im anthropologischen Rahmen – von der Identität des Menschen, in seinem Selbst- und Weltverhältnis zum Gottesverhältnis. Er stellt die Begriffe, die gerade Barths Protest hervorrufen, ins Zentrum, allen voran den der Religion. Er setzt sich zu vielfältigen anthropologischen Entwürfen und Theorien in Beziehung, ohne von einer Gotteserkenntnis auszugehen – so scheint es –, sondern gleichsam um auf diese in den anthropologischen Phänomenen implizierte aller erst zu kommen. Er entwickelt die Anthropologie nicht etwa im Kontext biblischer Exegese, sondern als Fundamentaltheologie aus den wissenschaftlich elaborierten Selbstverständnissen der Menschen, die er eben ‚nur‘ in eine theologische Perspektive stellt. Er geht nicht – in Barths Terminologie – vom wirklichen Menschen, sondern vom natürlichen Menschen aus, um dessen Angewiesenheit auf Gott, sein Von-ihm-her- und Auf-ihn-hin-Sein aufzuweisen. Diese Gegensätze, die hier freilich nur grob skizziert wurden, gründen zu einem gewissen Teil in der expliziten Gegenreaktion der Theologie Pannenbergs im Blick auf die Barths – durch die aber auch die bestehende Abhängigkeit offengelegt wird. Pannenberg, der durch seine theologiegeschichtlichen Arbeiten, insbesondere zu Denkern der mittelalterlichen Scholastik, völlig anders geprägt ist3, hat sich schon früh in Opposition zum 1 In der Darstellung und der kritischen Würdigung Pannenbergs werden große Anteile des Vergleichs mit Barth enthalten sein. Die kritische Würdigung Pannenbergs am Ende dieses Abschnittes kann kürzer ausfallen als die der Anthropologie Karl Barths, da sich hier ähnliche Kritiklinien finden. Aus Raumgründen wird kein eigenständiger Vergleich von Kapitel 3 und 4 dieser Untersuchung angestrebt, sondern vieles hier schon angesprochen, dann aber im Schlussteil (5.) zusammengeführt und resümiert. 2 Pannenberg selbst hat dieses Schema im Bereich der Christologie gebraucht: Vgl. hierzu insbesondere Grundzüge der Christologie, Gütersloh 1964, 26–31; SY/II, 316–336. Zum Vergleich von Barth und Pannenberg – unter diesem Aspekt – ist der Aufsatz von Shults, Constitutive Relationality in Anthropology and Trinity, heranzuziehen. 3 Vgl. Pannenbergs frühe Arbeiten zur mittelalterlichen Theologie und zum Analogiebegriff (Dissertation: Die Prädestinationslehre des Duns Skotus im Zusammenhang der scholastischen

Vorbemerkungen

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Denken Karl Barths bzw. der dialektischen Theologie gesehen. Mit seiner programmatischen Schrift „Offenbarung als Geschichte“4 wendet er sich gegen das Offenbarungsverständnis der dialektischen Theologie und knüpft an das Geschichts- und Offenbarungsverständnis des deutschen Idealismus an. Pannenberg versucht die Verengung und die daraus resultierende „Tragik der dialektischen Theologie“5 zu überwinden – von der noch zu reden sein wird (s.u.). In einem Brief an Karl Barth, anlässlich dessen Reaktion auf die Zusendung seiner Christologie im Jahre 1964, spricht Pannenberg allerdings von der „Hoffnung“, Barth könne in seiner Arbeit eine „Fortführung von Grundgedanken (seiner) Offenbarungstheologie in einem allerdings verwandelten geistigen Klima erkennen.“6 Barth hatte sich zuvor nach eingehender Lektüre von Pannenbergs Christologie freundlich, aber deutlich zur „sachlichen Entscheidung“, von unten nach oben zu denken, geäußert: „Und eben indem diese Entscheidung nun in so bestimmter Weise gefallen ist, sind wir – Sie werden es selbst nicht anders ansehen – theologisch, wenn nicht geschiedene, so doch gründlich verschiedene Leute.“ Im Weiteren spricht Barth dann aber sogar von einem „schweren Rückfall“ und dem „reaktionär(en)“ Weg, den Pannenberg beschreite.7 Freilich lässt sich diese Antipodenschaft, die trotz allem von gegenseitigem Respekt auch über die Generationsgrenze hinweg getragen ist, als Grund für die Behandlung gerade dieser beiden Anthropologien und ihrer Konzeptionen des Verhältnisses von Identität und Gottebenbildlichkeit Lehrentwicklung, Göttingen 1954; Habilitationsschrift: Analogie und Offenbarung. Eine kritische Untersuchung der Geschichte des Analogiebegriffs in der Gotteserkenntnis, Heidelberg 1955). Hier lässt sich auch Pannenbergs Affinität zur katholischen Theologie und zum Ökumenischen Dialog begründet sehen. Pannenbergs Werk ist insbesondere im Bereich katholischer Theologie breit rezipiert worden. Überdies ist die große Bedeutung seines theologischen Denkens und ökumenischen Bemühens weit über die Grenzen des deutschen Sprachraums zu konstatieren. Vgl. dazu den beeindruckenden Überblick über die Sekundärliteratur bei Gunther Wenz, Wolfhart Pannenbergs systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003, 301–324. 4 Wolfhart Pannenberg (Hg.), Offenbarung als Geschichte, in Verbindung mit R. Rendtorff/U. Wilckens/T. Rendtorff, Göttingen 21963. Wohlgemerkt, Pannenberg ist (‚nur‘) Herausgeber und Autor der Aufsatzsammlung. Seine systematisch-theologische Einleitung und thetische Zusammenfassung haben aber das Gemeinschaftsprojekt gedanklich gebündelt und zum profilierten theologischen Neuansatz nach der dialektischen Theologie werden lassen. 5 Pannenberg, Anthropologie, 16. Vgl. besonders auch SY/I, 57: Pannenberg spricht hier im bezug auf „das Beispiel Karl Barths“ von der „tragischen Verwicklung der Theologie“, die darin besteht, dass derjenige, der in seinem Denken bei Gott ansetzt, damit eigentlich bei seiner eigenen Setzung, beim Wagnis des Glaubens ansetzt. Pannenberg spricht hier deshalb von einem „Glaubenssubjektivismus“, den Barth erzeuge. Vgl. zu diesem Vorwurf auch: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1987, 266–277 u. 278; Problemgeschichte, 189ff und 248ff; Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre. Ein Beitrag zur Beziehung zwischen Karl Barth und der Philosophie Hegels, in: Grundfragen systematischer Theologie Bd.2, 96–111, bes. 105. 6 Brief vom 9.5.1965 (Pannenberg an Barth), in: Karl Barth, V. Briefe 1961–1968, hg. von J. Fangmeier/H. Stoevesandt, Zürich 1975, 563. 7 Brief vom 7.12.1964 (Barth an Pannenberg), ebd., 280–283, zuvor 280.

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Identität und Gottebenbildlichkeit bei Wolfhart Pannenberg

angeben. Zumal die Grenze von moderner und nicht- oder unmoderner Theologie anhand des Gegenübers dieser beiden Kontrahenten gezogen werden könnte.8 Es wäre aber eine absolute Verkürzung, wollte man Pannenbergs Ansatz und Werk nur im Horizont der Reaktion auf eine bestimmte theologische Tradition verstehen. Pannenberg setzt vielmehr neu an und überschreitet die althergebrachten Fronten innerhalb der theologischen Anthropologie – etwa zwischen Brunner und Barth. Seine anthropologische Arbeit, die mit der ‚kleinen‘ Monographie „Was ist der Mensch?“ beginnt, zum Höhepunkt der ‚großen‘ „Anthropologie in theologischer Perspektive“ fortschreitet und im Rahmen seiner „Systematischen Theologie“ Bd. II einen gewissen Abschluss findet, stellt den wichtigsten Beitrag zur theologischen Anthropologie im evangelischen Bereich nach den Entwürfen dialektischer Theologie dar (Barth, Brunner, Bultmann, Gogarten). Pannenbergs Arbeiten erheben sich in ihrer Eigenständigkeit dabei souverän über ein bloßes Kommentieren verschiedener Positionen. Zwar entwickelt Pannenberg seine eigene Position anhand eingehender historischer und systematischer Analysen – ein Vorgehen, das sein Gesamtwerk auszeichnet –, aber das dann Erreichte steht frei und fest. Ließe sich Barth eher als ein deduktiver Denker bezeichnen, der von einer bestimmten Position ausgeht und diese stringent entfaltet, so ist Pannenbergs Vorgehen hingegen von induktiver Art, insofern sich gerade durch die Darstellung von und Auseinandersetzung mit einzelnen Anschauungen die eigene Position nach und nach gleichsam hervorarbeitet. Der gegensätzliche theologische Ansatz reproduziert sich also im gegensätzlichen methodischen Vorgehen. Das heißt aber auch, dass Pannenbergs Entwurf – wie zuvor der Barths – nicht anhand von Einzelfragen gewürdigt und kritisiert werden sollte, sondern nur im Blick auf das Ganze, auf die systematischen Eckpunkte seiner Argumentation. Insbesondere im Blick auf seine „Anthropologie in theologischer Perspektive“ macht es wenig Sinn, Einzelfragen und Referaten anthropologischer Theorien bis ins Kleinste zu verfolgen, nachzuprüfen oder gar neu aufzulegen. Auch wenn sich in seinen humanwissenschaftlichen Referate einzelne Kritikpunkte finden lassen und als solche vermerkt werden, so sind sie angesichts der Genauigkeit, der analytischen und systematischen Fähigkeiten Pannenbergs zunächst kaum zu kritisieren. Erst im Bezug auf seine Grundthese einer Vertiefung der Phänomene des Menschlichen hin, im Blick auf seinen prinzipiellen theologischen Zugriff auf die anthropologischen Befunde, sind dann auch seine Umformungen und Adaptionen 8 Vgl. etwa die Bewertung bei Jan Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit II (20. Jahrhundert), Tübingen 1997, 859. Rohls beschließt seine Theologiegeschichte mit einem Ausblick auf Pannenbergs Werk und hebt es damit – gerade als Hinleitung bzw. Rückführung „zum Idealismus“ – in die Position eines hochmodernen Denkens, dem – so lässt sich aus Rohls Aussagen schließen – die Zukunft gehören dürfte.

Vorbemerkungen

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genauer zu betrachten und zu bewerten. Barths Urteil aber, der in oben genanntem Brief von einer „erstaunliche(n) literarische(n) Belesenheit auf exegetischem, dogmengeschichtlichem und philosophischem“ – und es wäre im Blick auf das Folgende summarisch zu ergänzen: anthropologischem – „Gebiet“ spricht, von Pannenbergs „kritische(m) [...] bis in alle Einzelheiten hinein nie versagenden Scharfsinn“ und von einem „Wurf von ungewöhnlichem Format“ ist hier schon in vollem Umfange zuzustimmen!9 Im Bezug auf die Begriffs- und Verhältnisbestimmung von Identität und Gottebenbildlichkeit wird sich der Blick also auf die Hauptthesen, die dann allerdings am Detailbegriff nachzuvollziehen sind, und damit auf die Komposition des anthropologischen Materials richten müssen. Darüber hinaus wird aber eine größere Perspektive einzunehmen sein, die an entscheidenden Punkten auch über die ‚große‘ Anthropologie hinausgeht, um etwa das Verhältnis von Anthropologie und Theologie bzw. Philosophie und Theologie und die Verortung der anthropologischen Ergebnisse im Gesamtrahmen der systematischen Theologie Pannenbergs erhellen zu können. In der folgenden Darstellung fokussiere ich deshalb die „Anthropologie in theologischer Perspektive“, an deren Duktus ich mich weitgehend orientiere, in deren Erörterung ich dann aber auch entsprechendes Material zuordne10 und immer auch schon kritisch Stellung beziehe. Ein analoges, streng gegliedertes Vorgehen wie in der Darstellung der Anthropologie Barths (3.2 Gottebenbildlichkeit – 3.3 Identität) wird allerdings nicht möglich sein, auch wenn es sich aus Gründen der Klarheit nahe legen würde. Die Umkehrung der Begriffe von Gottebenbildlichkeit und 9

Jeder, der sich mit der Anthropologie Pannenbergs beschäftigt, wird zunächst wohl seine Achtung, vielleicht sogar Bewunderung über den Umfang des verarbeiteten anthropologischen Materials und die Art und Weise des Umgangs mit diesem ausdrücken. Es gehört gleichsam zur Agenda einer Arbeit über Pannenberg. Hermann Fischer fasst es im Blick auf die „Anthropologie in theologischer Perspektive“ folgendermaßen zusammen: „Für die religiöse und theologische Interpretation des Menschen wird eine interdisziplinäre Beziehungsvielfalt aufgeboten, die ihresgleichen sucht. Im Blick auf das ausgebreitete Argumentationsmaterial und die in ihm sich bekundende Gelehrsamkeit nimmt diese Monographie in der gegenwärtigen Debatte um die theologische Anthropologie eine Sonderstellung ein“. Fischer fährt dann aber kritisch und in gewissem Sinn misstrauisch fort: „Manchmal allerdings wirkt der Materialreichtum geradezu erdrückend, und der Leser hat Mühe, unter der Häufung des Referates das spezifische Interesse des Autors und die Zielrichtung seiner Argumentation zu erkennen oder im Blick zu behalten“ (Fundamentaltheologische Prolegommena zur theologischen Anthropologie. Anfragen an W. Pannenbergs Anthropologie, ThR 50, Heft 1, Tübingen 1985, 42). 10 Im Gegensatz zu Barths Anthropologie, die im Gesamtzusammenhang der Kirchlichen Dogmatik ‚wohl eingebettet‘ erscheint, handelt es sich hier um eine Monographie, die auf Selbständigkeit angelegt ist – soll sie doch der Theologie und damit einer genuin theologischen Anthropologie vorausgehen bzw. das Fundament legen. Diese Differenz muss vor allem aus inhaltlichen Gründen immer im Auge behalten werden, wird aus ihr dann nämlich auch die im engeren Sinn theologisch – nicht mehr nur religiös – zu nennende Anthropologie im Rahmen der Systematischen Theologie Pannenbergs verständlich.

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Identität und Gottebenbildlichkeit bei Wolfhart Pannenberg

Identität und zuvor von Theologie und Anthropologie haben meines Erachtens zwar ihr relatives – freilich noch zu erhellendes – Recht, aber sie lassen sich nicht in der gleichen Schärfe von einander abheben, wie das bei Barth der Fall war. Auch das hat etwas mit dem theologischen Ansatz Pannenbergs zu tun, wie ebenfalls noch zu zeigen sein wird. Ich folge deshalb Pannenbergs Vorgehen, nach einer Einleitung, die hier als eigenständiger Abschnitt das Verhältnis von Anthropologie und Theologie näher beleuchtet (4.1), die Erörterung der Phänomene nicht von der ihrer religiösen Implikationen zu trennen, so dass im Hauptteil „Identität und Gottebenbildlichkeit“ (4.2) das Anliegen Pannenbergs, Selbst-, Welt- und Gottesbezug eng beieinander zu halten, zum Tragen kommen kann. Im abschließenden Teil der Darstellung wird dann aber, analog zu Pannenbergs eigenem Aufriss (Kapitel 9 der Anthropologie in theologischer Perspektive: Mensch und Geschichte), der prinzipielle Überstieg zur theologischen Anthropologie und einem umfassenden Begriff der Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen thematisiert werden (4.3). Wie in der Erörterung der Anthropologie Barths soll auch hier Pannenberg ausführlich zu Wort kommen, allerdings wird die kritische Auseinandersetzung direkter mit der Darstellung verflochten als das bei der Darstellung Barths der Fall war. In der kritischen Würdigung (4.4) werden wichtige Kritiklinien dann gebündelt. Die detaillierte Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur wird (in der Hoffnung auf eine mögliche – hiermit nachdrücklich geforderte – gründlichere Monographie zur Anthropologie Pannenbergs) keinen allzu großen Raum einnehmen können.11

11 Im groben Blick auf die Sekundärliteratur lässt sich feststellen, dass die Anthropologie Pannenbergs in all ihrer Gewichtigkeit – im Kontext theologischer Anthropologie –, nicht angemessen wahrgenommen wurde und wird. In den Untersuchungen zu Pannenbergs Theologie geht es in erster Linie um seinen geschichtstheologischen Gesamtentwurf und zumeist nur in dessen Zusammenhang um anthropologische Fragestellungen. Seine Anthropologie hat gleichsam „Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie“, um mit Odo Marquard zu sprechen (Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt a.M. 41997). Insofern also in der Wahrnehmung der Anthropologie Pannenbergs nicht gerade ‚von unten‘, d.h. vom Bezug zu den Humanwissenschaften, ausgegangen wird und das Thema des ‚Ganzen‘ die anthropologischen Einzeluntersuchungen aufsaugt, wird sich die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur auf die einschlägigen Rezensionen zur „Anthropologie in theologischer Perspektive“ beschränken, allerdings durch Material zu den aufkommenden Einzelfragen (insbesondere dem Thema Sünde) ergänzt werden.

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4.1 Anthropologie und Theologie12 Anthropologie und Theologie 4.1.1 Die Wende zur Anthropologie Pannenberg beginnt seine Anthropologie mit einer weitreichenden theologiegeschichtlichen Beobachtung: In der Neuzeit ist „die Grundlegung der Theologie immer stärker auf das Verständnis des Menschen verlagert worden“. Es hat eine „Konzentration der theologischen Begründungsproblematik auf die Anthropologie“13 stattgefunden, die in der evangelischen wie auch der katholischen Theologie (etwa bei Karl Rahner) bis in die Gegenwart hinein bestimmend wurde. Aus der theologischen Landschaft ist das Thema der Anthropologie nicht einfach nur nicht mehr wegzudenken, sondern es hat sich zur eigenständigen Disziplin entwickelt, deren Bedeutung sich im Bereich theologischer Axiomatik zudem ständig erhöht hat.14 Große theologische Entwürfe, wie die Rudolf Bultmanns oder auf katholischer Seite Karl Rahners, beruhen auf einem bestimmten Verständnis des Menschen, setzen eine elaborierte anthropologische Konzeption voraus oder gehen fast ganz in einer theologischen Anthropologie auf. Wie konnte es aber zu einer solchen anthropologischen Konzentration kommen? Pannenberg macht verschiedene Umstände verantwortlich. 4.1.1.1 Die Anthropologisierung und Säkularisierung Zum ersten spiegelt sich in dieser theologiegeschichtlichen Entwicklung ein größerer, philosophischer – ja im weitesten Sinn geistesgeschichtlicher – Prozess, der als Anthropologisierung bezeichnet werden kann. Seit dem ausgehenden Mittelalter, mit der Renaissance, dem Humanismus und der Reformation rückt die Frage des Menschen nach sich selbst zunehmend in den Mittelpunkt. Das geschah zunächst dadurch, dass die „neuzeitliche 12 Es fällt zunächst auf, dass Pannenberg die Einleitung zur „Anthropologie in theologischer Perspektive“ im Gegensatz zur obigen Reihenfolge mit „Theologie und Anthropologie“ überschreibt. Pannenberg nennt hier allerdings nur das Thema; er präjudiziert durch die Überschrift also noch keine nähere Verhältnisbestimmung von Theologie und Anthropologie, will er sie doch erst herleiten und als geschichtlich und systematisch verantwortete in Kraft setzen. Die Einleitung ist deshalb gleichsam von hinten her zu lesen, von der Bezeichnung des eigenen Ansatzes – im Gegenüber zur „traditionellen dogmatischen Anthropologie“ – als „fundamentaltheologische Anthropologie“. Das Verhältnis von Theologie und Anthropologie wird hier allerdings umgekehrt: „Diese (sc. fundamentaltheologische Anthropologie) argumentiert nicht von dogmatischen Gegebenheiten und Voraussetzungen aus, sondern wendet sich den Phänomenen des Menschseins zu, [...] um die Aufstellungen dieser Disziplinen auf ihre religiösen und theologisch relevanten Implikationen zu befragen“ (Anthropologie, 21). 13 Anthropologie, 11. 14 Vgl. erneut Fischer, Tendenzen zur Verselbständigung.

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Philosophie [...] mit zunehmender Entschiedenheit Gott als Voraussetzung menschlicher Subjektivität und insofern vom Menschen her gedacht (hat), nicht mehr von der Welt her.“15 Die cognitio Dei verband sich aufs engste mit der cognitio hominis, das heißt, dass nicht mehr das aristotelische Verständnis des geordneten und den Menschen integrierenden Kosmos den Gottesgedanken erschloss und bestimmte, sondern der „Weg einer fortschreitenden Anthropologisierung des Gottesgedankens“16 beschritten wurde, deren Ursprünge durchaus schon bei Platon angelegt waren. Die Achse Gott und menschliches Ich löste im philosophischen Denken die Achse Gott und Welt ab bzw. besser: überblendete diese. Diese Verlagerung des Gewichts von der Kosmologie auf die sich konstituierende Anthropologie17 musste für die Theologie zunächst noch keine grundstürzende Krise bedeuten, da die zunehmende Fokussierung des (einzelnen) Menschen in der biblischen Überlieferung und in der christlichen Tradition in gewisser Weise präfiguriert ist. Die „ewige Bedeutung des Individuums und des individuellen Lebens“18 wird im alt- und neutestamentlichen Denken besonders betont und findet ihren Kernbegriff in der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Das Prinzip der individuellen Freiheit gründet ebenso in der christlichen Überlieferung, im Zeugnis von der Befreiung des Menschen durch Jesu Tod am Kreuz, so Pannenberg.19 Die Linie der Hochschätzung des Individuums und der Anthropozentrik hat sich dann insbesondere durch das theologische Gewicht Augustins und die personalistische Tradition der Reformation durchgehalten – zuweilen aber auch in verengter individualistischer Form, etwa im Bereich des Pietismus, fortgesetzt. Aufs Ganze gesehen gibt es also christentumsinterne Gründe oder Beiträge, die eine Anthropologisierung des Denkens und der Wissenschaften beschleunigten.20 Die Anthropologisierung der Theologie bekam allerdings auch durch die sozialgeschichtliche Entwicklung einen besonderen Schub: „Dabei handelt 15

Anthropologie, 11. Wolfhart Pannenberg, Anthropologie und Gottesfrage, in: ders., Gottesgedanke und menschliche Freiheit, Göttingen 1972, 11. Vgl. hierzu die Ausführungen oben unter 1.2.1. 17 Vgl. hierzu grundsätzlich Odo Marquard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ‚Anthropologie‘ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, in: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, 122–144 und Buchholz, Körper – Natur – Geschichte. 18 Wolfhart Pannenberg, Die Bedeutung des Individuums in der christlichen Lehre vom Menschen, in: ders., Die Bestimmung des Menschen: Menschsein, Erwählung und Geschichte, Göttingen 1978, 8. Vgl. auch Wenz, Neuzeitliches Christentum als Religion der Individualität, 123–160. 19 Anthropologie, 11. 20 Pannenberg wertet (in: Theologie und Philosophie, 106–128) die „Konzentration auf die Individualität“ als einen der wichtigsten „Beiträge des Christentums zum Themenbestand der Philosophie“, die wiederum auf das Christentum und die Theologie von der Philosophie her einwirken. Es handelt sich deshalb eigentlich um ein Zurückwirken säkularisierter Inhalte auf die Religion, die diese überhaupt erst aufgebracht hat. Pannenberg wird diese geschichtliche Argumentationsfigur an den verschiedensten Stellen wiederholen und auswerten. 16

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es sich um den Prozeß der Privatisierung oder zumindest Segmentierung der Religion in der neuzeitlichen Gesellschaft.“21 Die Religion bzw. die Beziehung zu Gott verlor mit dem Zerfall der einheitlichen Weltsicht – nicht zuletzt durch die Reformation – auch immer mehr ihre identitätsstiftende Funktion für das gesellschaftliche Ganze. Damit verengte sich das religiöse Leben und Denken aber zunehmend auf den individuellen Bereich der Einzelperson – was der Versuch Friedrich Schleiermachers, der Religion eine „eigene Provinz im Gemüte“22 zuzuweisen und damit zu sichern, eindrücklich dokumentiert. Pannenberg sieht die entscheidende Phase für diese Privatisierung allerdings erst weit nach der Reformation mit der Zeit der Religionskriege im 17. Jahrhundert gegeben. Der Grund dieser Entwicklung, den Pannenberg dann als Wende zur Säkularisierung versteht, (ist) in der Spaltung der Kirche und in den zerstörerischen Glaubenskriegen zu finden [...]. So vielerlei Zusammenhänge mit früheren Ideen es dabei auch geben mag – mit dem stoischen Naturrecht, mit dem Gedanken der Renaissance und mit der reformatorischen Idee der christlichen Freiheit –, so ist doch die Wende zur säkularen Gesellschaft aus dem Zwang der Not geboren worden, nicht aus den Ideen der Renaissance und Reformation und schon gar nicht gegen den Gott des Christentums.“23

Es wird deutlich, dass Pannenberg die Anthropologisierung des Denkens und besonders der Theologie für eine höchst ambivalente Sache hält. Indem er aber den Ursprung der Säkularisierung im 17. Jahrhundert ausmacht und dadurch die Reformation und teilweise sogar die Aufklärung von dem Vorwurf entlastet, sie hätten den Säkularismus und den Atheismus hervorgebracht, macht Pannenberg klar, dass es sich in der Säkularisierung nicht um einen völlig geradlinigen und alternativlosen Prozess handeln muss, der in letzter Konsequenz in einer autonomen, areligiösen Anthropozentrik enden muss. So hält es Pannenberg für eine völlige Verzeichnung, die großen Denker zu Beginn der Neuzeit, allen voran Descartes, als Verfechter einer völligen Anthropologisierung darzustellen. Descartes lässt sich hingegen nur recht verstehen, so Pannenberg, wenn nicht allein die Bedeutung des ‚Cogito‘, die Selbstgewissheit des denkenden Ichs, in seinem Werk – insbesondere den Meditationes – betont wird, sondern wenn der metaphysische Hintergrund, die Wurzel der Selbstgewissheit in der Gottesgewissheit, in den Blick kommt: 21

Anthropologie, 13 (Hervorhebung von T.W.). So sehr Pannenberg Schleiermachers „Neubegründung der Theologie als Theorie der Subjektivität“ würdigen kann, so bleibt ihm der pietistische Zug einer Privatisierung der Religion, den er bei Schleiermacher auch wahrnimmt prinzipiell suspekt (Problemgeschichte, 46ff). Er betont deshalb gerade den Versuch Schleiermachers, gerade die Universalität der Religion zu erweisen. 23 Christentum in einer säkularisierten Welt, 31. 22

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Das Neue des philosophischen Ansatzes von Descartes liegt vielmehr in seiner These, dass die Intuition des infinitum Bedingung aller Erkenntnis von Endlichem ist, einschließlich des eigenen Ich, und in Verbindung damit in der neuen, vom augustinischen Gedanken der Ichgewißheit ausgehenden Argumentation für das Dasein Gottes.24

Pannenberg versteht Descartes gerade nicht als philosophischen Anthropologen, sondern als Erneuerer der philosophischen Theologie. Hier hat sich nur die konsequente Verschiebung des Gottesgedankens im Bezug auf das Weltverhältnis hin zu dem im Bezug auf die Subjektivität ergeben. Die Bedeutung der Religion hat sich lediglich modifiziert, nicht verringert. Das ist dann aber bei Kant völlig anders, so dass der philosophiegeschichtliche Anstoß einer Anthropozentrik ohne Gott – man könnte im Sinne Pannenbergs fast sagen, der Sündenfall der Moderne –, insbesondere durch die Kritik der Gottesbeweise, bei ihm zu suchen ist. Kant hatte die Vernunftautonomie des Menschen zwar nicht vom Gottesglauben lösen wollen, aber als bloßes Postulat der praktischen Vernunft war Gott zu gering und das Ich des Menschen als Basis aller Erfahrung zu hoch bewertet worden: Damit trat bei Kant tatsächlich ein, was die konventionelle Philosophiegeschichtsschreibung irrtümlich Descartes zugeschrieben hat: Erst Kant hat tatsächlich das Ganze der Erfahrung auf die Einheit des cogito zu begründen versucht statt auf den Gedanken Gottes.25

4.1.1.2 Der Säkularismus und die Aufgabe religiöser Anthropologie Die Abfolge von theonomen und autonomen Anthropozentrismus reproduziert sich in gewisser Weise dann in der Zeit nach Kant, insofern der Idealismus, insbesondere aber Hegel – dessen Bedeutung für Pannenberg ebenfalls kaum überschätzt werden kann –, die Metaphysik auf dem Boden der Subjektivität erneuert. Die Gegenreaktion, die Pannenberg als eigentliche „Wendung zur Anthropologie“26 bezeichnet, ereignet sich dann aber in der nachhegelschen Philosophie, bei Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud. Der Mensch selbst wird zum Zentrum und Gott als Garant menschlicher Identität endgültig abgelöst. Damit hat sich aber die Anthropologisierung als überaus radikal und überschießend erwiesen, insofern sie sich noch ihre eigenen Wurzeln – im historischen Zusammenhang: das Christentum und im sachlichen Zusammenhang: den Gottesglauben als solchen – abschnei24

Theologie und Philosophie, 146. Die Bedeutung Descartes‘ für das Werk Pannenbergs kann kaum überschätzt werden, insbesondere dessen Argumentation in Meditationes III. Vgl. hierzu auch SY/I, 127/128. Hier ist auf die Bedeutung der Auseinandersetzung Barths mit Descartes zurückzuverweisen, oben Abschnitt: 3.1.1.2. 25 Theologie und Philosophie, 202 u.a. 26 Ebd., 294. Vgl. hierzu die Ausführungen oben Abschnitt 1.3.

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det. Die Neuzeit hat damit aber letztlich ihre Legitimität verloren27, indem sie die durchaus in der christlichen Religion angelegten Impulse zur Säkularisierung zum Säkularismus überdehnt. Die aus der Befreiung durch Christus abgeleitete individuelle Freiheit depraviert zur Beliebigkeit28; die Einheit der Gesellschaft zerfällt, weil ihre religiöse Grundlage verloren geht, und der einzelne muss immer größere Lasten tragen, ist er doch die für sich selbst verantwortliche Instanz, die im Pluralismus der Fragen und Antworten unterzugehen droht.29 Es ist diese stark wertende Säkularisierungstheorie, die im Hintergrund der Anthropologie und der Theologie Pannenbergs steht – was im Verlauf der Darstellung und kritischen Würdigung noch häufiger thematisiert werden wird. Damit hat Pannenberg aber auch eine Situationsbeschreibung des Kontextes aktueller Theologie gegeben, die nun aber nicht mehr nur deskriptiv, wie zu Beginn der Anthropologie, sondern auch präskriptiv gemeint ist. Die Anthropologisierung hat dazu geführt, dass eben die Anthropologie die eine gemeinsame Grundlage geworden ist. Nur noch der Mensch ist (sich) ‚selbstverständlich‘, nicht mehr Gott bzw. seine Beziehung zu seinen Geschöpfen oder die Welt. Deshalb muss aber die Theologie den Glauben und die religiöse Dimension des Menschen auf dem Feld seines Selbstverständnisses artikulieren, ansonsten wird sie ungehört und unverstanden bleiben und ihrer Aufgabe nicht gerecht werden. Deshalb muss sie – noch weitergehend – nicht nur ihre Aussagen anthropologisch umformen oder adaptieren, sondern „ihre Grundlegung auf dem Boden allgemeiner anthropologischer Untersuchungen gewinnen.“30 Sie darf sich nicht einfach von oben auf diesen Boden herablassen, sondern sie muss ihn gleichsam theologisch umgraben, ihn bereiten, um das Bezogensein des Menschen auf Gott plausibel zu machen.

27 Vgl. hierzu den programmatischen Aufsatz Pannenbergs: Die christliche Legitimität der Neuzeit, 114–128; außerdem auch: Christentum in einer säkularisierten Welt, 32–54; sowie Anthropologie, 460–471. Vgl. oben auch Abschnitt 1.4. 28 Es wird deutlich, dass Pannenberg dieser Entwicklung nichts Gutes abgewinnen kann: „Die Emanzipation des Prinzips menschlicher Freiheit von seinen religiösen Wurzeln im christlichen Glauben erwies sich als verhängnisvoll nicht nur für die moderne Geschichte des Christentums, weil sie zum Ausgangspunkt des Säkularismus der modernen Kultur wurde mit der Folge, daß die religiöse Thematik mehr und mehr von öffentlicher Geltung ausgeschlossen und auf den privaten Lebensbereich beschränkt wurde. Die Isolierung des Gedankens der individuellen Freiheit von seinen religiösen Wurzeln hat sich aber auch als verhängnisvoll für die Entwicklung der modernen Kultur erwiesen, weil durch den Verlust ihrer religiösen Verwurzelung einige ihrer grundlegenden Werte zweideutig und undurchsichtig wurden“ (Bestimmung des Menschen, 12). 29 Marquard (Zur Geschichte des philosophischen Begriffs Anthropologie, 140) sieht in der Hinwendung zur Anthropologie gerade diese Pluralisierung begründet: „Die philosophische Anthropologie wird zum Hüter der Pluralität.“ 30 Anthropologie, 15 (Hervorhebung von T.W.).

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Wird Gott – im weitesten Sinne – als die „alles bestimmende Wirklichkeit“31 verstanden, dann wird die Theologie zeigen wollen, dass und wie Gott gerade den Menschen bestimmt – um dann freilich auch noch auf das Feld der Weltanschauungen weiterzuschreiten. Jede Theologie muss deshalb in einer theologischen Anthropologie fundiert sein, ansonsten macht sie sich der Unterlassung schuldig, sich über die eigene Erkenntnisbasis keine Rechenschaft abgelegt zu haben, und droht somit, sich selbst zum Fundament zu werden und in einen supranaturalistischen ‚Fundamentalismus‘ abzugleiten.32 Den Boden der Anthropologie zu betreten und zu bereiten darf allerdings nicht bedeuten, einem bestimmten Menschenbild zu verfallen oder die Theologie in Anthropologie aufzulösen. Nach Pannenberg hat das Barth – er erwähnt hier auch Erich Schaeder, den er für einen wichtigen Vorläufer der dialektischen Theologie hält33 – richtig gesehen. Barth macht zurecht, wohl besonders mit seiner Haltung zu Feuerbach, auf „die Gefahr einer anthropozentrischen Umklammerung der Theologie“34 aufmerksam. Die Anthropologie ist gerade das Feld, auf dem es zur Auseinandersetzung und zum Streit kommen kann und mit der atheistischen Religionskritik, die gerade eine religiöse Bestimmung des Menschen vehement bestreitet, kommen muss. Dabei darf aber der Boden der Anthropologie nicht verlassen werden, sondern es muss gerade angesichts des Verständnisses des Menschen um seine religiöse Anlage, seine Bezogenheit auf Gott gerungen werden. Es wäre dann also der falsche Weg – nämlich etwa der Karl Barths –, sich von dem Atheismus und der Religionskritik vom anthropologischen Feld vertreiben zulassen oder gar Hand in Hand mit ihm vom Feld zu gehen, um wieder beruhigt bei Gott ansetzen zu können: Es gehört zu den Beispielen übermäßiger Anpassung der Theologie an die intellektuellen Moden der Zeit, daß die dialektische Theologie geglaubt hat, die atheistische Argumentation akzeptieren und durch einen radikalen Offenbarungsglauben übertrumpfen zu können.35

Es gilt vielmehr, den Gegner – die säkulare und atheistische Auffassung des Menschen – mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen, dort wo er sich gleichsam am wohlsten fühlt, nämlich in der Bestreitung der Relevanz und Wahr31

Wissenschaftstheorie und Theologie, 298 u.a. Zu diesem Vorwurf siehe oben 3.0. 33 Vgl. Anthropologie, 15 und Problemgeschichte, 165–176. 34 Anthropologie, 15 (Hervorhebung von T.W.). 35 Anthropologie und Gottesfrage, 17. Vgl. auch das Urteil über Barths Theologie: „In diesem Sinne hat man mit Recht gesagt, daß Barths Theologie den Atheismus Feuerbachs in ähnlicher Weise zur Voraussetzung habe wie die scholastische und altprotestantische Theologie sich auf eine natürliche Gotteserkenntnis und Theologie gründete“ (Reden von Gott angesichts atheistischer Kritik, 30). Vgl. auch SY/I, 118. 32

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heit der Religion. Das kann aber nur gelingen, wenn die eigene anthropologische Arbeit, freilich in theologischer Perspektive, detaillierter und schärfer die Phänomene des Menschlichen herausarbeitet, als es sonst, insbesondere in der religionskritischen Anthropologie, geschehen ist. Pannenberg ist zuversichtlich: Insgesamt ist jedenfalls eine hinreichend breite und in der Geschichte der neueren Philosophie tief verwurzelte Phänomenbasis gegeben, um der Deutung des Menschen als eines Wesens, für dessen Natur die religiöse Thematik nicht konstitutiv sei, mit guten Gründen widersprechen zu können, – gegen Feuerbach, Nietzsche, Heidegger, Sartre u.a.36

4.1.2 Die religiöse Thematik und die Vertiefung der Anthropologie37 Für Pannenberg ist es das Signum einer völlig säkularisierten Gesellschaft und des sich autonom wähnenden Menschen, dass der Mensch die eigene Bedingtheit, das Bestimmtsein von äußeren Faktoren, aus dem Auge verliert. Der Atheismus hat eine starke privatisierende Tendenz, indem er den Menschen als selbstgenügsame, sich selbst und die Welt konstituierende Instanz versteht. Die Religion, die aber gerade das den Menschen Transzendierende, das Kontingente des Lebens, thematisiert, wird dabei als „konstitutiver Faktor der menschlichen Wirklichkeit [...] aus dem Bewußtsein“ verdrängt. „In der säkularen Kultur der abendländischen Neuzeit (ist) keine Seite der menschlichen Wirklichkeit so sehr vernachlässigt worden wie die Religion.“38 Es ist nun genau diese Seite der Wirklichkeit, die Pannenberg an den Phänomenen aufweisen will. 4.1.2.1 Die kritische Aneignung anthropologischer Phänomene Pannenberg geht davon aus, dass die Religion – oder wie er selber vorsichtiger ausdrückt: „die religiöse Thematik“ – zum Menschsein elementar hinzugehört und nicht als ein sekundäres Bedürfnis einzelner oder als eine bestimmte subjektive Neigung zu betrachten ist. Die Religion ist gleichsam in der empirisch aufweisbaren Konstitution menschlichen Seins verwurzelt, ja eigentlich wäre umgekehrt zu formulieren, das menschliche Sein wurzelt in der Religion.39 Eine Verdrängung dieser Dimension, wie in der heutigen 36

Theologie und Philosophie, 361. Vgl. hierzu insbesondere Fischer, Fundamentaltheologische Prolegommena, 42–47.60. 38 Anthropologie, (Vorwort) 7. 39 Die Verwendung und die Bedeutung des Begriffes „Religion“ sind bei Pannenberg vielfältig, zuweilen etwas verwirrend. Was Pannenberg unter der religiösen Dimension des Menschseins 37

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Identität und Gottebenbildlichkeit bei Wolfhart Pannenberg

säkularen Gesellschaft, zeitigt deshalb „destruktive Folgen für die Integrität des individuellen und gesellschaftlichen Lebens der Menschen“. Der Einzelne wird in einer immer enger werdenden Spirale in sich selbst hineingezogen, insofern er außen keinen Halt mehr findet. Es entwickeln sich möglicherweise „neurotische Persönlichkeitsformen“40, und die Frage nach dem Sinn des Lebens erhält keine Antwort mehr bzw. wird betäubt. Pannenberg ist sich sicher, dass die einzige „tragfähige Antwort auf die spezifisch neuzeitliche Erfahrung der Entfremdung und Sinnleere der gesellschaftlichen Lebenswelt nur religiös sein kann, und zwar so, daß sie zugleich das neuzeitliche Ghetto der Privatisierung der Religion durchbricht.“41 Dieses Ghetto verlässt der Theologe, indem er die religiöse Thematik als anthropologische und damit allgemeingültige Gegebenheit versteht, dann aber auch anhand der Phänomene aufweist. Wie oben erwähnt, bedeutet das aber, dass er sich auf einen aufwendigen und auch langwierigen Prozess der „kritische(n) Aneignung“42 einlassen muss. Was heißt es aber, sich im Bereich der Menschenbilder etwas kritisch anzueignen? Zum einen geht es um eine umfassende und detaillierte Kenntnisnahme der anthropologischen Forschung. Eine theologische Anthropologie bzw. eine in theologischer Perspektive darf sich nicht durch ihre Oberflächlichkeit und Leichtfertigkeit im Umgang mit den Phänomenen menschlicher Wirklichkeit oder auch der jeweiligen Theoriebildung auszeichnen. Die Gefahr wäre zu groß, hinter den aktuellen Stand der Forschung zurückzufallen und damit das eigene Ansinnen, die religiöse Thematik apologetisch aufzuweisen, zu konterkarieren. Kein Anthropologe, aber auch kein kritisch denkender Mensch, wird sich von grob skizzierten, bloß umrissenen Fragen, Problemversteht wird unten anhand der anthropologischen Einzelanalysen darzustellen sein. Zwei wesentliche Aspekte lassen sich hier allerdings schon kurz hervorheben: Zum einen versteht Pannenberg Religion als ein vorbewusstes, zunächst nicht explizites Bezogensein des Menschen auf die alles bestimmende Wirklichkeit. Der Mensch ist religiös, auch wenn er keine Religion praktiziert, ja sich selber nicht einmal für religiös hält. Pannenberg nennt das in seiner Systematischen Theologie (SY/I, 128) das „primordiale Bewußtsein“ oder das „unthematische Gewahrsein“ des Unendlichen – das freilich darauf angelegt ist, explizit zu werden. Damit hängt zum zweiten die Ansicht zusammen, dass eine „Ablösung des Religionsbegriffs vom Gottesgedanken“ (SY/II, 152) letztlich nicht möglich und fruchtbar ist. Pannenberg versucht ja gerade auf dem Hintergrund der philosophischen Theologie Descartes‘ und Hegels, die Religion vom philosophischen Gottesgedanken her zu verstehen. Religion bedeutet die notwendige, weil dem Menschen natürliche Erhebung des Endlichen zum Unendlichen. Die Religion gehört gerade in der Form „der Hervorbringung eines Gottesgedankens zum Menschsein des Menschen“ (Reden von Gott angesichts atheistischer Kritik, 36) hinzu. Pannenberg versucht im Begriff der Religion also die anthropologische Notwendigkeit des Gottesbezugs zu fassen, der sich in den positiven Religionen verwirklichen kann und verwirklicht hat. Vgl. SY/I, 151–166 und zum Verhältnis von Religion und Religionen: Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, 261–264. 40 Anthropologie, 7. 41 Gottebenbildlichkeit und Bildung des Menschen, 209. 42 Anthropologie, 18. (Hervorhebung von T.W.).

Anthropologie und Theologie

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stellungen und Theorien überzeugen lassen. Ein solches Aneignen erfordert zunächst einmal aber den Mut, angesichts der Masse des Stoffs und der Konfrontation mit der Pluralität anthropologischer Theorie nicht in die Knie zu gehen, sondern den umfassenden Zugriff auf die Phänomene zu wagen. Der Versuch, die religiöse Dimension aufzuweisen, stellt zudem hohe Anforderungen an die wissenschaftlichen Fähigkeiten des Theologen, der sich ja auf ein fremdes Forschungsfeld begeben muss, das sich noch dazu durch eine religionskritische, allen Wahrheitsansprüchen gegenüber ablehnende Atmosphäre auszeichnet. Der enorme Materialreichtum und die profunde Kenntnis anthropologischer, naturwissenschaftlicher43 und im Hintergrund stehender wissenschaftstheoretischer44 Anschauungen beweisen aber, dass Pannenberg mi