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German Pages 488 Year 2013
Margot
küllnuimi! Gott will Taten sehen Christlicher
Widerstand gegen Hitler Ein Lesebuch
C.H.Beck
Für viele Widerständler wurde ihr christlicher Glaube zum moralischen Kompass und zur Quelle ihres Mutes. Es waren ganz unterschiedliche Menschen: Theologen, die sich ent¬ täuscht von den Kirchen abwandten, Staatsbeamte und Militärs, die es nicht mehr ertrugen, an Verbrechen mitzuwirken, Studenten, die von einer gerechten Zukunft träumten, Frauen und Männer, Junge und Alte, Katho¬ liken und Protestanten. Die einen führte ihr Glaube in den Widerstand, die anderen wurden durch den lebensgefährlichen Widerstand zu überzeugten Christen. Sie alle einte die Überzeugung, dass etwas getan werden muss, auch unter Einsatz des eigenen Lebens. Margot Käßmann hat in diesem Lesebuch zusammen mit der Zeit¬ historikerin Anke Silomon die wichtig¬ sten und bewegendsten Zeugnisse des christlich motivierten Protestes und Kampfes gegen den National¬ sozialismus versammelt. Durch die chronologische Anordnung und die kundigen Einführungen zu Personen und Zeitumständen ist die einzigartige Anthologie, die auch einige bisher unpublizierte Dokumente enthält, zugleich eine höchst spannende Geschichte des christlichen Wider¬ stands.
Verlag C.H.Beck www.beck.de
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Gott will Taten sehen Christlicher Widerstand gegen Hitler
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Gott will Taten sehen Christlicher Widerstand gegen Hitler Ein Lesebuch Ausgewählt, eingeleitet und kommentiert von Margot Käfimann und Anke Sitomon
Verlag C. H. Beck
Mit 48 Abbildungen
© Verlag C. H. Beck oHG, München 2013 Satz: Janß GmbH, Pfungstadt Druck und Bindung: CPI — Ebner & Spiegel, Ulm Umschlaggestaltung: Kunst oder Reklame, München Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany ISBN 978 3 40664453 5 www.beck.de
«Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.» Apostelgeschichte 5.29
Inhalt
Einleitung von Margot KäHmann.
15
1932-1934 Warnungen und Mahnungen .
31
Hermann Sasse Vom Recht, das germanische Moralgefühl zu beleidigen. Eine Kritik am Parteiprogramm der NSDAP, 1932.
34
Jochen Klepper Die persönliche Last politischer Komplikationen. Tagebucheintrag, Juni 1932.
41
Jochen Klepper Zuckungen eines sterbenden Jahrtausends! Aus dem Tagebuch, Frühjahr 1933 .
43
Wilhelm von Pechmann Angstvoll warten diese unsere Kirchenmitglieder auf ein Wort ihrer Kirche. Forderung nach einer kirchlichen Erklärung zur Judenfrage, April 1933
.
49
Edith Stein Die Verantwortung fällt auch auf die, die dazu schweigen. Ein Brief an Papst Pius XI., April 1933 .
53
8
Inhalt
Friedrich Schauer Kirchentreue vor Staatstreue! Eine Stellungnahme, September 1933 .
59
Friedrich Behr Die Kranken zu Subjekten der Liebe machen. Eine Ermahnung, Mai 1934 .
66
Aus der Barmer Theologischen Erklärung, Mai 1934.
73
1935-1937
Proteste und Einsprüche.
81
Nieder mit Hitler! Ein Bericht der Gestapo, Mai 1935.
83
Marga Meusel Endlich das erlösende Wort sprechen. Denkschrift zu den Aufgaben der Bekennenden Kirche, Mai 1935 ..
87
Elisabeth Schmitz In diese Schuldgemeinschaft ist unentrinnbar jeder verstrickt. Denkschrift über die Not der Juden, September 1935.
92
Eberhard Bethge Schritte in eine unbekannte Welt. Die Begegnung mit den Bonhoeffers. Autobiographisches Zeugnis, Anfang 1936 . . . 105
Aus der Denkschrift der «radikalen» Bekennenden Kirche, Mai 1936.
115
Clemens August von Galen Selbstverständlich werden wir Protest einlegen. Ein Brief an die Reichsregierung, Oktober 1936 .
122
Inhalt Martin Niemöller Die stumme Kirche verleugnet sich selbst. Aus der vorletzten Predigt vor der Verhaftung, Juni 1937. 126
Konrad von Preysing Keine Verhandlungen mir einer Vertragsbrüchigen Regierung. Schreiben an Kardinal Bertram, Oktober 1937. 138
1938-1939
Ohnmacht und Widerstand.
143
Reinhold Schneider Furchtbarer Bann. Sonett, 1938. 146
Karl Barth Es gibt eine göttlich geforderte Resistenz. Eine Vorlesung in Schottland, März 1938. 149
Helmut Gollwitzer Gott will Taten sehen. Eine Bußtagspredigt, November 1938 . 160
Paul Robert Schneider Unser Herz nicht an die Erdengärten hängen. Briefe aus dem KZ Buchenwald, Mai 1938—Juli 1939. 167
Theodor Roller Als Christ nenne ich Sie einen Lügner. Ein Brief an Adolf Hitler, Februar 1939 . 175
Hebe Kohlbrugge Fast zu spät. Widerstand in den Niederlanden, Dezember 1939-Oktober 1940 .
182
9
10
Inhalt
1940
Wege in den Untergrund
. 191
Marion Yorck von Wartenburg Denken und Planen für den Tag danach. Über den Kreisauer Kreis, Januar 1940—Januar 1944. 193
Maria Grollmuß In der Geschichte muss immer ein neuer Karfreitag kommen. Ein Osterbrief an die Schwester, März 1940 . 202
Lothar Kreyssig Jeder weiß, dass die Tötung Geisteskranker demnächst ebenso bekannt sein wird wie die Existenz der Konzentrationslager. Ein Brief an den Justizminister, Juli 1940. 207
Theophil Wurm Die Grenzen, die dem nationalsozialistischen Staat von Gott gesetzt sind. Ein Brief an den Innenminister, Juli 1940 .... 217
Magda und Andre Trocme So kam es, dass wir in den Untergrund gingen. Berichte aus Frankreich, 1940/41 . 226
1941
Mut und Angst. 237 Gertrud Staewen Sünder sind die, die nicht tun. Ein Brief an Helmut Gollwitzer, April 1941 . 238
Clemens August von Galen Du sollst nicht töten! Eine Predigt gegen die «Euthanasie», August 1941.
244
Inhalt Bernhard Lichtenberg Auf meiner priesterlichen Seele liegt die Last der Mitwisserschaft. Protest an den Reichsärzteführer, August 1941
. 254
Madeleine Barot Widerstand gegen alle totalitären und götzendienerischen Einflüsse. Die Thesen von Pomeyrol, September 1941
.... 259
1942-1943
Die Macht des Wortes .
265
Sophie Scholl Das schreckliche Recht des Stärkeren. Ein Brief an Fritz Hartnagel, Oktober 1942 . 266
Helene Kafka Gegen das braune Sklavenreich. Zum Tode verurteilt für ein Lied, Oktober und November 1942. 272
Jochen Klepper Diese stillen, stillen, dunklen, trüben Tage. Tagebucheintrag vor dem Freitod, Dezember 1942. 279
Dietrich Bonhoeffer Civilcourage? Ein Rückblick auf die letzten zehn Jahre, 1942/43
. 282
Katharina Staritz Leise Heiterkeit in der allertiefsten Erniedrigung. Erinnerungen an die Haft, 1942/43 . 292
Helmut Gollwitzer Nicht, dass Sie da eine religiöse Gemeinschaft bilden! Ein Bericht von der Ostfront, Januar 1943 . 299
11
12
Inhalt
Hans Scholl und Alexander Schmorell Trennt Euch von dem nationalsozialistischen Untermenschentum! Das fünfte Flugblatt der Weißen Rose, Januar 1943 . 303
Kurt Huber Aufbruch gegen die Verknechtung Europas. Das sechste Flugblatt der Weißen Rose, Februar 1943 .... 309
1943 1944 -
Tat und Attentat.
315
Hans und Christine von Dohnanyi Was wissen die Millionen draußen, was Freiheit ist! Briefe aus dem Gefängnis, April 1943 . 316
Das zertretene Recht muss wieder aufgerichtet werden. Die Kreisauer Grundsätze für die Neuordnung, August 1943. 326
Theodor Steltzer Über die deutsche Opposition. Ein Bericht an die Alliierten, Juli 1944. 331
Barbara und Hans Bernd von Haeften Diesmal muss der Film abrollen. Bericht über das Attentat vom 20. Juli, April—September 1944 . 338
1944 1945 -
Im Angesicht des Todes. 349 Marion Yorck von Wartenburg ln Moabit aber erfuhr ich, was Stille heißt. Erinnerungen an das Gefängnis, August 1944
350
Inhalt Elisabeth von Thadden Wir wollten barmherziger Samariter sein. Selbstzeugnis vor der Hinrichtung, September 1944. 357
Freya und Helmuth James von Moltke Ich habe mein ganzes Leben lang gegen einen Geist des erbarmungslos Konsequenten angekämpft. Abschiedsbriefe, Oktober 1944 . 366
Heinrich Dalla Rosa Als papsttreuer Priester wurde ich oerhöhnt und verurteilt. Zwei Abschiedsbriefe, November 1944 und Januar 1945 .. 380
Dietrich Bonhoeffer Von guten Mächten wunderbar geborgen. Gedicht, Dezember 1944. 384
Albrecht Haushofer Ich hab gewarnt — nicht hart genug und klar! Drei Moabiter Sonette, 1944/45 .
386
Harald Poelchau Die Todeszelle. Erinnerungen eines Gefängnispfarrers, 1944/45. 391
Alfred Delp Unsere Ketzerei gegen das nationalsozialistische Dogma. Die Verhandlung vor dem Volksgerichtshof, Januar 1945 .. 399
Carl Friedrich Goerdeler Die zerstörte Welt muss ihren Aufbau auf den Geboten Gottes durchführen. Das politische Testament, Januar 1945.
408
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Inhalt
Hans von Dohnanyi Solange wir noch handeln können, müssen wir handeln. Letzte Rettungspläne, März 1945 . 415
Kurt Gerstein Ich muss künden, um ich hier erlebe! Bericht aus den Vernichtungslagern, Mai 1945. 421
1945-1946 Freiheit und Schuld . 437 Isa Vermehren Das Leid um die eigene Schuld in diesem grausamen Spiele. Schlusswort, Herbst 1945. 438
Martin Niemöller Der Weg ins Freie. Eine Rede, Juli 1946.443
Literaturhinweise. 457 Textnachweis . 465 Bildnachweis. 472 Personenregister. 473
Einleitung von Margot Käßmann
«Während beide christlichen Kirchen nicht zum Widerstand ge¬ gen den Nationalsozialismus zu rechnen sind, war die Berufung aut christliche Werte tür die Bewegung des 20.Juli von grund¬ legender Bedeutung. Zugleich spielten bekennende Christen eine wichtige Rolle tür die Entfaltung der Opposition.»* Dieses Urteil des Historikers Hans Mommsen macht deutlich, dass sich die Kirchen der staatlichen Gewalt unterordneten und sich als Institution nicht bewusst in Opposition zur menschenverachten¬ den Diktatur des Nationalsozialismus stellten. Maßgabe hierfür war der Römerbrief des Apostels Paulus, in dem es heißt: «Jeder¬ mann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott: wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet.» (13,1) Für «die Kirche» als Institution — römisch-katholisch bald durch
ein Konkordat gebunden,
evangelisch noch davon geprägt, dass der preußische König bis 1918 oberster weltlicher Herr der Kirche war - war eine Oppo¬ sition zur herrschenden Regierung unvorstellbar. Einzelne Christinnen und Christen unterschiedlicher Kon¬ fession aber entschlossen sich aus Glaubensüberzeugung, die Ideologie zu hinterfragen, ihren verfolgten Nächsten zur Seite zu stehen und gegen Unrecht aufzubegehren. Ihr biblischer
*
Hans Mommsen, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 8, Tübingen 2005, Sp. 1517-1521, hier 1521.
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Einleitung
Leitfaden war das Gebot der Nächstenliebe: Wie kann ich wegschauen, wenn der Nächste verletzt am Straßenrand liegt? Werde ich dann nicht zum Priester, zum Leviten, auf die das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,30 ff.) ver¬ weist? Beide schauen weg, als jemand ihre Hilfe benötigt, und versagen so gegenüber Gottes gutem Gebot der Achtsamkeit mit Blick auf den Nächsten. Wegweisend für die Widerständi¬ gen wurde aus dieser Perspektive das von Lukas überlieferte Wort des Apostels Petrus: «Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.» (Apostelgeschichte 5,29) Die Spannung zwischen dem Gebot des Gehorsams gegen¬ über der Obrigkeit einerseits und der Christenpflicht zum Schutz verletzter, verfolgter und bedrohter Menschen anderer¬ seits ist in der Geschichte des Christentums in unterschied¬ lichen historischen Situationen immer wieder zutage getreten. Auf die damit aufgeworfene Frage nach dem richtigen Verhal¬ ten wurden — auch konfessionell bedingt — unterschiedliche Antworten gegeben. Die Geschichte des christlichen Wider¬ standes in der Zeit des Nationalsozialismus ist ein überzeugen¬ des Beispiel dafür, wie sehr individuelle Glaubensüberzeugung am Ende für die Entschlossenheit und den Mut zum Wider¬ stand ausschlaggebend war und ist. Sie ist so zugleich ein bewe¬ gendes Zeugnis ökumenischer Realität.
Als Ulrich Nolte im Namen des Verlags C. H. Beck mit der Idee auf mich zukam, ein Lesebuch zum christlichen Widerstand in der Zeit des Nationalsozialismus herauszugeben, habe ich zu¬ nächst gedacht: Brauchen wir ein solches Buch? Ist nicht alles bereits dokumentiert? Unsere Diskussionen haben mir dann aber deutlich gemacht, dass dies ein sehr sinnvolles Projekt ist. Allzu oft konzentriert sich die Dokumentation auf wenige her¬ ausragende Persönlichkeiten wie Dietrich Bonhoeffer, die Ge¬ schwister Scholl oder Pater Delp sowie auf wenige Texte wie die Barmer Theologische Erklärung. Aber darin erschöpft sich die historische Wirklichkeit nicht. Es gab auch viele sogenannte
Einleitung
«kleine Leute», die den Mut hatten, etwa den Hitlergruß zu ver¬ weigern, Menschen jüdischen Glaubens zu schützen, für Behin¬ derte einzutreten. Widerstand hatte zudem sehr unterschied¬ liche Ausdrucksformen. Er hat sich in Texten geäußert, aber auch im Handeln, ja in Gesten. Zudem sind nicht alle am Widerstand Beteiligten gleich Helden gewesen, manche kamen langsam, schleichend, zuweilen sogar als zunächst aktiv an den Verbrechen des NS-Regimes Beteiligte dazu. Wie war jeweils die Situation, und wie haben Menschen reagiert? Ein Lesebuch — ein spannendes Projekt! Manches Mal treibt mich die Frage um: Wie mutig wäre ich gewesen? Hätte ich Widerstand geleistet, Jüdinnen und Juden, Homosexuelle, Sinti und Roma, Kommunisten ge¬ schützt? Hätte ich die Ideologie der Nazis offen kritisiert? Oder hätte ich wie die große Mehrheit dazu geneigt, mich anzupassen, wegzuducken, alles zu tun, um die eigene Fami¬ lie und mich selbst zu schützen, anstatt das herrschende Sys¬ tem in Frage zu stellen? Es ist aus dem Abstand von achtzig und mehr Jahren, nach einer Zeit der Aufarbeitung und mit der Lebenserfahrung in einer freien Gesellschaft, einfach, Mitläufertum anzuprangern. Wer das tut, macht es sich zu leicht. Wir sind mit der Herausforderung konfrontiert, uns hineinzudenken in eine Zeit, in der die Äußerung abwei¬ chender Meinungen ins Vernichtungslager und der Schutz des Nächsten zur standrechtlichen Erschießung führen konnte, eine Zeit, in der christlicher Glaube sich auch angesichts einer Anpassung der Institution Kirche bewähren musste. Für viele Christinnen und Christen war es nicht leicht, aus eigener Grundüberzeugung eine von der Mehrheit abweichende Po¬ sition zu finden. Zwar hat die Bekennende Kirche vor allem mit der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 hierfür einen Weg geebnet. Doch hinsichtlich der Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung von Juden, Behinderten, Homo¬ sexuellen und anderen Minderheiten hat sie keine inhaltliche Hilfestellung gegeben.
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Einleitung
Während meiner Zeit als Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages in den Jahren 1994 bis 1999 hat mich fasziniert, wie die Kirchentagsbewegung seit ihren An¬ fängen versucht hat, das Versagen des deutschen Protestantismus aufzugreifen. Kirchentage, die in den 1920er Jahren eher die tiefe Skepsis der Evangelischen gegenüber der Weimarer Repu¬ blik gestärkt hatten, wurden nach 1932 von der Bekennenden Kirche zur Zurüstung der Gemeinden genutzt. In ihrer Folge wurden «Evangelische Wochen» ms Leben gerufen, in denen Menschen in ihrem Glauben und auch in ihrer Abgrenzung von den Deutschen Christen unterstützt wurden. Auch wenn es 1949 zu einer Neugründung kam, die aus unterschiedlichen Gründen anders als der Katholikentag nicht an die Vorgänger anknüpfen wollte, war es ein Bezug auf jene Erfahrungen, die Reinold von Thadden-Tneglalf und andere ab 1949 die Kirchentagsbewe¬ gung ins Leben rufen ließen. Evangelische Laien sollten in einer Art evangelischer Volkshochschule zum eigenen theologischen Denken ermutigt werden, damit die Protestanten nie wieder verführt werden und in die Irre gehen würden wie in der Zeit des Nationalsozialismus. Bei den ordinierten Kirchenführern stieß diese Laienbewegung zunächst auf Skepsis. Letzten Endes hat sie sich aber bewährt und nicht selten Widerstand - im demokratischen Rechtsstaat der Bundesrepublik natürlich unter völlig anderen Voraussetzungen - möglich gemacht. Ich denke etwa an die Kirchentage des Jahres 1983, als in Hannover die berühmten lila Tücher ein «Nein ohne jedes Ja gegen Massen¬ vernichtungsmittel» forderten und in Wittenberg öffentlich ein Schwert in einen Pflug umgeschmiedet wurde. «Schwerter zu Pflugscharen», ein prophetisches Wort, das bereits in den Jahren zuvor christlichen Widerstand gegen das Wettrüsten und damit auch gegen das DDR-Regime gekennzeichnet hatte, wurde endgültig zum Symbol des Widerstandes. Ein Aufnäher mit diesem Bibelzitat wurde zum Bekenntnis und führte in der DDR manches Mal zu einer Verhaftung oder zur Beschneidung von Bildungschancen.
Einleitung
Widerstand gegen staatliches Handeln und die Unterdrü¬ ckung der Meinungsfreiheit gab es also auch nach 1945 in Deutschland, Christinnen und Christen nahmen die Erfahrun¬ gen der Zeit des Nationalsozialismus in beiden deutschen Staa¬ ten auf, auch wenn der demokratische Rechtsstaat im Westen nicht mit der DDR und beide nicht mit der Nazidiktatur ver¬ gleichbar sind. In der DDR konnte Widerständigkeit im real existierenden Sozialismus einen hohen Preis kosten, etwa mit Blick aut Ausbildung und Arbeitsplatz, aber auch bis hin zur In¬ haftierung. Im demokratischen Rechtsstaat der Bundesrepublik zeigte sich dies eher in kritischer Begleitung staatlichen Han¬ delns und einem Bewusstsein, bei Unrecht nicht wegschauen zu dürten. Aut internationaler Ebene gab vor allem der Ökumeni¬ sche Rat der Kirchen (ÖRK), der 1948 in Amsterdam gegründet wurde, der Haltung des Widerstandes gegen Rassismus, Un¬ recht, Krieg und Unterdrückung eine Stimme. Sein «Programm zur Bekämpfung des Rassismus» steht symbolisch dafür. Auf der Vollversammlung 1968 in Uppsala war Martin Luther King eingeladen, einen der Hauptvorträge zu halten. Seine Ermor¬ dung katapultierte das Thema Rassismus nach ganz oben auf die Tagesordnung. In den Folgejahren wurde immer wieder - vor allem von den westdeutschen Mitgliedskirchen - diskutiert, ob ein
solches
Programm
Befreiungsbewegungen
unterstützen
dürfe, die ihren Widerstand gegen die rassistischen Regime in Südafrika, Rhodesien (später Simbabwe) und Südwestafrika (heute Namibia) auch gewaltsam umsetzten. Das erinnerte manche an die Frage der Zeit des Widerstandes gegen Hitler: Tyrannenmord - ja oder nein? Für viele Theologinnen und Theologen meiner Generation wurde der ÖRK jener Jahre zum Vorbild, zum legitimen Er¬ ben der Widerstandskräfte der Nazizeit. Das galt ab 1983 ganz besonders im Rahmen des «konziliaren Prozesses für Gerech¬ tigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung». Immer wie¬ der wurden Menschen unterstützt, die als Einzelne — wie etwa Ken Saro-Wiwa in Nigeria -, als Gruppen — wie etwa «Frauen
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Einleitung
in Schwarz» - und auch als Kirchen Widerstand leisteten. Im¬ mer wieder aber gab es auch Enttäuschungen, etwa wenn deut¬ lich wurde, dass Kirchen sich dem Widerstand verweigerten, zu den Waffen riefen wie die serbisch-orthodoxe Kirche im Jugoslawienkrieg, sich anpassten oder sich ganz und gar auf die Seite der Diktatur schlugen, wie manche Kirche in den Militärdiktaturen Lateinamerikas oder jüngst die russisch-or¬ thodoxe Kirche, die sich entgegen kurzfristig aufkeimenden Hoffnungen der zivilen demokratischen Bewegungen als vehe¬ mente Unterstützerin des Regimes eines Wladimir Putin zu erkennen gab. Die ökumenische «Dekade zur Überwindung von Gewalt» (2001—2010) war ein Versuch, endlich Gewaltfrei¬ heit glasklar als zentrale christliche und auch ökumenische Option zu etablieren. Diese jüngere Entwicklung zeigt deutlich: Jede Generation von Christinnen und Christen, jede Kirche in ihrem je eigenen Kontext muss fragen, wo sie heute Verantwortung zu überneh¬ men hat. Wir können nicht einfach um eines vermeintlichen Friedens, um einer vermeintlichen Konzentration auf «das Eigentliche» willen still zustimmen. Christlicher Glaube ist welthaltig, will, ja muss sich einmischen, Stellung beziehen zum Kontext, in dem wir leben. Das kann unbequem sein, eine Herausforderung darstellen, es kann viel kosten: Kritik, Diffamierung, ja in einigen Ländern sogar auch heute noch das eigene Leben! Es geht um eine Haltung der Verantwortung, der Glaubwürdigkeit, die sich dem Gebot, Gott über alle Dinge zu lieben und den Nächsten wie sich selbst, verpflichtet weiß. Wer so glaubt, für den oder die kann nichts anderes zum Gott werden, keine Ideologie, keine Rasse, kein noch so gut be¬ gründetes Ziel. Die Legitimität von Widerstand gegen die Obrigkeit bezie¬ hungsweise die Staatsgewalt ist und bleibt unter Christinnen und Christen, bleibt in den Kirchen der Welt umstritten. Umso wichtiger scheint mir das Anliegen dieses Lesebuches zu sein, die Vielfalt von Widerstand deutlich zu machen, der sich nicht
Einleitung
immer in ausgefeilten Schritten dokumentieren lässt. Es gilt, nicht nur die «großen» Gestalten zu zeigen, sondern auch den «kleinen» Widerstand im Alltag durch Menschen wie du und ich. Wir haben im Redaktionskreis darüber diskutiert, ob sich solch widerständiges Verhalten auch durch Gestapo-Berichte belegen lässt — und uns am Ende dafür entschieden. Der Ge¬ stapo-Bericht über spontane Proteste von katholischen Gläubi¬ gen (siehe S. 83—86) zeigt zum Beispiel etwas von einem Wider¬ stand, der kaum gewürdigt wurde und wird. Und doch ist er eine Ermutigung, weil auf diese Weise offensichtlich wird, dass auch «kleine Leute» in «kleinen Gesten» Widerstand gegen Unrecht leisten können. Das gilt ebenso für persönliche und weitreichende Entscheidungen, die nicht durch große Abhand¬ lungen begründet wurden. Ich denke etwa an Hermann Stöhr, der 1939 aus Gewissensgründen den Kriegsdienst verweigerte und dafür hingerichtet wurde, oder an den römisch-katho¬ lischen Priester Bernhard Lichtenberg, der nach der Pogrom¬ nacht von 1938 öffentlich für die Verfolgten betete und dafür mit dem Leben bezahlte. Insbesondere lag mir daran, die Rolle der Frauen im Wider¬ stand hervorzuheben! Es gibt nur wenige schriftliche Zeugnisse von ihnen* Oft werden Frauen als Unterstützerinnen bekannt, als die Mütter der Kinder der «Männer im Widerstand», als Briefempfängerinnen oder trauernde Witwen. Aber was sie taten, war ebenfalls Widerstand, auch wenn er durch Textbelege schwer zu greifen ist. In diesem Lesebuch sind fast 40 Prozent der Genannten Frauen, das freut mich besonders! Elisabeth von Thadden steht exemplarisch für sie (siehe S. 357-366), und ich danke Rudolf von Thadden dafür, dass er aus alter Kirchentags¬ verbundenheit einen authentischen Bericht über ihre letzten Tage für dieses Buch zur Verfügung gestellt hat, der so im Zu¬ sammenhang noch nicht veröffentlicht wurde. *
Vgl. z.B. Wolfgang See/Rudolf Weckerling, Frauen im Kirchen¬ kampf, Berlin 1984.
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Einleitung
Zudem war mir wichtig, dass zumindest drei Zeugnisse von Widerstand in anderen europäischen Ländern aufgenommen werden konnten. Dass die ökumenische Bewegung in der Zeit der Diktatur wurzelt, wurde mir im Zusammenhang des Öku¬ menischen Rates der Kirchen immer wieder bewusst. Es war der Niederländer Willem A. Visser ’t Hooft, designierter Ge¬ neralsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, der mit Dietrich Bonhoeffer über ein notwendiges Schuldbekenntnis der Deutschen Evangelischen Kirche sprach, das die Voraus¬ setzung dafür wäre, sie wieder in die ökumenische Gemein¬ schaft aufzunehmen. Es war der britische Bischof George Bell, der sich im Parlament in Londons Oberhaus gegen die Bom¬ bardierung deutscher Städte aussprach, weil er an die Zukunft Europas dachte. Es war die Französin Madeleine Barot, die an den Vorüberlegungen für die Thesen von Pomeyrol 1941 (siehe S. 259-264) beteiligt war, in denen der Widerstand der Refor¬ mierten Kirche Frankreichs gegen den Nationalsozialismus unterstrichen wird. Später war sie an leitender Stelle im Öku¬ menischen Rat der Kirchen in Genf tätig, und ich durfte sie noch persönlich kennenlernen. Eine imponierende Frau ... Was aber bringt einzelne Christinnen und Christen konfessionsübergreifend dazu, Widerstand zu leisten, widerständig zu sein, wenn sie die Menschenwürde anderer verletzt sehen, wenn Krieg und Vernichtung für sie im Widerspruch stehen zur biblischen Botschaft? Woher nehmen sie die tiefe Grund¬ überzeugung, jetzt und hier aufstehen zu müssen mit einer Haltung, wie Luther sie einst in Worms vor dem Reichstag zeigte? Hier Entschlossenheit, dort Anpassung - wie kann Glaube sich so unterschiedlich auswirken? Widerstand gegen die staatliche Ordnung ist im Judentum und im Christentum von Anfang an ein kontrovers diskutiertes Thema. Die alttestamentlichen Propheten begehrten immer wieder gegen die staatliche Ordnung auf, heftig wetterten etwa Arnos und Jeremia gegen Rechtsbruch und Machtmissbrauch,
Einleitung
auch gegen Gottesdienste, die beides nicht in Frage stellten. Jesus wurde von manchen seiner Anhänger als eine Art Revolutionär gesehen, der die staatliche Ordnung der römischen Besatzungs¬ macht aus Glaubensüberzeugung in Frage stellte. Doch diese politischen Erwartungen wurden enttäuscht. Von Jesus ist über¬ liefert, dass er mit dem Satz «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist» (Markus 12,17) deutlich zwischen weltlicher und göttlicher Obrigkeit differenzierte. Die Über¬ lieferung der Bergpredigt von der Feindesliebe: «Liebt eure Feinde und bittet tür die, die euch verfolgen» (Matthäus 5,44) führte manches Mal zu einer Märtyrerhaltung, die Unrecht er¬ duldet, ihm aber keinesfalls aktiv widersteht. Der Apostel Paulus verfestigte das: «Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem» (Römer 12,21) - daraus lässt sich eine Haltung des gewaltfreien Widerstandes ableiten. Kir¬ chengeschichtlich fatal aber sollte sich jene andere, oben bereits genannte Grundlegung des Apostels auswirken. Im Römerbrief heißt es: «Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; w?o aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt der Anordnung Gottes; die ihr aber widerstreben, ziehen sich selbst das Urteil zu. ... Denn sie (die Obrigkeit) ist Gottes Dienerin, dir zugut. ... Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen.» (Römer 13,1-5) Der lutherische Zweig der Reformation hat durch die ZweiReiche- beziehungsweise Zwei-Regimenter-Lehre eine Tren¬ nung von weltlicher und kirchlicher Obrigkeit postuliert und auf oft fatale Weise jede Kritik an der jeweils herrschenden staat¬ lichen Obrigkeit unterbunden. So wurde die Weimarer Repub¬ lik kritisch gesehen, der Abschied vom König bzw. Kaiser als weltlichem Herrn der Kirche als Verlust empfunden. In jedem Fall erschien eine Kritik der weltlichen Obrigkeit mit Blick auf die Aufgabe der Kirche als unangemessen. Die Reformierten rückten das Konzept der Königsherrschaft Christi in den Vor¬ dergrund. Politisch verantwortliches Handeln sollte sich danach
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Einleitung
an den Vorgaben Gottes orientieren. Für viele Reformierte hatte das eine Abgrenzung von den Deutschen Christen zur Folge, die den Weg frei machte zur Barmer Bekenntnissynode. Die Freikirchen - Mennoniten, Baptisten, Methodisten und Brüdergemeinen - sahen sich während der Zeit des National¬ sozialismus in einem Dilemma, dem sie größtenteils durch ver¬ meintliche Neutralität zu entkommen versuchten. Angst vor dem Verbot der eigenen institutionellen Existenz und Beden¬ ken gegenüber einer übermächtigen Reichskirche schwächten den Widerstandsgeist, gerade in radikal pazifistischen Freikir¬ chen wie den Quäkern. Das Spektrum reicht bis zu den Zeu¬ gen Jehovas, die in Konzentrationslagern ermordet wurden, auch weil sie den Kriegsdienst verweigerten. Es war eine schwierige Entscheidung, ihr Zeugnis hier nicht aufzunehmen. Aufgrund der Seitenbeschränkung, die ein Lesebuch erfordert, haben wir uns am Ende entschieden, die Auswahl «christlich» einzugrenzen auf das heutige Mitwirken in der Arbeitsge¬ meinschaft Christlicher Kirchen. Es muss aber betont werden, dass christlicher Widerstand ein weiteres Spektrum umfasste. Römische Katholikinnen und Katholiken hatten es beson¬ ders schwer mit dem Widerstand, weil sie oft den Eindruck haben mussten, nicht nur gegen ihre Regierung oder ihr Land, sondern auch noch gegen ihre Kirche zu agieren, die mit der Nazidiktatur über ein Konkordat verbunden war. Mutige Beispiele im Lesebuch zeigen, wie sich Einzelne in Ämtern in¬ nerhalb der Institution und auch in der Freiheit der Laien über diese Fragen hinweggesetzt und schlicht aus Glaubensüberzeu¬ gung gehandelt haben. Hier findet sich, was die Ökumene «Praktisches Christentum» nennt, auf überzeugende Weise. Wir haben uns nach intensiven Diskussionen entschlossen, den Widerstand chronologisch zu dokumentieren, beginnend mit einem Text noch vor der Machtübernahme der National¬ sozialisten, um zu zeigen, dass wache Geister ahnen konnten, welches Unrecht sich bereits vor 1933 abzeichnete. So wird er¬ kennbar, wie Widerstand sich entwickelte. War es zunächst die
Einleitung
nationalsozialistische Ideologie, die ihn erzeugte, so wurde später der Angriffskrieg zu seinem Schwerpunkt und mit dem Bekanntwerden der Konzentrationslager für einige wenige auch die Verfolgung von Juden, Homosexuellen, Behinderten, Sinti und Roma, Kommunisten. Entstanden ist eine Mischung aus bekannten Texten von Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen, die meist ge¬ kürzt wurden, und Zeugnissen von weniger bekannten Perso¬ nen, vor allem Frauen, die zum Teil nur vermittelt durch Texte anderer greifbar werden. Zum Abschluss sind zwei Texte aus der Zeit nach dem 8. Mai 1945 zu finden. Ob es ein Neubeginn war oder die Schatten der vorangegangenen Jahre nicht allzu lang waren, diese Fragen sind an anderer Stelle zu bedenken * Auf jeden Fall zeigt sich, dass mit dem offiziellen Ende des sogenannten «Dritten Reiches» die Saat an Hass, Rassismus, Antijudaismus sich nicht plötzlich auflöste, sondern eine blei¬ bende Belastung darstellte, die Widerstand erfordert bis in die aktuellen Auseinandersetzungen mit den Morden des sogenann¬ ten Nationalsozialistischen Untergrunds und den ausländer¬ feindlichen Parolen der NPD. Neben der chronologischen Anordnung waren uns die Bio¬ grafien wichtig. Es soll erkennbar werden, welche Menschen es waren, die den Mut hatten, sich der Anpassung zu widersetzen, selbst wenn das sie selbst und ihre Familien in Lebensgefahr brachte. Die amerikanische Wissenschaftlerin Eva Fogelman hat in einer langjährigen Studie nachgewiesen, dass Menschen, die in Freiheit, Respekt und ohne gewaltsame Züchtigung aufge¬ wachsen sind, später wesentlich eher den Mut hatten, beispiels¬ weise Jüdinnen und Juden zu schützen.** Manche Biografie legt *
Vgl. z.B. Heinrich Grosse/Hans Otte/Joachim Pereis (Hg.), Neu¬ beginn nach der NS-Herrschaft? Die hannoversche Landeskirche nach 1945, Hannover 2002.
** Eva Fogelman, «Wir waren keine Helden». Lebensretter im Angesicht des Holocaust. Motive, Geschichten, Hintergründe, Frankfurt a. M.
1995.
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nahe, dass der christliche Glaube hierfür eine Wurzel darstellen kann. Wenn erwähnt wird, in welchen Familienkonstellationen die Protagonisten aufwuchsen, ist das ein Hinweis darauf, wie widerständig christliche Erziehung zur Freiheit machen kann. Das ist angesichts des Versagens der Kirchen als Institution eine ermutigende Erkenntnis. «Erinnere dich!», «Gedenke!» sind immer wieder Mahnun¬ gen der Bibel. So hoffe ich, dieses Buch lädt ein zum Lesen, zum Erinnern und Gedenken, auf dass es Menschen heute stärke, sich zu fragen, wo ihre Widerstandskraft gefordert ist. Ich danke vor allem Anke Silomon für ihre umfassende und so engagierte Recherche, ohne sie wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Mit viel Geschick, großer Kenntnis und intensiver Arbeit hat sie gesichtet, geordnet, die notwendigen Entscheidungen vorbereitet. Da ging es zunächst um die Text¬ auswahl. Uns haben wahrhaftig die Köpfe geraucht angesichts der Materialfülle und des großen, aber eben doch begrenzten Umfangs: Wen hineinnehmen, wen weglassen? Es ist ganz klar, dass dieses Lesebuch nicht vollständig sein kann. Ich denke etwa an Pater Rupert Mayer, der eine wichtige Gestalt des katholischen Widerstandes in Bayern war. Oder: Gerade erst habe ich gelesen: Emil Fuchs, Das Evangelium nach Matthäus* Die Enkel des 1971 gestorbenen Theologen haben dieses Buch herausgegeben, das eindringlich zeigt, wie die Auslegung in Zeiten von Verfolgung und Widerstand glasklar war und in Bedrängnis führte. Mancher wird vielleicht den evangelischen Theologen Eugen Gerstenmaier vermissen, der Mitglied im Kreisauer Kreis war und nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 verhaftet wurde; den katholischen «Apfelpfarrer» Korbinian Aigner, der öffentlich bedauerte, dass Georg Elsers Attentat auf Hitler misslang, und dafür in ein Konzentrationslager kam;
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Emil Fuchs, Das Evangelium nach Matthäus. Eine Auslegung des Evangeliums im Kontext von Verfolgung und Widerstand (1933-35), Flamburg 2012.
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oder die Mitglieder des oppositionellen Freiburger Kreises, die intensiv über ein christliches Widerstandsrecht nachdachten. Das alles zeigt: Dieses Lesebuch ist nicht vollständig. Es kann nur eine subjektive Auswahl von Menschen und ihren Zeug¬ nissen enthalten. Es ist schwerlich möglich, eine allgemein¬ gültige Definition zu finden, wann die Motivation, sich dem NS-Regime zu widersetzen, als «christlich» bezeichnet werden kann. Gleiches gilt für die Charakterisierung als «Widerstand»: Generationen von Historikern haben seit dem Ende des Zwei¬ ten Weltkriegs darüber gestritten, welche Formen und Spiel¬ arten des Widerstands es gibt und welche Handlungen und Haltungen nicht dazuzuzählen sind. Können «Widerstand» und «Widerständigkeit» unterschieden werden? Eine verbind¬ liche Definition oder Einteilung in Kategorien gibt es bis heute nicht. Ähnlich unscharf ist schließlich auch der Name «Hitler» im Titel dieses Buches. Er steht hier zugleich für die national¬ sozialistische Ideologie und das Unrechtsregime des «Dritten Reiches». Eine Engführung auf die Person Adolf Hitler ist damit nicht gemeint. Für das vorliegende Lesebuch zum christ¬ lichen Widerstand stehen diese begrifflichen Fragen auch nicht im Vordergrund. Wichtig ist vielmehr, das Leben und Denken von Menschen vorzustellen, die durch ihren Glauben den Mut gefunden haben, sich zu verschiedenen Zeitpunkten und mit unterschiedlichen Mitteln dem Nationalsozialismus zu verwei¬ gern oder aber Sand ins Getriebe des Systems zu streuen. Das Buch will den christlichen Widerstand nicht nur historisieren, sondern auch dazu anregen und ermutigen, heute nicht weg¬ zuschauen, wo Widerstand gefragt ist — selten unter Einsatz des eigenen Lebens wie zu Zeiten der NS-Diktatur. Anke Silomon imponiert mir mit ihrer umfassenden Kenntnis, und ich hatte große Freude an der Zusammenarbeit. Sie ist mit der deutschen Geschichte zutiefst vertraut, und ich habe beim Lesen und Kommentieren ihrer Texte sehr viel gelernt. Vor allem war ich froh, in aller Freiheit die einleitenden Kapitel,
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die sie zu den Zeitabschnitten und Einzelbiografien geschrie¬ ben hat, als Theologin kommentieren zu dürfen. Mir lag und liegt daran, dass dieses Buch «voraussetzungslos» gelesen wer¬ den kann. So haben wir uns gemeinsam für eine Konzeption entschieden, die flexibel ist: Lesende müssen also nicht alles über die Geschichte des Nationalsozialismus oder des Wider¬ standes wissen, um sich hineinfinden zu können. Und: Es ist möglich zu springen: von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt, von Person zu Person, von Text zu Text. Diese Flexibilität macht ein «Lesebuch» aus, denke ich, und ermutigt hoffentlich viele, dieses Buch in die Hand zu nehmen. Anke Silomon und ich haben im Laufe der vielen Monate einen wunderbaren Mailwechsel entwickelt, mit dem wir uns gemeinsam den Menschen in der Zeit des Widerstandes noch einmal neu genähert haben. Eine wichtige Erfahrung war der gemeinsame Besuch einer Ausstellung zum Widerstandskreis der Roten Kapelle in Berlin. Wir haben gesehen, wie schwer es ist, bei biografischen Einleitungen die rechte Balance zu finden zwischen «wichtig zu wissen» und «kann in den Hintergrund treten». Das hat bei mancher Einleitung, die Anke Silomon entworfen hat, Kriterien für Entscheidungen eröffnet, denn am Ende ist die Begrenzung das Schwierige. Ebenso danke ich Ulrich Nolte und Uwe Birnstein für die spannenden Debatten mit Anke Silomon und mir vor allem hinsichtlich der Auswahl der Texte. Ein solches Lesebuch ist das Ergebnis eines Prozesses, und dieser war für mich sehr bereichernd. Am Ende ist, davon bin ich überzeugt, in der Tat ein Lese¬ buch entstanden, das uns Menschen vor Augen führt, die aus ihrem Glauben heraus auf sehr unterschiedliche Weise Wider¬ stand gegen Menschenverachtung, Kriegstreiberei und Zer¬ störung leisteten. Männer und Frauen, Junge und Alte, offi¬ zielle Kirchenvertreter und schlichte Christenmenschen. Für mich war und ist die Lektüre eine Ermutigung, als Christin in meiner Zeit zu fragen, wo Widerspruch angezeigt ist und
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wann wir dieses Erbe anzutreten haben. Es ist ein Zeichen dafür, dass dogmatisch-konfessionelle Grenzen zurücktreten, wo grundsätzliche Glaubensfragen berührt sind, und so auch eine ökumenische Ermutigung. Die hier vorliegenden Zeug¬ nisse sind ein Zeichen für die Liebe von Menschen zuein¬ ander, von Vertrauen, das bedingungslos gewährt wird, von Überzeugungen, die gelebt werden, koste es auch das eigene Leben. Mich hat manche Lektüre tief berührt. Nein, roman¬ tisiert werden soll der Widerstand nicht. Aber seine Zeugnisse können ermahnen, heute widerständig zu sein. So wünsche ich dem Buch viele Leserinnen und Leser, die sich durch die Wahrnehmung der Zeuginnen und Zeugen des Glaubens in der Vergangenheit bestärkt fühlen, ihre christliche Verantwortung in der Gegenwart wahrzunehmen. Berlin, im November 2012
Margot Käßmann
Die Rechtschreibung in den Dokumenten folgt in der Regel den Origi¬ nalen oder den einschlägigen Publikationen der Dokumente. Offensicht¬ liche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Hervorhebungen in den Originalen sind einheitlich kursiv gesetzt. Auslassungen und Erläuterun¬ gen der Herausgeberinnen oder Editoren stehen in eckigen Klammern.
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Im 19.Jahrhundert war die Überzeugung vom kontinuierlichen sittlichen und kulturellen Fortschritt der Menschen weit ver¬ breitet. Konfessionell gab es dabei deutliche Unterschiede. Während die römisch-katholische Kirche die fortschreitende Modernisierung beklagte und ein langes Rückzugsgefecht um ihren Einfluss auf Ehen, Gewerkschaften, Schulen und generell die Erziehung führte, teilten einige evangelische Theologen vor allem in Preußen den Fortschrittsoptimismus und verließen sich dabei darauf, dass der evangelische König durch das landesherrliche Kirchenregiment als weltliches Oberhaupt für die Belange der Evangelischen Kirche Sorge tragen würde. Doch diese Sicherheit geriet im Ersten Welt¬ krieg ins Wanken und ging mit der Novemberrevolution von 1918, die die Weimarer Republik an die Stelle der Monarchie setzte, verloren. Die politischen Strömungen, die die Novemberrevolution und die Weimarer Republik trugen, Demokratie und Sozialis¬ mus, wurden von den meisten Katholiken und Protestanten zunächst als kirchenfeindlich wahrgenommen. Allerdings nah¬ men Demokraten und Sozialisten, verbunden mit dem politi¬ schen Katholizismus, also die Weimarer Koalition aus SPD, DDP und Zentrum, in die Weimarer Reichsverfassung vom August 1919 Religions- und Kirchenartikel auf, die die be¬ fürchtete Kirchenfeindlichkeit keineswegs bestätigten, sondern vielmehr den Kirchen als «Körperschaften des öffentlichen Rechts» gesellschaftliche und politische Einflussmöglichkeiten sicherten, die bis heute Bestandteil des Grundgesetzes sind.
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Dies führte in Teilen der Evangelischen Kirche zu einem Um¬ denken. Viele evangelische Christinnen und Christen sahen nun in der Nation die neue Obrigkeit, unter der sie als «Volks¬ kirche» für alle religiösen und auch sozialen Bedürfnisse der Gläubigen präsent sein wollten. Trotz dieses hoffnungsvollen Beginns wurde der Protestan¬ tismus in der kurzen Geschichte der Weimarer Republik im¬ mer mehr zum Träger eines konservativen und demokratie¬ feindlichen Nationalismus. Vor dieser Entwicklung warnte der Schweizer Theologe Karl Barth bereits 1919 in seiner «Tambacher Rede». In seinem Kommentar zum Römerbrief kritisierte er alle Versuche, ein mit dem Zeitgeist verknüpftes gesellschaftliches oder politisches Anliegen mit einem ewigen Anliegen zu verbinden, und stellte das Selbstverständnis des Kulturprotestantismus als «Erziehungsanstalt» der bürgerlichen Gesellschaft in Frage. Demgegenüber betonte er die Verantwor¬ tung der Kirche für Gottes Wort und die Welt gleichermaßen. In Frage gestellt war damit aber vor allem auch die Verbin¬ dung von Nation und Kirche, wie sie die Nationalisten propa¬ gierten und die sogenannten Deutschen Christen wenige Jahre später verwirklichen wollten. Bereits 1928 entstand in Thürin¬ gen die «Kirchenbewegung Deutsche Christen», deren Mit¬ glieder die Basis einer zukünftigen Reichskirche bilden woll¬ ten. Im Februar 1932 konstituierte sich die «Glaubensbewegung Deutsche Christen» (GDC), später auch «Reichsbewegung Deutsche Christen» (RDC) genannt. Der streng nach dem Führerprinzip aufgebauten Bewegung gehörten evangelisch getaufte Nationalsozialisten an. Sie bekannten sich diffus zu einem «positiven Christentum», wie es in Artikel 24 des Partei¬ programms der NSDAP propagiert wurde, und forderten die Loslösung des Christentums von seinen jüdischen Wurzeln. Die Richtlinien der Deutschen Christen stimmten teilweise mit den im NSDAP-Parteiprogramm formulierten nationalis¬ tischen und antisemitischen Grundsätzen und Zielen überein. Bei den Kirchenwahlen der Altpreußischen Union, der größten
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deutschen Landeskirche, konnten die Deutschen Christen im November 1932 nahezu ein Drittel der Stimmen für sich ge¬ winnen. Die NSDAP unterstützte einerseits diese Entwicklung, in¬ dem sie völkisches Gedankengut und ein «positives Christen¬ tum» propagierte, das konfessionell nicht festgelegt sein sollte, denn die Vorherrschaft der «arischen Rasse», die «antibolsche¬ wistische Eroberung von Lebensraum im Osten» sowie die «Vernichtung des Judentums» standen im Mittelpunkt ihrer Ideologie. Andererseits vermieden es die Nationalsozialisten, evangelischen und katholischen Christen sofort den Kampf an¬ zusagen, und bemühten sich nach der Machtübernahme rasch um ein Konkordat mit dem Vatikan. Da die römisch-katholische Kirche neben ihrer Orientie¬ rung am Vatikan in Rom auch in die weltkirchlichen Struk¬ turen eingebunden war, mussten die Nationalsozialisten ihr gegenüber anders Vorgehen als gegenüber der Evangelischen Kirche, deren einzelne Landeskirchen durch die Zusammen¬ fassung in einer Reichskirche «gleichgeschaltet» werden soll¬ ten. Am 20. Juli 1933 kam es zur Unterzeichnung des Reichs¬ konkordats zwischen Vatikan und Deutschem Reich. Darin wurde der römisch-katholischen Kirche die Bewahrung der Rechte garantiert, die sie in der Weimarer Republik gehabt hatte. Das bedeutete die Zusicherung der freien Glaubensaus¬ übung, den Erhalt der Bekenntnisschulen und der katholischen Verbände sowie die institutionelle Selbstverwaltung. Es war kein Zufall, dass es nur zwei Wochen vor dem Abschluss des Konkordats zur Auflösung der beiden im Reichstag vertre¬ tenen katholischen Parteien kam, des Zentrums und der Baye¬ rischen Volkspartei. Denn die Vereinbarung zwischen Staat und römisch-katholischer Kirche enthielt auch zwei Paragra¬ phen, mit denen faktisch die Entpolitisierung aller Katholiken festgeschrieben wurde. In Artikel 31 hieß es, dass «katholische Organisationen und Verbände, die ausschließlich religiösen, rein kulturellen und karitativen Zwecken dienen und als solche
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der kirchlichen Behörde unterstellt sind, [...] in ihren Einrich¬ tungen und in ihrer Tätigkeit geschützt» würden. In der Folge¬ zeit sollte darüber verhandelt werden, welche «katholischen Organisationen und Verbände» durch Artikel 31 ihre Arbeit ungehindert fortführen konnten. Denn mit Artikel 32 wurde allen Geistlichen und Ordensleuten verboten, in politischen Parteien mitzuarbeiten.
Hermann Sasse
Vom Recht, das germanische Moralgefühl zu be¬
leidigen. Eine Kritik am Parteiprogramm der NSDAP. 1932 Im Jahr 1932 nahm der lutherische Theologe Hermann Sasse das kirchenpolltische Programm der NSDAP kritisch in den Blick und warnte weitsichtig vor der «Verwechslung und Ver¬ mischung von Christentum und Parteiprogramm, von Kirche und Staat». Sasse, 1895 als ältestes von fünf Kindern eines Apothekers in Sonnenwald in der Niederlausitz geboren, wurde während seines Theologiestudiums in Berlin vor allem von dem Systematiker der «Religionsgeschichtlichen Schule» Ernst Troeltsch geprägt. Troeltsch vertrat einen liberalen Kul¬ turprotestantismus, der die vom Christentum geprägte Kultur Europas mit der Moderne verbinden wollte. Bevor Sasse sein Studium beenden konnte, begann der Erste Weltkrieg. Er wurde zum Heer eingezogen. Die Erfahrungen in den Schüt¬ zengräben der Westfront fügten auch seinem Weltbild Risse zu. Von einer subjektiven, der Kultur offen gegenüberstehen¬ den Theologie wandte er sich nun ab, um nach dem «objek¬ tiven Wort Gottes» zu fragen. Antworten fand er in Karl Barths «Dialektischer Theologie», die auch «Wort-GottesTheologie» genannt wird. Im Jahr 1918, gleich nach dem Ende des Krieges, legte Sasse sein Examen ab. Als Pfarrer in Oranienburg und Templin vertiefte er seine theologischen Studien und wurde im Fach Neues Testament zum Doktor der Theologie promoviert.
Hermann Sasse
Hermann Sasse (1895-1976)
Zwischen 1925 und 1926 verbrachte Hermann Sasse ein Jahr als Austauschschüler am Hartford Theological Seminary in den USA. Aktiv in der ökumenischen Bewegung, nahm er beispielsweise im August 1927 an der internationalen ökume¬ nischen Konferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Lausanne und 1932 an der internationalen Abrüstungskonfe¬ renz in Genf teil und sorgte für die Publikation von Berichten darüber in Deutschland. 1928 heiratete Hermann Sasse Charlotte Margarete Nau¬ mann, mit der er drei Kinder hatte. Während der Weltwirt¬ schaftskrise arbeitete er als Sozialpfarrer und war vor allem für Fabrikarbeiter in Berlin zuständig. Sasse schloss sich schon Anfang der 1930er Jahre der kirch-
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liehen Widerstandsbewegung gegen die Versuche der Natio¬ nalsozialisten an, mit Hilfe der 1932 gegründeten Kirchen¬ partei Deutsche Christen die evangelischen Landeskirchen vollständig zu übernehmen und zur nationalsozialistischen Reichskirche umzubilden. Im Kirchlichen Jahrbuch kritisierte er 1932 das NSDAP-Parteiprogramm aufs Schärfste und warnte vor einer «Vermischung von Staat und Kirche». Er wies darauf hin, dass die NSDAP durch die Ablehnung der Staatsverträge «die Herrschaft des Staates über die Kirche offen proklamiere», und erläuterte die Bedeutung des Artikels 24 im Parteipro¬ gramm: Wohin diese Verwechslung und Vermischung von Christen¬ tum und Parteiprogramm, von Kirche und Staat führt, das zeigt nun mit voller Deutlichkeit das kirchenpohtische Pro¬ gramm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei: Bei keinem Punkte des Parteiprogramms muß man das «Unab¬ änderlich» des § 2 der Parteisatzung mehr bedauern als bei dem berühmten Artikel 24 [«Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Be¬ stand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moral¬ gefühl der germanischen Rasse verstoßen. Die Partei als sol¬ che vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden. Sie bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns und ist überzeugt, daß eine dauerhafte Ge¬ nesung unseres Volkes nur erfolgen kann von innen heraus auf der Grundlage: Gemeinnutz vor Eigennutz»]: Die NSDAP, hat das große Glück gehabt, daß an ihrer Gründung kein Theologe beteiligt war. Das war ein Glück, denn Parteien, bei denen die Theologie Pate gestanden hat, haben es, das Zentrum natürlich ausgenommen, nie zu etwas gebracht, wie die Namen [Adolf] Stoecker und [Friedrich] Naumann, um von neueren Gründungen zu schweigen, be¬ weisen. Wobei es sehr bemerkenswert ist, daß die Synthese
Hermann Sasse
des nationalen und des sozialen Gedankens gerade von solchen Parteien zum Programm erhoben worden ist. Aber dieses große Glück erwies sich im Falle des Artikels 24 als ein Unglück. Denn dieser Artikel macht jede Diskussion mit einer Kirche unmöglich. Man kann dem Nationalsozialismus alle seine theologischen Sünden verzeihen, dieser Artikel 24 schließt jedes Gespräch mit der Kirche, der evangelischen wie der katholischen, aus. [Alfred] Rosenbergs «Mythus des 20. Jahrhunderts» mit all seinen Blasphemien und mit seinen weit- und religionsgeschichtlichen Stilblüten, die ganze Theologie des Hakenkreuzes und der messianische Führer¬ kult sind verzeihliche Harmlosigkeiten gegenüber diesem Artikel. Die evangelische Theologie kann sich über alle Punkte des Parteiprogramms mit den Nationalsozialisten unterhalten, sogar über die Judenfrage und die Rassenlehre, sie kann vielleicht das ganze übrige Programm anerkennen, aber über diesen Artikel ist nicht einmal ein Gespräch mög¬ lich. Sie kann sich auch nicht auf irgendwelche Kommen¬ tare, seien es amtliche von Hitler oder [Gottfried] Feder, oder nichtamtliche von der Bewegung angehörenden Theo¬ logen, einlassen. Sie müßte als Bedingung einer Aussprache die vorbehaltlose Zurücknahme dieses Artikels fordern. Denn die evangelische Kirche müßte ein Gespräch darüber mit dem offenen Geständnis beginnen, daß ihre Lehre eine vorsätzliche und permanente Beleidigung des «Sittlichkeits¬ und Moralgefühls der germanischen Rasse» ist und daß sie demgemäß keinen Anspruch auf Duldung im Dritten Reich hat. Da die Führung der Partei hauptsächlich in katholischen Händen liegt und da die evangelischen Parteimitglieder, auch soweit sie die normale theologische Bildung genossen haben, im allgemeinen darüber keine klaren Vorstellungen besitzen, sei es hier gesagt, daß die evangelische Lehre von der Erbsünde — im Unterschied von der katholischen - die Möglichkeit nicht olfenläßt, daß die germanische oder nordische oder auch irgendeine andere Rasse von Natur
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imstande ist, Gott zu fürchten und zu lieben und seinen Willen zu tun, daß vielmehr das neugeborene Kind edels¬ ter germanischer Abstammung mit den besten Rasse¬ eigenschaften geistiger und leiblicher Art der ewigen Ver¬ dammnis ebenso verfallen ist wie der erblich schwer be¬ lastete Mischling aus zwei dekadenten Rassen. Wir haben ferner zu bekennen, daß die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders solagratia, sola fide [allein aus Gnade, allein durch Glauben] das Ende der germanischen Moral ist wie das Ende aller menschlichen Moral; und wir erlauben uns die Behaup¬ tung, die wieder eine schwere Beleidigung der nordischen Rasse darstellt, daß die Juden Jesus Christus um dieser alle Moral umstürzenden Lehre willen zugleich im Namen des deutschen Volkes und der nordischen Rasse ans Kreuz ge¬ schlagen haben. Wir sind der Meinung, daß nicht nur der jüdisch-materialistische, sondern ebenso der deutsch-idealis¬ tische Geist in und außer uns bekämpft werden muß, wie es unser Bekenntnis tut, wenn es die große deutsche Mystik als Irrlehre aus der Kirche ausschließt. Wir sind ferner der Mei¬ nung, daß eine dauernde Genesung des deutschen Volkes auf der Grundlage keines ethischen Satzes erfolgen kann, auch nicht auf Grund des von uns anerkannten Satzes: «Gemeinnutz geht vor Eigennutz». Schließlich bestreiten wir, daß eine Partei den Standpunkt des Christentums ver¬ treten kann, ferner, daß es ein positives Christentum gibt, das man vertreten kann, «ohne sich konfessionell an ein be¬ stimmtes Bekenntnis zu binden». Wir erklären des weiteren, daß wir an dem, was hier «Christentum» genannt wird, kein großes Interesse haben, daß uns aber alles an dem im Wort und Sakrament gegenwärtigen Christus, dem Herrn, an sei¬ nem Evangelium und seiner Kirche liegt. Wir wollen nicht wissen, ob die Partei für das Christentum eintritt, sondern wir möchten erfahren, ob auch im Dritten Reich die Kirche das Evangelium frei und ungehindert verkünden darf oder nicht, ob wir also unsere Beleidigungen des germanischen
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oder germanistischen Moralgefühls ungehindert fortsetzen dürfen, wie wir es mit Gottes Hilfe zu tun beabsichtigen, oder ob uns dort Einschränkungen auferlegt werden — z. B. daß wir es nicht mehr in der Schule tun dürfen
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das Recht hat, uns diese Einschränkungen aufzuerlegen. So ist der Artikel 24 des Parteiprogramms überhaupt keine Grundlage tiir eine Debatte zwischen der evangeli¬ schen Kirche und der NSDAP. Bereits 1933 wurde Hermann Sasse außerordentlicher Professor an der Universität Erlangen, verbaute sich jedoch durch seine Kritik an der NSDAP und ihrer Politik eine weitere univer¬ sitäre Karriere. Angepasste Kollegen wie Werner Eiert, der seit 1923 den Lehrstuhl tür Kirchengeschichte innehatte, und Paul Althaus, der 1925 den Ruf auf den Lehrstuhl für Systematische und Neutestamentliche Theologie in Erlangen erhalten und die Machtübernahme Hitlers als «Geschenk und Wunder Got¬ tes» begrüßt hatte, erschwerten Sasse seine Tätigkeit an der Universität. Sowohl Eiert als auch Althaus sprachen sich für die Anwendung des sogenannten Arierparagraphen vom April 1933 auch in der Kirche aus, der Christen jüdischer Herkunft den Weg in kirchliche Ämter versperren sollte. Gemeinsam mit Gerhard Jacobi, seit 1930 Pfarrer an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin-Charlottenburg und seit 1932 Mitarbeiter der kirchenreformerischen Zeitschrift Neuwerk, gründete Sasse die Theologische Arbeitsgemeinschaft für Kirche und Amt, den aus jüngeren Berliner und Branden¬ burger Pfarrern bestehenden Jacobi-Kreis. Aus diesem ging 1933 die Jungreformatorische Bewegung hervor; der engere Kreis um Jacobi in Berlin wurde zur wichtigsten Stütze des kirchlichen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Die evangelischen Geistlichen, die den Arierparagraphen ablehnten, unter ihnen Sasse, bildeten im September 1933 den Pfarrernotbund. Zusammen mit Dietrich BonhoefFer erarbei¬ tete Hermann Sasse im August 1933 das «Betheler Bekenntnis»,
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in dem die Lehre der Kirche politisch und theologisch klar von den Deutschen Christen abgegrenzt wurde. Doch das Bekennt¬ nis fand wegen seiner stark lutherischen Prägung keinen Kon¬ sens unter den evangelischen Gegnerinnen und Gegnern des Nationalsozialismus, so dass es nicht als gesamtevangelisches Dokument gegen die Deutschen Christen verwendet werden konnte. Sasse arbeitete auch mit an der Barmer Theologischen Erklärung, die 1934 von der ersten Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) in Barmen beschlos¬ sen wurde und eine klare Abgrenzung von den Deutschen Christen darstellte. Doch konnte Sasse wegen einer Erkran¬ kung nicht an der entscheidenden Beratung über den Text teil¬ nehmen. Dieser fand am Ende auch nicht seine ungeteilte Zu¬ stimmung, denn Sasse befürchtete, dass die Barmer Schrift die politischen Fragen über die Glaubensfragen stellte und so die Einheit der Kirche gefährdete. Darüber zerstritt er sich mit Bonhoeffer, der Sasse seinerseits «Bekenntnisformalismus» vor¬ warf. So war Sasse seit 1934 lediglich innerhalb der Bayerischen Landeskirche mit kritischen Einsprüchen gegen die national¬ sozialistische Kirchen- und Religionspolitik aktiv. Auch nach Kriegsende blieb Sasse in Deutschland ein Außen¬ seiter. Er wurde von der US-amerikanischen Besatzungsmacht zum Prorektor der Universität Erlangen ernannt und übernahm im Herbst 1945 gegen den Widerstand der Theologischen Fa¬ kultät den theologischen Lehrstuhl des nazifreundlichen Mit¬ glieds der Deutschen Christen Hans Preuß. Aus Protest gegen die Gründung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und vor allem den Beitritt der Bayerischen Landeskirche zur EKD wechselte er zur Altlutherischen Kirche über. 1949 folgte er einem Ruf der Lutherischen Kirche in Australien. Hermann Sasse starb am 9. August 1976 im australischen Adelaide.
Jochen Klepper
Jochen Klepper
Die persönliche Last politischer Komplikationen.
Tagebucheintrag. Juni 1932 Die Gründung der Deutschen Christen 1932 und die Bedro¬ hung durch den Nationalsozialismus alarmierten auch den 1903 in einem Pfarrhaus in Beuthen an der Oder geborenen Journalisten und Schriftsteller Jochen Klepper, der im Lieder¬ kanon der deutschsprachigen evangelischen Christenheit nach Paul Gerhardt und zusammen mit Martin Luther der am zweit¬ häufigsten vertretene geistliche Liederdichter ist. Klepper war Mitglied der SPD, schrieb nach seinem Studium der Evange¬ lischen Theologie in Erlangen und Breslau für linke Zeitungen und arbeitete ab 1927 zunächst als Journalist in Breslau beim
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Evangelischen Presseverband für Schlesien. Dessen Leiter, der evangelische Theologe und Essayist Kurt Ihlenfeld, gründete später den Eckart-Kreis, in dem die Begegnung von Theologie, Literatur, Glaube und Dichtung gefördert wurde. 1931, im Alter von 28 Jahren, heiratete Jochen Klepper die Rechtsanwalts¬ witwe Johanna (Elanni) Stein. Die dreizehn Jahre ältere Jüdin brachte zwei Töchter mit in die Ehe, Brigitte und Renate. Der bereits länger andauernde Konflikt Kleppers mit seinem deutschnationalen und als Pfarrer sehr angesehenen Vater wurde durch die Heirat weiter verschärft. Jochen Klepper war ein kompetenter und anspruchsvoller Presseredakteur. Er fand eine Stellung als Dramaturg beim Berliner Rundfunk und siedelte mit seiner Familie im Herbst 1932 nach Berlin über. Mit dem Einzug in eine Wohnung im Berliner Villenvorort Südende begann Klepper Tagebuch zu schreiben. Einer der ersten Einträge lautet: Vor einem Jahr wollten wir uns ein Haus in Südfrankreich kaufen und nur noch still uns und meiner Arbeit leben. Sollte denn mein guter Anfang in Berlin, die Probezeit, auf der wir unsere entscheidenden Entschlüsse eben für Berlin aufbauten, eine Irreführung bedeutet haben? War denn nicht schon damals alles maßlos schwer gewesen?! Noch nie hatten so wie jetzt politische Komplikationen für mich persönlich eine derartige Rolle gespielt wie jetzt. Ich habe mich Vorjahren der SPD angegliedert und in allem Protest bewußt zur Evan¬ gelischen Kirche gehalten. Die Bindung an die SPD konnte jetzt mein Verderben werden; auf linker Seite konnte man mich nicht erhalten und schickte mich selbst weiter bei den rechtsstehenden Redaktionen mit meinen Manuskripten hausieren ... Von der Zugehörigkeit zur Kirche aber, die ge¬ meinsam mit dem Nationalsozialismus «aufstrebt», wollte ich jetzt bestimmt keinen Gebrauch machen, f...] Nun bin ich ein Jahr in Berlin und wage kein Urteil über diese Zeit zu sprechen. —
Jochen Klepper
Die politischen Ereignisse, die auch die private berufliche Situation beeinflußten, überstürzten sich: erneute Reichs¬ tagsauflösung, «Errichtung» einer christlich-nationalen Kul¬ tur, Diktatur von Papen-Schleicher. Obwohl politische Indif¬ ferenz ein Ding der Unmöglichkeit geworden ist, kann für mich Politik immer nur Sache einer Als-ob-Ethik bleiben, der Versuch einer ungefähren Einordnung. —
Jochen Klepper
Zuckungen eines sterbenden Jahrtausends! Aus
dem Tagebuch. Frühjahr 1933 Die Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30.Januar 1933 brachte fast unmittelbar die Gleichschaltung auch des Rundfunks mit sich. Jochen Klepper, der bis zum Oktober 1932 noch SPD-Mitglied gewesen war, vermutete richtig, dass «fast alle» Mitarbeiter mit ihrer Entlassung rechnen mussten. Ungefähr zur gleichen Zeit, im Februar 1933, erfuhr er, dass sein erster Roman, Der Kalm der fröhlichen Leute, über das Leben der Menschen an und auf der Oder noch im selben Jahr bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart erscheinen konnte. Doch die große Freude über diesen Erfolg wurde stark getrübt von der politischen Lage, die sich für Klepper, seine jüdische Frau und die beiden Töchter immer mehr zuspitzte. Sie ent¬ schieden, dass Johanna und ihre Töchter zum Protestantismus übertreten sollten. Die Deutsche Verlags-Anstalt bot ihrer «Neuentdeckung» Klepper eine monatliche «Rente» zunächst für ein Jahr an, falls er den Rundfunk verlassen müsse oder wolle. Klepper lehnte jedoch ab, weil noch «kein neuer Roman in mir so spruchreif» ist. 27. März 1933 | Montag Das stille Pogrom hat heut in der Legalisierung des Boykotts gegen jüdische Geschäfte, Richter, Anwälte, Arzte, Künstler einen Flöhepunkt erreicht. Was damit in jungen Juden an
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Haß gesät wird, muß furchtbar werden. Anbruch einer neuen Zeit? Zuckungen eines sterbenden Jahrtausends! Und oft be¬ rührt es mich stark, daß mein Leben in das sterbende Jahr¬ tausend hineinwächst, mit ihm hingeht. Ja, es scheint mir ein Kernstück meiner Gedanken, meiner ganzen Geistes¬ und Seelenwelt zu sein, daß ich meine Zeit in diesem Sinne betrachten muß. — Das Jüdische hat in meinem Leben zu weiten und tiefen Raum, als daß ich jetzt nicht in all dem Guten, das immer noch über meinem eigenen Leben reichlich bleibt, sehr lei¬ den müßte. Denn mir ist, als gäbe die Heilsgeschichte der Juden der Weltgeschichte den Sinn. — 29. März 1933 | Mittwoch Ein Jahr Südende. Wie weit ist uns der Aufbau wieder gelun¬ gen! An weiteren Ausbau ist jedoch kaum zu denken, da mein Avancement im Funk nun wieder ganz in den Hintergrund rückt. Die Einzelheiten dieses täglich sich verändernden He¬ xenkessels lohnt es kaum zu notieren. Ich verkapsele mich in meiner Arbeit und freue mich meines guten Verhältnisses zu [Harald] Braun und zu meinem allmählich sich bildenden Schauspielerstamm, in dem ich «Neuentdeckungen» neben bekannten Namen habe. Zu der ganzen jüdischen Boykottangelegenheit habe ich nur eins zu sagen: Ich traure um die evangelische Kirche. Gott macht uns seine Ferne deutlich. Aber ich kann von der Kirche nicht los, muß immer in ihr noch den Kern der Urgemeinde spüren. Heut nacht habe ich geträumt, ich hätte im Anschluß an einen Gottesdienst in einer Kirche gepredigt, und es war ein unbeschreibliches Gefühl von Glück und Stärke, von Erfül¬ lung. Man darf nicht lügen mit dem Fliehen von Gott. Gewiß, ich fliehe in jedem meiner seltenen, sehr seltenen Gebete,
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sage wieder und wieder: Es war kein Gebet. Gott war es nicht. Ich war es. Es gilt nicht. Aber ich kann es nicht leugnen: ich sehne mich nach Pre¬ digen. Und es gibt nichts, was mich so berührt wie die Pro¬ pheten, - zu denen ich Luther zähle. Ich will nichts sein als ein protestantischer Dichter. Der Wunsch nach dem großen Erfolg ist damit in mir begraben. Was ist furchtbarer? Ein Volk zu sein, das wie die Juden Gottes Hand so schwer spürt? Oder ein Volk, das diese schwere Hand darstellen muß wie wir Deutschen? Immer wieder geht es mir in diesen Tagen durch den Kopt, was jetzt in manchem jungen Juden geboren werden mag an schrecklicher Macht für die Zukunft. Aber auch in mir wird in diesen Tagen etwas geboren, was auf das Zentrum meines Lebens zustößt. g. Mai igjj
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Dienstag
Die Nationalsozialisten haben alle Macht in Händen: über die Parteien, Gewerkschaften, Zeitungen, Sender, Theater, Heer, Polizei, Justiz, Verwaltung, Universität, Schule ... Es ist be¬ ängstigend. Wer will dieser Verantwortung gewachsen sein, die Ansprüche so riesiger Anhängermassen befriedigen? Wie wird deren Enttäuschung sich äußern? Ich reagiere auf alles das mit einer entsetzlichen Abgespanntheit und äußerster Aktivität, also höchst paradox. Und darüber hinaus mit dem Glauben: geführt zu werden. 13. Mai 1933 \ Sonnabend
Der Geistliche, bei dem Hanni sich zur Taufe angemeldet hat, — ein politisch sinnlos gewordenes Beginnen — hat sich erst heut nach vielen Wochen zum ersten Male gemeldet. Mit religiösen Plattheiten. Hanni weiß hundertmal mehr vom Christentum als solche Pastoren. Bibellesen! Hanni will aus politischen Gründen nicht Dissidentin sein. Damit basta. Und daß sie immer wieder etwas von
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Luther wissen will oder von den Bibelstellen, die von «Ver¬ werfung» und «Erwählung» handeln, das hat mit diesem Übertritt gar nichts zu tun. Sie weiß es, und ich weiß es. Nun bin ich in die Situation des Judentums sehr verstrickt. So wie die Dinge hegen, müßte meine Ehe mich meinen Posten verlieren lassen. — 25. Mai 1933 | Donnerstag (Himmelfahrt) Drei Stunden vor Beginn der Sendung lief die Denunziation beim Intendanten ein: Ich sei SPD-Mitglied. Hätte selbst die Äußerung getan: einer der ersten, der gehen müßte, wäre ich. Jüdische Familie. — Die Denunziation so wirksam wie möglich: nämlich über den Reichsverband der national¬ sozialistischen Rundfunkhörer. Neuer Kampf. Und ich bin so abgearbeitet. Hanni ist sehr ruhig. Als Dr. Braun mit mir über meine Funktätigkeit ver¬ handelte, war ich optimistisch. Diesmal sehe ich die Lage sehr ernst. Die seltenen, seltenen Gebete, die Gott einem gibt, weisen den Weg. Ich zweifle Gebete bis zum Äußersten an. Aber habe ich je gebetet, so war es gestern. Und danach kommt es schwer. Mit dem Beruf? Mit der Familie? Gott kann mit einem reden, «wie ein Mann mit einem Freunde redet». Das ganze Gespräch mit Gott war: Gelobt sei der ewige Gott. Wirst du bleiben? JaAuch wenn es schwer kommt? JaFrage und Antwort. Gelübde und Verheißung. Alles gibt Gott. Und ich lebe, um Gott zu erfahren. — Die letzten Korrekturen des Romans. Endlich wieder einmal ausreichender Schlaf. Spaziergang mit Hanni. Mein eigenes jüngstes Gedicht immerzu im Sinn.
Jochen Klepper
Und Hanni muß alles durchmachen ohne die Nähe Got¬ tes. Das aber weiß sie: daß Glaube kein Glücksbrief ist. Und wenn sie etwas glauben könnte, so ist es der Glaube an Be¬ rufung und Verwerfung. Ich habe noch so viel vom Glauben zu erfahren. Und des¬ halb hänge ich so am Leben. Was ich bis jetzt gelebt habe, war mein Leben in Gott. Und wenn ich nun den Teil eines jüdischen Schicksals er¬ lebe, so ist es mein Leben. Ich glaube an alle Leiden von Gott her. Aber ich glaube auch an ein «seliges Schauen». Das ist etwas anderes als «Prüfungen, die man besteht». Und es ist etwas anderes als Glück. Es bleibt dabei: Künstler und Christen dürfen in der Welt nicht sicher werden. Mein Ruhebedürfnis war zu groß.
Am 7.Juni 1933, nach dreißig Wochen beim Rundfunk, teilte der Intendant des Berliner Rundfunks Jochen Klepper mit, dass er «bis zur endgültigen Regelung» seines Falles sofort die Arbeit einstellen und den Funk verlassen müsse. Der Haupt¬ grund war Kleppers jüdische Ehefrau. Obwohl Klepper sich schon länger gewünscht hatte, dem politischen Druck bei sei¬ ner Arbeit zu entgehen, traf ihn der «politische Gewaltakt» der Entlassung schwer. Mitte Juni 1933 stellte ihm sein ehemaliger Chef beim Berliner Rundfunk, Harald Braun, in Aussicht, ihn mit 60 Prozent seines bisherigen Einkommens anonym als dra¬ maturgischen Bearbeiter zu beschäftigen, doch zum 1. Oktober 1933 wurde Braun selbst entlassen. Anfang Juli bot der Ull¬ stein-Verlag Klepper ein monatliches Fixum von 300 Mark für ein Jahr an, doch letztlich erhielt Klepper auf Vermittlung von Braun lediglich einen «kleinen Posten» bei Ullsteins Rund¬ funk-Zeitung Sieben Tage. Auch diese Beschäftigung dauerte nur zwei Jahre — bis zum September 1935. 1934 beantragte Jochen Klepper erfolgreich die Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer. Ohne es weiter publik zu
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machen, arbeitete er an seinem neuen Roman Der Vater über den Konflikt zwischen dem preußischen Soldatenkönig Fried¬ rich Wilhelm I. und dessen Sohn Friedrich dem Großen. Hinter der historischen Erzählung scheinen autobiographische Bezüge auf: Kleppers zwiespältiges Verhältnis zu seinem eigenen, 1934 verstorbenen Vater und die große Nähe zu seiner Mutter. Der
Vater ist zugleich ein christlicher Roman, was deutlich wird an dem Bemühen Friedrich Wilhelms I., seine Herrschaft auf der Grundlage von Frömmigkeit aufzubauen. Der Roman erschien Anfang 1937, wurde ein Bestseller, verschaffte Klepper finan¬ zielle Unabhängigkeit und wurde in Kreisen des Militärs aus¬ gesprochen positiv aufgenommen, obwohl man aus der Geistes¬ haltung Friedrich Wilhelms I.
mühelos das Gegenbild zum
Führerkult herauslesen konnte. Kurz nach der Veröffentlichung, Ende März 1937, wurde Klepper, der sich nicht dazu entschlie¬ ßen konnte, ms Exil zu gehen, aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. Dies bedeutete theoretisch ein Berufsverbot, doch im Juni 1937 erhielt Klepper die Mitteilung, die Aus¬ schlussverfügung sei einstweilen ausgesetzt, so dass er bis zu einer endgültigen Entscheidung weiter publizistisch tätig sein durfte. 1938 wurde Johanna Klepper in der Martin-Luther-Gedächtniskirche getauft und das Ehepaar kirchlich getraut. Die Kleppers hofften, ihre Ehe aus der möglicherweise tödlichen Kategorie der «Mischehe» zu befreien, in die sie seit dem Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze gehörte. Brigitte, der ältesten Stieftochter Kleppers, gelang kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Ausreise über Schweden nach England. Jochen Klepper wurde im Dezember 1940 zum Kriegsdienst eingezogen, ein knappes Jahr später allerdings wegen «Wehrunwürdigkeit» wieder entlassen.
Damit zer¬
schlugen sich seine Hoffnungen, seine Angehörigen als Soldat vor der Deportation zu retten. (Weiter zu Jochen Klepper siehe S. 279—282.)
Wilhelm von Pechmann
Wilhelm von Pechmann
Angstvoll warten diese unsere Kirchenmit¬
glieder auf ein Wort ihrer Kirche. Forderung nach einer kirchlichen Erklärung zur Judenfrage. April 1933 Wilhelm Freiherr von Pechmann wurde 1859 in Memmingen geboren und evangelisch getauft, in der Konfession seiner Mut¬ ter, während sein Vater, Erster Staatsanwalt in Memmingen, einer alten katholischen, im 18.Jahrhundert in den Reichsfrei¬ herrenstand erhobenen Familie entstammte. Nach seinem Jura¬ studium arbeitete Pechmann ab 1886 als juristische Hilfskraft in der Bayerischen Handelsbank in München und heiratete Emma von Feilitzsch. mit der er drei Kinder hatte. 1898 wurde er zum Direktor der Bayerischen Handelsbank ernannt. Um die Jahr¬ hundertwende begann auch Pechmanns kirchliche Karriere, als er 1901 zum Mitglied der Bayerischen Generalsynode berufen wurde. Er wurde mit einem theologischen Ehrendoktortitel der Universität Erlangen ausgezeichnet. Der nationalistisch gesinnte Pechmann war von 1919 bis 1922 der erste gewählte Synodalprä¬ sident der Bayerischen Landeskirche. Er wurde auch Mitglied des Ständigen Ausschusses des Lutherischen Weltkonvents (seit 1947: Lutherischer Weltbund) und des 1903 gebildeten Deut¬ schen Evangelischen Kirchenausschusses, des ständigen Dach¬ verbandes der evangelischen Landeskirchen Deutschlands. Pechmann betrauerte wie die meisten seiner Zeitgenossen die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg, stand der Weimarer Republik misstrauisch gegenüber und war als Lutheraner An¬ hänger der Zwei-Reiche-Lehre. Der bereits über Siebzigjährige erkannte in der Machtübernahme der Nationalsozialisten eine akute Bedrohung der Christen durch einen totalitären Staat. Durch seine Tätigkeit als Bankdirektor stand er in ständigem Kontakt zu jüdischen Kollegen unterschiedlicher politischer Ausrichtung und nahm deren Ausgrenzung und beginnende Verfolgung früh wahr. 1933 bezog Pechmann entschieden Stellung. Auf einer außer¬ ordentlichen Sitzung des Deutschen Evangelischen Kirchenaus-
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Wilhelm Freiherr von Pechmann (1859-1948)
Schusses am 26. April in Berlin sollten die Unabhängigkeit der Kirche im «Dritten Reich» und die Haltung zur sogenannten Judenfrage diskutiert werden. Schon zwei Wochen zuvor, am 12. April, hatte Pechmann ein Schreiben an den Präsidenten des Kirchenausschusses, den Juristen Hermann Paul Kapier, gerich¬ tet und seine Beunruhigung über die zunehmende Entrechtung und Verfolgung von Juden zum Ausdruck gebracht: Ich denke [...] an die in wechselnden Formen immer noch fortgehende Bewegung gegen die Juden. Im weitesten Maße richtet sich diese Bewegung gegen Angehörige unserer eige¬ nen Kirche, [...] und sie hat über ungezählte Familien, die sich mit vollem Recht christlich nennen, namenloses Leid gebracht. Angstvoll warten diese unsere Kirchenmitglieder von einem Tag zum anderen auf ein Wort ihrer Kirche, wel-
Wilhelm von Pechmann
che ihnen, wie sie mit vollem Recht annehmen, schuldig ist, sie zu schützen. Aber darüber hinaus kann und darf die Kirche auch zu dem nicht schweigen, was unter Verletzung christlicher Gerechtigkeit und Liebe gegen jüdische Volks¬ genossen geschehen ist und geschieht. Auch hier hat die Kirche eine Mission zu erfüllen, der sie sich nicht entziehen kann, ohne sich selbst untreu zu werden: gar nicht zu reden von den ebenso verhängnisvollen wie unausbleiblichen Rückwirkungen, welche ein längeres Schweigen unserer Kirche auf ihre Stellung im Ganzen der ökumenischen Christenheit nach sich ziehen muß. Pechmann hatte schon zuvor auf ein gemeinsames Vorgehen mit der römisch-katholischen Kirche gedrängt und mahnte nun mit Blick auf das Ansehen von Kirche und Christen in der Ökumene, gegen die Judenverfolgung entschieden aufzutreten. Am 26. April bemühte er sich zäh darum, seine kurze und klare Erklärung zur «Judenfrage» durchzusetzen: 1. Wir bekennen uns zu allen Gliedern unserer Kirche ohne Unterschied der Abstammung, auch und gerade zu denen, die ganz oder teilweise jüdischer Abstammung sind. Wir fühlen mit ihnen und wir werden für sie eintreten bis zu den Grenzen des Möglichen. 2. An die Träger der öffentlichen Gewalt aber richten wir die ernste Mahnung, bei allem, was zur Abstellung von Mißständen geschehen soll, die Grenzen nicht zu über¬ schreiten, die durch die Gebote der Gerechtigkeit und der christlichen Liebe gezogen werden. Doch Wilhelm von Pechmann hatte keinen Erfolg. Verbittert erklärte er wenig später seinen Rücktritt als Mitglied des Deut¬ schen Evangelischen Kirchenausschusses und als Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages. In den folgenden Jahren machte er in unzähligen Briefen an Kirchenvertreter im europä-
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ischen Ausland auf die Situation der Christen und Juden unter der NS-Herrschaft aufmerksam und protestierte bei Repräsen¬ tanten der Kirche und des Staates gegen das Unrecht. Weil alle seine Versuche scheiterten, erklärte der knapp fünfundsiebzigjährige Pechmann am 2. April 1934 mit einem Schreiben an Reichsbischof Ludwig Müller, das im selben Jahr veröffentlicht wurde, seinen Austritt aus der Deutschen Evangelischen Kirche. Er begründete seine Entscheidung folgendermaßen: Nun habe ich zwar, Sie wissen es ja, seit April vorigen Jahres oft und oft protestiert: gegen die Vergewaltigung der Kirche, gegen ihren Mangel an Widerstandskraft, auch gegen ihr Schweigen zu viel Unrecht und zu all dem Jammer und Herze¬ leid, das man, aus einem Extrem ins andere fallend, in un¬ gezählte «nichtarische» Herzen und Häuser, christliche und jüdische, getragen hat. Aber ich habe bisher nur in Wort und in Schrift protestiert, und immer ganz vergeblich. Es ist Zeit, einen Schritt weiterzugehen, d. h. durch den Austritt aus einer Kirche zu protestieren, die aufhört, Kirche zu sein, wenn sie nicht abläßt, die auch von Ihnen wieder proklamierte «Einheit zwi¬ schen Nationalsozialismus und Kirche» zu einem integrierenden Bestandteil ihres Wesens, zur Richtschnur ihrer Verwaltung zu machen; wenn sie nicht abläßt, sich einem Totalitätsanspruch zu unterwerfen, in dem ich schon an sich, vollends aber in seiner Anwendung auf Glauben und Kirche, nichts anderes zu erkennen vermag als einen Rückfall in vor- und widerchrist¬ lichen Absolutismus. (Junge Kirche 2, 1934, Heft 8, S. 337) Der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, die zu den «intakten» Landeskirchen gehörte, in denen die Deutschen Christen bei den aufgezwungenen Wahlen keine Mehrheit bekommen hatten, fühlte sich Pechmann jedoch weiter ver¬ bunden. Gut zwei Jahre später wurde er Mitglied der Be¬ kennenden Kirche. Nach
dem Zweiten Weltkrieg konvertierte
Pechmann,
enttäuscht über die mangelnde Büßfertigkeit in der Baye¬ rischen Landeskirche unter ihrem Bischof Hans Meiser, zum
Edith Stein
Katholizismus und wurde am
12.Juni
1946 von Kardinal
Michael Faulhaber gefirmt. Wilhelm Freiherr von Pechmann starb am 10. Februar 1948 in München.
Edith Stein
Die Verantwortung fällt auch auf die. die dazu schweigen.
Ein Brief an Papst Pius XI.. April 1933 Edith Stein wurde am 12. Oktober 1891 als jüngstes von elf Kindern in Breslau geboren. Ihr Vater starb, als sie drei Jahre alt war. Ihre Mutter, eine Jüdin, führte den familiären Holz¬ handelsbetrieb weiter und ermöglichte so allen Kindern eine solide Ausbildung. Als Vierzehnjährige unterbrach Edith Stein ihren Besuch des Breslauer Gymnasiums und lebte etwa ein Jahr bei ihrer ältesten Schwester Else in Hamburg. Sie wandte sich in dieser Zeit von der jüdisch-orthodoxen Tradition ihres Elternhauses ab und bezeichnete sich selbst als Atheistin. Nach ihrem Abitur in Breslau im Jahr 1911 studierte Edith Stein dort Philosophie, Psychologie, Geschichte und Germanistik. Dann wechselte sie nach Göttingen, um bei dem jüdischen Philoso¬ phen Edmund Husserl Phänomenologie zu studieren. Sie folgte Husserl nach Freiburg, wurde von ihm 1916 promoviert und als erste Frau wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl ihres Doktorvaters. Edith Stein gehörte bald zur «Göttinger Philosophischen Gesellschaft». Zu ihren zahlreichen Freundinnen und Freun¬ den gehörte unter anderem das vom Judentum zum Protestan¬ tismus konvertierte Ehepaar Reinach. Als Adolf Reinach im Ersten Weltkrieg fiel, zögerte sie zunächst, dessen Frau Anna zu besuchen, weil sie sich als Atheistin nicht in der Lage sah, Trost zu spenden. Die Begegnung mit der im Glauben Stärke findenden Witwe ließ ihren «Unglauben zusammenbrechen». In den Jahren 1918 bis 1922 versuchte Edith Stein viermal, sich zu habilitieren, was in erster Linie an der Tatsache schei¬ terte, dass sie eine Frau war, ihre jüdische Herkunft spielte
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Edith Stein (1891-1942). um 1928
demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Als ihr beim Be¬ such ihrer Freundin Hedwig Conrad-Martius zufällig die Au¬ tobiographie der spanischen Mystikerin und Karmelitin Teresa von Avila in die Hand fiel, las sie das Buch in einer Nacht durch. Sie war überzeugt, die fortwährend gesuchte «Wahr¬ heit» für sich gefunden zu haben, und ließ sich am i.Januar 1922 in Bad Bergzabern auf den Namen Teresia Hedwig katholisch taufen. Taufpatin war ihre evangelische Freundin Hedwig Conrad-Martius. Edith Stein siedelte in die Pfalz über, wo sie neun Jahre lang an dem konfessionellen Mädchengymnasium St. Magdalena der Dominikanerinnen in Speyer Deutsch und Geschichte unter¬ richtete. Zur Jahreswende 1932/33 wechselte sie nach Münster,
Edith Stein
um als Dozentin am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik zu arbeiten. Sie beschäftigte sich unter anderem mit Thomas von Aquin und hielt Vorträge zur Frauenfrage und zu Problemen der neueren Mädchenbildung. Nach dem Boykott jüdischer Geschäfte am i. April 1933, zu dem die Nationalsozia¬ listen aufgerufen hatten, erhielt Edith Stein als gebürtige Jüdin Lehrverbot und verlor ihre Stelle in Münster. Unter dem un¬ mittelbaren Eindruck der wachsenden Pogromstimmung gegen die Juden richtete sich Edith Stein noch im April direkt an Papst Pius XI.
Heiliger Vater! Als ein Kind des jüdischen Volkes, das durch Gottes Gnade seit eit Jahren ein Kind der katholischen Kirche ist, wage ich es, vor dem Vater der Christenheit auszusprechen, was Millionen von Deutschen bedrückt. Seit Wochen sehen wir in Deutschland Taten geschehen, die jeder Gerechtigkeit und Menschlichkeit — von Nächs¬ tenliebe gar nicht zu reden — Hohn sprechen. Jahre hin¬ durch haben die nationalsozialistischen Führer den Juden¬ hass gepredigt. Nachdem sie jetzt die Regierungsgewalt in ihre Hände gebracht und ihre Anhängerschaft — darunter nachweislich verbrecherische Elemente — bewaffnet hatten, ist diese Saat des Hasses aufgegangen. Dass Ausschreitun¬ gen vorgekommen sind, wurde noch vor kurzem von der Regierung zugegeben. In welchem Umfang, davon kön¬ nen wir uns kein Bild machen, weil die öffentliche Mei¬ nung geknebelt ist. Aber nach dem zu urteilen, was mir durch persönliche Beziehungen bekannt geworden ist, handelt es sich keineswegs um vereinzelte Ausnahmefälle. Unter dem Druck der Auslandsstimmen ist die Regierung zu «milderen» Methoden übergegangen. Sie hat die Parole ausgegeben, es solle «keinem Juden ein Haar gekrümmt werden». Aber sie treibt durch ihre Boykotterklärung — da¬ durch, dass sie den Menschen wirtschaftliche Existenz,
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bürgerliche Ehre und ihr Vaterland nimmt - viele zur Ver¬ zweiflung: es sind mir in der letzten Woche durch private Nachrichten 5 Fälle von Selbstmord infolge dieser Anfein¬ dungen bekannt geworden. Ich bin überzeugt, dass es sich um eine allgemeine Erscheinung handelt, die noch viele Opfer fordern wird. Man mag bedauern, dass die Unglück¬ lichen nicht mehr inneren Halt haben, um ihr Schicksal zu tragen. Aber die Verantwortung fällt doch zum großen Teil auf die, die sie so weit brachten. Und sie fällt auch auf die, die dazu schweigen. Alles, was geschehen ist und noch täglich geschieht, geht von einer Regierung aus, die sich «christlich» nennt. Seit Wochen warten und hoffen nicht nur die Juden, sondern Tausende treuer Katholiken in Deutschland - und ich denke, in der ganzen Welt — darauf, dass die Kirche Christi ihre Stimme erhebe, um diesem Missbrauch des Namens Christi Einhalt zu tun. Ist nicht diese Vergötzung der Rasse und der Staatsgewalt, die täglich durch Rundfunk den Massen ein¬ gehämmert wird, eine offene Häresie? Ist nicht der Vernich¬ tungskampf gegen das jüdische Blut eine Schmähung der allerheiligsten Menschheit unseres Erlösers, der allerseligsten Jungfrau und der Apostel? Steht nicht dies alles im äußersten Gegensatz zum Verhalten unseres Herrn und Heilands, der noch am Kreuz für seine Verfolger betete? Und ist es nicht ein schwarzer Flecken in der Chronik dieses Heiligen Jah¬ res, das ein Jahr des Friedens und der Versöhnung werden sollte? Wir alle, die wir treue Kinder der Kirche sind und die Verhältnisse in Deutschland mit offenen Augen betrachten, fürchten das Schlimmste für das Ansehen der Kirche, wenn das Schweigen noch länger anhält. Wir sind auch der Über¬ zeugung, dass dieses Schweigen nicht imstande sein wird, auf die Dauer den Frieden mit der gegenwärtigen deutschen Regierung zu erkaufen. Der Kampf gegen den Katholizis¬ mus wird vorläufig noch in der Stille und in weniger bruta-
Edith Stein
len Formen geführt wie gegen das Judentum, aber nicht weniger systematisch. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird in Deutschland kein Katholik mehr ein Amt haben, wenn er sich nicht dem neuen Kurs bedingungslos verschreibt. Zu Füßen Eurer Heiligkeit, um den Apostolischen Segen bittend Dr. Edith Stein Dozentin am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik Münster/W. Collegium Marianum
Edith Stein erfuhr über einen Brief des Staatssekretärs im Vatikan, Eugenio Pacelli, des späteren Papstes Pius XII., an den Beuroner Erzabt Raphael Walzer, dass ihr Schreiben Papst Pius XI. vorgelegt worden war. Weitere Folgen hatte ihr Brief offenbar nicht. Der Papst schwieg. Am 14. Oktober 1933 trat Edith Stein mit 42 Jahren als Postu¬ lantin in den Karmel «Maria vom Frieden» in Köln ein und nahm zur Einkleidung im April 1934 den Ordensnamen «Schwester Teresia Benedicta a Cruce» an, die «vom Kreuz Gesegnete». Ihre ältere Schwester, Rosa Stein, konvertierte 1936 ebenfalls zum katholischen Glauben, lebte später an der Pforte des Karmels in Köln und folgte ihr 1938 in den Karmel von Echt in den Nieder¬ landen. Edith Stein wollte so der Verfolgung entgehen und den Kölner Karmel schützen. Wie bedroht sie sich weiterhin fühlen musste, zeigt ihr Testament vom 9. Juni 1939: Schon jetzt nehme ich den Tod, den Gott mir zugedacht hat, in vollkommener Unterwerfung unter Seinen heiligsten Willen mit Freuden entgegen. Ich bitte den Herrn, dass Er mein Leben und Sterben annehmen möchte zu seiner Ehre und Verherr¬ lichung, für alle Anliegen der heiligsten Herzen Jesu und Mariä und der Heiligen Kirche, insbesondere für die Erhaltung, Hei¬ ligung und Vollendung unseres heiligen Ordens, namentlich
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des Kölner und Echter Karmels, zur Sühne für den Unglauben des jüdischen Volkes und damit der Herr von den Seinen auf¬ genommen werde und sein Reich komme in Herrlichkeit, für die Rettung Deutschlands und den Frieden der Welt, schlie߬ lich für meine Angehörigen, lebende und tote und alle, die Gott mir gegeben hat: Dass keines von ihnen verloren gehe. (zit. nach: Waltraud Herbstrith, Edith Stein - Suche nach Gott, Kevelaer 1987, S. 75) Als Reaktion auf die während der deutschen Besatzung der Niederlande beginnenden Deportationen von Juden interve¬ nierten römisch-katholische, protestantische und calvinistische Vertreter beim Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart und baten ihn, sich für ein Ende der Deportationen einzusetzen und zumindest die konvertierten Juden davon auszunehmen. Seyß-Inquart bot an, alle vor 1941 getauften Juden zu verscho¬ nen, wenn die Kirchen dies nicht öffentlich machten. Doch Johannes de Jong, der römisch-katholische Erzbischof von Utrecht, schrieb am 26. Juli 1942 einen Elirtenbrief gegen das Vorgehen der Nationalsozialisten gegen die Juden. Am 2. Au¬ gust wurden daraufhin 244 zum römisch-katholischen Glau¬ ben konvertierte Juden, unter ihnen auch Edith und Rosa Stein, von der Gestapo verhaftet und in das Durchgangslager Westerbork gebracht. Am 7. August 1942 wurden die Schwestern in das Vernich¬ tungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Bei einem kurzen Halt an einem Bahnhof in der Pfalz konnte Edith Stein einen Zettel mit Grüßen an die Schwestern von St. Magdalena auf den Bahnsteig werfen — ihr letztes Lebenszeichen. Edith und Rosa Stein war es nicht mehr gelungen, aus dem niederlän¬ dischen Echt in den Schweizer Karmel Le Päquier zu fliehen. Der Konvent in der Schweiz hatte die tödliche Gefahr, in der sich die beiden Frauen befanden, nicht richtig eingeschätzt und zu viel Zeit vergehen lassen, um die nötigen Dokumente zu beschaffen. Möglicherweise hat aber auch Edith Stein eine pri¬ vilegierte Rettung ihrer Person abgelehnt. Edith und Rosa
Friedrich Schauer
Stein wurden am 9. August 1942 in einer Gaskammer des Kon¬ zentrationslagers Auschwitz-Birkenau ermordet.
Friedrich Schauer
Kirchentreue vor Staatstreue! Eine Stellung¬
nahme. September 1933 Friedrich Schauer wurde 1891 in Schirgiswalde in der Ober¬ lausitz, nahe der österreichischen, später tschechischen Grenze, als zweites von vier Kindern einer Bauerntochter und eines mittleren Justizbeamten geboren. Nachdem er ein Jahr lang die Volksschule besucht hatte, zog die Familie nach Dresden um. Von 1911 bis 1914 studierte Schauer Theologie in Leipzig und Göttingen. Unmittelbar nach dem Abschluss seines Studiums begann der Erste Weltkrieg, zu dem Friedrich Schauer sich wie viele seiner Altersgenossen freiwillig meldete. Bereits im April 1915 verlor er, beim Flicken eines Drahtverhaus von einer Kugel getroffen, das linke Auge. Nach seiner Entlassung aus dem Lazarett besuchte er einen Offizierslehrgang und wurde zum Leutnant befördert. Ende Juli 1916 legte er nicht nur das ver¬ kürzte Zweite Theologische Examen in Dresden ab, sondern beim Militär auch ein Dolmetscherexamen für Türkisch. Schauer marschierte mit den deutschen Truppen über Rumä¬ nien in die Ukraine ein und wurde 1917 als Verbindungsoffi¬ zier und Dolmetscher an der unteren Donau eingesetzt, ln die¬ ser Funktion durchquerte er 1918 den Vorderen Orient, erhielt dabei Kenntnis von den türkischen Massakern an den Armeni¬ ern und floh bei Kriegsende vor den Engländern ans Schwarze Meer. Sein Kommando konnte jedoch der Internierung durch englische Truppen nicht entgehen. Erst im März 1919 war er wieder in Deutschland. Friedrich Schauer bewahrte sich auch nach dem Krieg sein Interesse am Orient. Von 1919 bis 1920 war er Mitarbeiter im evangelisch-lutherischen «Zentralverein für Mission unter Israel»
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Friedrich Schauer (1891-1958). um 1943
und wurde im August 1920 im Fach Orientalistik promoviert. Knapp zwei Wochen später heiratete er die Krankenschwester Helga von Harling, mit der er drei Söhne hatte. Zwei von ihnen fielen im Zweiten Weltkrieg. 1920 bekam Schauer in Ostpreußen seine erste Pfarrstelle. Hier erkannte er die Bedeu¬ tung der evangelisch-katholischen Ökumene — ein bleibender Aspekt seines theologischen Denkens.
1929 siedelte er als
Provinzialjugendpfarrer von Pommern nach Stettin über. Friedrich Schauer wurde 1933 Mitglied in der 1931 gegründe¬ ten, zur Berneuchener Bewegung gehörenden Michaelsbruder¬ schaft. Zu den Zielen der Bruderschaft gehörten die Vertiefung
Friedrich Schauer
des geistlichen Lebens durch Meditationen, evangelische Stun¬ dengebete und liturgische Vielfalt sowie die Erneuerung der Evangelischen Kirche durch Ökumene. Kurz nach der NSMachtübernahme, ebenfalls im Jahr 1933, schloss sich Schauer auch der Jungreformatorischen Bewegung an, die die alleinige Bindung an die Bekenntnisse der Reformation und die politi¬ sche Unantastbarkeit der Kirche betonte. Er übernahm ihre Lei¬ tung in Pommern, wo er später auch den Pfarrernotbund leitete. Anfang September 1933 tagte die Generalsynode der Evange¬ lischen Kirche der Altpreußischen Union in Berlin. Ein Gro߬ teil der Deutschen Christen nahm in den braunen Uniformen der Nationalsozialisten daran teil, weswegen die Synode auch als «braune Synode» bezeichnet wird. Ein Verhandlungspunkt war das «Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums» vom 7. April 1933 und die Übernahme des darin enthaltenen Arierparagraphen für die Kirchen. Ein entsprechendes «Kir¬ chengesetz betreffend die Rechtsverhältnisse der Geistlichen und Kirchenbeamten» wurde beschlossen, das gegenüber der staatlichen Bestimmung die Verschärfung enthielt, selbst die Ehe mit «Nichtariern» sei ein Nichtberufungs- oder Entlas¬ sungsgrund von Geistlichen. Schauer erläuterte vor der An¬ nahme des Gesetzes durch die Synode als Sprecher der Gruppe «Evangelium
und
Kirche»
deren ablehnende
Haltung und
brachte die kritischen Bedenken vor, die in der Einschätzung mündeten, mit einer solchen Regelung werde letztlich die «Taufe aufgelöst». Von den die Mehrheit stellenden «braunen» Synodalen wurden die Anhänger der Gruppe niedergebrüllt geschlossen verließen diese die Synode. Am 7. September 1933 veröffentlichte die Pommersche Tagespost einen ausführlichen Artikel von Friedrich Schauer zu der Aus¬ einandersetzung: Die soeben beendete 10. und voraussichtlich letzte General¬ synode der altpreußischen Landeskirche wurde dadurch ge¬ trübt, dass die Gruppe «Evangelium und Kirche» nach einer
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Protesterklärung, die nicht bis zu Ende verlesen werden konnte, die Sitzung verließ und infolgedessen bei den Ab¬ stimmungen über die entscheidenden Gesetzentwürfe nicht mehr zugegen war. Es sei mir als Führer der Jungreformatorischen Bewegung in Pommern, die zu der Gruppe «Evan¬ gelium und Kirche» gehört, ein Wort der Erklärung erlaubt. Soll der innerkirchliche Zwiespalt, der damit äußerlich zum Ausdruck kam, beseitigt werden - und das ist unsere ernsthafte Hoffnung -, so müssen auch die Gründe ange¬ hört werden, die unser Verhalten veranlassten. Es führt das auf die Grundfrage: Was trennt uns von der Glaubensbe¬ wegung