190 68 1MB
German Pages [148] Year 2020
Werner Führer
Gott und die Schrift Gottes Gegenstand und Grundlage der christlichen Lehre
τὸ στὸν ω ν γ ϑεοῦ ῦ ο τ ερόν ν α φ ιν τ σ ἐ Band I: Die Erkennbarkeit Gottes
Werner Führer Gott und die Schrift Gottes Gegenstand und Grundlage der christlichen Lehre Band I: Die Erkennbarkeit Gottes Band II: Gotteserkenntnis als Heilsgeschehen Band III: Die Schrift Gottes
Werner Führer
Gott und die Schrift Gottes Gegenstand und Grundlage der christlichen Lehre Band I: Die Erkennbarkeit Gottes
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-53128-6
Vorwort Der Gegenstand der Erkenntnis, Gott, der freilich kein Gegenstand im geschöpflichen Sinn ist, sondern Gott, der Schöpfer, der lebendige Gott, an dem sich Sein oder Nichtsein, Heil oder Unheil entscheidet, und die Grundlage der Erkenntnis, die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments als Zeugnis von dem lebendigen, dreieinigen Gott, sind korrelativ aufeinander bezogen und legen sich gegenseitig aus. Weil sie sich gegenseitig auslegen, bringen sie Lehre und Verkündigung hervor. Der Lehre, zugespitzt auf die Erkenntnisproblematik, ist diese Darstellung gewidmet. Sie besteht aus drei Teilen: Bd. I: Die Erkennbarkeit Gottes Bd. II: Gotteserkenntnis als Heilsgeschehen Bd. III: Die Schrift Gottes Bd. I ist im Frühjahr 2020 abgeschlossen worden und wird hiermit vorgelegt. Die beiden folgenden Bände sind in Arbeit. Ihre Fertigstellung steht unter dem Vorbehalt von Jak 4,13–15. Dem dritten Band soll ein Register der Bibelstellen, Namen und Sachen beigefügt werden, das alle drei Bände umfasst. Es geht mir nicht darum, alle Schriftstellen anzuführen, die die Erkennbarkeit Gottes betreffen, sondern vielmehr eine auszuwählen, in der sich alle repräsentiert sehen können, weil sie eine sachliche Zuspitzung des Problems darstellt und eine bündige Zusammenfassung erlaubt. Ebenso werden aus der Auslegungsgeschichte lediglich Theologen herausgegriffen, die als Repräsentanten ihrer jeweiligen Epoche gelten können, um das Ganze zu umfassen. Zu danken habe ich Frau Bärbel Maus, Stadthagen, für die computergerechte Gestaltung meines Manuskripts; ferner Herrn Christoph Spill und Herrn Dr. Izaak de Hulster aus dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen.
Wolfenbüttel, im Oktober 2020
Werner Führer
Inhalt Biblische Grundlegung Römer 1,19–21 Paulus, die Weisheit und die Philosophie
9 31
Stationen der Auslegung Augustin
40
Luther Die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes Erkennbarkeit und Unkenntnis Gottes nach der Auslegung von Römer 1,19–23 Erkennbarkeit und Unkenntnis Gottes nach der Auslegung von Jona 1,5 In Christus dem Gekreuzigten liegt die Erkenntnis Gottes
50 50
Herder
81
Iwand Die Aneignung des reformatorischen Denkansatzes Vertiefung durch Auseinandersetzung Die abschließende Positionierung im Kirchenkampf Die Barmer Theologische Erklärung Der Ansbacher Ratschlag Die Nachprüfung auf der Tagung in Bethel
58 63 67
92 92 96 104 104 108 114
Schluss Zusammenfassende Thesen zur Erkennbarkeit Gottes
119
Abkürzungen
147
Biblische Grundlegung
Römer 1,19–21 1.
Paulus hielt seine Missionsarbeit im Osten für abgeschlossen (Röm 15,19) und wollte nach Überbringung der auf dem Apostelkonvent 48 n.Chr. vereinbarten Kollekte nach Jerusalem (15,25–28) die Mission im Westen fortsetzen. An diesem Wendepunkt seines Wirkens diktierte er Tertius (16,22), einem Mitarbeiter, den längsten, inhaltlich gewichtigsten und großartigsten seiner Briefe, nämlich den „an alle in Rom, die von Gott geliebt sind, die berufenen Heiligen“ (1,7). Mit großer Wahrscheinlichkeit ist das während seines dreimonatigen Aufenthalts (Apg 20,3) in Korinth im Frühjahr 56 n.Chr. geschehen, vor dem Antritt seiner Reise nach Jerusalem;1 im Haus des Gajus, den er selbst getauft hatte (1. Kor 1,14), wo sich Paulus aufhielt und wo sich auch die Gemeinde zu versammeln pflegte (Röm 16,23). Aus Röm 16,1–2 lässt sich außerdem schließen, dass vermutlich Phöbe den Brief nach Rom überbracht hat.2 ————— 1 Über Korinth, den Ort der Abfassung, aber auch über das wahrscheinlichste Abfassungsjahr 56 n.Chr. besteht ein weitgehender Konsens in der Forschung; vgl. z.B. G. Bornkamm, Paulus, Stuttgart 21970, 106; J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 21992, 32; R. Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus, WUNT 71, Tübingen 1994, 270. 286; E. Lohse, Paulus, München 1996, 55–57; U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 82013, 135. Von den Kommentaren s. D. Zeller, Der Brief an die Römer, RNT, Regensburg 1985, 15; P. Stuhlmacher, Der Brief an die Römer, NTD 6, Göttingen 21998, 11; E. Lohse, Der Brief an die Römer, KEK IV, Göttingen 2003, 42; M. Wolter, Der Brief an die Römer, Teilband 1: Röm 1–8, EKK VI, 1, Neukirchen 2014, 28–30, bes. die Übersicht S. 30 (der Verfasser selbst vermeidet eine „genaue Festlegung“). 2 Zu ihr s. F. W. Beare, Phoebe, BHH, Bd. III, 1966, 1463; W.-H. Ollrog, Paulus und seine Mitarbeiter, WMANT 50, Neukirchen 1979, 31.
10
Biblische Grundlegung
Der Brief des Apostels an die Römer ist im Unterschied zu seinen anderen Briefen an eine „Gemeinde“ adressiert, die er nicht selbst gegründet hat. Das Christentum ist wohl auf dem Handelsweg nach Rom gekommen. Die Anfänge „liegen im Dämmerlicht“3; Spuren finden sich aber bereits 49 n.Chr. In dieses Jahr fällt das Edikt des Kaisers Claudius zur Ausweisung der Juden aus Rom,4 das die Judenchristen und „Gottesfürchtigen“, die sich zu den Synagogen in Rom hielten, mit betraf. Sueton berichtet, Claudius sei zu diesem Schritt bewogen worden, weil durch „Chrestus“ Unruhe unter den Juden entstanden sei.5 Mit „Chrestus“ ist wahrscheinlich Christus selbst gemeint, dessen Name die römischen Juden in Unruhe versetzt hat.6 Im Jahr 49 n.Chr. und in der Zeit danach haben sich die Judenchristen und christusgläubigen Gottesfürchtigen aus dem Synagogenverband gelöst oder wurden herausgedrängt, gehörten diesem bei der Abfassung des Römerbriefes schon nicht mehr an und konnten vor Beginn der Verfolgungen unter Nero 64 n.Chr. eindeutig als Christen identifiziert werden.7 An dem Beispiel von Aquila und Priszilla (Priska) wird deutlich,8 dass Judenchristen nach dem Edikt des Claudius Rom verließen (Apg 18,2), aber wohl bald nach dem Tod des Kaisers (54 n.Chr.) nach Rom zurückkehrten und dort eine Hausgemeinde gründeten (Röm 16,3–5).9 Als Paulus an die Römer schrieb, versammelten sich die Christen dort in Hausgemeinden,10 die Kontakt untereinander ————— 3 P. Lampe, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten, WUNT II, 18, Tübingen 21989, 1. 4 Vgl. Riesner, Frühzeit (s. Anm. 1), 79 ff. 139 ff.; H. Botermann, Das Judenedikt des Kaisers Claudius, Hermes 71, Stuttgart 1996; K. P. Donfried/P. Richardson (Hg.), Judaism and Christianity in First Century Rome, Cambridge 1998, bes. 93 ff. 5 Sueton, Claudius 25, 4: … Iudaeos impulsore Chresto assidue tumultuantis Roma expulit. 6 Mit Stuhlmacher, Röm. (s. Anm. 1), 12; Wolter, Röm. I (s. Anm. 1), 36–38; u.a. 7 Tacitus, Ann. 15, 44, 2: … vulgus Chrestianos appellabat … S.a. Sueton, Nero 16, 2. 8 Zu ihnen s. Lampe, Christen (s. Anm. 3),156 ff. 9 Im Röm verwendet Paulus nur im Schlusskapitel (16: 1, 4, 5, 16, 23), und zwar für Hausgemeinden. 10 Vgl. H.-J. Klauck, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum, SBS 103, Stuttgart 1981, bes. 26 ff.
Römer 1,19–21
11
hatten, die aber nicht in einer übergemeindlichen Organisation zusammengefasst waren. Das Thema, das Paulus in seinem Brief behandelt, ist das Evangelium (1,16 f.). Der ganze erste Hauptteil (1,18–11,36), aber auch der sich anschließende paränetische Teil dienen der argumentativen Entfaltung des Evangeliums. Paulus gibt im Römerbrief Rechenschaft vom Evangelium11 – so umfassend und zusammenfassend wie in keinem anderen Brief. Nirgendwo in der ganzen Schrift wird mit solcher Klarheit und Präzision herausgestellt, was das Evangelium ist, worin es besteht, worauf es sich gründet, was es ein- und ausschließt und was es bewirkt. Mit Recht hat Martin Luther im Römerbrief „das rechte Hauptstück des Neuen Testaments und das allerlauterste Evangelium“ gesehen12. Der Römerbrief ist ein Missionsdokument. Paulus legt Rechenschaft ab – jedoch nicht über sein missionarisches Wirken im Osten, sondern vielmehr über das Evangelium selbst, das seinem Wirken zugrundelag. Dadurch wollte er eine Beziehung zu den Christen in Rom herstellen; denn er beabsichtigte, Rom zum Ausgangs- und Mittelpunkt für die Missionierung des Westens zu machen. Die Spanienmission hatte er schon ins Auge gefasst; für sie erhoffte er sich Beistand und das Reisegeleit (Röm 15,24).13 Die Ausführlichkeit und Gründlichkeit der theologischen Durchdringung und Explikation des Evangeliums erklärt sich daraus, dass die Römer ihre Bereitschaft zur Mitwirkung vom Evangelium selbst und nicht etwa von guten oder schlechten Gerüchten über seine Person abhängig machen sollten. ————— 11 Mit Stuhlmacher, Röm. (s. Anm. 1), 13–15; Lohse, Röm. (s. Anm. 1), 45–48. S.a. E. Lohse, Summa Evangelii – zu Veranlassung und Thematik des Römerbriefes, NAWG. PH I, 3, Göttingen 1993, bes. 113 ff. 12 Vorrede Röm., 1522/1546, WA.DB 7, 2, 3 f. und 3, 3 f. 13 Das ist der einzige aus den Quellen erhebbare Abfassungszweck des Röm. Die Missionierung des Westens dürfte auch Grund genug gewesen sein, einen ausführlichen Brief zu schreiben. Die anderen Anlässe und Motive, die zur Abfassung des Röm geführt haben sollen, sind nicht verifizierbar. Die Diskussion darüber wird seit F. Ch. Baur (1836) geführt. Die Literatur, die sie hervorgebracht hat, füllt eine Bibliothek, hat aber zu keinem Konsens geführt.
12
Biblische Grundlegung
2. Römer 1,19–21 lautet: 19 įȚંIJȚ IJઁ ȖȞȦıIJઁȞ IJȠ૨ șİȠ૨ ijĮȞİȡંȞ ਥıIJȚȞ ਥȞ ĮIJȠȢ· șİઁȢ Ȗȡ ĮIJȠȢ ਥijĮȞȡȦıİȞ. 20 IJ Ȗȡ ਕંȡĮIJĮ ĮIJȠ૨ ਕʌઁ țIJıİȦȢ țંıȝȠȣ IJȠȢ ʌȠȚȝĮıȚȞ ȞȠȠȝİȞĮ țĮșȠȡ઼IJĮȚ, ਸ਼ IJİ ਕįȚȠȢ ĮIJȠ૨ įȞĮȝȚȢ țĮ șİȚંIJȘȢ, İੁȢ IJઁ İੇȞĮȚ ĮIJȠઃȢ ਕȞĮʌȠȜȠȖIJȠȣȢ, 21 įȚંIJȚ ȖȞંȞIJİȢ IJઁȞ șİઁȞ ȠȤ ੪Ȣ șİઁȞ ਥįંȟĮıĮȞ ਲ਼ ȘȤĮȡıIJȘıĮȞ, ਕȜȜ’ ਥȝĮIJĮȚઆșȘıĮȞ ਥȞ IJȠȢ įȚĮȜȠȖȚıȝȠȢ ĮIJȞ țĮ ਥıțȠIJıșȘ ਲ ਕıȞİIJȠȢ ĮIJȞ țĮȡįĮ. 19 Denn was von Gott erkennbar ist, ist unter ihnen offenbar; Gott hat es ihnen nämlich offenbar gemacht. 20 Denn seine unsichtbare Wirklichkeit wird seit Erschaffung der Welt wahrgenommen, da sie sich durch das Geschaffene erkennen läßt, nämlich seine ewige Macht und Gottheit, so dass sie keine Entschuldigung haben. 21 Denn obwohl sie Gott erkannt haben, haben sie ihn nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt, sondern sie sind dem Nichtigen verfallen in ihren Gedanken, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert. Diese Grundaussage zur Gotteserkenntnis steht am Eingang des ersten Teils des Römerbriefes 1,18–3,20 und gehört – auf den ganzen Brief gesehen – zum großen Komplex 1,18–8,39, der „eine mehrschichtige Einheit dar(stellt)“14. Eingerahmt ist der erste Teil durch die propositio (1,16–17), in der Paulus das Evangelium als das Thema des Briefes benennt, und 3,21 ff., wo die Gerechtigkeit Gottes, offenbart im Evangelium, als Glaubensgerechtigkeit entfaltet wird. Den näheren Kontext von 1,19– 21 bilden die als Überschrift über dem Abschnitt stehende These 1,18 und deren Entfaltung in vier Abschnitten bis 3,20 mit der Zusammenfassung 3,9 ff.
————— 14 H. Balz, Römerbrief, TRE, Bd. 29, 1998, 291–311, 300.
Römer 1,19–21
13
Im ersten Abschnitt 1,19–2,1615 legt Paulus dar, dass alle Menschen, Heiden und Juden, aufgrund ihrer Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit unter Gottes Zorn stehen. In chiastischer Aufnahme der These 1,18 wird in dem rhetorisch kunstvoll gestalteten Unterabschnitt über die Anklage gegen die Heiden in 1,19– 32 entfaltet, was Paulus 1,18 b festgestellt hat, nämlich dass die Menschen „die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten“. An die Grundaussage zur Gotteserkenntnis 1,19–21 ist 1,(22–)23 eine Illustration angefügt, die aufzeigt, was aus der Schuld der verweigerten Gotteserkenntnis folgt. Daran knüpfen sich drei parallel gestaltete Argumentationsgänge an, in denen Paulus die Folgewirkungen konkret benennt, die der Abfall von Gott nach sich zieht (1,24–25. 26–27. 28–32). In der Dahingabe an diese Folgen schlägt sich Gottes Zorn nieder. Er ist das Thema dieser Textabschnitte, besonders aber des ersten. 18.19 Die These 1,18 lautet: „Denn Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten.“ Während Paulus 1,18 a in 2,1–16 entfaltet, gibt er den Grund für das Niederhalten der Wahrheit durch Ungerechtigkeit (1,18 b) in 1,19 ff. an. Er leitet diese Begründung mit „denn“ (įȚંIJȚ) ein und stellt fest: „was von Gott erkennbar ist, ist unter ihnen offenbar“ (1,19 a). Gott ist in seiner Essenz nicht erfassbar, aber er ist in seinem Schöpferhandeln „erkennbar“16, und zwar als Gott der Schöpfer, negativ bestimmbar durch die Unterscheidung zwischen Schaffen und Geschaffensein, Schöpfer und Geschöpf. Die Erkennbarkeit Gottes des Schöpfers ist nicht einigen wenigen Menschen ————— 15 Zu dieser Abgrenzung vgl. H.-J. Eckstein, „Denn Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbar werden“, 1987, in: ders., Der aus Glauben Gerechte wird leben, BVB 5, Münster 2003, 19–35, 33 f. 16 heißt nicht „das, was von Gott bekannt“ ist, auch nicht „was Gott erkennbar macht“ (Wolter, Röm. I (s. Anm. 1), 134), sondern „das, was von Gott erkennbar ist“ (mit H. W. Schmidt, Der Brief des Paulus an die Römer, ThHK 6, Berlin 21966, 32. 34; E. Käsemann, An die Römer, HNT 8 a, Tübingen 3 1974 (41980), 32. 35; u.a.).
14
Biblische Grundlegung
vorbehalten, sondern sie ist „unter ihnen“17 „offenbar“18. Dieses Offenbarsein gründet in Gott und wird den Menschen von Gott selbst erschlossen, wie es im Nachsatz 1,19 b unterstrichen wird: „Gott hat es ihnen nämlich offenbar gemacht.“ Indem sich Gott offenbart, wirkt er die notitiam de Deo19. Auf sie ist der Mensch „ansprechbar“20. Hier ist nicht ein besonderes Offenbarungsgeschehen wie bei der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes im Evangelium (1,16 f.) gemeint. Gedacht ist vielmehr an Gottes schaffendes Aussich-Herausgehen in den Schöpfungswerken. Die Schöpfung ist nicht einmal abgeschlossen und dann sich selbst überlassen, sondern der Schöpfer ist als der Erhalter immerfort in ihr wirksam. Darin liegt eine Zuwendung zu den Menschen, durch die er sich ihnen als Schöpfer seit Beginn der Schöpfung erschlossen hat und durch sein Schöpferhandeln in der Geschichte fortwährend kundtut. 20 Es folgt eine längere Satzperiode, in der Paulus die gegebene Begründung theologisch vertieft. Diese Vertiefung erfolgt durch die Anwendung des alttestamentlich-jüdischen Schöpfungsgedankens auf die Gotteserkenntnis. Rhetorisch sind zwei sich widersprechende Begriffe zusammengestellt (Oxymoron), die eine paradoxe Aussage bilden: „seine (sc. Gottes) Unsichtbarkeit … wird wahrgenommen.“ IJ ਕંȡĮIJĮ ist das Unsichtbare, den Blicken Entzogene,21 aber keineswegs etwas Unwirkliches. Im Gegenteil! Der Ausdruck bezeichnet hier nicht nur „die Eigenschaften Gottes“22, sondern ————— 17 meint nicht das Innere oder das Gewissen des Menschen, sondern „unter ihnen“, sc. den Menschen, und zwar – nach 1,18 – unter allen Menschen. 18 (1,19 a) und (1,19 b) gehören wie (1,17.18) zur Offenbarungsterminologie (vgl. D. Lührmann, Das Offenbarungsverständnis bei Paulus und in paulinischen Gemeinden, WMANT 16, Neukirchen 1965, 21 f. 148). 19 Ph. Melanchthon, Römerbrief-Kommentar, 1532, in: Melanchthons Werke in Auswahl, Bd. V, hg. v. R. Schäfer, Gütersloh 1965, 70, 12. 20 Käsemann, Röm. (s. Anm. 16), 35. 21 Vgl. A. Schlatter, Gottes Gerechtigkeit, Stuttgart 1935, 57. 22 Wolter, Röm. I (s. Anm. 1), 138.
Römer 1,19–21
15
vielmehr Gottes „unsichtbares Wesen“23, seine „unsichtbare Wirklichkeit“24. Diese wird „wahrgenommen“25, und zwar „seit Erschaffung der Welt“26. Wodurch? „Durch das Geschaffene“27, „durch Werke“ lässt sie sich „erkennen“28. Sie besteht in Gottes „ewiger Macht“ und ist seine „Gottheit“ bzw. „Natur“.29 Aus dem Zusammenhang ergibt sich: Gottes ewige Macht ist seine Schöpfermacht bzw. Allmacht30 (s. Ps 115,3); sein gottheitliches Sein, seine „Natur“ ist Schaffen. Damit wird auch deutlich, warum von der „unsichtbaren Wirklichkeit Gottes“ geredet werden muss: Weil die Dynamik des gottheitlichen Schaffens nicht an ihr selbst wahrgenommen werden kann, sondern allein aus und an dem Geschaffenen, das Gott der Schöpfer aus dem Nichts hervorruft (s. Röm 4,17). Die Wahrnehmung der unsichtbaren Wirklichkeit Gottes beruht nicht auf einem Rückschlussverfahren, sondern sie ist die existentielle Grenzerfahrung, in der sich die Allmacht des Schöpfers im Geschöpf widerspiegelt und das Geschöpf dadurch die unüberschreitbare Grenze zwischen Schaffen und Geschaffensein aufgezeigt bekommt. Ausdruck findet diese Grenzerfahrung in dem Gewahrwerden der Kreatürlichkeit, Endlichkeit und Geworfenheit alles geschöpflichen Seins. Dieses Gewahrwerden schlägt sich im „Herzen“ (1,21) nieder, dem Personzentrum des ————— 23 So übersetzen die Lutherbibel (1546) 1984 und die Zürcher Bibel 1993 89 :;?. 24 Vgl. F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments, Bd. I, Tübingen 22005, 229. 25 @ABCDEF betrachten, wahrnehmen (Bauer-Aland, Wb 793). 26 GHI ist temporal aufzufassen. JKLMNO Schöpfung, Erschaffung. Zu PQRSTU im
Röm. s.a. 1,25; 8,19–22. 39. VWXYZ[ steht hier für die Gesamtheit der Schöpfung. Wichtige Belegstellen im Röm: 1,8; 3,6; 3,19; 5,12 f. Vgl. außerdem Mt 24,21; Eph 1,4; ferner äthHen 69,17 f.; Josephus, Bell IV, 533; u.a. 27 \]^_ `abcdefgh ist Dativ instrum. ijklmn außer hier noch Eph 2,10 (BauerAland, Wb 1370). 28 opqrstuv Partizip Passiv wxyz; vgl. BDR § 418, 2. Zur Übersetzung s.u. Anm. 31. 29 {| }~
ist epexegetisch auf ¡¢£¤¥ bezogen. ¦§¨©ª« ewig; außer hier im NT noch Jud 6; häufig bei Philo (Nachweise bei H. Sasse, ThWNT, Bd. I, 1933, 167 f.). 30 Zum sachgerechten Verständnis vgl. R. Slenczka, Ziel und Ende, Neuendettelsau 2008, 71: „Allmacht ist nicht nur eine neben anderen Eigenschaften Gottes, was er ist, sondern das ist sein Wesen, wie er ist.“
16
Biblische Grundlegung
Menschen, und wird sodann von der Vernunft bedacht. Diese „Erkenntnis“ entsteht also nicht in der Ratio; aber sie wird von ihr reflektiert, geordnet und verarbeitet.31 Im Schlussteil des Verses zieht Paulus die Folgerung, dass die Wahrnehmbarkeit des unsichtbaren Schöpfers in den sichtbaren Schöpfungswerken die Menschen, die diese Wahrheit niederhalten, ganz und gar unentschuldbar32 macht. Röm 1,20 gehört zu den zentralen, aussagestarken Stellen des ganzen Briefes. Was Paulus in dem Vers darlegt, ist von dem Theologumenon der Offenbarung Gottes durch seine Werke bestimmt. Dieses ist im Alten Testament „durch ungemein viele Beispiele belegt“33. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass es Paulus hier aufnimmt. Umso überraschter ist man, dass darüber in den Kommentaren Unklarheit herrscht. Paulus hat diesen Vers eigens für die Römer niedergeschrieben,34 in terminologischer und sachlicher Berührung mit dem alttestamentlichen Schöpfungsgedanken (s. z.B. Jes 40,26.28 LXX). Der Vers und seine Platzierung an dieser Stelle erklärt sich aus dem Abfassungszweck des Römerbriefes: Paulus macht ————— 31 Es ist nicht in der Quelle begründet, wenn bei der Exegese von Röm 1,20 der Begriff der Vernunft in den Mittelpunkt gerückt wird (vgl. z.B. Käsemann, Röm. (s. Anm. 16), 37 f.; U. Wilckens, Der Brief an die Römer, EKK VI, 1, Neukirchen 2 1987, 105 f.; Lohse, Röm. (s. Anm. 1), 87 f.). Paulus spricht hier auch nicht „von einer denkerischen Erkennbarkeit Gottes“ (Wolter, Röm. I (s. Anm. 1), 140), sondern zunächst von einem Widerfahrnis, das allem Denken vorausliegt und erst danach denkerisch verarbeitet wird. Röm 1,20 steht im übrigen nicht das Substantiv ¬®¯, sondern ein Partizip des Verbs °±²³, das Paulus nur hier gebraucht. Die Wiedergabe von ´µ¶·¸¹º» durch „mit der Vernunft“ (Einheitsübersetzung 1980; O. Michel, Der Brief an die Römer, KEK IV, Göttingen 51978, 95) oder mit „für das Auge der Vernunft“ (Stuhlmacher, Röm. (s. Anm. 1), 33), ist wenig sachgerecht. Man kann die Partizipialkonstruktion mit einem Konditionalsatz übersetzen (s. BDR § 418, 2). Dem Duktus der Argumentation des Paulus in Röm 1,18 ff. entspricht aber eher eine kausale Wiedergabe mit tolerativem Passiv. 32 ¼½¾¿ÀÁÂÃÄÅÆÇ ohne Entschuldigung (Bauer-Aland, Wb 118). ÈÉÊ ËÌ ÍÎÏÐÑ ist konsekutiv und nicht final aufzufassen (s. BDR § 402, 2; mit Käsemann, Röm. (s. Anm. 16), 38; u.a.; gegen Michel, Röm. (s. Anm. 31), 99; u.a.). 33 L. Köhler, Theologie des Alten Testaments, Tübingen 41966, 85. 34 Das kann man aus dem Sprachgebrauch schließen. Die Leitbegriffe von Röm 1,20 kommen nur an dieser Stelle im Corpus Paulinum vor: ÒÓÔÕÖ×, ØÙÚÛÜÝ, Þßàá,
âãäåæçè, éêëìíî, ïðñòóôõ.
Römer 1,19–21
17
die Christen in Rom mit der Offenbarung Gottes durch seine Werke vertraut, durch die ein Licht auf die heidnischen Religionen geworfen wird. Wenn man den Westen missionieren und dazu Rom zum Ausgangspunkt erheben will, dann ist diese Unterrichtung unentbehrlich. Der Apostel setzt die Römer dadurch instand, zwischen Offenbarung und Religion zu unterscheiden. Dessen sind sie für das Gespräch und die Auseinandersetzung mit der hellenistisch-jüdischen Theologie, die das Theologumenon von der Offenbarung Gottes durch seine Werke ebenfalls vertritt,35 sowie mit der platonischen und stoischen Popularphilosophie bedürftig. Im 20. Jahrhundert ist Röm 1,20 „eine der Stellen im Neuen Testament (geworden), die den schlimmsten Missdeutungen ausgesetzt gewesen sind“36. Noch Ernst Käsemann war der Meinung, mit diesem Vers werde „das aufs heftigste umstrittene Problem einer theologia naturalis bei Pls (sc. Paulus) aufgeworfen“37. Doch Paulus vertritt keine theologia naturalis, sondern das alttestamentliche Theologumenon von der Offenbarung Gottes durch seine Werke. Von einer „natürlichen Theologie“ bei Paulus kann man keineswegs „sprechen“38, wohl aber von einer biblischen. Röm 1,20 ist auch heute für die Unterscheidung zwischen Offenbarung und Religion unentbehrlich. Das theologische Verständnis von Religion und heidnischer Religiosität hat aber zur unabdingbaren Voraussetzung, dass das Theologumenon von der Offenbarung Gottes durch seine Werke als biblisch grundlegend angesehen und nicht selbst dem Heidentum zugerechnet wird, so dass man seine theologischen Erwägungen mit dem undifferenzierten Satz beginnen muss: „Religion ist Unglaube“39. 21 Paulus nimmt die These, dass Gott erkennbar ist (1,19 a), und ihre Begründung (1,20 a.b) auf und stellt als Grund für die ————— 35 Vgl. z.B. Philo, Fug 12; SpecLeg I, 41; Op 8 f. Weitere Belege bei K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, ThHK 6, Leipzig 22006, 52. 36 A. Nygren, Der Römerbrief, Göttingen 41965, 78. 37 Käsemann, Röm. (s. Anm. 16), 35. 38 A.a.O., 36. 39 K. Barth, KD I, 2, 1938, 327.
18
Biblische Grundlegung
Unentschuldbarkeit (1,20 c) heraus: „Denn40 obwohl sie Gott erkannt haben, haben sie ihn nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt“ (1,21 a). ȖȞંȞIJİȢ IJઁȞ șİઁȞ (1,21 a)41 entspricht IJઁ ȖȞȦıIJઁȞ IJȠ૨ șİȠ૨ (1,19 a), aber es wird zugleich eine Steigerung zum Ausdruck gebracht: Gott ist erkennbar (1,19 a), doch nicht nur das, sondern in 1,21 a wird noch mehr ausgesagt, nämlich, dass die Menschen Gott erkannt haben. Nicht ein verschwommenes Wissen über Gott, sondern ein wirkliches Erkannthaben stellt Paulus fest.42 Die Feststellung der Wirklichkeit und nicht etwa nur der Möglichkeit der Erkenntnis Gottes aus seinen Schöpferwerken ist die Grundlage seiner Argumentation. „Preisen, ehren, verherrlichen“ (įȠȟȐȗȦ) ist die sich im Lobpreis des Glaubens ausdrückende Anerkennung und jubelnde Verherrlichung Gottes des Schöpfers, der mit seinem Werk aus sich herausgegangen ist und in vollkommener Freiheit ins Dasein gesetzt hat, was zuvor nicht war und ohne ihn nicht wäre. Der Lobpreis des Glaubens und die Anbetung sind auf Gottes „ewige Macht und Gottheit“ (1,20) selbst bezogen; das Danken (İȤĮȡȚıIJȑȦ) gilt Gottes schöpferischem Handeln, dem Gerufensein aus dem Nichts, dem Empfang und der Gewährung des Lebens, der Gaben und Wohltaten. Gott als Gott (੪Ȣ șİȩȞ) zu erkennen, ihn zu preisen und ihm von Herzen zu danken, die innige Hingabe an ihn im Glauben und in der Liebe, das ist die Wahrheit, auf der das Geschöpfsein des Menschen beruht. Darin liegt die völlige Übereinstimmung43 der Erkenntnis mit dem Gegenstand der Erkenntnis. Aber vor ੪Ȣ șİȩȞ steht die Verneinungspartikel ȠȤ: „…sie haben ihn nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt“. An ȠȤ ੪Ȣ șİȩȞ hängt das Verständnis des Verses! Zwar könnten heidenchristliche Leser des Briefes diese Wendung zunächst als ————— 40 ö÷øùú (wie 19 a) wird begründend gebraucht. 41 S.a. Gal 4,9. 42 ûüýþÿ , Part. Aor. von $ erkennen, hat hier konzessiven Sinn. Mit dem
Aorist wird nicht ein Erkennenkönnen, sondern ein Erkannthaben ausgesagt. 43 Formuliert nach J. A. Bengel, Gnomon Novi Testamenti, 31773, Nachdruck Stuttgart 1915, 544 (z.St.):…summa convenientia.
Römer 1,19–21
19
Bagatelle aufgefasst haben,44 aber damit hätten sie nur ihre geistliche Unreife enthüllt. Denn in der Verweigerung von Ehre und Dank sieht Paulus die Abwendung von Gott zum Ausdruck gebracht. Die Abwendung von Gott im Unglauben aber ist die Sünde schlechthin, die Grund- und „Hauptsünde“45. Sie hat Paulus hier im Blick. Sie ist nicht aus Unwissenheit, sondern wissentlich geschehen.46 Paulus stellt sie in diesem Vers als Unterlassung dar. Es ist die Unterlassung, mit der die unbegreifliche, in nichts begründete, aber bewusst und willentlich vollzogene Abwendung von Gott als „das fundamentale Nein“47 zum Schöpfer zum Ausdruck gebracht wird. Auf den Abfall von Gott, der sich in der Verweigerung von Ehre und Dank niederschlägt, folgt jedoch keineswegs der Eintritt in ein Reich der Freiheit, wie es die Sünde suggeriert, sondern vielmehr der Verfall an das Nichtige. Das Verb, das nur hier im Neuen Testament gebraucht wird, bringt den alttestamentlichen Abscheu vor nichtigen Götzen und Götzendienst zum Ausdruck:48 Die von Gott Abgefallenen „sind dem Nichtigen verfallen in ihren Gedanken“ (1,21 b). Die Abwendung von Gott vollzieht sich dadurch, dass der Mensch in seinem Herzen Gott das Zutrauen und die Anerkennung versagt, die ihm als dem Schöpfer zukommt. Damit ist der Mensch aus der sein Sein bestimmenden Relation zu Gott herausgetreten, und das ist unwiederbringlich geschehen.49 Er hat seine Daseinsbestimmung irreparabel verfehlt und ist in das Nichtige eingetreten, dem er nun in seinen Gedanken verfallen ist. Diese sind leer und haltlos; denn es fehlt ihnen die Anschauung, die in der Wahrheit gründet. ————— 44 Im Unterschied zu gebildeten Judenchristen in Rom, denen der Zusammenhang von Sünde, Verunehrung und Undankbarkeit bekannt gewesen sein dürfte; s. IV Esra 8, 60; Bill III, 43 ff. (zu Röm 1,21). 45 Augustin, Expositio quarundam propositionum ex epistola ad Romanos, 394, hat zu Röm 1, 21 mit Recht niedergeschrieben: hoc caput est peccati (CSEL 84, 4). 46 Vgl. Bengel, Gnomon (s. Anm. 43), 544: Non ignorantes, sed scientes peccarunt. 47 O. Hofius, Paulusstudien II, WUNT 143, Tübingen 2002, 83 u. 105 (beide Male mit ausdrücklichem Bezug auf Röm 1,21). 48 (s. Bauer-Aland, Wb 1004 f.). In Röm 1,21 b ist # (Aor. Pass.) wie in Jer 2,5 LXX verwendet. sind im AT (LXX) „nichtige Götzen“ (Lutherbibel). 49 Röm 1,18 ff. setzt in der Sache Röm 5,12–21 voraus.
20
Biblische Grundlegung
Die Gedanken müssen den Leerraum freilich mit irgend etwas ausfüllen. Doch es gibt nichts, das Gott adäquat sein könnte. Es ist zutiefst erschreckend, was Menschen im Machtbereich des Nichtigen hervorbringen: „Sie haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit einem Bild vertauscht, das einem vergänglichen Menschen gleich ist und dem der Vögel und der vierfüßigen und kriechenden Tiere.“ (1,23) Im letzten Versteil stellt der Apostel resümierend fest: „und ihr unverständiges Herz ist verfinstert“. „Herz“ (țĮȡįĮ) ist als Personzentrum der Sitz des Verstandes (ȞȠ૨Ȣ), also der Gedankenarbeit, ferner des Willens und der Begierden; ihm ist auch das Gewissen zugeordnet. Es ist somit der „Ort“, aber zugleich das „Organ“, an dem und durch das die Abwendung von Gott vollzogen worden und in dem die Abgötterei entstanden ist und entsteht. Der Mensch ist nicht marginal von der Sünde berührt, sondern zentral von ihr besessen. Paulus bezeichnet das Herz hier als „unverständig“50, das heißt gegen Einsicht verschlossen, und als „verfinstert“51. Die Verfinsterung des Herzens bedeutet nach dem Kontext, dass das Licht, das von der Erkenntnis Gottes durch seine Schöpfung ausgeht, von dem Herzen, das sich ohne Grund von Gott abgewandt hat, nicht mehr wahrgenommen wird. Der Mensch, der Gott nicht als Gott verehrt, ist der Finsternis anheimgefallen. 22 ff. Auf diese Verse kann nicht im Detail eingegangen werden. Es sind aber die für die Gotteserkenntnis relevanten Aspekte hervorzuheben. Paulus lässt drei Argumentationsgänge folgen, in denen er Gottes Zorngericht als „adäquate Vergeltung“52 herausstellt. Auffälliges Strukturelement ist die dreimalige Wendung „Gott hat sie dahingegeben“53. Subjekt des Satzes und also Herr ————— 50 !%"&'(); s.a. Röm 1,31 u. Ps 75,6 LXX. 51 Zu *+,-./0/123456789: s. Bauer-Aland, Wb 1513. Verbreitung in der Apoka-
lyptik; vgl. z.B. äthHen 99, 7 ff.; TestRub 3,8 und aus dem NT Mk 13,24; Mt 24,29; Offb 8,12; 9,2. 52 E. Klostermann, Die adäquate Vergeltung in Rm 1,22–31, ZNW 32 (1933), 1– 6. Aufgenommen von J. Jeremias, ABBA, Göttingen 1966, 290–292; u.a. 53 1,24. 26. 28: ;?@ABC DEFGHI J KLMN.
Römer 1,19–21
21
des Geschehens ist Gott. Er hat nicht etwa nur „zugelassen“, er hat vielmehr „dahingegeben“54. 24 „Darum hat sie Gott in den Begierden ihrer Herzen in die Unreinheit dahingegeben …“ (24 a). An die Stelle der Reinheit, die auf dem glaubenden Vertrauen auf Gott und auf der Anerkennung des Schöpfers vor allen Geschöpfen beruht, ist die Unreinheit getreten. Das Herz, das von Gott unabhängig sein will, wird an die eigenen Sehnsüchte und Begierden55 preisgegeben. Dadurch ist das Menschenherz zum Gefangenen seiner selbst geworden. Alles muss sich nun um das Menschenherz drehen, als wäre es der Mittelpunkt der Welt. Die Selbsterhöhung, auf die das Herz mit seinem Begehren zielt, zieht die Selbstentehrung nach sich, „so dass ihre Leiber durch sie selbst geschändet werden“ (24 b). 26 „Darum hat sie Gott dahingegeben in schändliche Leidenschaften; denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr vertauscht mit dem widernatürlichen.“ Aufschlussreich für das Verständnis ist das Verb (ȝİIJ)ĮȜȜȐııȦ vertauschen, verändern, das in diesem Zusammenhang dreimal vorkommt. Paulus argumentiert, die Heiden hätten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit einem Bild, das Vergängliches darstellt, vertauscht (1,23). Diese Vertauschung des Schöpfers mit Geschöpflichem, die zugleich die Vertauschung „der Wahrheit mit der Lüge“ ist (1,25), habe die Vertauschung des Natürlichen mit dem Widernatürlichen nach sich gezogen (1,26).56 Der Zusammenhang ist deutlich: Die Verweigerung von Ehre und Dank gegenüber dem Schöpfer führt zu Abgötterei, nämlich zur religiösen Vereh————— 54 Mit Recht unterstrichen von Luther, WA 56, 179, 27 f. und J. Calvin, Der Brief an die Römer, 1540, CStA 5, 1, Neukirchen 2005, 92/93. Mit OPQRSTUVW ist der richterliche Entscheid gemeint, „mit dem er den Verurteilten zur Vollstreckung des Urteils übergibt“ (Lohse, Röm. (s. Anm. 1), 89). Die meisten ntl. Vorkommen finden sich in der Passionsgeschichte Jesu. Im Corpus Paulinum ist der Gebrauch des Verbs in Röm 4,25 das soteriologische Gegenstück zu 1,24 ff.; s.a. Gal 2,20. 55 Zu XYZ[\]^_ s.a. Röm 6,12; 7,7 f.; 13,14; Gal 5,24. 56 1,25 u. 26 steht das nur an diesen beiden Stellen im NT vorkommende Kompositum `abcdefghi , das mit dem Simplex in 1,23 bedeutungsgleich ist. Zu 1,23 vgl. Ps 105,20 LXX.
22
Biblische Grundlegung
rung57 von Geschaffenem. Diese Kreaturvergötterung wiederum wirkt sich in dem Zerfall der zwischenmenschlichen Grundbeziehung zwischen Mann und Frau aus und schafft sich in sexueller Vertauschung Ausdruck. 28 „Da sie es für nichts geachtet haben, Gott in der Erkenntnis innezuhaben, hat sie Gott dahingegeben in haltlosen Sinn, zu tun, was ungebührlich ist.“ Die sittliche Haltlosigkeit und Verwilderung, wie sie im folgenden Lasterkatalog 1,29–31 exemplarisch zum Ausdruck gebracht wird, liegt der Zerrüttung des menschlichen Gemeinschaftslebens und des sozialen Zusammenhalts zugrunde. Aber die sittliche Haltlosigkeit ist nicht selbst die letzte und eigentliche Ursache, sondern vielmehr die Folge der Nichtachtung Gottes und die Auswirkung der Dahingabe durch Gott. 32 „Die, die solches tun, obwohl sie das Recht Gottes kennen, sind des Todes schuldig; aber sie tun es nicht allein, sondern spenden denen auch noch Beifall, die es tun.“ Das įȚțĮȓȦȝĮ IJȠ૨ șİȠ૨ ist Gottes Recht, seine Rechtsforderung und -ordnung.58 Dieses unverbrüchliche Recht, in dem sich der Wille des Schöpfers und Erhalters der Welt kundtut, ist denen, die das tun, was im Lasterkatalog 1,29–31 aufgeführt wird, bekannt. Es ist ihnen bekannt, wie sie Gott aus seinen Schöpfungswerken erkannt haben. Zwar liegt es den Heiden nicht in geschriebener Form vor wie den Juden in der Tora, aber die Rechtsforderung Gottes ist ihnen ins Herz geschrieben (2,14 f.). Sie wissen im Grunde ihres Herzens, dass die, die so sind, so denken und so handeln, wie es in 1,29–31 dargestellt ist, „des Todes schuldig sind“ (ਙȗȚȠȚ įĮȞȐIJȠȣ ਥȚıȓȞ). Aber das Wissen hält sie auf dem Weg des Bösen, den sie beschritten haben, keineswegs auf. Sie gehen noch ————— 57 1,25 jklmnopqr religiöse Verehrung erweisen (Bauer-Aland, Wb 1491); ferner stuvwxy (Gott) dienen (ebd. 949 f.). 58 Vgl. aus dem Röm: 2,26; 5,16; 5,18 („Rechttat“); 8,4. In 1,32 steht der Singular: Gottes Recht ist nicht „nur als eine Summe von Geboten, sondern … als einheitlicher Gotteswille zu erfassen“ (G. Schrenk, z{|}~, ThWNT, Bd. II, 1935, 223 ff., 225).
Römer 1,19–21
23
einen Schritt weiter in Richtung auf den Abgrund: sie haben Gefallen an denen, die so handeln, und spenden ihnen Beifall.59 Das ist „der höchste Gipfel alles Bösen“60: Menschen „genießen nicht nur Schändliches, sie haben sogar Gefallen daran“61. 3. Es ist ein sehr komplexer Zusammenhang, den Paulus in Röm 1,18–32 aufgezeigt hat. Die wichtigsten Aspekte sollen unterstrichen werden. 1. Die Erkennbarkeit Gottes Röm 1,19–21 ist eine Grundaussage des Paulus zur Gotteserkenntnis. Vor dem Hintergrund des alltestamentlich-jüdischen Schöpfungsgedankens hat der Apostel das Theologumenon der Offenbarung Gottes durch seine Werke aufgenommen. Er entfaltet keine „natürliche“, sondern eine biblische Theologie. Sie ist zur Unterscheidung zwischen Offenbarung und Religion konstitutiv. Paulus stellt fest: Gott ist erkennbar (1,19 a) – nicht in seiner Essenz, aber in seinem Schöpferhandeln als Gott der Schöpfer. Die unsichtbare Wirklichkeit Gottes lässt sich durch das Geschaffene erkennen; Gott erschließt sich darin selbst als der Schöpfer und Erhalter. Von entscheidender Bedeutung ist, dass Paulus nicht nur von einem Erkennenkönnen, sondern von einem wirklichen Erkannthaben Gottes spricht (1,21 a). 2. Die Unkenntnis Gottes Die Erkenntnis Gottes kann durch nichts ersetzt und mit nichts verglichen werden. Sie ist es, die über Sein oder Nichtsein entscheidet. Das zeigt Paulus in 1,21 ff. auf.
————— 59
Beifall spenden, billigen; s. 1. Clem 35, 6. 60 Calvin, Röm. (s. Anm. 54), 100: … summus malorum cumulus. 61 Seneca, Ep. Mor. 39, 6: Turpia non solum delectant, sed etiam placent. Ähn-
lich aus der jüdischen Tradition TestAss 6, 2.
24
Biblische Grundlegung
In der Verweigerung von Lobpreis und Dank sieht Paulus die Abwendung von Gott zum Ausdruck gebracht. Die Abwendung von Gott im Unglauben ist die Sünde schlechthin, die „Hauptsünde“62. Sie ist gegen die Gottheit Gottes gerichtet und stellt die bewusste und willentliche Übertretung des ersten Gebotes dar. Sie beruht auf „Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit“ (1,18: ਕıȕİȚĮ țĮ ਕįȚțĮ). Sie vollzieht sich im Herzen des Menschen (1,21.24) und bestimmt diesen ganz. Von ihr geht eine von Gott abgewandte und gegen Gott gerichtete Grundorientierung aus, die sich in sündigen Verhaltensweisen und Taten niederschlägt. Der Mensch, der sich von Gott abgewandt hat, ist dem Nichtigen verfallen (1,21 b). Sein unverständiges Herz ist verfinstert (1,21 c) und zur Erkenntnis Gottes außerstande. Er ringt nicht nur nicht um die Erkenntnis Gottes, sondern hält vielmehr die Wahrheit, die ihm Gott als der Schöpfer offenbart hat (1,19 b), durch Ungerechtigkeit in sich nieder und unterdrückt sie (1,18 b). Die Gott dem Schöpfer verweigerte Ehre überträgt er auf Kreaturen (1,23.25). Die Kreaturvergötterung kann grobe Formen von Bilderdienst und Tierkult annehmen (1,23). Welche Form auch immer, in ihr bewahrheitet sich auf jeden Fall, dass sich mit Notwendigkeit der Kreatur zukehrt, wer sich vom Schöpfer abkehrt.63 Abgötterei ist nicht nichts, Abgötterei heißt vielmehr: „im Abgrund gelandet zu sein“64. Wie Paulus 1,19 f. die Erkennbarkeit Gottes vertritt, so vertritt er 1,21 ff. die durch die Sünde bedingte Unkenntnis Gottes. Doch hebt er 1,21 ff. nicht auf, was er 1,19 f. gelehrt hat. Beides gilt vielmehr uneingeschränkt: Gott bleibt erkennbar; denn er hört nicht auf, der Schöpfer zu sein. Auf der anderen Seite bleibt Gott unerkannt, weil sich der Mensch durch die Sünde von ihm abgewandt hat und er in der Folge davon dem Nichtigen verfallen ist. Die Kreaturvergötterung, der er erlegen ist, schließt die
————— 62 Nach Augustin; s.o. Anm. 45. 63 Formuliert in Anlehnung an Luther, Glosse zu Röm 1,23; WA 56, 13, 9 f.:
Ideo qui auvertitur a Creatore, necessario vertitur ad creaturam. 64 Luther, Scholie zu Röm 1,23; WA 56, 179, 6 f. Übersetzt aus dem Lateinischen.
Römer 1,19–21
25
Erkenntnis Gottes und die von ihr eröffnete Gemeinschaft mit Gott aus. Es liegt alles daran, präzise zu erfassen, was mit der Unkenntnis Gottes gemeint ist. Sie ist keineswegs bloße Ignoranz. Sie wird vielmehr durch eine aktive, destruktive Komponente bestimmt. Denn sie beruht darauf, dass das, was von Gott erkennbar ist (1,19 a), von dem von Gott abgefallenen Menschen durch Ungerechtigkeit niedergehalten wird (1,18 b). Was ergibt sich daraus für das Verständnis von Religion und Religiosität? Positiv, dass Religion und Religiosität ein Indiz dafür sind, dass die geschöpfliche Erfahrung der Schöpferwirklichkeit Gottes eine offene Wunde darstellt. Negativ, dass diese Erfahrung nicht in die Wahrheit stellen kann, weil die geschöpfliche Wirklichkeit des Menschen von der Sünde bestimmt ist, die in der Niederhaltung der Wahrheit zur Auswirkung kommt. 3. Der Zorn Gottes „Gottes Zorn“65 ist der Vollzug von Gottes rechtmäßigem Urteil, das ohne Ansehen der Person (2,11) gefällt wird. Es ergeht „über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen“ (1,18) und besteht in der Dahingabe der von ihm Abgefallenen. Es ist Gott, der in Begierden dahingibt (1,24). Dadurch ist die Herrschaft des Herzens über die Begierden in die Tyrannei der Begierden über das Herz verkehrt worden und hat zur Selbstentehrung am eigenen Leib geführt. Es ist Gott, der in Leidenschaften dahingibt (1,26). Das hat die Vertauschung des Natürlichen mit dem Widernatürlichen nach sich gezogen.66 Schließlich: Es ————— 65 1,18: . 12 Vorkommen von im Röm von 36 im NT. Der soteriologische Gegenbeleg zu 1,18 ist 5,9. 66 Es kann keinem ernsthaften Zweifel unterliegen, dass 1,26 b die lesbische Liebe und 1,27 die Homosexualität gemeint ist. Paulus hat sich damit bewusst in den Gegensatz zur Auffassung über die gleichgeschlechtliche Liebe in der hellenistischen Welt gebracht. Die Leser seines Briefes in Rom wussten genauso wie die Bewohner von Korinth, wo der Brief geschrieben worden ist, was gemeint war. Das Urteil des Apostels ruft heute wieder Befremden hervor wie in der Antike. Aber es kann nicht aus dem Zusammenhang, in dem es steht, herausgelöst werden und ist theologisch bindend (gegen den Duktus der Argumentation von Wolter, Röm. I (s. Anm. 1), 149 ff.; u.a.).
26
Biblische Grundlegung
ist Gott, der „in haltlosen Sinn“67 dahingibt (1,28). Infolgedessen ist der auf Gemeinschaft angelegte Mensch selbst zum gefährlichsten Störfaktor des Gemeinschaftslebens geworden. Das Zorngericht erfolgt „vom Himmel her“68, das heißt: unvermittelt und unwiderstehlich als Niederschlag der Allmacht Gottes, aber indirekt, wissen die Dahingegebenen doch selbst nicht um den letzten und eigentlichen Verursacher ihres Dahingegebenseins. Der Zorn Gottes ist kein Affekt, aber sehr wohl Ausdruck des Widerwillens und des leidenschaftlichen Widerstandes Gottes gegen alles Böse. In der Zurückweisung des Bösen ist Gott ganz und gar kompromisslos; denn er ist heilig. In Gottes Heiligkeit liegt die Gewähr dafür, dass das Böse zuschanden und zunichte wird. Schon Marcion (um 85–160)69 meinte, Zorn von Gott, dem liebenden Erlösergott, fernhalten zu müssen und strich șİȠ૨ aus dem Text von 1,18.70 Einen eingebildeten Gott gegen den wahren Gott, wie er im Alten und Neuen Testament bezeugt wird, meinen verteidigen zu müssen, das scheint zum Hauptgeschäft der Schriftverdreher zu gehören. Bei Luther ist zu lesen: „Sie legen sich einen gnädigen Gott zurecht, während er es in Wirklichkeit nicht ist, und so verehren sie ihr eigenes Hirngespinst aufrichtiger als den wahrhaftigen Gott, von dem sie glauben, er gleiche ihrem Hirngespinst.“71 Die Betonung der Liebe Gottes bei Unterschlagung des Zornes Gottes ist auch ein Kennzeichen des Kulturprotestantismus seit Albrecht Ritschl (1822–1889) und bestimmt die Verkündigung im Protestantismus bis heute in hohem Maße.72 Doch Pau————— 67 Mit ¡¢ £¤¥¦ (1,28) ist weniger die Dahingabe „an unverständiges Denken“ (Hahn, Theol. NT I (s. Anm. 24), 230) gemeint als vielmehr die in haltlosen, „verkehrten Sinn“ (Lutherbibel 1984). 68 1,18: §¨’ ©ª«¬®¯. 69 Vgl. B. Aland, Marcion/Marcioniten, TRE, Bd. 22, 1992, 89–101. 70 Ihm folgen die Minuskeln 876 und 1908. 71 WA 56, 179, 16–18. Übers. aus der Auslegung von Röm 1,21 ff. in Anlehnung an die Übersetzung von E. Ellwein, in: M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief, 1515/1516, München 51965, 37. 72 A. Ritschl war der Meinung, die Rede vom Zorn Gottes sei anthropomorph und verdunkle die Liebe Gottes (Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und
Römer 1,19–21
27
lus hat die Liebe Gottes wie kein anderer preisen können (s. 1. Kor 13), weil er aus dem Alten Testament und dem antiken Judentum von dem Zorn Gottes wusste. Luther konnte ergreifend von dem gnädigen Gott und der Rechtfertigung des Gottlosen reden, weil er entdeckt hatte, dass die im Evangelium offenbarte Gerechtigkeit Gottes die Rettung von Gottes Zorn ist. 4. Die Heilsnotwendigkeit des Evangeliums Für die Offenbarung des Zornes Gottes (1,18) gebraucht Paulus dasselbe Verb in derselben Form (Präsens Passiv) wie für die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes (1,17): ਕʌȠțĮȜʌIJİIJĮȚ. Das wirft die Frage nach dem Verhältnis beider Verse und beider Abschnitte des Briefes zueinander auf.73 In 1,16–17 benennt Paulus das Thema des Briefes: „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist Gottes Kraft zur Rettung für jeden, der glaubt, die Juden zuerst und auch für die Griechen. Denn die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbart aus Glauben zum Glauben, wie geschrieben steht (Hab 2,4): ‚Der Gerechte aber wird aus Glauben leben.‘“ Das Evangelium, das Paulus verkündigt, ist das „Evangelium Gottes“ (1,1) und nicht das Evangelium des Paulus. Es handelt von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, unserem Herrn, geboren aus dem Geschlecht Davids (1,3). Jesus Christus hat durch seinen stellvertretenden Sühnetod die Erlösung (ਕʌȠȜIJȡȦıȚȢ) zum Erweis der Gerechtigkeit Gottes heraufgeführt (3,24 f.; s.a. 4,25). Diese Tat der Versöhnung ist der Inhalt des Wortes von der Versöhnung, des Evangeliums. Wegen dieses Inhalts ist das Evangelium Gottes Kraft (įȞĮȝȚȢ) zur Rettung für jeden, der an es glaubt (1,16);
————— Versöhnung, Bd. II, Bonn 31889, 153 f.). Wer sich darauf beschränkt, die Liebe Gottes zu predigen, wie das heute allerorten geschieht, geht kein Risiko ein; denn es trifft ja zu, dass Gott die Liebe ist (1. Joh 4,8.16). Aber erreicht er die Hörerinnen und Hörer, die unter der Sünde, dem Tod und dem Zorn Gottes stehen, dies aber gar nicht wissen? 73 Vgl. dazu G. Bornkamm, Die Offenbarung des Zornes Gottes, 1935, in: ders., Das Ende des Gesetzes. GAufs. I, BEvTh 16, München 51966, 9–33, 10 ff.
28
Biblische Grundlegung
denn ihm wird Gottes Gerechtigkeit (įȚțĮȚȠıȞȘ șİȠ૨) als Gottes heilschaffendes Handeln offenbart (1,17).74 Aus dieser kurzen Paraphrase wird deutlich, dass ਕʌȠțĮȜʌIJİIJĮȚ auf zwei gänzlich unterschiedene und deshalb grundsätzlich zu unterscheidende Offenbarungsinhalte bezogen ist. Die Näherbestimmung des Evangeliums als der Kraft Gottes zur Rettung schließt es aus, dass auch der den Fluch wirkende Zorn Gottes Bestandteil des Evangeliums ist. Andererseits gehören die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes und die Offenbarung des Zornes Gottes insofern zusammen, als erst das Evangelium die Perspektive auf die Verfallenheit aller Menschen an die Sünde eröffnet. Aber die Erkenntnis der Sünde selbst ist wiederum nicht das Werk des Evangeliums, sondern die Erkenntnis der Sünde kommt durch das Gesetz (3,20; 7,7). Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes und die Offenbarung des Zornes Gottes sind einander entgegengesetzt und dürfen keinesfalls miteinander vermischt werden. Gleichwohl besteht zweifellos ein Zusammenhang zwischen 1,17 und 1,18. Formal gehört 1,18 in die Reihe der Denn-Sätze wie 1,17 und 1,16. Dass außerdem dasselbe Verbum finitum in 1,17 wie in 1,18 gebraucht wird, ist kein Zufall. Es beruht auf rhetorischem Gestaltungswillen: „Paulus formuliert in bewusster Kontrastierung.“75 Auch sachlich besteht unverkennbar ein Zusammenhang. Paulus begründet im ersten Teil seines Briefes 1,18–3,20 die Heilsnotwendigkeit des rettenden Evangeliums, das er in 1,16–17 ausdrücklich als Thema des Briefes benannt hat. Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes im Evangelium (1,17) und die Offenbarung des Zornes Gottes (1,18 ff.) sind zwei zu unterscheidende, aber zusammengehörende Akte des Offenbarungsgeschehens.76
————— 74 Vgl. P. Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes bei Paulus, FRLANT 87, Göttingen 21966, 78 ff. 75 Stuhlmacher, Röm. (s. Anm. 1), 35. S.a. Nygren, Röm. (s. Anm. 36), 75; Käsemann, Röm. (s. Anm. 16), 31; Wilckens, Röm. I (s. Anm. 31), 101. 76 Vgl. C. E. B. Cranfield, The Epistle to the Romans, Vol. I, ICC, Edinburgh 6 1975, 110.
Römer 1,19–21
29
5. Die Anklage zum Schuldaufweis Aus der inhaltlichen Unterschiedenheit, aber heilsgeschichtlichen Zusammengehörigkeit der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes und der Offenbarung des Zornes Gottes erklärt sich auch die spezifische Form des Textes von 1,18 ff.: Paulus erhebt Anklage gegen alle Menschen – zunächst gegen die Heiden, sodann gegen die Juden –, um ihre Schuld vor Gott aufzuweisen. Sein Schlussplädoyer fasst er so zusammen: „Wir haben soeben bewiesen, dass alle, Juden wie Griechen, unter der Sünde sind“ (3,9). Es folgt der Schriftbeweis (3,10–18) und am Schluss das Urteil, „dass alle Welt vor Gott schuldig ist“ (3,19). 1,18 ff. ist mithin eine Anklagerede zum Schuldaufweis aller Menschen als Bestandteil der apostolischen Umkehrpredigt, die Paulus aus der Perspektive des Evangeliums, aber keineswegs unter Instrumentalisierung des Evangeliums zum Schuldaufweis77 verfasst hat. Dabei hat er auf die langjährige Praxis seiner Missionstätigkeit zurückblicken können. Was 1,18 ff. vorliegt, ist eine komprimierte, theologisch reflektierte Zusammenfassung der Umkehrpredigt, wie sie aus seiner Missionsarbeit erwachsen ist.78 Im Zentrum der Umkehrpredigt hat, wie aus 1,18–3,20 hervorgeht, der heilige Wille Gottes gestanden, wie er im Gesetz des Moses manifest geworden ist. Zu denken ist aber nicht an eine gegenüber der Verkündigung des Evangeliums isolierte Gesetzes- und Umkehrpredigt, sondern vielmehr an die Indienstnahme des Gesetzes durch das Evangelium, das die Perspektive auf die Verfallenheit des Menschen an die Sünde eröffnet, so dass das Gesetz seine Funktion erfüllen und zur Erkenntnis der ————— 77 Es ist sachlich unzutreffend, wenn Michel, Röm. (s. Anm. 31), 97 feststellt: „Gottes Gerichtsstunde ist angebrochen und wird im Evangelium proklamiert.“ Das Evangelium proklamiert nicht das Gericht Gottes, sondern offenbart die heilschaffende Gerechtigkeit Gottes. Ähnlich falsch wie bei Michel ist das Verhältnis von Röm 1,16–17 und 1,18 ff. auch von Schlatter, Gerechtigkeit (s. Anm. 21), 46 ff. bestimmt worden. 78 Michel, Röm. (s. Anm. 31), 96 sieht „in Röm 1,18–32 ein Beispiel der Missionspredigt des Paulus“. Diesen Aspekt hat Michel mit Recht gegen andere Kommentare hervorgehoben; ebenso Stuhlmacher, Röm. (s. Anm. 1), 34. Im Unterschied zu Michel möchte ich aber nicht von einem „Beispiel“ reden, sondern von einer theologisch reflektierten Zusammenfassung.
30
Biblische Grundlegung
Sünde und des Zornes Gottes über die Sünde führen kann. Wenn beides gleichzeitig geschieht, die Aufdeckung der Sünde durch das Gesetz und die Vergebung der Sünde durch das Evangelium, bricht das eschatologische Jetzt,79 das Heute des Heils an, das dem Glauben an das Evangelium an Gottes rettender Gerechtigkeit Anteil gibt.
————— 79 Das Präsens in 1,18 ist so wenig wie das in 1,17 „weder als zeitlos gültige
Feststellung zu verstehen noch in ein Futurum umzudeuten“; vielmehr ist „von dem eschatologischen Jetzt die Rede“ (Lohse, Röm. (s. Anm. 1), 86; ebd. Anm. 4 mit Recht gegen Eckstein, Zorn (s. Anm. 15); vgl. Bornkamm, Offenbarung (s. Anm. 73), 32).
Paulus, die Weisheit und die Philosophie Paulus hat sein theologisches Denken in einen universalen Horizont hineingestellt. Das geschah nicht aus Anmaßung, sondern war eine Folge seines Apostolats und seines Selbstverständnisses als des „Apostels der Heiden“ (Röm 11,13).1 Die Universalität des Apostolats entsprach der Universalität des Evangeliums sowie der Verlorenheit aller Menschen vor Gott. Die Anklage des Paulus gegen die Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit aller Menschen steht in Berührung mit der jüdischhellenistischen Weisheitstradition und ist in Kenntnis der griechischen Popularphilosophie formuliert worden. Was bedeutet das für die Frage der Gotteserkenntnis? Am auffälligsten sind die Berührungen von Röm 1,18–32 mit der Weisheit Salomos, einem Buch, das zur griechischen Bibel gezählt wurde und Paulus vertraut war.2 „Verkehrte Gedanken scheiden von Gott.“3 Dieser programmatische Satz aus Weish 1,3 spiegelt sich inhaltlich in Röm 1,21. Notiert sei aber sogleich, dass bei Paulus nicht das verkehrte Denken von Gott scheidet, sondern die Gottlosigkeit des menschlichen Herzens und dessen Voreingenommenheit gegen Gott. Verkehrte Gedanken scheiden nach der Weisheitstradition aber nicht nur von Gott, sie führen auch zum Götzendienst (Weish 11,15; 13,1–9). Aus Weish 13–15 lassen sich die gemeinsamen Denkvoraussetzungen des Paulus mit der jüdischhellenistischen Weisheit erheben, aber auch der charakteristische Unterschied. Ein Beleg für die gemeinsame Voraussetzung hinsichtlich der Gotteserkenntnis ist Weih 13,1: „Nichtig (ȝȐIJĮȚȠȚ) von Natur waren alle Menschen, denen die Gotteserkenntnis —————
1 Vgl. W. Kraus, Die Anfänge der Mission und das Selbstverständnis des Paulus
als Apostel der Heiden, in: F. W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 227–237, bes. 233 f. 2 Diese apokryphe Schrift dürfte in der ersten Hälfte des 1. Jh. v.Chr. entstanden sein (vgl. H.-P. Rüger, Apokryphen I, TRE, Bd. 3, 1978, 289–316, 305). Sie gehört zur Gattung des philosophischen Enkomiums (s. H. J. W. Drijvers, Salomo III, TRE, Bd. 29, 1998, 730) und wirbt für die jüdische, im Gehorsam gegen die Tora gründende Weisheit. 3 Weish 1,3 a: !". #$%&'() krumm, verkehrt (Bauer-Aland, Wb 1511).
32
Biblische Grundlegung
fehlte und die aus den sichtbaren Gütern den, der wahrhaft ist, nicht wahrzunehmen vermochten, und die, obwohl sie auf seine Werke achteten, den Werkmeister nicht erkannt haben.“ Die Gemeinsamkeit mit Röm 1,19–21 ist unverkennbar. Sie beruht auf dem alttestamentlichen Glauben an Gott den Schöpfer, der durch seine Werke erkennbar ist. Der Unterschied fällt ins Auge, wenn man die apologetisch-missionarische Tendenz wahrnimmt, die Weish 13,1–9 bestimmt: Die Weisheit „zielt darauf, die Erkenntnis Gottes aus dem Anblick der Welt zu erwecken, denn in dieser Erkenntnis findet der Mensch zu seiner Bestimmung“4. Das ist der Grund, weshalb die Weisheit die ਕȖȞȦıĮ șİȠ૨ beklagt und sie durch die Erkenntnis Gottes zu ersetzen sucht. Ganz anders argumentiert dagegen Paulus. Er redet nicht von der Möglichkeit der Gotteserkenntnis, sondern stellt ihre Wirklichkeit fest: Alle Menschen haben sie, aber alle sind gottlos – nicht darum, weil sie Gott den Schöpfer nicht erkennen könnten, sondern darum, weil sie ihn erkannt haben (Röm 1,21 a), aber diese Wahrheit durch Ungerechtigkeit in sich selbst niederhalten (1,18 b). Sprache und Didaktik der Weisheit erinnern an einen wahren Sachverhalt, aber was können sie gegen die ਕıȑȕİȚĮ der Menschen ausrichten? Auf der gemeinsamen Grundlage des Glaubens an den einen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde (1. Mose 1,1), beruht die apodiktische Zurückweisung des Götzendienstes auf beiden Seiten. Paulus stellt wie die jüdische Weisheit (z.B. Weish 14,12) die Zusammengehörigkeit von Götzendienst und Sittenverderbnis heraus. Gemeinsam ist beiden auch das Erschrecken über das Ausmaß des Sittenverfalls in der Völkerwelt.5 Schließlich liegt der Tun-Ergehen-Zusammenhang, den die Weisheitstradition immer wieder unterstreicht (z.B. Weish 3,10; 11,16; 14,31), auch bei Paulus in Röm 1,18 ff. vor. Ähnlich wie die Weisheit Salomos urteilen auch andere jüdisch-hellenistische Schriften, z.B. die Sibyllinischen Orakel,6 —————
4 G. Bornkamm, Die Offenbarung des Zornes Gottes, 1935, in: ders., Das Ende des Gesetzes. GAufs. I, BEvTh 16, München 51966, 9–33, 19. 5 Vgl. den Lasterkatalog in Weish 14,25–26 einerseits und Röm 1,29–31 andererseits. S.a. die Ähnlichkeit in der Formulierung von Weish 14,22 und Röm 1,32. 6 Sib III, 8 ff.; vgl. ferner bes. IV, 29–36 mit Röm 1,23 ff.; III, 604 f. mit Röm 1,28; u.a.
Paulus, die Weisheit und die Philosophie
33
der Aristeasbrief7 oder die Testamente der zwölf Patriarchen.8 Die apologetischen Schriften des Judentums berühren sich ihrerseits mit philosophischem, vor allem mit stoischem Gedankengut. Die Grundlage stellte die klassische griechische Philosophie bereit, besonders Platon. Platon hat die Existenz des Alls auf einen Urheber und die Schönheit der Welt auf dessen künstlerische Gestaltungskraft zurückgeführt.9 Das All ist entstanden; denn es sei sichtbar und fühlbar und habe einen Körper.10 Den Schöpfer und Vater des Alls zu finden, sei freilich schwierig.11 Aber man dürfe doch die Wahrscheinlichkeit aussprechen, dass diese Welt durch Gottes Vorsehung entstanden sei.12 Ein ebenso großartiger wie wichtiger Gedanke ist, dass die Zeit zugleich mit der Welt ins Leben gerufen worden sei.13 Die Welt umfasst alles Sichtbare; sie sei zum Abbild des Schöpfers geworden.14 Dieser Schöpfer ist nun freilich nicht Gott der Schöpfer im Sinne von 1. Mose 1–2; er trägt vielmehr die mythische Gestalt des Demiurgen, des Werkmeisters, und „ist eher als ein pro-physisches Prinzip zu verstehen“15. Im zweiten Buch der Politeia hat Platon die falsche Darstellung Gottes in den Mythen zurückgewiesen16 und zum Postulat erhoben, Gott müsse so dargestellt werden, wie er ist.17 Es wird festgestellt: Gott ist gut; er schadet niemandem.18 Als der Grund
—————
7 Vor allem Arist 132: *+,-. / 0123 45678 9:; ?@ABCD E FGHIJKL MNOPQ RSTUVW XYZ[\]^. S.u. Anm. 36. 8 Vgl. z.B. TestNaph 3,2 f.; ferner aus apokalyptischer Perspektive z.B. TestRub 3,8; TestLev 14,4. 9 Platon, Timaios 28 A. Zu Platons Weltentwurf im Timaios vgl. M. Baltes, Die Weltentstehung des platonischen Timaios nach den antiken Interpreten, Bde. 1–2, Leiden 1976, 1978. 10 Timaios 28 A – 29 A. 11 Ebd. 12 Timaios 29 D – 30 C. 13 Timaios 38 A – 38 D. 14 Timaios 92 B. 15 E. A. Wyller, Plato/Platonismus I, TRE, Bd. 26, 1996, 677–693, 683. 16 Politeia 377 e ff. 17 Politeia 379 a. 18 Politeia 379 b.
34
Biblische Grundlegung
des Guten trägt er keine Schuld am Unglück der Menschen;19 Leid sendet er nur zur Besserung.20 Er ist unwandelbar,21 kennt keine Lüge,22 hasst sie vielmehr23 und ist schlechthin vollkommen.24 Damit ist der Begriff Gottes klar umrissen. Platon hat dadurch im zweiten Buch der Politeia herausgestellt: „Gott trägt das menschliche Weltverhältnis, er übernimmt die fundamentale Aufgabe der Sicherung, die das Endliche aus sich selbst nicht leisten kann.“25 „Der Platonismus kann als gemeinsamer Nenner des geistig so bunten alexandrinischen Milieus zur Zeit der Geburt Christi gelten.“26 An Philo von Alexandrien27 lässt sich beispielhaft wahrnehmen, wie Judentum und Hellenismus, Offenbarungsreligion und Philosophie im Gespräch gestanden und miteinander gerungen haben.28 Im Rahmen seiner platonisierenden Schöpfungslehre hat Philo ӓȡĮIJȐ und ȞȠȘIJȐ, die sinnlich wahrnehmbare und die geistige Welt, voneinander unterschieden.29 Gott ist unsichtbar, aber er ist keineswegs unwirksam, sondern wirksam wie die Seele.30 Er ist vor allem und übersteigt alles.31 Er gibt sich zu erkennen durch seine Werke,32 nämlich als Schöpfer und – ähnlich wie in der Stoa – als der das Geschaffene ordnende und erhaltende Regent. —————
19 Politeia 379 c. Vgl. z.St. J. Baur, Plädoyer für Plato, in: ders., Einsicht und
Glaube, Göttingen 1978, 7–9, 8: „Dieses Kriterium … soll das an erlittener Negativität aufbrechende Theodizeeproblem auffangen.“ 20 Politeia 380 b. 21 Politeia 380 d. 22 Politeia 381 e. 23 Politeia 382 c. 24 Politeia 381 b. 25 Baur, a.a.O. (s. Anm. 19), 8. 26 E. A. Wyller, Plato/Platonismus II, TRE, Bd. 26, 1996, 693–702, 694. 27 Als seine Lebenszeit wird „20/13 v.Chr. bis 45 n.Chr. angenommen“ (M. Mach, Philo von Alexandrien, TRE, Bd. 26, 1996, 523–531, 523). 28 Aus der Literatur vgl. vor allem G. Kuhlmann, Theologia naturalis bei Philon und Paulus, NTF I, 7, Gütersloh 1930, 12 ff.; Bornkamm, Offenbarung (s. Anm. 4), 13–17. 29 Vgl. z.B. Philo, SpecLeg I, 20. 30 SpecLeg I, 18 ff.; Op 7 ff.; Post 15. 31 Abr 183. 32 Gemäß dem Theologumenon von der Erkenntnis Gottes durch seine Werke. Aber diese ist für Philo eine partielle Erkenntnis Gottes (s. Mut 9 u.a.).
Paulus, die Weisheit und die Philosophie
35
Von der Stoa,33 gewissermaßen der „Modephilosophie“ im 1. Jahrhundert n.Chr.,34 ist die Vorstellung von der vernunftgeleiteten Erkenntnis Gottes durch seine Werke aufgrund der Betrachtung des Kosmos ausdrücklich vertreten worden.35 Darin ist eine sachliche Berührung und Überschneidung mit dem Denken des hellenistischen Judentums zu sehen: Gott ist unsichtbar, aber aus seinen Werken erkennbar. Diese Erkenntnis Gottes schließt auch in der Popularphilosophie die Verehrung Gottes und einen der Erkenntnis gemäßen sittlichen Lebenswandel ein. Die Verweigerung der Gotteserkenntnis zieht dagegen Götzendienst und Sittenverfall nach sich. Vor diesem Hintergrund hebt sich deutlicher ab, worin die gemeinsamen Voraussetzungen, aber auch die Eigentümlichkeit der Aussage über die Gotteserkenntnis in Röm 1,19–21 bestehen. Zunächst ist festzustellen: Der Glaube, dass Gott ein einziger ist und dass seine Kraft in allem offenbar wird, wie es im Aristeasbrief heißt,36 bildet die alttestamentlich-jüdische Grundlage der Gotteserkenntnis, von der Paulus ausgegangen ist. Mit der griechischen Bibel ging er souverän um.37 Er kannte die jüdischhellenistische Weisheitstradition. Ihm dürften auch platonische und stoische Aussagen über die Gotteserkenntnis vermittelt worden sein,38 denen er bei seiner Missionsarbeit wieder begeg-
—————
33 Gegründet um 300 v.Chr. durch Zenon von Krition in Athen (vgl. P. Steinmetz, Die Stoa. Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. IV: Die Philosophie der Antike, hg. v. H. Flashar, Basel 1994, 495 ff.). 34 Vgl. K. Bormann, Stoa/Stoizismus/Neustoizismus I, TRE, Bd. 32, 2001, 179– 190, 179. 35 Vgl. z.B. Ps.-Aristoteles, De mundo 399 a-b. Eine Fülle weiterer Belege bei E. Norden, Agnostos Theos, (1913) Darmstadt 1956, 24 ff.; Bornkamm, Offenbarung (s. Anm. 4), 13 ff.; G. Strecker/U. Schnelle (Hg.), Neuer Wettstein, Bd. II, 1, Berlin 1996, 13 ff. 36 Arist 132; zitiert o. Anm. 7. 37 Vgl. M. Hengel, Der vorchristliche Paulus, in: ders., Paulus und Jakobus, KS III, Tübingen 2002, 68-192, 130. 38 Tarsus, der Geburtsort des Paulus (Apg 21,39; 22,3), war eine „geistige Metropole“ (Hengel, a.a.O., 71 ff.) und für gute griechische Bildung bekannt. Im Lehrhaus Gamaliels I. in Jerusalem, wo Paulus „im väterlichen Gesetz“ unterwiesen wurde (Apg 22,3), gab es eine griechische Bibliothek und vielfältige Möglichkeiten der Weiterbildung.
36
Biblische Grundlegung
net sein könnte.39 Aber ein direkter Bezug zum Platonismus und zur Stoa ist in Röm 1,19–21 nicht gegeben.40 In Anbetracht der Gemeinsamkeiten ist es höchst bemerkenswert, wie Paulus die Frage der Gotteserkenntnis behandelt. Er bewertet die „natürliche“ Gotteserkenntnis nämlich fundamental anders als die jüdische Weisheitstradition und hellenistische Popularphilosophie. Der Unterschied beruht auf dem Evangelium und zeigt sich im Denkansatz sowie in der Aussageintention. Die jüdische Weisheitstradition geht davon aus, dass die Menschen, die Gott aus seinen Werken zu erkennen suchen, den richtigen Weg eingeschlagen haben. Aber offenbar sind sie vom Weg abgekommen und endeten in der Kreaturvergötterung. Dieser fatale Irrtum kann nur durch die Rückkehr zur weisheitlichen Gotteserkenntnis korrigiert werden. Dazu den Weg wieder freizumachen, davon lässt sich die Weisheitstradition leiten. Die stoische Philosophie, mag sie den Denkansatz Platons aufgenommen haben oder nicht, wendet ein Rückschlussverfahren an: Durch die Betrachtung des Kosmos wird auf dessen Urheber geschlossen. Die sich daraus ergebende vernunftgemäße Gotteserkenntnis wird in die bedrängenden Fragen nach dem Sinn und Glück des Lebens eingebracht und wirkt sich sinn- und ordnungsstiftend aus. Während die jüdische Weisheit und die hellenistische Popularphilosophie in der „natürlichen“ Gotteserkenntnis eine Möglichkeit sehen, der Bestimmung des Menschen gerecht zu werden und sie mit Hilfe der Gotteserkenntnis erlangen zu können, bestreitet Paulus diese Möglichkeit radikal. Doch hier muss man genau hinsehen und differenzieren: Paulus bestreitet keineswegs die Gotteserkenntnis als solche; er geht im Unterschied zur Weisheit und Philosphie von ihr nicht nur als einer Möglichkeit, sondern vielmehr als einer Tatsächlichkeit aus, und darin liegt der Grund, weswegen alle Menschen vor Gott schuldig sind. Neben diesem Unterschied gibt es einen weiteren, der nicht —————
39 Vgl. Apg 17,18 und z.St. J. Jervell, Die Apostelgeschichte, KEK III, Göttingen 1998, 440-456, bes. 443 f. 40 Vgl. M. Pohlenz, Paulus und die Stoa, ZNW 42 (1949), 69–104, bes. 96; zustimmend aufgenommen von G. Eichholz, Die Theologie des Paulus im Umriss, Neukirchen 21977, 79 f. S.a. A. Scriba, Religionsgeschichte des Urchristentums, TRE, Bd. 28, 1997, 604–618, 607 f.
Paulus, die Weisheit und die Philosophie
37
weniger beträchtlich ist: Paulus sieht in der „natürlichen“ Gotteserkenntnis eine immer schon verwirkte Gotteserkenntnis. Sie ist kein Weg, auf dem Menschen zu Gott zurückfinden könnten. Die Scheidung zwischen Gott und Mensch ist irreversibel vollzogen. Alle Menschen stehen unter dem Zorn Gottes, der sich als Fluch an ihren Leibern und in ihren Beziehungen auswirkt. Deshalb ist es eine Illusion, durch Religiosität, Weisheit oder Philosophie die Beziehung zu Gott wiederherstellen und gestalten zu wollen. Die Relation Gott – Mensch ist irreparabel zerstört, und die Schuld dafür liegt beim Menschen. Diese Einsicht verdankt Paulus der Perspektive, die das Evangelium auf die Verlorenheit aller Menschen vor Gott eröffnet. Paulus bleibt unverstanden, wenn man nicht wahrnimmt, dass er beides zugleich, die uneingeschränkte Erkennbarkeit Gottes und die völlige Unkenntnis Gottes, vertreten hat. Auf der einen Seite unterstreicht er die Wirklichkeit der Gotteserkenntnis mit Nachdruck. Auf der anderen Seite stellt er die totale Unkenntnis Gottes heraus, die in falscher Religion, nämlich in Kreaturvergötterung, in Selbstentehrung und Sittenverfall ihren Niederschlag findet. Es ist deshalb im Ansatz falsch, den einen Aspekt gegen den anderen auszuspielen, als wolle Paulus die Heilsoffenbarung Gottes im Evangelium von Jesus Christus durch die „natürliche“ Gotteserkenntnis ergänzen oder in irgendeiner Weise limitieren. Dadurch ist Röm 1,19–21 den schlimmsten Missdeutungen ausgesetzt worden.41 Der Duktus der Argumentation des Paulus im ersten Teil des Römerbriefes ist eindeutig. Es muss hier in Erinnerung gerufen werden: Paulus geht von der Perspektive aus, die das Evangelium eröffnet, und deckt schonungslos auf, dass alle, Heiden und Juden, unter dem Zorn Gottes stehen, der sich in der gegenwärtigen Existenz als Fluchmacht pervertierend, entehrend und zerstörend auswirkt und im Endgericht den ewigen Tod einbringt. Auch die Aussageintention des ersten Teils des Römerbriefes ist völlig klar, nämlich unmissverständlich herauszustellen, dass niemand vor Gott bestehen kann, sondern dass alle Menschen verloren sind. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit des aus der Verlorenheit rettenden Evangeliums. —————
41 Mit A. Nygren, Der Römerbrief, Göttingen 41965, 78 ff.
38
Biblische Grundlegung
Es ist nicht Bestandteil der Verkündigung des Evangeliums selbst, aber sehr wohl der vom Evangelium freigesetzten und ihr zugeordneten Umkehrpredigt, die Erkenntnis Gottes aus den Werken bei allen Menschen ohne jede Einschränkung vorauszusetzen, aber zugleich die unentschuldbare Verfehlung anzusprechen, die in der Verkehrung des Glaubens an den einen Schöpfer in Kreaturvergötterung besteht. Es ist unmöglich, das Evangelium zu verkündigen, ohne darauf zu sprechen zu kommen, dass die Menschen die Wahrheit Gottes durch Ungerechtigkeit niederhalten (1,18 b). Jesus war kein Bußprediger, er brachte die Königsherrrschaft Gottes, als die Zeit erfüllt war (Mk 1,15 Par.). Aber er setzte das Wirken Johannes des Täufers und das Todesurteil, das in der Taufe ausgesprochen wurde, unabdingbar voraus (Mk 1,2 ff.; 11,30 ff.).42 In sachlicher Entsprechung dazu war auch Paulus kein Bußprediger, sondern er war „Knecht Jesu Christi, berufen zum Apostel, ausgesondert zur Verkündigung des Evangelium Gottes“ (Röm 1,1). Aber die Verkündigung des Evangeliums war bezogen auf die Umkehrpredigt, die die Bekehrung von den Abgöttern zu Gott einschloss, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen (1. Thess 1,9). Der Glaube an das Evangelium gibt Anteil an Gottes heilschaffender Gerechtigkeit und schließt die Abkehr von Abgötterei und Ungerechtigkeit mit Notwendigkeit ein. Deshalb führt Paulus nach der Nennung des Evangeliums als des Briefthemas (Röm 1,16–17) aus, was der Glaube an das Evangelium voraussetzt und einschließt, nämlich die Aufdeckung sowie die Abwendung von Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit (1,18–3,20), bevor er die Rechtfertigung allein durch den Glauben entfaltet (3,21 ff.). Aus dem Vergleich mit der jüdisch-hellenistischen Weisheit und der griechischen Popularphilosophie wird außerdem auch der Unterschied in der Redeweise präziser bestimmbar. Während die jüdische Weisheit apologetisch redet und die stoische Philosophie mit einer auf Sinnstiftung ausgerichteten Didaktik argumentiert, redet Paulus im apokalyptischen Offenbarungsstil.43 —————
42 Vgl. dazu J. Schniewind, Was verstand Jesus unter Umkehr?, in: ders., Die Freude der Buße, hg. v. E. Kähler, KlVR 32, Göttingen 21960, 19–33, 25 f. 43 Mit O. Michel, Der Brief an die Römer, KEK IV, Göttingen 51978, 98.
Paulus, die Weisheit und die Philosophie
39
Der Unterschied besteht nicht in einem oberflächlichen Verständnis des Missionarischen, denn auch die Weisheit war missionarisch, und die Popularphilosophie warb selbstverständlich um Zustimmung. Der Unterschied ist vielmehr durch den Inhalt bedingt und besteht darin, dass für Paulus verwirkt ist, was die Weisheit und Philosophie als Möglichkeit ansehen, und dass wiederum durch das Evangelium Wirklichkeit geworden ist, was die Weisheit und Philosophie nicht als Möglichkeit in Betracht ziehen konnten: Gottes Gerechtigkeit ist im Evangelium offenbar geworden, und zwar als heilschaffende Wirklichkeit, die jetzt im Glauben erfassbar ist und im Endgericht freispricht. Das bezeugt Paulus nun freilich nicht als Weisheitslehrer oder als Philosoph, sondern als Apostel. Es ist nicht sein Evangelium, das er verkündigt, sondern das „Evangelium Gottes“ (Röm 1,1). Mit dem Genitivus auctoris wird hervorgehoben: Gott ist der Urheber des Evangeliums. Paulus verkündigt das Evangelium als berufener Apostel im Dienst des Christus Jesus. Aber das Evangelium stammt nicht von ihm. Es ist Gottes Heilssetzung und dessen eigenes Wort, durch das er spricht und handelt. Die Aussagen über die Erkennbarkeit Gottes einerseits und über die Verwirktheit der Gotteserkenntnis andererseits beruhen also nicht auf einem Urteil, das sich Paulus ausgedacht oder gar aus seiner Erfahrung abgeleitet hat. Vielmehr ist dieses Urteil Gottes Urteil. Es ist Paulus vorgegeben, wie ihm das Evangelium vorgegeben ist. Der Apostel verkündigt es als Gottes Wort und Urteil und tritt mit seiner Existenz für die Wahrheit und Gültigkeit des Urteils über die Gotteserkenntnis ein. Aber er kann die Wahrheit dieses Urteils nicht verbürgen. Das tut Gott selbst, in dessen Dienst er steht. Er tut es dadurch, dass er in dem Wort und durch das Wort, das sich zu einem Urteil verdichtet hat, wirksam ist.44
—————
44 Vgl. Jes 55,11; Eph 6,17 und bes. Hebr 4,12.
Stationen der Auslegung1
Augustin Cognoscam te, cognitor meus, cognoscam, sicut et cognitus sum.2 Mit diesen Worten beginnt Augustin das X. Buch der Confessiones. Gott zu erkennen, nicht als Mittel zu einem Zweck, als wenn es einen solchen geben könnte, sondern vielmehr Gott selbst zu erkennen, ihm zu danken, ihn zu lieben, zu loben und zu preisen, das ist der Impetus, von dem Augustin durchdrungen war. Als Augustin 397 die Confessiones zu schreiben begann, war er seit etwa einem Jahr Bischof in Hippo Regius (Nordafrika).3 Bei der Niederschrift des X. Buches lag seine im Buch VIII geschilderte Bekehrung im August 3864 bereits eineinhalb Jahrzehnte zurück. Zwar folgte er auch auf der Höhe seines Wirkens dem Schriftwort „suchet, so werdet ihr finden“ (Mt 7,7),5 aber er suchte als einer, der gefunden hatte. Seine durch vertiefende Lektüre der Paulusbriefe entstandene Gnadenlehre war zu Be————— 1 Ich greife einzelne Theologen als Repräsentanten ihrer Zeit heraus und konzentriere mich auf einschlägige Schriften, die die Perspektive auf das Gesamtwerk sowie ihre Epoche eröffnen. Ausschließlich auslegungsgeschichtliche Studien haben zweifellos ihre Berechtigung (vgl. z.B. M. Lackmann, Vom Geheimnis der Schöpfung. Die Geschichte der Exegese von Röm I, 18–23, II, 14–16 und Acta XIV, 15– 17, XVII, 22–29 vom 2. Jahrhundert bis zum Beginn der Orthodoxie, Stuttgart 1952). Eine solche vorzulegen, liegt aber nicht in meiner Absicht. 2 Conf. X, 1; CChr.SL, Bd. 27, Turnhout 21996, 155, 1 f. Alle Zitate aus den Conf. sind dieser Ausgabe entnommen. Angegeben wird in den folgenden Zitaten nur die S. und Z. – Übers.: „Ich will dich erkennen, der du mich kennst; ich will erkennen, wie auch ich erkannt bin (1. Kor 13,12).“ 3 Vgl. F. van der Meer, Augustinus der Seelsorger, Köln 1951, 40 ff.; P. Brown, Augustinus von Hippo, München 2000, 163 ff.; G. Bonner, Augustinus, uita, AL, Bd. I, 1990, 519– 550 (Lit.), 538 ff.; J. Rexer/V. H. Drecoll, Vita, in: AHb, 2007, 42 ff. 4 Nach A. Schindler, Augustin/Augustinismus I, TRE, Bd. 4, 1979, 646-698, 650. 5 Diese Stelle ist das erste Bibelzitat in Augustins Schriften (Contra Academicos II, 3, 9); s. Schindler, a.a.O., 664.
Augustin
41
ginn des Episkopats bereits ausgebildet;6 auch die Gotteslehre und Christologie lagen bei der Arbeit an den Confessiones7 in den Grundzügen schon vor. Während Augustin, geboren 354, in den Büchern I-IX Stationen seines Lebens und seines intellektuellen Werdeganges von der Kindheit bis zum Tod seiner Mutter in Ostia 387 schildert, legt er in Buch X Rechenschaft über den Stand seines Christseins ab, das er als Bischof um 400 erreicht hat. Von Buch X sollte die Interpretation daher ausgehen.8 Es folgen noch drei Bücher, in denen er um das Verständnis der Heiligen Schrift ringt und Gen 1 auslegt. Augustin verwendet reichlich autobiographisches Material, aber die Confessiones sind keine Autobiographie.9 Vielmehr stellt Augustin wichtige Stationen seines Lebens sowie seiner intellektuellen und inneren Entwicklung in das Licht, das von Gott und seinem Wort ausgeht, um schlaglichtartig zu erhellen, wer Gott ist, und an sich selbst zur Anschauung zu bringen, was Gottes Gnade zu bewirken vermag. Das Buch X besteht aus zwei größeren thematischen Einheiten, deren erste der Vertiefung der Gotteserkenntnis gewidmet ist. Augustin versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, was er liebt, wenn er Gott liebt.10 Im Zusammenhang damit untersucht er die memoria; denn Gott hat im Gedächtnis „Spuren“ hinterlassen. In der zweiten größeren Einheit des Buches behandelt Augustin die Versuchbarkeit des Menschen. Aufschlussreich für die Frage der Erkennbarkeit Gottes und zugleich für Augustins Theologieverständnis ist die folgende —————
6 Sie liegt vor in Ad Simplicianum de diuersis quaestionibus, um 396; vgl. Retractationes II, 1, 1, 426/27. Zur Entwicklung der Gnadenlehre vgl. V. H. Drecoll, Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins, BHTh 109, Tübingen 1999. 7 Zum Stand der Forschung vgl. E. Feldmann, Confessiones, AL I, 1994, 1134– 1193; P. Frederiksen, Die Confessiones, in: AHb 294–309. Vgl. vor allem J.J. O´Donnell, Augustine. Confessions, 3 Bd., Oxford 1992; A. Kotzé, Augustine´s Confessions, Leiden 2004; C. Mayer (Hg.), Die Confessionen des Augustinus von Hippo, Freiburg/Br. 2005. 8 Mit E. Wolf, Zur Frage nach der Eigenart von Augustins Confessiones, CuW 4 (1928), 97–120. 158–185, 106. 9 Formal stellen die Conf. nach dem Vorbild von Ciceros Hortensius „eine protreptische Schrift dar“ (Feldmann, AL I, 1167 u.ö.); inhaltlich sind sie eine Schrift sui generis. 10 Conf. X, 8; 159, 7: Quid autem amo, cum te amo?
42
Stationen der Auslegung
Stelle: Non dubia, sed certa conscientia, domine, amo te. Percussisti cor meum uerbo tuo, et amaui te. Sed et caelum et terra et omnia, quae in eis sunt, ecce undique mihi dicunt, ut te amem, nec cessant dicere omnibus, ‚ut sint inexcusabiles‘.11 „Ohne Zweifel, vielmehr klar und ganz gewiß – Herr, ich liebe dich. Mit deinem Wort hast du mein Herz getroffen, und ich habe dich lieb. Aber auch Himmel und Erde und alles, was in ihnen ist, sagt von allen Seiten zu mir, dass ich dich lieben soll, und hört nicht auf, es allen zu sagen, ‚so dass sie unentschuldbar sind‘.“ Zunächst ist hervorzuheben: Augustins theologische Gedanken werden aus der Anrede Gottes an ihn von ihm wiederum als Anrede an Gott entfaltet. Er denkt nicht darüber nach, wie Paulus, dessen Schlusswendung aus Röm 1,20 er anführt, zur Zeit der Abfassung des Römerbriefes über Gott gedacht hat, sondern wie er, von Gottes Wort in seinem Herzen getroffen, darauf zu antworten hat. Für die theologiegeschichtliche Fragestellung zeigt er keinerlei Interesse. Wenn sie zu behandeln ist, und das ist sie durchaus, dann jedenfalls an nachgeordneter Stelle. An erster Stelle steht die Grundrelation Gott – Mensch: Augustin betreibt Theologie coram Deo. Das Sein vor Gott ist die Relation, durch die der Mensch im Zentrum seiner Person bestimmt ist. Der Mensch stellt diese Relation nicht her, sondern er steht in ihr – a priori, unaufhebbar, auch wenn er sich von Gott abgekehrt hat. Die Abkehr bringt allerdings falsche Vorstellungen über Gott hervor. Die Umkehr, die darauf beruht, dass Gott das menschliche Herz mit seinem Wort getroffen hat, führt dagegen zu Gedanken und Urteilen über Gott, die seiner Anrede entsprechen. Darin liegt der Ursprung der Theologie Augustins. Dominus steht im Vokativ: Augustin redet den „Herrn“ an – nicht im „Kämmerlein“ (Mt 6,6), sondern in einem zur Lektüre bestimmten Buch. Dadurch bekommt der Gebetsanruf den Charakter eines öffentlichen Bekenntnisses, das Augustin theologisch zu verantworten und für das er gegebenenfalls mit seiner ganzen Existenz einzutreten bereit ist. Angerufen wird der Do-
————— 11
Conf. X, 8; 158, 1–4.
Augustin
43
minus Deus des ersten Gebotes (2. Mose 20,2).12 Die Verwendung dieser Gottesprädikation impliziert bei Augustin zur Zeit der Abfassung der Confessiones und in der Folgezeit: Der Angerufene ist – im Gegensatz zu den heidnischen Göttern der Spätantike und in Abgrenzung gegen die manichäische Auffassung – der eine Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat und der sich durch Jesus Christus im Heiligen Geist erschließt, indem er durch sein Wort redet. Vorzugsweise gebraucht Augustin die Gottesprädikation dominus für Christus,13 der im Neuen Testament den Kyriostitel trägt (s. z.B. 1. Kor 8,6; Phil 2,11). Gegen den Arianer Maximin hebt Augustin ausdrücklich hervor, dass Gott Vater, Gott Sohn und der Heilige Geist nicht duo bzw. tres domini sind, sondern dass er „ein Herr“ (dominus unus) ist.14 „Herr, ich liebe15 dich“, bekennt Augustin. Die Liebe zu Gott ist nicht in das Belieben des Menschen gestellt, sondern beruht auf einem apodiktischen Gebot (5. Mose 6,4; Mk 12,28 ff. Par.). Fehlt diese Liebe, dann fehlt das Entscheidende. Dieses Fehlen kann durch nichts kompensiert werden. Durch es wird alles im Menschenleben unter ein falsches Vorzeichen gestellt. Unter dieser Voraussetzung wird aus dem Streben nach Gotteserkenntnis dann der Versuch, sich Gottes zu bemächtigen. Aber das ist ein von vornherein zum Scheitern verurteilter Versuch. Der Gottsucher Augustin kannte die Vergeblichkeit dieses Anrennens. Doch diese Vergeblichkeit betrachtet er in den Confessiones bereits aus der Perspektive des Glaubens und der Liebe. Denn er hat von Paulus gelernt, dass die Liebe Gottes nicht aus dem Herzen des sündigen Menschen erwächst, sondern dass sie die Gabe des Geistes Gottes ist.16 Die Erkenntnis Gottes hat den Glauben und die Liebe zur unabdingbaren Voraussetzung. Deshalb schließt der Vollzug der Gotteserkenntnis die Existen————— 12 In seinem Gesamtwerk gebraucht Augustin dominus „über 26600mal“, und zwar „zu über 95 % als Gottesprädikation“ (T. Fuhrer, Dominus, AL, Bd. II, 1999, 592–597, 592). 13 Vgl. B. Studer, Spätantike lateinische Übertragungen griechischer christlicher Texte und Themen, SSPh 9 (1971), 179–195, 193. 14 Contra Maximinum Arrianum II, 23, 1–3; zitiert bei Fuhrer, AL II, 593 f., Anm. 7. 15 Zu amare, in dem Zitat zweimal gebraucht, vgl. D. Diderberg, Amor, AL, Bd. I, 1986, 294 ff. 16 Expositio (zu Röm 5,3); CSEL 84, 10: donum spiritus.
44
Stationen der Auslegung
zumwandlung des Menschen ein. Es beruht auf Gottes Gnade, dass er sich dem Glaubenden in der Liebe zu erkennen gibt, so dass aus dem alten Menschen ein neuer Mensch wird. Ein Indiz für den Empfang der Gnade und Gabe Gottes ist das Bekenntnis „Herr, ich liebe dich!“ Nach dem Bekenntnis der Liebe zu Gott, der mit seinem Wort das Herz getroffen hat, spricht Augustin die Erkennbarkeit Gottes aus den Werken an. Er stellt mit Paulus fest, diese bestehe und bleibe bestehen, so dass die Menschen „unentschuldbar sind“ (Röm 1,20). Mit Bezugnahme auf Röm 1,20 ff. argumentiert Augustin auch an vielen anderen Stellen.17 Gegen die Manichäer, also auch gegen den, der er selbst war, wendet er ein, sie würden den Weg nicht kennen, nämlich Christus (Joh 14,6), und somit nicht das Wort, durch das Gott geschaffen habe (Joh 1,1.3).18 Gleichwohl hielten sie sich für leuchtende Sterne; aber sie seien herabgestürzt auf die Erde, und ihr törichtes Herz sei verfinstert (Röm 1,21). Sie ehrten Gott nicht als Gott noch dankten sie ihm.19 In Buch VII sagt er über die Neuplatoniker, denen er bei der Überwindung des Manichäismus viel verdankt, dass sie Gott wohl erkennten, aber sie verherrlichten ihn nicht als Gott noch sagten sie ihm Dank, sondern ihre Gedanken gingen in Nichtigkeit auf.20 Auch bei ihnen habe er die Vertauschung des unvergänglichen Wesens Gottes in idola gefunden.21 Doch auch er selbst habe Gott nicht verherrlicht noch ihm gedankt, sondern sei dem „Weisheitsstolz“ verfallen gewesen.22 Augustin kommt zu dem Schluss: Die Menschen vermögen wohl nach Gott zu fragen, wenn sie ihn an dem Geschaffenen wahrnehmen, aber die————— 17 Vgl. außer der o. in Anm. 11 angeführten Stelle: Conf. V, 5; 59, 47 ff. – Conf. V, 7; 60, 3–6. – Conf. VII, 14; 102, 45–48. – Conf. VII, 16; 104, 24–27. – Conf. VII, 23; 107, 28 f. – Conf. VII, 26; 109, 36 ff. – Conf. VIII, 2; 114, 41–43. – Conf. X, 10; 160, 47–50. – Conf. XIII, 31; 259, 58 f. – Conf. XIII, 32; 260, 17 ff. – Zu Röm 1,18–25 bei Augustin vgl. G. Madec, Connaissance de Dieu et action de grâces, RechAug 2 (1962), 273–309, bes. 293 ff. 18 Conf. V, 5; 59, 39 ff. 19 Conf. V, 5; 59, 46 f. 49 ff. 20 Conf. VII, 14; 102, 45–48. 21 Conf. VII, 15; 102, 49 ff. 22 Conf. VIII, 2; 114, 41–43.
Augustin
45
sem sind sie in ihrer Liebe so verfallen, dass sie nicht richtig zu urteilen vermögen.23 Zur Vertiefung des Verständnisses sind nun noch andere Quellen heranzuziehen. Aus Augustins Gotteslehre, deren Fülle an Anregungen einzigartig ist, in deren offenkundiger Anlage zu gewagten Gedankenflügen aber auch etwas mitreißend Verführerisches liegt, muss eine Distinktion besonders hervorgehoben werden; denn sie ist für die Frage nach der Erkennbarkeit Gottes konstitutiv. Das ist der Wesensunterschied zwischen Geschaffenem und Ungeschaffenem, zwischen den Geschöpfen und dem einen Schöpfer. Gott ist „der Gründer des Weltalls“24, „der Schöpfer aller Dinge“25. Durch ihn sind alle Dinge, „die von sich aus nicht sein könnten“26. Denn „er hat diese Welt aus nichts erschaffen“27. Durch ihn ist „das Weltall auch in seinem düsteren Teil vollkommen“28. Diese Zitate, die sich leicht vermehren ließen, da sie sich im gesamten Werk finden, belegen die immense Bedeutung, die der Schöpfungsgedanke für die Theologie Augustins hat. Er beruht letztlich nicht auf philosophischer Überlieferung, sondern auf dem biblischen Zeugnis von der Schöpfung, vor allem auf Gen 1 und den Psalmen.29 Die gedankliche Erfassung und begriffliche Entfaltung des qualitativen und nicht etwa nur quantitativen, genauer, des ontologischen Unterschiedes zwischen Geschaffenem und Schaffendem, zwischen Veränderlichem und Unveränderlichem, zwischen der Gesamtheit der Geschöpfe und dem einen Schöpfer, ist zum Verständnis und der Interpretation Augustins grundlegend. Ohne den Nachvollzug dieser Distinktion kann er nicht verstanden werden. —————
23 Conf. X, 10; 160, 47–50: …, sed amore subduntur eis et subditi iudicare non possunt. 24 Soliloquia I, 2: Deus, universitatis conditor … Die „Selbstgespräche“ sind nach der Bekehrung im Herbst 386 in Cassiciacum (nördlich von Mailand) entstanden (vgl. G. J. P. O’Daly, Cassiciacum, AL, Bd. I, 1992, 771-781). 25 Conf. I, 10; 9, 1 f.: creator rerum omnium … Diese formelhafte Wendung begegnet sehr häufig. Vgl. dazu C. Mayer, Creatio, creator, creatura, AL, Bd. II, 1996, 56–116. 26 Solil. I, 2: Deus, per quem omnia, quae per se non essent. S.a. Conf. I, 2; 1, 6 f. 27 Solil. I, 2: Deus, qui de nihilo mundum istum creasti. Vgl. Mayer, AL II, 78 f. 28 Solil. I, 2: Deus, per quem universitas etiam cum sinistra parte perfecta est. 29 Vgl. Mayer, AL II, 57 f. u. 61. S.a. Frederiksen, AHb (s. Anm. 7), 308: „Der Gott Augustins ist trotz aller neuplatonischen Züge am Ende doch der Gott der Bibel.“
46
Stationen der Auslegung
Augustin entfaltet den Wesensunterschied zwischen Geschaffenem und dem einen Schaffenden gemäß dem ontologischen Schema mutabile – immutabile:30 Kennzeichen der Geschöpfe, der großen wie der kleinen, des Kosmos wie der Infusorien, ist die Veränderlichkeit; Kennzeichen des Schöpfers, und zwar des Schöpfers allein, ist die Unveränderlichkeit. Gott ist „der Unwandelbare, der alles verwandelt“31. „Nie bist du neu“, redet Augustin Gott an, „nie bist du alt – und doch erneuerst du alles.“32 „Immer bist du der Wirkende“, aber ebenso gilt: „immer bist du der Ruhende.“33 Aus der Unterscheidung zwischen Geschaffenem und Ungeschaffenem, zwischen den Geschöpfen und dem Schöpfer ergibt sich die Näherbestimmung Gottes des Schöpfers sowie die Näherbestimmung der Schöpfung, besonders des Menschen. Zunächst die Näherbestimmung Gottes des Schöpfers: Gott ist als der Unwandelbare, der alles verwandelt, der Eine, der – im vollen und zugleich exklusiven Sinn – ist,34 also „das Sein selbst“35. Daraus erklärt es sich wiederum, dass die „Eigenschaften“ Gottes wie seine Ewigkeit, Allmacht, Allgegenwart, Allwissenheit und Unräumlichkeit nicht bloße Akzidentien sind, sondern sein Sein und Wesen selbst.36 Zur Verdeutlichung diene der Begriff der Allgegenwart. Wenn Augustin diesen Begriff erläutert, pflegt er auf Jer 23,24 zurückzugreifen: „Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt?, spricht der HERR.“ In einem Brief führt Augustin dazu aus, Gott erfülle alles so, dass er nicht eine Eigenschaftlichkeit der Welt sei, sondern vielmehr das in sich bestehende Schöpferische im Verhältnis zur Welt, diese ohne Mühe leitend und ohne —————
30 Vgl. Mayer, AL II, 67 f. mit Anm. 95. 31 Conf. I, 4; 2, 5 f.: immutabilis, mutans omnia. 32 Conf. I, 4; 2, 6 f.: numquam nouus, numquam uetus, innouans omnia … 33 Conf. I, 4; 2, 7.: semper agens, semper quietus. 34 Vgl. Conf. VII, 17; ferner Conf. XII, 7; 220, 13 f.: Tu eras et aliud nihil, unde
fecisti caelum et terram. „Du (allein) ‚warst‘, und sonst nichts. Und daraus (sc. aus dem Nichts, das nicht ein Etwas, sondern eben das Nichts war) hast du Himmel und Erde geschaffen.“ 35 Enarrationes in Psalmos 121,5: quid est idipsum? Quod semper eodem modo est … qui … dixit … ‚ego sum qui sum‘ (Ex 3,14). Vgl. z.St. Mayer, AL II, 69, Anm. 99. 36 Vgl. Schindler, Augustin (s. Anm. 4), 685.
Augustin
47
Last zusammenhaltend.37 In einem anderen Brief heißt es, er wisse überall ganz zu sein und von keinem Ort umfasst zu werden; er wisse zu kommen, ohne von dort wegzugehen, wo er war, und er wisse sich zu entfernen, ohne dass er das verlassen müsse, wohin er gekommen war.38 Der Schöpfer, selbst ohne Anfang und Ende, hat – nicht aus Zufall, sondern mit Willen,39 nicht aus Nötigung oder gar Zwang, sondern in unbedingter Freiheit40 – einen Anfang gesetzt und alles, was ist, durch sein Wort aus dem Nichtsein ins Dasein gerufen (s. 1. Mose 1,1). Alles, was ist, ist kreatürlich, es sei unermesslich groß oder winzig klein, das heißt es ist endlich und begrenzt, existiert in der Zeit und auf Zeit hin.41 Gott, der vor der Zeit war und nach ihr sein wird, ist jeder Zeit gleichzeitig, jedoch nicht im Sinn einer ins Überdimensionale gesteigerten Kreatur, sondern gottheitlich als der eine Schöpfer und Erhalter. Aus der Näherbestimmung Gottes des Schöpfers ergibt sich für die Näherbestimmung der Schöpfung,42 dass der ganze Kosmos weder aus sich selbst hervorgegangen ist noch aus sich selbst besteht. Er trägt seinen Sinn und sein Ziel nicht in sich selbst, sondern vielmehr in dem, der ihn geschaffen hat und erhält, bis er ihm in derselben Souveränität ein Ende setzt, in der er ihm einen Anfang gesetzt hat. Schließlich wird auch der Mensch durch die Unterscheidung zwischen Geschaffenem und Ungeschaffenem näher bestimmt. Er ist von Gott gesetzt und Geschöpf wie alle anderen Geschöpfe. Er unterscheidet sich von allen anderen Kreaturen dadurch, dass er in seinem Sein, also vor allem Tun, auf den Schöpfer bezogen und ihm persönlich verantwortlich ist. Denn der Mensch ist zum Bild Gottes geschaffen und von ihm angespro—————
37 Ep. 187, 4, 14 ff. 38 Ep. 137, 2, 4 f. 39 Nach Conf. XI, 10; 200, 8–10 ist Gottes Wille vor jedem Geschöpf, weil nicht
das Geringste erschaffen würde, ginge nicht der Wille des Schöpfers voraus. So gehört sein Wille zu seinem Wesen. S.a. De Genesi aduersus Manicheos I, 2, 4. 40 Vgl. Mayer, AL II, 75. 41 Zum Verständnis der Zeit vgl. Conf. XI, 13 ff. und dazu K. Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones, Frankfurt/M. 1993. 42 Mit der Schöpfungslehre hat Augustin an die Patristik vor ihm angeknüpft (vgl. G. May, Schöpfer/Schöpfung V, TRE, Bd. 30, 1999, 296–299 (Lit.), bes. 298) und die Folgezeit, inzwischen nahezu 1600 Jahre, maßgeblich mitbestimmt.
48
Stationen der Auslegung
chen worden (1. Mose 1,27 f.). Die Relation zu Gott steht an erster Stelle und entscheidet über Sein oder Nichtsein. Alle anderen Beziehungen, in denen der Mensch sein Leben führt, werden von der Relation zu Gott umfasst. Dadurch werden sie nicht entwertet, aber begrenzt. In den Confessiones hat Augustin exemplarisch an sich selbst zur Darstellung gebracht, was es heißt, den Schöpfer zu vergessen und etwas anderes als Gott an die erste Stelle zu setzen. Es heißt: dem Geschöpflichen in gottabgewandter Liebe zu verfallen.43 Gott beantwortet die Vertauschung, in der sich die „Hauptsünde“44 des Menschen, seine Abkehr von Gott, Ausdruck verschafft, damit, dass er jeden missgeordneten Geist sich selbst zur Strafe werden lässt.45 Wer kann das Elend ermessen, das daraus erwächst? Der Zusammenhang von peccatum und poena ist Augustin aus Röm 1,18 ff. vertraut. Die Wahrheit dieses Wortes spiegelt sich in seinem eigenen Lebensweg wider. Augustin „(lässt) sich selbst durch den Apostel interpretieren“46. Versucht man zusammenzufassen, ist festzuhalten: Augustin vertritt die Erkennbarkeit Gottes. Er vertritt sie ohne Einschränkung auch in der Zeit nach den Confessiones.47 Augustin hat wie Paulus die Erkennbarkeit Gottes des Schöpfers gelehrt, die Unentschuldbarkeit des Menschen sowie die Unkenntnis Gottes, die aus dem Abfall von Gott hervorgeht und zum Verfall an das Geschöpfliche und Nichtige führt. Die Vertauschung der Liebe zu Gott dem Schöpfer durch die Liebe zu Geschöpflichem verstellt den Zugang zur Erkenntnis Gottes.48
—————
43 Vgl. Conf. II, 3; 20, 24–26: … in qua te iste mundus oblitus est creatorem suum et creaturam pro te amauit … Ferner Conf. II, 6; 24, 44 f.: Ita fornicatur anima, cum auertitur abs te et quaerit extra te ea quae pura et liquida non inuenit, nisi cum redit ad te. 44 Expositio (zu Röm 1,21); CSEL 84, 4: caput … peccati (s.o. S. 19, Anm. 45). 45 Conf. I, 12; 11, 14 f.: Iussisti enim et sic est, ut poena sua sibi sit omnis inordinatus animus. 46 W. Elert, Augustin als Lehrer der Christenheit, 1954, in: ders., Ein Lehrer der Kirche, hg. v. M. Keller-Hüschemenger, Berlin/Hamburg 1967, 174–183, 177. 47 Vgl. z.B. In Iohannis euangelium tractatus 106,4 und dazu R. Lorenz, Gnade und Erkenntnis bei Augustinus, in: C. Andresen (Hg.), Zum Augustin-Gespräch der Gegenwart II, WdF 327, Darmstadt 1981, 43–125, 70. 48 Vgl. bes. Conf. X, 10; 160, 47–50 (zitiert o. Anm. 23).
Augustin
49
Augustins Lehre beruht nicht auf einer detailgenauen Exegese von Röm 1 oder 1. Mose 1, hat er doch Griechisch eher gemieden und Hebräisch nicht gelernt. Daraus lässt sich eine Fülle von Fehlurteilen in seinen Schriften erklären. Aber die res scripturae hat Augustin ohne Zeifel erfasst. Einzigartig ist, mit welcher Offenheit er an seiner eigenen Person die Tiefe der Unkenntnis Gottes und die zahlreichen Irrtümer und Irrwege veranschaulicht hat, in die sich der von Gott abgefallene Mensch verstrickt. „Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade noch viel mächtiger geworden.“ (Röm 5,20) Seit seiner Schrift Ad Simplicianum (um 396) steht für Augustin, den „Lehrer der Gnade“, fest, dass sich der Mensch nicht aus eigener Initiative zu Gott zurückzuwenden vermag. Die Initiative dazu liegt außerhalb des Menschen bei Gott,49 der sich dem Menschen um Christi willen in Gnade zuwendet. Diese Gnade Gottes zu preisen, hat Augustin die Confessiones geschrieben. Bezeichnenderweise beginnen sie bereits mit einem Lobpreis: Magnus es, domine, et laudabilis ualde.50 „Groß bist du, Herr, und hoch zu preisen.“51 Augustin fährt fort: Tu excitas, ut laudare te delectet, quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te.52 „Du selbst reizt an, dass dich zu loben Freude ist; denn zu dir hast du uns geschaffen, und ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in dir.“ Augustin, ein theologischer Autodidakt, ist durch sein an die Heilige Schrift gebundenes Denken zum Kirchenvater und Lehrer der Christenheit geworden. Er gehörte ganz in seine Zeit, die Spätantike, hinein – und überragte sie doch weit. Seine Wirkung reicht von dem mittelalterlichen Augustinismus über die Reformation – in Wittenberg wie in Genf – bis in die Gegenwart hinein. ————— 49 Vgl. P. Frederiksen, Die frühe Paulusexegese, in: AHb, 279–294, 290. 50 Conf. I, 1; 1, 1. Zu dieser Eröffnung vgl. A. v. Harnack, Die Höhepunkte in
Augustins Konfessionen, in: ders., Aus der Friedens- und Kriegsarbeit. Reden und Aufsätze III, Gießen 1916, 69 ff. 51 Übers. v. J. Bernhart, in: Augustinus, Confessiones. Bekenntnisse, München 3 1966, 13. – Gott preisen und loben heißt für Augustin: „in die Wahrheit treten“ (R. Guardini, Anfang. Eine Auslegung der ersten fünf Kapitel von Augustins Bekenntnissen, München 31953, 20). 52 Conf. I, 1; 1, 6 f.
Luther
Die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes
Bei Martin Luther ist die Erkenntnis Gottes untrennbar mit der Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes verbunden. Das geht aus seinem Rückblick auf seine theologischen Anfänge im Selbstzeugnis 1545 hervor, das einen tiefen Einblick in seinen Werdegang gewährt.1 Den beruflichen Rahmen für Luthers theologischen Werdegang bildete der Lehrstuhl der Lectura in Biblia an der Universität Wittenberg, den er von 1512/13 bis zu seinem Lebensende innehatte. Doctor in bibliis seit Oktober 1512,2 war Luther damit beauftragt und dazu befugt, die Heilige Schrift auszulegen und – „zu Wittenberg und überall“3 – Theologie zu lehren. Im Selbstzeugnis 1545 berichtet Luther, er sei von dem „brennenden Verlangen gepackt worden, Paulus im Römerbrief zu verstehen“4. Ein einziges Wort habe das Verständnis bislang verbaut: „Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm (sc. dem Evangelium) offenbart“ (Röm 1,17).5 Das Ringen, das die Wortverbindung „Gerechtigkeit Gottes“ bei Luther ausgelöst hat, war ein philologisch-exegetisches Ringen um den Wort- und Schriftsinn von Röm 1,17 und zugleich ein geistlich-theologisches Ringen
—————
1 Vorrede Luthers zum ersten Bande der Gesamtausgabe seiner lateinischen Schriften, Wittenberg 1545, WA 54, (176)179–187, bes. 185, 12 – 186, 20. Neuere Textausgaben: M. Luther, StA 5, 1992, (618)624–638 (H. Junghans); M. Luther, LDStA 2, 2006, 491–509 (mit der Übersetzung von M. Beyer). Aus der umfangreichen Literatur sind vor allem zu nennen: B. Lohse (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, WdF 123, Darmstadt 1968; ders. (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, VIEG.B 25, Stuttgart 1988. 2 Zur Bedeutung von Luthers Doktorat und seinen Anfängen in Wittenberg vgl. H. Steinlein, Luthers Doktorat, Leipzig 1912, 36 ff.; G. Ebeling, Lutherstudien, Bd. III, Tübingen 1985, 10 ff.; M. Brecht, Martin Luther, Bd. 1, Stuttgart 31990, 111 ff. 3 Nach O. Scheel, Martin Luther, Bd. II, Tübingen 31921, 561. 4 WA 54, 185, 14 f. Übers. aus dem Lat. 5 WA 54, 185, 16 f.
Luther
51
„vor Gott“6 um Gott und seine Gerechtigkeit, in das der Wittenberger Augustinermönch verstrickt gewesen ist. Dass das Ringen mit Gott um seine Gerechtigkeit vor Gott selbst und das Ringen um den Sinn der zentralen Bibelstelle Röm 1,17 bei Luthers Entdeckung zusammenfallen und eine unlösliche Einheit bilden, das geht eindeutig aus dem Sprachgebrauch hervor. Einerseits wird freimütig bekannt: „Ich haßte nämlich diese Vokabel ‚Gerechtigkeit Gottes‘ …“7 Aber nicht nur diese Vokabel, auch Gott selbst verfiel dem Hass: „… nicht liebte ich, vielmehr haßte ich den gerechten und die Sünder strafenden Gott …“8 Der Wittenberger Theologe „empörte“ sich gegen Gott, „wenn nicht mit Lästerung, so doch mit ungeheurem Murren“9. Die Rebellion gegen Gott führte Luther andererseits jedoch nicht von dem Wort der Schrift weg, es schärfte vielmehr die Wahrnehmung dessen, was geschrieben steht. Ist es doch das Achthaben auf „den Zusammenhang der Worte“10 in Röm 1, 17, das die Lösung herbeiführte: „Da fühlte ich, ich sei völlig von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sogleich die ganze Schrift ein anderes Gesicht.“11 Als Erklärung für die Fehldeutung der Gerechtigkeit Gottes hat Luther angegeben, er habe die iustitia Dei gemäß dem überkommenen philosophischen Begriff als distributive Gerechtigkeit aufgefasst.12 Formal setzt diese Auffassung voraus, dass Gott gerecht ist und dass Gerechtigkeit eine Eigenschaft seines Wesens darstellt. Ihre aktive Komponente, die Luther im Selbstzeugnis ausdrücklich hervorhebt, besteht im Vollzug der Gerech—————
6 WA 54, 185, 22: coram Deo. – Ich beschränke mich darauf, lediglich die lateinischen Leitbegriffe herauszustellen, diese aber ausdrücklich. Die anderen Zitate bringe ich in deutscher Übersetzung. 7 WA 54, 185, 17 f.: Oderam enim vocabulum istud ‚Iustitia Dei‘ … 8 WA 54, 185, 23 f.: … non amabam, imo odiebam iustum et punientem peccatores Deum … 9 WA 54, 185, 24 f.: … tacitaque si non blasphemia, certe ingenti murmuratione indignabar Deo … 10 WA 54, 186, 3 f. Übers. Lat. s.u. Anm. 17. 11 WA 54, 186, 8–10: Hic me prorsus renatum esse sensi, et apertis portis in ipsam paradisum intrasse. Ibi continuo alia mihi facies totius scripturae apparuit. 12 WA 54, 185, 18 f. Vgl. dazu R. Schwarz, Luther, Göttingen 31998, 40–44, bes. 42 f.
52
Stationen der Auslegung
tigkeit, in dem Gott die Sünder und Ungerechten straft.13 An das richterliche Handeln Gottes wurde ja im täglichen Psalmgebet der Mönche erinnert. Diese Auffassung der iustitia Dei hat Abwehr und Hass hervorgerufen, und zwar nicht allein auf die Vokabel „Gerechtigkeit“, sondern im Kern auf Gott selbst, der die Ungerechten nicht nur durch das Gesetz, sondern nun obendrein noch durch das Evangelium mit seiner Gerechtigkeit und seinem Zorn bedrohe.14 Dagegen „wütete ich mit wildem und verwirrtem Gewissen“15, hat sich Luther erinnert. Aber dieses Wüten führte nicht von der Schrift ab; im Gegenteil: „Dennoch klopfte ich beharrlich an dieser Stelle bei Paulus an, begierig zu wissen, was der heilige Paulus wolle.“16 Darauf schildert Luther den Durchbruch: „Bis ich, dank dem Erbarmen Gottes, Tage und Nächte darüber nachsinnend, auf den Zusammenhang der Worte achtete, nämlich: ‚Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben.‘“17 Der Zusammenhang der Worte wird nicht hergestellt, er besteht. Doch Luther hat über ihn hinweggelesen. Als er erkannte, was geschrieben steht, erschloss sich ihm der von Paulus gemeinte Sinn der Wortverbindung „Gerechtigkeit Gottes“ (Röm 1,17 a) durch deren Bezug auf die Wendung „der Gerechte lebt aus Glauben“ (Hab 2,4; angeführt Röm 1,17 b). „Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als die zu verstehen, durch die der Gerechte als durch Gottes Gabe lebt, nämlich aus Glauben, und dass dies der Sinn sei: Durch das Evangelium werde die Gerechtigkeit Gottes offenbart, und zwar die passive,
—————
13 WA 54, 185, 19 f. 14 Nach WA 54, 185, 25 ff. 15 WA 54, 185, 28 – 186, 1. Übers. 16 WA 54, 186, 1 f. Übers. 17WA 54, 186, 3–5: Donec miserente Deo meditabundus dies et noctes connexionem
verborum attenderem, nempe: Iustitia Dei revelatur in illo, sicut scriptum est: Iustus ex fide vivit. Möglicherweise hat Luther Röm 1,17 (Vulgata) aus dem Gedächtnis angeführt; die Wendung ex fide in fidem ist hier ausgelassen. Der Grund dafür könnte sein, dass ex fide in Röm 1,17 b wörtlich wiederkehrt und von Luther in WA 54, 186, 6.8 wiederholt wird.
Luther
53
durch die uns der barmherzige Gott rechtfertigt durch den Glauben.“18 Diese Formulierung des Durchbruchs der reformatorischen Erkenntnis will nicht originell sein. Jedes Wort findet sich im Sinne der reformatorischen Erkenntnis unzählige Male in Luthers Schriften: Iustitia Dei, iustus, donum, fides, revelare, Euangelium, passiva, Deus misericors und iustificare sind Schlüsselbegriffe. Befragt man diese Formulierung, worin der Durchbruch in sachlicher Hinsicht besteht, so ist festzustellen: Das Evangelium, in dem die Gerechtigkeit Gottes offenbart wird, ist keine dem Gesetz hinzugefügte Gerechtigkeitsforderung Gottes an den Menschen, wie Luther es missverstanden hatte. Das Evangelium bringt vielmehr die Gerechtigkeit Gottes als die verheißene endzeitliche Heilsgabe, mit der der in Christus offenbar gewordene Gott selbst für den an die Sünde und den Tod verlorenen Menschen einsteht. In dieser Distinktion liegt die später breit entfaltete Fundamentalunterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium begründet. Ferner gehört als zweite grundlegende Konstituante zum Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis die Entdeckung der Tragweite des Glaubens im Rechtfertigungsgeschehen und die sich daraus ergebende kritische Abgrenzung gegen die Werke. Weil das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes nicht fordert, sondern schenkt und zueignet, darum erhält der Mensch schon jetzt Anteil an ihr und lebt in ihr vor Gott. Den Hintergrund für diese befreiende Erkenntnis bildet Luthers Ringen im Kloster, der Gott durch seine genugtuenden Werke zu versöhnen gesucht hatte,19 die Versöhnung aber nicht erlangen konnte, sondern vielmehr im Hass gegen Gott endete.20 Der reformatorische Durchbruch hat zugleich eine subjektive und eine objektive Seite. Subjektiv besteht der Durchbruch in der Befreiung von Gewissensqualen, die aufgekommen waren, weil Luther, obwohl er als Mönch untadelig lebte,21 in genugtuenden —————
18 WA 54, 186, 5–7: ibi iustitiam Dei coepi intelligere eam, qua iustus dono Dei vivit, nempe ex fide, et esse hanc sententiam, revelari per euangelium iustitiam Dei, scilicet passivam, qua nos Deus misericors iustificat per fidem. 19 Vgl. WA 54, 185, 21 ff., bes. 22 f.: … mea satisfactione placatum confidere possem. Vgl. WA 39 I, 110, 30 ff. 20 Nachweise s.o. Anm. 7–9. 21 Nach WA 54, 185, 21 f.
54
Stationen der Auslegung
Werken keine Ruhe fand, sondern weiterhin Groll gegen Gott im Herzen trug. Davon befreit worden zu sein, hat Luther als Neugeburt und den Eintritt ins Paradies empfunden.22 Diese Empfindung ist der Friede mit Gott, der auf die Rechtfertigung durch den Glauben folgt (s. Röm 5,1). Objektiv beruht der Durchbruch auf dem sprachlich, exegetisch und theologisch nachvollziehbaren Verständnis von Röm 1,17. Dabei ist zu beachten: Luther hat den Sinn des Wortes iustitia Dei nicht entdeckt, weil dieser etwa verborgen hinter dem Wort läge, sondern er liegt vielmehr in dem Wort selbst, wie es geschrieben steht. Das heißt, die Schrift ist zwar offen, aber er, der Doctor in bibliis, hat nicht wahrgenommen, was in ihr geschrieben steht, weil er sich den Zugang zu Röm 1,17 durch religiöse Voreingenommenheit im Einklang mit der vorherrschenden Strömung der mittelalterlichen Tradition versperrt hatte. Luther hatte Gott unterstellt, er müsse und könne ihn mit genugtuenden Werken versöhnen.23 Dadurch hat er in die Schrift hineingelesen, was sie über Gott nicht bezeugt. Im Gegensatz zur Behauptung der älteren katholischen Lutherinterpretation, die Luther vorgeworfen hat, er habe seine subjektive Entdeckung zur allgemeinen Norm erhoben,24 trifft also auf Luther die These zu: Die Schrift vermag sich selbst und zugleich den, der sie auslegt, ins Licht zu stellen. Nicht religiöser Subjektivismus, Enthusiasmus oder Esoterik, sondern das, was in der Schrift geschrieben steht über die Gerechtigkeit Gottes als Inhalt des Evangeliums von Jesus Christus ist selbst das, was die Schrift – durch das Achthaben auf den Zusammenhang ihrer Worte – erschließt und zugleich das Tor zum Paradies öffnet. Mit dem sachgerechten und befreienden Verständnis von Röm 1,17 zeigte sich sogleich die ganze Schrift in einem anderen Gesicht.25 Das erhärtete die Gegenprobe, die unmittelbar auf die Entdeckung folgte: Luther durchlief die Schrift und stellte wort—————
22 WA 54, 186, 8 f.; zitiert o. Anm. 11. Sowohl für die Empfindung der Gewissensqual als auch für die Empfindung, von neuem geboren zu sein, gebraucht Luther das Verb sentire (185, 21 f.; 186, 8). 23 WA 54, 185, 22 f.; s.o. Anm. 19. 24 Vgl. die Beiträge von H. Denifle und H. Grisar in B. Lohse (Hg.), Durchbruch (s. Anm. 1), 1968, 1–18 u. 19–63; ferner P. Hacker, Das Ich im Glauben bei Martin Luther, Graz 1966. Dagegen mit Recht M. Seils, Glaube, HST 13, Gütersloh 1996, 24; O. Bayer, Martin Luthers Theologie, Tübingen 2003, 151 f. 25 WA 54, 186, 9 f.; zitiert o. Anm. 11.
Luther
55
und sachverwandte Genitivverbindungen zusammen.26 Die Überprüfung ergab: „Kraft Gottes ist die, durch die er uns kräftig macht; Weisheit Gottes ist die, durch die er uns weise macht“27 usw. Mithin ist auch Gerechtigkeit Gottes die, durch die er uns gerecht macht. Typisch für Luther, der immer aufs Ganze – entweder Liebe oder Hass – ging, ist seine Reaktion: „Wie sehr ich zuvor das Wort ‚Gerechtigkeit Gottes‘ gehaßt hatte, mit ebensolcher Liebe erhob ich es mir nun zum allersüßesten Wort. So ist mir diese Stelle bei Paulus tatsächlich das Tor zum Paradies gewesen.“28 Auf die Überprüfung und Verifizierung der Schrift durch die Schrift folgte der Blick auf die Tradition: „Danach las ich Augustins Schrift Über den Geist und den Buchstaben,29 wo ich wider Erwarten darauf stieß, dass auch er die Gerechtigkeit Gottes ähnlich interpretiert, nämlich als die, durch die Gott uns bekleidet, indem er uns rechtfertigt.“30 Allerdings habe bei Augustin noch Unklarheit über das Verständnis der Anrechnung (imputatio) der Gerechtigkeit Gottes bestanden.31 Am Schluss seines Selbstzeugnisses unterstreicht Luther als eine weitere, grundlegende Gemeinsamkeit mit Augustin, er habe wie dieser Erkenntnisfortschritte „durch Schreiben und Lehren“ gemacht32 und gehöre nicht zu denen, die mit einem einzigen Blick in die Schrift deren ganzen Geist ausgeschöpft hätten.33 Festzuhalten ist: Charakteristisch für den Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther ist die gegenseitige —————
26 WA 54, 186, 10 ff. 27 WA 54, 186, 12 f. Übers. S.u. Anm. 37. 28 WA 54, 186, 14–16.: Iam quanto odio vocabulum ‚iustitia Dei‘ oderam ante,
tanto amore dulcissimum mihi vocabulum extollebam, ita mihi iste locus Pauli fuit vere porta paradisi. 29 De spiritu et littera, 412; CSEL 60, 153–230. 30 WA 54, 186, 16–18. Übers. Vgl. De spir. et lit. IX, 15; CSEL 60, 166 f. Zu Luthers Bezug auf Augustins De spir. et lit. s. H.-U. Delius, Augustin als Quelle Luthers, Berlin 1984, 171 ff. und zur Interpretation bes. B. Lohse, Die Bedeutung Augustins für den jungen Luther, 1965, in: ders., Evangelium in der Geschichte (I), hg. v. L. Grane u.a., Göttingen 1988, 11–30. 31 WA 54, 186, 18 f. 32 WA 54, 186, 27: … scribendo et docendo profecerint … Nach Augustin, De octo Dulcitii quaestionibus III, 3; CChr.SL 44 A, 277, 56 ff. Darauf hat sich Luther häufig berufen, z.B. auch WA 8, 176, 27 f.; WA 18, 479, 8 f.; WA 38, 134, 18 f. 33 WA 54, 186, 28 f.
56
Stationen der Auslegung
Durchdringung der Gottes-, Seins- und Heilsfrage, nämlich wie er als sündiger Mensch vor dem gerechten Gott bestehen kann, mit der Frage nach dem Sinn der auszulegenden Schriftstellen im Rahmen der ihm aufgetragenen Schriftauslegung. In der Koinzidenz von Heilsvergewisserung und Schriftvergewisserung liegt es begründet, dass die Antwort auf die Heilsfrage mit dem sachgerechten Verständnis einer Schriftstelle gegeben worden ist und dass wiederum durch die Sachgerechtheit des Verständnisses dieser Schriftstelle der Zugang zur ganzen Schrift geöffnet wurde. Röm 1,17 konnte dies freilich wie keine andere Stelle gewährleisten, gibt Paulus doch in 1, (16)–17 das Thema des Briefes an die Römer an, der theologisch tiefgründigsten und aufschlussreichsten Schrift des Neuen Testaments. Hervorzuheben ist ferner, dass der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis „vor Gott“ (coram Deo) erfolgt ist, aber auf dem Hintergrund, dass der Mensch von Gott abgefallen ist und also nicht vor Gott stehen kann, sondern vor ihm auf der Flucht ist (s. 1. Mose 3,8) und ihm gegenüber in Misstrauen, Feindschaft und Hass verharrt. Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, betreffen zuerst das Gottesverhältnis selbst und sodann das diesem gemäße Lehr- und Theologieverständnis. Zunächst: Luthers Durchbruch schließt die Wandlung der Gottesbeziehung ein und vollzieht sich mit dieser. Doch nicht Gott wandelt sich oder die Schrift Gottes. Es ist vielmehr der Schriftausleger Luther, der sich wandelt und der diesen Wandel als Neugeburt empfindet. Daraus folgt, dass die Relation Gott – Mensch, wie sie von der Schrift bezeugt wird, für Lehre und Theologie konstitutiv ist. Sie muss unabdingbar an erster Stelle stehen und nicht etwa historische oder praktische Fragen. Diese Relation wird durch Schriftauslegung entfaltet, aber allein durch diejenige, die den Menschen in seinem Verhältnis zu Gott von vornherein einbezogen sein lässt und ihn Gottes Gerichtsurteil und Freispruch, also Gesetz und Evangelium, aussetzt. Schließlich sei noch die Frage nach dem Zeitpunkt des Durchbruchs der reformatorischen Erkenntnis angesprochen. Es gibt keinen plausiblen Grund, die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes aus der Zeit von Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/16 herauszuverlegen. Denn bei der Auslegung von Röm 1,(16)–17 hat Luther das neue Verständnis bereits vertreten:
Luther
57
„Allein im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart (das heißt, wer und auf welche Weise einer gerecht ist und gerecht wird vor Gott), nämlich allein durch den Glauben, mit dem man dem Wort Gottes glaubt.“34 Noch vieles ist zu diesem Zeitpunkt zu klären, zu modifizieren und zu präzisieren, aber das Entscheidende ist bereits da: „Die Gerechtigkeit Gottes ist die Ursache des Heils.“35 Das ist nicht die, „durch die er (sc. Gott) in sich selbst gerecht ist, sondern die, durch die wir aus ihm selbst gerechtfertigt werden; das geschieht durch den Glauben an das Evangelium.“36 Auch die Gegenprobe durch die Überprüfung der Entdeckung mit wort- und sachverwandten Genitivverbindungen in der Schrift liegt vor: „… mit der Gerechtigkeit Gottes ist die gemeint, durch die er uns rechtfertigt, wie mit der Weisheit Gottes die, durch die er uns weise macht.“37 Außerdem dient Augustins Schrift Über den Geist und den Buchstaben in Luthers Vorlesung häufig zur Bekräftigung seiner Auslegung.38 In die Zeit der Vorbereitung auf die Römerbrief-Vorlesung oder in die Anfänge der Vorlesung selbst fällt der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis, von dem Luther in seinem Selbstzeugnis 1545 redet.39 In dem Selbstzeugnis wird eine einmalige, befreiende Entdeckung geschildert. Zwar hat Luther auch danach noch weitere theologische Entdeckungen gemacht, aber das Selbstzeugnis erlaubt es nicht, den Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis in der Erkenntnis des Wortes Gottes als Gnadenmittel zu sehen40 oder die reformatorische Entdeckung als gleitenden Prozess darzustellen.41 Luthers Durchbruch —————
34 WA 56, 171, 28 – 172, 1: Sed in solo euangelio reuelatur Iustitia Dei (i. e. quis et
quomodo sit et fiat Iustus coram Deo) per solam fidem, qua Dei verbo creditur. 35 WA 56, 172, 3: Iustia enim Dei est causa salutis. 36 WA 56, 172, 4 f.: qua ipse Iustus est in seipso, Sed qua nos ex ipso Iustificamur, quod fit per fidem euangelii. 37 WA 56, 262, 21–22. Übers. Vgl. außerdem WA 56, 169, 28 ff. S.o. Anm. 26 f. 38 Vgl. Lohse, Bedeutung (s. Anm. 30), 22 ff. 39 Ähnlich urteilen Forscher wie H. Bornkamm, G. Ebeling, B. Lohse, L. Grane, H. A. Oberman, R. Schwarz, R. Schäfer u.a. (vgl. K.-H. zur Mühlen, Luther II, TRE, Bd. 21, 1991, 530–567, 532). 40 So E. Bizer, Fides ex auditu, Neukirchen (1958) 31966, 167 u.ö. Bizer datiert die Wende auf das Jahr 1518 (a.a.O., 190). Ähnliche Datierungsvorschläge stammen von K. Aland, M. Brecht, O. Bayer u.a. 41 So V. Leppin, Reformatorische Entdeckung, in: ders./G. Schneider-Ludorff (Hg.), Das Luther-Lexikon, Regensburg 2014, 589–592.
58
Stationen der Auslegung
um 151542 ist vielmehr die bleibende Grundlage seiner weiteren theologischen Entwicklung und gleichsam die Mutter aller folgenden Entdeckungen und Erkenntnisfortschritte. Erkennbarkeit und Unkenntnis Gottes nach der Auslegung von Römer 1,19–23 Wie Luther in der Vorlesung über den Römerbrief bei der Auslegung von Röm 1,17 das reformatorische Verständnis der Gerechtigkeit Gottes vertreten hat, so hat er auch bei der Auslegung von Röm 1,19 ff. die Erkennbarkeit Gottes gelehrt. Das kann als These vorangestellt werden. Aus der Scholie zu Röm 1,19 sei dafür der folgende Beleg angeführt: „… nicht zu unserer Zeit allein hätte Gott erkannt werden können. Von Gründung der Welt an und immerdar konnte er und kann er erkannt werden.“43 Mit Paulus hat Luther ferner ausdrücklich hervorgehoben, das Wissen oder die Kenntnis von Gottes Wesen stamme von Gott selbst.44 Auch der andere Aspekt der Gotteserkenntnis, den Paulus in Röm 1,18–32 dargelegt hat, nämlich die schuldhafte Unkenntnis Gottes, die auf dem Abfall des Menschen von Gott beruht und sich in Kreaturvergötterung, Selbstentehrung und Sittenverfall niederschlägt, ist von Luther aufgenommen und breit entfaltet worden. In der Scholie zu Röm 1,19 stellt er heraus, die Menschen ließen die Gottheit Gottes in sich selbst nicht unversehrt, sondern vertauschten sie und passten sie ihren Wünschen und Sehnsüchten an:45 „Ein jeder wollte die Gottheit in dem sehen, der ihm gefiel, und so verwandelten sie Gottes Wahrheit in Lüge.“46 Unter dieser Verwandlung ist selbstverständlich nicht die Verwandlung Gottes zu verstehen, der unveränderlich (immutabilis) ist, sondern die Verkehrung des Gottesverhältnisses im —————
42 Zu einer exakteren Datierung auf Monat oder gar Tag gibt Luthers Selbstzeugnis keinen Anlass. 43 WA 56, 176, 21 f.: … nostro tempore solo potuerit Deus cognosci. A conditione mundi usque semper potuit et potest. 44 WA 56, 176, 26 ff., bes. 177, 6–8. 45 WA 56, 177, 8 ff. 46 WA 56, 177, 10 f.: Et unusquisque diuinitatem in eo esse voluit, qui sibi placeret, Et sic Dei veritatem mutauerunt in mendacium.
Luther
59
Menschen durch dessen sündhafte Wertschätzung.47 Mit seiner Abwendung von Gott wird der Mensch jedoch keineswegs aus seinem Gottesverhältnis entlassen, wie er es intendiert. Vielmehr bleibt er ihm verhaftet, verkehrt es aber in sich selbst. Diese Verkehrung besteht in der Übertragung der Erkenntnis des unsichtbaren Gottes, seiner ewigen Macht und Gottheit, auf Gottesvorstellungen und Götterbilder wie Jupiter und andere.48 „Damit begann der Irrtum und entstand die Abgötterei.“49 Gott wurde nicht wie Gott, sondern wie das Gleichnis eines Bildes verehrt.50 Infolgedessen haben Menschen nicht Gott, sondern vielmehr ihr eigenes Gebilde angebetet.51 Das folgt daraus, dass die Menschen es nicht für wert geachtet haben, Gott zu erkennen (s. Röm 1,28).52 Mit ihren Taten haben sie untermauert, dass sie Gott nicht erkennen.53 Das ist nun freilich keine Bagatelle, darin kommt vielmehr die Seinsverfehlung ohnegleichen zum Ausdruck. Sie zeigt sich in der Verweigerung der Anbetung und inneren Hingabe an Gott.54 Diese Verweigerung stellt aber nicht in einen Freiraum hinein, sie führt vielmehr mit Notwendigkeit in die Kreaturvergötterung.55 Im Rahmen der Auslegung von Röm 1,23 hat Luther zu verdeutlichen versucht, wie sich der Abfall von Gott durch die Vertauschung der Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit dem Bild eines vergänglichen Menschen sowie der Vögel und der vierfüßigen und kriechenden Tiere im Menschen niederschlägt. Er spricht von einem ordo perditionis, von „einer Ordnung und von Stufengraden (gradus) der Verderbnis“56. Luther nimmt eine ebenso gewagte wie originelle und aufschlussreiche Schematisierung vor. Er unterscheidet zwischen vier Stufengraden, in denen sich die Abwendung von Gott vollzieht: 1. Undankbarkeit (ingratitudo), 2. Eitelkeit (vanitas), 3. Verblendung (exc(a)ecatio), 4. —————
47 Glosse zu Röm 1, 23; WA 56, 12, 28 f. Luther gebraucht mutare wie die Vulgata. 48 Zu Röm 1,19 ff.; WA 56, 177, 11 f. 16 f. 49 WA 56, 177, 17 f. Übers. 50 WA 56, 178, 4 f. 51 WA 56, 178, 5 f. 52 Zu Röm 1,20; WA 56, 174, 24 f. 53 WA 56, 174, 25. 54 Glosse zu Röm 1,21; WA 56, 12, 19-21. 55 Glosse zu Röm 1,23; WA 56, 13, 9, f. 56 WA 56, 178, 24 ff.
60
Stationen der Auslegung
Irrtum gegenüber Gott (error erga Deum). Dazu gibt er kurze Erläuterungen. Zu 1.: In der Undankbarkeit kommt die Grundsünde zum Vorschein, die das Notwendige und Gute unterlässt und dadurch unversehens zu der Sünde führt, die das Böse tut.57 Denn indem man unterlässt, dankbar gegen Gott zu sein, durch den alles geworden ist und erhalten wird, stellt man – gewissermaßen durch die Hintertür – heraus, dass man sich sich selbst verdankt. Das ist nicht nur unwahr, der Mensch usurpiert damit Gottes Gottheit und reklamiert diese, ohne das ausdrücklich hervorzuheben, für sich selbst. Luther sieht diese Grundsünde in „Luzifer“ abgebildet, „der undankbar gegen seinen Schöpfer war, bevor er fiel. Das bewirkt das Wohlgefallen an sich selbst, mit dem man sich an dem Empfangenen freut, als wäre es nicht empfangen, und den missachtet, der es gegeben hat.“58 Zu 2.: Mit Eitelkeit ist nicht die Eitelkeit der Gelehrten oder Schriftsteller gemeint, die ihre Werke für unvergleichlich halten. Auch nicht die Eitelkeit von Frauen, die sich mit ihrer – eingebildeten oder wirklichen – Schönheit über alles erhaben dünken. Das sind zwar Ausdrucksformen der Eitelkeit, aber diese selbst gründet in dem Mittelpunktdasein, das der Mensch infolge seines Abfalls von Gott usurpiert hat. Es hat sein Kennzeichen darin, dass der Mensch, als wäre es selbstverständlich, alles auf sich selbst zuordnet. „Man weidet sich an sich selbst und an der Kreatur und genießt, was einem nützlich ist.“59 Was der Mensch in seinen Plänen, Bemühungen und Bestrebungen auch sucht, „es ist ganz eitel (totum vanum est), weil man nichts sucht als sich selbst, seinen Ruhm, seine Befriedigung und seinen Vorteil.“60 Was den von Gott abgewandten Menschen letztlich und eigentlich bestimmt, ist also die Eitelkeit, die wiederum Eitles hervorbringt, da der Mensch sich selbst zum Endzweck gesetzt hat, obwohl er das nicht ist und nicht sein kann. Denn er ist endlich —————
57 Nach der Glosse zu Röm 1,23; WA 56, 13, 4 f. Vgl. W. Mostert, Sünde als Unterlassung, in: ders., Glaube und Hermeneutik, hg. v. P. Bühler u. G. Ebeling, Tübingen 1998, 157–175. 58 WA 56, 178, 25–27. Übers. Die complacentia sui ist die spezifische Selbstgefälligkeit des von Gott Abgefallenen. 59 WA 56, 178, 28. Übers. 60 WA 56, 178, 29 – 179, 1. Übers.
Luther
61
und vergänglich und kann seine Endlichkeit durch Selbstzwecksetzung nicht überwinden, sondern sich durch sie nur immer tiefer in jene verstricken. Zu 3.: Verblendung heißt: aus der Wahrheit entnommen sein (evacuatus veritate).61 Die Assoziationen, die das Verb vacuo (leeren) hervorruft, helfen zum besseren Verständnis: Der Mensch ist aus dem Geltungsbereich der Wahrheit „evakuiert“; die Stelle, die die Wahrheit beim Menschen einnehmen sollte, ist „vakant“. Doch dieses „Vakuum“ ist sogleich durch die Eitelkeit ausgefüllt worden. Anstatt in der Wahrheit vor Gott zu stehen, ist der Mensch in Eitelkeit „versunken“62. Das hat zur Folge, dass er „mit ganzer Leidenschaft“, nämlich im Herzen, „und in allen Gedanken notwendigerweise blind geworden ist“63. Das wiederum heißt: „in Finsternis versetzt sein“64. Der in die Finsternis Versetzte aber ist im Irrtum befangen.65 Gemeint ist nicht ein gewöhnlicher Irrtum, der korrigierbar wäre, sondern das Irregeleitetsein im Blick auf Gott, und dies coram Deo. Der Verblendete nimmt Gott nicht als Gott wahr; er verhält sich vor Gott wie ein „Unverständiger“66. Zu 4.: Der Irrtum gegenüber Gott67 wird von dem natürlichen Menschen für behebbar und geringfügig angesehen. In Wirklichkeit ist er nicht behebbar und „das Schlimmste“68, das geschehen kann. Denn die Verkennung Gottes, der „Quelle des Lebens“ (Ps 36,10), ist ein Indiz für den Verlust des Zugangs zu Gott und damit zum Lebensquell. Dieser Verlust zieht den Sklavendienst der Abgötterei nach sich.69 Das ist nicht nichts, das heißt vielmehr im Bodenlosen, im Abgrund gelandet zu sein.70 Was das bedeutet, das fasst Luther mit dem folgenden Satz zusammen: „Weil man Gott verloren hat, bleibt nun nichts übrig, als dass —————
61 WA 56, 179, 2. 62 WA 56, 179, 2: … immersus … 63 WA 56, 179, 2 f.: … toto affectu et omnibus cogitationibus necessario c(a)ecus
fit. 64 WA 56, 179, 4: … in tenebris positus. 65 WA 56, 179, 5: … semper (!) errat. 66 WA 56, 179, 5: … insipiens. Vgl. Röm 1,21 Vulgata. 67 WA 56, 179, 6: Error erga Deum. 68 WA 56, 179, 6: … qui est pessimus … 69 WA 56, 179, 6: … qui facit idolatras. 70 WA 56, 179, 7: … in profundum venisse.
62
Stationen der Auslegung
man in alle Schändlichkeit gemäß dem Willen des Satans dahingegeben ist.“71 Das kennzeichnet den status corruptionis, die Realität der von Gott abgewandten Menschheit; denn daraus folgt eine „Sintflut von Bosheiten und Blutvergießen“72. Am Schluss wendet Luther seine aus Röm 1,19–23 gewonnenen Einsichten auf die Kirche seiner Gegenwart an. Der antike Götterhimmel, der orientalische wie der griechisch-römische, ist zu jener Zeit entmachtet. Götzenbilder spielen seit langem keine Rolle mehr. Aber es gebe nun eine geistliche, subtilere Form der Idolatrie.73 Durch sie werde Gott nicht so geehrt, wie er ist, sondern wie er von Menschen erdichtet und erträumt werde.74 Luther hat damit den schwerwiegenden Vorwurf erhoben, dass Abgötterei statt mit handgreiflichen Götzenbildern mit Gott selbst getrieben werde, indem man eine fingierte Gottesvorstellung an die Stelle der biblisch überkommenen habe treten lassen. Der Vorwurf ist primär gegen die monastische Frömmigkeit seiner Zeit gerichtet, gegen den „Eigen-Sinn“ und gegen die „Eigen-Gerechtigkeit“75, wie sie Luther im Kloster – auch an sich selbst – kennengelernt hat. Die Undankbarkeit und die Liebe zur Eitelkeit verblendeten die Menschen so sehr, dass sie sich nicht mehr „korrigieren“ (incorrigibiles) ließen und dass sie nichts anderes glauben könnten, als dass ihr eigenes Handeln vortrefflich und sie selbst Gott wohlgefällig wären.76 „Da formen sie sich einen gnädigen Gott, während er es in Wirklichkeit nicht ist. Und so verehren sie ihr Phantasiegebilde aufrichtiger als den wahren Gott, von dem sie glauben, er gleiche ihrem Phantasiegebilde.“77 —————
71 WA 56, 179, 7–9: Quia amisso Deo nihil iam restat, quam quod sit traditus in omnem turpitudinem secundum voluntatem diaboli. 72 WA 56, 179, 9: … sequitur … diluuium malorum et fluxus sanguinis. 73 WA 56, 179, 11 f. 74 WA 56, 179, 12 f.: Qua Deus colitur, non sicut est, Sed sicut ab eis fingitur et (a)estimatur. 75 WA 56, 179, 14: … sui sensus et proprie Iustiti(a)e … Zur bona intentio, die Luther hier außerdem aufführt, s. M. Luther, StA 1, 1979, 106, Anm. 61. 76 WA 56, 179, 13–16. 77 WA 56, 179, 16–18: Ac per hoc Deum sibi propitium formant, cum non sit. Et ita phantasma suum verius colunt quam Deum verum, quem similem illi phantasmati credunt.
Luther
63
Was hier zu Röm 1,23 niedergeschrieben wurde, ist höchst bemerkenswert: Luther hat die mönchische Selbstprüfung und Selbsterforschung, wie sie ihm aus dem Kloster bekannt war, auf die mönchische Frömmigkeit selbst angewandt und diese im Ergebnis in die Krise geführt. Das ist ein Indiz dafür, dass er Röm 1,19 ff. unter der Voraussetzung der wiederentdeckten Gerechtigkeit Gottes verstanden hat. Der „gnädige Gott“, den sich Ordensleute seiner Zeit selbst nach ihren Wünschen zurechtgelegt haben, konnte von Luther als Fiktion enthüllt werden, weil sich ihm der gnädige Gott mit der Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes bei der Auslegung von Röm 1,17 erschlossen hatte. Damit ist das Evangelium von Jesus Christus als die Krisis aller Religion, auch und gerade christlicher Religiosität, erkannt. Zwar wird die Loslösung vom Mönchtum auf der Grundlage der Entfaltung der kritischen Kraft des Wortes Gottes noch einige Jahre in Anspruch nehmen, aber dem Baum ist die Axt doch bereits an die Wurzel gelegt. Erkennbarkeit und Unkenntnis Gottes nach der Auslegung von Jona 1,5 Und die Schiffsleute fürchteten sich und schrien, ein jeder zu seinem Gott. (Jona 1,5 a) „Hier siehst du, dass wahr ist, was S. Paulus Röm 1(,19) spricht, wie Gott bekannt sei bei allen Heiden, das ist: alle Welt weiß von der Gottheit zu sagen, und der natürlichen Vernunft ist bekannt, dass die Gottheit etwas Großes sei vor allen anderen Dingen.“78 Mit diesen Worten beginnt Luther seine deutsche Auslegung79 von Jona 1,5. In ihr hat er unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Röm 1,19 ebenso unmissverständlich wie in der —————
78 Der Prophet Jona ausgelegt, 1526, WA 19, 205, 27–30. Die Zitate werden behutsam modernisiert wiedergegeben. Vgl. dazu „So spielt die Vernunft Blindekuh mit Gott.“ Luthers Auslegung von Jona 1,5 f., bearbeitet von R. Schwarz, Luther 65 (1994), 3–9. 79 Der deutschen Auslegung war 1524 eine lateinische Vorlesung vorausgegangen (WA 13, 241–258; 246 f. zu Jona 1,5 f.).
64
Stationen der Auslegung
Vorlesung über den Römerbrief zehn Jahre zuvor die Erkennbarkeit Gottes vertreten. Den Beweis für das Wissen von Gott, das freilich ein Wissen eigener Art ist, sieht Luther dadurch gegeben, „dass hier die Gott anrufen, die doch Heiden waren“80. Was wissen sie von Gott? Dass die Gottheit Gottes etwas Großes ist vor allem anderen im Gegenüber zur Geschöpflichkeit und Hilfsbedürftigkeit der Geschöpfe. Zu dieser Wahrnehmung gehört die Einsicht, „Gott sei ein solches Wesen, der da helfen könne im Meer und in allen Nöten“81. Diese Einsicht wird nicht in der Not geboren, denn sie ist schon vor ihr da, aber sie wird durch die Not aktiviert. Luther stellt fest: „Solch Licht und Verstand ist in aller Menschen Herzen und lässt sich nicht dämpfen noch (aus)löschen.“82 Das „ist ein großes Licht“83! Wer es auszulöschen versucht – wie etwa die Epikureer84 –, der tut das „mit Gewalt“85. Aber das nützt nichts, „ihr Gewissen sagt es ihnen anders“86. Das beruht darauf, dass „Gott es ihnen offenbart (hat)“ (Röm 1,19).87 Was ergibt sich daraus? Luther stellt fest: Man hält „von Gott, dass er ein solcher sei, der von allem Bösen zu helfen vermöge“88. Wenn das aber so ist, dann folgt daraus, „dass natürliche Vernunft bekennen muss, dass alles Gute von Gott komme. Denn wer aus allem Bösen und Unglück helfen kann, der kann auch alles Gute und Glück geben. So weit reicht das natürliche Licht der Vernunft, dass sie Gott für einen gütigen, gnädigen, barmherzigen, milden achtet.“89 Das ist ganz außerordentlich viel für das Zusammenleben verschiedener Religionen! Denn die Allgemeinheit dieses Gottesbegriffes umfasst einen „religiösen Pluralismus“, der die Verfassung eines Staates ermöglicht, der —————
80 WA 19, 205, 30 f. 81 WA 19, 205, 34. S.a. 206, 8 f. 82 WA 19, 205, 35 – 206, 1. S.a. 207, 12 f. 83 WA 19, 206, 13. 84 WA 19, 206, 1. Epikur (341–270 v.Chr.) und die Epikureer stehen bei Luther
für Gottesleugnung und Verspottung von Religion (vgl. G. Maron, Martin Luther und Epikur, Hamburg 1988, 25 ff.). 85 WA 19, 206, 2. 86 WA 19, 206, 5. 87 WA 19, 206, 6. Zweiter ausdrücklicher Bezug auf Röm 1,19. 88 WA 19, 206, 8 f. 89 WA 19, 206, 9–13.
Luther
65
einerseits die Religionsfreiheit gewährt, aber andererseits gleichwohl die Verantwortung vor Gott in diesem allgemeinen Sinn in der Verfassung verankert.90 Vermag die Erkennbarkeit Gottes nach Röm 1,19, veranschaulicht an Jona 1, 5, das auch zu gewährleisten, so fehlt es doch „an zwei großen Stücken“91. Zum einen: Heiden wissen zwar von der unendlichen Macht Gottes und der Unbegrenztheit seiner Hilfsmöglichkeiten, aber sie wissen nicht, ob bei ihm der Wille da ist, diese für sie einzusetzen.92 „Höher können sie nicht kommen.“93 Das ist nicht nichts, hilft aber im akuten Notfall nicht weiter. Vonnöten ist vielmehr „solcher Glaube, der nicht zweifelt, Gott wolle nicht anderen allein, sondern auch mir gnädig sein. Das ist ein rechter lebendiger Glaube.“94 Das andere Argument, das Luther anführt, ist das stichhaltigere und entscheidende: Die Vernunft kann die Gottheit nicht recht zuordnen.95 „Sie weiß, dass Gott ist. Aber wer oder welcher es sei, der da recht Gott heißt, das weiß sie nicht.“96 Den zwingenden Beweis für die Unkenntnis Gottes sieht Luther in der Sendung Jesu Christi, der als der Sohn Gottes auf Erden wirkte, aber niemand erkannte ihn, vielmehr wurde er verworfen und in Schmach und Tod dahingegeben.97 Auf die Beweisführung folgt der einprägsame Spitzensatz, der die Argumentation zusammenfasst: „So spielt auch die Vernunft Blindekuh mit Gott und tut lauter Fehlgriffe.“98 Sie nennt das Gott, was nicht Gott ist, und spricht umgekehrt Gott das Gottsein ab.99 So trifft sie „nimmermehr den rechten Gott, sondern allewege den Teufel oder ihren eigenen Dünkel, den der Teufel regiert. Darum ist’s gar ein großer Unterschied: wissen, dass ein Gott ist, und wissen, was oder —————
90 So mit Recht Schwarz in den Erläuterungen zu dieser Stelle, a.a.O. (s. Anm. 78), 8. Schwarz weist auf Art. 3 (3) und Art. 4 GG hin. 91 WA 19, 206, 14. 92 WA 19, 206, 14 ff. 93 WA 19, 206, 21. 94 WA 19, 206, 28 f. 95 WA 19, 206, 31 f. Vgl. B. Lohse, Ratio und Fides. Eine Untersuchung über die ratio in der Theologie Luthers, FKDG 8, Göttingen 1958, 59 ff. 96 WA 19, 206, 32 f. 97 WA 19, 206, 34 – 207, 3. 98 WA 19, 207, 3 f. 99 WA 19, 207, 5 f.
66
Stationen der Auslegung
wer Gott ist. Das erste weiß die Natur und ist in allen Herzen geschrieben. Das andere lehrt allein der Heilige Geist.“100 Auf die „Exempel“, die Luther danach anführt,101 gehe ich nicht ein. Festzustellen ist: Die Auslegung von Jona 1,5 führt den Beweis, dass Luther die Erkennbarkeit Gottes gemäß Röm 1,19 auch nach der Vorlesung über den Römerbrief gelehrt hat.102 Die These von der Erkennbarkeit Gottes ist bei Luther nun aber nicht etwa „natürliche Theologie“, sondern vielmehr Bestandteil der Offenbarungstheologie. Sie beruht auf dem alttestamentlichen Theologumenon der Offenbarung Gottes durch Werke und ist von dem Apostel Paulus unter Verwendung von Offenbarungsterminologie bezeugt. Wenn Luther von „natürlicher Vernunft“ oder allgemein von „Natur“ spricht, dann steht das, wie gerade die Auslegung von Jona 1,5 belegt, unter dem Vorzeichen von Röm 1,19. Der Reformator setzt also voraus: „Gott hat es ihnen offenbart“ (Röm 1,19 b). Auch den anderen Aspekt, die Unkenntnis Gottes, vertritt Luther in der Auslegung von Jona 1,5 uneingeschränkt. Die Erkenntnis Gottes aus den Werken ist zwar unbestreitbar eine Realität, die das Menschsein umfasst, aber diese Erkenntnis führt im status corruptionis keineswegs zu Gott hin, sondern im Gegenteil von ihm weg. Die Erkenntnis Gottes aus den Werken mündet nämlich nicht in den Glauben und in den vom Glauben getragenen wahren Gottesdienst in Anbetung und Dank ein, sondern vielmehr in hochmütigen „Dünkel“, der „uns abführt von Gott und abwendet vom rechten Gottesdienst“103.
—————
100 WA 19, 207, 9–13. 101 WA 19, 207, 14 ff. 102 Außer auf WA 19, 205–207 sei z.B. noch hingewiesen auf WA 10 I, 1, 246, 11–
19; WA 16, 43, 10 ff. u. 433, 4 ff. und WA 28, 609, 27 ff. Als Hauptbeleg dient jeweils Röm 1,19 f. 103 WA 19, 207, 33.
Luther
67
In Christus dem Gekreuzigten liegt die Erkenntnis Gottes Disputationen dienten Luther dazu,104 die durch Schriftauslegung gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse theologisch zu vertiefen und öffentlich zu vertreten. Die Grundlage stellte in der Frühzeit die Vorlesung über den Römerbrief 1515/16 dar, erweitert durch Vorlesungen über den Galaterbrief 1516/17 und den Hebräerbrief 1517/18. Die für die Frage nach der Erkennbarkeit Gottes aufschlussreichsten Disputationen sind: 1. Die Disputation über das Vermögen und den Willen des Menschen ohne die Gnade (1516).105 2. Die Disputation gegen die scholastische Theologie (1517).106 3. Die Heidelberger Disputation (1518).107
In diesen Disputationen kehren die erkenntnisleitenden Schriftstellen und Stichworte immer wieder. Luther entfaltet in den Disputationen thetisch, was in den Briefen des Paulus über die Relation Gott – Mensch zur Aussage gebracht ist, unter ständiger Bezugnahme auf Augustin, und wendet sich antithetisch gegen die scholastische Theologie und die aristotelische Philosophie, soweit jene sich auf diese stützt. Den kirchengeschichtlichen Rahmen bildet der Ablassstreit 1517–1521 und in ihm insbesondere der Konflikt mit Rom, den Luther nicht hätte bestehen können, wenn er nicht in seinen theologischen Anfängen durch die Psalmen in das Alte Testament eingedrungen wäre und sich die Theologie des Paulus nicht zu eigen gemacht hätte. 1. Wie groß die Wirkung der Vorlesung über den Römerbrief gewesen sein muss, geht bereits aus der Disputation über das —————
104 Vgl. E. Wolf, Zur wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung der Disputationen an der Wittenberger Universität im 16. Jahrhundert, 1952, in: ders., Peregrinatio, Bd. II, München 1965, 38–51; B. Lohse, Luther als Disputator, 1963, in: ders., Evangelium in der Geschichte, hg. v. L. Grane u.a., Göttingen 1988, 250–264; R. Schwarz, Disputationen, in: A. Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 32017, 372–384. 105 Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia disputata, 25.09.1516, WA 1, (142) 145–151 / StA 1, 153–162 / LDStA 1, 1–17. 106 Disputatio contra scholasticam theologiam, 4.09.1517, WA 1, (221) 224–228 / StA 1, 163–172 / LDStA 1, 19–33. 107 Disputatio Heidelbergae habita, 26.04.1518, WA 1, (350) 353–374 / StA 1, 186–218 / LDStA 1, 35–69.
68
Stationen der Auslegung
Vermögen und den Willen des Menschen ohne die Gnade hervor, anlässlich welcher Bartholomäus Bernhardi aus Feldkirch108 unter Luthers Vorsitz zum Sententiar promoviert wurde.109 Die Ausgangsfrage lautet, ob der Mensch „aus seinen natürlichen Kräften die Gebote Gottes, des Schöpfers, halten oder irgend etwas Gutes tun oder denken und sich unter Mithilfe der Gnade (Gutes) verdienen und die Verdienste erkennen kann?“110 Die Antwort wird in drei Thesen – vor allem in der ersten und zweiten – mit Erläuterungen gegeben. In der ersten These ist der Befund herausgestellt, der sich aus Luthers Ausführungen zu der Umkehrpredigt des Paulus Röm 1, 18 ff. über den Menschen und sein Trachten ergeben hat: „Der Mensch, nach der Seele Gottes Ebenbild (imago) und so für die Gnade Gottes geeignet (aptus), unterwirft, allein auf seine natürlichen Kräfte gestellt, jedwede Kreatur, die er gebraucht, der Eitelkeit. Er sucht nur das Seine und das, was des Fleisches ist.“111 In der Erläuterung wird ausdrücklich auf die Ebenbildlichkeit des von Gott geschaffenen Menschen gemäß 1. Mose 1,27 verwiesen.112 Mit der Ebenbildlichkeit ist die Erkennbarkeit Gottes gegeben, wie sie Paulus Röm 1,19 festgestellt hat. Doch die Kenntnis Gottes hat er dadurch, dass er nur auf das Seine bedacht ist, missbraucht. Zwar ist der Mensch auf Gott und seine Gnade hin geschaffen, aber durch die Abwendung von Gott ist er aus der Gnade gefallen. Nun ist er „ein schlechter Baum, der keine guten Früchte hervorbringen kann (s. Mt 7,17 f.; 12,33). Er vermag auch nicht die Schöpfung zu Gottes Ehre und Lob zu gebrauchen, was doch der Endzweck (finis) ihrer Erschaffung ist. Das wiederum heißt, sie der Eitelkeit zu unterwerfen.“113 Aus den auf die Erläuterung zur ersten These folgenden Zusätzen sei hervorgehoben: Der Mensch, nämlich der abgefallene, „alte Mensch“, „die Eitelkeit der Eitelkeiten“, macht auch die ————— 108 Zur Person s. R. Stupperich, Reformatorenlexikon, Gütersloh 1984, 34. 109 Vgl. Luthers Bericht in einem Brief an J. Lang, Okt. 1516, WA.B 1, 65, 18
ff. Zum theologiegeschichtlichen Hintergrund der Disputation vgl. vor allem L. Grane, Contra Gabrielem, AThD 4, Gyldendal 1962, 320 ff.; ders., Modus loquendi theologicus, AThD 12, Leiden 1975, 110 ff. 110 WA 1, 145, 5–8. Übers. 111 WA 1, 145, 10–13. Übers. 112 WA 1, 145, 14 ff. 113 WA 1, 145, 24–26. Übers.
Luther
69
übrigen Geschöpfe, die gut (geschaffen) sind, eitel, nichtig.114 Das folgt daraus, dass er Gott nicht purissime liebt,115 nämlich „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft“ (5. Mose 6,5). Weil er das nicht tut und auch nach dem Fall nicht vermag, denn er ist „Fleisch“ (caro),116 darum sucht er seine „Sättigung“ (saturitas), also die Befriedigung seines Heils- und Glücksverlangens, in der Schöpfung, obwohl er doch „allein von Gott gesättigt werden könnte“117. Darin liegt es begründet, dass die Schöpfung ohne ihren Willen der Eitelkeit unterworfen ist.118 Die dezidierte Antwort auf die Ausgangsfrage der Disputation wird mit der zweiten These gegeben: „Der Mensch, von Gottes Gnade ausgeschlossen, kann seine Gebote in keiner Weise halten und sich nicht, sei es im bloßen Einklang mit ihr oder ihr ganz entsprechend, zur Gnade bereiten, sondern er bleibt notwendigerweise unter der Sünde.“119 Dieser Satz ist in schroffem Gegensatz zur scholastischen Theologie formuliert. Was mit ihm im Detail impliziert ist, darauf ist in den folgenden Ausführungen einzugehen. Hier sei unterstrichen, dass mit dieser These die Kernaussage des ersten Teils des Römerbriefes 1,18–3,20 in sachlicher Übereinstimmung mit Paulus und in wörtlicher Anlehnung an Röm 3,9, „dass alle, Juden wie Griechen, unter der Sünde sind“120, als grundlegender und unverzichtbarer Bestandteil der christlichen Lehre und Verkündigung in komprimierter Zusammenfassung herausgestellt wird. 2. Die Thesen vom September 1516 gehören zu den Voraussetzungen des Frontalangriffs auf den gesamten theologischen Lehrbetrieb in der Disputation gegen die scholastische Theologie am 4. September 1517 bei der Promotion von Franz Günther aus —————
114 WA 1, 145, 29 f. Vanitas vanitatum nach Pred 1,2 Vulgata. 115 WA 1, 146, 1. 116 WA 1, 146, 14 ff. 117 WA 1, 146, 2 f.: … solo Deo saturari possit … 118 WA 1, 146, 8 f. Nach Röm 8,20 Vulgata: Vanitati enim creatura subiecta est
non volens … Luther übersetzt das griech. Substantiv mataiots (lat. vanitas) mit „Eitelkeit“ (1546, Lutherbibel 1984: „Vergänglichkeit“). 119 WA 1, 147, 10–12: Homo, Dei gratia exclusa, praecepta eius servare nequaquam potest, neque se, vel de congruo, vel de condigno, ad gratiam praeparare, verum necessario sub peccato manet. 120 Röm 3,9 Vulgata. … Iudaeos et Graecos omnes sub peccato esse …
70
Stationen der Auslegung
Nordhausen zum Baccalaureus biblicus. Für diese Disputation hat Luther – etwa zwei Jahre nach dem Beginn der RömberbriefVorlesung und sieben Wochen vor den 95 Thesen gegen den Ablass – 97 Thesen verfasst,121 mit denen er der gesamten Scholastik und ihren aristotelischen Denkvoraussetzungen in voller Absicht eine radikale Absage erteilte. Den Thesen liegt das Gnadenverständnis des Paulus zugrunde, das Luther mit Bezug auf die antipelagianischen Schriften seines Ordenslehrers Augustin, „des Verteidigers der Gnade“122, gegen den Semipelagianismus der scholastischen Theologie entfaltet hat. Sie sind insbesondere gegen Gabriel Biel gerichtet, mit dessen Sentenzenkommentar123 Luther während seiner Erfurter Studienzeit durch Johannes Nathin unterrichtet worden war, und zielen auf eine Grundlagenreform des Theologiestudiums, in dem der Bibel gegenüber der Scholastik und Aristoteles der unbedingte Vorrang eingeräumt werden sollte. Auf die Frage nach der Erkennbarkeit Gottes geht Luther in den Thesen gegen die scholastische Theologie nicht expressis verbis ein. Sie dürfen aber nicht übergangen werden, weil sie nicht nur die Kritik an der Scholastik zusammenfassen, sondern zugleich eine wichtige Etappe auf dem Weg zur theologischen Selbständigkeit darstellen. Grundlegend für die weitere Entwicklung ist die Bestimmung der Relation Gott – Mensch. Diese Verhältnisbestimmung verdichtet sich in These 17: „Der natürliche Mensch kann nicht wollen, dass Gott Gott ist. Vielmehr will er, dass er Gott und Gott nicht Gott ist.“124
Der Mensch ist nicht von Natur aus böse, wie die Manichäer lehren.125 Aber mit dem Abfall von Gott ist er ein „fauler Baum“ geworden, der nichts als das Böse wollen und tun kann.126 Der „natürliche Mensch“ ist der von Gott abgewandte Mensch im —————
121 Die Zählung ist uneinheitlich. Ich folge der Thesenzählung von WA 1, 224 ff. 122 WA 1, 147, 31: ... Augustinus, gratiae defensor ... 123 G. Biel, Collectorium circa quattuor libros Sententiarium, 1486–88, Tübin-
gen 1501, neu hg. v. W. Werbeck/U. Hofmann, Bd. I–IV, 2, Tübingen 1973–1992. 124 WA 1, 225, 1 f.: Non potest homo naturaliter velle deum esse deum, Immo vellet se esse deum et deum non esse deum. 125 Th. 8; WA 1, 224, 20 f. 126 Th. 4; WA 1, 224, 13 f. nach Mt 7,17 f. wie WA 1, 145, 24 f. (s.o. Anm. 113); WA 1, 148, 16 ff. u. WA 56, 76, 20 ff.
Luther
71
Gegensatz zum „geistlichen Menschen“. Dieser ist mit Gottes Wort von Gott selbst durch das Wirken seines Geistes angesprochen und neu in Beziehung zu Gott gesetzt worden. Jener dagegen bildet selbst den Mittelpunkt seines Daseins, an dessen Peripherie er – ausgesprochen oder unausgesprochen – Gott ansiedelt. Die Marginalisierung Gottes ist aber bereits die Leugnung Gottes. Gott wird nun nicht um Gottes, sondern um des eigenen Vorteils willen gesucht.127 Die darin liegende faktische Leugnung Gottes geht allem Denken und Reden über Gott voraus. Dieses Denken und Reden gründet mithin in dem Abgewandtsein des Menschen von Gott. Es wird wohl von der Vernunft durchdrungen und geordnet, aber diese ist mit dem gottabgewandten Willen verwoben, der sie beherrscht.128 Er negiert Gott nicht nur als Gott. Der homo naturaliter versucht sich vielmehr durch sein gegen Gott gerichtetes Wollen und Streben, Dichten und Trachten selbst an die Stelle Gottes zu setzen. Muss man schon in diesen Argumenten die entschiedene Abkehr Luthers von der scholastischen Theologie und ihren aristotelischen Denkvoraussetzungen sehen, so ist doch die eigentliche Spitzenaussage der 17. These damit noch nicht völlig erfasst. Diese besteht darin, dass Luther nicht nur sagt, der natürliche Mensch wolle nicht, dass Gott Gott ist, sondern vielmehr, der natürliche Mensch könne nicht wollen, dass Gott Gott ist (Non potest (!) ... velle). Was er dagegen „kann“, ist, dass er will, dass er Gott und Gott nicht Gott sei. Mit dieser Spitzenaussage vollzieht Luther die gänzliche Demaskierung des „natürlichen Menschen“. Er hat die in der Römerbrief-Vorlesung gewonnene Einsicht in die schuldhafte Unkenntnis Gottes aufgenommen und in der 17. These der Disputation gegen die scholastische Theologie als die annihilatio dei,129 die Zunichtemachung Gottes interpretiert. Nicht einem Götzen, sondern Gott selbst, erkennbar aus seinem Schöpfungshandeln (Röm 1,19), widerstrebt der natürliche Mensch, und zwar nicht —————
127 Vgl. WA 56, 259, 4: ... non propter Deum, Sed propter nos. S.a. WA 1, 228, 1 f. 128 Die Aussagen über die Gottabgewandtheit des menschlichen Willens gehö-
ren zu den eindrücklichsten und wichtigsten der Disputation; vgl. z.B. Th. 71 (WA 1, 227, 26 f.); Th. 77 u. 78 (227, 37 ff.); Th. 85–88 (228, 13 ff.). 129 Zu diesem Begriff vgl. H. J. Iwand, Gesetz und Evangelium, hg. v. W. Kreck, NW 4, München 1964, 44 ff.
72
Stationen der Auslegung
nur durch eine passive Verweigerungshaltung, sondern vielmehr aktiv, willentlich und leidenschaftlich – mit der Zielsetzung, selbst an Gottes Stelle zu treten und Gott als Gott zu negieren. 3. In der Zeit zwischen der Disputation gegen die scholastische Theologie und der Heidelberger Disputation fällt Luthers Veröffentlichung der 95 Thesen. Durch seine Ablasskritik über Wittenberg hinaus bekannt geworden, wurde Luther ab Dezember 1517 denunziert und von den Dominikanern wegen Ketzerei angeklagt.130 Doch Johannes von Staupitz, der Generalvikar der sächsischen Reformkongregation der Augustiner-Eremiten, wollte Luther Gelegenheit geben, seinen theologischen Denkansatz vor einer breiteren Öffentlichkeit darzulegen, und übertrug ihm eine Disputation vor dem Ordenskonvent der Reformkongregation in Heidelberg, angesetzt auf Ende April 1518. Ohne die Ablassfrage zu berühren, hat Luther in der Disputation die Kritik am Ablass und der scholastischen Theologie durch die Entfaltung seiner aus dem Römerbrief gewonnenen theologischen Position indirekt ins Recht gesetzt. Die 28 theologischen Thesen der Disputation gehören zu den „wirkungsvollsten Thesen, die er je geschrieben hat“131. These 1 über das Gesetz Gottes und These 28 über die Liebe Gottes bilden den Rahmen. Dazwischen wird ein Bündel von Themen zur Sprache gebracht, durch die das neue Verständnis der Gnade Gottes entfaltet wird. Einschlägig für die Erkennbarkeit und Erkenntnis Gottes sind die Thesen 19–24. Sie stellen sachlich zugespitzte Folgerungen seiner Auslegung von Röm 1,19 ff. dar und sind von Luther wie die anderen Thesen bewusst als „theologische Paradoxe“132, die durchaus Anstoß erregen sollen, formuliert. Ich konzentriere mich auf die Thesen 19–20. —————
130 Vgl. Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521), Teil I, hg. v. P. Fabisch/E. Iserloh, CCath 41, Münster 1988, bes. 310 ff. 131 H. Bornkamm, Die theologischen Thesen Luthers bei der Heidelberger Disputation 1518 und seine theologia crucis, in: ders., Luther. Gestalt und Wirkungen, SVRG 188, Gütersloh 1975, 130–146, 130. Mit W. von Loewenich ist die theologia crucis als „ein Prinzip der gesamten Theologie Luthers“ aufzufassen (Luthers Theologia crucis, Witten 51967, 14). 132 WA 1, 353, 11: Theologica paradoxa; s. dazu StA 1, 213, Anm. 612, und WA 9, 162, 19 – 168, 21.
Luther
73
These 19: „Nicht der wird mit Recht ein Theologe genannt, der die unsichtbare Wirklichkeit Gottes, die durch das, was gemacht ist, erkannt wird, betrachtet.“133 Vorausgesetzt wird wie in der Römerbrief-Vorlesung die Erkennbarkeit Gottes einerseits und die schuldhafte Unkenntnis Gottes andererseits. Aus dieser doppelten Prämisse schließt Luther, dass ein Theologe keinen Zugang zu Gott auf dem Weg der „natürlichen“ Gotteserkenntnis findet und dass deshalb die Gotteslehre nicht von ihr ausgehen sollte. Wer von ihr ausgeht, beschreitet den Weg des Irrtums und führt in die Abgötterei, kann also keineswegs mit Recht ein Theologe genannt werden. Es ist der denkbar schlimmste Irrtum, weil er auf dem eigenmächtigen und nicht auf dem durch Offenbarung erschlossenen Gebrauch des Namens Gottes beruht. Außerdem ist sie die subtilste Abgötterei, weil nicht ein beliebiger Abgott gebildet wird, sondern vielmehr der sich aus seinen Werken zu erkennen gebende eine, wirkliche Gott selbst zum Ausgangspunkt und Gegenstand der Abgötterei erhoben und das heißt missbraucht wird. Das Fundament zum Verständnis der 19. wie auch der folgenden Thesen hat Luther in der vorausgegangenen Argumentation gelegt. Auf der Grundlage seiner Auslegungen des Römer- und Galaterbriefes stellt er gleich zu Beginn fest, „das Gesetz Gottes, die allerheilsamste Lehre des Lebens“134, führe nicht ins Leben und könne die Gerechtigkeit nicht befördern.135 Das gelte noch viel weniger von den „Werken der Menschen“, die auf natürlicher Anweisung, sei es durch die Vernunft oder durch Gewöhnung, beruhen.136 Unter Bezugnahme auf Röm 3,10 ff. folgert Luther in der Probatio zur 2. These, dass alle Menschen verdorben und unbrauchbar sind und Gott weder erkennen noch suchen.137 Die Erkenntnisproblematik ist also in die Rechtfertigungslehre einbezogen und wird unter dem Leitthema opera hominum in den Thesen 2–12 implizit mitbehandelt. Daraus sei —————
133 WA 1, 361, 32 f. (354, 17 f.): Non ille digne Theologus dicitur, qui invisibilia Dei, per ea, quae facta sunt, intellecta conspicit. Interpunktion nach StA 1, 207. Der zweite Teil der These ist aus Röm 1,20 Vulgata gebildet. 134 WA 1, 355, 30: Lex Dei, saluberrima vitae doctrina ... 135 Th. 1; WA 1, 355, 30–31. 136 Th. 2; WA 1, 356, 6 f. 137 WA 1, 356, 13 f.: nec Deum intelligentes nec requirentes ...
74
Stationen der Auslegung
hervorgehoben: Wer sein Vertrauen auf ein Werk setzt (confidere in opus), gibt sich selbst die Ehre und nimmt sie Gott, dem bei jedem Werk Furcht gebührt.138 Wo aber die Furcht fehlt, dort regiert der Hochmut.139 Dieses Argument ist Luther so wichtig, dass er es wiederholt und resümiert: Selbstsicherheit und Hochmut nehmen Gott die ihm geschuldete Ehre und geben diese dem Menschen.140 Die Usurpation der Ehre, die Gott gebührt, ist aber ein Indiz für die Übertretung des ersten Gebotes und die Negation der Gottheit Gottes. Ihr liegt „die völlige Verkehrtheit“ zugrunde, „nämlich sich selbst zu gefallen, sich selbst in seinen Werken zu genießen und sich als Götzenbild anzubeten“141. Die völlige Verkehrtheit, dass der Mensch, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, für sich ein Mittelpunktdasein beansprucht, in dem er sich selbst zum Endzweck setzt und zum Gegenstand der Selbstvergötterung erhebt, wurzelt in seinem von Gott abgefallenen Herzen und erstreckt sich auf den ganzen Menschen, sein Wollen, Empfinden, Denken und Handeln. In Anbetracht dieser Verkehrtheit ist der Schluss unabweisbar, den Luther in der 18. These zieht: „Es ist gewiss, dass ein Mensch von Grund aus an sich verzweifeln muss.“142 Und genau das ist es, was das Gesetz will: dass der Mensch an sich selbst verzweifelt.143 Darauf zielt Paulus in Röm 1–3 durch den Nachweis, dass alle unter der Sünde sind (Röm 3,9).144 Mit der Thematisierung des Gesetzes, das die völlige Verkehrtheit aufdeckt, hat Luther in These 18 einen Bogen zurück zum Ausgangspunkt der Disputation in These 1 geschlagen. In These 19 zieht er dann die Folgerung aus dieser Verkehrtheit mit der ausdrücklichen Verwerfung der „natürlichen“ Gotteserkenntnis und führt in der Probatio zur These Röm 1,22 an: „Da sie sich für Weise hielten, sind sie zu Narren geworden.“145 Auf —————
138 Probatio zu Th. 7; WA 1, 358, 4 f. 139 Probatio zu Th. 8; WA 1, 358, 30 ff. 140 Probatio zu Th. 9; WA 1, 358, 36 ff. 141 Probatio zu Th. 7; WA 1, 358, 6 f.: tota est perversitas, scilicet sibi placere,
fruique seipso in operibus suis seque idolum adorare. 142 WA 1, 361, 23: Certum est, hominem de se penitus oportere desperare. 143 Probatio zu Th. 18; WA 1, 361, 25: Id enim Lex vult, ut homo de se desperet. 144 WA 1, 361, 26 ff. 145 WA 1, 361, 34 f. Luther zitiert nicht den ganzen Vers, sondern verwendet das Stichwort stulti (Narren, Toren).
Luther
75
der Grundlage der Auslegung von 1515/16 ist gemeint: Die Menschen haben Gott nicht als Gott gepriesen, sondern ihn anders denn als Gott geehrt, nämlich wie das Gleichnis eines Bildes,146 und zwar infolge der Übertragung seiner Macht und Gottheit auf Gottesvorstellungen und Götterbilder.147 Auf die Übertretung des ersten Gebotes durch die Verweigerung der Anbetung und inneren Hingabe an Gott148 folgt sogleich die Übertretung des zweiten Gebotes. Dadurch verkehrt sich die Erkenntnis der unsichtbaren Wirklichkeit Gottes in die eigenmächtige Ingebrauchnahme Gottes für Bilder- und Götzendienst. Dieser entsteht durch die Übertragung der Eigenschaften Gottes auf etwas, das nicht Gott ist. Die völlige Verkehrtheit des menschlichen Herzens schließt es also aus, dass die Erkenntnis der unsichtbaren Wirklichkeit Gottes, seiner Kraft, Gottheit, Weisheit, Gerechtigkeit, Güte usw.149 zu Gott selbst führt. „Dies alles zu erkennen, macht nicht würdig noch weise.“150 These 20: „Sondern (der wird mit Recht ein Theologe genannt), der die sichtbare und rückseitige Wirklichkeit Gottes, die durch Leiden und Kreuz betrachtet wird, erkennt.“151 Diese These, die grundlegende des ganzen Abschnitts, ist sprachlich und terminologisch auf These 19 bezogen und stellt den schwerwiegenden Gegensatz zwischen dem, der zu Unrecht ein Theologe heißt, und dem, der mit Recht ein Theologe genannt wird, heraus. Der Gegensatz gründet in der Unterschiedenheit des Zugangs zu Gott und zur Gotteslehre. Diese Unterschiedenheit wiederum wird durch drei scharfe Entgegensetzungen markiert. Das macht der sprachliche Befund deutlich: These 19 qui invisibilia Dei per ea, quae facta sunt intellecta conspicit —————
– – –
These 20 qui visibilia et posteriora Dei per passiones et crucem conspecta intelligit.
146 WA 56, 178, 2 ff. (Zu Röm 1,21 f.). 147 WA 56, 177, 11 f. 16 ff. 148 Vgl. WA 56, 12, 19 ff. (Glosse zu Röm 1,21). 149 Aus der Probatio zu Th. 19; WA 1, 361, 35 f. 150 Schlussfolgerung der Probatio zu Th. 19; WA 1, 361, 36: haec omnia cogni-
ta non faciunt dignum nec sapientem. 151 WA 1, 362, 2 f.: Sed qui visibilia et posteriora Dei, per passiones et crucem conspecta intelligit. Interpunktion nach StA 1, 208. Text von Th. 19 s.o. Anm. 133.
76
Stationen der Auslegung
Es ist noch einmal in Erinnerung zu bringen, dass der Terminus invisibilia (Dei) aus Röm 1,20 Vulgata stammt und dass mit ihm die Erkennbarkeit Gottes ausgesagt wird; durch den Kontext, in dem der Vers steht, aber zugleich die schuldhafte Unkenntnis Gottes. Der „unsichtbaren Wirklichkeit Gottes“ hat Luther die „sichtbare und rückseitige Wirklichkeit Gottes“ thetisch gegenübergestellt und im Blick auf die Erkenntnis Gottes antithetisch entgegengesetzt. In der Probatio zu These 20 führt er aus: „Die rückseitige und sichtbare Wirklichkeit Gottes steht im Gegensatz zur unsichtbaren (Wirklichkeit).“152 Mit visibilia Dei ist hier die Menschheit, Schwachheit und Torheit Gottes in seinem menschgewordenen und gekreuzigten Sohn gemeint.153 Der Terminus posteriora Dei geht auf 2. Mose 33,23 Vulgata zurück.154 Mose begehrt, die Herrlichkeit des HERRN zu schauen, erhält aber die abschlägige Antwort (33,20): „Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ Kann kein Mensch die Erscheinung der göttlichen Majestät ertragen, so wird Mose doch zugestanden, dass die Herrlichkeit des HERRN an ihm vorüberzieht (33,22). „Dann will ich meine Hand wegnehmen, so dass du meine Rückseite siehst; aber mein Angesicht wird nicht gesehen.“ (33,23)155 Der Gegenüberstellung invisibilia – visibilia entspricht die von per ea, quae facta sunt – per passiones et crucem. Wie die Gegenüberstellung im Blick auf den Gegenstand der Erkenntnis ist auch die Gegenüberstellung hinsichtlich des Ortes der Erkenntnis antithetisch zugespitzt, um zur Aussage zu bringen: Gott ist allein im Leiden und Kreuz zugänglich. Luther gibt dafür folgende Begründung: „Weil nämlich die Menschen die Erkenntnis Gottes aus den Werken missbraucht haben, wollte Gott wiederum aus den Leiden erkannt werden und jene Weisheit des Unsichtbaren durch die Weisheit des Sichtbaren verwerfen, damit so diejenigen, die den in seinen Werken offenbaren —————
152 WA 1, 362, 4: Posteriora et visibilia Dei sunt opposita invisibilium. 153 WA 1, 362, 4 f.: ... id est, humanitas, infirmitas, stulticia ... Mit Bezug auf 1. Kor
1,25.
154 Vgl. dazu T. Rasmussen, Posteriora Dei, KuD 25 (1979), 209–230. 155 2. Mose 33,23 Vulg.: Tollamque manum meam et videbis posteriora mea,
faciem autem meam videre non poteris. Posteriora mea ist Übersetzung von .
Luther
77
Gott nicht verehrten, den in den Leiden verborgenen (Gott) verehren sollten.“156 Als biblischen Beleg führt Luther 1. Kor 1,21 an: „Denn weil die Welt, umgeben von der Weisheit Gottes, Gott durch ihre Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt die zu retten, die glauben.“ Paulus macht in 1. Kor 1,18 ff. parallele Aussagen wie in Röm 1,19 ff. 1. Kor 1,21 stellt er fest, dass die Welt Gott trotz seiner Selbstbezeugung nicht erkannte. Mit der Sendung seines Sohnes, seiner Menschwerdung und Kreuzigung, hat Gott aber etwas Neues gesetzt und gibt sich nun im Leid und Kreuz Christi zu erkennen. Seitdem ist es „so, dass es keinem mehr genügt und von Nutzen ist, der Gott in der Herrlichkeit und Majestät erkennt, er erkenne ihn denn in der Niedrigkeit und Schande des Kreuzes“157. Auf diese Weise „macht er die Weisheit der Weisen zunichte“ (Jes 29,14; 1. Kor 1,19) und erweist sich als „ein verborgener Gott“ (Jes 45,15).158 Auch die Verben conspicere und intelligere hat Luther in Röm 1,20 Vulgata vorgefunden. Die sprachliche Analyse der Thesen 19 und 20 ergibt: Subjekt der parallelen Relativsätze ist jeweils qui; Prädikat in These 19 conspicit und in These 20 intelligit; in umgekehrter Reihenfolge gehören intellecta in These 19 und conspecta in These 20 zu Partizipialkonstruktionen. Was hat die Entgegensetzung intellecta conspicit – conspecta intelligit sachlich zu bedeuten? Zwar kann man sie als Wortspiel abtun, dem die lateinische Terminologie von Röm 1,20 zugrunde liegt, aber ganz zweifellos steht eine antithetische Aussageintention dahinter. Wird doch in These 19 ausgesagt: Wer die unsichtbare Wirklichkeit Gottes, die durch Schöpfungswerke erkennbar wird, betrachtet und sie zum Anlass weiterführender Überlegungen nimmt, kann nicht mit Recht ein Theologe genannt werden. Im Gegensatz dazu wird in These 20 herausgestellt: Wer die sichtbare und rückseitige Wirklichkeit Gottes erkennt, die im Leiden —————
156 Probatio zu Th. 20; WA 1, 362, 5–9. Nach der Übersetzung von W. Härle in LDStA 1, 53. 157 WA 1, 362, 11–13: Ita, ut nulli (!) iam satis sit ac prosit, qui cognoscit Deum in gloria et maiestate, nisi cognoscat eundem in humilitate et ignominia crucis. Interpunktion nach StA 1, 208. 158 WA 1, 362, 13 f.
78
Stationen der Auslegung
und Kreuz betrachtet wird, kann mit Recht ein Theologe heißen. Das bedeutet: Der in seinen Schöpfungswerken erkennbare Gott ist zwar Gegenstand, aber nicht selbst Ort der Erkenntnis; dagegen hat sich der im Leid und Kreuz rückseitig sichtbar gewordene Gott auch selbst zum Ort der Erkenntnis gesetzt, der eindeutig identifizierbar und evident ist. Wer daher den unsichtbaren Gott zum Ausgangspunkt weiterführender Betrachtungen erhebt, verfügt nicht über einen tragfähigen Grund der Erkenntnis und führt in haltlose Spekulationen hinein. Wer im Gegensatz dazu den sichtbaren Gott im Leid und Kreuz betrachtet, hat einen Erkenntniszugang und Erkenntnisgrund, der offen, unverrückbar und evident ist, von dem die Gedanken ausgehen und immer wieder zurückkehren können. Mit der Theologia crucis hat Luther der scholastischen Erkenntnistheorie, „die zwischen der sinnlichen und geistigen Wirklichkeit unterschied und durch den Aufstieg in die intelligible Welt zum Schauen der Herrlichkeit Gottes zu gelangen suchte“159, radikal widersprochen. Im Gegensatz zur scholastischen Theologie geht die Theologia crucis von dem aus, was sie sieht, nämlich „von dem Wort, das Fleisch geworden ist, und sieht ihr Ziel darin, vom credere zum intelligere zu gelangen“160. Hat Luther sich im ersten Teil der Probatio zu These 20 vor allem auf Paulus gestützt, so erhärtet er seine Auffassung im zweiten Teil durch den Bezug auf Johannes und führt den Schriftbeweis mit Joh 14,8 f.; 14,6 und 10,9. „Als Philippus gemäß der Theologie der Herrlichkeit sagte: ‚Zeige uns den Vater‘ (Joh 14,8), da holte Christus alsbald seinen hochfliegenden Gedanken zurück, Gott anderswo zu suchen, führte ihn auf sich selbst zurück und sagte: ‚Wer mich sieht, der sieht auch meinen Vater‘ (Joh 14,9).“161 Philippus verkennt Jesus und damit auch Gott selbst, weil er Gottes, des Vaters, Gegenwart in Jesus nicht wahrnimmt. Im Kontext der Heidelberger Disputation dient Joh 14,8 f. dazu, die bei der Gotteserkenntnis von Christus abschweifenden Gedanken als irreführend zurückzuweisen —————
159 H. J. Iwand, Die 1. Barmer These und die Theologie Martin Luthers, (1936), EvTh 46 (1986), 214–231, 224. 160 Ebd. 161 WA 1, 362, 15–19. Übers. in Anlehnung an LDStA 1, 53.
Luther
79
und die Exklusivität des Zugangs und des Ortes der Gotteserkenntnis in Christus herauszustellen. Dementsprechend folgt auf diesen Schriftbeleg unmittelbar die Spitzenaussage der Disputation: „Also liegt in Christus dem Gekreuzigten die wahre Theologie und Erkenntnis Gottes.“162
Dieser Satz ist die – sprachlich schon an dem vorangestellten Adverb ergo erkennbar – zusammenfassende theologische Schlussfolgerung aus dem ganzen Abschnitt über den Zugang und den Ort der Gotteserkenntnis. Luther unterstreicht mit ihm nachdrücklich die Exklusivität des Erkenntnisweges: Allein in Jesus Christus, eindeutig identifizierbar durch seinen Tod am Kreuz und durch diesen allen zugewandt, liegt die wahre Theologie und Erkenntnis Gottes begründet und beschlossen. Zur Bekräftigung der Schlussfolgerung führt er den Schriftbeweis mit zwei weiteren Belegen aus dem Johannes-Evangelium. Der zuerst angeführte stammt aus Joh 14,6 b163 und lautet: „Niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ Die radikale Exklusivität des Zugangs zu Gott in Christus allein hat sich Luther nicht aus Aversion gegen die Scholastik ausgedacht, sie ist vielmehr biblisch wohlbegründet. Die Aussage ist klar und bedarf keiner Erläuterung. Es sei aber unterstrichen, dass gemeint ist, was geschrieben steht: „Niemand kommt zum Vater ...“ Doch nicht nur die Negation, auch die Position soll unterstrichen werden. In Jesus Christus, dem fleischgewordenen Logos (Joh 1,14), durch den die Gnade und Wahrheit geworden ist (1,17), steht der Zugang zu Gott dem Vater offen, und zwar für alle, weil er das Passalamm Gottes ist, das die Sünde der Welt trägt (1,29). Die Fokussierung auf Jesus Christus ist keine Engführung, sondern vielmehr die Erschließung der Fülle.164 Denn ————— 162 WA 1, 362, 18 f.: Ergo in Christo crucifixo est vera Theologia et cognitio Dei. 163 Nicht aus Joh 10, wie Luther irrtümlicherweise angibt (WA 1, 362, 19). Al-
lerdings trifft der Fundort auf den zweiten Beleg zu. 164 So versteht es Luther in einer Auslegung von Joh 14 f.: Gott hat „sich selbst an einen gewissen Ort gestellt und an eine gewisse Person geheftet, wo er gefunden und angetroffen werden will, dass man ihn nicht verfehle. Das ist nun kein anderer als die Person Christi selbst, in welcher leibhaftig, wie S. Paulus Kol 2,9 sagt, die ganze Fülle der Gottheit wohnt ...“ (WA 45, 481, 17–21; modernisiert wiedergegeben).
80
Stationen der Auslegung
mitzuhören ist das Ich-bin-Wort Jesu, das vorausgeht und in dem alle Ich-bin-Worte zusammengefasst sind (14,6 a): „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ Gemeint ist: Jesus ist in Person der Weg, der zu Gott führt; das Leben, das von Gott gekommen ist und der Welt das Leben gibt (6,33); und die Wahrheit, mit der sich Gott der Vater selbst erschließt, so dass er im Geist und in der Wahrheit angebetet werden kann (4,23 f.). Nach Joh 14,6 führt Luther am Schluss noch Joh 10,9 a an: „Ich bin die Tür.“ Auch dieses Ich-bin-Wort Jesu steht sprachlich und sachlich mit seinem Exklusivitätsanspruch im Horizont des ersten Gebotes und setzt voraus, dass Jesus an der Gottheit Gottes partizipiert. Für die Erkenntnisproblematik, die Luther in den Thesen behandelt, ist klar, was gemeint ist: Jesus allein ist die „Tür“, durch die der Zugang zur Erkenntnis Gottes geöffnet wird, der durch den schuldhaften Abfall von Gott verschlossen ist. Jesus selbst, in der Unverwechselbarkeit und Unaustauschbarkeit seiner Person, ist der Zugang; wer durch ihn „hineingeht, wird gerettet werden“ (10,9 b).
Herder „Nein! du hast dich deinen Geschöpfen nicht unbezeugt gelassen, du ewige Quelle alles Lebens, aller Wesen und Formen. Das gebückte Tier empfindet dunkel deine Macht und Güte ... Aber den Menschen erhobst du, daß er selbst ohne daß ers weiß und will, Ursachen der Dinge nachspähe, ihren Zusammenhang errate und Dich also finde, du großer Zusammenhang aller Dinge, Wesen der Wesen.“1 Diese Sätze entstammen dem vierten Buch des ersten Teils der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von Johann Gottfried Herder. Sie stehen im VI. Kapitel, das die bezeichnende Überschrift trägt „Zur Humanität und Religion ist der Mensch gebildet“. Herder, der seit Herbst 1782 an den Ideen arbeitet, hat in I, 4, VI zentrale Gedanken niedergeschrieben, die ihn seit langem beschäftigt und besonders in den beiden ersten Jahren seiner Bückeburger Zeit (1771–1776) umgetrieben haben. Das angeführte Zitat ist gesättigt von biblischen Vorstellungen und Begriffen. Das Gegenüber der „Geschöpfe“ ist der eine Schöpfer „aller Wesen und Formen“. Er hat sich „nicht unbezeugt gelassen“ ist eine Wendung, die Herder aus Apg 14,17 (Lutherbibel seit 1522) übernommen hat, ohne sie freilich als solche kenntlich zu machen.2 „Quelle alles Lebens“ ist aus Ps 36,10 genommen und steht sowohl für die schöpferische „Macht“ als auch für die „Güte“ Gottes. Die Unterscheidung zwischen der Tierwelt und den Menschen fußt auf der biblischen Schöpfungsgeschichte. Mit den biblischen Vorstellungen und Wendungen umreißt Herder sein Verständnis der Offenbarung. Grundlegend für ihn ist die allgemeine Offenbarung Gottes, in der dieser sich durch seine Werke zu erkennen gibt. Herder führt Röm 1,19 f. nicht ausdrücklich an, aber diese Stelle gehört zum Vorstellungshintergrund. Nach Herders Verständnis ist in der —————
1 J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: ders., Werke, Bd. 6 (= HW 6), hg. v. M. Bollacher, Frankfurt/M. 1989, 161 f. Erstveröffentlichung 1784 (Teile I–II), 1787 (Teil III) und 1791 (Teil IV). 2 M. Bollacher scheinen die biblischen Anspielungen und Bezüge entgangen zu sein; s. den Kommentar z.St., HW 6, 986 f.
82
Stationen der Auslegung
Natur, Geschichte und Sprache der Anruf Gottes enthalten: Gott ist in der gesamten Schöpfung, in jedem Ereignis und Geschehnis der den Menschen umgebenden Wirklichkeit wirksam und tätig, so dass der Mensch ihn darin erahnen und seinen Anruf vernehmen kann. Der Ausruf „Nein! du hast dich deinen Geschöpfen nicht unbezeugt gelassen“ ist Ausdruck des Schöpfungsglaubens und dezidiert – nicht expressis verbis, aber in der Sache – gegen den Deismus gerichtet. Herder will mit ihm zur Aussage bringen: Gott hat sich zu erkennen gegeben und macht sich immer wieder neu anschaubar, indem er handelt; er wird wahrnehmbar durch sein Wirken in der Natur und Geschichte. Es ist aber zu beachten, dass „Offenbarung“ bei Herder ein Sammelbegriff ist. Er umfasst nämlich nicht nur die Offenbarung Gottes in der Natur und Geschichte, sondern zugleich auch die Offenbarung Gottes durch die Überlieferung. Das „Buch der heiligen Natur und des Gewissens“ wird erst „durch den Commentar der Tradition allmählich aufgeblättert, erläutert, erkläret“3. Die Tatsachen beginnen zu sprechen, sie werden zur Sprache, wenn sie bewusst wahrgenommen und durch die bewusste Wahrnehmung zur „selbsterfahrenen Geschichte“4 werden. In der „Besonnenheit“5, wie Herder die reflexive Verarbeitung des Wahrgenommenen im Horizont der Überlieferung bezeichnet, wird das Unpersönliche persönlich und das Unfassbare fasslich. In ihr erschließt sich die Wirklichkeit als Widerfahrnis des in der Natur und Geschichte waltenden Gottes und wird – auf indirekte Weise – zur Anrede des Menschen durch Gott. Dieses Sichmitteilen Gottes durch Tat und Wort ist für Herder Offenbarung. Mit der die Natur, Geschichte und Überlieferung umspannenden Fassung des Offenbarungsbegriffs hat sich Herder eine umfassende Deutungsperspektive eröffnet; mit ihr hat er aber zugleich den überkommenen theologischen Offenbarungsbegriff weitestgehend aufgehoben.6 —————
3 J. G. Herder, Sämmtliche Werke, hg. v. B. Suphan, 33 Bd., Berlin 1877–1913; Bd. 10 (= HSW 10), 295. 4 HSW 19, 147 u.a. 5 „Besonnenheit“ ist ein anthropologischer Schlüsselbegriff in Herders preisgekrönter Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1772 (HW 1, 695 ff., bes. 719, 722 f.). 6 Vgl. E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 4, Gütersloh 1952, 207 ff., bes. 230.
Herder
83
Der Offenbarung, die der Mensch nicht hervorbringt, sondern vielmehr empfängt, korrespondiert die Religion. Sie ist die offene Wahrnehmung, freie Anerkennung und das innere Sichaneignen des mit der Offenbarung Gegebenen. Darin, dass Religion die Wirklichkeit, wie sie ist, und nicht, wie sie sich der Mensch erdenkt, als Handeln und Sprechen Gottes erschließt,7 gewährt sie Einblick, schenkt sie Durchsicht, ist sie Leben, indem sie Weisung ist, und Weisung, indem sie dem Leben eine Perspektive eröffnet.8 Sie ist als „die höchste Humanität, die erhabenste Blüte der menschlichen Seele“9 die Praxis der Gottesverehrung, und zwar für Herder innerhalb der positiven christlichen Religion, nicht etwa in einer sich von ihr absondernden „natürlichen“ Religion oder in einem überkonfessionellen Konstrukt der Vernunft. Sie bewirkt die freie Selbsteinordnung des Menschen in die von Gott geschaffene Natur10 und in die von ihm gelenkte Geschichte, indem sie den Menschen dazu nötigt, den „Ursachen der Dinge“ nachzuspüren, um „ihren Zusammenhang“ zu erheben „und Dich also finde, den großen Zusammenhang aller Dinge, Wesen der Wesen“.11 Die Religion weist also dem instinktarmen, aber nach Gottes Bild geschaffenen Menschen (1. Mose 1,27), der zur „Vernunftfähigkeit“ (Ideen I, 4, I), „Sprache“ (I, 4, III) und „Freiheit“ (I, 4, IV) organisiert ist, den Platz im Ablauf des geschichtlichen Geschehens zu, den er ohne sie nicht zu finden vermag. „Nichts hat unsere Gestalt und Natur so sehr veredelt, als die Religion; bloß und allein weil sie sie auf ihre reinste Bestimmung zurückführte.“12 Das in den Ideen vertretene Verständnis von Offenbarung und Religion beruht auf einer Vorgeschichte, die bis auf die Anfänge der Zeit Herders in Bückeburg zurückreicht. Man hat von einer —————
7 Das geschieht durch „Verstandesübung“ und „mehr als dies: eine Übung des
menschlichen Herzens“ (HW 6, 162). 8 Religion ist „die Belehrerin der Menschen, die ratgebende Trösterin ihres so dunklen, so Gefahr- und Labyrinthvollen Lebens“ (HW 6, 161). 9 HW 6, 162. 10 Schon in der Vorrede zu den Ideen unterstreicht Herder mit Nachdruck: „Die Natur ist kein selbständiges Wesen; sondern Gott ist Alles in seinen Werken ...“ (HW 6, 17). Eine sich selbst schaffende Natur ist ein neuzeitlicher Mythos! 11 HW 6, 161 f.; zitiert o. Anm. 1. 12 HW 6, 163.
84
Stationen der Auslegung
„Bekehrung“ gesprochen13, aber das ist missverständlich, handelt es sich doch nicht um einen einzelnen, zeitlich genau fixierbaren Bekehrungsakt, sondern um die allmählich sich durchsetzende Erkenntnis von der Lebendigkeit, Eigenständigkeit und Unersetzbarkeit der Religion. Die Religion als Religion, nicht als Mittel zu einem ihr übergeordneten Zweck, wie sie im aufgeklärten, absolutistischen Staat instrumentalisiert worden ist, hat sich für Herder immer gebieterischer in den Vordergrund geschoben. Sie steht nicht im Widerspruch zu Bildung, Erziehung, Wissenschaft und Kultur, sondern sie ist, weil sich in ihr die Bestimmung des Menschen erfüllt, deren unentbehrliche Grundlage. Mit Leidenschaft, im Stil und in der Sprache des „Sturm und Drang“, hat sich Herder in den Bückeburger Schriften und Predigten ab 1772 gegen die einseitige Intellektualisierung des Erkennens und Lebens und gegen die rationalistische Auflösung der Religion in Moral gewandt. Das Leben gründet in Religion und bekommt von ihr das Ziel gewiesen; daher muss es auch von ihr durchdrungen sein. Die Erkenntnis von der das Leben umfassenden und es prägenden Kraft der Religion hat für Herder etwas Befreiendes. Sie schließt nämlich ein, dass er das geistliche Amt, das er in Schaumburg-Lippe im Mai 1771 und später in Weimar (Oktober 1776) angetreten hat, von innen her bejahen kann.14 Es ist keineswegs unvereinbar mit pädagogischen, sozialen und anderen Reformplänen, sondern bietet vielmehr Möglichkeiten zu deren Entfaltung und ein Forum zu deren Realisierung. Die Wiederentdeckung der Wirklichkeit der Religion und ihre Wiedereinsetzung in den Rang, der ihr zukommt, ist eine Pionierleistung Herders. Religion braucht sich nicht zu rechtfertigen vor Moral, Politik und Philosophie; denn sie geht ihnen voraus. Sie ist ursprüngliche Empfindung, Erfahrung, Erkenntnis und Gefühl, das den Menschen innerlich ergreift, durchflutet und bestimmt. Ohne sie kann der Mensch seine Individualität und Humanität nicht rein und stark entfalten, sondern ohne sie verkümmert er und verfehlt seine Bestimmung. „Wahre Religion ————— 13 J. Rogerson, Herders Bückeburger „Bekehrung“, in: Bückeburger Gespräche
über Johann Gottfried Herder, hg. v. B. Poschmann, Rinteln 1980, 17 ff. S.a. N. Heutger, Herder in Niedersachsen, Hildesheim 21978, 23 ff. 14 Vgl. dazu W.-L. Federlin, Vom Nutzen des Geistlichen Amtes. Ein Beitrag zur Interpretation und Rezeption J. G. Herders, Göttingen 1982.
Herder
85
also ist ein kindlicher Gottesdienst, eine Nachahmung des Höchsten und Schönsten im menschlichen Bilde, mithin die innigste Zufriedenheit, die wirksamste Güte und Menschenliebe.“15 Ist ohne Abstriche hervorzuheben, dass Herder ein Wiederentdecker und Erneuerer der Religion zur Zeit der Aufklärung war, so darf doch die Näherbestimmung nicht fehlen, dass es sich um die „Religion Adams“16 gehandelt hat. Beurteilt nach dem biblischen Befund Röm 1,19 ff., hat Herder zwar die Erkennbarkeit Gottes vertreten, aber der andere Aspekt, nämlich die schuldhafte Unkenntnis Gottes, bleibt bei ihm unterbelichtet und weitgehend unentfaltet. Dass die These von der Erkennbarkeit Gottes bei Paulus Bestandteil des Schuldaufweises im Rahmen der apostolischen Umkehrpredigt ist, ist bei Herder nicht zum Tragen gekommen. Das ist nun freilich keine Bagatelle, sondern ein schwerwiegendes Defizit. Es wirft die Frage auf, wie Herder das Verhältnis der Erkennbarkeit Gottes zur Offenbarung Gottes in Christus bestimmt hat. Zunächst ist zu unterstreichen: Herders religiöse Grundüberzeugung und theologische Leitvorstellung ist, dass Gott die Welt geschaffen hat und dass er sie in ihrer geschichtlichen Erstreckung leitet. Gott ist die Urkraft allen Lebens; „Gott ist Alles in seinen Werken“17, nämlich als der Schöpfer zugleich der Erhalter und also der in der Gegenwart Handelnde. Das entnimmt Herder der biblischen Schöpfungsgeschichte, die er als die Älteste Urkunde des Menschengeschlechts18 bezeichnet hat. Sie macht dem Menschen die Schöpfung insofern zugänglich und begreiflich, als sie erhellt, dass sich an jedem anbrechenden Tag, wenn die Finsternis weicht und der Tag Konturen annimmt, das Werk der sieben Tage wiederholt. „Wer jemals auf dem wüsten Weltmeer mit Nacht und Todesfurcht umhüllet auf Morgenröte gehofft, wird diese Szene ————— 15 HW 6, 162. 16 Vgl. H. Stephan, Herder in Bückeburg und seine Bedeutung für die Kirchen-
geschichte, Tübingen 1905, 124 f. 17 HW 6, 17. 18 Bd. 1, 1774; Bd. 2, 1776, in: HW 5, 1993, 179–660 (hg. u. komm. v. R. Smend). Vgl. dazu die Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1988, hg. v. B. Poschmann, Rinteln 1989.
86
Stationen der Auslegung
gefühlt haben“19, schreibt Herder in Anspielung auf seine stürmische Seereise von Antwerpen nach Amsterdam im Januar 1770 zu 1. Mose 1,2 nieder. Als der Handelnde und sich durch sein Handeln immer wieder neu Offenbarende, der in jedem Geschehen am Werk ist20, ist Gott für Herder der die Geschichte Leitende und sie zur Vollendung Führende. Das bedeutet: „Ohne Providenz ist uns die Lehre von Gott unnütz.“21 Weil sie unverzichtbar zur Gotteslehre gehört, ergibt sich daraus als Maxime für Unterricht und Predigt: „Gott muß den Menschen gegenwärtig, als mitwirkend in ihr Leben, auch in die kleinsten Umstände desselben mit seinen Absichten verflochten, dargestellt werden.“22 Nicht geringer als die des Schöpfungsgedankens ist die hohe, erkenntnisleitende Bedeutung, die Jesus in Herders Denken hat. Das belegen die Homilien über das Leben Jesu, die er im Kirchenjahr 1773/74 in Bückeburg gehalten hat.23 Herder durchbricht die Perikopenordnung, weil er meint, „aus zerrissenen, ausgerissenen Lappen seiner Geschichte, die wir SonntagsEvangelien nennen“, werde Jesus „nicht im ganzen Licht gesehen“24. Er will die „Züge seines Charakters“ herausstellen, weil Jesus dadurch „gegenwärtiger“ werde als durch „bloße Lehre“25. So sind seine Predigten Homilien, die den Bibeltexten folgen, aber nicht in einer Wort-für-Wort-Erklärung, sondern durch die Wiedergabe des Bildes Jesu, das in ihnen enthalten ist. Das Sachanliegen der Homilien ist, die Geschichte Jesu als das zentrale Ereignis in der Verwirklichung des Planes Gottes mit der Menschheit zu entfalten. Jesus kommt nicht als Moralprediger zu stehen wie im aufgeklärten Rationalismus. Vielmehr zeichnet Herder das Gesamtbild Jesu als des Urbildes der zur Gotteskind————— 19 HW 5, 203. S.a. HSW 5, 169. 20 K. Scholder, Herder und die Anfänge der historischen Theologie, EvTh 22 (1962), 425–440, 427 zählt diesen Aspekt mit Recht zur Grundüberzeugung Herders. 21 HSW 10, 334. 22 HSW 10, 335. 23 HSW 31, 238–353. In heutigem Deutsch: J. G. Herder, Homilien über das Leben Jesu, hg. v. W. Führer, Niedersächsische Bibliothek Geistlicher Texte 4, Hannover 1995. Diese Textausgabe soll nicht an die Stelle der Quellen treten, sondern vielmehr zu ihnen hinführen. 24 HSW 31, 238. 25 HSW 31, 238.
Herder
87
schaft bestimmten menschlichen Natur. Ihm gelingt eine Darstellung der Persönlichkeit Jesu, die für seine Zeit einzigartig gewesen sein dürfte. „Da ist keine Spur von flacher Umschreibung, keine wortreiche Erklärung, keine kunstvolle Harmonistik, keine Verdünnung in Moral oder Lehre, sondern überall Leben und Kraft.“26 Jesus ist für den johanneisch empfindenden und denkenden Herder „Wort Gottes, Licht und Leben“27, nämlich der Offenbarer, in dem sich der ewige Gott der Menschheit zuwendet, um sie in sein Licht hineinzuziehen und an seinem unzerstörbaren Leben Anteil zu geben.28 Aber Jesu „Gottheit“29 ist weniger auf den Artikel von der Erlösung als auf den von der Schöpfung bezogen und wird sozusagen im Rahmen des ersten Artikels ausgelegt. Das belegt die folgende Passage, die für die Bestimmung des Verhältnisses der Erkennbarkeit Gottes aus den Werken zu der Erkenntnis Gottes in Christus sehr aufschlussreich ist: „Allgemeiner Lebensgeist wird also hier Christus! Geist der Schöpfung, der von Gott ausging und (der durch sein Wirken) Freudenquelle in der Natur wurde ... Er war wie der Lebenshauch, der alles beseelte! Das Edelste und Lebendigste, Gedanken und Herzen der Menschen wurden durch ihn! Der ganze Plan Gottes über die Schöpfung, den Endzweck und die Haushaltung aller lebenden und vernünftigen Wesen wurde über ihn als Eckstein und Mittelpunkt beschlossen. Wer diesen also kennen will, muß Christus kennen; wer ihn nicht kennt, sieht im ganzen Reich der Schöpfung und Haushaltung nur Trümmer, Abflüsse ohne Quelle, Farben und Erscheinungen ohne Seele, Licht und Leben!“30 Herder geht von dem Gedanken der Schöpfungsmittlerschaft Christi aus, lenkt die Auslegung von Joh 1,1–14 aber in eine falsche Richtung, wenn er Christus mit Prädikaten wie „allgemeiner Lebensgeist“, „Geist der Schöpfung“ und „Freudenquelle in der Natur“ versieht, geht es im Johannesprolog doch nicht um —————
26 Stephan, Herder (s. Anm. 16), 227. 27 Predigt über Joh 1,1–14 am ersten Advent 1773; HSW 31, 239–249 / Homi-
lien (s. Anm. 23), 36–44. 28 Vgl. HSW 7, 355 ff. 29 HSW 31, 243 / Homilien, 39. 30 HSW 31, 243 f. Wiedergegeben nach Homilien, 40.
88
Stationen der Auslegung
Schöpfung und Natur, sondern um die Fleischwerdung des Wortes (Joh 1,14). Völlig unsachgerecht ist auch und vor allem die von Herder suggerierte Harmonie von Schöpfungswelt und menschgewordenem Christus, von Erkenntnis Gottes aus der Schöpfung und Erkenntnis Gottes aus dem Fleischgewordenen. Von Harmonie kann nämlich nicht nur keine Rede sein, der Prolog sagt vielmehr das Gegenteil aus: „Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht.“ (Joh 1,10; s.a. 1,5 und 1,11) In den Erläuterungen zum Neuen Testament (1775), ebenfalls in Bückeburg geschrieben, stellt Herder fest: „In der Schöpfung sehn wir Gott im Nebel, in Jesu im Bilde.“31 In dieser Feststellung wird eine Zusammengehörigkeit der Erkenntnis Gottes aus der Schöpfung und der Erkenntnis Gottes in Christus vorausgesetzt. Eine solche Zusammengehörigkeit besteht auch zweifellos, aber sie ist komplex und besteht keineswegs im Sinne einer von Herder unterstellten Harmonie zwischen beiden, als würde die eine die andere korrigierend ergänzen. Das ist exegetisch nicht korrekt und theologisch kurzschlüssig. Aus der Exegese sei in Erinnerung gebracht: Paulus geht von der Erkennbarkeit Gottes aus den Werken aus (Röm 1,19 f.), aber auf diese Feststellung folgt die Schilderung der auf dem schuldhaften Abfall von Gott beruhenden Verkehrung der Gotteserkenntnis, die sich in Götzendienst, Selbstentehrung des Menschen und Sittenverfall niederschlägt (1,21 ff.). Im Johannesprolog wird bezeugt, und das sei noch einmal wiederholt, dass durch den, der in die Welt gekommen ist und Fleisch wurde (Joh 1,14), die Welt gemacht ist, dass diese ihn aber nicht erkannte (1,10). Aus diesem exegetischen Befund ergibt sich, dass der Artikel von der Schöpfung und der von der Menschwerdung und Erlösung zwar in unlöslichem Zusammenhang stehen, dass daraus aber keinesfalls geschlossen werden darf, Jesus Christus könne im Horizont des ersten Glaubensartikels interpretiert werden, wie es Herder getan hat. Im Hintergrund dieser falschen Zuordnung steht Herders Reduktion Jesu Christi auf das Urbild der zur Gotteskindschaft bestimmten Menschheit. Die Urbild-Vorstellung ist theologisch ————— 31 HSW 7, 361.
Herder
89
unzureichend und führt in die Irre. Warum hat Herder die neutestamentliche Christusbotschaft nicht umfassend aufgenommen und sich nicht auf die altkirchliche Christologie eingelassen? Das bleibt unklar; fest steht, dass er sie ausdrücklich gemieden hat.32 Herder kann zu Beginn einer Predigt Joh 1,29 zitieren: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt!“33 Aber statt zu entfalten, was Sünde, Sühne und Stellvertretung ist, redet er von Jesu „Bild“, „Charakter“ und seiner „stillen Größe“34. Herder hat die Theologie des Kreuzes und die Versöhnung durch den stellvertretenden Sühnetod Jesu Christi abgelehnt und sogar bekämpft.35 Darin hat er sich nicht als ein Überwinder der Aufklärungspredigt, sondern als deren Protagonist erwiesen. Zwar leitet der Sündenfall bei Herder nicht „den Emanzipationsprozeß des autonomen Menschen im Rahmen einer aufwärts führenden Entwicklung“ ein wie bei Immanuel Kant und Friedrich Schiller,36 aber die Tiefe des biblisch-reformatorischen Sündenverständnisses ist auch ihm verschlossen geblieben. Dem Hauptartikel der Reformation von Christus und der Rechtfertigung37 ist Herder in keiner Weise gerecht geworden. Als Resümee ist festzuhalten: Herder ist der Repräsentant eines Paradigmas der Gotteserkenntnis, das nach ihm, zum Beispiel bei Friedrich Schleiermacher, im Protestantismus große Bedeutung erlangt hat. Es beruht auf der Wiederentdeckung der Religion auf der Grundlage des Schöpfungsgedankens, aber zugleich auf der christologischen Leitvorstellung des Urbildes, durch die die neutestamentliche, altkirchliche und reformatorische Christologie und Soteriologie, von Luther wie bei Paulus durch die Rechtfertigungslehre entfaltet, ihre für Lehre und Verkündigung zentrale, erkenntnisleitende Stellung verloren hat. —————
32 Vgl. HSW 7, 199. 33 HSW 31, 312 / Homilien, 101. 34 HSW 31, 312 f. / Homilien, 101 f. 35 Vgl. HSW 7, 384 ff.; HSW 20, 173 ff. 36 Vgl. W. Düsing, Die Interpretation des Sündenfalls bei Herder, Kant und
Schiller, in: Bückeburger Gespräche (s. Anm. 18), 227–244, 244. Herder hat von Religion mehr verstanden als Kant und Schiller. Kants Religionsschrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 21794 (in: ders., Werke, Bd. VIII, Frankfurt/M. 1968, 649 ff.), sagt mehr darüber, wie man die Religion auf Distanz halten kann, als über die Religion selbst. 37 ASm II, 1; WA 50, 198, 24–200, 5.
90
Stationen der Auslegung
Das kritische Potential, das in der Theologia crucis beschlossen liegt, kann aber unter der Voraussetzung der falschen Zuordnung von Schöpfungslehre und Christologie nicht mehr zur Geltung gebracht werden. In dem von Herder vertretenen Paradigma der Gotteserkenntnis stehen die natürliche Gotteserkenntnis und die Erkenntnis Gottes in Christus in einem harmonischen Zusammenhang und ergänzen und korrigieren einander. Das steht jedoch nur scheinbar im Einklang mit dem Neuen Testament. In Wirklichkeit wird durch diese Harmonisierung eine Verfälschung der Gotteserkenntnis zugedeckt. Worin kommt das zum Ausdruck? Infolge der Harmonisierung der natürlichen Gotteserkenntnis mit der Erkenntnis Gottes in Christus kann der Mensch, der Gott fern ist und ihn hasst, davor bewahrt bleiben, in die Krisis geführt zu werden. Vielmehr wird er mit Hilfe der Harmonisierung die natürliche Gotteserkenntnis dazu missbrauchen, seinen Abfall von Gott zu bemänteln und seinem eigenen Offenbarwerden vor Gott zu entgehen. Die Harmonisierung beruht also letztlich auf Unbußfertigkeit und steht im Dienst der Selbstbehauptung des homo religiosus gegenüber Gott. Das, worauf Paulus abzielte, nämlich den Schuldaufweis im Rahmen der Umkehrpredigt, wird durch die Harmonisierung unterlaufen. Es kommt zu keiner Umkehr, aber freilich auch nicht zur Befreiung aus Halbwahrheit und Lüge. Die Freude der Umkehr, die das Evangelium eröffnet, bleibt etwas Fremdes. Die Gewissheit des Heils kann nicht Platz greifen; denn die Erkenntnis, dass Gott schafft und in allem tätig ist, verbürgt noch nicht das Heil, sie kann im Gegenteil das Unheil einschließen. Die Harmonisierung unterbindet mithin das, was der Mensch durch sie eigentlich erreichen will: den Eintritt in die Gemeinschaft mit Gott. Zusammengefasst: Die Harmonisierung der natürlichen Gotteserkenntnis mit der Christusoffenbarung führt zur Enteschatologisierung des Evangeliums von Jesus Christus und lässt den heilsbedürftigen Menschen bei sich selbst stehen. Der Protestantismus hat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein zweites Paradigma der Gotteserkenntnis hervorgebracht. Es berührt sich mit dem Theologumenon der Offenbarung Gottes durch die Werke, überschreitet es aber zugleich; denn die Grenze zur „natürlichen“ Gotteserkenntnis ist fließend.
Herder
91
Repräsentativ dafür ist Herder; zur Vorherrschaft ist dieses Denkmodell im 19. Jahrhundert durch Schleiermacher gelangt. Doch nicht nur im Blick auf die Anfänge der Romantik,38 auch bei der Wiederentdeckung der Religion ist Herder Schleiermacher vorausgegangen.39 Weder das Herdersche noch das Schleiermachersche Denkmodell steht mit dem Luthers im Einklang, das aus der Theologie des Kreuzes erwachsen ist und auf biblischem Grund, vor allem auf Paulus, danach auf Johannes, beruht.
—————
38 Als Herder 1769 von Riga aus in See sticht, beginnt das, was man später
„Romantik“ nennt (mit R. Safranski, Romantik, München 2007, 17 ff.). 39 Schleiermachers Reden „Über die Religion“ sind zwar 1799 erschienen, aber recht eigentlich erst im folgenden Jahrhundert zur Geltung gekommen (vgl. K. Nowak, Schleiermacher, Göttingen 2002, 97 ff.).
Iwand „Die Theologia crucis und das Prinzip der Erkenntnis Gottes allein in Christo müssen nun zusammenfallen.“1 Das hat Hans Joachim Iwand aus der Probatio Luthers zur 20. These der Heidelberger Disputation2 gefolgert. Er hat damit terminologisch und sachlich in der Frage der Gotteserkenntnis den Anschluss an Luther hergestellt. Dieser Anschluss impliziert bei Iwand die bewusste Absage an den neuprotestantischen Denkansatz, wie er von Herder, Schleiermacher und anderen vertreten worden ist.
Die Aneignung des reformatorischen Denkansatzes Was Iwand am Ende seines Lebens und Wirkens, im Herbst 1959,3 thetisch herausgestellt hat, hat sich während seines Studiums angebahnt. Zur Vorgeschichte gehört die Herausgabe der Vorlesung Luthers über den Römerbrief 1908 durch Johannes Ficker. Diese war lange verschollen gewesen; ihre Entdeckung für die Wissenschaft erfolgte recht eigentlich erst nach dem Ersten Weltkrieg. Zu denen, die sie sich gründlich aneigneten, gehörte Iwand. An seinen theologischen Lehrer Rudolf Hermann schreibt Iwand am 5. August 1921: „Mit Begeisterung lese ich Luther ... Einige Sätze muß ich Ihnen auch schreiben ... zunächst den schönsten bisherigen Satz aus den Scholien: Unde ergo acciemus defendentes? Non nisi a Chriso et in Christo. Cor enim credentis in Christum, si reprehenderit eum et accusaverit eum, testificans contra eum de malo opere, mox avertit se et ad Christum conver—————
1 H. J. Iwand, Theologia crucis, 1959, in: ders., NW 2, 1966, 381–398, 386. 2 S.o. S. 77, bes. Anm. 156. 3Geboren am 11.07.1899 als Pfarrerssohn in Schreibendorf/Schlesien; gestorben
am 2.05.1960 in Bonn. Zu den einzelnen Lebensstationen vgl. E. Burdach, Hans Joachim Iwand. Theologe zwischen den Zeiten. Ein Fragment 1899–1937, Beienrode 1982; H.-W. Surkau, Iwand, TRE, Bd. 16, 1987, 427–432; P. Sänger, Lebensabriß und Briefdokumentation, in: ders./D. Pauly, Hans Joachim Iwand – Theologie in der Zeit, München 1992, 27 ff.; W. Führer, Iwand, BBKL, Bd. 14, 1998, 1101– 1104; J. Seim, Hans Joachim Iwand, Gütersloh 1999.
Iwand
93
tit dicitque: ... Quodsi peccatum meum suum fecit, iam ego illud non habeo et sum liber.“4 In der Scholie zu Röm 2,15, auf die sich Iwand bezieht, sind biblische Leitvorstellungen und theologische Schlüsselbegriffe von Luther auf erhellende Weise zueinander in Beziehung gebracht.5 Luther hat die Situation des gefallenen Menschen coram Deo in den Blick genommen. Diese ist dadurch charakterisiert, dass Gottes Gesetz im Menschen einen Streit auslöst, der im Gewissen durch „die Gedanken, die einander anklagen oder auch entschuldigen“ (Röm 2,15), ausgetragen wird. Zwar neigt der Mensch dazu, sich selbst zu entschuldigen, aber dabei kommt er nicht zur Ruhe, weil er die Rechtsforderung des Gesetzes insgeheim in seinem Herzen anerkennt, wie es ihm auch das Gewissen bezeugt. Das wirft die Frage auf, mit der Iwands Zitat beginnt, nämlich woher wir die Gedanken nehmen, die uns entschuldigen bzw. verteidigen? Nicht aus dem Rückbezug auf unsere Werke, sondern „nur von Christus und in Christus“. Das Herz, das an Christus glaubt, überwindet die Anklage des Gewissens, indem es sich dessen vergewissert, was es über Christus gehört hat, und spricht zu sich selbst: „Er aber hat genug getan, er ist gerecht, er ist meine Verteidigung, er ist für mich gestorben, er hat seine Gerechtigkeit zu der meinigen gemacht und meine Sünde zu der seinigen. Hat er meine Sünde zu der seinigen gemacht, so habe ich sie nicht mehr und bin frei. Hat er seine Gerechtigkeit zu der meinigen gemacht, so bin ich nunmehr gerecht in derselben Gerechtigkeit wie er. Meine Sünde aber kann ihn nicht verschlingen, sondern sie wird verschlungen vom unendlichen Ab-
—————
4 H. J. Iwand, Briefe an Rudolf Hermann, hg. v. K. G. Steck, NW 6, 1964, 44.
Das lat. Zitat stammt aus M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/16, hg. v. J. Ficker, II, 44, 2 = WA 56, 204, 14 ff. Der Übersetzung des Herausgebers in NW 6, 44, Anm. 1 liegt die von E. Ellwein zugrunde: „Woher nehmen wir also dann die Gedanken, die uns entschuldigen? Nur von Christus und in Christus. Denn wenn das Herz dessen, der an Christus glaubt, ihn tadelt und verklagt, und wider ihn zeugt, er habe Übles getan, so wendet er sich alsbald davon ab, nimmt seine Zuflucht zu Christus und spricht: ... Hat er meine Sünde zu der seinigen gemacht, so habe ich sie nicht mehr und bin frei.“ 5 WA 56, 204, 8 ff.
94
Stationen der Auslegung
grund seiner Gerechtigkeit; denn er selbst ist Gott, gepriesen in Ewigkeit.“6 Iwand hat einen Ausschnitt aus der Scholie zitiert, aber dieser steht für das Ganze. Das ergibt sich aus der Feststellung, die er auf das Zitat folgen lässt: „Nur das ist satisfactio. Und dies nun in dem wundervoll-tiefen Zusammenhang, es muß jedem zur Erlösung werden.“7 Jedem – also nicht nur Paulus oder Luther, sondern jedem, der glaubt, auch dem Theologiestudenten Iwand, der in Machnitz bei Breslau gerade eine Hauslehrerstelle innehat. Denn Iwand glaubt. Das geht aus der Bemerkung hervor: „An solchen Stellen könnte man wirklich aufspringen und vor Freude wer weiß was tun.“8 Mit diesem Satz ist die Heilsgewissheit zum Ausdruck gebracht, die aus dem Glauben an Christus erwächst. Diese ist „keine abgeleitete, historische Größe, sondern eine ursprüngliche Gegebenheit“9. Aus ihr heraus, nämlich aus der Einheit von Glaube, Leben und Lehre, hat Iwand wie Luther Theologie getrieben. Bei der Auswahl des Zitates hat Iwand großen theologischen Spürsinn bewiesen. Denn Luther thematisiert in der Scholie in komprimiertester Form die Rechtfertigungsfrage im Horizont der alles entscheidenden Frage, nämlich der Heilsfrage nach Christus. Die Antwort, die er in der Scholie gibt, enthält sein Verständnis von Christus und der Rechtfertigung in nuce: Christus hat stellvertretend „für mich“ (pro me) gehandelt, und das gilt „vor Gott“ (coram Deo), so dass „ich frei bin“ (sum liber). Auf das zentrale Thema Christus und die Rechtfertigung sind alle Leitbegriffe, die Luther in der Scholie verwendet,10 zugeordnet. —————
6 WA 56, 204, 17–23: Hic autem satisfecit, hic Iustus est, hic mea defensio, hic pro me mortuus est, hic suam iustitiam meam fecit et meum peccatum suum fecit. Quod si peccatum meum suum fecit, iam ego illud non habeo et sum liber. Si autem Iustitiam suam meam fecit, iam Iustus ego sum eadem Iustitia, qua ille. Peccatum autem meum illum non potest absobere, Sed absorbetur in abysso iustitie eius infinita, Cum sit ipse Deus benedictus in secula. 7 NW 6, 44. 8 Ebd. 9 H. J. Iwand, Leben und Lehre, Königsberg/Pr. 1931, 7. 10 Die wichtigsten, die Luther in WA 56, 204, 8 ff. gebraucht, sind: conscientia, gratia, lex, bonum et malum, Deus, Christus, cor, fides (credere), avertere/convertere, satisfacere, pro me mortuus est, iustus/iustitia, peccatum, iustificare ... Was Luther in der Scholie auf einem halben Blatt Papier bedenkt, ist nicht weni-
Iwand
95
Sie stellen die Interpretation vor die Aufgabe, sie aus dem Zusammenhang zu erklären, in dem sie bei Luther stehen. Der zweiundzwanzigjährige Iwand hat sich von dieser Scholie das Thema stellen lassen, dem er fortan seine theologische Aufmerksamkeit widmen und das er gedanklich und begrifflich durchdringen sollte. An erster Stelle steht die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Christologie und Rechtfertigungslehre. Die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen beiden hat die Studie Rechtfertigungslehre und Christusglaube hervorgebracht, mit der sich Iwand 1927 an der Universität Königsberg in Ostpreußen habilitiert hat.11 In engster sachlicher Berührung mit der Rechtfertigungslehre steht das andere Leitthema Gesetz und Evangelium, dem sich Iwand immer wieder zugewandt und von dem aus er in der Folgezeit zu kirchlichen und gesellschaftspolitischen Fragen seiner Zeit Stellung bezogen hat.12 Auch die Frage der Gotteserkenntnis ist in der von Iwand zitierten Stelle implizit enthalten. Der „Rollentausch“, dass nicht der sündige Mensch, sondern der sündlose Christus stellvertretend die Sünde trägt, und dass infolgedessen Gott den Sünder nicht verklagt, sondern vielmehr verteidigt und rechtfertigt, führt die „natürliche“ Gotteserkenntnis in die Krise. Für sie ist es nämlich unausdenkbar, dass Gott den sündigen Menschen wie ein Anwalt im Prozess gegen die Ankläger verteidigt und dass er den Gottlosen schließlich rechtfertigt, weil das Gericht über die Sünde stellvertretend an Christus, seinem Sohn, vollzogen worden ist. Die völlige Umkehrung des Verhältnisses Gott – Mensch13 durch das In-Erscheinung-Treten und stellvertretende Handeln Gottes in und durch Christus schließt es prinzipiell aus, die ————— ger als das Herzstück, das Zentrum der Theologie, in dem alle Gedanken ihren Ausgangs- und Zielpunkt haben. 11 1. Aufl. Leipzig 1930. Im Vorwort zur Neuauflage 1961 (TB 14) zählt sie der Herausgeber E. Wolf zu den „unvergänglichen Beiträgen zur Lutherforschung“. 12 Zuerst in CuW 5 (1929), 209–218; am originellsten und aufschlussreichsten in einer Vorlesung 1937 (veröffentlicht in NW 4, 11–230). Vgl. außerdem z.B. GA I, 87–109 (gegen K. Barth); GA II, 49–82; NW 5, 75–84; EKL, Bd. I, 21961, 1562– 1567; s. dazu R. Meier, Gesetz und Evangelium bei Hans Joachim Iwand, FSÖTh 80, Göttingen 1997. 13 Mit einem dreimaligen Sic hat Luther sein Erstaunen und zugleich seinen Jubel über diese Umkehrung des Verhältnisses zum Ausdruck gebracht (WA 56, 204, 25).
96
Stationen der Auslegung
christliche Gotteserkenntnis auf das natürliche Gottesverständnis zu gründen. Dieses wird vielmehr durch jene radikal in die Krise geführt. Das ist Iwand seit dem Sommer 1921 bewusst. In diese Zeit fällt auch seine Lektüre der Auslegung Luthers von Röm 1,19 ff., die zu den Voraussetzungen der Heidelberger Disputation gehört. Nicht etwa auf Karl Barth, sondern auf Luthers Vorlesung über den Römerbrief geht der Denkansatz der Theologie Iwands zurück.14 Übrigens ist es auch nicht Hermann, der Iwand das Thema vorgibt, sondern eine Scholie aus Luthers Vorlesung, die er seinerseits seinem Breslauer Lehrer mitteilt.
Vertiefung durch Auseinandersetzung Als theologischer Autor trat Iwand erstmals öffentlich 1929 in Erscheinung, zunächst durch Rezensionen,15 1930 dann durch die Veröffentlichung seiner Habilitationsschrift. Ein Anwendungsbeispiel seines in der reformatorischen Rechtfertigungslehre gründenden Denkansatzes stellt die Rezension einer Schrift von Emanuel Hirsch dar.16 Der Haupteinwand, den Iwand gegen Hirsch erhebt, betrifft „das Verhältnis von allgemeiner und spezieller Offenbarung“17. Hirsch „steigt von jener zu dieser auf“18. Er repräsentiert damit das im Protestantismus vorherrschende Denk- und Handlungsschema. Er lässt Luthers Theologia crucis außer Acht und übergeht die Diastase, die zwischen allgemeiner und spezieller Offenbarung besteht. Auf sie aber legt Iwand den —————
14 Auch Karl Heim ist für Iwand nicht prägend geworden. Iwands Dissertation Zur methodischen Verwendung von Antinomien. Dargestellt an Karl Heims „Glaubensgewissheit“ (Königsberg 1924) wirkt, verglichen mit seiner Habilitationsschrift über Luther, wie eine blasse wissenschaftliche Pflichtübung. Das dürfte damit zusammenhängen, dass für Iwand die religionsphilosophische Grundlegung der Dogmatik zum Zeitpunkt der Niederschrift der Dissertation bereits ein überholter Standpunkt war. Durch Luther war ihm „an der Theologie eine Lebensarbeit aufgegangen“ (NW 6, 48; Ende 1921). 15 Vgl. D. Pauly, Bibliographie, in: P. Sänger / D. Pauly, Iwand (s. Anm. 3), 225–316, 230 ff. 16 E. Hirsch, Der Sinn des Gebets, Göttingen 21928. Rez. v. Iwand in: DLZ 50 (1929), 1225–1230. 17 Iwand, DLZ 1929, 1227. 18 Ebd.
Iwand
97
Finger, übt in der Rezension jedoch zugleich Zurückhaltung19 und beschränkt sich darauf, unter Bezugnahme auf Erich Seeberg herauszustellen, „daß die spezielle Offenbarung erst einmal sagt, was allgemeine Offenbarung ist“20. Der Weg, den Hirsch eingeschlagen hat, „wird im Ansatz immer psychologisch bleiben und im Ziel ethisch sein“; der Weg, den Luthers Theologia crucis gewiesen hat und den Seeberg hier vertritt, ist dagegen „im Ansatz dogmatisch und im Ziel erkennend“21. Außer in der Forschung und Lehre war Iwand in der Ausbildung an Theologiestudenten zur Vorbereitung auf ihr kirchliches Amt im Lutherheim in Königsberg, dessen Inspektor er seit 1923 war, tätig. Iwand, seit 1927 Privatdozent, hat erheblichen Anteil an der Blütezeit der theologischen Fakultät der Universität Königsberg, vielleicht ihrer größten,22 jedenfalls aber ihrer letzten, doch dies nicht isoliert von der Kirche, sondern in engster Verbindung mit dem kirchlichen Verkündigungsdienst, auf den er die Theologiestudenten im Lutherheim vorzubereiten half. Der zum Selbstzweck gewordenen „wissenschaftlichen Arbeit“ fehle „der Ernst der Wahrheitsfrage“23. Deshalb ging es ihm darum, die „Wahrheitsfrage im theologischen Studium zur entscheidenden Instanz (zu) machen“; denn das heißt: „seine Berufung zum Theologen erfahren“24. Durch die Verknüpfung von Lehre und Beruf in der Ausbildung hat Iwand maßgeblich zum Widerstand gegen die Gleichschaltung von Theologie und Kirche durch den Nationalsozialismus in Ostpreußen nach 1933 beigetragen.25 Das Vorgehen der „Deutschen Christen“ in Ostpreußen war gezielt gegen die von Iwand und seinen Mitstreitern an der Fa—————
19 In einem Brief an Hermann äußert sich Iwand freimütig und nennt die Schrift von Hirsch „entsetzlich“ (NW 6, 188). 20 Iwand, DLZ 1929, 1227. 21 Ebd. 22 So H. Dembowski, Königsberg, Universität, TRE, Bd. 19, 1990, 305–311, 309 f. Neben Iwand lehrten später prominent gewordene Theologen wie J. Schniewind, M. Noth und G. Bornkamm in Königsberg. 23 Iwand, Theologie als Beruf, 1929, in: NW 1, 1962, 219–227, 219. 24 NW 1, 220. 25 Vgl. H. Linck, Der Kirchenkampf in Ostpreußen, München 1968, 15 ff. u.ö.; M. Koschorke (Hg.), Geschichte der Bekennenden Kirche in Ostpreußen 1933– 1945, Göttingen 1976, 65 ff. S.a. aus der Erinnerung eines Arztes: H. Graf v. Lehndorff, Die Insterburger Jahre. Mein Weg zur Bekennenden Kirche, München 1992, 17 f.
98
Stationen der Auslegung
kultät und im Lutherheim vertretene reformatorische Theologie und die von ihr inaugurierte Kirchlichkeit gerichtet.26 Iwand, der die Kirche durch die wiederentdeckte reformatorische Lehre erneuern wollte, trat die häretische Bewegung der Deutschen Christen mit der ihr eigenen Unverfrorenheit entgegen. Diese verfügte über die größeren Machtmittel und drängte ihn aus dem Lehramt und der öffentlichen Verantwortung (1935 Entzug der venia legendi; 1936 „Reichsredeverbot“). Die kirchlichen Schlüsselpositionen besetzte sie mit ihren eigenen Repräsentanten. An Hermann schrieb Iwand am 12. Mai 1934: „Auch ... kann ich wohl sagen, daß alles, wofür ich hier seit Jahren gearbeitet habe, dahin ist.“27 Wie konnte es zur Überrumpelung der Kirche durch die Deutschen Christen kommen? In demselben Brief gibt Iwand eine Antwort, die für seine Auffassung des Ansatzes der Offenbarung einschlägig ist: „Der, fast könnte man sagen, nahtlose Zusammenhang und Übergang von Religion und Offenbarung hat sich eben doch als der Nährboden all der Irrlehren erwiesen, unter denen heute die Kirche zugrunde zu gehen droht.“28 Auf der Konferenz theologischer Hochschullehrer der baltischen Länder 1934 in Königsberg hielt Iwand einen Vortrag über Die Krisis des Wissenschaftsbegriffes und die Theologie.29 Der Gedanke über das Verhältnis von Religion und Offenbarung, den er gegenüber Hermann geäußert hat, kehrt auch in dem Vortrag wieder. „Der Gegensatz heißt hier nicht mehr Leben und Wissenschaft, sondern Offenbarung und natürliche Erkenntnis, und es wird der Wissenschaft gerade das streitig gemacht, was ihr die Griechen hatten zukommen lassen: daß die Wahrheitsfrage eine wissenschaftliche Frage ist, d.h. eine Frage, die in den Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis fällt. Das muß der Theologe ablehnen, weil die Frage nach der Wahrheit immer die Frage —————
26 Vgl. Burdach, Iwand (s. Anm. 3), 260; Linck, a.a.O., 101 ff. Stand Iwand in Ostpreußen im Zentrum des Kirchenkampfes, war er deutschlandweit zunächst – entsprechend der Randlage der Provinz – eine Randfigur. Bei K. Scholder (Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. I, Berlin 1977) ist er nur ein einziges Mal (S. 593) erwähnt. 27 NW 6, 262. 28 NW 6, 261. 29 GA I, 62–74. S. 62 fehlt „die“ vor Theologie im Titel.
Iwand
99
nach der Erkenntnis ist, in der der Mensch selbst wahr wird, nicht nur erkennt, was wahr ist, und weil darum alle Erkenntnis von Wahrheit nichts nütze ist, unter der der Erkennende nicht zugleich selbst zum ‚wahren Menschen‘ wird.“30 Die Wahrheit über den Menschen kommt in der Relation Gott – Mensch zur Entscheidung, und zwar coram Deo. Sie ist die grundlegende Erkenntnis, weil in ihr der Mensch sich selbst zur Frage wird und nicht nur das, was er durch die Vernunft zur Frage erhoben hat. Die Wissenschaften sind hochdifferenziert, aber es lässt sich nicht darüber hinwegsehen, „daß die wissenschaftliche Erkenntnis vor einer ganzen Reihe brennender, unbedingt zur Erledigung drängender Lebensfragen einfach versagt“31. Die Physik zum Beispiel hat durch Albert Einstein einen kaum für möglich gehaltenen Hochstand erreicht, aber die Entdeckung der Kernspaltung durch den Physiker Otto Hahn in Göttingen 1938, vier Jahre nach Iwands Vortrag, hat die Menschheit vor noch nie gekannte Probleme gestellt. Mit ihnen wird Iwand dann nach dem Zweiten Weltkrieg in der Friedensarbeit befasst sein. In dem Vortrag 1934 geht es ihm um die Bestimmung des Verhältnisses der Wissenschaften zur Theologie. Während die Wissenschaften in ihren jeweiligen Fachgebieten fragen, was wahr ist, ist in der Theologie der Mensch selbst der Wahrheit Gottes in Christus ausgesetzt. Die Theologie gibt es, „weil da, wo der Mensch vor dem Forum der Wahrheit steht, auch der da ist, der jedem, der aus der Wahrheit ist, verheißen hat, er werde seine Stimme hören“32. In dem Ausgesetztsein an die Wahrheit Gottes in Christus ist die Theologie, die für Iwand wie in der Reformation selbstverständlich unter dem Dach der Universität gelehrt wird, die verborgene Mitte aller Wissenschaften, ein stetiges Korrektiv, das zu begrenzen hilft, was sich selbst nicht zu begrenzen vermag. Die Krise, in der nicht nur die Wissenschaften stehen, die vielmehr die ganze Gesellschaft erfasst hat, ist auch ein Ausdruck dafür, „daß das Christentum heute eine fragliche Größe geworden ist, daß es faktisch Namenschristentum und institutio————— 30 GA I, 64. 31 GA I, 62. 32 GA I, 72.
100
Stationen der Auslegung
nelles Christentum geworden ist und daß dem Menschen fraglich geworden ist, warum er sich Christ nennt. Und darum, weil das Christentum aufgehört hat, Lebensinhalt zu sein, muß die Krise des geistigen Lebens eine religiöse werden, sie muß unabhängig vom Christentum Antwort auf die Gottesfrage suchen.“33 Mit diesem Phänomen und dieser neuen Zeittendenz hat sich Iwand nicht lange nach dem Vortrag über die Krisis des Wissenschaftsbegriffs auseinanderzusetzen. Das geschieht in einem – auf einen Vortrag in Riga im Mai 1935 zurückgehenden – Zeitschriftenbeitrag, der auch als Sonderdruck unter dem Titel erschienen ist: Wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen. Antwort auf W. Hauers „Deutsche Gottschau“.34 Hauer will die Zuständigkeit für Religion und Glaube nicht länger den christlichen Kirchen überlassen, schon gar nicht das Monopol darauf, und setzt ihnen trotzig entgegen: „Wir sind Kämpfer für einen Glauben wider allen Unglauben.“35 Im Namen von Religion und Glaube stellt er auf den Prüfstand, wie es um Religion und Glaube in den Kirchen bestellt ist. Er ist am Basler Missionshaus ausgebildet worden und weiß, wie brüchig die christologischen Grundlagen durch die liberale Theologie geworden sind und wie schwach das Christuszeugnis der Kirchen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gewesen ist. Die Frage nach Jesus bewege die Jugend kaum noch; jedenfalls sei sie für sie kein „Herzensproblem“36. Das wissen die Theologen und Pfarrer, aber sie tun so, als wäre es anders; Hauer hingegen spricht es offen aus. Er stellt sich vor die Jugend, der die paulinisch-lutherische Sündenlehre zugemutet werden soll,37 die von der Mehrheit der Pfarrer längst ausgehöhlt oder ganz preisgegeben worden ist. Wären Theologie und Kirche nicht so gewesen, wie sie es waren, und zwar nicht erst 1933, sondern schon am ————— 33 GA I, 69. 34 EvTh 2 (1935), 153–183. Zitate nach dem Sonderdruck München 1935. Die
Schrift von W. Hauer trägt den Titel Deutsche Gottschau. Grundzüge eines deutschen Glaubens, Stuttgart 1934. Sie erreichte bis 1935 5 Auflagen. Iwand bezieht sich auf die 3., unveränd. Aufl. 1935. Zur Person, einem Tübinger Indologen und Religionswissenschaftler, s. BBKL, Bd. 2, 1990, 593 f.; DBE, Bd. 4, 1999, 438 f. 35 Hauer, a.a.O., 1. 36 Hauer, a.a.O., 253. 37 Hauer, a.a.O., 135.
Iwand
101
Ende des 19. Jahrhunderts, hätten ihr Hauers haltloses Gerede über den artgemäßen Glauben der indogermanischen Rasse38 nicht zur Anfechtung werden können. „Es ist nicht leicht, Hauer zu antworten“, stellt Iwand zu Beginn fest.39 Dies jedoch nicht, weil ihn Hauers Schrift theologisch in Verlegenheit gebracht hätte, sondern weil die protestantische Theologie und Kirche seiner Zeit so wenig wie Hauer zwischen Religion und Offenbarung stringent unterscheidet und weil er nicht für jene Partei ergreifen will, wenn er Hauer widerspricht. Das muss man daher im Blick behalten: Iwand tritt mit seiner „Antwort“ nicht auf die Seite des Neuprotestantismus, wenn er sich Hauer entgegenstellt, sondern er vertritt die reformatorische Position, die ihn zum Antipoden Hauers macht, ihn aber zugleich in den Gegensatz zur protestantischen Theologie bringt.40 Hauer hat Iwand vor Augen geführt, was es für Folgen haben kann, wenn das Verhältnis zwischen Religion und Offenbarung nicht eindeutig bestimmt ist. Um klar Position beziehen zu können, greift Iwand deshalb auf Luthers Vorlesung über den Römerbrief und die Heidelberger Disputation zurück.41 Während im neueren Protestantismus Religion und Offenbarung in einer mehr oder weniger geklärten Harmonie zueinander stehen und man von jener zu dieser aufzusteigen sucht,42 negiert Hauer die Priorität der Offenbarung radikal. Nicht Jesus Christus, dem „religiösen Urwillen des deutschen Volkes“ gebührt der Vorrang.43 Es trifft nun freilich nicht zu, dass Hauer, wie Iwand meint, das Christentum nicht versteht.44 Vielmehr ist der im Geist des schwäbischen Pietismus erzogene Hauer als christlicher Missionar in Indien durch die Begegnung mit indischen Religionen an dem Hoheitsanspruch Jesu Christi, der Weg, die Wahrheit und das Leben zu sein (Joh 14,6), offenbar irre geworden. Hauer ist ein Apostat, der nach seiner Missionstätigkeit in —————
38 Vgl. Hauer, a.a.O., 52 f. 247 u.ö. 39 Iwand, a.a.O. (s. Anm. 34), 3 (Sonderdruck). 40 Vgl. Iwand, a.a.O., 4 f. 41 Vgl. Iwand, a.a.O., 11, 15, 29 u.ö. Darunter auch dieselbe Stelle, die Iwand im
Brief an Hermann am 5.08.1921 zitiert hat (s.o. Anm. 4). 42 So z.B. Hirsch (s.o. Anm. 18). 43 Hauer, a.a.O., 252. 44 Iwand, a.a.O., 10.
102
Stationen der Auslegung
Indien von der Theologie zur Religionswissenschaft überwechselt und sich 1917 in Oxford zum Dr. phil. promovieren lässt. Ganz bewusst und gezielt negiert er daher den Hoheitsanspruch Jesu Christi selbst und nicht etwa nur den Absolutheitsanspruch des Christentums im Gefolge von Ernst Troeltsch. Für ihn gilt nicht mehr nur das Sowohl-als-auch von Religion und Offenbarung wie im Neuprotestantismus seit Herder und Schleiermacher, sondern er richtet vielmehr ein Entweder-oder auf „zwischen der ‚deutschen Gottschau‘ und dem ‚Glauben an Jesus Christus den Gekreuzigten‘“45. Hauer geht davon aus, dass der Mensch „Gott unmittelbar erfahren kann ohne Mittler, ohne Wort, kraft seines eigenen innersten Wesens“46. Unausgesprochen teilen viele Denker diesen Ausgangspunkt bei der Unmittelbarkeit der Gotteserkenntnis. Die Besonderheit von Hauer ist, dass er die natürliche Gotteserkenntnis der geoffenbarten nicht nur ausdrücklich voranstellt, sondern dieser durch jene die Notwendigkeit, Berechtigung und Evidenz abspricht. Sie ist für die Indogermanen nicht artgemäß und muss durch die „deutsche Gottschau“ ersetzt werden. Iwand hat richtig gesehen, dass Hauer „im Namen des eigenen religiösen Erlebens Nein sagt zu der Verkündigung von Jesus Christus! Der homo religiosus als der Antichrist – ...“47 Der im Protestantismus seit der Romantik stillschweigend geschlossene Nichtangriffspakt zwischen Religion und Christentum ist zutiefst unwahr. Er verkennt, dass der religiöse Mensch der natürliche Mensch ist, der nicht wollen kann, dass Gott Gott ist, sondern der vielmehr will, dass er Gott und Gott nicht Gott sei, wie Iwand im Anschluss an Luther gegen Hauer herausstellt.48 Das Fundament des Glaubens kann darum nicht der „ewige Lebensgrund“ sein, in den jeder Mensch „eingebettet“ ist,49 sondern das kann vielmehr allein die Rettung sein, die von außen kommt50 und die den Menschen aus dem Sumpf seines —————
45 Iwand, a.a.O., 4. Iwand hat sich in seiner Antwort auf Hauers „Deutsche Gottschau“ von 2. Kor 5,7 leiten lassen: „Wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen.“ 46 Hauer, a.a.O., 187. 47 Iwand, a.a.O., 10. 48 Iwand, a.a.O., 11, wo WA 1, 225, 1 f. zitiert wird. 49 Hauer, a.a.O., 213. 50 Iwand, a.a.O., 26 ff., bes. 29.
Iwand
103
Lebensgrundes, der nicht zu Gott, sondern vielmehr zur Abgötterei führt (Röm 1,19 ff.), herausholt. Jesus Christus steht nicht im Weg, sondern er ist der Weg (Joh 14,6). Der Glaube kommt nicht aus dem „Seelengrund“, sondern aus der Verkündigung des Wortes Christi (Röm 10,17) und hat seinen Vergewisserungshorizont in der Lehre der Apostel (Apg 2,42). Es ist theologisch konsequent, aber im Umfeld des Neuprotestantismus höchst bemerkenswert – wird diesem doch dadurch die Lebensgrundlage entzogen –, dass der Lutherinterpret Iwand in der Gleichsetzung von Religion und Christentum einen fundamentalen Irrtum sieht und dass er zu dem Schluss kommt: „Es ist hohe Zeit, daß diese Gleichung durchgestrichen wird. Sie ist das proton pseudos unserer Christlichkeit.“51 Diese Linie behält Iwand in der Folgezeit konsequent bei. Aus ihr nur einige wichtige Belege. Auf einer theologischen Freizeit in Riga Anfang 1935 unterstreicht Iwand: „Wir haben die Einseitigkeit und Einlinigkeit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus nicht zu korrigieren, um dadurch tolerant zu erscheinen, wir haben Theologie so zu treiben, daß das steuerlos vor dem Winde treibende Schiff der Kirche wieder Kurs bekommt ...“52 Von großer Bedeutung für Iwands Theologie ist der Begriff Vorverständnis: „‘Vorverständnis‘ ist ... nichts anderes als das dem Worte Gottes vorgelagerte Verständnis, das der Mensch mitbringt und das dem Hören des Wortes im Wege steht. Denn die Blindheit, mit der der Mensch geschlagen ist, besteht ja nicht in dem Unvermögen, sich Gott vorzustellen, im Gegenteil, sie besteht in dem Unvermögen, sich Gott anders vorzustellen als es dem eigenen Sein-vor-Gott entspricht. Das Bild, das sich der Mensch von Gott macht, ist nicht nichts, sondern es ist seine Religion, von der aus er das ihm im göttlichen Incognito begegnende Wort Gottes beurteilt und verurteilt.“53 Nun zum Schluss noch ein Beleg aus einem Gemeindeblatt, aus dem deutlich wird, wie grundlegend der Antagonismus von —————
51 Iwand, a.a.O., 11. 52 Die Sachlichkeit der theologischen Arbeit, in: GA I, 75–86, 79. Aufgenom-
men 1959 (NW 2, 387). 53 Jenseits von Gesetz und Evangelium?, 1935, in: GA I, 87–109, 107.
104
Stationen der Auslegung
natürlicher Religion und Offenbarung für Iwand im Kirchenkampf geworden ist, so dass er ihn auch vor den Gemeinden benannt hat: „Dogmen – das sind Grenzbefestigungen, mit denen die Kirche die Offenbarung Gottes gegen die natürliche Religion abgegrenzt hat. Wenn sie heute verödet und verfallen sind, dann ist das die Folge des langen und verderblichen Friedensschlusses, in den die Kirche mit der Welt getreten ist.“54 Die komprimierte Zusammenfassung seiner Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Offenbarung hat Iwand in einem Vortrag des Jahres 1936 über Die 1. Barmer These und die Theologie Martin Luthers55 gegeben. Das Verständnis der in dem Vortrag bezogenen Position setzt die Barmer Theologische Erklärung, aber auch die Kenntnis einer Gegenposition, etwa des Ansbacher Ratschlages, voraus.
Die abschließende Positionierung im Kirchenkampf Die Barmer Theologische Erklärung Die Barmer Theologische Erklärung vom (29. –)31. Mai 1934, nach ihrer Selbstbezeichnung die Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche56, ist entstanden, weil die „mehr und mehr sichtbar gewordene Lehrund Handlungsweise der herrschenden Kirchenpartei der Deutschen Christen und des von ihr getragenen Kirchenregimentes“57 das Kirchesein der Kirche bedrohten. „Diese Bedrohung“ sah man dadurch gegeben, „daß die theologische Voraussetzung, in der die Deutsche Evangelische Kirche vereinigt ist, ... durch fremde Voraussetzungen durchkreuzt und unwirksam gemacht
—————
54 Menschwerdung Gottes – nicht Vergottung des Menschen, in: Evangelisches Gemeindeblatt für Ostpreußen 91 (1936), Heft 1, 3–5, 5. 55 Abgedruckt in: EvTh 46 (1986), 214-231. S.u. Anm. 96. 56 K. Immer (Hg.), Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche Barmen 1934. Vorträge und Entschliessungen, Wuppertal 1934, 8–11. 57 A.a.O., 9.
Iwand
105
wird. Bei deren Geltung hört die Kirche nach allen bei uns in Kraft stehenden Bekenntnissen auf, Kirche zu sein.“58 Die Zitate sind dem „Vorspruch“ der Erklärung entnommen. Auf ihn folgen sechs Thesen, die eigentliche theologische Erklärung, und ein Schlusssatz. Die Thesen bestehen jeweils aus Schriftworten, die vorangestellt sind, der sich aus ihnen ergebenden Lehr- und Bekenntnisaussage und einem sich anschließenden Verwerfungssatz. In diesem Zusammenhang ist nur die erste These von Belang. Sie lautet: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ (Joh. 14,6.) „Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Mörder. Ich bin die Tür; so jemand durch mich eingeht, der wird selig werden.“ (Joh. 10,1.9.) Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“59
Die voranstehenden Schriftworte, zitiert nach der Lutherbibel in der Textfassung von 1912, sind dieselben johanneischen Stellen, die Luther in der Probatio zur 20. These der Spitzenaussage der Heidelberger Disputation zugrunde gelegt hat.60 Aber die Barmer Theologische Erklärung imitiert die Heidelberger Disputation nicht. Derselbe Schriftgebrauch erklärt sich daraus, dass Joh 14,6 eine letzte Zuspitzung und Zusammenfassung der Ichbin-Worte Jesu darstellt und mit besonderem Nachdruck die Exklusivität Jesu Christi hervorhebt. Joh 10,1.9 unterstreicht den —————
58 Ebd. Zur Entstehungsgeschichte vgl. vor allem E. Wolf, Barmen. Kirche zwi-
schen Versuchung und Gnade, BEvTh 27, München 21970, 14 ff.; C. Nicolaisen, Der Weg nach Barmen, Neukirchen 1985. 59 Immer, Barmen (s. Anm. 56), 9. 60 WA 1, 362, 15–19.
106
Stationen der Auslegung
Hoheits- und Exklusivitätsanspruch Jesu im Blick auf den Zugang zu Gott. Die erste These ist grundlegend für alle folgenden. Mit ihr wird assertorisch zur Aussage gebracht: „Jesus Christus“, und zwar dieser nicht, wie ihn sich die Kirche und die Theologie vorstellen, denken und wünschen, sondern „wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes“. Dieses Wort allein hat die Kirche „zu hören“, „im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen“. Es ist die Quelle, aus der die Kirche lebt, lehrt und handelt. Es bildet die unverbrüchliche Grundlage für alles, was die Kirche zu sagen und wogegen sie sich zu verwahren hat. Mit Barmen I ist die reformatorische Exklusivpartikel solus Christus 1934 zu Gehör und zur Geltung gebracht worden, um den Zugriff des NS-Staates auf die Kirche theologisch zurückzuweisen. Das ist auf der Basis des reformatorischen Schriftprinzips geschehen, das durch die Anwendung des sola scriptura alles Schriftwidrige aus Lehre und Verkündigung ausschließt. „Im Blick darauf sagt die 1. Barmer These, daß jede evangelische Kirche nach den bei ihr in Geltung stehenden Bekenntnissen aufhört, Kirche zu sein, wenn sie nicht in ihrer Verkündigung und ihrem Handeln sich daran bindet, daß die prophetischen und apostolischen Schriften Alten und Neuen Testaments die einzige Regel und Richtschnur sind, ‚nach der alle Lehre und Lehrer gerichtet und geurteilt‘ werden sollen.“61 Wie die Bekenntnisaussage der ersten These aufzufassen ist, geht aus dem Vortrag von Hans Asmussen hervor, der die von Karl Barth formulierte Theologische Erklärung auf der Bekenntnissynode in Barmen erläutert hat.62 Nach Asmussen „besagt“ Barmen I, „daß es die Aufgabe ist, und zwar die einzige und vordringliche Aufgabe der Kirche, Jesus Christus zu predigen. Es ist nur durch einen Irrtum möglich, ihn als Idee zu predigen, —————
61 Wolf, Barmen (s. Anm. 58), 111 f. 62 Vortrag von H. Asmussen, in: Immer (Hg.), Barmen (s. Anm. 56), 11–24.
Wiederabdruck in: A. Burgsmüller / R. Weth (Hg.), Die Barmer Theologische Erklärung, Neukirchen 1983, 41–58. C. Nicolaisen (Barmen, RGG, Bd. 1, 41998, 1115) spricht von der „kanonische(n) Bedeutung“, die seinem Referat zukomme. Zur Rolle Asmussens in Barmen s.a. W. Lehmann, Hans Asmussen, Göttingen 1988, 39 ff., bes. 60 f.
Iwand
107
die in der Geschichte mehr oder weniger verwirklicht wird.“63 Denn: „Jesus Christus (ist) nicht verwirklichte Idee, sondern ins Fleisch gekommener Gott ...; der sich erniedrigt hat, um uns von den Versuchen der Selbsterhöhung und der Selbstüberhöhung zu erlösen, der noch heute zu uns kommt in seinem Wort als der einmal Erniedrigte.“64 Jesus Christus ist also das eine Wort Gottes, weil er das Wort ist, „das von Anfang war, das in der Zeit erschienen ist und das uns offenbar wird bei der Predigt, die in der Gemeinde geschieht. Daraus folgt aber, daß in der Gemeinde nur er gehört werden soll.“65 Zu „verwerfen“ ist deshalb „die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen“66. Gedacht ist an die nationalsozialistische Machtergreifung 1933, an Adolf Hitler, in dem die Deutschen Christen die Zeit erfüllt sahen,67 und an die nationalsozialistische Weltanschauung, die von den Deutschen Christen als zusätzliche Offenbarungsquelle angesehen wurde68 und in die „kirchliche“ Verkündigung eingeflossen war, „als Gehorsam heischend neben der Heiligen Schrift und über ihren Anspruch hinaus“69. So gewiss der Verwerfungssatz gegen die nationalsozialistische Ideologie der Deutschen Christen gerichtet ist, geht er doch auch darüber hinaus und sucht den Neuprotestantismus der letzten Jahrhunderte in toto zu treffen. Das geht aus Asmussens Erläuterung hervor: „... wir erheben Protest gegen dieselbe Erscheinung, die seit mehr als 200 Jahren die Verwüstung der —————
63 Asmussen, in: Immer, Barmen, 16. 64 Ebd. 65 Ebd. 66 Verwerfungssatz von Barmen I, in: Immer, Barmen, 9; zitiert von Asmussen,
a.a.O., 16 f. 67 Vgl. die Erläuterungen zu Barmen I, in: Burgsmüller / Weth, a.a.O. (s. Anm. 62), 34. 68 Vgl. z.B. Entschließungen von 1200 Männern der evangelischen Gemeinden Barmens, reformierten, lutherischen und unierten Bekenntnisses, 7.12.1933, in: K. D. Schmidt (Hg.), Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage des Jahres 1933, Göttingen 1934, 175: „Die Glaubensbewegung ‚Deutsche Christen‘ ist eine Strömung, deren führende Männer neben der Heiligen Schrift noch andere Offenbarungsquellen der Verkündigung anerkennen.“ 69 Asmussen, a.a.O., 17.
108
Stationen der Auslegung
Kirche schon langsam vorbereitet hat. Denn es ist nur ein relativer Unterschied, ob man neben der Heiligen Schrift in der Kirche geschichtliche Ereignisse oder aber die Vernunft, die Kultur, das ästhetische Empfinden, den Fortschritt oder andere Mächte und Größen als bindende Ansprüche an die Kirche nennt.“70 Das ist eine treffende Diagnose! Sie verleiht der Barmer Theologischen Erklärung Aktualität über den konkreten historischen Anlass hinaus. Denn allem, was neben dem in der Heiligen Schrift bezeugten Christus als zusätzliche Offenbarungsquelle in Lehre und Verkündigung eingedrungen ist und einzudringen sucht, wird damit die Berechtigung abgesprochen. Barmen I besitzt also grundsätzliche Bedeutung und ist gegen das den Neuprotestantismus charakterisierende „Bindestrich-Christentum“71 gerichtet. Im Rückblick auf Barmen hat Karl Barth festgestellt: „Man verband durch die Kopula ‚und‘ den Begriff der Offenbarung mit dem der Vernunft, mit dem der Geschichte, mit dem der Humanität ...“72 Unter dieser Voraussetzung konnte es freilich keinen Grund geben, „dies nun gerade dem neuen völkischen Nationalismus zu verweigern“73.
Der Ansbacher Ratschlag Wie selbstverständlich Theologie und Kirche dem neuprotestantischen Denkansatz verpflichtet waren, und zwar auch im Bereich des lutherischen Konfessionalismus, geht aus einer Gegenerklärung hervor, dem Ansbacher Ratschlag vom 11. Juni 1934.74 Der Ansbacher Ratschlag – als Pate für den Namen fungierte der aus der Reformationszeit bekannte Ansbacher Ratschlag von 152475 – will den theologischen und kirchlichen Wirren, die von der Barmer Theologischen Erklärung nach Mei—————
70 Ebd. 71 Wolf, Barmen (s. Anm. 58), 97. 72 KD II, 1, 21946, 195. 73 Ebd. 74 Text in: K. D. Schmidt (Hg.), Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äuße-
rungen zur Kirchenfrage, Bd. 2: Das Jahr 1934, Göttingen 1935, 102–104. 75 Vgl. Die fränkischen Bekenntnisse, München 1930, 9 ff. 183 ff.
Iwand
109
nung der Verfasser76 nicht beigelegt, sondern vermehrt worden sind, ein klärendes Wort entgegenstellen. Zu diesem Zweck haben die Verfasser acht Thesen aufgestellt und diese in „A. Die Grundlagen“ (Thesen 1–5) und „B. Die Aufgabe“ (Thesen 6–8) untergliedert. In der 1. These wird festgestellt: „Die Kirche Jesu Christi als Werkstatt des heiligen Geistes ist gebunden an Gottes Wort.“77 Das Wort Gottes ist unterschieden in Gesetz und Evangelium (These 2 f.). Auf das „und“ kommt es den Verfassern des Ansbacher Ratschlages an, jedoch nicht primär zur Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium wie bei Luther, sondern vielmehr zur Hervorhebung der Selbständigkeit des Gesetzes. Das geht aus der Stellungnahme von Werner Elert gegen die Barmer Theologische Erklärung hervor, der meinte herausstellen zu müssen: „Der Satz, daß außer Christo keine Wahrheit als Gottes Offenbarung anzuerkennen sei, ist Verwerfung der Autorität des göttlichen Gesetzes neben der des Evangeliums.“78 Um Barmen zu korrigieren, handelt der Ansbacher Ratschlag daher fast ausschließlich vom „Gesetz“ (Thesen 3–8). Das Gesetz ist der „unwandelbare Wille Gottes“; es begegnet „uns in der Gesamtwirklichkeit unseres Lebens, wie sie durch die Offenbarung Gottes ins Licht gesetzt wird. Es bindet jeden an den Stand, in den er von Gott berufen ist, und verpflichtet uns auf die natürlichen Ordnungen, denen wir unterworfen sind, wie Familie, Volk, Rasse ...“ (These 3). Sind bei Luther Gesetz und Evangelium strikt aufeinander bezogen, kommt im Ansbacher Ratschlag das Gesetz als selbständige Größe neben dem Evangelium zu stehen. Der eigentliche Gebrauch des Gesetzes, dass es zur Erkenntnis der Sünde führt (Röm 3,20; 7,7), bleibt im Ansbacher Ratschlag unentfaltet. Entfaltet wird stattdessen in aller Breite die Notwen—————
76 Acht fränkische Theologen (Namen in AELKZ 67 (1934), 586). An der Spitze
stand Pfarrer H. Sommerer, der im Herbst 1934 maßgeblich an der Zerstörung der landeskirchlichen Ordnung in Bayern im Sinne der Deutschen Christen mitgewirkt hat (vgl. G. Merz, Ansbacher Ratschlag, EKL, Bd. I, 21961, 128 f.). Spiritus rector des theologischen Duktus der Thesen war W. Elert, der die Barmer Erklärung schroff abgelehnt hat (s. ders., Confessio Barmensis, AELKZ 67 (1934), 602–606). Unterschrieben hat den Ansbacher Ratschlag auch Elerts Erlanger Kollege P. Althaus (s. G. Jasper, Paul Althaus (1888–1966), Göttingen 2013, 228 ff. 246 ff.). 77 Zitate nach Schmidt, Bekenntnisse (s. Anm. 74), 102 ff. 78 Elert, Confessio Barmensis (s. Anm. 76), 603.
110
Stationen der Auslegung
digkeit der Einfügung des Christen in die bestehenden „natürlichen Ordnungen“ (Thesen 4–8). Der Ansbacher Ratschlag lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, welche „Ordnung“ konkret gemeint ist, wenn er in These 5 feststellt, dass Gott „unserem Volk in seiner Not“ Adolf Hitler „als ‚frommen und getreuen Oberherrn‘ geschenkt hat und in der nationalsozialistischen Staatsordnung ‚gut Regiment‘, ein Regiment mit ‚Zucht und Ehre‘ bereiten will“. Dass eine grobe Fehleinschätzung des Nationalsozialismus vorliegt, ist offenkundig. Damit muss man sich heute nicht mehr befassen, aber sehr wohl mit der Frage, wie sie entstehen konnte? Sie beruht darauf, dass der Begriff des Gesetzes aus seinem durch den usus elenchticus legis gesetzten Bezugsrahmen herausgelöst und der usus politicus legis mit der Vorstellung der Schöpfungsordnungen79 und einer freihändigen Deutung der geschichtlichen Stunde80 verknüpft worden ist. Es geht nicht um die Geltung des usus politicus legis, wird dieser doch von der Barmer Theologischen Erklärung in keiner Weise in Frage gestellt, sondern um die biblisch nicht gedeckte und daher theologisch unzulässige Erweiterung des Gesetzesbegriffes, die es den Verfassern des Ansbacher Ratschlages erlaubt, ihr politisches Bekenntnis zum Nationalsozialismus in pseudotheologischer Verbrämung unterzubringen. Damit beharrt der Ansbacher Ratschlag ganz bewusst auf „fremden Voraussetzungen“, bei deren Geltung „die Kirche nach allen bei uns in Kraft stehenden Bekenntnissen“ aufhört, Kirche zu sein, wie es im „Vorspruch“ der Barmer Theologischen Erklärung ebenso sachgerecht wie freimütig zum Ausdruck gebracht ist.81 Der fundamentale Unterschied und hauptsächliche theologische Kontroverspunkt zwischen der Barmer Theologischen Erklärung und dem Ansbacher Ratschlag lag im Verständnis der Offenbarung beschlossen. Schon vor der Barmer Bekenntnissy—————
79 Zum theologischen Hintergrund vgl. P. Althaus, Theologie der Ordnungen, Gütersloh 1934. Kritisch gegen diesen Denkansatz mit Recht Wolf, Barmen (s. Anm. 58), 101. 80 Vgl. P. Althaus, Die deutsche Stunde der Kirche, Göttingen 1933. Althaus hat die „deutsche Wende als gnädiges Handeln Gottes (aufgefasst)“ (Jasper, Althaus (s. Anm. 76), 233). 81 Immer, Barmen (s. Anm. 56), 9; zitiert o. Anm. 58.
Iwand
111
node hat sich Paul Althaus mit Entschiedenheit gegen die „Verkürzung“ des Begriffs der Offenbarung gewandt.82 Nach Althaus gehört die Bezeugung des lebendigen Gottes in der Wirklichkeit der Welt und des Menschen unabdingbar zur Offenbarung Gottes hinzu. In den „Ordnungen, die unser Leben tragen“, bezeuge sich Gott selbst und rede „durch sie zu uns“, und zwar auch und gerade in der „geschichtlichen Ordnung des Volkstums oder des Staates“83. Deshalb müsse das geschichtliche Leben „in das Licht des biblischen Gotteszeugnisses gerückt werden“, verfalle es doch sonst „heidnischer Deutung“, und das sei „die erste große Aufgabe der Verkündigung“84. „Dann aber soll sie von der ‚Uroffenbarung‘, der Bezeugung des lebendigen Gottes in der Wirklichkeit des geschichtlichen Lebens weiterführen zu seiner Heilsoffenbarung in Jesus Christus.“85 Der hier von Althaus gebrauchte Begriff der Ur-Offenbarung bleibt für sein theologisches Denken von konstitutiver Bedeutung. In seinem dogmatischen Hauptwerk geht Althaus davon aus: „Das Neue Testament und die kirchliche Verkündigung bezeugen die Selbsterschließung Gottes, die durch Jesus Christus, den Geschichtlichen und Lebendigen sich vollzieht. Aber diese Offenbarung beansprucht nach dem neutestamentlichen Zeugnis nicht, die erste und einzige Selbstbezeugung Gottes an die Menschheit und den einzelnen Menschen zu sein. Sie weist vielmehr zurück auf eine Begegnung zwischen Gott und der Menschheit, von welcher diese immer schon herkommt und bestimmt ist ... Das Evangelium meint nicht, das Verhältnis Gottes zum Menschen erst zu setzen, zu begründen, sondern es will das schon bestehende heilen.“86 Unter dieser Voraussetzung unterscheidet Althaus „von der Heils-Offenbarung Gottes in Jesus Christus seine ursprüngliche Selbstbezeugung oder UrOffenbarung oder Grund-Offenbarung“87. Auf dieser Basis stellt —————
82 Vgl. z.B. Althaus, Stunde (s. Anm. 80), 34 u.ö. Im Hintergrund stand der Widerspruch gegen K. Barth, Theologische Existenz heute, München 1933, und Barths Lehre vom Wort Gottes in KD I, 1 (1932). 83 Althaus, a.a.O., 11. 84 Althaus, a.a.O., 12 f. 85 Ebd. 86 P. Althaus, Die christliche Wahrheit, Gütersloh 51959, 37. 87 A.a.O., 41. Bei Althaus z.T. kursiv.
112
Stationen der Auslegung
Althaus fest: „Das Evangelium steht in positiver Beziehung auch zu dem vorchristlichen Mythus. Es stellt sich dar als die Erfüllung des Mythus in seinem tiefsten Sinne, der sich erst von Christus her aufschließt.“88 Als grundlegende biblische Quelle gibt Althaus Röm 1,(19 f.) und 2,(14 f.) an.89 Er argumentiert gegen Karl Heim, der die Aussagen des Apostels auf die Menschen im Urstand beschränkt habe,90 und vor allem gegen den „Christomonismus“ von Karl Barth.91 Ist Althaus theologisch im Recht? Zunächst: Althaus hat mit Nachdruck die Erkennbarkeit Gottes gelehrt, und zwar nicht nur als Möglichkeit, sondern als Wirklichkeit. Aber wie steht es mit dem anderen Aspekt, der völligen Unkenntnis Gottes? Paulus hat beide Aspekte uneingeschränkt vertreten; ebenso Luther. Bei Althaus dagegen ist der zweite Aspekt abgeschwächt. Ist es doch nicht sachgerecht zu lehren, das Evangelium „heile“ das schon bestehende Verhältnis Gottes zum Menschen. Das Evangelium begründet es vielmehr neu, indem es an dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi durch den Tod des alten Menschen und die Wiedergeburt des neuen Menschen im Glauben Anteil gibt. Das wie auch immer bestehende Verhältnis zu Gott wird dadurch als nichtig und heillos erwiesen. Paulus gebraucht zwar mit Bezug auf Röm 1,19 einen zur Offenbarungsterminologie gehörigen Begriff für seine These der Erkennbarkeit Gottes, aber daraus lässt sich keinesfalls eine Theorie der „Ur-Offenbarung“ ableiten, die auf die „HeilsOffenbarung Gottes in Jesus Christus“ bezogen wäre und von dieser bejaht, korrigiert oder komplettiert werden würde. Was bei Paulus Bestandteil seiner apostolischen Umkehrpredigt zum Schuldaufweis aller ist, ist bei Althaus zu einem Bestandteil einer allgemeinen Offenbarungstheorie umgedeutet. Schließlich ist gegen Althaus festzustellen, dass sich eine positive Beziehung des Evangeliums zu dem „vorchristlichen Mythus“ den angeführten Stellen Röm 1 und 2 nicht entnehmen lässt. Das Evangelium führt vielmehr den Mythos und die heidnische Religiosität —————
88 A.a.O., 49. 89 A.a.O., 38–41. 90 A.a.O., 38 f. 91 A.a.O., 39 ff.
Iwand
113
in die Krise. So ist es von Anfang an in der urchristlichen Mission gewesen. In der Reformation ist die kritische Kraft des Wortes Gottes sogar auf spezifische Formen der überkommenen christlichen Religion ausgeweitet worden.92 Als Ergebnis ist festzuhalten: Althaus repräsentiert wie Hirsch93 das im Neuprotestantismus vorherrschende Denkmodell einer – um einen Ausdruck des Philosophen Gottfried W. Leibniz zu gebrauchen – „prästabilierten Harmonie“ zwischen allgemeiner und spezieller Offenbarung. Iwand war darüber bereits 1929 hinausgewachsen. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass auch Karl Barth Röm 1,19 f. nicht sachgerecht ausgelegt hat.94 Während Althaus den Aspekt der völligen Unkenntnis Gottes abgeschwächt hat, hat Barth den anderen Aspekt, die Erkennbarkeit Gottes durch den Menschen, faktisch geleugnet. Barth lässt die Aussage des Apostels über die Erkennbarkeit Gottes nicht stehen, wie sie Röm 1,19 f. geschrieben steht, sondern legt Paulus durch sein eigenes theologisches Vorverständnis einen Maulkorb um, so dass die Stelle nicht mehr sagen darf, was sie in der Einfachheit und Klarheit ihres wörtlichen Sinnes zur Aussage bringt. Seine Ausführungen sind ein Beispiel dafür, wie das klare biblische Zeugnis durch vorgefasste theologische Deutung verdunkelt werden kann. Zutreffend ist Barths Beobachtung, erst durch die apostolische Verkündigung werde der Zorn Gottes über alle Ungerechtigkeit der Menschen als Zorn Gottes aufgedeckt. Aber Paulus setzt voraus: Gottes Zorn war die das Menschsein bestimmende Unheilswirklichkeit, bevor sie aufgedeckt wurde; der Mensch war unentschuldbar, bevor er seine Unentschuldbarkeit erkannte; er war an die Unsittlichkeit von Gott dahingegeben, bevor ihm das erschlossen wurde. Dieser Realitätsgehalt der das Sein des abgefallenen Menschen bestimmenden Zornes Gottes ist bei Barth —————
92 Vgl. E. Wolf, Martin Luther. Das Evangelium und die Religion, 1934, in: ders., Peregrinatio (I), München 21962, 9–29, bes. 29. Der ganze II. Teil der Schmalkaldischen Artikel ist gegen biblisch nicht begründbare Formen christlicher Religiosität gerichtet. Luther kritisiert diese, indem er sie in das Licht des Hauptartikels von Christus und der Rechtfertigung stellt (vgl. W. Führer, Die Schmalkaldischen Artikel, KSLuth 2, Tübingen 2009, 88 ff.). 93 S.o. Anm. 18 f. 94 K. Barth, KD I, 2, 332–335; KD II, 1, 131 ff. Dagegen wendet sich mit Recht Althaus, Wahrheit (s. Anm. 86), 39 f.
114
Stationen der Auslegung
zur bloßen „Schattenseite seiner Gerechtigkeitsoffenbarung“95 verflüchtigt. Das aber hat zur Folge, dass die Umkehr des Menschen, auf die der Schuldaufweis des Apostels zielt, nicht wirklich vollzogen werden muss, sondern sie ist auf ein Schattengefecht reduziert. Die Nachprüfung auf der Tagung in Bethel Die Vereinbarkeit von Barmen I und II mit der Theologie Luthers „nachzuprüfen“96, war Iwand vom Rat der lutherischen Kirche Deutschlands beauftragt worden. Diese Nachprüfung ist auf einer Tagung in Bethel vom 22. bis 25. Oktober 1936 erfolgt.97 Ein Korreferat zu Iwands Vortrag hat Paul Althaus gehalten, das aber nicht mehr erhalten ist.98 Außer Iwand und Althaus haben Georg Merz und Hermann Sasse über die konfessionelle Bedeutung der Barmer Erklärung und Friedrich Wilhelm Hopf zur fünften und sechsten These von Barmen referiert.99 Bei den Ausführungen zu Barmen I, die in sechs Abschnitte untergliedert sind, konnte Iwand an seine Stellungnahmen aus den Jahren 1929–1936 anknüpfen und hat dies auch getan, ohne es jedoch ausdrücklich hervorzuheben. Wie diese beruht auch das Referat in Bethel auf Luthers Auslegung von Röm 1,19 ff. und der Heidelberger Disputation, besonders auf den Thesen 19– —————
95 KD II, 1, 132. 96 H. J. Iwand, Die 1. Barmer These und die Theologie Martin Luthers, EvTh 46
(1986), 214–231, 214. Die von D. Pauly für den Abdruck in EvTh vorgelegte Fassung des Referats beruht auf Iwands Vortragsmanuskript aus dem Jahr 1936. Iwands Ausführungen zu Barmen II sind nicht erhalten. 97 Vgl. C. Stoll, Die theologische Arbeitstagung des Rates der evang.-luth. Kirche Deutschlands in Bethel, AELKZ 69 (1936), 1161–1165; H. Ludwig, Der Beitrag Hans Joachim Iwands zur Diskussion um das rechte Verständnis der Barmer Theologischen Erklärung, in: W.-D. Hauschild u.a. (Hg.), Die lutherischen Kirchen und die Bekenntnissynode von Barmen, Göttingen 1984, 289–306, 298 ff. 98 Vgl. Ludwig, a.a.O., 299, Anm. 32. 99 Gedanken aus dem Vortrag von G. Merz, der nicht veröffentlicht wurde, dürften enthalten sein in: G. Merz, Die Bedeutung der Barmer Erklärung für die lutherische Liturgie, 1937, in: ders., Um Glauben und Leben nach Luthers Lehre, hg. v. F. W. Kantzenbach, TB 15, München 1961, 232–238. Zu den Beiträgen von H. Sasse und F. W. Hopf s. H. Sasse, Das Bekenntnis der lutherischen Kirche und die Barmer Theologische Erklärung, 1934/36, in: ders., In Statu Confessionis, hg. v. F. W. Hopf, Berlin/Hamburg 1966, (280)282–286; F. W. Hopf, Vom weltlichen Regiment nach evangelisch-lutherischer Lehre, München 1937.
Iwand
115
20.100 Andere Quellen aus Luthers Werken sind diesen Quellen zugeordnet. Bei der Auswertung der lutherischen Bekenntnisschriften hat sich Iwand auf Edmund Schlink bezogen,101 der ebenfalls an der Tagung teilgenommen hat. Das Verhältnis der natürlichen Gotteserkenntnis zur Erkenntnis Gottes in Christus hat Iwand folgendermaßen bestimmt: „Man wird nicht sagen können, daß Luther die natürliche Theologie als eine Vorform der Offenbarung Gottes in Jesus Christus ansieht. Vielmehr sind beide Offenbarungen in sich voll und ganz Offenbarungen ein und desselben Gottes, aber die zweite Offenbarung ist das Gericht über den Menschen, den der erste Weg nicht zum Gottesdienst, sondern zum Götzendienst gebracht hat. Sie ist der Weg Gottes, den Menschen zurückzugewinnen, der gerade um seiner natürlichen Religiosität willen gottlos geworden ist. Darum erkennt der Mensch in Jesus Christus den Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, er erkennt ihn in seiner Weisheit, Gerechtigkeit, Ewigkeit und Güte, aber ohne die ‚Theologie des Kreuzes mißbraucht er das Beste in schimpflichster Weise‘ ... Nur wer vergißt, was für ein Mensch der ist, dem die Offenbarung Gottes widerfahren soll, kann die Offenbarung Gottes aus den Werken der Schöpfung als einen Weg der Gotteserkenntnis ansehen. Denn die Voraussetzung für alle Gotteserkenntnis ist damit gegeben, daß der Mensch Sünder ist, und daß darum seine Frage nach Gott niemals in Wahrheit lautet: Wie finde ich das Göttliche, sondern: Wie finde ich den gnädigen Gott.“102 Diese Stelle ist in voller Länge angeführt worden, weil sie Iwands theologische Antwort auf das Sachproblem vollständig wiedergibt. Folgende Aspekte hat Iwand hervorgehoben: Religion und Offenbarung stehen nicht in einem Verhältnis der prästabilierten Harmonie zueinander, als wenn die natürliche Gotteserkenntnis eine „Vorform“ der Erkenntnis Gottes in Christus wäre, die von dieser bestätigt werden würde. Iwand sieht in beiden —————
100 Iwand, EvTh 1986, 221 ff., Anm. 15 ff. 101 E. Schlink, Die Verborgenheit Gottes des Schöpfers nach lutherischer Lehre.
Ein Beitrag zum lutherischen Verständnis der ersten Barmer These, in: Theologische Aufsätze. Karl Barth zum 50. Geburtstag, hg. v. E. Wolf, München 1936, 202–221. Sonderdruck unter demselben Titel München 1937, 1–20. 102 Iwand, EvTh 1986, 224.
116
Stationen der Auslegung
Offenbarungen, der Erkenntnis Gottes aus der Schöpfung und der Erkenntnis Gottes in dem gekreuzigten und auferstandenen Christus, „voll und ganz Offenbarungen ein und desselben Gottes“. Aber ihre Zusammengehörigkeit erschließt erst die Offenbarung Gottes in Christus. Das vollzieht sich in der Form des Gerichtes am Menschen und seiner natürlichen Religiosität in der Umkehr zu Christus im Glauben an das Evangelium; denn die natürliche Religiosität hat nicht zum Gottesdienst, sondern im Gegenteil zum Götzendienst und zur Verachtung Gottes geführt. Allein in Jesus Christus, dem Menschgewordenen, Gekreuzigten und Auferweckten, gibt sich Gott unverfälscht zu erkennen. Es ist der eine Gott, der Himmel und Erde geschaffen, der sich in Israel offenbart hat und der abschließend in seinem Sohn die Schwachheit des Fleisches angenommen hat, um erkennbar zu werden und um Christi willen durch seinen Geist an seiner Weisheit, Gerechtigkeit, Ewigkeit und Güte zum Erweis seiner Gnade und Barmherzigkeit Anteil zu geben. Gegenstand und Ort der Erkenntnis Gottes ist der gekreuzigte Christus, wie er durch das Wort vom Kreuz bezeugt wird. Dieses wird durch die Theologie des Kreuzes entfaltet, ohne die alles, gerade das Beste, in schimpflichster Weise missbraucht wird.103 Nur wer das Sündersein des Menschen außer Acht lässt, wird einen Weg der Gotteserkenntnis außerhalb der Theologia crucis beschreiten. Dieser Weg führt allenfalls zu Göttlichem, aber er führt keinesfalls zu Gott, dem Vater, der sich in seinem eingeborenen Sohn Jesus Christus allen Menschen in unbegreiflicher, herzlicher Liebe gnädig zugewandt hat und durch die Verkündigung des Evangeliums zugewandt bleibt. Die Einsicht in den Antagonismus von „natürlicher“ Gotteserkenntnis und Offenbarung verdankt Iwand Luther, die Unnachgiebigkeit seiner Position beruht auf einschneidenden Erfahrungen im Kirchenkampf. Vor diesem Hintergrund hat Iwand der Barmer Theologischen Erklärung zugestimmt: „Mit der ersten Barmer These bekennt sich die evangelische Kirche zu der re—————
103 Iwand bezieht sich auf Luthers 24. These der Heidelberger Disputation: ... homo sine Theologia crucis optimis pessime abutitur (WA 1, 363, 25 f.). Das „Beste“ ist die Erkenntnis Gottes. Aber: „Auch Gott ist für die natürliche Religion Mittel zum Zweck“ (Iwand, EvTh 1986, 226).
Iwand
117
formatorischen Unterscheidung von Natur und Gnade, derzufolge alle natürliche Religion Gott als Mittel zum Zweck gebraucht, während allein die Gnade den Menschen fähig macht, seinen Willen dem Willen Gottes in allen Dingen unterzuordnen.“104 In dem Verwerfungssatz der ersten Barmer These konnte Iwand seinen eigenen Widerspruch gegen zusätzliche Offenbarungsquellen zum Ausdruck gebracht finden. Es war notwendig und sachgerecht, dass sich die evangelischen Kirchen gegen die Aufnahme und Geltung zusätzlicher Offenbarungsquellen im Sinne des Schriftprinzips der Reformation dezidiert und kompromisslos ausgesprochen haben. Dass sie es über die Konfessionsgrenzen hinaus gemeinsam getan haben, darin hat man ein „Wunder Gottes“105 gesehen. Gegen den Einwand, in Barmen I würden „die Reste der natürlichen Offenbarung übersehen“106, macht Iwand unter Berufung auf Schlink107 geltend, diese Gotteserkenntnis sei in den lutherischen Bekenntnisschriften gleichbedeutend „mit der ignorantia Dei. Denn obschon der natürliche Mensch weiß, daß Gott kein Phantasieprodukt des Menschen ist, so weiß er doch nicht, ‚wer Gott ist‘ ... Die ignorantia Dei ... ist ... ein virtuelles Nichtkennen ... eine annihilatio Dei, wie Luther sagt, eine Nichtigkeitserklärung Gottes.“108 Noch ein weiterer Aspekt muss angesprochen werden. Wenn es Barmen I heißt: „‘Christus ist das eine Wort Gottes‘ – wie verhält sich dann dazu die Tatsache, daß wir dieses Wort als Gesetz und Evangelium hören?“109 Iwand sieht „das Wunder der Offenbarung Gottes in Jesus Christus“ darin, „daß in ihm die Gerechtigkeit offenbart wird, die das Gesetz erfüllt, und doch zugleich den gerecht macht, der an Christus glaubt“110. Unter der „Einheit des Wortes Gottes in Jesus Christus“ versteht er „die veritas Dei, durch die Gott sich als der erweist, der erfüllt, was er ————— 104 Iwand, EvTh 1986, 227. 105 J. Beckmann, Der Weg zur Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen
Kirche in Barmen 1934, in: Burgsmüller/Weth, a.a.O. (s. Anm. 62), 9–19, 19. S.a. a.a.O., 27. 106 Iwand, EvTh 1986, 220. 107 Schlink, Verborgenheit (s. Anm. 101), 4. 8 f. (Sonderdruck). 108 Iwand, EvTh 1986, 221. 109 Iwand, EvTh 1986, 228. 110 Ebd.
118
Stationen der Auslegung
verspricht, und der allein darum, weil er der Schöpfer ist, aus Gesetz und Evangelium die Einheit seiner Offenbarung macht“111. Iwand folgert: „Wenn wir also in der ersten Barmer These davon hören, daß Jesus Christus das eine Wort Gottes ist, dann können wir es nur so hören, daß Gott sich treu bleibt, daß in Jesus Christus alle Verheißungen Ja geworden sind ...“112 Diese Argumentation ist schlüssig, aber man darf sich nicht verhehlen, dass Iwand in Barmen I einträgt, was er sich selbst erarbeitet und bei Luther gelernt hat. Es kann im Ernst kein Zweifel darüber bestehen, dass Barmen I „barthianisch“ ist. Das ist natürlich kein Grund, Barmen I abzulehnen. Man kann Barmen I mit den von Iwand angeführten Argumenten bejahen. Aber festzustellen ist doch, dass Iwand hier übergeht, was er ein Jahr zuvor gegen Barth eingewandt hat, nämlich, „daß wir keine Möglichkeit sehen, jenseits des Gegensatzes von Gesetz und Evangelium nach dem Worte Gottes zu fragen und daß es uns nur innerhalb, nicht aber oberhalb dieser Unterscheidung zugänglich ist“113. In der Frage der Erkennbarkeit Gottes hat Iwand im Oktober 1936 eindeutig und endgültig Position bezogen. Im Herbst 1959, etwa ein halbes Jahr vor seinem Tod, hat er genauso geurteilt.114
—————
111 EvTh 1986, 229. 112 Ebd. 113 Iwand, Jenseits von Gesetz und Evangelium? Eine kritische Besprechung der
Lehre von dem Worte Gottes in Karl Barths „Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik“ I, 1, 1935, in: GA I, 87–109, 109. Wenn Iwand sich in einem Brief an Barth am 31.12.1959 anlässlich der Übersendung der GA von seiner 1935 erhobenen Kritik distanziert (vgl. Ludwig, a.a.O. (s. Anm. 97), 294, Anm. 15), dann ist das eine captatio benevolentiae. Die Berechtigung seines Sacheinwandes bleibt davon unberührt. 114 S.o. Anm. 1.
Schluss
Zusammenfassende Thesen zur Erkennbarkeit Gottes I
1. Nach dem neutestamentlichen Hauptbeleg Röm 1,19 f. ist Gott seit Erschaffung der Welt erkennbar. Er ist erkennbar1 als der Schöpfer aus und in seinem Schöpferhandeln, aber er ist nicht erfassbar in seiner Essenz. Was Gott durch seine ewige Macht und Gottheit offenbar macht, ist die Analogielosigkeit seines Schöpfertums: Gott gibt sich durch seine schöpferische Allmacht kund, indem er in ein geschöpfliches Dasein setzt, was ohne sein Schaffen weder wäre noch sein könnte, und dieses erhält und vor dem Zurücksinken ins Nichts bewahrt, solange er will und es ihm gefällt. 1.1 Im Hintergrund von Röm 1,19 f. steht der Glaube an den Schöpfer, der Paulus, „ein Hebräer von Hebräern, nach dem Gesetz ein Pharisäer“ (Phil 3,5), aus dem Alten Testament und der jüdischen Unterweisung vertraut war. Nach der priesterschriftlichen Schöpfungsgeschichte 1. Mose 1,1–2,4 a hat Gott in der Allmacht des Schöpfers alles geschaffen, den Himmel und die Erde, die Natur, die Tierwelt und das Menschengeschlecht. 1.1.1 Gott hat aber nicht einmal einen Anfang gesetzt und sich dann hinter seine Schöpfung zurückgezogen, wie die deistische Gottesauffassung im 18. und 19. Jahrhundert wähnte, sondern er ist nach biblischem Verständnis der in Schöpfung und Geschich—————
1 Zur exegetischen Grundlage s.o. S. 13, Anm. 16.
120
Schluss
te unentwegt Wirksame, dem kein Bereich der Schöpfung entzogen ist. 1.2 Im Hintergrund von Röm 1,19 f. steht ferner, sachlich verwoben mit dem Schöpfungsgedanken, das Theologumenon der Offenbarung Gottes durch seine Werke. Es ist alttestamentlichen Ursprungs, wurde aber auch in der hellenistisch-jüdischen Theologie zur Zeit des Paulus gebraucht.2 1.2.1 Das Theologumenon der Offenbarung Gottes durch seine Werke ist nicht Bestandteil einer „natürlichen Theologie“, sondern des biblischen Offenbarungsverständnisses. Es ist Kriterium für die sachgerechte Bewertung von Religion und heidnischer Religiosität. Kriterium kann das Theologumenon der Offenbarung Gottes durch seine Werke aber nur sein, wenn es von heidnischer Religiosität und Theologie prinzipiell unterschieden wird. In der Theologie des 20. Jahrhunderts ist diese Grenzziehung bis zur Unkenntlichkeit verwischt worden. 1.3 Was von Gott erkennbar ist, ist nicht einigen wenigen, sondern allen Menschen „offenbar“ (Röm 1,19), weil alle Geschöpfe sind im Unterschied zu dem einen Schöpfer. Das grundlegende Prädikat, dass Gott der Schöpfer ist, impliziert, dass Gott im Unterschied zu allem Geschaffenen nicht gegenständlich, sondern als der allmächtige und allgegenwärtige Schöpfer „unsichtbar“ (Röm 1,20) ist. Gottes „ewige Macht“ (1,20) ist seine Schöpfermacht bzw. Allmacht;3 sein gottheitliches Sein oder seine „Natur“ ist Schaffen. 2. Auf dem grundlegenden Wesensunterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf, Schaffen und Geschaffensein beruht die Wahrnehmung der Kreatürlichkeit, Endlichkeit, Geworfenheit und Abhängigkeit, in welcher der Mensch seines Schöpfungsgrundes und seiner Grenze inne wird. Diese existentielle Grenzerfahrung schlägt sich in seinem Herzen nieder und bestimmt den ganzen Menschen vom Zentrum seiner Person aus. —————
2 Nachweise s.o. S. 16 f., Anm. 33 u. 35. 3 Dazu s.o. S. 15, Anm. 30.
Thesen zur Erkennbarkeit Gottes
121
2.1 In der Erfahrung des Gesetztseins und Erhaltenwerdens wird der Mensch in seinem Herzen seines Geschöpfseins im Gegenüber zum Schöpfersein Gottes überführt, insofern er dadurch in die Relation zu seinem Ursprung und Seinsgrund, zu der Macht, durch die er besteht, gestellt wird. Diese Relation stellt er nicht her, in ihr findet er sich vielmehr vor. Im Rückbezug auf diese die Geschöpfe souverän setzende Allmacht des Schöpfers als des transzendenten Seinsgrundes aller Geschöpfe liegt der Ursprung und das Wesen der Religion. 2.1.1 Die Religion ist nicht eine Relation neben anderen, sondern die Grundrelation, die alle anderen Relationen, in denen der Mensch steht, umfasst. Nichts ist ihr vergleichbar, durch nichts kann sie ersetzt werden. Sie geht allem Denken, Empfinden und Tun des Menschen voraus. Sie wird nicht von der Ratio oder der Psyche hervorgebracht, aber sie steht im Konnex mit ihnen, wirkt sich in ihnen aus und wird umgekehrt von ihnen mitgeprägt und ausgestaltet. 3. Gott ist als Gott der Schöpfer aus seinem schöpferischen Wirken erkennbar, aber der Mensch verweigert ihm Dank, Lobpreis und innere Hingabe. Infolgedessen ist er „dem Nichtigen verfallen“ (Röm 1,21). Das wirkt sich in der Übertragung der Macht und Gottheit Gottes auf etwas, das nicht Gott ist, aus. Die Vertauschung des Schöpfers mit Geschöpflichem führt unweigerlich in die Kreaturvergötterung. Diese ist ein Indiz für die Verfinsterung des menschlichen Herzens, das sich gegenüber dem erkennbaren Gott nicht nur verschlossen hat, sondern die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhält (Röm 1,18). Das Niederhalten der Wahrheit äußert sich nicht allein in hartnäckigem Widerstreben, sondern in aktivem Handeln, durch das der Mensch die Wahrheit und Erkenntnis Gottes in Lüge und Unkenntnis Gottes verwandelt. Dadurch macht er sich schuldig und ist schlechthin unentschuldbar (Röm 1,20). 3.1 In der Verweigerung der inneren Hingabe an Gott in Anbetung, Dank und jubelndem Lobpreis kommt die „Hauptsünde“4 —————
4 Nach Augustin; s.o. S. 19, Anm. 45.
122
Schluss
zum Vorschein, nämlich die sich in der Abkehr von Gott manifestierende „Gottlosigkeit“ (Röm 1,18). Diese bestimmt den ganzen Menschen5 – in seinem Verhältnis zu Gott, der Grundrelation des Menschseins, in der Beziehung zwischen Mann und Frau und im sozialen Verhalten (s. Röm 1,28–32). Mit der Vertauschung der Reihenfolge Schöpfer – Geschöpf durch die Sünde wird alles, was der Mensch tut, unter ein falsches Vorzeichen gestellt. 3.2 Der Abfall von Gott führt nun aber keineswegs in ein Reich der Freiheit, wie es die Sünde vorgaukelt, sondern vielmehr zum Verfall an das Nichtige und stellt den Menschen unter die Herrschaft des Todes. In der Dahingabe an das Nichtige und die Unheilsmächte kommt Gottes Zorn zur Auswirkung. 3.2.1 Im Kulturprotestantismus meint man – wie einst Marcion –, die paulinische Rede vom Zorn Gottes verschweigen zu sollen.6 Das war und ist in doppelter Hinsicht kurzschlüssig. Zum einen unterstellt man Gott, er finde sich mit dem Bösen ab. Aber Gott ist heilig. In seiner Heiligkeit liegt die Gewähr dafür, dass alles Böse zunichte wird. Zum anderen verkennt man, dass Gott sein Zorngericht über alle Gottlosigkeit der Menschen im Tod seines Sohnes stellvertretend vollzogen hat. Darin liegt der Erweis seiner unvergleichlichen Liebe, nicht in der Toleranz gegenüber dem Bösen. Das Nichtwahrhaben der Macht des Bösen ist nicht Ausdruck von Liebe, sondern von Naivität und Schwäche. Angesichts des Kreuzes Jesu Christi ist aber für diese Naivität kein Platz mehr. Denn am Kreuz Christi ist die Sünde und das Böse ein für allemal überwunden. Die Nachricht von der Überwindung der Sünde und der Mächte des Bösen durch die rettende Gerechtigkeit Gottes aufgrund der Rettungstat Gottes in Christus ist der Inhalt des Evangeliums (Röm 1,16 f.).
—————
5 Vgl. O. Hofius, „Rechtfertigung des Gottlosen“ als Thema biblischer Theolo-
gie, in: ders., Paulusstudien, WUNT 51, Tübingen 21994, 121–147, 123: „Diese aber betrifft nicht bloß des Menschen Tun und Verhalten, sondern sie
zeichnet ihn in seinem Sein und greift ins Zentrum seiner Person.“ 6 S.o. S. 26 f., Anm. 69–72.
Thesen zur Erkennbarkeit Gottes
123
3.3 Das Urteil, das Paulus Röm 1,19 ff. über die Erkennbarkeit Gottes einerseits und die schuldhafte Unkenntnis Gottes andererseits und damit zugleich über die Wirklichkeit und Hinfälligkeit der Religion ausspricht, ist nicht sein eigenes Urteil, sondern darin wird vielmehr das Urteil Gottes laut, das durch die eschatologische Verkündigung des „Evangeliums Gottes“ (Röm 1,1) entbunden wird. Es erhebt den Anspruch auf universale Geltung vor dem Hintergrund universaler Gottlosigkeit und Heillosigkeit. Es zielt aber nicht auf Herabsetzung, so unbestechlich es ist, sondern auf Umkehr und Rettung aus der Verlorenheit. Es gehört zur Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus und geht ihr voraus, wie die Umkehrpredigt Johannes des Täufers der Verkündigung des Reiches Gottes durch Jesus Christus vorausgegangen ist. 4. Im Anschluss an das Alte Testament vertritt die jüdische Weisheit die Erkennbarkeit Gottes aus seinen Werken. Es sind „verkehrte Gedanken“, die von Gott scheiden und zum Götzendienst führen (Weish 11,15; 13,1–9). Ohne Gotteserkenntnis aber werden alle Menschen „nichtig“ (Weish 13,1). Die Weisheit zielt deshalb darauf, die Erkenntnis Gottes aus den Werken wiederzugewinnen. Ohne diese Erkenntnis vermag der Mensch seine Bestimmung nicht zu finden. 5. Platon hat die Existenz des Alls auf einen Urheber zurückgeführt.7 Sichtbarkeit und Zeitlichkeit alles dessen, was ist, sprechen für die Entstehung des Kosmos durch einen „Werkmeister“. 5.1 Die Erkennbarkeit Gottes hat insofern politische Relevanz, als sich das Endliche nicht aus sich selbst heraus zu begründen vermag. Der Philosophie kommt nach Platon auch und gerade um des Gemeinwesens willen die Aufgabe zu, die falsche Darstellung Gottes in den Mythen kritisch zurückzuweisen und Gott so darzustellen, wie er ist. 6. Nach der platonisierenden Schöpfungslehre Philos von Alexandrien gibt sich der unsichtbare Gott durch seine Werke zu —————
7 Nachweise s.o. S. 33 f., Anm. 9 ff.
124
Schluss
erkennen,8 nämlich als Schöpfer, der – ähnlich wie in der Stoa – das Geschaffene ordnet, erhält und regiert. 7. In der stoischen Philosophie konnte ein Rückschlussverfahren angewandt werden, in dem von der Betrachtung des Kosmos auf dessen Urheber geschlossen wurde.9 Die sich daraus ergebende vernunftgemäße Gotteserkenntnis ist in die bedrängenden Fragen nach dem Sinn und Glück des Lebens eingebracht worden und hat sich sinn- und ordnungsstiftend ausgewirkt. 8. Paulus teilt die alttestamentlich-jüdischen Voraussetzungen der Gotteserkenntnis und kennt die Berührungen und Überschneidungen mit der hellenistischen Philosophie. Aber neben diesen Gemeinsamkeiten steht ein grundlegender Unterschied. Er geht auf die vom Evangelium eröffnete Perspektive auf die Situation zurück, in die das Menschengeschlecht durch die Sünde geraten ist. Während die Weisheit und die Philosophie in der vernunftgemäßen Gotteserkenntnis eine Möglichkeit sehen, die Bestimmung des Menschen erfüllen oder wiedererlangen zu können, bestreitet Paulus diese Möglichkeit, weil er in dieser Gotteserkenntnis immer schon eine verwirkte Gotteserkenntnis sieht. Denn die Relation Gott – Mensch wird radikal durch die Sünde bestimmt; alle Menschen stehen ihretwegen unter dem Zorn Gottes. Deshalb ist es illusionär, durch Religiosität die Beziehung zu Gott wiederherstellen zu wollen. Die „natürliche“ Gotteserkenntnis führt nicht zu Gott, sondern in Abgötterei. Das Erkenntnisstreben des Menschen ist von dem dunklen Verlangen durchdrungen, dass er sich Gottes zu bemächtigen sucht. In die Wahrheit führt allein das rettende Evangelium von Jesus Christus. 9. Paulus bleibt unverstanden, wenn man nicht wahrnimmt, dass er beides zugleich, die uneingeschränkte Erkennbarkeit Gottes und die völlige Unkenntnis Gottes, vertreten hat. Den Widerspruch, der in dieser paradoxen Aussage liegt, hat Paulus nun nicht etwa logisch und begrifflich aufzulösen versucht. Gründet —————
8 Nachweise s.o. S. 34, Anm. 27 ff. 9 S.o. S. 35, Anm. 35.
Thesen zur Erkennbarkeit Gottes
125
er doch nicht in der Gotteserkenntnis selbst, sondern vielmehr im Menschen, der Gott erkennen kann, aber nicht erkennt, sondern verfehlt und einen Abgott aufrichtet, sei es auch nur das eigene Ich. 10. Bei der sachgerechten Rezeption des Paulus hat man sich vor dem Abweg zu hüten, der immer wieder beschritten worden ist, nämlich die Erkenntnis Gottes durch Werke und die Erkenntnis Gottes in Christus miteinander in Einklang bringen zu wollen, als sei jene die Voraussetzung von dieser oder als ergänzten beide einander. Die Einheit der Erkenntnis Gottes durch Werke und der Erkenntnis Gottes in Christus wird nicht nachträglich hergestellt, sondern sie besteht a priori. Sie ist vorgegeben in der Einheit des Schöpfers mit dem Erlöser. Aber die Erkenntnis dieser Einheit erschließt nicht die Ratio, sondern allein der Glaube an das Evangelium. Der Vollzug dieser Erkenntnis schließt den Tod des alten und die Geburt des neuen Menschen durch Gottes Wort ein.
II 11. Augustin hat in den Confessiones an sich selbst zur Anschauung gebracht, was es heißt, abgekehrt von Gott, der Quelle des Lebens und der Wahrheit, sein Leben zu führen, in welche Irrtümer man dabei verstrickt wird und auf welche Abwege man gerät. Aber nicht weniger eindrücklich hat er an seiner eigenen Person dargestellt, was die Gnade Gottes vermag, nämlich diesen Menschen zu Gott umzukehren, so dass er vor Gott im Glauben lebt und aus dieser neu erschlossenen Grunddimension das gesamte Leben durchdringt. 11.1 Dass der Mensch Gott nicht erkennt, obwohl er aus den Werken erkennbar ist, das hat seinen Grund darin, dass die Abkehr von Gott falsche Vorstellungen über Gott hervorbringt. Nicht der Heide, nicht der Manichäer, auch nicht der Neuplatoniker, erst der Bekehrte steht in der Urteilsgemeinschaft mit Gott und seinem Wort. Erst nach seiner Bekehrung im August 386 hat Augustin die Erkennbarkeit Gottes sowie die Unentschuldbarkeit
126
Schluss
des Menschen für die in der Abgötterei zum Vorschein kommende Unkenntnis und Verunehrung Gottes gemäß Röm 1,19 ff. nachvollzogen und öffentlich vertreten. 12. Augustins theologische Gedanken werden aus der Anrede Gottes an ihn von ihm wiederum als Anrede an Gott entfaltet. Der Ursprung und die Eigenart seiner Theologie liegt also darin, dass er Theologie coram Deo betreibt. 13. Gott ist für Augustin der Dominus Deus des ersten Gebotes (2. Mose 20,2) im Gegensatz zu den heidnischen Göttern der Antike und in ausdrücklicher Abgrenzung von der manichäischen Gottesauffassung. Der eine Gott ist in sich selbst vor allem Anfang der dreieinige Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat und der sich in Jesus Christus, dem menschgewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Gottessohn, durch den Heiligen Geist erschließt. 14. Von grundlegender Bedeutung für die Theologie Augustins ist der Schöpfungsgedanke. Gemäß dem ontologischen Schema mutabile – immutabile10 entfaltet Augustin den Wesensunterschied zwischen Geschaffenem und dem einen Schöpfer. Daraus ergibt sich: 14.1 Gott ist als „der Unwandelbare, der alles verwandelt“11, das Sein selbst,12 der Schöpfer, der, selbst ohne Anfang und Ende, in unbedingter Freiheit einen Anfang gesetzt und alles, was ist, durch sein Wort aus dem Nichtsein ins Dasein gerufen hat (1. Mose 1,1). 14.2 Alles, was ist, ist kreatürlich, es sei unermesslich groß oder winzig klein, existiert in der Zeit und ist endlich und begrenzt. Es trägt seinen Sinn und sein Ziel nicht in sich selbst, sondern in dem, der es geschaffen hat und erhält, solange es ihm gefällt. —————
10 S.o. S. 46, Anm. 30 f. 11 Conf. I, 4; CChr.SL 27, 2, 5 f. Übers. 12 S.o. S. 46, Anm. 35.
Thesen zur Erkennbarkeit Gottes
127
14.3 Der Mensch ist Geschöpf wie die anderen Geschöpfe, unterscheidet sich von ihnen aber dadurch, dass er in seinem Sein, also vor allem Tun, als „Bild Gottes“ (1. Mose 1,27 f.) auf Gott den Schöpfer unmittelbar bezogen und diesem persönlich verantwortlich ist. Die Relation zu Gott steht an erster Stelle und umfasst alle anderen. An ihr entscheidet sich gelingendes Leben oder die Seinsverfehlung des Menschen. 15. Der Mensch hat sich von Gott abgewandt. Diese in nichts begründete und durch nichts zu rechtfertigende Abwendung von Gott ist die „Hauptsünde“13 des Menschen. 15.1 Die Abkehr von Gott dem Schöpfer führt dazu, dass der Mensch dem Geschöpflichen in gottabgewandter Liebe verfällt.14 Gemäß dem Zusammenhang von peccatum und poena, der Augustin aus Röm 1,18 ff. vertraut war, lässt Gott jeden missgeordneten Geist sich selbst zur Strafe werden.15 16. Die Vertauschung der Liebe zu Gott dem Schöpfer mit der Liebe zu Geschöpflichem verstellt den Zugang zur Erkenntnis Gottes.16 Daher setzt die Erkenntnis Gottes den Glauben und die Liebe zu Gott voraus. Die wahre Gotteserkenntnis schließt die Neuwerdung des Menschen ein. Diese beruht auf Gottes Gnade in Christus und wird durch den Heiligen Geist gewirkt. 17. Luther hat als Schriftausleger mit Gott um Gott und seine Gerechtigkeit gerungen, weil ihm das Verständnis des Evangeliums durch religiöse Voreingenommenheit verbaut war. Hinsichtlich der Gotteserkenntnis lehrt dieses Ringen: Ohne das sachgerechte, nämlich schriftgemäße Verständnis des Evangeliums ist Gott zwar erkennbar im Sinne von Röm 1,19 f., aber er wird durchaus nicht erkannt, vielmehr bleibt die Erkenntnis Gottes verschlossen. Erst das Evangelium, das dem, der glaubt, die Gerechtigkeit Gottes als rettende Kraft Gottes zuspricht, öffnet —————
13 Expositio (zu Röm 1,21); CSEL 84, 4: caput ... peccati. 14 Nachweis s.o. S. 48, Anm. 43. 15 Conf. I, 12; CChr.SL 27, 11, 14 f. 16 Nachweis s.o. S. 45, Anm. 23.
128
Schluss
den Zugang – zu Gott selbst, und das hat Luther als Eintritt ins Paradies empfunden, und zugleich zur Schrift Gottes.17 18. Wie Luther in der Vorlesung über den Römerbrief 1515/16 bei der Auslegung von Röm 1,17 das reformatorische Verständnis der Gerechtigkeit Gottes vertreten hat, so hat er auch bei der Auslegung von Röm 1,19 ff. die Erkennbarkeit Gottes gelehrt. Gott sein heißt zuerst und vor allem: Schöpfer sein. Gott, der im Anfang den Himmel und die Erde geschaffen hat (1. Mose 1,1), schafft immerfort. Deshalb konnte er seit Gründung der Welt und kann er erkannt werden.18 Mit Paulus (Röm 1,19 b) hat Luther außerdem hervorgehoben, diese Kenntnis Gottes werde von Gott selbst offenbart.19 Sie gehört also zur Offenbarungstheologie und ist nicht etwa ein Bestandteil der „natürlichen Theologie“. Die These von der Erkennbarkeit Gottes gemäß Röm 1,19 f. hat Luther in allen Phasen seines Wirkens vertreten.20 Einschlägig ist vor allem seine Auslegung von Jona 1,5 aus dem Jahr 1526. 19. Auch und gerade den anderen Aspekt, den Paulus in Röm 1,18–32 darlegt, nämlich die schuldhafte Unkenntnis Gottes, die auf dem Abfall des Menschen von Gott beruht und sich in Kreaturvergötterung, Selbstentehrung und Sittenverfall niederschlägt, hat Luther aufgenommen und breit entfaltet. Das wirkliche Erkannthaben Gottes und nicht das bloße Erkennenkönnen ist der Grund für die Unentschuldbarkeit der Unkenntnis Gottes. Die Menschen haben die Gottheit Gottes in sich selbst nicht unversehrt gelassen, sondern haben sie vertauscht und ihren Wünschen und Sehnsüchten angepasst.21 Dadurch ist die Wahrheit Gottes in Lüge verwandelt worden.22
—————
17 Zur Koinzidenz von Heils- und Schriftgewissheit vgl. bes. WA 54, 186, 8–10; zitiert o. S. 51, Anm. 11. 18 Zu Röm 1,19; WA 56, 176, 21 f.: cognosci ... potuit et potest (!). 19 WA 56, 177, 6 ff. 20 Nachweise s.o. S. 66, Anm. 102. 21 Vgl. WA 56, 177, 8 ff. 22 WA 56, 177, 10 f.
Thesen zur Erkennbarkeit Gottes
129
19.1 Bei der Auslegung von Röm 1,23 hat Luther zwischen vier Stufengraden unterschieden, in denen sich die Abwendung von Gott vollzieht und als solche kenntlich wird: Undankbarkeit, Eitelkeit, Verblendung, Irrtum gegenüber Gott.23 Die Undankbarkeit ist ein Erweis dafür, dass man sich selbst zuschreibt, was man von Gott empfangen hat; damit usurpiert man die Gottheit Gottes. Im Zustand der Eitelkeit hält man es für selbstverständlich, nur sich selbst genießen zu dürfen, und erhebt sich zum Endzweck, obwohl der Mensch, vergänglich wie er ist, dies unmöglich sein kann. Verblendet ist, wer sich dem Geltungsbereich der Wahrheit Gottes vollständig entzogen hat. Der Irrtum gegenüber Gott (error erga Deum) ist ein Indiz für den Verlust des Zugangs zu Gott und damit zur Quelle des Lebens. Das aber heißt: im Abgrund gelandet zu sein. Mit der Unterscheidung zwischen den „Stufengraden der Verderbnis“ hat Luther mit vier Stichworten die Realität der Menschheit im status corruptionis umrissen. 19.2 In der Auslegung von Jona 1,5 stellt Luther heraus: Heiden wissen, dass „die Gottheit etwas Großes“24 ist im Vergleich zur Geschöpflichkeit aller Geschöpfe. Daraus folgern sie, dass Gott zu helfen vermag. Das ist „ein großes Licht“25 in den Herzen aller Menschen. Es lässt sich nicht auslöschen. Wer immer das versucht, vergewaltigt sein eigenes Gewissen. Die „natürliche Vernunft“ muss bekennen, dass alles Gute von Gott kommt.26 Doch gerade dieses Wissen über Gott macht die Unkenntnis Gottes schier unerträglich. Denn die Heiden wissen von der Macht Gottes und der Unbegrenztheit seiner Hilfsmöglichkeiten, aber sie wissen nicht, ob Gott sie für sie einsetzen wird.27 Außerdem weiß die Vernunft die Gottheit nicht zu „verorten“: „Sie weiß, dass Gott ist. Aber wer oder welcher es sei, ... das weiß sie nicht.“28 Den zwingenden Beweis für diese Unkenntnis Gottes sieht Luther mit der Sendung Jesu Christi gegeben, der verwor—————
23 WA 56, 178, 24 – 179, 25. 24 WA 19, 205, 29. 25 WA 19, 206, 13. 26 WA 19, 206, 9 f. 27 WA 19, 206, 14 ff. 28 WA 19, 206, 32 f.
130
Schluss
fen und in den Tod am Kreuz dahingegeben wurde. „So spielt die Vernunft Blindekuh mit Gott und tut lauter Fehlgriffe.“29 Sie nennt das Gott, was nicht Gott ist, und spricht umgekehrt Gott das Gottsein ab. 19.3 Aus der Auslegung von Röm 1,19 f. (1515) und der Auslegung von Jona 1,5 (1526) ist zu schließen: Die Erkenntnis Gottes aus seinen Werken ist eine das Menschsein umfassende Realität, aber sie führt im status corruptionis nicht zu Gott hin, sondern von ihm ab. Die Wahrnehmung der Macht und Gottheit Gottes des Schöpfers vermag die Vernunft Gott nicht zuzuordnen. Sie überträgt sie vielmehr auf Gottesvorstellungen, Idole und Götter wie Jupiter und andere.30 Religiöse Vorstellungen und Religionen sind Ausdruck von Religiosität, aber einer in die Irre führenden, die „vom rechten Gottesdienst (abwendet)“31. 20. In Disputationen hat Luther die durch Schriftauslegung gewonnenen Einsichten vertieft, thetisch zusammengefasst und sie antithetisch gegen die scholastische Theologie und ihre aristotelischen Denkvoraussetzungen gewandt. Die Relation Gott – Mensch ist auf biblischer Grundlage neu bestimmt worden. Diese Neubestimmung bildet die Voraussetzung für sein Verständnis der Erkenntnis Gottes. Zwei Aspekte sind zu unterstreichen. 20.1 Auf „seine natürlichen Kräfte“ (suis naturalibus viribus) gestellt, unterwirft der Mensch alles der Eitelkeit.32 Er sucht, auch wenn er nach Gott fragt, nicht Gott, sondern „das Seine und das, was des Fleisches ist“ (sua et quae carnis sunt quaerit).33 20.2 Der natürliche Mensch ist in seiner gottabgewandten, fleischlichen Existenz durch diese selbst die Absage an Gottes Gottheit. Er will nicht nur nicht, sondern er „kann nicht wollen, dass Gott Gott ist“ (Non potest homo naturaliter velle deum esse —————
29 WA 19, 207, 4. 30 WA 56, 177, 11 f. 16 ff. 31 WA 19, 207, 33. 32 WA 1, 145, 11 f. 33 WA 1, 145, 12 f.
Thesen zur Erkennbarkeit Gottes
131
deum).34 Sein Wollen und Streben, Dichten und Trachten ist davon durchdrungen und bestimmt, „dass er Gott und Gott nicht Gott ist“35. 21. Einschlägig für die Erkennbarkeit und Erkenntnis Gottes sind die Thesen 19–24 der Heidelberger Disputation (1518), besonders die Thesen 19–20. Luther geht von seiner Auslegung von Röm 1,19 ff. aus und fasst den Befund der vorangegangenen Disputationen über den Menschen in seinem Verhältnis zu Gott als „völlige Verkehrtheit“ (tota perversitas) zusammen.36 Der Mensch sei darauf bedacht, „sich selbst zu gefallen, sich selbst in seinen Werken zu genießen und sich als Idol anzubeten“37. Das Mittelpunktdasein, in dem der Mensch sich selbst zum Endzweck gesetzt und zum Gegenstand der Selbstvergötterung erhoben hat, zieht die völlige Pervertierung der Gotteserkenntnis nach sich. Auf dem Boden einer solchen „Verkehrtheit“ kann Gott nicht als Gott erkannt werden. Unter dieser Voraussetzung kann daher die Erkenntnis Gottes aus seinen Werken nicht zielführend sein. Dieser Sachzusammenhang liegt den Thesen 19–20 zugrunde. 22. Weil die Erkenntnis Gottes aus den Werken unter der Voraussetzung der völligen menschlichen Verkehrtheit nicht nur nicht ans Ziel führt, sondern vielmehr die eigenmächtige Ingebrauchnahme Gottes für Zwecke der Idolatrie nach sich zieht: darum „wird nicht der mit Recht ein Theologe genannt, der die unsichtbare Wirklichkeit Gottes, die durch das, was gemacht ist, erkannt wird, betrachtet“ (These 19).38 Eine solche „Betrachtung“ kann nur immer tiefer in die Idolatrie verstricken. Wer eigensinnig an ihr festhält, wird zu Unrecht ein Theologe genannt! Dagegen wird der mit Recht ein Theologe genannt, „der die sichtbare und rückseitige Wirklichkeit Gottes, die durch Leiden und Kreuz betrachtet wird, erkennt“ (These 20).39 —————
34 WA 1, 225, 1. 35 WA 1, 225, 2. 36 WA 1, 358, 6. 37 WA 1, 358, 6 f. (Lat. s.o. S. 74, Anm. 141). 38 WA 1, 361, 32 f.; zitiert o. S. 73, Anm. 133. 39 WA 1, 362, 2 f. Übers.
132
Schluss
23. Indem Gott in Christus, seinem Sohn, Mensch geworden ist und durch dessen stellvertretenden Tod am Kreuz die Versöhnung mit der von ihm abgefallenen Welt vollbracht hat (s. 2. Kor 5,19; Joh 1,29), hat er etwas grundlegend Neues gesetzt und dadurch den „Ort“ bestimmt, an dem er gesucht und gefunden werden will, nämlich das Leiden und Kreuz seines Sohnes. Seitdem Gott „sich selbst an einen gewissen Ort gestellt und an eine gewisse Person geheftet (hat), wo er gefunden und angetroffen werden will“, kann es zu nichts mehr führen, ihn anderswo zu suchen als in der „Person Christi selbst“40; denn „in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ (Kol 2,9). 23.1 Während die Menschen durch den Missbrauch der Erkenntnis Gottes aus den Werken etwas machen, was Gott nicht ist, nämlich einen Abgott, macht Gott durch die Fleischwerdung seines Sohnes etwas, was er zuvor nicht war, nämlich den Menschen Jesus, in dem er leibhaftig gegenwärtig ist. Christus Jesus ist uns von Gott zur Weisheit gemacht (1. Kor 1,30). Dadurch ist die Weisheit der Weisen zunichte geworden (Jes 29,14; 1. Kor 1,19).41 23.2 Es ist nicht zufällig so gekommen, sondern es beruht auf Gottes ausdrücklichem Willen,42 dass er aus den Leiden Christi erkannt und dass die Weisheit des Unsichtbaren durch die Weisheit des Sichtbaren verworfen wird.43 23.3 Luther hat der „unsichtbaren Wirklichkeit Gottes“ die „sichtbare und rückseitige Wirklichkeit Gottes“ im Blick auf die Erkenntnis Gottes antithetisch entgegengesetzt.44 Mit Joh 14,8 f.; 14,6 und 10,9 hat er die Exklusivität des Zugangs und des Vollzugs der Gotteserkenntnis in Christus allein unterstrichen. Die Ich-bin-Worte Jesu, die er anführt, bringen die Einheit Gottes, des allmächtigen Vaters, mit seinem menschgewordenen Sohn —————
40 WA 45, 481, 17 f. 19 f. 41 Vgl. WA 1, 362, 11 ff. 42 WA 1, 362, 6: ... voluit ...Deus. 43 WA 1, 362, 7 f. Luther gebraucht reprobare = für untüchtig erkennen, verwerfen. 44 Vgl. z.B. WA 1, 362, 4.
Thesen zur Erkennbarkeit Gottes
133
zum Ausdruck.45 Wegen dieser Einheit ist die Erkenntnis Gottes in Christus kein Abweg, sondern der Weg. 23.4 Die Aussage, dass die Erkenntnis Gottes in Christus liegt, hat Luther mit dem Spitzensatz der Disputation soteriologisch präzisiert: „Also liegt in Christus dem Gekreuzigten die wahre Theologie und Erkenntnis Gottes.“46 Nicht an das brutum factum der Kreuzigung ist hier gedacht, so gewiss es vorausgesetzt wird, sondern an dessen soteriologischen Ertrag: Weil Jesus das Passalamm Gottes ist, das die Sünde der Welt trägt (Joh 1,29),47 steht der Zugang zu Gott in ihm für alle offen. In dem gekreuzigten Christus ist Wirklichkeit, was keine Religion als Möglichkeit in Erwägung zu ziehen wagt. In dem gekreuzigten Christus liegt zugleich auch der Ursprung der „wahren Theologie“ (vera Theologia). Nicht nur der scholastischen Theologie, jeder Theologie, die nicht zur Erkenntnis Gottes führt, sondern diese durch aufgeblasenen Lehrbetrieb verbaut, ist damit ein vernichtendes Urteil gesprochen. 24. Die Erkenntnis Gottes aus den Werken und die Erkenntnis Gottes aus dem Leiden und Kreuz Jesu Christi sind durch den Erkenntnisgegenstand, Gott, aufeinander bezogen. Aber die Erkenntnis aus den Werken ist bei Luther nicht das Fundament, auf das sich die Erkenntnis Gottes in Christus gründen würde, oder eine Stufe, von der sie ausgehen könnte. Vielmehr ist das Verhältnis beider zueinander dadurch bestimmt, dass die Erkenntnis Gottes in dem gekreuzigten Christus die Erkenntnis Gottes aus den Werken in die Krisis führt, weil diese zur Abgötterei missbraucht worden ist. Die Scheidelinie zwischen Gott und Abgott wird von der Erkenntnis Gottes in dem gekreuzigten Christus gezogen. Ihr eignet die Priorität; sie ist das Kriterium und zeigt die Grenze der Erkenntnis Gottes aus den Werken auf. Sie ist es, die der Erkenntnis Gottes aus den Werken ihre Funktion in der Umkehrpredigt zuweist. —————
45 Vgl. WA 45: 477, 29–32; 480, 10–12; 481, 36 f.; 483, 8 ff. 46 WA 1, 362, 18 f. Lat. o. S. 79, Anm. 162. 47 Zu Joh 1,29 in Luthers theologischem Denken vgl. W. Führer, Die Schmal-
kaldischen Artikel, KSLuth 2, Tübingen 2009, 93 u.ö.
134
Schluss
25. Mit der Theologia crucis hat Luther der scholastischen Erkenntnislehre radikal widersprochen. Wie groß der Sachunterschied und wie entschieden die Absage ist, kann man sich daran deutlich machen, dass Thomas von Aquin mit Röm 1,19 f. den Gottesbeweis geführt hat.48 Was der natürlichen Vernunft nach Röm 1,19 f. von Gott bekannt sein kann, ist für Thomas kein Glaubensartikel, sondern stellt für ihn eine „Vorstufe“ dazu dar.49 Doch für Paulus und für Luther folgt aus der Erkennbarkeit Gottes keineswegs, dass die natürliche Gotteserkenntnis eine Vorstufe der Gotteserkenntnis ist, auf der die Gotteserkenntnis in Christus aufbauen und mit der sie schließlich harmonisch vereinigt werden könnte. Für den Apostel wie für den Reformator ist die natürliche Gotteserkenntnis vielmehr eine bereits verwirkte Gotteserkenntnis, die Götzendienst und Verkehrtheit nach sich gezogen hat. Sie dient Paulus zum Schuldaufweis im Rahmen seiner apostolischen Umkehrpredigt. Luther hat das aufgenommen und gegen die Schultheologie seiner Zeit gewandt. Im Kreuz Christi sowie im Wort vom Kreuz haben seine theologischen Gedanken in Lehre und Verkündigung ihren Ausgangsund Zielpunkt. Die Theologia crucis bildet die Grundlage für die Entfaltung des biblischen Christuszeugnisses durch den Artikel von der Rechtfertigung. „CRUX sola est nostra theologia.“50 26. Der antike Götterhimmel war in der Zeit der Reformation ohne Bedeutung. Er besaß auch nicht die ästhetische Anziehungskraft, wie er sie in der deutschen Klassik gewinnen sollte. Luther machte Front gegen eine subtile Form der Idolatrie, wie er sie in der Kirche seiner Zeit vorfand. Durch sie werde Gott nicht so geehrt, wie er ist, sondern wie er erdichtet und erträumt werde.51 Eine fingierte Gottesvorstellung sei an die Stelle der biblischen getreten. Man forme sich einen gnädigen Gott, während er es in Wirklichkeit nicht ist, und verehre das eigene Phantasiegebilde aufrichtiger als den wahren Gott.52 Luther konnte das als religiöse Fiktion enthüllen, weil sich ihm der gnädige ————— 48 Thomas von Aquin, S. th. I, 2, 2 sed contra. 49 S. th. I, 2, 2 ad 1. 50 WA 5, 176, 32 f. / AWA 2, 319, 3. 51 WA 56, 179, 11 ff. 52 WA 56, 179, 16–18.
Thesen zur Erkennbarkeit Gottes
135
Gott mit der Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes bei der Auslegung von Röm 1,17 erschlossen hatte. Damit war zugleich das Evangelium als die Krisis aller Religion, auch und gerade der christlichen, erkannt.53 27. Gott hat sich „nicht unbezeugt gelassen“ (Apg 14,17). Die Offenbarung Gottes durch seine Werke hat Herder in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts so tief empfunden, so unverfälscht aufgefasst und so originell dargestellt, als wäre die biblische Schöpfungsgeschichte in seiner Zeit entstanden. Dabei ist zu beachten: Herders Schöpfungsglaube beruht nicht auf unkritischer Naivität, sondern setzt die Kenntnis der europäischen Geistesgeschichte voraus und ist in Auseinandersetzung mit den geistigen Strömungen seiner Zeit entfaltet und vertreten worden. 28. Der Begriff der Offenbarung ist bei Herder ein Sammelbegriff. Er umfasst nicht nur die Offenbarung Gottes in der Natur und Geschichte, sondern auch die Offenbarung Gottes durch die Überlieferung, durch die das „Buch der heiligen Natur und des Gewissens“ gleichsam „aufgeblättert“ und „erläutert“ werde.54 Mit der die Natur, Geschichte und Überlieferung umspannenden Fassung des Offenbarungsbegriffs hat sich Herder eine umfassende Deutungsperspektive eröffnet; mit ihr hat er aber zugleich den überkommenen theologischen Offenbarungsbegriff aufgehoben. 29. Der Offenbarung korrespondiert bei Herder die Religion. Sie ist die offene Wahrnehmung, die freie Anerkennung und das innere Sichaneignen des mit der Offenbarung Gegebenen. Darin ist sie „die Belehrerin der Menschen“, ihre „ratgebende Trösterin“55 und als Praxis der Gottesverehrung „die höchste Humanität“56. Sie bewirkt die freie Selbsteinordnung des Menschen in die von Gott geschaffene Natur und in die von ihm gelenkte Geschichte, indem sie dazu anleitet, den großen „Zusammen—————
53 Mit E. Wolf, Peregrinatio (I), München 21962, 29. 54 HSW 10, 295. 55 HW 6, 161. 56 HW 6, 162.
136
Schluss
hang aller Dinge“ zu finden: Gott, das „Wesen der Wesen“57. Ohne sie kann kein Mensch zu seiner Bestimmung gelangen. 30. Herder hat die Religion als Religion zur Zeit der Aufklärung wiederentdeckt und zu erneuern versucht. Der Instrumentalisierung der Religion für ihr übergeordnete Zwecke im absolutistischen Staat hat er die Eigenständigkeit, Lebendigkeit und Unersetzbarkeit der Religion entgegengesetzt. Sie steht nicht im Widerspruch zu Bildung, Erziehung, Wissenschaft und Kultur, sondern sie gehört, weil sich in ihr die Bestimmung des Menschen erfüllt, zu deren Grundlage. 31. Die Wiederentdeckung der Wirklichkeit der Religion und ihre Wiedereinsetzung in den Rang, der ihr zukommt, ist eine Pionierleistung Herders. Bei der Würdigung dieser Leistung darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass es sich um die „Religion Adams“58 gehandelt hat. Gemessen an dem Maßstab, den Röm 1,19 ff. bereitstellt, hat Herder zwar die Erkennbarkeit Gottes vertreten, aber der andere Aspekt, nämlich die schuldhafte Unkenntnis Gottes, ist bei ihm weitgehend unentfaltet geblieben. Das ist ein schwerwiegendes theologisches Defizit, das zusammen mit der defizitären Christologie und Soteriologie Herders schließlich dazu führt, dass die Erkenntnis Gottes in Christus der Erkenntnis Gottes aus den Werken zu- und untergeordnet wird. Beide sind bei Herder in einen harmonischen Zusammenhang gebracht und ergänzen und korrigieren einander. Das steht – im Ansatz wie im Ergebnis – im Widerspruch zu Paulus und zu Luther. 32. Iwand ist 1921 bei dem Studium von Luthers Vorlesung über den Römerbrief „an der Theologie eine Lebensarbeit aufgegangen“59. In der Frage der Gotteserkenntnis hat er auf der Grundlage der Römerbrief-Vorlesung 1515/16 und der Heidelberger Disputation 1518 den Anschluss an Luthers Theologie herge—————
57 Ebd. 58 So mit Recht H. Stephan, Herder in Bückeburg und seine Bedeutung für die
Kirchengeschichte, Tübingen 1905, 124 f. 59 Iwand, NW 6, 48.
Thesen zur Erkennbarkeit Gottes
137
stellt und dem neuprotestantischen Denkansatz, wie er von Herder, Schleiermacher und anderen vertreten worden ist, eine bewusste Absage erteilt. Alle Schriften, die Iwand veröffentlicht hat, sind von Beginn an (1929) im Bewusstsein der kritischen Distanz zum Neuprotestantismus, aber zugleich auch in der Hoffnung auf die Erneuerung von Theologie und Kirche im Sinne der Reformation publiziert worden. 32.1 Bei Iwand ist die Erkennbarkeit Gottes kein Thema, das vom Zentrum der Theologie isoliert werden könnte, nämlich der Rechtfertigung des Gottlosen aufgrund des stellvertretenden Handelns Gottes in Christus, das dem Glauben an das Evangelium aus Gnade allein zuteil wird. Vielmehr ergibt sich bei ihm wie bei Luther die Näherbestimmung der Erkenntnis Gottes aus der konsequenten Anwendung der Christusverkündigung auf das Erkenntnisproblem durch die Rechtfertigungslehre im Horizont der Wahrheitsfrage. 32.2 In der Rechtfertigungs- und Versöhnungsbotschaft, dass sich der Mensch der Sünde wegen anklagt, aber Gott ihn wie ein Anwalt verteidigt, weil nicht der sündige Mensch, sondern der sündlose Christus die Sünde stellvertretend trägt, so dass der Sünder um Christi willen gerecht und frei ist, liegt die völlige Umkehrung des Verhältnisses Gott – Mensch. Diese Umkehrung schließt es prinzipiell aus, die Erkenntnis Gottes in der Theologie auf das natürliche Gottesverständnis zu gründen. Das hat Iwand aus der Scholie Luthers zu Röm 2,15 gelernt, und zwar sehr früh, nämlich Anfang August 1921.60 33. Die Einsicht in den Antagonismus von „natürlicher“ Gotteserkenntnis und Offenbarung Gottes in Christus verdankt Iwand Luther, die Unnachgiebigkeit seiner Position beruht auf einschneidenden Erfahrungen während des Kirchenkampfes. Im Kirchenkampf hat Iwand an seiner eigenen Person durch den Entzug der Lehrerlaubnis erfahren müssen, dass das Ineinanderfließen von Religion und Offenbarung Häresien hervorbringt, die —————
60 Nachweise s.o. S. 93 f., Anm. 4 ff.
138
Schluss
sich mit aggressiver Rücksichtslosigkeit durchsetzen und das Kirchesein der Kirche untergraben. 33.1 Theologisch herrschte bereits vor Beginn des Kirchenkampfes Klarheit: „Das Recht von Luthers Lehre kann nur darin liegen,“ stellte Iwand 1930 heraus, „daß in ihr die Autorität der Schrift gegenüber aller natürlichen Theologie zur Geltung kam.“61 Es galt, an diesem Denkansatz festzuhalten und ihn in der Folgezeit gegen Abweichungen konsequent anzuwenden! 33.2 In dem „nahtlose(n) Zusammenhang und Übergang von Religion und Offenbarung“ hat Iwand am 12. Mai 1934 – noch vor der Barmer Theologischen Erklärung – den „Nährboden all der Irrlehren“ gesehen, „unter denen heute die Kirche zugrunde zu gehen droht“62. 34. Die Nichtunterscheidung von Religion und Offenbarung war nicht nur ein Indiz für den Verlust theologischer Urteilsfähigkeit, sondern zugleich ein Symptom einer viel umfassenderen Krise. Drei Aspekte seien hervorgehoben. 34.1 Wie sehr die ganze Gesellschaft von einer Krise erfasst sei, zeige sich darin, „daß das Christentum heute eine fragliche Größe geworden ist, daß es faktisch Namenschristentum und institutionelles Christentum geworden ist“63. Weil es aufgehört habe, „Lebensinhalt zu sein“64, müsse man unabhängig vom Christentum nach Antworten suchen. Diese Antworten sind implizit oder explizit religiöse Antworten. Die „Deutsche Gottschau“ von Wilhelm Hauer65 war, aus der Retrospektive geurteilt, primitiv, aber verführerisch. Im Ergebnis führt die Preisgabe des Christusglaubens niemals einen Schritt nach vorn, sondern immer einen Schritt zurück.
—————
61 Iwand, RC 125. Aus späterer Zeit vgl. z.B. NW 5, 56. 62 NW 6, 261. 63 Iwand, GA I, 69. 64 Ebd. 65 S.o. S. 100 ff.
Thesen zur Erkennbarkeit Gottes
139
34.2 Die Wissenschaften sind hochdifferenziert, aber sie versagen bei der Bewältigung „drängender Lebensfragen“66. Die Physiker zum Beispiel können die technischen Konsequenzen, die sich aus ihren Entdeckungen auf militärischem Gebiet ergeben haben, nicht mehr verantworten, geschweige denn sie beherrschen. 34.3 Der theologische Lehrbetrieb konnte keine Orientierung geben, weil er selbst orientierungslos war. Wenn Leitbegriffe wie „Reich Gottes“, „Rechtfertigung“ oder „Jüngstes Gericht“ zu Worthülsen werden, hinter denen die Theologen ihre Verlegenheit verbergen, dann ist von der Theologie keinerlei Wegweisung zu erwarten. Iwand hat das so empfunden. Der „wissenschaftlichen Arbeit“ fehle „der Ernst der Wahrheitsfrage“67. Deshalb drang er darauf, die „Wahrheitsfrage im theologischen Studium zur entscheidenden Instanz (zu) machen“; denn das heißt: „seine Berufung zum Theologen erfahren“68. 35. Soll der Wahrheitsfrage in der Theologie die Priorität eingeräumt werden, muss der im Protestantismus seit der Romantik geschlossene Nichtangriffspakt zwischen Religion und Offenbarung als unwahr aufgegeben und das Verhältnis zwischen beiden eindeutig bestimmt werden. Es sind die Erfahrungen mit der deutschchristlichen Häresie im Kirchenkampf, die Iwand bewogen haben, bei der Bestimmung des Verhältnisses von „natürlicher“ Religion und christlicher Offenbarung unmittelbar an Luthers Position, die dieser in der Heidelberger Disputation eingenommen hat, anzuknüpfen.69 Iwands Näherbestimmung beginnt mit der Feststellung, dass die natürliche Gotteserkenntnis oder „natürliche Theologie“ keineswegs „als eine Vorform der Offenbarung Gottes in Jesus Christus“ angesehen werden darf70. Diese Antithese ist dezidiert gegen das neuprotestantische Denkschema einer prästabilierten Harmonie von allgemeiner und spezieller Offenbarung gerichtet, als ergänze diese jene oder als ————— 66 Iwand, GA I, 62. 67 Iwand, NW 1, 219. 68 NW 1, 220. 69 Vgl. bes. o. S. 101. 70 Iwand, EvTh 1986, 224.
140
Schluss
werde jene durch diese vollendet. In der konkreten Situation negiert Iwand mit dieser Antithese den Anspruch der Deutschen Christen, etwas außer der Heiligen Schrift als zusätzliche Offenbarungsquelle anzusehen, und pflichtet der ersten These der Barmer Theologischen Erklärung bei, in der er die reformatorischen Exklusivpartikel solus Christus, sola gratia und sola scriptura zum Ausdruck gebracht sieht. Die Position, die Iwand einnimmt, entspricht der 20. These der Heidelberger Disputation, die zu der Schlussfolgerung geführt hat, in Christus dem Gekreuzigten liege die wahre Theologie und Erkenntnis Gottes.71 Das bedeutet – nach Iwands letzter Bezugnahme auf die Heidelberger Disputation –, dass die Theologia crucis „und das Prinzip der Erkenntnis Gottes allein in Christo (zusammenfallen)“72. 36. Iwand sieht in der Offenbarung Gottes aus den Werken und der Offenbarung Gottes in dem gekreuzigten und auferstandenen Christus „voll und ganz Offenbarungen ein und desselben Gottes“73. Es liegt aber alles daran, das Verhältnis, in dem beide zueinander stehen, sachgerecht zu bestimmen. 36.1 Folgende Abwege werden beschritten: (1.) Die Erkennbarkeit Gottes zu bestreiten und zu leugnen. Das ist mit Röm 1,19 f. unvereinbar. (2.) Aus der Erkennbarkeit Gottes wie selbstverständlich auf die Erkenntnis Gottes zu schließen. Das steht im Gegensatz zu Röm 1,21 ff., wo auf die Erkennbarkeit Gottes keineswegs die Erkenntnis Gottes folgt, sondern vielmehr die Verweigerung von Lob und Dank, der Verfall an das Nichtige und die Vertauschung des unvergänglichen Gottes mit Bildern, die Gott unter Vergänglichem darstellen, also verfälschen. Will man Paulus gerecht werden, muss man beide Aspekte, die Erkennbarkeit Gottes einerseits und die Unkenntnis Gottes andererseits, ohne Einschränkung vertreten. Der zweite Aspekt, die Unkenntnis Gottes, die nicht nichts ist, sondern zur Abgötterei führt, schließt das Interpretationsschema, das auf der harmonischen Zusammengehörigkeit von allgemeiner und spezieller —————
71 WA 1, 362, 18 f. 72 Iwand, NW 2, 386. 73 Iwand, EvTh 1986, 224.
Thesen zur Erkennbarkeit Gottes
141
Offenbarung beruht, so dass der Erkennende von jener zu dieser aufsteigt, von vornherein als unsachgerecht aus.74 Es ist daher auch nicht die Aufgabe der Lehre und Verkündigung, von der Uroffenbarung zur Heilsoffenbarung in Jesus Christus weiterzuführen, wie Althaus meinte.75 Nach Paulus führt seine dem Schuldaufweis dienende Argumentation in Röm 1,18–32 nicht „weiter“, sondern vielmehr zur Umkehr. Das Denkmodell der – mehr oder weniger harmonischen – Zusammengehörigkeit von allgemeiner und spezieller Offenbarung ist neuprotestantisch. Die Scholastik – zum Beispiel Thomas von Aquin76 – konnte so denken. Es entbehrt aber des biblischen Grundes; es ist unpaulinisch und unreformatorisch. 36.2 Die allgemeine und spezielle Offenbarung stehen nicht nur nicht in einem harmonischen Verhältnis zueinander, sondern die Offenbarung Gottes in dem gekreuzigten Christus führt vielmehr jene allgemeine Offenbarung in die Krise. Das jedoch nicht, weil die Offenbarung Gottes aus den Werken keine Offenbarung wäre, sondern weil sie wirklich Offenbarung ist, aber der Mensch, der sie empfängt, ein von Gott abgewandter Sünder ist, der das, was ihm von Gott offenbart wurde, auf einen Nicht-Gott überträgt und die Erkenntnis Gottes des Schöpfers unbegreiflicher- und unverzeihlicherweise zum Ausgangspunkt der Abgötterei macht. Nicht der Mensch als Sexualwesen, sondern der homo religiosus ist nach reformatorischem Verständnis der homo naturaliter, der nicht wollen kann, dass Gott Gott ist.77 Über ihn und seine Hervorbringungen, nämlich seine falschen Vorstellungen über Gott und seine „natürliche“ Religiosität unter Einschluss der positiven Religionen, ist das „Gericht“78 ergangen, und dieses wird bei der Begegnung mit dem Evangelium unter Aufnahme der apostolischen Umkehrpredigt bei jedem, der ihm glaubt, nachvollzogen. Das Evangelium ist die Krisis aller Religion, bei Luther auch und gerade der christlichen.79 Das ist Got—————
74 So Iwand gegen Hirsch; vgl. o. S. 96 f. 75 Vgl. P. Althaus, Die deutsche Stunde der Kirche, Göttingen 1933, 12 f. 76 Thomas v. Aquin, S. th. I, 2, 2 (s.o. Anm. 48 f.). 77 WA 1, 225, 1 f.; von Iwand immer wieder aufgenommen. 78 So mit Recht Iwand, EvTh 1986, 224. 79 S.o. Anm. 53.
142
Schluss
tes Weg, den er mit dem Evangelium eingeschlagen hat: die Weisheit der Weisen zunichte zu machen (Jes 29,14; 1. Kor 1,19). 36.3 Gegenstand und Ort der Erkenntnis Gottes ist für Iwand wie für Luther der gekreuzigte Christus, und zwar dieser in der Unaustauschbarkeit und Exklusivität seiner Person. In ihm, dem einziggeborenen Sohn Gottes, ist der eine Gott Mensch geworden und hat durch dessen stellvertretenden Tod am Kreuz die Welt mit sich selbst versöhnt (2. Kor 5,19). Christus vermittelt nicht die Erkenntnis Gottes, um dann als Mittler entbehrlich zu werden, vielmehr leuchtet auf seinem Angesicht aufgrund der Verkündigung des Evangeliums die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf (2. Kor 4,6). Wegen seiner Einheit mit Gott (Joh 11,30) ist die Erkenntnis Gottes in Christus keine Engführung, sondern vielmehr die Erschließung der Fülle Gottes. „Darum erkennt der Mensch in Jesus Christus den Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, er erkennt ihn in seiner Weisheit, Gerechtigkeit, Ewigkeit und Güte ...“80 36.4 Die Erkenntnis Gottes in Christus erschließt den Zugang zu dem lebendigen Gott (s. Mt 16,16), während die Erkenntnis Gottes aus den Werken um des erkennenden sündigen Menschen willen zu toten Götzen führt. So umfasst und gibt die Erkenntnis Gottes in Christus alles, was die Erkenntnis Gottes aus den Werken zwar in Aussicht stellt, aber um der Sünde des Menschen willen nicht zu geben vermag. 36.5 Durch die Erkenntnis Gottes in Christus wird der Mensch in die Umkehrung des Verhältnisses Gott – Mensch einbezogen, die in Christus für ihn mit der Vergebung der Sünde Wirklichkeit geworden ist. In Christus ist Realität, was außerhalb von ihm nicht einmal als Möglichkeit in Betracht kommt.
—————
80 Iwand, EvTh 1986, 224. Die Bezeugung des lebendigen Gottes in der Wirklichkeit des geschöpflichen Lebens gehört für Iwand zur Aufgabe der Verkündigung wie für Althaus, aber diese erfolgt nicht eigenständig neben der Christusverkündigung wie bei Althaus 1934, sondern von ihr ermächtigt und im Einklang mit ihr.
Thesen zur Erkennbarkeit Gottes
143
37. Iwand hat nicht zusammenhanglos Zitate aus Luthers Schriften dargeboten, sondern an Luthers Denkansatz, Rechtfertigungslehre und Christologie, Schriftverständnis und Theologia crucis angeknüpft. Schon vor Beginn seiner Publikationen war ihm bewusst, dass damit dem neu- und kulturprotestantischen Denkansatz der Boden entzogen sein würde.81 Deshalb stehen Reformation und Neuprotestantismus bei Iwand nicht nebeneinander wie bei vielen evangelischen Theologen jener Zeit, etwa Hirsch, aber auch Althaus, sondern durch die Übernahme des reformatorischen Denkansatzes ist bei ihm der neuprotestantische als theologisch unzulänglich und irreführend außer Kraft gesetzt worden. Im Kirchenkampf hat Iwand nicht konfessionalistisch argumentiert, sondern die deutschchristliche Häresie unter Anwendung des reformatorischen Denkansatzes zurückgewiesen, damit Kirche und Theologie unter der Wahrheit des Evangeliums blieben. 38. Es ist unzutreffend zu sagen, Iwand sei „in das Lager des Barthianismus (übergegangen)“82. Er war kein „Barth-Schüler“83. Er war vielmehr, wie sich aus den Quellen unzweideutig belegen lässt,84 von Anfang an durch Luther geprägt und blieb dies auch nach 1945. Barth sei kein „scharfer Denker“, aber „doch ein sehr leidenschaftlicher“, urteilte Iwand Ende 1927.85 Ihm imponierte Barths „Gradheit“86 nach der Machtergreifung Hitlers. Er war davon überzeugt, dass Barth im Kirchenkampf den „richtige(n) Kurs“87 gesteuert habe. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg, etwa bei dem Darmstädter Wort 1947,88 standen sich beide in der Einschätzung der politischen Lage nahe. Die Bezie—————
81 So war sich Iwand bereits 1923 darüber im klaren, dass M. Schulze, Systematiker in Königsberg und „selbst Ritschlanhänger“, mit der Annahme der Arbeit Iwands über Luther das „Todesurteil durch seine Finger gehen lassen (muß)“ (NW 6, 57). 82 J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. II: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, 591. 83 P. Zocher, Wirkung und Rezeption. III. In der Kriegs- und Nachkriegszeit, in: Barth Handbuch, hg. v. M. Beintker, Tübingen 2016, 437–444, 441. 84 Vgl. o. S. 92 ff. 85 NW 6, 167. 86 NW 6, 260. 87 NW 6, 282. 88 Vgl. dazu J. Seim, Hans Joachim Iwand, Gütersloh 1999, 332 ff.
144
Schluss
hung zwischen beiden war von Respekt und gegenseitiger Sympathie bestimmt. Aber ein theologisches Lehrer-SchülerVerhältnis hat zwischen ihnen niemals bestanden. 38.1 Barth meinte, die Barmer Theologische Erklärung „(stelle) das erste Dokument einer bekenntnismäßigen Auseinandersetzung der evangelischen Kirche mit dem Problem der natürlichen Theologie (dar)“89. Das ist nur dann richtig, wenn man Luther und die Heidelberger Disputation nicht zur evangelischen Kirche zählt. Denn die grundlegende Auseinandersetzung hat im April 1518 in Heidelberg stattgefunden. Sie war nicht nur theologisch fundierter als alles, was danach zu dem Problem ausgeführt worden ist,90 sondern auch insofern „bekenntnismäßig“, als der Augustiner Luther sich mit den Anfeindungen aus anderen Orden, besonders aus dem Dominikanerorden, auseinanderzusetzen hatte. 38.2 Während sich für Paulus und in seinem Gefolge auch für Luther in dem Dahingegebensein des von Gott abgefallenen Menschen an das Nichtige der Zorn Gottes real niederschlägt, ist bei Barth der dieses Dahingegebensein bestimmende Zorn Gottes zur bloßen „Schattenseite seiner Gerechtigkeitsoffenbarung“91 verflüchtigt. Aber Abgötterei heißt nach Luther: im Abgrund gelandet sein92 und Gott gegen sich haben. Die Rettung aus dem Abgrund durch die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes im Evangelium und die Versöhnung mit Gott beruht nicht auf einem Schattengefecht, sondern auf der Kreuzigung Jesu Christi. 38.3 Barth hat die Wirklichkeit der Religion nicht an sich herankommen lassen. Der Gegensatz von Religion und Offenbarung ist bei ihm nicht aus dem wirklichen, täglichen Antagonismus von Religion und Offenbarung erschlossen worden, sondern auf ein methodisches Prinzip reduziert. Aber die Religion ist eine —————
89 KD II, 1, 194. 90 Barth hat die Theologia crucis der Heidelberger Disputation nicht wirklich
rezipiert. Das hat Iwand zwar gesehen (s. NW 2, 381), aber er ist nicht kritisch darauf eingegangen. 91 KD II, 1, 132. 92 WA 56, 179, 6 f.
Thesen zur Erkennbarkeit Gottes
145
Grunddimension des menschlichen Lebens. Sie ist eine Lebensmacht, auch als Halb- oder Pseudoreligion, die den Tod in sich birgt. Durch methodische Prinzipien kann man sich vor ihr abschirmen, aber dadurch lässt sie sich nicht entmachten. Dazu muss es zu einem wirklichen Aufeinandertreffen, zur Konfrontation kommen wie bei Luther. Theologische Dialektik ist nur ein Ausweichmanöver. 39. Am Schluss ist kritisch festzuhalten: Iwand gehört in eine Epoche der Theologie, in der Röm 1,19–20 den schlimmsten Missdeutungen ausgesetzt war, in der Exegese wie in der Dogmatik. Auch er ist nicht unbefangen mit dem Theologumenon der Offenbarung Gottes durch seine Werke umgegangen. Gar zu undifferenziert spricht er wie viele seiner theologischen Zeitgenossen von „natürlicher Religion“ oder „Theologia naturalis“. Dazu verleiten die Überschneidungen und die fließenden Grenzen, die zwischen der heidnischen Gotteserkenntnis aus Werken und der Offenbarung Gottes durch seine Werke in Israel bestehen. Aber gerade wegen dieser Berührungen ist es notwendig, sich zu vergegenwärtigen, dass das Theologumenon der Offenbarung Gottes durch seine Werke alttestamentlichen Ursprungs ist und dass es von Paulus als Kriterium bei der Bewertung heidnischer Religiosität gebraucht wurde. Kriterium für die Beurteilung dessen, was unter natürlicher Religion und Theologia naturalis zu verstehen ist, konnte es bei Paulus und übrigens auch bei Luther nur sein, weil es als Bestandteil der Offenbarungstheologie angesehen wurde. Als ein offenbarungstheologisches Kriterium muss es auch heute wieder in Geltung gesetzt werden, und zwar in der vom Evangelium geöffneten Perspektive.
Abkürzungen Die Abkürzung der biblischen Schriften und die Schreibweise der biblischen Eigennamen erfolgt nach der revidierten Lutherbibel (Stuttgart (1984) 2000). Allgemeine Abkürzungen, Abkürzungen der Schriften Philos u.a. sowie die Abkürzungen der Zeitschriften, Serien, Lexika und Quellenwerke richten sich nach: S. Schwertner (Hg.), Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete / Theologische Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, Berlin/New York 21994. Zusätzliche Abkürzungen: AHb
Augustin Handbuch, hg. v. V. H. Drecoll, Tübingen 2007.
AL
Augustinus-Lexikon, hg. v. C. Mayer, Basel 1986 ff.
Bauer-Aland, Wb
W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. v. K. u. B. Aland, Berlin/New York 61988. F. Blass / A. Debrunner / F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 171990.
BDR Herder HSW HW
J. G. Herder, Sämmtliche Werke, hg. v. B. Suphan, 33 Bd., Berlin 1877–1913. J. G. Herder, Werke, hg. v. G. Arnold u.a., Bd. 1–10, Frankfurt/M. 1985–2000.
Iwand GA I GA II NW NW.NF PM I PM II RC
H. J. Iwand, Um den rechten Glauben. GAufs., hg. v. K. G. Steck, TB 9, München 21965. H. J. Iwand, Glaubensgerechtigkeit. GAufs. II, hg. v. G. Sauter, TB 64, München 1980. H. J. Iwand, Nachgelassene Werke, hg. v. H. Gollwitzer u.a., Bd. 1–6, München 1962–1974. H. J. Iwand, Nachgelassene Werke. Neue Folge, hg. v. der HansIwand-Stiftung, Bd. 1, 2, 3, 5, Gütersloh 1998–2004. H. J. Iwand, Predigt-Meditationen, Göttingen 31966. H. J. Iwand, Predigt-Meditationen. Zweite Folge, Göttingen o.J. (1973). H. J. Iwand, Rechtfertigungslehre und Christusglaube, 1930, TB 14, München 31966.
Luther WA WA.B
M. Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe, 72 Bd., Weimar 1883–2007, Nachdruck 2003 ff. M. Luther, Briefwechsel, 18 Bd., 1930–1985, Nachdr. 2002.
WA.DB
M. Luther, Deutsche Bibel, 15 Bd., 1906–1961, Nachdr. 2001.
WA.TR
M. Luther, Tischreden, 6 Bd., 1912–1921, Nachdr. 2000.