Gott und das Leid im Alten Testament [Reprint 2019 ed.]
 9783111699554, 9783111311111

Table of contents :
Inhalt
1. Das Leid und die Dämonen
2. Schuld und Leid
3. Erziehung durch Leiden
4. Die heroische Betrachtung des Leidens
5. Das Gotteserlebnis im Leiden
6. Der mitleidende Gott
Anmerkungen

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Vorträge der theologischen Konferenz zu Gießen =^===== 42. §olge =========

Gott und das Leid im Klien Testament von

D. Hans Schmidt o. Prof, an der Universität Gießen

19 2 6 Verlag von Klsred Töpelmann in Gießen

v Münchow'jche UniversitStr-vruckerei Otto Kinbt in Gießen

Dem Professor der Physik an der Universität Amsterdam

Herrn Dr. Philipp Uohnstamm in Erinnerung an den 1. September 1922 in Ermelo

Gießen, am 18. Mai 1926

Inhalt Seite

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Das Leid und die Dämonen..................................................................................... 5 Schuld und Leid............................................................................................................. 10 Erziehung durch Leiden.............................................................................................21 Vie heroische Betrachtung des Leidens................................................................... 24 Vas Gotteserlebnis im Leiden.................................................................................. 32 Der mitleidende Gott.................................................................................................. 39

Anmerkungen 1-134........................................................................................................41

1. Es war vor 15 Jahren in einem Dorfe im Gebirge Ephraim. Ich saß unter arabischen Bauern auf dem Fußboden der rauchgeschwärzten, fenster­ losen Stube, der einzigen des kleinen Hauses. Einer erzählte mit müder Stimme eine Geschichte; die lautete so: „Es war einmal ein Kameltreiber, der ging eines Tages mit seinem einzigen Sohn, Gras für ihr Kornel zu sammeln. Da kam ihnen eine Herde Gazellen über den weg. Er ließ das Kamel niederknien und sagte zu seinem Sohne, er solle bei ihm warten, bis er zurückkomme. Dann lies er mit seiner Flinte den Gazellen nach. HIs er ohne Beute zurückkam, fand er sein Kamel an dem Platze, wo er es verlassen hatte. Aber der Knabe war fort. In seiner Abwesenheit war eine Ghule (ein als Weib gedachter Dämon) gekommen, die hatte das Kind in zwei Stücke zerrissen und verschlungen. Der Mann sah sich um. Da bemerkte er eine Blutspur. Er folgte ihr und kam an eine höhle. Siehe da: da tanzte die Ghule vor Behagen, und dabei schwang sie ihre Brüste, wie die Frauen ihre langen Ärmel schwingen, wenn sie einen Tanz um einen Toten aufführen. Er legte an und schoß sie tot. Dann schnitt er ihr den Leib auf. Da lag sein Sohn, in zwei Stücke zerrissen, tot in ihrem Leibe. (Er legte ihn in seinen Mantel, zog die Zipfel durch die Armlöcher, hob ihn auf und ging heim. AIs er in sein Haus eintrat, sprach er zu seiner Frau: .Menschen­ tochter, ich habe dir eine Gazelle mitgebracht. Aber bei Gott! ich koche sie nur in einem Kessel von Leuten, die ihr Lebtag noch nie ein Schicksals­ schlag getroffen hat'1). Da machte sie sich auf und ging im Dorfe umher, um nach einem Kessel zu suchen, in dem noch niemals Trauerspeise gekocht war. Die Eine sagte: ,Ach, Frau, wir haben darin gekocht bei der Trauer um meinen Mann!' Die Andere sagte: ,In unserm Kessel haben wir gekocht bei der Trauer um meinen Sohn!' Bei allen Leuten sprach sie vor, aber sie fand keinen Kessel, in dem nicht schon einmal Trauerspeise gekocht war. Und sie mußte mit leeren Händen nach Hause zurückkehren. Da sagte ihr Mann: .Warum hast du keinen Kessel gebracht?' Sie sprach: ,E§ gibt hier kein Haus, das noch nicht von einem Schicksalsschlag getroffen, und keinen Keffel, in dem nicht schon einmal Trauerspeise gekocht wäre.' Da öffnete er seinen Mantel und sagte: ,Du Tochter des Edlen, alle Menschen ohne Ausnahme werden vom Unglück verfolgt, heute ist die Reihe an dir. Das ist meine Gazelle.'" Mit einem Seufzer: „Ja, so geht es in der Welt", schloß der Er­ zähler 2). Daß das Leid, das Werk mächtiger, uns im Grunde feindlicher Ge­ walten, uns auf Schritt und Tritt umlauert - niemand kann ihm ent-

6 rinnen, ein jeder zittert vor dem Augenblick, wo es heißt: „Jetzt ist die Reihe an vir" - das ist auch im Men Testament das Empfinden vieler gewesen, und zwar besonders in der ältesten Zeit. Man hat diese älteste Zeit Israels bisweilen als die eines lebens­ frohen Geschlechtes gezeichnet. Aber das ist nicht richtig. Wenn man auf­ merksam hinhört, Klingt es zwischen den Zeilen der alten Geschichten fast überall wie ein tiefes Seufzen. Wie beschwerlich ist dar Leben des Hirten. Bei Tage die glühende Hitze und die Kälte in der Nacht, daß man vor Frieren kaum einschlafen kann (Gen. 3 l, 40). Wie mühevoll ist die Arbeit des Bauern. Sm Schweiß seines Angesichtes bestellt er sein Selb. Und wenn die Saat aufgeht, erstickt sie unter Dornen und Disteln (Gen. 3, 18 f.). Frauenlos ist hartes Dienen. Und wie groß sind die Beschwerden bei der Schwangerschaft, die Schmerzen bei der Geburt (Gen. 3, 16). Traurig erklingt das Lied, daß „man vom Liebsten was man hat, muß scheiden". Mit Tränen geleitet der Mann sein geliebtes Weib, das der mächtige Nebenbuhler ihm aus dem Hause holen läßt (2. Sam. 3, 16). Das Weh ergrauter Väter um ihre jäh dahingerafften Söhne (Gen. 37, 35; 2. Sam. 19, 1), der heiße treue Schmerz der Mutter an der Leiche ihres lieben Kindes (2. Sam. 21,10; 2. Reg. 4, 27) — auch in der verhaltenen Art, in der das A. T. von solchen Gemütsbewegungen spricht, werden sie dem Leser ergreifend spürbar. Zu diesen allgemein menschlichen Nöten kommt nun noch das viele beson­ dere Unglück: Vas Korn ist gesät, aber nun will der Regen nicht kommen. So „verschrumpst es unter den Schollen" und „ist dahin", und nachher bleiben die Scheunen leer8). Im Dickicht am Jordan lauern die wilden Tiere. Bisweilen brechen sie in die Herden ein oder fallen gar einen Menschen an4). Fieber und Pest gehen von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf, und niemand kann ihnen wehren6). Das alles aber ist nichts gegen das Leid, das über die Menschen durch Menschen gebracht wird. Wenn man — so lesen wir 2. Sam. 24,13ff. - die Wahl hätte zwischen drei Jahren der Hungersnot oder einem dreijährigen Wüten der Pest auf der einen und einer nur drei Monate währenden Besetzung des Landes durch ein feind­ liches Heer auf der andern Seite, so würde man eine der beiden ersten Nöte als das geringere Übel wählen. Wehe, wenn ein fremdes Volk eine Stadt erobert. Ls ist noch ein günstiges Los, wenn den Besiegten nur das rechte Auge ausgestochen, oder wenn ihnen die Daumen und die großen Zehen abgehauen werden8). Einmal hören wir, daß sich die Männer des besiegten Volkes alle neben einander auf den Erdboden legen muffen. Dann wird die Strecke mit der Schnur gemessen. „Je zwei Schnurlängen maß er ab zur Hinrichtung, je eine Schnurlänge, um die Betreffenden am Leben zu lassen7)." Nicht selten aber wird alles, was lebendig ist, erbarmungslos hingemordet, auch Greise, Weiber und Kinder8). Dabei waltet eine entsetzliche Grausamkeit: Den schwangeren Frauen wird der Leib aufgeschnitten 9). Die Väter müssen, ehe man ihnen die Augen aüssticht, mitansehen, wie ihre Söhne abge-

Machtet werben10). Die kleinen Kinber werben an ben Hausecken zercheN"). hinter bem siegreichen Heer aber kommen bie Sklavenhänbler, um bie etwa Überlebenden aufzukaufen unb zu verschleppen12). Unb bas alles ist nicht etwa selten. Die Geschichte bes Alten Testaments ist ja erfüllt von unaufhörlichen Kriegen. Wenn aber basXeben zu Tube ist mit all seinem erfahrenen Leib unb aller Angst vor bem möglichen, bann kommt auch ber Tob nicht als Erlöser. „Der Weg, ben alle gehen müssen" (1. Heg. 2, 2), führt in bas schreckliche £onb ber Schatten. Dort gibt es kein Glück (Hiob 14, 22); unb von bort gibt es keine Heimkehr (Hiob 7, 9; Hiob 14, 10 ff.; ps. 49, 8; I«s- 26, 14). So geht durch bie Seiten bes A. T. ein verhaltenes Seufzen, bas sich oft erhebt zu einer bittern Klage. Weist fragt man gar nicht nach bem „Warum" bes Leibes. (Es ist ba unb es tut weh unb es ist mächtiger als wir. 3u allen Seiten hat es im Alten Testament Wenschen gegeben, bie unter bem Einbruch dieser geheimnisvoll übermenschlichen Wacht bes Leibes, wie jener Bauer in Bir-Set, an böse Geister geglaubt haben, bie alle unsre Schritte umlauern unb uns mit bem Leib überfallen. 3n ber Wüste ober in ben Trümmern zerstörter Stabte Hausen sie, z. B. bie secirim „bie haarigen", also Dämonen, bie man sich in Tierfell gehüllt, wahrscheinlich in Bocksgestalt vorstellte. Einige von ihnen werben uns mit ihrem Hamen genannt: caza’zel (Lev. 16, 8ff.), lilith (Jes. 34, 14) unb calükä (prov. 30, 15). Die letzteren beiben haben in ber Nacht ihr Wesen. (Es gibt ober auch einen „Dämon bes Wittags". „Fürchte dich nicht vor dem Schrecken ber Nacht, Dor bem Pfeil, ber am Tage fliegt, Vor ber Pest, bie im Finstern umgeht, Dor bem Fieber unb bem Dämon bes mittags13)." Die gefährliche Glut ber Mittagssonne, ber Sonnenstich erscheint, wie bas bem vierten Dersgliebe parallele zweite Dersglieb zeigt, als ber Pfeilschutz eines Dämons. Daraus ergibt sich zugleich, daß auch bie anbere hier ge­ nannte Gefahr, bie Pest unb bas Fieber als von einem Dämon ausgehend angesehen werden, und zwar von einem, zu dessen Wesen es gehört, datz er nachts in ber Finsternis von Haus zu Haus schleicht. Don solchen Krankheitsgeistern hören wir auch Hiob 33, 19 ff., wo uns ein „schleichenbes Fieber" mit folgenben Worten beschrieben wirb: „Auch durch Schmerzen wirb er gezüchtigt auf seiner Lagerstatt, Unb ber Haber in seinen Gebeinen hört nicht auf. Sum LKel macht ihm sein Gaumen bas Brot, Seine Kehle bie Lieblingsspeise"). (Es schwinbet sein Fleisch, batz man nichts mehr bavon sieht, Seine unsichtbaren Knochen stehen hervor! So geht seine Seele ber Grube entgegen, Sein Leben benen, bie zum Tobe führen."

8 Vie memithim, die „zum Tode Führenden" müssen doch wohl Geister sein, die dem Kranken den Todesstoß geben. Vas erinnert uns an den maSdrith, den „verderben Bringenden", der Ex. 12, 23 — von den Häusern der Israeliten durch das Blut an den Türen ferngehalten — bei Nacht umhergeht und seine Gpfer fordert16). 2. Sam. 24, 16 wird fast der gleiche Ausdruck mal’akh hammaSdrith von dem Dämon der Pest gebraucht, der 70000 Israeliten tötet. Vie Geisteskrankheit des Königs Saul wird erklärt durch einen „bösen Geist" (rüadi racah iweü|ia itovvjpdv) 16)( und ebenso der unglückliche Heereszug, bei dem der König Ahab von einem Pfeil getroffen wurde, daß er sich in seinem Streitwagen verblutete (1. Heg. 22, 21). Vie Unglücksschläge, die den Hiob treffen - verheerender Sturm, Feuer, Überfall und Raub - gehen aus von dem „Satan“, „dem Wider­ sacher", der über alle Nöte und Leiden verfügt, die die Menschen an der Grenze der wüste bedrohen. Kurz, man gewinnt fast den Eindruck: so viele Schmerzen es gibt, so viele Geister gibt es, die sie Hervorrufen. Darauf führen auch die ziemlich häufigen und vor allem über die gesamte Literatur des A. T. ausgebreiteten Stellen, an denen von Sauberern die Hebe ist17). Gelegentlich wird ausdrücklich gesagt, daß sie sich bei ihrer schwarzen Kunst der Geister (besonders der Totengeister) bebienen17a); aber auch wo sie nur durch Zluchworte wirken, ist die Sache kaum anders; denn das Zluchwort ist etwas wesenhaftes; es ist wie ein leibhaftiger Geist, der den verfluchten nicht zur Ruhe kommen läßt"). Aber die Stufe der Religion, auf die wir uns damit geführt sehen, der Polpdämonismus und die mit ihm verbundene Magie liegen im all­ gemeinen nun doch tief unter der (Oberfläche der alttestamentlichen Religion. Es ist zu beachten, daß in der Mehrzahl der von uns angeführten Beispiele19) die bösen Dämonen, die die Urheber so vieler Leiden sind, im Auftrag Jahwes handeln. Er hat sie gesandt; sie find seine maPadiim, seine „Boten"; noch genauer werden sie einmal (Pf. 78, 49) als seine mal3adie racim, seine „Unglücksboten" bezeichnet, hierin zeigt sich die außerordentliche Kraft des monotheistischen Ge­ dankens im Alten Testament. Der Prophet Amos hat einmal in einem seiner merkwürdigsten Gedichte Folgendes ausgeführt: wenn man zwei Menschen miteinander wandern sieht, so muß man annehmen, daß sie zuvor eine Verabredung getroffen haben, wenn man einen Löwen im Walde brüllen hört, so weiß man: Jetzt hat er eine Beute unter seinen Pranken, wenn ein Vogel von der Falle niedergeschlagen wird, so muß jemand da­ gewesen sein, der die Falle aufgestellt hat. wenn die Leute in einer Stadt zusammenlaufen, so hat das gewiß eine Ursache: Wahrscheinlich hat man gerade Alarm geblasen. Ebenso — wenn etwas Schreckliches in einer Stadt geschieht — woher kann es kommen? Nur von Jahwe!99) hier wird jede Herleitung des Leides aus einer andern Ursache oder etwa aus dem Ungefähr21) ausdrücklich abgelehnt. Der starke Monotheismus

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des Propheten läßt ihm Keine andere Wahl: Alles Leid kommt von Gott! von Gott selbst und von Gott allein! Jede ursprünglich erlebte Religion kennt als ihr Grundgefühl das Erschauern bis in das Mark hinein, das förmlich physisch fühlbare Er­ schrecken vor dem nahen Gott. Besonders aber im Alten Testament ist das die Seele der Frömmigkeit, padiad jahwäh — der entsetzliche Jahwe dieses Wort ist für die Religion des K. T. fast so bezeichnend wie unser „der liebe Gott" für die unsrige. 3n einer solchen Religion müssen sich Gottesgedanke und Leidenserfahrung unter einander anziehen. Und so hat es die lange Zeit hindurch, über die uns das A. T. Runde gibt, eine fast ununterbrochene Rette von Menschen gegeben, die kein Bedenken getragen haben, ohne eine Frage nach dem warum, Jahwe mit dem Schrecklichsten in Verbindung zu denken. Er überfällt des Nachts den Mose und versucht ihn zu töten (Exod. 4,24). Eine Hungersnot, so schwer, daß eine Frau ihr eigenes Rind umbringt und die Leiche itzt, kommt von ihm (2. Reg. 6, 29 ff.). Vas entsetzliche Blutbad, das der Syrerkönig hasael in den Grenzgebieten Israels errichtet (2. Reg. 10, 32) — es geschieht aus seinem, aus Jahwes Zorn. Er ist es, der die Menschen „betört", datz sie in ihr verderben laufen2Z). Sein Zorn flammt aus, plötzlich und unberechenbar, gleich dem Ausbruch eines vulkanes. „Und wenn die Geißel jählings tötet, so lacht er, datz die Reinen so verzweifelt sind!" (Hiob 9, 23). Man duckt sich unter seinem grundlosen, sinnlosen wüten und wartet zitternd auf den nächsten Schlag. „Vie Glut deines Zornes ist über mich dahingegangen, Deine Schrecken haben mich vernichtet, Umgeben mich täglich wie das Wasser, Schlagen allzumal über mir zusammen!" (Ps. 88, 17 f.)

„wer darf dann fragen: warum tust du das?" (2. Sam. 16, 10.) „wer darf zu ihm sprechen, was tust du da!" (Hiob 9, 12.) Dieses in sich Zusammensinken und fragenlose Sichbescheiden ist — das sei nochmals betont — auf allen Stufen in der Entwicklung der israeli­ tischen Religion zu belegen. Noch der Prophet Jeremia, und zwar in dem letzten Wort, das wir aus seiner Feder besitzen, hat so vom Leide gesprochen: Vas war in Ägypten, als er seinen treuen Freund Baruch einmal in Heller Verzweiflung traf und ihn Klagen hörte: „(D wehe mir, daß Jahwe mich mit Kummer und Schmerzen über­ häuft. Müde bin ich vom Seufzen und finde doch keine Ruhe." Da empfängt der Prophet als Antwort das Wort Jahwes:

„Sieh, was ich gebaut habe, ich reiße es ein! Und was ich gepflanzt habe, ich reiße es aus! Und du begehrst Grotzes für dich? Begehre es nicht! Sieh, ich bringe Leid über alles Fleisch!"28)

10 Der Letzte der großen Dichter im Kien Testament Koheleth, der Skeptiker, zieht den Strich unter dieses ernste Lied: „Da pries ich glücklich die Toten, die schon Gestorbenen, vor den Lebenden, die jetzt noch leben. Und glücklicher als beide den nie Geborenen, weil er das schlimme Geschehen nie gesehen hat, das unter der Soune ge­ schieht^)."

2. Uber, was wir gezeichnet haben, ist nur die eine Linie, wir werden sehen, daß ihr eine Unzahl andere — wie ich glaube, lassen sich deren noch fünf verfolgen - parallel laufen. Mochten sich Hunderte mit dem „Wer darf denn fragen, warum tust du das?" begnügen, die Frage kam doch und kam immer wieder und ruhte nicht, bis sie eine Untwort fand. Zürnte Gott, so muß ihn jemand erzürnt haben, wodurch kann das ge­ schehen sein? Die breite Masse und gewiß die Mehrzahl der Priester ant­ worteten auf diese Frage mit dem Hinweis auf den Kultus. „Tut den Dienst (d. i. den Kultus) vor Jahwe, euerm Gott, dann segnet er dein Brot und dein wasser. Dann will ich Krankheit von dir fernhalten. Dann hat kein Weib in deinem Lande mehr eine Fehlgeburt oder ist unfruchtbar. Dann bringe ich deine Tage aus ihre volle 3afyl25)." Uuf diese Auffassung gründen sich die großen Bittfeste, von denen wir im U. T. hören. Da wurde die Posaune geblasen. Vas ganze Volk, auch die Greise, die Weiber und Kinder zogen, nachdem sie zuvor gefastet hatten, in Trauergewändern zum Heiligtum (Joel 2,15f.)25a). Und nun wurden Jahwe unerhörte Mengen von Opfern gebracht: Tausende von Widdern, Rinder in Menge, ganze Bäche von Gl, ja selbst die eignen Kinder (Micha 6, 6f., Jes. 1, 10ff.). „(Er hat uns zerrissen, er wird uns wieder heilen; er hat uns geschlagen, er wird uns auch verbinden!" (Hosea 6, 1). Sein Zorn ist unerklärlich, aber vielleicht bewegt ihn eine vermehrte Anstrengung im Kultus ebenso plötzlich, ebenso unberechenbar, wie er zugeschlagen hat, auch wieder zu Helsen. Uber die Großen im Ulten Testament, die Propheten, und als der erste unter ihnen Mose, haben nun eine andere Untwort aus die Frage „Warum" gefunden. Vas war ja das Eigentümliche und Unterscheidende in der Religion des Mose, daß sich bei ihm der Schauer vor dem furchtbaren Jahwe, der sich ihm im Feuer des Sinai offenbart hatte, unlöslich verbanden mit dem Zwang einer Stimme, die in ihm sagte „du sollst", und die ihn den damals von ihm als Gott Israels erkannten zugleich als den erkennen ließ, der ein besonders geartetes Miteinanderleben der Menschen forderte2^). Nicht der ernste Kultus — auch der ist Mose schwerlich gleichgültig gewesen - aber nicht das vor allem ist ihm Jahwes Forderung, sondern daß niemand seinen Bruder töte, oder ihm sein Weib, oder sein Eigentum nehme, oder falsch über ihn aussage vor den Ältesten, wenn sie zu Gericht sitzen, oder scheel sehe auf sein hab und Gut26). Der die Menschen mit Leid schlagende Gott sucht „ihre Sünden an ihnen heim", — das heißt für Mose in

erster Linie nicht versäumte oder minderwertige oder falsch zubereitete Gpfer, sondern das heißt stttliche Verfehlungen. Und zwar sucht er die heim über Geschlechter hinaus, an den Söhnen, an den Enkeln und den Urenkeln. Line große Wahrheit, die einmal ausgesprochen ist, geht nicht wieder unter. So tief sich auch das Volk, als es im Lande der Verheißung seßhaft geworden war, in die Lebens- und Denkweise der Landeseingesessenen ver­ stricken ließ, so völlig hingegeben wir es dem Baalskultus mit seinen schönen Erntefesten, mit seinem Rausch und seiner Unsittlichkeit finden immer wieder einmal leuchtet der große sittliche Gedanke hervor. Man nehme z. B. die Geschichte Davids: Rls der Feldherr seines Gegners ermordet am Boden liegt, ruft David voll Entsetzen (2. Sam. 3,39): „Der Herr vergelte dem, der Böses tut!" Wie fürchtet er sich vor dem Ruchbarwerden seiner Tat, als er die Bathseba verführt hat. Man sieht deutlich: er weiß alle Gasten erfüllt von dem sittlichen Gebot, das die Ehe schützt, und das auch über dem König steht. Die Geschichte von Rbsaloms Rufstand wird, ohne daß der feinsinnige Erzähler dies ausdrücklich hervorzuheben brauchte, durch den Gedanken getragen: daß jede Sünde ihre Sühne durch Gottes Strafe findet. Warum würde sie sonst eingeleitet durch die Erzählung von der Schändung der Thamar und der Ermordung des Rmnon. Und wer könnte — um aus der späteren Geschichte nur noch eins herauszugreifen — die Begegnung zwischen Elias und dem König Rhab in Uaboths Weinberg lesen, ohne zu empfinden, daß hier der „heilige" Gott auf dem Plan ist, der Raub und Gewalttat blutig bestraft. Rber zur vollen Klarheit und zur herz bezwingenden Gewalt ist der sittliche Gedanke-oder setzen wir ihn gleich in Beziehung zu der uns be­ schäftigenden Frage — die Erklärung des Leides aus der Schuld doch erst durch die großen Propheten gekommen, von denen wir Schriften besitzen. 3n dem Gedicht, das den Eingang des Buches Rmos bildet, sieht der Prophet, wie die Völker rings um Israel zur Strafe ihrer Schuld durch das Feuer Gottes vernichtet werden. (Er sieht, wie Damaskus in lodern­ den Flammen steht und ebenso die reichen Städte Phöniziens. Über die Berge von Moab und Edom kommt das Feuer des Gerichtes und über die grüne Küste von philistäa. Wie mögen die Hörer des Propheten ihm gelauscht, wie begeistert mögen sie zu ihm ausgesehen haben, als er so die Sünden aller Feinde Israels geißelt! Venn das war seit Mose der starke zweite Ton in der Frömmigkeit Israels, der Ton, der die Furcht und das Entsetzen vor dem schrecklichen Gott oft und mächtig überklang, daß dieser Gott Jahwe der Gott seines Volkes sei, daß er seine Kriege führe, daß 'er ihm schließlich helfe gegen jeden Feind. Rber nun springt das Gedicht des Propheten in einer jähen Wendung plötzlich herum: „So spricht Jahwe:

Um Israels dreifache Schuld, Nein, um der vier will ichs nicht wenden,

12 Das den Gerechten um Silber verkauft Und den Urmen? Nun, um ein paar Schuh! Sie treten der Niederen Haupt, Sie stoßen in den Abgrund die Geringen Und trollen dann, Vater und Sohn, 3u derselben Dirne! G diese Schmach meines heiligen Namens! Auf Gewändern, gepfändetem Gut, Lagert man an den Altären; Und säuft der Gebüßten Wein 3m Haus seines Gottes! Und was tat ich? Ich zerschlug den Amoriter vor ihnen her: Wie der Wuchs einer Zeder sein wuchs, Und sein Mark, stark wie eine Eiche! Ich schlug droben zu nicht seine Frucht Und riß aus seine Wurzel! Nun warte, was ich tue! Ich rüttle unter euch, Wie der Wagen schüttelt, wenn er fährt Mit den Garben hoch gefüllt! Da vergeht dem Schnellfutz die Flucht, Auch dem Starken schwindet die Kraft. Wer den Bogen spannt, steht nicht mehr fest, Es entrinnt nicht der Heiter auf dem Hoß, Und der Held, so fest ihm auch das herz, Muß nackt entfliehn, Kommt dieser Tag! So hat Jahwe geraunt!" 21) In diesen flammenden Versen wird Israel der Untergang verkündet. Die Lohe des Gerichts, die die Völker im Kreise umher ergriffen hat, über Israel schlägt sie zusammen. Unter den Füßen des von Jahwe mit so viel Liebe geleiteten Volkes bebt die Erde wie ein schwerer Erntewagen. „Der Tag Jahwes" ist der Tag der Bestrafung seines Volkes! Mit unbarmherziger Grausamkeit ertönt diese Botschaft immer wieder. Jesaia ruft - vielleicht kommt ihm das Bild, als er einmal Bauern damit beschäftigt sieht, die Stümpfe eines Waldes auszubrennen -:

„Und wenn noch ein Zehntel darin ist, So muß es noch einmal hinein und mutz verbrennen Wie die Terebinthe und die Eiche, von denen beim Fällen ein Wurzelstumpf blieb!"28) Und damit meint er sein Volk!

Bei Hosea (13, 14) heißt es:

„her mit deinem Fieber, Tod, Hölle her mit deiner Pestilenz, Mitleid ist vor meinen Augen verborgen!"

Und Jeremia stimmt ein: „von der Glut Jahwes bin ich erfüllt, Ich mühe mich, sie zurückzuhalten! .Gieß aus über das spielende Kinb auf der Gasse, Mer die Schar der Jünglinge zumal. Ja, Mann und Weib sollen ergriffen werden, Greise und hochbetagte!'" 89) (Eine besondere Vertiefung bringt diese grausige Botschaft der großen Propheten aber erst dadurch in die Behandlung unseres Problems, daß sie den Begriff der Schuld veredlen. Vie Schuld des Volkes, die be­ straft werden muß, liegt in erster Linie auf dem Gebiet der Religion wohlgemerkt nicht des Kultus; wie haben sie über den gehöhnt! — nein, auf dem Gebiete der innersten Beziehung des Menschen zu Gott. Daß die Großen im Volk in ihrer Weltbefangenheit mit stolz erhobenem Haupt ein­ hergehen, ohne auch nur zu empfinden, daß Gottes ernste Augen auf sie gerichtet sind (Jes. 3, 9, 16), daß die herrliche Führung der Wege seines Volkes nicht ganz unwillkürlich ein Gefühl überquellender verpflichtender Dankbarkeit auslöst (Amos 3, 2), daß es überall an „Glauben" fehlt, d. h. an dem ganz stillen, ganz gelassenen vertrauen aus den starken Gott (Jes. 7, 9; 30,15) - das ist nach den Propheten die in den Untergang treibende Kraft der Sünde ihres Volkes, varaüs ergibt sich alles andere, die gierige Genußsucht — das Saufen, Fressen und huren — die Ungerechtigkeit und Lieblosigkeit, mit der eine kleine Schicht des Volkes die für sie günstige Konjunktur am (Ende der Sqrerkriege ausnutzt und die verarmten Bauern, die Witwen und Waisen ausbeutet und von der Scholle treibt, die Ver­ logenheit, die sich bei dem allen noch fromm vorkommt und fromm ge­ bärdet. (Eine neue vertiefte Sittlichkeit wächst unter den Händen der Propheten aus dem Schuldgedanken hervor. Vie schreckliche Botschaft vom Untergang des ganzen Volkes durch Gottes strafendes Gericht hat nun einen gewaltigen Eindruck gemacht! weshalb? weil die Geschichte ihnen Recht gab. Zuerst fiel Samaria, „die stolze Krone des Trunkenen Ephraims"80); dann fiel Jerusalem! von nun an blickt die ihrer Heimat beraubte Schar der Überlebenden mit Ent­ setzen zurück in die Geschichte ihres Volkes. (Es ist recht, wie alles ge­ kommen ist! Vie Propheten haben es ja den Vätern im voraus gesagt! Unsere Väter und wir alle haben gesündigt, gesündigt, gesündigt! Mit eherner Monotonie klingt dieses Wort durch das große Geschichtswerk, das —alte Quellen bearbeitend - im Exil geschrieben worden und, in seine einzelnen Teile zerlegt, in den Büchern der Richter, den Büchern Samuelis

14 und den Büchern der Könige auf uns gekommen ist31). Und in unver­ minderter Gewalt beherrscht es das zweite große Buch, das Geschichtsbuch der nachexilischen Zeit, das Werk der Chronik«33), dem die Bücher (Esra und Uehemia ursprünglich einmal als wertvolle Quellenschriften eingefügt gewesen sind. will man ein Motto finden, das zu diesen beiden Büchern paßt, so könnte man das Wort aus den Klageliedern wählen:

„Vie Schuld meines Volkes ist größer gewesen als die Sünde Sodoms, Vas umgestürzt ward wie im Augenblick, ohne daß sich Menschenhände darum gemüht hätten"33). (Es wird wenig Beispiele in der Geschichte geben für die gewaltige und nachhaltige Wirkung eines großen Gedankens, die so sprechend sind wie das hier aufgeführte33 a). In einer Beziehung allerdings blieb die Folgezeit hinter den Pro­ pheten zurück, hatten diese mit glühendem Ernst den Blick vor allem auf die Beziehung von Mensch zu Mensch und auf die darin betätigte Religion gerichtet, hatten sie die Meinung, daß man Jahwe durch schöne Lieder im Gottesdienst und durch reiche Gpfer versöhnlich stimmen könne, mit oft fast maßlosen Worten verhöhnt, so zeigt sich der enge Sinn der Nachfahren, und zwar je länger desto stärker in der alten Anschauung ge­ bunden, daß es vor allem doch auf den Kultus ankomme, auf den Dienst am rechten (vrt, im rechten Kleid, durch die rechten Personen. Schon das im übrigen so stark prophetisch gestimmte Reformgesetzbuch des Königs Iosia, das uns im Urdeuteronomium erhalten ist34), versucht die Leiden in der Geschichte des Volkes von hier aus zu verstehen und von hier aus zu überwinden. Reinigung des Kultus von allem heidnischen und zu diesem Zwecke Zentralisation an dem (Vrt, „den Iahw? erwählt hat", ist hier die Forderung Jahwes und die Forderung der Stunde. 3n dieser Be­ ziehung ist der Prophet hesekiel, wie sich namentlich am Ende seines Buches zeigt, ein treuer und das Gesetz überbietender „veuteronomist". haggai und Sacharja, die von dem Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem alles heil erwarten, sind des gleichen Geistes Kinder. Vas 3eremonialgesetz des nachexilischen Judentums endlich kommt auf der damit gewiesenen Bahn zum Ziel33). Der letzte Ausklang ist der Pharisäismus. Aber in der Anschauung von Schuld und Leid, daß beides zusammen­ hängt wie Ursache und Folge, und daß Gott sein Volk, das Volk in seiner Gesamtheit, straft, darin ist das Judentum weithin mit seinen großen Pro­ pheten eines Sinnes. Die damit gegebene Lösung des Leidensproblems trug nun aber doch eine ernste Frage in sich. Und schließlich sind es die großen Propheten selbst geweseit, die den Anlaß geboten haben, sie zu stellen. Während sie - hierin einig mit der alten Überzeugung von der Schicksals­ gemeinschaft der Angehörigen einer Sippe33) — den gemeinsamen Untergang des

sündigen Volkes verkündigten, standen sie selbst vor den Augen aller als die großen Einsamen, als „Persönlichkeiten" besondrer Art und im tiefsten Sinne des Wortes. War es angesichts dieser Menschen eine auch nur mögliche Antwort auf die Frage nach dem Leid, daß Gott die Schuld des Volkes an allen gemeinsam in einer großen Endkatastrophe straft? Mußten sich die Pro­ pheten selbst nicht als die Einzelnen, die Besonderen fühlen; erlebten sie es nicht in der geheimnisvollen Schau, mit der sie beschenkt wurden, in der Last ihrer besonderen Aufgabe und der Seligkeit ihrer Gottesnähe, daß doch ein Unterschied war in der massa perditionis ? Kls Jesaia den thronenden Gott sieht, ruft er nicht zuerst: „Wehe, wie sündig sind wir alle, ist unser ganzes Volk!" sondern sein erstes wort ist: „Wehe mir, ich bin unreiner Lippen!" Und erst dann gesellt sich seinem Ausruf das wort über das Volk. In diesen Menschen erwacht der Individualismus in der israelitischen Religion36 a). So ist es denn kein Wunder, daß in ihrer Gefolgschaft — zögernd und unbe­ holfen zuerst, aber dann immer lauter und klarer — die Einzelnen ihre Stimme erheben und von dem heiligen Gott ihr besonderes Geschick verlangen. Es ist bezeichnend, daß diese Frage uns zuerst in Zusätzen und Rand­ bemerkungen entgegentritt, die zu älteren Schriften von nachdenklichen Lesern gemacht worden sind. Namentlich, als sich das Geschick des Staates Juda seinem Untergang näherte, als das Vernichtungsurteil der Propheten immer drohender, die Zeichen seiner Wahrheit immer augenfälliger werden, da werden — so scheint es — solche Notizen zahlreich. In der uralten Erzählung vom Untergang der Städte Sodom und Gomorrha finden wir den klaren Fortgang der Handlung an einer Stelle unterbrochen. Als Abraham die „drei Männer" bewirtet und sie bis zu der Stelle geführt hat, von der aus man die Städte Sodom und Gomorrha liegen sieht, da - so erzählt nun der Einschub, wofür die Mehrzahl der neueren Ausleger die Verse 18, 22b —33a halten3') — blieb er vor Gott stehen und fragte ihn: „willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen zusammen umbringen?" Und erst dann beruhigt er sich, als er erfahren hat, daß die Zahl der Schuldlosen in den Städten, über die das Gericht kommen soll, so gering ist, daß sie gegenüber den Schuldigen gar nicht in Frage kommt, wären auch nur zehn Gerechte darin gewesen, so wären um ihretwillen die beiden Städte verschont. Noch wagt es der Fragende nicht für jeden Einzelnen ein besonderes Geschick zu verlangen, noch ist er tief gebunden in die alte Anschauung von der Gemeinsamkeit des Erlebens, aber man sieht doch schon deutlich, wohin die Entwicklung geht. Eine ähnliche vorwurfsvolle Frage ist in die Erzählung vom Unter­ gang der Rott« Rorah (Num. 16) eingeschoben: „