›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes 9783787327027, 9783787327010

Rainer Maria Rilke hat der Verkündigung des Todes Gottes, die Friedrich Nietzsche jubelnd und doch unter Schmerzen vortr

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›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes
 9783787327027, 9783787327010

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Norbert Fischer (Hg.)

›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-2701-0 ISBN eBook: 978-3-7873-2702-7

Umschlagabbildung: Paula Modersohn-Becker, Porträt Rainer Maria Rilke www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2014. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werk­ druck­papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Rainer Maria Rilke Rede über die Gegenliebe Gottes (Entwürfe) . . . . . . . . . . . . . . 13

I. Einführende Betrachtungen zur Themafrage im Blick auf das Gesamtwerk Rilkes

Norbert Fischer ›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes. Einführung und ein Vorblick auf die Beiträge . . . . . . . . . . . . . . 19 August Stahl Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Norbert Fischer Rilkes Zugang zur Religion. Gegen die Hypothese seiner ›Immanenz-Gläubigkeit‹ . . . . . . . 69 Jakub Sirovátka Rilkes Herkunft und ein erster Blick auf seinen Weg . . . . . . . 107

II. Zur Auslegung einzelner Werke und Werkgruppen

Norbert Stapper Die »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes . . . . . . . . . . . . . 135  

Alexander W. Belobratow »Gott (wohne) in der Achselhöhle …«. Zur Bedeutung von Rilkes Rußlanderlebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Magdolna Orosz »Gebirge, Gestein, Wildnis, Un-Weg«. Raumwahrnehmung und Transzendenzerfahrung in Rainer Maria Rilkes Capreser Gedichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 William Waters Fragen nach Gott in den ›Neuen Gedichten‹ . . . . . . . . . . . . . . 201 Norbert Fischer »Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also.«. Sämtliche Fundstellen zum Wort ›Gott‹ in MLB mit kurzem Kontext und erläuternden Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Wolfgang Braungart Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts. Sprachsuche, Selbstsuche, Gottsuche in Rilkes ›Duineser Elegien‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Friedrich-Wilhelm von Herrmann »Und zitternd hochgerissen standen sie krumm und hatten bange lieb«. Zu Rilkes Emmaus-Gedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Albert Raffelt Rainer Maria Rilke – Paul Hindemith: Das Marien-Leben . . 311

III. Systematische und geschichtliche Reflexionen zur Dichtung Rilkes

Michael Neumann Einige Überlegungen zur Wahrheit der Dichtung . . . . . . . . . . 341 6 | inhalt

Georg Steer Rainer Maria Rilke als Leser Meister Eckharts . . . . . . . . . . . . 361 Daniel Joseph Polikoff Die unerhörte Mitte. Rilkes Gottesvorstellung aus der Perspektive von Joseph Campbells vergleichender Mythologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Thomas Pittrof Rilkes ›Gott‹ und der Polytheismus der modernen Kultur . . 401 Peter Por Rilkes anagogische Gottesvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Ludwig Wenzler Rilkes Wege mit ›Gott‹ – religionsphilosophisch betrachtet . 439 August Stahl »Ein Wehn im Gott«. Der schöpferische Odem Gottes in Rilkes ›Sonetten an Orpheus‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475

Anhang

Auswahlbibliographie Rilke, Religion und Christentum. In chronologischer Folge erstellt von August Stahl . . . . . . . . . 491 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Zitierte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523

inhalt | 7

Vorwort des Herausgebers Die hier vorgelegten Beiträge, die auf ein von der DFG gefördertes Symposion in der Aka­demie des Bistums Mainz zurückgehen (7.–11. März 2013), führen wesentliche Dichtungen Rilkes vor Augen, die ›von Gott‹ und ›zu Gott hin‹ sprechen – und diskutieren deren Got­ tesbezug kritisch. Der Plan, die Gottesfrage in der Dichtung Rainer Maria Rilkes zum Thema zu machen, geht einer­seits auf die Philo­ sophischen Seminare in Kloster Weltenburg zurück, die von 2000– 2004 Augustins Confessiones zum Thema hatten, von 2005–2008 Kants Kritik der reinen Vernunft, von 2009–2011 die ›Gottesfrage‹ bei Immanuel Kant, Martin Heidegger und Emmanuel Levinas. Die Früchte dieser zwölf Seminare sind in den Verlagen Fer­dinand Schöningh (Paderborn), Felix Mei­ner (Hamburg) und Herder (Frei­ burg im Breisgau) veröffent­licht worden. An­dererseits war für den Herausgeber die Begegnung und Zusammenarbeit mit August Stahl entscheidend, damals Präsi­dent der Rilke-Gesellschaft, der einen großen Teil der Vorüber­legungen mitgetragen und auch an der Ver­ wirklichung des Projekts tatkräftig mitge­arbeitet hat. Seiner erwie­ senen Freundschaft verdankt der Herausgeber zahlreiche förder­ liche Anstöße. Unmittelbar nachdem Friedrich Nietzsche den ›Tod Gottes‹ (ju­ belnd und unter Schmerzen) verkündet hatte, tritt Gott in Rainer Maria Rilkes Dichtung lebendig hervor – in einer Weise, die von der ›Anrede Gottes‹ im Gebet bis zu beredtem Schweigen reicht, das aus Verlusten er­wächst. Das Phänomen der lebendigen Gegen­ wart ›Gottes‹ in Rilkes Dichtung, das unser Staunen hervorruft und unser Denken anregt (vgl. dazu Platon: Theaitetos 155d), das die Leser Rilkes mit Nachdruck auf die ›Got­tesfrage‹ lenkt, gehört in das Zentrum der ›denkerischen Orientierung‹, die Kant als Aufgabe der Philosophie benannt hat (vgl. Was heißt: sich im Denken orien­ tieren?) und die in der krisenhaften Situation unserer Zeit weiterhin gründ­lichste Beachtung verdient. Rilke widmet sich als ›Dich­ter‹   |  9

zwar nicht der Denkarbeit, bietet aber mannigfachen Anlaß zu ihr; er sieht sein Dichten ausdrücklich unter dem Anspruch Gottes und erklärt im Stunden-Buch: »Und ich will mei­nen Sinn/ wahr vor dir« (KA 1,163). Noch in seinen spätesten Dichtungen unter­stellt er sich diesem ›göttlichen‹ Anspruch, der in die Transzendenz weist, in­ dem es alles mensch­liche Vermögen übersteigt (SO I 3; KA 2,241): »In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch.« Das Ziel, singend der Wahrheit zu entsprechen, führt nach den Sonetten an Orpheus in die Transzendenz (SO I 5): »Und er gehorcht, indem er überschrei­ tet.« Dieser abschließende Vers des fünften Sonetts im ersten Teil der Sonette an Orpheus bietet eine Auskunft zur grundlegenden Aufgabe der Sonette und kann so ins Lateinische übersetzt werden: »oboedit transcendens«. Solche in die Transzendenz weisende ›Dichtung‹ ist schon mit Platon (Politeia 545e) als ein ›ernsthaf­tes Spiel‹ ­zu verstehen: denn sie hat »Leiden«, »Liebe« und »Tod« im Blick (SO I 19); sie ›kreist‹ dadurch um ›Gott‹ und um die Gottesfrage, die wesentlich zum ›Le­ ben‹ gehört und uns allererst die Aufgabe des Denkens stellt und unsere Lebenswirklichkeit zu bedenken fordert. Im Brief des jungen Arbeiters bekennt Rilke, vielleicht auch für ihn selbst überraschend, seine »Erfah­rung«, die heu­tigen Zeitgenossen oft zu f­ ehlen scheint, daß ihm nämlich »›Gott‹ zu sagen, so leicht, so wahr­haftig, so […] pro­blemlos einfach sei« (SW VI,1118). Diese ›Erfahrung‹ läßt die Dich­tung Rilkes als Thema der Philosophie sehen, das die Gottes­ frage zu bedenken antreibt. Die vorliegenden Beiträge untersuchen zwar nicht das Werk oder die Werke eines ›Philosophen‹, son­dern die ›Dichtung Rilkes‹, weisen aber durch ihr Thema auf Fragen der Philosophie und der Theo­logie und werden deshalb von einem multidisziplinären Kreis von Verfassern dargeboten. Die Zusammenarbeit mit August Stahl begann, als der Herausgeber den Augusti­nischen Geist wichtiger Dichtungen Rilkes bemerkt und deshalb Kontakt zur Rilke-For­ schung gesucht hatte. Erste Früchte trug diese Zusammenarbeit beim Sym­posion zur Wirkungs­geschichte Augu­stins, das vom 18.–20. Januar 2008 mit Unterstützung der DFG in der Akademie des Bistums Mainz durchgeführt und dessen Ergebnis 2010 in zwei Bänden im Verlag Meiner publiziert wurde (Augustinus. Spu­ren und Spie­gelungen seines Denkens. Band I: Von den Anfängen bis 10  |  Vorwort des Herausgebers

zur Reformation; Band II: Von Descartes bis in die Gegenwart). Au­ gust Stahls Beitrag zum zweiten Band: ›Salus tua ego sum‹. Rilke (1875–1926) liest die ›Con­fessiones‹ des heiligen Augustinus war eine wichtige Vorstufe für den neuen Plan und kann als ein erhellendes Prolegomenon für den hier vor­gelegten neuen Band herangezogen wer­den. Zuvor war dem Herausgeber das Desiderat einer gründli­ chen Betrachtung der Dich­tung Rilkes in ihrer Beziehung zur Got­ tesfrage bewußt geworden, zu der er eine erste Untersuchung vor­ gelegt hat (»Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?« Nachklänge der Zeitauslegung Augustins in der Dichtung Rilkes). Vorangestellt sind dem Band Rilkes Entwürfe zu einer Rede über die Gegenliebe Gottes (1913), die er zwar nicht fertig ausgearbei­ tet und auch nicht gehalten, aber 1924 einmal vorgelesen hat. Die Hauptthesen der Untersuchungen, die den Zugang zum vorliegen­ den Buch erleichtern, sind am Ende der folgenden Einführung in den ›Kurztexten‹ aus der Feder der Autoren abgedruckt. Der erste Teil der Untersuchungen beginnt mit der genannten Ein­führung von Norbert Fischer; es folgt ein grundlegender Essay zu ›Rilkes ausdauernder Arbeit am Mythos‹ von August Stahl. Den Abschluß des ersten Teils bietet der Beitrag von Jakub Sirovátka, der sich Ril­ kes Her­kunft zuwendet und dabei einen ersten Blick auf seinen wei­ teren Weg wirft. Der zweite Teil ist der Aus­legung einzelner Werke und Werkgruppen gewidmet; der dritte Teil enthält systematische und geschichtliche Reflexionen zur Dichtung Rilkes mit Blick auf die Gottesfrage und kann auf diese Weise die nachträgliche syste­ matische Reflexion befördern. Bei der Vorbereitung des Projekts waren die Mitarbeiter des Eichstätter Lehrstuhls für Philosophische Grundfragen der Theologie, insbesondere Herr Privatdozent Dr. Jakub Sirovát­ka und Frau Anita Wittmann, in bewährter Weise tätig. Beiden sei hierfür herzlich ge­ dankt. Der Dank des Herausgebers gilt sodann der Deutschen For­ schungsgemeinschaft (DFG), die dem Projekt die nötige finanzielle Förderung angedeihen ließ. Weiterhin gedankt sei der Akademie des Bistums Mainz, besonders ihrem Direktor, Herrn Professor Dr. Peter Reifenberg, und Herrn PD Dr. Ralf Rothenbusch, der die Organisation der Tagung engagiert in die Hand genommen hat. Besonderer Dank gilt den beteiligten Künstlern, die Werke Rilkes präsentierten oder die Präsentationen künstlerisch begleiteten. Vorwort des Herausgebers  |  11

Gedankt sei Sabine Weithöner für die eindrucksvolle Rezitation we­ sentlicher Gedichte Rainer Maria Rilkes, Tobias Fischer für die Dar­ bietung von Cello-Suiten Johann Sebastian Bachs, die den Hörern ohne Worte – durch das andere Medium – Platz zur inneren Auf­ nahme der Texte Rilkes ließ. Gedankt sei Kateryna Kasper (Sopran) und Jeong-Hwa Fischer (Piano) für die glänzende Aufführung von Rilkes Gedichtzyklus Das Marien-Leben in der Vertonung von Paul Hindemith (vgl. dazu die Hinweise im Beitrag von Albert Raffelt). Diesen Künstlern verdanken die Teilnehmer großartige Abende, die einen lebendigen Eindruck von Rilkes Dichtung im Blick auf ›Gott‹ hinterließen. Herzlich dankt der Herausgeber cand. theol. Sr. Hanna-Maria Ehlers OCist (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt), die schon öfter an Druckvorbereitungen am Eichstätter Lehrstuhl für Philosophische Grundfragen der Theologie beteiligt war und jetzt wieder mit Sorgfalt und Interesse mitgearbeitet hat, ebenso wie Frau cand. theol. Simone Pesendorfer (Universität Wien), die im Rahmen ihrer Studien auf das vorliegende Rilke-Projekt aufmerksam gewor­ den war und in freundlichster Weise bereit war, bei der formalen Durchsicht der Manuskripte mitzuwirken. Ebenso sei Frau Anita Wittmann auch für die gründliche Durchsicht des Textes herzlich gedankt und zudem für die Erstellung des Namenregisters und des Verzeichnisses der benutzten Siglen. Für die bewährte Zusam­ menarbeit dankt der Herausgeber den Herren Horst D. Brandt und Jens-Sören Mann vom Verlag Meiner. Sehr herzlich dankt der Herausgeber Seiner Eminenz Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz, der Diözese Eichstätt und der Gesellschaft der Freunde der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt für die Gewährung von Druckbeihilfen. Daß am Ende dieses Vorworts auf den 290. Ge­burtstag Imma­ nuel Kants verwiesen wird, mag wegen der sehr unterschiedlichen Zugangsweisen des ›Dichtens‹ und des ›Denkens‹ überraschen, weist aber auf subkutane Beziehungen, die in einigen Beiträgen auch berührt werden. Zum 22. April 1724

Norbert Fischer

– Rainer Maria Rilke –

Rede über die Gegenliebe Gottes Es widerstrebt mir (ich will es gleich sagen), die Liebe zu Gott für ein besonders abgegrenztes Handeln des menschlichen Herzens zu halten; ich vermute vielmehr, daß dieses Herz jedesmal dort, wo es sich selbst überrascht, über den bisher äußersten Kreis seiner Leistung nach allen Seiten einen neuen weiteren Kreis hinaustreibend, – daß dieses Herz bei jedem seiner Fortschritte seinen Gegenstand durchbricht oder einfach verliert und dann unendlich hinausliebt. Wer sich einen Begriff machen wollte von den Liebeseinkünften Gottes, würde eine erschreckend geringe Summe aufstellen, wenn er davon absähe, diese schlechthin ausströmenden, gleichsam herrenlosen, Gefühlswerte hinzuzuschlagen. Denn nicht nur daß in unseren Tagen die unmittelbare Gotteszuwendung sich verringert hat, es mochte von ihr immer alles das abzuziehen sein, was die menschliche Anstrengung zu Gott an Trübem und Fühllosem in das Bett des Gebets mit hinüberreißt. Man sehe in irgendeinem Heiligen-Leben nach (etwa bei der seeligen Angela von Foligno), welcher Abhärtung es bedarf, um von der Süßigkeit des eigenen Wesens nicht verführt zu sein und von seiner Herbheit nicht zerrissen. Welche dürftige und immer-übende Mühe dazu gehört, die Leitung zu Gott dort anzuschließen wo die Quellen des Herzens ausspringen, und wie viel daran liegt, diesen Anschluß so rasch zu erreichen, daß man unerschöpft und unabgestanden in ihn hinüberstürzt. * Es wird besser sein, das Wort Glauben so, wie es sich in uns verbildet hat, zunächst nicht anzuwenden, um die arglose Gottesnähe nicht von Anfang an zu erschrecken. Dieses Wort hat einen Nebensinn von Zwang, von Anstrengung angenommen, daß man fast nur noch die langen Mühen einer Bekehrung darin erkennt und vergißt, daß Glaube nur eine leise Färbung der Liebe ist, auf derjenigen Seite mit der sie sich dem Unsichtbaren zukehrt. Ich begreife immer weniger,   |  13

was eigentlich uns in der Liebe zu Gott aufhält und irre macht. Eine Zeit lang konnte man denken, daß es die Unsichtbarkeit sei, – aber gehen nicht seither alle unsere Erfahrungen dahin, daß die Gegenwart eines geliebten Gegenstands zwar für den Beginn der Liebe hülfreich ist, ihrem späteren Großsein aber Kummer und Abbruch tut? Und stimmen nicht mit diesen Erfahrungen die Schicksale aller Liebenden überein, wie man sie uns überliefert hat? Ist es möglich, in den Briefen der großen Verlassenen länger den unbewußten Jubel zu übersehen, der im Klang ihrer Klagen ist, sooft ihnen zum Bewußtsein kommt, daß ihr Gefühl auch den Geliebten nicht mehr vor sich hat, sondern nur seine eigne schwindelnde, seine selige Bahn? Wie man bei der Erziehung eines Pferdes gelegentlich wohl noch zum Zucker greift, solange, bis dieser ausdrückliche Anlaß nicht mehr nötig ist, um die reine Leistung hervorzurufen, so wird uns lange noch, uns schwer Lernenden, ein liebes Gesicht gezeigt; aber die eigentliche Handlung unserer Liebe beginnt erst, wenn wir dieser Aufforderung nicht mehr bedürfen, um mit dem ganzen Herzen in eine Liebe auszubrechen, der der Wink einer Richtung genügt. Oder es müßte unsere Liebe das Element nicht sein, wenn sie nicht unter den Elementen des Raums im bloßen Hinstürzen, zu sich käme. Wäre sie ein verwöhnter Hunger, so entstände sie erst über dem Gericht. Aber sie ist der Hunger derer die man niemals gesättigt hat, ein Hunger so eingefleischt, daß er nichtmehr nach dem Brote schreit, sondern schreit vom Brot. Frage sich doch jeder, ob er nicht, in einer Zeit da er liebte, die Versuchung empfand, sein an einem Wesen übermäßig wirkendes Gefühl in größere Verhältnisse zu bringen, zu anderen Übermaßen? Wen hat es nicht ungeduldig gemacht, die Strahlen seines Herzens gleich vor sich gebrochen zu sehn und in ein anderes Leben verwirkt? Wer hat nicht dieses andere Leben getrübt und mit Verwirrung erfüllt, indem er plötzlich ein seiniges Gefühl, das schon drin aufgegangen war, nochmal zu sehn begehrte und begehrte, es dort, wo es abgerissen war, wieder an sich zu halten. Dieses bringt zwischen den Menschen das meiste Entsetzen hervor, daß keiner die Liebe mehr sehen kann, die er gestern vollbracht hat; jeder neue Antrieb stürzt unter ihm weg und, aufwachend, sieht er den andern, wo er Not hätte sich selbst zu sehen. Wer aber zu Gott die Liebe versucht, dem ist kein Wert seines Herzens entwunden, der kommt 14  |  rainer maria rilke 

und sieht alles was er getan hat und hebt in lautloser Klarheit auf sein gestern gefügtes, höher, sein nächstes Gefühl. Abdruck nach: Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke (SW VI,1042– 1045): Rede / Über die Gegenliebe Gottes (Entwürfe). Ernst Zinn merkt an (SW VI,1478): »Die Handschrift der hier zum ersten Mal veröffentlichten Entwürfe, Ms. 290 des [Rilke-Archivs], besteht aus sechs, mit schwarzer Tinte beschriebenen Blättern von einem perforierten Kleinoktavblock, in einem Umschlagsblatt mit der Aufschrift: ›Rede / Über die Gegenliebe Gottes. April 1913‹. Es handelt sich offenbar um zwei verschiedene Ansätze (oben auf S. 1043 durch ein Sternchen getrennt), der erste, auf den beiden ersten Blättern, von dem zweiten auch in der Schrift unterscheidbar; das Ganze ist durchaus fragmentarischer Art (erste Niederschrift mit Korrekturen). Am 2. Dezember 1913 schrieb Rilke aus Paris an Lou AndreasSalome: »Du weißt von meinen Plänen zu einer Rede über die Gegenliebe Gottes. Eine Notiz, die ich kürzlich irgendwo las, brachte mir das wunderbare Verhältnis in Erinnerung, das Spinoza muß aufgestellt haben durch seine Einsicht in die Unabhängigkeit des Gottliebenden von jeder Erwiderung Gottes: so daß ich ja wohl gar nicht weiterdenken dürfte, als über diesen Weg. Was von Spinoza müßte ich lesen, um mich darüber zu unterrichten? Würde ichs begreifen? Hättest Du die betreffenden Bände? Konntest Du sie mir borgen? …« (Briefwechsel Rilke / Lou Andreas-Salome, S. 318 f.). Gemeint war offensichtlich die berühmte Propositio XIX im V. Teil der Ethica ordine geometrico demonstrata: ›Qui Deum amat, conari non potest, ut Deus ipsum contra amet‹. (Vgl. Baruch de Spinoza, Ethik. Übersetzt … von Otto Baensch, 10. Aufl. Leipzig 1922, Der Philosophischen Bibl. Bd. 92, S. 258: V. Teil. Von der Freiheit. Lehrsatz 19: »Wer Gott liebt, kann nicht danach streben, daß Gott ihn widerliebt«). Siehe die Anmerkung des Herausgebers Ernst Pfeiffer im Briefwechsel zwischen Rilke und Lou Andreas-Salome, S. 595–596. – Wie J. R. von Salis mitteilt (R. M. Rilkes Schweizer Jahre, 1. Aufl. 1936, S. 187; 2. Aufl. 1938, S. 184 f.; 3. Aufl. 1952, S. 179), hat der Dichter ihm 1924 in Muzot die Aufzeichnungen zu der (nie gehaltenen) Rede »Über die Gegenliebe Gottes« vorgelesen.« Rede über die Gegenliebe Gottes  |  15

Anmerkung 1 

Rilkes ›Entwürfe‹ zu einer »Rede über die Gegenliebe Gottes« gehören zum Zentrum der Fragen des vorliegenden Bandes und werden den Untersuchungen unkommentiert vorangestellt, auch wenn Erläuterungen zu Platons Theorie des e r6 w@ und Augustins Liebesgedanken im Spannungsfeld von ›amor‹ und ›caritas‹ möglich sind und naheliegen. Aber auch Immanuel Kant, dem die ›Liebe Gottes‹ erst spät zu einer Aufgabe des Denkens wurde, ist zu beachten. Und selbstverständlich wäre ein Kommentar zu dem von Rilke selbst genannten Baruch de Spinoza erforderlich. Die Anmerkungen des Herausgebers der Sämtlichen Werke, Ernst Zinn, sind hier jedoch aufgeführt.

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I. Einführende Betrachtungen zur Themafrage im Blick auf das Gesamtwerk Rilkes

– Norbert Fischer –

›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes Einführung und ein Vorblick auf die Beiträge

Mancher Zeitgenosse mag ein Thema, das ›Gott‹ eine Hauptrolle in Rilkes Dichtung zuweist, unwillig, aber angesichts von Rilkes häufigem – und selbstverständlichem – Reden von ›Gott‹ (und sogar als ›Anrede‹ Gottes im gebetsmäßigen Sprechen hin zu ›Gott‹) doch auch ein wenig verunsichert betrachten und meinen, nüchtern Denkende könnten nach Nietzsches Verkündigung des ›Todes Gottes‹ nicht einmal mehr die Frage nach ›Gott‹ ernsthaft in Erwägung ziehen. Gegen diese Meinung, die auch bei gründlichen Rilke-Interpreten zu finden ist und dem Grundzug des ›nachmetaphysischen‹ und areligiösen Zeitgeistes heutiger ›Intellektueller‹ entspricht, deren Sinn für Gott geschwunden, gleichsam abgestorben ist, steht die Erfahrung Rilkes, daß ihm »›Gott‹ zu sagen, so leicht, so wahrhaftig, so […] problemlos einfach« war (SW VI,1118). Aus diesem Geist Rilkes sind indessen Erbaulichkeiten zu bekämpfen, die letztlich den ›Trostmarkt‹ bedienen, indem sie falsche Beruhigung befördern und lästige Fragen beiseite schieben. Wer sich aber auf die Fragen einläßt, die mit dem ›Leben‹ endlicher Vernunftwesen unvermeidlich gegeben sind, wer die (auch neuzeitliche und zeitgenössische) philosophische Reflexion der menschlichen Wirklichkeit wahrnimmt, wie sie bei Immanuel Kant, Martin Heidegger und Emmanuel Levinas hervortritt – die im Zentrum früherer Publikationen dieser Reihe standen –, wird modische Zweifel am Gewicht der Gottesfrage gewiß leichter beiseite legen können. Der radikale denkerische Neuanfang, wie er zu Beginn der ›Neuzeit‹ stattfand, aber jedem neuen Leben aufgegeben ist (und schon immer war), konnte sich auf gründliche Vorgänger beziehen. Und Rilke hat sich auch auf ›die Alten‹ bezogen, zuweilen offen, zuweilen aber subkutan, wo immer er konnte und wo er durch deren Spuren nicht von seinem eigenen Weg abgelenkt wurde. Auf die auch von   |  19

Seichtigkeiten bestimmte ›Moderne‹, die massenmedial in den Vordergrund drängt und dabei den Fragen ausweicht, die sich jedem Menschen in der Begegnung mit ›Leiden‹ und ›Liebe‹ (auf ›Leben und Tod‹) stellen, wird an diesem Ort nicht weiter eingegangen. Zwar mag sich heute niemand mehr so leicht von Augustins strenger Konzentration auf die ›Fragen nach Gott und der Seele‹ beeindrucken lassen (sol. 1,7: »deum et animam scire cupio«). Aber daß auch Kant, der durchweg als Protagonist der Moderne anerkannt ist und vorgestellt wird, eben diese »zwei Fragen«: »ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?« als die einzigen nennt, »die das praktische Interesse der reinen Vernunft angehen« (KrV B 831), sollte Zauderern, die sich (vom Zeitgeist bestimmt) der ›Frage nach Gott‹ entfremdet haben, doch zu denken geben. Da Menschen, wie Augustinus sagt, Wesen sind, die fragen können (conf. 10,10: »homines autem possunt interrogare«), ist die Frage nach Herkunft und Sinn dieses Könnens grundlegend. Die Frage nach dem Ursprung des Fragenkönnens öffnet den Blick für die Transzen­denz der Wahrheit und lehrt uns, die ›Frage nach Gott‹ als eine alle Moden übersteigende Frage zu sehen. Rainer Maria Rilke ist ein Dichter, der sich vom Schreiben philosophischer Traktate ferngehalten und nicht den Versuch gemacht hat, ›die Frage nach Gott‹ einer philosophisch sachgemäßen Antwort zuzuführen. Doch war er ein achtsamer Leser religiöser, philosophischer und theologischer Texte, was die Beiträge dieses Bandes erneut und teils mit neuen Facetten zeigen. Seine Dichtung war von Anfang bis zum Ende existenziell mit der Frage nach ›Gott‹ verknüpft. Die Rede von ›Gott‹ hat seine Dichtung wie wenig anderes beständig, dauerhaft und tiefgreifend begleitet – und zwar auch dort, wo sie nicht explizit als ›Frage nach Gott‹ zur Sprache kommt. Denn die von allen Menschen ersehnte Möglichkeit preisender Bejahung des faktischen Lebens, für die ›Gott‹ angesichts der ›conditio humana‹ die entscheidende Rolle spielt, bewegt Rilkes Dichtung allenthalben. Sogar »die Verluste«, mit denen alle Menschen sich abzumühen haben, kennt nach Rilkes Wort allein, »wer mit dennoch preisendem Laut/ sänge das Herz, das in Ganze geborne« (SO II 2). Das in diesen Kontexten häufig auftretende Wort »dennoch«, das der Sache nach Augustins Grundwort »tamen« entspricht (vgl. conf. 1,1), verweist auf die Gegenwart Gottes im Modus der Defizienz, hat folglich einen tiefinneren Bezug zur ›Gottesfrage‹. 20  |  norbert fischer 

Woher es kommt, daß wir Menschen – wie Platon sagt – ›Zwischenwesen zwischen vollkommen göttlichen und unvernünftigen sterblichen Wesen‹ sind (Symposion 201d–204d: vgl. den Zusammenhang von ›Liebe‹ = ἔρωϛ und ›Fragen‹ = ἐρώτησιϛ) und ›fragen können‹, mag daher rühren, daß wir alle zwar dem Ausruf Rilkes in der siebenten Elegie zustimmen: »Hiersein ist herrlich« (KA 2,221), daß der ›wissende Jubel des Anfangs‹ aber alsbald in die Ferne entflieht – und ›Sehnsucht‹ und ›Klage‹ sich vor den ursprünglichen Jubel schieben (SO I 8; KA 2,44). Sogar noch angesichts seines eigenen Todes – in seinem letzten Gedicht (KA 2,412) – müht sich Rilke (zwar ohnmächtig, aber doch mit letzter Kraft) um sein Ja zum Dasein: also auch um ›Anerkennung‹ des Todes und um ›Zustim­mung‹ zu ihm. Mit dem ihm selbst bevorstehenden Tod gelangt er schließlich existenziell in die Situation (KA 2,412), die er in den Schlußstrophen des achten der Sonette an Orpheus (im Blick auf Wera Ouckama Knoop) zur Sprache gebracht hatte (SO I 8): Jubel weiß und Sehnsucht ist geständig, ‒ nur die Klage lernt noch; mädchenhändig zählt sie nächtelang das alte Schlimme. Aber plötzlich, schräg und ungeübt, hält sie doch ein Sternbild unsrer Stimme in den Himmel, den ihr Hauch nicht trübt.

Wer das Fehlen von Ersehntem beklagt, preist es dennoch, wenn auch im unerwünschten Modus der Defizienz, der ihn zur Suche nach anderen Wegen treibt, die ihm Zustimmung ermöglichen. Dies war schon Augustins Problem am Beginn der Confessiones (1,1), das der Autor im Rekurs auf die von Gott ausgehende ›excitatio‹ zu lösen suchte und das auch Rilke gesehen haben mag. Wer meint, die Alten hätten unbedacht von ›Gott‹ gesprochen, sollte bedenken, was Augustinus in einer Predigt gesagt hat und als Gegengift gegen manches positive und negative Gerede taugt. Er betont die Unbegreiflichkeit Gottes, ohne die Gottesfrage für belanglos zu erklären. Was in seinem Text ›pia confessio‹ heißt, scheint auch Rilke zu kennen. Augustinus sagt (s. 117,5):

›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes  |  21

de deo loquimur, quid mirum si non comprehendis? si enim comprehendis, non est deus. sit pia confessio ignorantiae magis, quam temeraria professio scientiae. attingere aliquantum mente deum; magna beatitudo est: comprehendere autem, omnino impossibile.

Von Gott sprechen wir: Was wunders, wenn du nicht begreifst? Wenn du nämlich begreifst, ist es nicht Gott (was du begreifst). Für fromm gelte mehr das Bekenntnis des Nichtwissens, weniger die kecke Behauptung des Wissens. Gott ein wenig im Geiste zu berühren, ist eine große Seligkeit: ihn aber zu begreifen, ist gänzlich unmöglich.

Auch der gewiß nicht ›heterodoxe‹ Thomas von Aquin erklärt unverblümt, daß wir ›von Gott nicht wissen können, was er ist‹ (S.th. I 3 introductio): »de deo non scire possumus quid sit«. Das von der restaurativen ›Neuscholastik‹ seit dem 19. Jahrhundert erzeug­te und für Außenstehende prägende Bild von der ›katholischen Theologie‹ hat wenig mit den großen philosophischen Denkern und auch wenig mit den großen Theologen der christlichen Tradition zu tun. Bevor Rilke als ›heterodox‹ diffamiert oder gerühmt wird, muß zur Besinnung gerufen werden. Bevor also ›neuscholastisch‹ orientierte, sich selbst der ›Orthodoxie‹ rühmende Theologen (oder zeitgeistige Literaturwissenschaftler, denen ›Orthodoxie‹ jedoch kaum etwas Gutes bedeutet), von der ›Heterodoxie Rilkes‹ sprechen, sollten ›Philosophen‹ (die ›Liebhaber der Weisheit‹ sein sollten, nicht im ›Besitz der Wahrheit‹ sind), aber auch zeitgeistige Literaturwissenschaftler, sich auf das jeweils zu ihrem Handwerk Gehörige besinnen, das sie wirklich beherrschen. Hinsichtlich der Frage nach ›Gott‹ ist dann gewiß Zurückhaltung, ja sogar Schweigen geboten. Denn ›Gott‹ wird, wie mit Augustinus und der großen philosophisch-theologischen Tradition zu sagen ist, ›besser im Nichtwissen gewußt‹ (ord. 2,44): »non dico de summo illo deo, qui scitur melius nesciendo«. Das hat Rilke offenkundig besser als manche seiner Interpreten verstanden. Sofern ›Gott‹ besser im Nichtwissen gewußt wird, degeneriert die Besinnung auf dieses Thema nicht zu einer belanglosen Frage, sondern lockt uns vielmehr immer neu zum Nachdenken. 22  |  norbert fischer 

Die Einsicht, daß wir die Wahrheit (Gottes) ›nicht wissen können‹, hat Faust in Verzweiflung und auf Irrwege getrieben, die wenig mit seiner Ausgangsfrage zu tun haben. Sie hat Denker wie Augustinus und Thomas nicht bewogen, die Gottesfrage zu vernachlässigen und zu mißachten. Das Studium solcher Autoren sei allen Zeitgenossen empfohlen, die zu wissen vorgeben, was mit ›Gott‹ gemeint ist und was ›die Alten‹ von ›Gott‹ gedacht hätten. Die Aufgabe, die sich im Blick auf ›Gott‹ angesichts der Dichtung Rainer Maria Rilkes stellt, hält hinsichtlich der heute wenig beachteten ›Gottesfrage‹, aber auch im Blick auf die Dichtung Rilkes, so viele und nicht leicht überblickbare Schwierigkeiten bereit, daß ihre Bearbeitung zu Problemen und Aufgaben führt, die sachgemäß differenziert angesichts der formal und inhaltlich verschiedenen Dichtungen Rilkes, die nicht als Traktate gedacht sind, gelöst werden müssen. Wenn das vorliegende Buch Anregungen und Hinweise zur schärferen Bezeichnung der mit der Dichtung Rilkes im Blick auf Gott gegebenen Forschungsaufgaben böte, wäre einiges erreicht. Eindeutige, scheinbar ›objektive‹ Auslegungsmuster mögen allesamt revisionsbedürftig sein. Immerhin liegt klar auf der Hand, daß ›Interpreten‹ Rilkes nicht behaupten können, Wesentliches von dessen Dichtung verstanden zu haben, wenn sie die ›Gottesfrage‹ an den Rand drängen, sie auf minderem Niveau vergegenwärtigen oder nur oberflächlich zur Kenntnis nehmen. Die Rede von der ›Nähe‹ und ›Ferne‹ Gottes deutet auf eine uralte Thematik, die Augustinus klassisch und exemplarisch zum Ausdruck gebracht hat; Augustinus sagt (vgl. an. quant. 78): »quo nihil sit secretius, nihil praesentius, qui difficile invenitur, ubi sit, difficilius, ubi non sit«. Nichts ist nach diesem Text für uns unzugänglicher und weiter von uns fern als Gott; nichts aber auch gegenwärtiger als er: schwer sei zu finden, wo er ist, schwieriger aber noch, wo er nicht ist (vgl. dazu im Hintergrund Gn. litt. 12,28,56, wo der alttestamentliche Hintergrund hervortritt). In diesen Kontext gehört auch die grundlegende Selbstauslegung von Augustins Motivation, die er an entscheidenden Stellen der Confessiones nennt (2,1; 11,1): »amore amoris tui facio istuc.« Was aber mit ›Liebe‹ gemeint ist, liegt weder für Augustinus (z. B. ›amor‹, ›dilectio‹, ›caritas‹) noch für Rilke auf der Hand. Rilke sagt (SO I 19): »nicht ist die Liebe gelernt«; Augustinus hat im Blick auf Gott ein ›gratis diligere‹ im ›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes  |  23

Sinn (civ. 1,9). Diesem Thema hat Rilke die Entwürfe zur Rede über die Gegenliebe Gottes gewidmet, die den Beiträgen dieses Bandes vorangestellt sind und zu gründlichem Bedenken anregen mögen. Rilke mag noch lange ein Autor bleiben, der die Leser seiner Dichtungen zum Eingeständnis bewegt (SO II 18): »Bang verlangen wir nach einem Halte,/ Wir zu Jungen manchmal für das Alte/ Und zu alt für das, was niemals war.« Rilke knüpft mit diesen Versen der Sache nach an den Neuplatoniker Saloustios an (dessen Schrift περὶ ϑεῶν καὶ κόσμoυ zwischen 363–394 entstand, also in der Lebenszeit Augustins). Saloustios spricht hier von dem, ›was niemals geschah, aber immer ist‹. Das von Gebildeten früher oft zitierte Wort: ›Was niemals war und immer ist‹ lautet im griechischen Original (IV 9): Tαῦτα δὲ ἐγένετo μὲν oὐδέπoτε, ἔστι δὲ ἀεί. Wir, die jeweils in der Gegenwart Lebenden, sind zu jung für das unvordenkliche Alte, das nach Saloustios immer ist, können es nie zureichend in unsere Gegenwart holen, sind aber doch schon zu gewitzt und altklug-erfahren, als daß wir lauter an die Wahrheit historischer Konkretisierungen des Absoluten glauben könnten. Kants Stellungnahme zu unserem Nichtwissen im Blick auf Gott mag die förderlichste sein. Kant spricht gegen Ende der Kritik der praktischen Vernunft zur ›praktischen Bestimmung des Menschen‹, die unsere Freiheit fordert und zugleich voraussetzt, daß unserem Nichtwissen eine konstitutive Funktion für unseren Lebensvollzug zukommt; er sagt dort (KpV A 265): Also möchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeit haben, was uns das Studium der Natur und des Menschen sonst hinreichend lehrt, daß die unerforschliche Weisheit, durch die wir existiren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zu theil werden ließ.

Von einem Dichter, auch wenn er sich in die prophetische Rolle des poeta vates zu finden sucht, sind keine theoretischen Auskünfte zur ›absoluten Wahrheit von Welt und Mensch‹ zu fordern. Dennoch ist der Anspruch, dem Rilke sich in seiner Dichtung ausdrücklich stellt, auch für das philosophische (und in der Folge: für das theologische) Denken aufmerksamer Beachtung wert. Rilke unterstellt seine Dichtung von Beginn an dem höchsten Anspruch und nennt als überhohes Ziel ›die Wahrheit vor Gott‹ (StB I 13; KA 1,163): »Und 24  |  norbert fischer 

ich will meinen Sinn/ wahr vor dir.« Diesem Anspruch unterwerfen sich noch die Sonette an Orpheus, in denen der Dichter gesteht, daß die ihm angesichts des Todes gestellte Aufgabe, die er mit dem Wort »in Wahrheit singen« ausspricht, sein Vermögen unendlich übersteigt. Das Sonett beginnt mit den Versen (SO I 3): »Ein Gott vermags. Wie aber, sag mir, soll/ ein Mann ihm folgen durch die schmale Leier?« Rilkes Geständnis des Unvermögens, das er in Beziehung zu einem göttlichen Vermögen sieht, weist implizit auf das Prinzip der Plötzlichkeit (ἐξαίφνηϛ), das im Höhlengleichnis von Platons Politeia (515c–516e) genannt wird und im Höhepunkt von Augustins Confessiones (10,38) als plötzlich und unvorhergesehen eintretende Inversion der Aktivität des Suchenden wiederkehrt. Die ersehnte Antwort nicht aus eigener Kraft zu behaupten, heißt nicht: ihr den Kredit zu entziehen, sondern: sich in äußerstem Ernst einzugestehen, daß sie nur ›plötzlich‹ und unableitbar, also in einer Inversion der eigenen Aktivität, von der Seite ›Gottes‹ her erfolgen kann. Diese Einsicht fordert, daß wir uns vorerst kindlich und gläubig an das gegebene Irdische halten, unsere Aufgabe also im Irdischen und Immanenten sehen und uns zunächst mit ihm bescheiden. Sie weist dennoch auf Gott und die Hoffnung, die sich am Ende nur in der Transzendenz Gottes, nur durch Gottes ›Hände‹, durch das Geschehen einer göttlichen ›Offenbarung‹ erfüllen kann. Rilke sagt schon früh (Das Stunden-Buch. Von der Pilgerschaft; Strophe 3; KA 1,221): Kein Jenseitswarten und kein Schaun nach drüben, nur Sehn­sucht, auch den Tod nicht zu entweihn und dienend sich am Irdischen zu üben, um seinen Hän­den nicht mehr neu zu sein.

Den Gedanken der Inversion der Aktivität durch Offenbarung, die der ›Hände‹ Gottes bedarf, auf dessen Wirken Menschen sich in ihrer Endlichkeit und Schwäche nur vorbereiten können, scheint Rilke aufzunehmen, wenn er in seiner bedrängten Situation die Hoffnung zwar auf deren Ende lenkt und kindlich auf einen Ausweg aus ihr hofft, sich ihn aber nicht ›vorstellen‹ kann, sondern auf ein ›Ereignis‹ warten muß, das nur unversehens und ›plötz­lich‹ geschehen kann, nicht als etwas, das mit eigenen ›Händen‹, aus eigener Kraft, bewerkstelligt werden könnte. ›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes  |  25

Das uralte, von Platon formulierte Prinzip der Plötzlichkeit wird – sofern es auf die Transzendenz des Göttlichen und auf die Transzendenz Gottes weist – von Rilke an entscheidenden Stellen zur Sprache gebracht (oft in den Sonetten an Orpheus, vgl. bes. SO I 8: V.12; in den Duineser Elegien vgl. DE I: V. 3 und 95; DE II: V. 15; DE IV: V. 4; DE V: V. 81 (2x); DE VI: V. 24). Dieses Prinzip verdient Beachtung im Blick auf ein sachgemäßes Verständnis von Rilkes Vergegenwärtigung des mit ›Gott‹ Gemeinten, weil der ›Unendliche‹ in seiner ›Nähe‹ und in seiner ›Ferne‹ nur geglaubt werden kann und er alle Fixierungen übersteigt, transzendiert. Dieser knappen Einführung in das Thema des Buches folgen nun Kurztexte, die von den Autoren erstellt worden sind und einen ersten Blick auf die Untersuchungen des Buches bieten. Wenn die Lektüre zur Einsicht führte, daß Fragen offen bleiben, ist dieses Ergebnis erwünscht. Das Thema ›Gott‹ in der Dichtung Rilkes muß nüchtern und gründlich wahrgenommen werden. Nun also die Kurztexte aus der Feder der Autoren: Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos (August Stahl): Rilke hat den Weg in die Moderne als Auseinandersetzung mit der Tradition erfahren und gestaltet, erfahren als Verlust und in nostalgischer Anhänglichkeit, gestaltet in deutender und umdeutender Aneignung. Seine Aufmerksamkeit für die religiöse Überlieferung ist unübersehbar wie sein Umgang mit den Dokumenten und den Zeugnissen der christlichen Frömmigkeit und Kultur, der Bibel, den Legenden der Heiligen, den Werken der sakralen Kunst, den kirchlichen Feiertagen, den Friedhöfen. Diese Betroffenheit hat Spuren hinterlassen in seiner Lebensführung, in seiner Korrespondenz, in seinem Werk, seiner Lyrik und seiner Prosa, sensibel immer für die im Verlust ahnbare Präsenz des Verlorenen. Von der Ruhe in den leeren Kirchen und verfallenden Kapellen redet der »junge Arbeiter« nachdenklich und schonend und die Erste Duineser Elegie wirbt für »die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet.« Die pathetischsten Verneinungen sind immer umgeben vom Glanz ihrer möglichen Widerlegung. Dem »nicht einmal«, mit dem die Elegien enden, folgt daher ein »Aber«, ein »vielleicht« und eine konjunktivische Trias: »erweckten«, »zeigten«, »meinten«. Die Gottesfrage in der Dichtung Rainer Maria Rilkes. Gegen die Rede von seiner ›Immanenz-Gläu­bigkeit‹ (Norbert Fischer): Die 26  |  norbert fischer 

Auslegung der religiösen Haltung Rilkes als ›Immanenz-Gläubigkeit‹, die sich in dessen Dichtung zeige, hat in den Texten keine Stütze und ist verfehlt. Um Rilkes Sprechen von ›Gott‹ zu verstehen, geht der Beitrag von Rilkes ›Anrede Gottes‹ aus, die auch vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Atheismus zu sehen ist, der Rilke unbeeindruckt gelassen hat. Rilke hat sich selbst nicht nur wie Augustinus als ›ruheloses Herz‹ bezeichnet, sondern – im Ton der ›Klage‹ – sogar als ›wildes Herz‹, in dem ›obdachlos die Unvergänglichkeit‹ nächtige. In Augustins Geist zu verstehen ist auch ein Wort aus einem späten Brief: »Statt des Besitzes erlernt man den Bezug«. Dennoch bleibt die Frage nach dem Sinn von Rilkes innigem Gottesbezug und seiner expliziten Absetzung vom Christlichen ein strittiges Thema. Der Beitrag ist ein Plädoyer für die Annahme, daß Rilke mit dem Prooemium von Augustins Confessiones ein Lob Gottes sucht, das Menschen aus sich selbst nicht zu leisten imstande sind, das aber ihre Aufgabe bleibt, weil Gott uns Menschen zu ihm hin antreibt (conf. 1,1): »tu excitas«. Rilkes Herkunft und ein erster Blick auf seinen Weg (Jakub Sirovátka): Aufgrund seiner geographischen Herkunft als Deutscher in Prag und aufgrund seiner schwierigen religiösen Sozialisation fühlte sich Rilke in seinem Leben stets heimatlos. Zur Heimat wird ihm die deutsche Sprache. Und durch seine Reisen wird er zu einem europäischen Dichter im besten Sinne des Wortes. Seine lebenslange Gottsuche wird von einer doppelten Bewegung bestimmt. Auf der einen Seite wird das Christentum einer harschen Kritik unterzogen. Trotz dieser Tatsache erweisen sich die traditionellen christlichen Inhalte zugleich als Quelle imaginativer Inspiration. Und auf der anderen Seiten begibt sich Rilke auf die unermüdliche Suche nach einem echten und unmittelbaren Gottesbezug, der nicht besitzergreifend ist und sein darf. Die »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes (Norbert Stapper): Der Beitrag gewährt einen überraschenden Blick in den frühen, wenig beachteten und zu Lebzeiten Rilkes unveröffentlichten Zyklus der »Christus-Visionen«. Seine einzelnen Texte und ihr zyklisches Gebilde macht er konsequent als ein selbstreferentielles und vorwändiges Schreiben verständlich, das nicht einfach inhaltlichpositionell ausgewertet, sondern in seiner poetisch evozierten Bewegungsrichtung verstanden werden muß. Auch der Christus der ›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes  |  27

Gedichte ist deshalb vor allem als ein poetischer Vorwand zu begreifen. Erst in einer solchen Perspektive wird es möglich, die Texte angemessen nach ›Gott‹ zu befragen und weltanschauliche Engführungen zu vermeiden. Der Aufsatz stellt die einzelnen Erzählungen der Gedichte vor und führt an den beiden zuerst entstandenen Texten die Beobachtungen zum Zyklus aus. Neben den bisher in der Forschung unbeachteten Materialreferenzen vermitteln sich gerade in der Beschäftigung mit diesem Zyklus an der Schwelle zum Frühwerk Einsichten zum ›Ort des Dichters‹ innerhalb seiner Poesie und in das Fundament des rilkeschen Werkes. »Gott (wohne) in der Achselhöhle …«: Zur Bedeutung von Rilkes Rußlanderlebnis (Alexander Belobratow): Rilkes russische Reisen (1899 und 1900) und seine Bewunderung des ›Märchenlandes‹ Rußland finden zahlreiche Spuren in seinen Tagebüchern, Briefen und dichterischen Texten. Der ideale Ort (locus amoenus) für Rilke wird mit der deutlichen Verwendung der rhetorischen Topik präsentiert. Die spätere Darstellung des urplötzlichen ›Sich-Zeigens‹ der den Fremden in ihren Bann ziehenden russischen Religiosität und des mitreißenden Heimatgefühls bei Rilke darf nicht die Tatsache vergessen lassen, daß diese romantisch-mythologische Auffassung von Rußland durch viele Einflüsse gründlich vorbereitet war und auch gewisse Züge der Selbstinszenierung des Autors aufweist. U. a. wird eine wichtige Spur in der Gärung von Rilkes ›religiöser‹ Ruß­landbegeisterung verfolgt: Publikationen der Wiener Wochenzeitung Die Zeit aus den Jahren, die direkt an beide seiner Rußlandreisen grenzen bzw. sich zeitlich mit ihnen überlagern (in Beiträgen von und über Lev Tolstoj und Anton Čechov). Das im Voraus von den Dingen gemachte Bild dominiert in Rilkes russischen Erinnerungen und Darstellungen. Dabei polemisiert Rilke in seinen Essays aus dieser Zeit gerade mit dem europäischen Umschwung in der Auffassung Rußlands, wobei er seine eigenen Rußlandkenntnisse und sein Verstehen von Rußland dem ›falschen‹ Verstehen bzw. totalem Mißverstehen seitens Europas gegenüberstellt. Rilkes Erfahrung und Stilisierung der russischen Religiosität wird an einem Fallbeispiel (der russische Gott, der, nach Rilke, »in der Achselhöhle wohne«) analysiert, der von der Forschung zwar schon berücksichtigt wor­den war, ohne dabei aber das ›pro­duktive Mißverständnis‹ bei Rilke zu bemerken, das die Mechanismen der Stilisierung 28  |  norbert fischer 

und Mythologisierung fremder kultureller Inhalte charakterisiert und aus einer ungenauen Übersetzung einer Textstelle aus Nikolaj Leskovs Schilderungen des gläubigen Rußlands entstanden ist. »Gebirge, Gestein, Wildnis, Un-Weg«. Raumwahrnehmung und Transzendenzerfahrung in Rainer Maria Rilkes Capreser Gedichten (Magdolna Orosz): Im Beitrag wird auf Grund der sog. ›Capreser Gedichte‹ von Rilke das Problem einer bestimmten Selbst- und Welterfahrung in den Mittelpunkt gestellt, die für eine moderne Transzendenzerfahrung des Künstlers als eine Variante von Gotteserfahrung als repräsentativ betrachtet werden könnte. Da die ›Suche nach Gott‹ bei Rilke über im engeren Sinne Religiöses hinausgeht und zugleich ›zur Suche nach dem eigenen Ich‹ wird, wird durch die Gedichtanalysen aufgezeigt, wie sich in diesen formal auch oft experimentierenden Texten ein neuartiges Verhältnis von Natur und Mensch, Subjekt und Objekt gestaltet. Die Capreser Gedichte nehmen eine Übergangsstellung zwischen den Neuen Gedichten und den Duineser Elegien ein, sie artikulieren eine allmähliche Entfernung von der dinghaften Schreibweise der ersteren und führen – über die Capreser Gedichte und die in ihnen aufscheinenden neuartigen Wahrnehmungen – zur Poetik des Rilkeschen Spätwerks: Die Capreser Erfahrung verbindet damit frühere und spätere ›Fäden‹ des Rilkeschen Œuvre und demonstriert dessen moderne Komplexität. Fragen nach Gott in den ›Neuen Gedichten‹ (William Waters): Mehrere der Neuen Gedichte berühren religiöse Themen, ob biblisch, kirchlich, geschichtlich oder legendär. Jedoch werden in diesen Gedichten traditionelle religiöse Thematik und die Vorstellung von Göttlichkeit radikal abgekoppelt: Sie können zusammen auftreten, müssen es aber nie. Die Gedichte, die Gott erwähnen, tragen zu keiner einheitlichen Gottesvorstellung bei, denn in jedem geht es um eine situationsgebundene Perspektive auf Gott, um den oft komplexen Blickwinkel einer menschlichen Figur oder einer gewissen Gruppe gegenüber dem Göttlichen. Doch anhand von Beispiellektüren wird gezeigt, daß gerade diese Instabilität des Blickes auf Gott, die Destabilisierung der Situationen durch interagierende Gesichtspunkte, und die Faszination von denjenigen Konstellationen, in denen ein Wille für Gott und einen Menschen ›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes  |  29

ausreicht – daß alles dies bewußt dazu beiträgt, den Raum um Gott freizulassen. Was die Neuen Gedichte deshalb inszenieren, ist die Entdeckung, daß der heilige Aspekt der Welt in ihrem Werden liegt, in ihrer nicht-Koinzidenz mit sich selber, in der Tatsache, daß die Welt aus Perspektiven, Bewegungen und Beziehungen gemacht ist, nicht aus Totalität. ›Gott‹ in Rilkes Roman ›Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹. Sämtliche Fundstellen zum Wort ›Gott‹ mit kurzem Kon­ text und erläuternden Anmerkungen (Norbert Fischer): Ihren Ausgangspunkt nimmt die Untersuchung (die unter dem Leitwort steht: »Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also«) bei einem Wort aus den ›Aufzeichnungen‹: »Wir aber, die wir uns Gott vorgenommen haben, wir können nicht fertig werden.« Im Hintergrund steht das Pathos des ›Atheisten‹ Nietzsche, der trotz Leugnung des Daseins Gottes in die Gottesfrage verstrickt bleibt und am Fehlen ›Gottes‹ leidet. Der Hinführung zu Rilkes Malte-Roman und zur Methode der Untersuchung der Gottesfrage folgt ein dreifach gegliederter Überblick über alle Stellen im Malte Laurids Brigge mit Erwähnung des Wortes ›Gott‹, zunächst mit beiläufigen Erwähnungen des Wortes ›Gott‹, sodann mit Stellen von mittlerem Gewicht, schließlich solche mit bewußt gesetzten, aussagekräftigen Erwähnungen des Wortes ›Gott‹. Im Epilog wird ein Versuch gemacht, die Doppeltheit von Maltes Nähe und Ferne zu Gott zu verdeutlichen, die ein altes Thema der philosophischen Theologie ist. Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts. Sprach­ suche, Selbstsuche, Gottsuche in Rilkes ›Duineser Elegien‹ (Wolfgang Braungart): Mit der späten Aufklärung wird das Mythische, Anschauliche, Imaginative von Religion unabweisbar problematisch. Radikalste Konsequenz dieses neuen, modernen Mißtrauens in die vorgefundenen ›Bilder‹ von Religion ist die negative Theologie, die auch eine skeptische Religionsästhetik impliziert. Genau deshalb steht hier die Literatur als der kulturelle Diskurs der fortwährenden Produktion von Imaginationen seit der Romantik vor neuen Herausforderungen und neuen Aufgaben. Rilkes ›Elegien‹ und sein Werk überhaupt nehmen sie an. Aber Darstellen bedeutet immer auch Deuten. Die ›Elegien‹ sind insofern zugleich als hermeneutische Poesie verstehbar. Das betrifft ihre poietische Sprachbewegung selbst wie die verstehend-imaginative Leistung des hermeneu30  |  norbert fischer 

tischen Subjekts, die sie von ihm verlangen. Von ihm ist hier eine viel größere Anstrengung gefordert, als sich nur in einen Überlieferungszusammenhang und in ein Traditionsgeschehen einzurücken. Subjektivität darf nicht nur selbstgenügsam sein; sie muß sich vielmehr ausrichten und sich transzendieren. Und sie weiß, daß sie das tun muß. Die Produktivität dieser sich (auf die Engel) ausrichtenden Suchbewegung ist Sprach- und Subjektsuche zugleich. Die ›Elegien‹ entwickeln damit ein großes Thema, ohne selbst im Sinne zweckhafter, zielgerichteter Produktivität wirklich voranzukommen. Dennoch ist diese Suchbewegung notwendig und nicht nur voller »Hinweg«, sondern auch voller Sinn. Am Ende weisen die ›Elegien‹, nachdem sie ihr Thema zyklisch ausgeschritten haben, auf ihren Anfang zurück. Die moderne Subjektivität wird in ihrer Suche nach sich selbst und in ihrer sprachlichen und religiösen Suchbewegung immer unterwegs sein. Sie kennt dabei immer nur »Hinweg«. Ob sie dabei dennoch »immer nach Hause« unterwegs ist (Novalis): Wer vermag das zu sagen? »Und zitternd hochgerissen standen sie krumm und hatten bange lieb«. Zu Rilkes Emmaus-Gedicht (Friedrich-Wilhelm von Herrmann): Die hermeneutisch-phänomenologischen Ausführungen zu Rilkes 1913 in Paris verfaßtem Gedicht Emmaus beginnen mit einer Wesensunterscheidung zwischen einer philosophischen Gottesfrage, deren Erfragtes in das denkerische Wort und den denkerischen Begriff eingeht, und einer dichterischen Gottessuche und Gotteserfahrung, die sich im dichterischen Wort und dichterischen Bild ausspricht (1. Abschnitt). Der 2. Abschnitt gibt einen Durchblick durch das Emmaus-Gedicht als Ganzes und zeigt, wie Rilke in den ersten 17 Versen ein dramatisches Geschehen des zunächst langehin Verhülltbleibens des Auferstandenen entfaltet, das plötzlich umschlägt in die Selbstenthüllung Jesu als des wahrhaft auferstandenen Christus. In einem 3. Abschnitt wird die Dramatik des Verhülltbleibens und Nichterkennens und des bestürzenden Umschlags in die Enthüllung und das Erkennen im Durchgang durch die einzelnen Verse verfolgt. Der 4. Abschnitt wendet sich den Versen 17 und 18 zu (Und, zitternd hochgerissen, standen sie krumm und hatten bange lieb). Die monographische  Untersuchung des Emmaus-Gedichtes von Friedrich Wilhelm Wodtke (Rilke und Klopstock, 1948) vermutet, daß Rembrandts Gemälde Emmaus im ›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes  |  31

Louvre die Bildvorlage für Rilkes Emmaus-Gedicht gewesen sein könnte, jedoch mit dem Eingeständnis, daß sich die ekstatische Haltung der erschrockenen Jünger im Gedicht nicht auf Rembrandts Gemälde und auch nicht auf einem der sonst öffentlich bekannten Emmaus-Gemälde findet. Wodtke konnte nicht wissen, daß es ein 1899 von dem Berliner Historienmaler Rudolf Eichstaedt gemaltes, großformatiges Gemälde Christus und die Jünger von Emmaus gibt, das nur einmal, in seinem Entstehungsjahr, in der ›Großen Berliner Kunst-Ausstellung‹ öffentlich zugänglich war – in jener Zeit, als Rilke in Berlin-Schmargendorf wohnte. Dieses Gemälde zeigt genau die ekstatische Haltung der beiden Jünger, die Rilke in den Versen 17 und 18 seines Emmaus-Gedichtes dichterisch gefaßt hat. Rainer Maria Rilke – Paul Hindemith: Das Marien-Leben (Albert Raffelt): Rilkes Marien-Leben steht am Beginn seines Spätwerks. Aber unterschiedliche Äußerungen des Dichters zu dem Zyklus haben auch in der Rezeption zu unterschiedlichen Wertungen geführt. Positive Wertungen setzten dabei häufig einen antichristlichen Impetus voraus (Deutung als ›Parodie‹ oder gar als ›antimetaphysisch‹). Anderseits kann die Nähe Rilkes zu christlichen Traditionen, die eher überraschende Rezeption barocker Heiligenlegenden und ostkirchlicher Ikonographie nicht geleugnet werden. Sie sind auch werkgeschichtlich nicht isoliert. Der unbefangene Umgang mit legendarischen Gestaltungen schöpft aus christlichen Quellen. Daß Hindemith Texte Rilkes zur Vertonung wählte, ist insofern nicht verwunderlich, als er in seinem umfangreichen Liedschaffen durchweg hochrangige literarische Vorlagen auswählte. Die musikalische Interpretation des Zyklus hat durchaus das »Wunder der Transzendenz« (G. Gould) im Blick, die religiöse Dimension. Die Vertonung des Marienlebens stellt in Hindemiths Werkgeschichte einen Höhepunkt dar, aus dem er die Verpflichtung zur Verbesserung des Werks aufnahm. Die nach dem Zweiten Weltkrieg erschienene Neubearbeitung hat damals scharfe Kontroversen ausgelöst. Von den Bestreitern wurde die Intention und Logik der kompositorischen Entwicklung Hindemiths als inadäquat betrachtet. Die Rezeption der Interpreten sieht durchaus auch die gestalterischen Vorzüge der Neufassung, zu der noch eine auswahlhafte Reihe orchestrierter Lieder gehört, deren Wertung wiederum unterschiedlich ausfällt. Nach Ende der Kontroversen wird man den un32  |  norbert fischer 

terschiedlichen Fassungen jeweils verschiedene Vorzüge zuerkennen können. Durch die musikalische Interpretation gewinnt auch die Frage des »religiösen« Hintergrunds eine neue Akzentuierung. Einige Überlegungen zur Wahrheit der Dichtung (Michael Neumann): Rilkes Spätwerk ist immer wieder als ein Philosophieren mit den Mitteln der Poesie aufgefaßt worden. Rilke selbst hat diese Auffassung zuweilen nahegelegt. Darüber wird jedoch allzu leicht vergessen, daß Philosophie und Poesie dem, was man als Wahrheit bezeichnen mag, auf sehr verschiedenen Wegen nachstellen. Der Beitrag versucht, den spezifischen Weg der Poesie am Beispiel jenes Sonetts vorzuführen, welches den ersten Teil der Sonette an Orpheus beschließt. Wohl geht es in diesem Sonett um so große, auch die Philosophie bewegende Themen wie Dichtung, Wahrnehmung und Tod. Aber das Gedicht bearbeitet diese Themen, indem es eine Fülle von Bildern und Klängen, von Dramaturgien und Architekturen zu einem großen und auf Konsistenz zielenden Zusammenhang verwebt. Der Leser sucht in diesen Tanz der Konstellationen hineinzukommen, der das Nacherschaffen des Gedichtes ausmacht. Gelingt dies, ist er um eine Erfahrung reicher. Deren weltaufschließende Kraft aber kann eine Übersetzung in den vernünftigen Diskurs der Philosophie nicht überleben. Rainer Maria Rilke als Leser Meister Eckharts (Georg Steer): »ich lerne sehen« bekennt Rainer Maria Rilke gleich zu Anfang seines Prosawerkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Er entdeckt: »Ich habe ein Inneres«. Diesem spürt er sein Leben lang nach. Die ganze Wirklichkeit, das Geistige, das Geistliche, das Heilige, den Tod zu sehen und zu erkennen, ist seine erste »Arbeit«; die zweite ist ihm die »Arbeit an der Liebe«, und die dritte, die schwerste, ist: Gott lieben zu lernen. Seine Annäherung an Gott versteht er als Heimkehr des verlorenen Sohnes zum Vater-Gott, zum Einen. Der Einfluß Eckharts auf Rilke ist bekannt, aber nicht bekannt sind die Texte, die er gelesen hat und wie er sie gelesen hat. Der Beitrag versucht, die unmittelbaren Quellen der Malte-›Aufzeichnungen‹ zu erschließen und Rilke zudem als einen der ganz großen EckhartVerehrer aufzudecken, dem eine große Bedeutung auch heute noch zukommt. Die unerhörte Mitte. Rilkes Gottesvorstellung aus der Perspektive von Joseph Campbells vergleichender Mythologie (Daniel Polikoff): ›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes  |  33

Rilke war ein religiöser Denker; dennoch kann er mit keiner etablierten Religion identifiziert werden. Die vergleichende Mythologie des amerikanischen Wissenschaftlers Joseph Campbell bietet ein Gedankensystem an, wodurch Rilkes geistige Tätigkeit besser verstanden werden kann. Campbell behauptet, daß die ältesten Mythologien der Welt eine kosmische Harmonie darstellen, die gleichzeitig unsichtbar und immanent in der sinnlichen Welt ist. Im Allgemeinen schreiben diese Mythologien der Gottheit »visionäre Personifikation der Naturgewalten« zu. Campbell unterscheidet zwischen diesen Mythologien und denen der Levante, die die Gottheit als eine übernatürliche Wesenheit, die stark von der Natur abgetrennt ist, begreift. Die griechische Strömung ist nicht nur eine von denen, die den Kosmos im Licht einer grundlegenden archetypischen Harmonie verstehen; sondern auch eine – und zwar die Erste – die die schöpferische Kunst (eher als die organisierte Religion) als Zugang zur geweihten Weltordnung ansehen. Der Bogen der Rilkeschen Dichtung wendet sich von den jüdisch-christlichen Wurzeln ab, und nähert sich der griechischen Weltanschauung an. Diese Tendenz erreicht in den Sonetten an Orpheus ihren Höhepunkt. Rilkes ›Gott‹ und der Polytheismus der modernen Kultur (Thomas Pittrof): Der Beitrag rückt die Gottesfrage bei Rilke in eine historisierende Perspektive ein und interpretiert sie als religionsgeschichtlich informiertes Sprechen aus dem Diskurszusammenhang religiöser Rede um 1900 heraus. Rilkes anagogische Gottesvorstellung (Peter Por): Rilke hat bekanntlich Gott beziehungsweise die verschiedenen biblischen Geschichten oft behandelt und bedichtet. Diese Thematik selbst kommt nach 1912 immer seltener vor (allerdings: die meisten dieser seltenen Gedichte gehören zu den Größten des Lebenswerks), und im Spätwerk verschwindet sie beinahe gänzlich. Umso merkwürdiger ist, daß er einen Aspekt seiner langen Auseinandersetzung beibehalten und ihn sich am schärfsten angeeignet hat. In seiner späten Lyrik hat er zunehmend anagogische Effekte gelten lassen, da ihm das Ideal von Schöpfungsgestalten vorschwebte, die sich nur außerhalb der modernen europäischen Wort-Zei­chen-Semiotik vorstellen lassen: sie sollten in ihrem parthenogenetischen und zugleich parthenovernichtenden Dasein begriffen werden. In dieser Bestrebung hat Rilke bewußt auf die Gestaltungsweise der christlichen Mystik 34  |  norbert fischer 

zurückgegriffen (und aus dem selben Ansatz, auch auf die ganz anders anagogische Gestaltungsweise der östlichen Kunst). In seinen allerletzten Gedichten, unter anderen: Rose, oh reiner Widerspruch, Gong, Idol, Ankunft hat er in ›kaum noch Worte‹ die anagogische Bestimmung des göttlich-poetischen Daseins bedichtet. Rilkes Wege mit Gott – religionsphilosophisch betrachtet (Ludwig Wenzler): Die zahlreichen und vielfältigen Äußerungen Rilkes zu Gott und Religion lassen sich am ehesten sachgerecht angehen, wenn man zuvor Grundfragen einer Philosophie der Religion klärt. Die philosophische Reflexion zeigt, daß religiöse Phänomene auf zwei Ebenen spielen, in einem ›äußeren‹ und einem ›inneren‹ Bereich. Kundgebungen Gottes können nur in menschlicher Interpretation ergehen. Deshalb kann jedes behauptete Reden Gottes (Selbst-)Täuschung sein – oder eben doch Sprechen des lebendigen Gottes. Am Beispiel der Dichtung Rilkes und seines umfangreichen Briefwechsels mit hochreflektierten Beiträgen läßt sich sehen, wie geschichtliche Situation, persönliche Prägung, sprachliches Genie an jeder Äußerung (Hierophanie) des Heiligen oder Göttlichen mitgestalten. Besonders beeindruckend ist die Überzeugung Rilkes, daß der Tod zum Leben gehört und als der »große Ja-Sager« anerkannt werden muß. Die Rühmung des »Hierseins« muß den Tod einschließen. Dies ist wahres »Hingehobensein« zu Gott. Rilkes letztes Gedicht Komm du, du letzter, den ich anerkenne, heilloser Schmerz zeigt das extreme Wagnis einer solchen Zustimmung zum Dasein. »Ein Wehn im Gott«. Der schöpferische Odem Gottes in den ›Sonetten an Orpheus‹ (August Stahl): Die in der zehnten Elegie als erlösendes Ziel formulierte ›jubelnd-rühmende Zustimmung‹ zur Welt trotz aller »grimmigen Einsicht« in die Leiden, die Schmer­ zen, in Vergänglichkeit und Tod, diese Zustimmung ist im Gesang des Orpheus (»O Orpheus singt!«), mit dem die Sonette einsetzen, schon erreicht. In seinem Lied ist vorgegeben, was in den ersten Versen der Elegie noch als Hoffnung vorgetragen ist (»Daß ich dereinst […] aufsinge)«. Der »Vor-Gesang« des Gottes »mit der Leier« kommt ohne »Trostmarkt« aus und sein »Lied überm Land heiligt und feiert« erhaben, allem Unerkannten gegenüber, allem nichtGelernten und nicht Entschlüsselten. Orpheus, der seine Leier »unter Schatten« gehoben hat und dessen Stimme im Doppelbereich ›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes  |  35

»ewig und mild« geworden ist, sein Gesang ist unabhängig und frei, schöpferisch ohne Voraussetzung, eine Schöpfung aus dem Nichts, reine Poesie: »Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott.«

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– August Stahl –

Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos Der religiöse Textträger Am 22. August 1911 kaufte Rilke bei einem Antiquar in Weimar, wo er sich ganz vorübergehend mit der Fürstin Marie von Thurn und Taxis aufhielt, ein »Büchlein aus dem Jahre 1801 in einem reizenden türkisblauen Einband mit zierlichen Louis XVI-Ornamenten«. Das Büchlein barg, wie sich die Fürstin weiter erinnert, »irgendeinen gleichgültigen Inhalt«.1 In dieses »kleine blaue Buch«2 trug Rilke im Januar des folgenden Jahres die gerade entstandene Erste Duineser Elegie ein und schickte beides an die Fürstin nach Wien. Der begleitende Brief 3 hatte folgenden Wortlaut (MTT, 97 f.): Duino, am 21. Januar 1912 Da kommt nun endlich, liebe Fürstin, um Ihnen immer zu bleiben, das kleine grüne Buch zu Ihnen zurück, höchst eigenmächtig vollgeschrieben mit der ersten duineser Arbeit (und der ersten seit lange!), für die es genau gemacht war. Nehmen Sie’s auf, sein Sie ihm gut, wie Sie’s ihm vom ersten Augenblick an waren, obwohl es damals strenggenommen, nur der ›Grundriß der Allgemeinen Religionslehre‹ vom Jahre 1801 zu sein vorgab, den es enthielt. Aber wir sahen ihm beide eine höhere heimliche Absicht an. Ist sie nun ganz erfüllt? Sie werden entscheiden. Ihr D.S.

Von kleinen Büchern ist in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge öfter die Rede, so z. B. von »dem kleinen Buch der Christine de Pisan«, in dem der kranke König, »in einem der hohen Fenster des Louvre« stehend, »blätterte« (SW VI,909) oder »das kleine Buch«, von dem Malte wünscht, daß das schönste der Mädchen seiner Heimat es sich fände »an einem Nachmittag in der verdunkelten Bibliothek«.4 Klein ist auch das Buch, von dem Malte glaubt, daß er   |  37

es »als Knabe besessen haben muß« (SW VI,880). Das Buch hat ihn als Kind nicht interessiert, aber es war ihm wichtig »vom ersten Augenblick an.« Ein Zeichen für die Bedeutung dieses kleinen Buches war die Farbe des Einbands: Das Grün des Einbands bedeutete etwas, und man sah sofort ein, daß es innen so sein mußte, wie es war.

Man braucht nicht zu entscheiden, ob der Einband des »kleinen Buches« aus dem Weimarer Antiquariat nun blau war oder grün oder »türkisblau«, wie die Fürstin sich erinnerte. Es handelt sich dabei um Nuancen und Rilke hat im Antwort-Brief an die Fürstin deren Farbangabe auch übernommen, allerdings zitierend in Anführungsstriche gesetzt: Liebe Fürstin, nun Sie mir so Schönes und Bewegtes über das kleine »türkisblaue« Buch schreiben, geb ich herzlich zu, daß die Nachtigall ein Wundervogel ist.5

Die unterschiedliche Benennung der Farbe ist in diesem Falle ohne besonderes Gewicht. Einigkeit bestand zwischen der Fürstin und dem Dichter, was Größe und Umfang angeht. Die Fürstin spricht in ihren Erinnerungen von einem ›kleinen Buch‹ bzw. von einem »Büchlein« und Rilke übergeht nie die Dimension, ob es um die Herkunft geht (»das kleine weimarer Buch«) oder um die Farbe des Einbands (»das kleine ›türkisblaue‹ Buch«). Die Einigkeit hinsichtlich der Größe ist verständlich. Das »Büchlein aus dem Jahre 1801« hatte nur 16 Seiten und es gehörte vom Format (17 x 10,5) her zu den »Taschenbüchern«,6 wie sie Rilke benutzte etwa für die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge.7 Daß Rilke das »kleine grüne Buch« ganz in diesem Sinne als Taschenbuch wertete, das geht schon daraus hervor, daß er gleich nach dem Kauf seinen Verleger gebeten haben muß, in den »schönen alten grünen Einband« Seiten einsetzen zu lassen. Von Weimar aus, wo Rilke das Büchlein am 22. August gekauft hatte, fuhr er tags darauf nach Leipzig, wo er bis zum 8. September blieb. Aus München schrieb er dann am 22. September an seinem Verleger (AK I,281):

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Unsere Vierteljahrgeldsendung erbitte ich dann auch [nach Paris], ebenso, sowie die Seiten eingesetzt sind, den schönen alten grünen Einband, den Sie mir einrichten lassen wollten.

Ein wenig wundert man sich über die emphatischen Formulierungen und die ernste Aufmerksamkeit, mit der unser Dichter den Weg des Bändchens vorgibt, verfolgt und den Empfang schließlich bestätigt (AK I,287): Paris, 77 rue de Varenne,

am 28. Sept. 1911. Weiß Gott, daß ich Ihnen danke; und zum Guten deut ichs aus, daß der kleine grüne Einband mit kam, vielleicht, hoff ich, bis in seine neuen Blätter beeinflußt davon, nun beinah herausfordernd.

Von der beinahe jubelnden Übergabe der Elegienhandschrift im Januar 1912 her gesehen und den Zeitadverbien, dem »endlich« und dem »immer«, und der angedeuteten Kreisbewegung, scheint so etwas durch wie eine Inszenierung des Schaffens- und Schreibprozesses, der Entstehungsgeschichte bis hin zur Wahl des Papiers, des Einbands, der Farben und Formate.8 In den Entstehungskontext gehört selbstverständlich auch der Einband und auch der Text, den er ursprünglich umschloß. Nach den Worten der Fürstin barg dies Büchlein »irgendeinen gleichgültigen Inhalt.«9 Rilke ist in seinem Begleitbrief sehr viel differenzierter und er unterscheidet zwischen dem offenbar Vorgeblichen und der ›höheren heimlichen Absicht‹, die sie beide dem kleinen grünen Buch angesehen hätten. Er, der schreibend nichts dem Zufall überließ, schreibend die Szene immer sorgfältig bedachte, er wird auch in diesem Falle nicht ohne Überlegung und nicht im Ungefähren gehandelt haben. Er nennt zwar nicht den Autor des Büchleins, wohl aber den Titel: »Grundriß der Allgemeinen Religionslehre«.10 Der Name des Autors, Johann Friedrich Schwedler, taucht verständlicherweise in keinem Register der Rilke-Literatur auf und selbst der Titel seiner »Vorbereitung zu dem ausführlichern Unterricht in den Lehren des Christenthums« ist nirgendwo erwähnt oder kommentiert.11 Aber Rilke wird die »neuen Blätter«, die Anton Kippenberg auf seine Bitte hin hat ›einsetzen‹ lassen, nicht beiläufig und nicht unbedacht als Träger seiner »ersten duineser Arbeit« Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos  |  39

gewählt haben. Der Satz, mit dem die Elegien beginnen, ist schon von dem Eintrag in die Allgemeine Religionslehre und die erläuternde Rechtfertigung im Brief an die Fürstin in einen Deutungszusammenhang gestellt, und man tut gut daran, die »höhere heimliche Absicht« nicht zu übersehen. Um die Jahreswende 11/12 gehörten die Bekenntnisse des heiligen Augustinus zu Rilkes Lektüre ebenso wie etwa »die schönen alten Heiligenlegenden des Spaniers Ribadaneira.«12 Die »schönen alten Heiligenlegenden« waren eine der Quellen zu dem um diese Zeit entstehenden Marien-Leben.13 Und schon vom Thema her gehören diese Arbeiten zusammen, die des Kirchenvaters, die des spanischen Jesuiten und die des Religionslehrers am lutherischen Gymnasium zu Halle. Wer die 41 (I–XLI) Abschnitte des ›Grundrisses‹ von Dr. Schwedler liest, muß sich nicht anstrengen und er wird Rilkes Einwände gegen die Thesen dieser »allgemeinen Religionslehre« entdecken. Was Dr. Schwedler zur »Sinnlichkeit« sagt, die »dem höchsten Zweck, nach welchem wir zur Vollkommenheit hinaufstreben sollen, entgegengesetzt« sei oder was er von unserem »Zustand nach dem Tode« schreibt,14 das wird Rilke mit entschiedendster Ablehnung gelesen haben. Wo der Dichter Rilke allenfalls fragend formuliert, da redet Dr. Schwedler wie ein Wissender. Man fühlt sich an Ewald Tragy erinnert, der »seine Unwissenheit […] diesen Dingen gegenüber empfindet […] wie einen Schild, hinter dem er irgendetwas Liebes, Tiefes – er vermag nicht zu denken was – bergen kann« (SW IV,554). 40  |  august stahl 

Das »kleine grüne Buch«, das Rilke bei dem Weimarer Antiquar gekauft hatte, mußte ihm vom Titel her schon ein Anlaß zur Wahrnehmung der eigenen Unsicherheit und Not sein und zugleich ein Zeugnis jener Erwartungen und Verheißungen, die er kannte, denen er aber nicht mehr zu folgen fähig und bereit war. Die Vermittlung dieser Distanz erschien ihm schließlich als »die heimliche Absicht« des »kleinen grünen Buches«, das »strenggenommen, nur der Grundriß der allgemeinen Religionslehre zu sein vorgab«, in Wirklichkeit aber die »grimmige Einsicht« fühlbar machte, die dem Dichter zum poetischen Auftrag wurde.15 Die Dokumente (Fettdruck in den Texten vom Verf): Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (SW VI, 880 f.): Diese Nacht ist mir das kleine grüne Buch wieder eingefallen, das ich als Knabe einmal besessen haben muß; und ich weiß nicht, warum ich mir einbilde, daß es von Mathilde Brahe stammte. Es interessierte mich nicht, da ich es bekam, und ich las es erst mehrere Jahre später, ich glaube in der Ferienzeit auf Ulsgaard. Aber wichtig war es mir vom ersten Augenblick an. Es war durch und durch voller Bezug, auch äußerlich betrachtet. Das Grün des Einbands bedeutete etwas, und man sah sofort ein, daß es innen so sein mußte, wie es war. Als ob das verabredet worden wäre, kam zuerst dieses glatte, weiß in weiß gewässerte Vorsatzblatt und dann die Titelseite, die man für geheimnisvoll hielt. Es hätten wohl Bilder drin sein können, so sah es aus; aber es waren keine, und man mußte, fast wider Willen, zugeben, daß auch das in der Ordnung sei.

• Rilke an Anton Kippenberg am 28. 9. 1911 (AK I, Anm. 605): der kleine grüne Band: In den Seiten eingesetzt worden waren […] und der wohl als ›Taschenbuch‹ genutzt werden sollte.

• Rilke an Anton Kippenberg (AK I,281):

Grand Hotel Con­tinen­tal Mün­chen, am 22. September 1911 Unsere Vierteljahrgeldsendung erbitte ich dann auch dorthin, ebenso, sowie die Seiten eingesetzt sind, den schönen alten grünen Einband, den Sie mir einrichten lassen wollten. Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos  |  41

Rilke an Anton Kippenberg (AK I,287): Paris, 77 rue de Varenne, am 28. Sept. 1911. Weiß Gott, daß ich Ihnen danke; und zum Guten deut ichs aus, daß der kleine grüne Einband mit kam, vielleicht, hoff ich, bis in seine neuen Blätter beeinflußt davon, nun beinah herausfordernd.

• Rilke an Marie von Thurn und Taxis (MTT, 1,97 f. – nach Wien): Duino, am 21. Januar 1912 Da kommt nun endlich, liebe Fürstin, um Ihnen immer zu bleiben, das kleine grüne Buch zu Ihnen zurück, höchst eigenmächtig vollgeschrieben mit der ersten duineser Arbeit (und der ersten seit lange!), für die es genau gemacht war. Nehmen Sie’s auf, sein Sie ihm gut, wie Sie’s ihm vom ersten Augenblick an waren, obwohl es damals strenggenommen, nur der ›Grundriß der Allgemeinen Religionslehre‹ vom Jahre 1801 zu sein vorgab, den es enthielt. Aber wir sahen ihm beide eine höhere heimliche Absicht an. Ist sie nun ganz erfüllt? Sie werden entscheiden.

• Rilke an Marie von Thurn und Taxis (MTT 1,100 f. – nach Wien): Duino, am 27. Januar 1912. ›Samstag‹ Liebe Fürstin, nun Sie mir so Schönes und Bewegtes über das kleine »türkisblaue« Buch schreiben, geb ich herzlich zu, daß die Nachtigall ein Wundervogel ist, wollte Gott, ich wäre mit all meinem Dörnicht das rechte Gebüsch für sie. Ihre Stimme war also wieder im Lande, es ist aber gar nicht gesagt, daß sie sich niederläßt und baut, – sie ist überaus scheu.

• Rilke an Marie von Thurn und Taxis (MTT,1,101 f. – nach Wien): Duino, am 29. Januar 1912. ›Montag‹ Meine liebe Fürstin, ich machte von ganzem Herzen Sonntag gestern, da ich Ihren Brief kommen sah, er lag, wie es sich gehört, meiner Post zu oberst, – und nun beginn ich die Woche damit, Ihnen zu dan42  |  august stahl 

ken. Fürstin, jetzt ist das kleine weimarer Buch I h res, und was es etwa hervorruft an Staunen und Freude fällt vor allem auf Sie, da ist nichts zu ändern: denn es ist ja doch kein Zufall, daß ich Ihnen die Elegie geben konnte, wär sie denn geworden ohne Sie, ohne unsere Gespräche, ohne Thereine, ohne Duino, ohne diese Retraite hier, zu der ich von Tag zu Tag mehr Muth fasse? Nein, das wäre sie nicht: und so haben Sie fast alle Schuld, daß der blaue Einband Ihnen so wiederkam –. Daher auch die ungewohnte Befangenheit, als Sie selbst zu lesen versuchten … : sehen Sie, da kam es an den Tag.

1. Der unterbliebene Hilfeschrei und der Ruf aus der Tiefe Der unterbliebene Hilfeschrei, mit dem Rilkes Duineser Elegien einsetzen, erinnert an den berühmten 130. Psalm, der auch denen, die nicht die Bibel lesen, bekannt ist, bekannt weil er im Rahmen des Beisetzungsrituals der katholischen Kirche zitiert wird: Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre meine Stimme, laß deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens.

Rilke war zwar ein Katholik, aber er benutzte die Bibel in der Lutherschen Übersetzung und er benutzte sie eifrig.16 Den 130. Psalm wird er also gekannt haben und man darf davon ausgehen, daß der erste Satz, der Satz mit dem die Duineser Elegien einsetzen, eine Anlehnung ist an die Psalmen-Verse, daß er gelesen werden kann als eine umbildende Wiederholung, eine dekonstruktive Bearbeitung, vielleicht aber auch als eine vom Grund aller erfahrbaren Tiefen heraus formulierte Verschärfung : Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?

Was die beiden Einsätze verbindet, das ist die Beziehung, der sprachliche Bezug zwischen rufen / schreien und hören, einem rufenden ich und einem angerufenen du, einem nicht »schreienden« ich und einem nicht angerufenen »wer«. Und auch das ist ein Gemeinsames, daß das angerufene »du« des Psalms wie der nicht angerufene »wer« der Elegie kein mitmenschliches Gegenüber ist. Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos  |  43

Aber auch in dem, was beide Anrufe trennt, ist das Gemeinsame nicht aufgehoben, sondern präsent. Der Verzicht auf den »Schrei« im Eingang der Elegie ist so betroffen und verzweifelt formuliert, daß das vorgeblich Unterlassene von einer bedrängenden Gegenwärtigkeit sich erweist. »Wir raten nur und sagen alles fragend«17 heißt es in einem Gedicht von 1907, und was für die Frage gilt, das gilt auch für die Negation. Rilkes fruchtbare Aufnahme der Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit (»présence« und »absence«)18 in der Nachfolge Hölderlins und Mallarmés ist bekannt. Die Rilkesche Fassung des Psalmeneingangs beteiligt den Leser/ Hörer an der leidenden Erfahrung des schreienden Ichs viel stärker als der Psalmenvers, der eher beruhigt. Der zuversichtliche und hoffende Ton des Psalmisten verspricht keine Erfüllung, aber er strahlt Erwartung aus. Dagegen ist der klagend-trotzige Verzicht Rilkes ohne Hoffnung und ohne Zuversicht, aber auch ohne jede Nachgiebigkeit. Und er erreicht in seinem Widerstand gegenüber jeder Gefahr und jedem Schmerz, gegenüber dem »Lockruf dunkelen Schluchzens« (DE I, 8 f.), möglicherweise einen Ausgangspunkt weit unter dem »aus der Tiefe rufenden« Ich des Psalms. Der polemisch formulierte Verzicht vom Januar 1912 bedeutet keine Erledigung der religiösen Tradition, weder im Leben noch im Werk unseres Dichters. So entschieden abweisend der Ton ist, er zeigt vor, was er verwirft, leidenschaftlich erregt, nicht gelassen und nicht distanziert. Rilkes, elegische zwar, aber anhaltende Aufmerksamkeit für die Zeugnisse der religiösen und kirchlichen Tradition läßt sich beobachten von der Frühzeit bis in seine letzten Tage. 2. Die elegische Bewunderung für die Praxis Am 5. November 1900 schrieb Rilke aus Berlin-Schmargendorf an Paula Becker: »Diese ersten Novembertage sind für mich immer katholische Tage. Der 2. Novembertag ist der Tag von Allerseelen, den ich bis zu meinem 16. oder 17. Jahr immer, wo ich auch gerade gewohnt haben mag, auf Friedhöfen verbrachte an fremden Gräbern oft und oft an den Gräbern von Verwandten und Vorfahren, an Gräbern, die ich mir nicht erklären konnte und über die ich nachdenken mußte in den wachsenden Winternächten.«19 Was die 44  |  august stahl 

Frühzeit angeht, sei verwiesen auf die Korrespondenz Renés mit der Freundin seiner Prager Jahre.20 Für die weit über die Knabenjahre hinausreichende Aufmerksamkeit spricht z. B. die im »Friedhof zu Ragaz« niedergeschriebene Gedichtfolge des Jahres 1924.21 Die großen Requien, für Paula Modersohn-Becker und Wolf Graf von Kalckreuth, schrieb Rilke ganz Anfang November 1908. In den Kommentaren, meinem eingeschlossen, ist zwar das Entstehungsdatum vermerkt, nicht aber der mögliche Zusammenhang des Entstehungsdatums mit Rilkes ›katholischer‹ Prägung. Haben das die Kommentatoren übersehen oder nur für nicht wichtig gehalten? Was für Allerseelen gilt und die Friedhöfe, das gilt auch für Weihnachten und überhaupt für das religiöse Brauchtum, für die Heiligenfeste, für die Kapellen, Kirchen, Kathedralen und auch für den sonntäglichen Kirchgang. In einem seiner »Briefe über Cézanne«, dem Brief vom 9. Oktober 1907, faßt Rilke das Lebens-Drama und das Arbeitsethos des gerade verstorbenen und mit einer Gedächtnis-Ausstellung im Salon d’Automne geehrten Malers Paul Cézanne zusammen ( KA 4,608 f.): »alt, krank, von der gleichmäßigen täglichen Arbeit jeden Abend bis zur Ohnmacht verbraucht […], böse, mißtrauisch, jedes Mal auf dem Weg zu seinem Atelier verlacht, verspottet, mißhandelt, – den Sonntag aber feiernd, die Messe und Vesper hörend wie als Kind […] – : hoffte er von Tag zu Tag vielleicht doch noch das Gelingen zu erreichen, das er als das einzige wesentliche empfand.«

Die zwischen die in einer langen Reihung emphatisch vergegenwärtigten Leiden (»verlacht, verspottet, mißhandelt«) und die eine Hoffnung auf das Werk (»das Gelingen«) eingeschobene Erinnerung an die Feier des Sonntags, den Besuch von »Messe und Vesper«, wirkt nicht nur wie irgendein beiläufiges und zusätzliches Detail. Schon das ›aber‹ – »den Sonntag aber feiernd« – markiert einen Gegensatz wie das »feiernd« einen Wechsel andeutet vom Schlechten zum Guten, die Eröffnung des Zugangs zum Besseren. Fast unauffällig wird das »Gelingen« zur Folge der vorhergegangenen sonntäglichen Feier, dem Besuch von »Messe und der Vesper«. Schon Émile Bernard hatte in seinen Souvenirs sur Cézanne22 den regelmäßigen Gang in die Kirche erwähnt: »Le dimanche il allait à la messe«. Aber in der rilkeschen Perspektive ist die kirchliche Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos  |  45

Orientierung in einem Zusammenhang gesehen mit der Not des Alltags und der erhofften Erlösung im schöpferischen Erfolg. Nicht zu übersehen in diesem Lebensbild ist die zeitliche Gliederung. Dabei kommt der Feier des Sonntags eine bleibende und verbindende Gültigkeit zu. Der durch die Ausklammerung betonte Verweis auf den Anfang dieser Praxis, auf die Kindheit, liest sich wie eine Bestätigung der These von der Macht lang währender und ausdauernder Gewohnheit. Blaise Pascal, der in den Pensées sich auf den Heiden Cicero beruft,23 wendet diese Einsicht auch an in seiner Empfehlung des Kirchgangs, des Weihwassers und der Kniebeugen.24 Man begreift, daß Pascal da ganz auf der Seite der Katholischen steht und mit Rilke gegen Luther argumentieren könnte,25 gegen den Reformator, der in seinem Traktat Von den guten werckenn das Kniebeugen (»knypogen«), die »metten« und die »vesper« als »groß, scheinend werk« verdächtigte (zurückstellte jedenfalls hinter den Glauben und die Gnade). Jahre später besuchte Rilke in Basel eine Aufführung der Matthäus-Passion. In seinem Bericht an Nanny Wunderly-Volkart26 kommt er, bewundernd wie im Falle von Paul Cézanne, auf den Zusammenhang zwischen künstlerischer Leistung und Glaube zu sprechen: In den größesten Stellen stand man […] im Gefühle Bachs, das mir unendlich herrlich wurde, wo es, um sein Großartigstes zu erweisen, seine schlichtesten und strengsten Erfahrungen in Gebrauch nahm: ein unermüdlich gekonntes Handwerk und einen ununterbrochen geübten Glauben.

Die Bewunderung für das »unendlich herrliche Gefühl« dieses Künstlers, läßt unseren Dichter zugleich die eigene »zunehmende Schwierigkeit fühlen, am christlichen Erlebnis unmittelbar beteiligt zu sein«. Das habe verhindert, fährt er fort, »selbst diejenige Hingerissenheit zu fassen, die die Aufnahme des Ganzen zum Ereignis machen müßte«. Zwischen der Aufmerksamkeit für Cézannes ›Feier des Sonntags‹ und seinem Besuch von ›Messe und Vesper‹ und der Bewunderung für Bachs »ununterbrochen geübten Glauben« liegen mehr als zehn Jahre und diese Jahre bestätigen nicht nur Rilkes andauernde, keineswegs vorübergehende Betroffenheit. Cézanne und Bach waren Künstler von unbezweifelbarem Rang. Die Wahrnehmung ihrer 46  |  august stahl 

religiös geprägten Lebensführung macht Rilke nachdenklich, 1907, zur Zeit seiner Pariser Meisterschaft wie zu Beginn seiner Schweizer Jahre und vor dem Abschluß noch der Elegien. Dem Brief von 1907 und dem von 1920 kann man andere zur Seite stellen, den Brief an Lisa Heise von 1915 z. B. Dabei fällt immer wieder auf, daß wie im Falle Cézannes und im Falle Johann Sebastians Bach von einer kirchlich-religiösen Praxis die Rede ist, die sich verträgt mit dem künstlerischen Schaffensprozeß wie der »ununterbrochen geübte Glaube« Bachs und die Feier des Sonntags Paul Cézannes. 3. Rilke und die Kirchen Rilkes »kirchliche Prägung«27 begann schon mit, wenn nicht vor seiner Geburt. Am 17. Dezember 1922 erinnert Phia Rilke in einem Brief an ihren Sohn René die aufregenden Umstände seiner Geburt: … um Mitternacht, die gleiche Stunde, wo unser Heiland geboren wurde, – und da es zum Samstag ging, wurdest Du sofort ein Marienkind! – der gnadenreichen Madonna geweiht. – Papa und ich segneten, küßten Dich, – unser helles Glück flüchtete im Dankgebet zu Jesus und Maria.28

Wir wissen es, der Junge erhielt, wie das einer seiner Biographen formuliert hat, eine Reihe prätentiöser Vornamen.29 Unter diesen war »Maria« nicht nur der voraussetzungsreichste, auffallendste und einzig dauerhaft bleibende sondern auch der vielleicht folgenreichste, jedenfalls wenn man ihn einordnet in den Kontext und in den Zusammenhang der rilkeschen Lebensgeschichte.30 Den Vornamen »René« hat Rilke später in »Rainer« umgewandelt, die an die Verwandten und Vorfahren erinnernden Zunamen (Karl, Wilhelm, Johann, Josef)31 finden sich nur in den amtlichen Zeugnissen. Aber »Maria« blieb fester Bestandteil seines Namens. Nach der Beschreibung der Mutter versteht man, daß die Wahl des Vornamens »Maria« einen religiös und emotional bestimmten Hintergrund hat. Man kann sogar den Eindruck haben, daß nicht nur der Name, sondern sogar der Augenblick der Geburt vor diesem Hintergrund wahrgenommen und angegeben wurde. Ob es »zum Samstag ging« oder ob der Geburtszeitpunkt »doch noch zum 4. gehörend« war, Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos  |  47

das ist nicht erheblich, wichtig ist festzustellen, daß der 4. ein Samstag war und der Samstag seit dem 11. Jahrhundert der Wochentag ist, der, der Gottesmutter gewidmet, also ein Marientag ist. Anders als beispielsweise im Falle Oskar Maria Grafs und Erich Maria Remarques, die den Zweitnamen »Maria« lange nach ihrer Geburt annahmen, bekam ihn Rilke mit der Taufe, ein Spiegel der Situation, in die er geboren wurde. Rilkes Rührung gelegentlich Paul Cézannes ›Feier des Sonntags‹ ist daher sehr verständlich und er selbst hat sein Leben lang eine vergleichbare Konstanz im Umgang mit der christlichen Tradition gepflegt, mit den Zeugnissen zunächst, den weithin sichtbaren Spuren. Einem Brief an Madame Jeanne de Sépibus-de-Preux aus ValMont vom 21. April 1926, acht Monate also vor seinem Tode, legte Rilke einen Scheck bei.32 Dieser Scheck »au montant de la somme convenue« war für die »Kosten« der Reparatur an der neben dem Château de Muzot gelegenen Anna-Kapelle bestimmt. Für den Fall, daß »les frais de restauration« die vorgesehene Summe übersteigen sollten, bat der Dichter, über den verbliebenen Rest informiert zu werden.33 Er war entschlossen und er hatte den Ehrgeiz, »dieses Werk der Rettung allein« zu vollbringen: »aussi j’avais l’ambition que ce soit moi, moi seul, à faire cette œuvre de sauvetage«.34 Gelegentlich seines 50. Geburtstages Anfang Dezember 1925 hatte er den Entschluß gefaßt, den weiteren Verfall der Kapelle aufzuhalten und das Dach und die nach alter Manier in Blei gefaßten Fenster (»les vitres, à l’ancienne mode, prises dans du plomb«) reparieren zu lassen.35

Anna-Kapelle Muzot 48  |  august stahl 

Rilkes Aufmerksamkeit und Sorge für seine »nächste Nachbarin, Sainte-Anne«, für »das kleine benachbarte Heiligthum«, für das »ländliche Oratorium«, die gegenüber seinem Turm, »etwas oberhalb, im Weingeländ, gelegene weiße Kapelle« war, und das zeigt schon diese variantenreiche Reihung im Brief an Anton Kippenberg,36 mehr als eine beiläufige Marotte. Die »liebe weiße Kapelle der hlgen Anna« wie er die »kleine weißgetünchte Skt. Annen-Kapelle« auch nennt,37 erwähnt Rilke schon vor dem Abschluß des Mietvertrags und vor dem Einzug in Muzot wie eine besonders attraktive Zugabe. Dabei scheint die Abgelegenheit der Kapelle und der schlechte bauliche Zustand, eine nicht unwesentliche Rolle gespielt zu haben. Da erinnert man sich an die kleinen, alten, schönen Kapellen, die wunderschönen Gotteshäuser, Marien- und Schloßkappellen auf Capri, in Avignon, Duino, Ronda oder Assisi, von denen in den Briefen an die Mutter die Rede ist.38 Die der Stadt gegenüber in den Bergen gelegene »kleine Kapelle der Señora de la Cabeza«, die im Brief an die Mutter vom Ende Dezember 1912 erwähnt ist, scheint auch die zu sein, auf die im Brief an Reinhard Johannes Sorge39 ein Jahr später verwiesen wird. Von Ronda aus, wo er sich die »kleine Kapelle der Señora de la Cabeza« hatte aufschließen lassen, beklagte er gegenüber der Fürstin von Thurn und Taxis die »Gleichgültigkeit ohne Grenzen« in diesem scheinbar christlichen Lande, in dem es nur »leere Kirchen« gäbe, »vergessene Kirchen« und »Kapellen die verhungern«.40 Diese Erfahrung habe ihn, wie er in dem Zusammenhang ganz polemisch betont, zu »einer beinah rabiaten Antichristlichkeit« geführt.41 Wenn man bedenkt, daß Rilke schon 10 Jahre vorher, 1901, aus der Kirche ausgetreten war,42 dann kommt dem »rabiat« allenfalls der Sinn einer energischen Bestätigung der früheren Entscheidung zu, einer Bestätigung allerdings, die die Gradpartikel, die das »beinah«, vor aller Endgültigkeit bewahrt: »einer beinah rabiaten Antichristlichkeit«.43 Die »Partikel«, das »beinah«, entspricht syntaktisch der konjunktivisch vorgestellten »kleinen verfallnen Kapelle«, wie er sie 1912/13 in Spanien gefunden hatte, vorher in der Provence und später in Umbrien und in der Nähe des Turmes von Muzot. Eine längst vergangene Zeit heraufrufend und vom Untergang bedroht, werden die »Kapellen die verhungern« zu Symbolen einer gefährdeten Tradition und einer ungesicherten Hoffnung. Ihre Erhaltung aber Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos  |  49

ist der Auftrag, den der Mythos vergegenwärtigend formuliert und weitergibt. Als der Kenner, der er ist, verweist der Dichter des Stunden-Buchs und der Bewunderer des Heiligen auf den Einsatz Franz von Assisis für die »zerfallende Landkirche von San Damiano«:44 Und da liegt draußen außerhalb der Stadt, etwas thalabwärts eben jenes kleine Kirchlein S. Damiano, und man hat das Gefühl, daß dort nichts verändert ist, das fast schwarze Gewölb der kleinen Kirche zeigt die Spuren uralter Malereien, die man ruhig hat vergehen lassen, aber, was in ihnen Lieblichkeit war, das macht das stille Innere irgendwie mild, ist zum Klima dieses Raumes geworden, den wohl kein Besucher nur als Sehenswürdigkeit hinzunehmen vermag –, mancher der’s lange nicht gekonnt hat, mag hier, eh er’s weiß, auf die Kniee gerathen, es ist sicher einer der innigsten Orte der Welt.45

Die »kleinen verfallnen Kapellen« Spaniens (1913), »die zerfallende Landkirche von San Damian« des heiligen Franz, das »kleine ländliche Kirchlein« nahe Muzot sind gerade wegen ihrer Fragilität, ihrer Abgelegenheit und Vergessenheit immer wieder angedacht und einbezogen. Das belegen vor allem die Zeugnisse, die eine Wahrnehmung bestätigen, die die Wirklichkeit den eigenen Ausdrucksbedürfnissen allererst anzupassen scheint oder jedenfalls solche Ausschnitte fest hält, die der eigenen Sicht entgegenkommen. Das lassen zum Beispiel die ›vielen kleinen Landkirchen‹ vermuten, die er im Winter 1919/20 im Süden der Schweiz, in und um Locarno zu sehen bekommt und besucht und von denen die Rede ist in einem Brief vom 15. Januar 1920:46 Hier liegen so viele kleine, wochentags ganz verlassene Landkirchen in den Rebbergen, ländliche Ansiedlungen, in denen ein heiliger Georg oder Laurentius ohne Sorgen von dem kleinen Kapital des Geglaubtwordenseins lebt, das die Frömmigkeit so vieler Generationen für ihn aufgebracht hat, ich sitze bald da, bald dort in einer, und manchmal kommen mir die Tränen, nur aus Glück über die reine heitere Stille in diesen Kirchen: s o l c h e Stille, scheint mir, müßt ich ein Jahr lang um mich haben dürfen, um mich selber wieder zu vernehmen, und in meiner Mitte jene kleine Quelle der Erneuerung, die das Geheimnis jedes Lebens ist, und die solange übertönt und getrübt war. 50  |  august stahl 

Zu den »vielen kleinen, wochentags ganz verlassenen Landkirchen« zählen, wie man einem Brief an Nanny Wunderly-Volkart vom 13.12.1919 entnehmen kann, die Madonna del Sasso von Orselina, die »hier verlassen in der Landschaft stehende« alte Kirche St. Quirico mit dem »ländlich mächtigen Turm« (Br. vom 11.12.19) und die »andere Landkirche … drüben hinter Losone« (ebd.; vgl. 32, 26 und 146). Es ist eine dauerhafte und über alle räumlichen und zeitlichen Grenzen hinweg rührend anmutende Anhänglichkeit unseres Dichters, wo immer hin man ihm folgt. Lange vor der Chapelle de Sainte Anne im Vallis, den »verlassenen Landkirchen« um Locarno und den »verfallenen Kapellen« Spaniens war es z. B. die »kleine verlassene Kirche »Santa Maria a Cetrella« im »hoch und einsam gelegenen« Anacapri. Die Lage vermittelte eine wunderbare Aussicht, und der Baedeker von 1905 empfahl die »vue très pittoresque sur Capri et sur toute l’île«, bedauerte aber, daß die Santa Maria a Citrella nur Samstag Abend und Sonntag geöffnet sei (»n’est ouvert que le samedi soir et le dimanche«). Das Bedauern Rilkes ist in diesem Punkte von einer poetischen Verschwiegenheit. Er übergeht den etwas prosaisch klingenden Hinweis auf die nur eingeschränkten Öffnungszeiten (»Samstag Abend und Sonntag«) und feiert die Unbetretbarkeit als Anlaß zu einer erhebenden Gemeinsamkeit: Die kleine Kirche ist zu und da sag ich [der Madonna ] denn durch die Thür allerhand liebe Dinge und denke, daß das eine Freude und eine kleine Zerstreuung ist für sie.47

Die »lieben Dinge«, die er ihr da sagte, die haben sich erhalten. Es sind die sieben Gedichte SANTA MARIA A CETRELLA (SW II,19– 24). Mit den Gedichten der Santa Maria a Cetrella und dem Gang zur Kapelle in Anacapri sind wir mitten in der Zeit der Pariser Meisterschaft, der Neuen Gedichte und der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Und ginge es nur um die Kontinuität dieser aufmerksamen Zuwendung, man könnte von Capri aus nach Duino blicken, nach Aquileia, nach Venedig oder Florenz. Die Gotteshäuser sind als Zeugen der christlichen Botschaft immer wahrnehmbar ebenso wie sie wahrnehmbar sind als Zeugen des rilkeschen Dialogs mit der Überlieferung. Von Duino aus besuchte er Ende Oktober 1911 Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos  |  51

mit der Fürstin von Thurn und Taxis die Kathedrale von Aquileia. Die dort zu bewundernde Plastik der Pietà wurde mit eine Anregung für das entsprechende Gedicht des Marien-Lebens, so wie das Fresko Tintorettos in der venetianischen Madonna dell’Orto für Die Darstellung Mariae im Tempel mit anregend wurde. Wie für das Marien-Leben die Madonna dell’Orto und die Basilica d’Aquileia, so wurde für die erste Duineser Elegie unter anderen Kirchen Italiens die Santa Maria Formosa im Zentrum Venedigs eine Bild spendende Quelle (SW I,687): Es rauscht jetzt von jenen jungen Toten zu dir. Wo immer du eintratst, redete nicht in Kirchen zu Rom und Neapel ruhig ihr Schicksal dich an? Oder es trug eine Inschrift sich erhaben dir auf, wie neulich die Tafel in Santa Maria Formosa.

Santa Maria Formosa, Venedig

Die Beispiele ließen sich vermehren, angefangen von den Kirchen, die im Florenzer Tagebuch begeistert gefeiert werden, der Santissima Annunziata, des Santo Spirito, der Santa Maria Novella, Kirchen, in denen der junge Dichter »ganz gerne eine Stunde lang und länger sitzen und lesen«, ja sogar auch »ohne zu lesen« sitzen konnte (TF,64). Die Gott schonenden Kirchen48 des Stunden-Buchs wären einzusehen wie die »großen Kathedralen«, mit deren »Masse«49 man 52  |  august stahl 

im Mittelalter Gott zu beschweren versuchte und auch die »fertig gekaufte« Kirche der Zehnten Duineser Elegie, die am Rande des Trostmarkts steht, »reinlich und zu und enttäuscht wie ein Postamt am Sonntag«, wie es dort in emotional aufgeladener Polemik zu lesen steht (SW I,721 f.). Wer Rilkes warme Zuneigung für die kleinen, abgelegenen, verfallenden Kirchen verfolgt, wird sich nicht wundern, das die »fertig gekaufte Kirche« am Trostmarkt der zehnten Elegie auch die Stille entbehren muß mitten im »vergoldeten Lärm« und dem Trommeln und Plärrn von Unterhaltung und Konsum. 4. Rilkes polemisch-elegische Nostalgie Die leeren, verschlossenen und verfallenden Kapellen und Kirchen, abseits gelegen und still, sind deutliche Symbole der rilkeschen Gotteserfahrung und Religiosität. Sie sind Zeugen einer anhänglichen und zugleich elegischen Beziehung zu einer verlorenen, nicht mehr gelebten und auch nicht mehr lebbaren Tradition. Die Kirche San Quirico in Rivaplana, die Rilke während seines Winteraufenthaltes in Locarno öfter besucht, auch sie ist, beinahe muß man sagen, »natürlich« leer. Es ist eine Ausnahme, daß sich der Kirchenbesucher Rilke dem Ritus entsprechend benimmt und beispielweise auf die Kniee gerät, so wie er es dem Besucher ›jenes kleinen Kirchleins S. Damiano‹ unterstellt.50 Die leere Kirche, in der er »wochentags« sitzt, lesend oder auch »ohne zu lesen«, zu Tränen gerührt, das ist die Kirche, die frei ist von der »allgemeinen Vereinbarung«, die »der Entwicklung eines Gott-Verhältnisses […] im Wege ist, indem sie dem Erlebnis des Einzelnen mit ihren Satzungen und Versprechungen zuvorkommt und ihn recht eigentlich ablenkt von denjenigen Anlässen, über denen er religiös-produktiv zu werden vermöchte«.51 Man versteht, daß die Kirche als Institution sehr kritisch gesehen und dargestellt wird. Gottesdienstbesuche (wie die Cézannes) gibt es kaum oder sind allenfalls beiläufig erwähnt und in satirischer Distanz und Verzerrung. Das gilt für die Seelenmesse des »Herrn Anton von Wick« in der frühen Erzählung Das Familienfest (SW IV,9–19 von 1897) wie für Maltes nachgetragene Erinnerung an das Verhalten seines Vaters »in der Kirche« (SW VI,810).52

Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos  |  53

Was übrigens meinen Vater betraf, so war seine Haltung Gott gegenüber vollkommen korrekt und von tadelloser Höflichkeit. In der Kirche schien es mir manchmal, als wäre er geradezu Jägermeister bei Gott, wenn er dastand und abwartete und sich verneigte.

Trotzdem gilt für Rilke bis in seine letzte Zeit nur eingeschränkt, was Heinrich Bornkamm über Martin Luther gesagt hat, daß ihm nämlich »die ganze menschlich-kirchliche Apparatur längst wesenlos geworden« wäre.53 Soweit war nicht einmal der Rilke der Elegien. Im Oktober 1925 notierte der Dichter einige »persönliche Bestimmungen für den Fall einer mich mehr oder weniger enteignenden Krankheit.«54 Zu diesen »persönlichen Bestimmungen« gehörte die entschiedene Bitte, »jeden priesterlichen Beistand, der sich aufdrängen könnte, von [ihm] fernzuhalten«. Das entsprach durchaus Luthers Meinung, daß »ein jeglicher auf seine Schanze selbst sehen und sich mit den Feinden, mit dem Tod und Teufel selbst einlegen und allein mit ihnen im Kampfe liegen« muß: Rilke wollte also so sterben, wie Luther starb, »ohne priesterlichen Beistand, ohne Sterbesakramente, ohne Anrufung von Heiligen, ohne Rosenkranz oder andere geweihte Gegenstände«.55 Aber so »wesenlos« wie diese Rituale nach Bornkamm für Martin Luther waren, so »wesenlos« waren sie für Rilke nicht. Die »menschlich-kirchliche Apparatur« bewegte ihn noch so stark, daß er sich bis zuletzt ausdrücklich gegen ihre Nähe wehrte. In einem entscheidenden Punkte aber ging er noch weiter als Luther, der den Sterbenden zwar ohne »menschlichkirchliche« Hilfe sah, allein, aber doch schließlich Gott gegenüber stehend, während Rilke der Bewegung seiner Seele »aufs Offene zu […]« keine Vorgabe zumuten und alle Freiheit erhalten wollte. Das »Offene«, dem er ohne geistlichen »Zwischenhändler« gegenüber stehen wollte (NWV II, 1192 f.), war wohl eine Weigerung gegen alle überlieferte Gewißheit, aber keine ausdrückliche Verneinung des Göttlichen. Das bestätigt auch die Bestimmung Nr. 3, die, vorsichtig (konjunktivisch) und zurückhaltend (passivisch und rückblickend) formuliert, die eigene Grablegung betraf: ich zöge es vor, auf dem hochgelegenen Kirchhof neben der alten Kirche zu Rarogne zur Erde gebracht zu sein. Seine Einfried[ig]ung 54  |  august stahl 

gehört zu den ersten Plätzen, von denen aus ich Wind und Licht dieser Landschaft empfangen habe, zusammen mit allen Versprechungen, die sie mir, mit und in Muzot, später sollte verwirklichen helfen.

Die Nähe der Kirche von Raron ist vielleicht nicht religiös zu deuten, sondern nur als Ausdruck einer ererbten Gewohnheit. Aber das ist womöglich kein großer Unterschied. Die Schön­heit der Aussicht, den Blick in die Landschaft, den dieser Kirchhof bot, mag man verstehen als bildliche Inszenierung einer Weltsicht, der der Tod kein Einwand gegen die Schön­heit der Welt war, so wie das ›Alter‹ der Kirche noch immer gewußte Tradition erinnerte. Das Grab, der Blick in die Landschaft, die alte Kirche, die Einzelheiten fügen sich zu einem Bild, in dem die Gegenwärtigkeit des Vergangenen die Vergänglichkeit des Gegenwärtigen in einer Einheit zusammenfaßt.

»die alte Kirche zu Rarogne« (nach Ingeborg Schnack, Leben und Werk im Bild, Abb. 357)

Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos  |  55

5. Kritik und Werbung Der »junge Arbeiter« des ganz in zeitlicher Nähe zur zehnten Duineser Elegie geschriebenen Briefes56 (Der Brief des jungen Arbeiters), auch er ist »viel in Kirchen gegangen« (SW VI,1119), hat die »Windstille« der »alten Kirchen« bestaunt und den Körper der »Kathedralen« gerühmt, die mit dem »Ton ihrer großen Glocken«, die Himmel »offen zu halten« bestimmt waren. Den alten, verlassenen, den stillen, dunklen und auf dem Land »hoch und einsam« gelegenen Kapellen ist im Brief des jungen Arbeiters wie in der zehnten Elegie das »häßliche Kunstlicht und der Lärm« der Städte (1115) und die Anonymität der Straße (1121) gegenüber gestellt. Was man in den Kirchen erleben durfte, noch immer erleben kann, in der Ste Anne neben dem Turm von Muzot und in der Santa Maria Novella von Florenz beinahe dreißig Jahre früher, das ist die Möglichkeit der Selbstfindung gegen alle Einrede und gegen alle Trübung von außen. Das ist der Sinn der immer wieder wahrgenommenen Stille in den kleinen, abgelegenen Kirchen und Kapellen. Die kritische Arbeit an der christlichen Heilsbotschaft ist aber intensiv und dauerhaft von der Frühzeit bis zu den reifsten Dichtungen. Ich erwähne ein Beispiel aus Rilkes mittlerer Schaffenszeit, der Zeit der Neuen Gedichte, und ich wähle einen Text, der den Vorgang gestaltet, der für die religiöse Deutung der Welt des Christentums grundlegend geworden ist. Rilkes Gedicht ADAM vom Sommer 1908.57 Das Dinggedicht ist veranlaßt von der Figur in der Fassade an der Kathedrale Notre Dame in Paris, ist aber zugleich eine Auseinandersetzung mit der Stelle aus der Genesis, die von der Versuchung und dem Fall berichtet, der Verfluchung und der Vertreibung aus dem Paradies.58 Von der biblischen Vorgabe, die für die christliche Welterklärung von entscheidender Bedeutung ist, ist die Rilkesche Inszenierung nicht nur weit entfernt, sie ist die geradezu subversive Verkehrung des Ineinander der Drohungen, Verbote und Behinderungen (SW I,585 f.).

56  |  august stahl 

Adam Staunend steht er an der Kathedrale steilem Aufstieg, nah der Fensterrose, wie erschreckt von der Apotheose, welche wuchs und ihn mit einem Male niederstellte über die und die. Und er ragt und freut sich seiner Dauer schlicht entschlossen; als der Ackerbauer der begann, und der nicht wußte, wie aus dem fertig-vollen Garten Eden einen Ausweg in die neue Erde finden. Gott war schwer zu überreden; und er drohte ihm, statt zu gewähren, immer wieder, daß er sterben werde. Doch der Mensch bestand: sie wird gebären.

Die Vertreibung aus dem Paradies wird in diesem Sonett zu einem selbst gewählten Auszug, zu einer selbst betriebenen Reise aus dem Land der Unfreiheit und der einengend-vorgegebenen Fülle ohne Gestaltungsfreiraum für den Menschen. Die Arbeit, die angedrohte Mühe, der »Schweiß deines Angesichtes«, das ist nicht das, was schreckt. Es ist die »neue Erde«, die lockt und die dem ›schlicht entschlossenen Ackerbauer‹, der »begann«, als Betätigungsfeld die ersehnte Aussicht bietet, aus dem »beengten Leben auszubrechen und sich eine selbstbestimmte Welt [zu] erschaffen.«59 Aus der verfügten Vertreibung, wie sie in der Genesis nachzulesen ist, wird in der Dichtung Rilkes ein selbstbewußter, ja trotzig inszenierter Auszug. Dass selbst die Todesdrohung die Entscheidung dieses Adam nicht beeinflussen kann, zeigt nur, welchen Wert ein Leben ohne Freiheit für ihn hat, daß ein solches Leben für ihn wertlos ist. Adam, der unschuldige Täter, wird schließlich von der Geschichte ins Recht gesetzt und sogar belohnt. Seine Erhebung »über die und die« läßt ihn selbst staunen und macht den mit dem Tode Bedrohten zu einem, der sich »seiner Dauer« freut. Die adverbiale Beifügung, das »schlicht entschlossen«, ist ausgeklammert und durch einen Strichpunkt vom folgenden Subjekt Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos  |  57

abgesetzt, und so bleibt es offen, ob sich die Ergänzung auf die gegenwärtige Freude oder auf die ursprüngliche Unnachgiebigkeit bezieht. Wie immer, der unauffällige Widerstand wie die zurückhaltende Freude, in beidem ist die Demut der Weigerung und Bescheidenheit eines Unnachgiebigen vermittelt. Der Ungehorsam des biblischen Adam ist so verklärt zu einem Akt der schließlich bewunderten Selbstrettung. Bei der Arbeit an den biblischen Erzählungen ist dies immer einer der Momente, die Rilke vorzeigt, sensibel für die Wahrung der Freiheit des einzelnen. Man denke etwa an Rilkes Gestaltungen der Geschichte vom verlorenen Sohn in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (SW VI,938–946) oder den Neuen Gedichten (SW I,491). Ob es um den Auszug oder die Rückkehr geht, es geht immer um den Erhalt der Unabhängigkeit gegenüber den Erwartungen der anderen und wäre es gegenüber deren Liebe. Man denke auch an die Hochzeit zu Kana, in der die Muttergottes ihrem Sohn die Entscheidungsfreiheit nimmt mit ihrem Blick und ihrer Bitte um eine »Geste und nicht begriff, daß er widersprach«.60 6. Preis des Hiesigen Für die schlichte, aber unnachgiebige Entschlossenheit Adams und für Marias ruhiges Selbstvertrauen muß man nicht unbedingt nach besonderen Vorbildern suchen. Sie entsprechen dem Menschenbild, dem Rilke bei seinen Vorbereitungen auf die Reise nach Florenz und bei seinen Studien zur Kunst der Renaissance begegnet ist. Jacob Burckhardt z. B. hat in seinem Bestseller Die Kultur der Renaissance in Italien der »Entwicklung des Individuums«,61 der Vollendung der Persönlichkeit und dem einzigartigen Menschen, dem uomo singulare, uomo unico mitreißende Seiten gewidmet. Neben Burckhardt wären z. B. auch Henry Thode mit seiner großen Monographie Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance zu nennen und auch Paul Sabatier mit seiner Vita Francisci: Vie de Saint François d’Assise. Für diese Forscher war wie für Rilke der heilige Franz nicht nur wegen seiner inneren Unabhängigkeit (»cette allure de liberté«)62 ein Zeuge der neuen Zeit, sondern auch wegen seiner neuen Einstellung zur Welt. Wo immer 58  |  august stahl 

Rilke mit der schweren Arbeit der Deutung der Welt befaßt war, da kamen ihm die Künstler der »großen Renaissance« entgegen. Diese hatten, wie er glaubte und es verstand, unauffällig, zögerlich oft, und ängstlich, leidend auch, die Befreiung der Welt von falschen Deutungen versucht, begonnen und teilweise sogar schon geleistet. Die falsche Deutung war für Rilke die christliche Weltsicht und die sich daraus ergebenden Normen und Wertungen, insbesondere die Entwertung des Diesseits. Die, wenn nicht die Revision, so doch die Ausklammerung des christlichen Weltsicht und die Distanzierung von jedem Verdacht gegen das »Hiesige«, ja sogar die Hymnen auf die Schönheit der Welt konnte Rilke in allen Werken finden, die sich mit der italienischen Renaissance befaßten. Ich zitiere aus Jacob Burckhardts Kapitel über die Entdeckung der landschaftlichen Schönheit: Für die Italiener jedenfalls ist die Natur längst entsündigt und von jeder dämonischen Einwirkung befreit. S. Francesco von Assisi preist in seinem Sonnenhymnus den Herrn harmlos um der Schöpfung der Himmelslichter und der vier Elemente willen.63

Es ist durchaus möglich, daß Henry Thode und danach auch Paul Sabatier wie später Hermann Hesse und auch unser Dichter Rilke in ihrem Urteil über den Heiligen von Burckhardts Sicht beeinflußt waren. Für Henry Thode hat Franz von Assisi die »Religion mit der Natur versöhnt«, die irdische Minne »vom Fluche der Sündhaftigkeit« befreit.64 Und Rilke hat im Schlußhymnus des StundenBuchs diesen Heiligen gefeiert (SW I,364, entstanden Viareggio, am 20. April 1903): O wo ist der, der aus Besitz und Zeit zu seiner großen Armut so erstarkte, daß er die Kleider abtat auf dem Markte und bar einherging vor des Bischofs Kleid. Der Innigste und Liebendste von allen, der kam und lebte wie ein junges Jahr; der braune Bruder deiner Nachtigallen, in dem ein Wundern und ein Wohlgefallen und ein Entzücken an der Erde war. Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos  |  59

Adams Kummer und sein ›Disteln und Dornen tragender Acker‹ ist kaum mehr wahrnehmbar hinter dieser Erde, an der der umbrische Heilige sein »Entzücken« gefunden hatte. Die »augenfällige Freundschaft und Heiterkeit der Erde«65 entdeckte Rilke immer wieder und in vielen Arbeiten von Künstlern der Renaissance und die Worte klingen sehr verwandt, ob es sich um den Sonnengesang des Franziskus handelt oder um das Gemälde Der Zug der Könige nach Bethlehem von Benozzo Gozzoli. Jacob Burckhardt hat dieses Gemälde von 1459 in seinem Cicerone beschrieben und es ist auffällig, wie der Kunsthistoriker die Lösung der dargestellten Szene aus dem überlieferten biblischen Kontext vollzieht und vermittelt, ohne die Distanz zu akzentuieren. Da ist die Rede von der »Freude an den bloßen schönen Lebensvollzügen« und der Gleichgültigkeit gegenüber dem »Hergang« und da wird der »Beschauer« erwähnt, der »neben der endlos reichen Bescherung nichts weiter verlangt«. Die Verkürzung um die christliche Botschaft kommt allein der Herrlichkeit der Welt zugute: »Die schon erwähnte Ausstattung«, heißt es, mit Architekturen, Gärten, Landschaften ist fabelhaft prächtig.«66 Der Stall von Bethlehem mit allem, was er bedeutet für die Menschwerdung des Wortes und für das Menschsein nach Sündenfall und Vertreibung im nachparadiesischen Jammertal, bleibt ausgeklammert. Dem steht der junge Rilke nicht nach, ja seine Ausführungen sind um ein Vielfaches einläßlicher und vom gleichen Ton zustimmender Ergriffenheit (TF,66): Man sieht es diesen Menschen an, wie sie sich inmitten von Prunk und Freude so recht heimisch fühlen, wie sie Gewand und Geschmeid ohne weichliche Eitelkeit wie etwas Selbstverständliches tragen, wie ein Symbol jener hellen Herrlichkeit, die sie immer mehr und immer mutiger in sich selbst entdecken.

Benozzo Gozzoli, der Maler der frühen Renaissance, der »freiste […] und fröhlichste Verkünder der irdischen Freudigkeit« (TF 104), von seiner Haltung und seinem Blick auf die Erde konnte sich der Dichter Rilke helfen lassen beim Urteil gegen alle ›Herabsetzung des Irdischen‹, wie es im Brief des jungen Arbeiters von 1922 heißen wird (SW VI,1123) und gegen die ›Verdächtigung‹ des Lebens, wie es sich anhört im Florenzer Tagebuch von 1898 (TF 29):

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Wenn ich denke, daß ich selbst einmal von denen war, die das Leben verdächtigten und seiner Macht mißtrauten. Jetzt würde ich es lieben auf jeden Fall.

Es kann offen bleiben, ob der Florenzer Tagebuchschreiber sich hier an Schopenhauers Urteil über den »Kerker voller Trauer« erinnert oder an manches Stimmungstief seiner Prager Gymnasiastenzeit, das Mißtrauen gegen »dieses Sein«67 gehörte auch in sein Verständnis des Christentums. Im Stunden-Buch ein paar Jahre später wird er Schopenhauers ›Kerker voller Trauer‹ und Adams »Disteln und Dornen« als Einwand nicht gelten lassen und entschieden gegen die christliche Erlösungsvorstellung am »Irdischen« festhalten, festhalten ohne Absehn (SW I,329 f.): Und keine Kirchen, welche Gott umklammern wie einen Flüchtling und ihn dann bejammern wie ein gefangenes und wundes Tier, –– die Häuser gastlich allen Einlaßklopfern und ein Gefühl von unbegrenztem Opfern in allem Handeln und in dir und mir. Kein Jenseitswarten und kein Schaun nach drüben, nur Sehnsucht, auch den Tod nicht zu entweihn und dienend sich am Irdischen zu üben, um seinen Händen nicht mehr neu zu sein.

Hinter allem, was da negiert ist, mag man die Konturen der christlichen Heilsbotschaft erkennen und die »Sehnsucht, auch den Tod nicht zu entweihn« liest sich über die Jahrzehnte von 1902 bis 1922 wie der Einspruch gegen die plakative Werbung für das Bier ›Todlos‹. Die polemische Aggressivität der zehnten Duineser Elegie ist soweit nicht von der erbetenen »Sehnsucht« des Stunden-Buchs entfernt wie man dem Tone nach denken könnte. Die Aussöhnung mit Tod und Vergänglichkeit steht aus und der Ausschluß der christlichen Verheißung ist immer verschärfend mit einzudenken. Zwischen dem Adam, der sich widersetzt, und dem Jesus, der leugnet, steht der betende Mönch des Stunden-Buchs. Ihre Reaktionen sind an die Überlieferung gebunden und die Rollen, die ihnen darin zuRilkes ausdauernde Arbeit am Mythos  |  61

gewiesen sind. Gewißheiten können sie nicht geben, so wenig wie die Verneinungen der zehnten Duineser Elegie. Den Negationen dort folgt ein »Aber«, ein Konjunktiv und ein »vielleicht«. Da geht es dem Leser Rilkes mit der Botschaft der »unendlich Toten« wie der Marthe im Brief des jungen Arbeiters mit der Ruhe »in den Kirchen« (SW VI,1119) : Allmählich merkte sie, daß Gott einen in den Kirchen in Ruhe läßt, daß er nichts verlangt; man könnte meinen, er wäre überhaupt nicht da, nichtwahr, – aber in dem Augenblick, wo man das etwa sagen wollte, meinte Marthe, daß er auch in der Kirche nicht ist, da hält einen etwas zurück. Vielleicht nur das, was die Menschen selbst durch soviel Jahrhunderte hereingetragen haben in diese hohe, eigentümlich bestärkte Luft.

Diese Sätze können exemplarisch gelesen werden. Sie umkreisen eine Kernaussage in Negationen, konkunktivisch, abgedrängt in indirekte Rede, und in einen Nachtrag, der, was er erklären will, fragend offen läßt. Man kann den ganzen Absatz lesen als Beispiel für das, was Immanuel Kant »ein sprachloses, aber desto beredteres Erstaunen« genannt hat (KrV B 650).

Anmerkungen

Marie von Thurn und Taxis: Erinnerungen an Rainer Maria Rilke, 25. der Rilke-Literatur ist gelegentlich von dem »kleine[n] blauen Buch« die Rede, z. B. in Ulrich Fülleborn und Manfred Engel (Hg.): Materialien zu Rainer Maria Rilkes ›Duineser Elegien‹. Erster Band: Selbstzeugnisse, 367. In der Rilke-Chronik (= RC 2009), 391, ist Rilkes, im zitierten Brief entsprechend »das kleine grüne Buch« erwähnt. Und ein paar Seiten früher (376) heißt es, daß bei »einem Antiquar das blaue Büchlein gekauft« wird. 3  Rainer Maria Rilke und Marie von Thurn und Taxis. Briefwechsel (= MTT), 97 f. Im Nachwort heißt es (970): »Der kurze Brief, mit dem der Dichter die Reinschrift der eben vollendeten ersten Duineser Elegie begleitet hat, ist wie dieses Manuskript selbst und einige andere Papiere von seiner Hand (darunter auch das öfters erwähnte ›kleine blaue Buch‹), die nicht in Duino, sondern in Lautschin aufbewahrt waren, nur abschriftlich bekannt und muß als verschollen gelten.“ 4  SW VI,927. Das Verb ist tatsächlich reflexiv gebraucht: »Mädchen meiner Heimat. Daß die schönste von euch im Sommer an einem Nachmittag in der 1 

2  In

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verdunkelten Bibliothek sich das kleine Buch fände, das Jan des Tournes 1556 gedruckt hat.«  5  An MTT aus Duino am 27. Januar 1912, Briefwechsel S. 100. Leider ist der Antwort-Brief der Fürstin verschollen.  6  Vgl. AK I, 605: Anm. zu »der kleine grüne Einband«, »der wohl als ›Taschenbuch‹ genutzt werden sollte.«  7  Gerade erschienen ist Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Das Manuskript des ›Berner Taschenbuchs‹. S. 1: Textgenetische Edition und S. 2, Faksimile. Das ›Berner Taschenbuch‹ ist ein Notizbuch im Format 14,4 x 8,2«. (S. 1,235) Vgl. ebenda die Kapitel 2.1: »Der Textträger in seiner Materialität« und 2.2: »Bemerkungen zur Textgestalt.«  8  Über Rilkes Briefkultur schreibt J. R. von Salis (Rilkes Schweizerjahre. Ein Beitrag zur Biographie von Rilkes Spätzeit, 70): »Nichts ist, in Form und Inhalt, dem Zufall überlassen. Hast oder Flüchtigkeit würden sich nicht mit der gewählten Präzision und gelegentlichen Preziösität des Stils und der Handschrift vertragen, mit der er seinen Überfluß in Zucht hält.«  9  Marie von Thurn und Taxis: Erinnerungen an Rainer Maria Rilke, 25. 10  Johann Friedrich Schwedler: Grundriß der allgemeinen Religionslehre, / als Vorbereitung / zu dem ausführlichern Unterricht / in den / Lehren des Christenthums / für die obern / Klassen gelehrter Schulen / entworfen von Johann Friedrich Schwedler, D. d. Ph. und Lehrer am luther. Gymn. zu Halle / 1801. 11  Der Briefwechsel zwischen Rilke und der Fürstin Marie von Thurn und Taxis konnte vom Herausgeber Ernst Zinn nicht kommentiert werden. Wie mir Walter Simon (Tübingen) schreibt, war »Ernesto Zinn ille ›libellus caeruleus‹ qui dicitur notus non erat!« 12  Brief an Gräfin Manon zu Solms-Laubach am 12. Januar 1912. Zitiert nach: Rainer Maria Rilke: Briefe aus den Jahren 1907 bis 1914,167. Die Passage ist in der Ausgabe der Briefe in zwei Bänden, hg. von Horst Nalewski, einer Kürzung zum Opfer gefallen. Rilke schrieb ›Ribadaneira‹, aber es findet sich auch die Form ›Ribadeneira‹. 13  Das Marien-Leben entstand zwischen dem 15. und 23. Januar 1912 auf Schloß Duino. 14  Abschnitt XXXVII und XL, Grundriß, 15 f. 15  Die Zehnte Duineser Elegie, Eingangsverse: »Daß ich dereinst, am Ausgang der grimmigen Einsicht,/ Jubel und Ruhm aufsinge zustimmenden Engeln.« 16  Immer wieder zitieren darf man in diesem Zusammenhang die Stelle aus dem Brief an Franz Xaver Kappus vom 5. April 1903 aus Viareggio (=Briefe an einen jungen Dichter; KA 4,518): »Von allen meinen Büchern sind mir nur wenige unentbehrlich, und zwei sind sogar immer unter meinen Dingen, wo ich auch bin. Sie sind auch hier um mich: die Bibel und die Bücher des großen dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen.« Zum Thema vgl. auch Ulrich Fülleborn: Rilkes Gebrauch der Bibel. In: Rilke und die Weltliteratur, 19–38. Und Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos  |  63

auch Ulrich Fülleborn: Rilke 1906 bis 1910: Ein Durchbruch zur Moderne, vor allem 165 f. 17  SW II, 209; 20. November 1907, geschrieben für H[erbert] Steiner. 18  Vgl. etwa Karin Wais: Studien zu Rilkes Valéry-Übertragungen, 146–148 und das Rilkezitat aus einem Brief vom 4.1.1923, a. a.O., 148: »cette identité d’absence et de présence«. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Ausführungen von Gerhard Ammelburger (vgl. Bejahungen, 94) zu Rilkes Brief des jungen Arbeiters: »Darin bestreitet Rilke jede christliche Implikation seiner Dichtung und liefert gerade dafür zugleich das beste Beispiel.« 19  Paula Modersohn-Becker: Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke, 20. 20  Rainer Maria Rilke: »Sieh dir die Liebenden an« / Briefe an Valerie von David-Rhonfeld. Einführung, XVI und das Briefgedicht 178 f.: »Nein, der Friedhof scheint mir nicht mehr trübe / Ihn zu schaun umflort mir nicht den Blick, / Zwischen Gräbern keimte uns’re Liebe- / Zwischen Gräbern keimte unser Glück.« 21  SW II,168–174; entstanden in Ragaz um die Mitte des Jahres 1924. Vgl. Ingeborg Schnack: Rilke in Ragaz / 1920–1926, vor allem 68–71.Ebd. 68: »Und ebenso […] verließ er selten einen Ort, ohne den Kirchhof aufgesucht und die alten Grabsteine entziffert zu haben.« 22 Im Mercure de France vom 1. und 16. Oktober 1907. Verwiesen sei auch auf Rilkes Besuch der Notre-Dame zusammen mit Auguste Rodin am 1. Dezember 1905: »wo wir pünktlich zwei Uhr mit den Betern des ersten Adventsonntags eintraten. […] Da saßen wir still, ganz still zwei Stunden nebeneinander, und es sang über uns und für uns und für den Lieben Gott, sang und brauste und rauschte in den dunkelen Wipfeln der Orgel«. An Clara Rilke am 2. Dezember 1905 (Briefe 1904–1907,106 f.) 23  L’Œuvre de Pascal. Misère de l’homme. 3. La Coutume, 120, 857: »J’ai grand peur que cette nature ne soit elle-même qu’une première coutume, comme la coutume est une seconde nature. Vgl. auch 469, 961 und 470, 961 (Pensées sur la religion). Hinweis bei Pascal auf Cicero: De divinitate II, 22. Vgl. auch La Fontaine: Fables IV, 10: Le Chameau et les Batons Flottants: »L’accoutumance ainsi nous rend tout familier«. 24  Pensées, 449,961: »se mettre à genoux, prier des lèvres«. Vielleicht hat sich Pascal da an Luthers Einwände gegen die großen, scheinend werck« (Von den guten werckenn, Czum Eylfften) erinnert. 25  Rilke an Mary Dobržensky am 4. II. 1921: »Jan Hus, um so viel geistiger und glühender als Luther« (R-C 2009, 710). Nicht unerwähnt bleiben soll in diesem Zusammenhang das Rilke-Zitat und die Rilke-Deutung in der Lutherbiograhie von Heiko Augustinus Oberman (Luther, Mensch zwischen Gott und Teufel, 330): Zitiert werden die Schlußstrophen von Rilkes Gedicht Der Schauende (SW I,459 f.): »Was wir besiegen, ist das Kleine, / und der Erfolg selbst macht uns klein.« Dazu der Theologe Oberman: »Ausgeliefert, überwältigt zu sein von der Kraft Gottes – Rainer Maria Rilke hat diese Erfahrung auf so 64  |  august stahl 

einmalige, zeitlose Weise in Worte gefaßt, daß in der Poesie des modernen Dichters Luthers Erfahrung zugänglicher wird als in mancher prosaischen Erklärung«. 26  Rainer Maria Rilke: Briefe an Nanny Wunderly-Volkart I, 193–195, Brief vom 22.3.1922. Vgl. dazu Hans Blumenberg: Rilke als Hörer der Matthäuspassion angehört. 27  Die Formulierung übernehme ich von Albert Raffelt. Vgl. Albert Raffelt: Martin Heidegger und die christliche Theologie. Eine Orientierung mit Blick auf die katholische Rezeption,195: »Man muß sich immer wieder klarmachen, daß Martin Heideggers Bildungsgang eine stark kirchliche Prägung hat«. 28  Zitiert in Carl Sieber: René Rilke. Die Jugend Rainer Maria Rilkes, 63 f. In einem Brief vom 30. April 1912 fragte Rilke seine Mutter: »Weißt Du zufällig meine Geburts-Stunde?«. Im Kommentar der Ausgabe ist dazu vermerkt: »Der Geburtszeitpunkt R.s lag nach Aussage der Mutter an der Grenze zwischen dem 4. und dem 5.12.1875, aber doch noch zum 4. gehörend.« In: Rainer Maria Rilke: Briefe an die Mutter, 1896 bis 1926. 29  Donald A. Prater: Ein klingendes Glas. Das Leben Rainer Maria Rilkes,19. 30  Erinnert sei an die Lehrer der Rhetorik, Quintilian z. B. und sein Urteil über die Bedeutung des Namens für die Beurteilung einer Person (»ponunt in persona et nomen«, Institutionis Oratoriae V, 10, 30). Was die Zweitnamen Maria angeht im Falle von Oskar Maria Graf (1894) und Erich Maria Remarque (1898), so entschied sich Graf erst 1917 auf Anraten eines Freundes, und Remarque nahm den Zweitnamen erst 1922 an. 31  S. den »Stammbaum Rilke« bei Carl Sieber René Rilke. Die Jugend Rainer Maria Rilkes,172. 32  Der Scheck ging über 1000 Franken. Vgl. Rainer Maria Rilke: Briefwechsel mit Anton Kippenberg II, 403. Vgl. auch Curdin Ebneter: L’absence mère. Rilkes Bemühen um die Kapelle von Muzot. 33  Der Brief ist zitiert nach Maurice Zermatten: Les Années valaisannes de Rilke avec des lettres inédites à ses amis valaisans,186–188. S. a. 36: »Cependant, il ne faut pas oublier que la tour n’est pas seule à Muzot. Une chapelle s’élève un peu au-dessus d’elle, évocatrice, elle aussi, d’un lointain passé.« 34  An NWV am 10.12.1925, Briefe II, 1089. 35  Ebd. Vgl. auch den Brief an Werner Reinhart vom 24. Februar 1926, in: Rainer Maria.Rilke: Briefwechsel mit den Brüdern Reinhart 1919–1926, 410–413; bes.. 412 f. 36  An Anton Kippenberg am 11. Dezember 1925 (AK II,402). Vgl. auch die »liebe weiße Kapelle der hlgen Anna« im Brief an NWV vom 9.7.1921, Briefe I,195. 37  An LAS am 10. September 1921: Briefwechsel,431. 38  Vgl. die Briefe: Capri vom 19. Dezember 1906, Paris vom 17. Oktober 1909, Avignon vom 23. September 1909, 15. Oktober 1911, Duino vom ›31.‹ Oktober 1911, Ronda vom 31.12.1912, um nur einige Beispiele zu nennen. Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos  |  65

39  29.1.1892–20.7.1916;

1913 in Rom zum Katholizismus konvertiert. Der Brief vom 2.12.1913 ist zitiert nach Claire Lucques: Le poids du monde. Rilke et Sorge,140–142; hier 142. 40  Ronda, am 17. Dez. 1912; MTT,245 f. 41  Ebd. 245. 42  Austritt aus der Kirche am 11. März 1901, s. RC 2009,29. (Möglicherweise trat Rilke nicht aus der Kirche aus sondern nur zum Protestantismus über.) 43  In den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge findet sich diese Partikel (›beinah‹ / ›beinahe‹) 19 mal, und das verwandte ›fast‹ 54 mal. Vgl. auch Eudo C. Mason: Lebenshaltung und Symbolik, 3–24: Das Weltbild der Nuance, bes. 21: »man wird einsehen, daß weder der Zufall noch die geistige Unzulänglichkeit des Publikums dafür verantwortlich gemacht werden kann, daß alle Äußerungen Rilkes über die Leitprobleme der Existenz alle möglichen, nur keine sicheren Schlüsse zulassen«. 44  Niklaus Kuster: Dem Leben und den Spuren der Apostel folgen. Zur Biographie und Spiritualität des Franziskus von Assisi, hier 45. Thomas von Celano: Leben und Wunder des heiligen Franziskus von Assisi, Erste Lebensbeschreibung, Kap. III: »Unter den zahlreichen Kapellen der Umgebung von Assisi gab es eine, die er besonders liebte, und das war die von Sankt Damian«. Siehe auch Giotto: »Franz betet in San Damian«, Fresko in der Oberkirche von San Francesco zu Assisi (BlRG 27/28, S. 105). 45  Brief an die Mutter vom [11. Mai 1914], vgl. auch AS: Rilkes späte Reise nach Assisi. 46  An Dorothea Freifrau von Ledebuhr: Briefe 1914–1921,289. 47  An Frau von der Heydt am 21.2.1907. Rilke: Briefe an Karl und Elisabeth von der Heydt, 122. 48  »Und keine Kirchen, welche Gott umklammern« (SW I,329). 49  Gott im Mittelalter (NG I; SW I,502). 50  S. Abb. bei Ingeborg Schnack: Rilkes Leben und Werk im Bild, Abb. 281. mit einem Zitat aus Rilkes Brief an Katharina Kippenberg vom ›Drei-KönigsTage‹ 1920, Briefwechsel , 385: »Neulich noch, knieend in der leeren sonnigen Kirche von San Quirico, fragte ich mich: was tut ihm das Gestein dafür, das zum Kristall entschlossene –, daß ihm Gott mitten im Berg diese Ununterbrochenheit gibt, zu seiner Zeit?« 51  An Anita Forrer am 20.–22. März 1920. Sie hatte ihn in ihrem Brief vom 20. II. 1920 gefragt: »Glauben Sie an ein Leben nach dem Tode, Rainer? Glauben Sie an Gott, Rainer […]?« 52  Die Passage trägt den Vermerk: »Im Manuskript an den Rand geschrieben.« 53  Heinrich Bornkamm: Luthers geistige Welt,317. 54 Diese »Bestimmungen« legte Rilke seinem Brief vom 29.10.1925 an Nanny Wunderly-Vokart bei (NWV II, 1192 f.). Zu diesen »Bestimmungen« 66  |  august stahl 

und zu Rilkes Testament s. die Arbeit von Imre Kurdi: Reden über den Tod hinaus. Untersuchungen zum ›literarischen‹ Testament, 257–282; zu Luthers Testament, 72–84. Kurdi versteht die »Verfügungen des Dichters über seine Grabstätte« als Zeichen des Wunsches, »diese als Sehenswürdigkeit mit ästhetischen Reizen auszurichten« (263). 55  Heinrich Bornkamm: Luthers geistige Welt, 317. 56  SW VI,1111–1127, entstanden zwischen dem 12. und 15. Februar 1922, Muzot. 57  NG II, entstanden in Paris, vor Juli 1908, SW I,583 f. 58  1. Mose, 3, 17–24 (Genesis), zitiert nach der Übersetzung Luthers. 59  Reiner Luyken: Oliver, 21, niedergestochen und gelähmt, 16: »Nazneen, die Heldin im Roman Brick Lane, fasziniert Annabel. Sie hofft, dass Nazneen den Menschen ein Vorbild sein könne: Wenn doch nur mehr Leute aus ihrem beengten Leben ausbrechen und sich eine selbstbestimmte Welt erschaffen würden.« Nazneen ist die Heldin des Romans Brick Lane von Monica Ali. Die Autorin wurde in Bangladesch geboren und wuchs in England auf. Andreas Freisfeld: Das Leiden an der Stadt, 117 spricht von einem »unzeitgemäßen Autonomie-Wahn«. S. a. Brigitte L. Bradley: RMRs Der Neuen Gedichte anderer Teil, Entwicklungsstufen seiner Pariser Lyrik, 85: »Rilke eliminiert den der Arbeit angehefteten Makel und betont statt dessen Adams Suche nach Selbstbestätigung.« Erinnert sei auch an Hans Blumenbergs Formulierung für die Haltung des Prometheus: »die Erzwingung der eigenen Welt gegen die schon bestehende«. Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, 545. 60  SW I,676: »sah sie hin und bat um eine Geste / und begriff nicht, dass er widersprach«. 61  1. Auflage 1860, 13. Auflage, Stuttgart 1921. Zitat 99. 62  Paul Sabatier: Vie de Saint François d’Assise, 27. 63  Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, 219. 64  Henry Thode: Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance, 61. 65  Der Brief des jungen Arbeiters (SW VI,1115). 66  Jacob Burckhard: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens. Band II, 184. 67  Trotzdem, SW I,35: »Manchmal vom Regal der Wand / hol ich meinen Schopenhauer, / einen ›Kerker voller Trauer‹ / hat er dieses Sein genannt.«

Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos  |  67

– Norbert Fischer –

Rilkes Zugang zur Religion Gegen die Hypothese seiner ›Immanenz-Gläubigkeit‹

Kein Jenseitswarten und kein Schaun nach drüben, nur Sehnsucht, auch den Tod nicht zu entweihn und dienend sich am Irdischen zu üben, um seinen Händen nicht mehr neu zu sein.1 »das Toten-Reich als ein einziges unerhörtes Dasein, unsere kleine Lebensfrist aber als eine Art Ausnahme davon«.2

Johann Wolfgang Goethe hat nach Hans Joachim Schrimpf seine »Abneigung gegen Orthodoxie wie gegen jede pietistische Frömmelei« in der Rezension von Friedrich Wilhelm Krummachers Predigten mit dem Titel Blicke ins Reich der Gnade »im höchsten Alter noch einmal verhalten-ironisch zum Ausdruck« gebracht; anders als Schrimpf insinuiert, urteilt Goethe sarkastisch und harsch: denn er erklärt polemisch, Krummacher spreche »wie ein ungelehrter Kirchenvater«, der meint, »der Mensch tauge von Haus aus nichts«, der »auch wohl einmal mit Teufeln und ewiger Hölle« drohe und »doch stets das Mittel der Erlösung und Rechtfertigung bei der Hand« habe.3 Die Frage, ob die Irrtümer, die das Religiöse und das Sein des Menschen betreffen, bei Goethe oder bei Krummacher liegen, darf hier strittig bleiben. Goethe nennt Krummachers Vorträge »narkotische Predigten« und attestiert ihnen eine »Be­handlungsart des Religiösen«, die sich an »in Handarbeit versunkene, materialem Gewinne hingegebene Menschen« wende, »die man eigentlich über ihre körperlichen und geistigen Unbilden nur in Schlaf zu lullen braucht«.4 Wer Goethes Polemik gegen Krummachers Predigten, die keineswegs ›verhalten-ironisch‹, sondern offen und bissig ist, als Kampf gegen ›die christliche Orthodoxie‹ betrachten wollte, könnte Goethes Haltung als ›Immanenz-Gläubigkeit‹ charakterisieren, was   |  69

im Ausgang von einer so schmalen Textbasis aber ein übertriebenes und verfehltes Unterfangen sein mag. Immerhin deutet Goethe Krummachers Auslegung der christlichen Botschaft im Sinne einer (unbiblischen) Weltverachtung, wirft ihm also eine ›Entwertung‹ der irdischen Wirklichkeit vor, die als ein Präludium der radikalen Religionskritik aufgefaßt werden kann, wie sie wenig später von Ludwig Feuerbach, Karl Marx und Friedrich Nietzsche vorgetragen und propagiert wurde.5 Ob Nietzsches Atheismus, der sich vor allem gegen die heikle These der Sin­nenfeindschaft in ›Platonismus‹ und ›Christentum‹ richtet, die wahren Intentionen der bekämpften Positionen wirklich trifft, ist indessen eine weiter reichende Frage, die hier nicht zur Debatte steht.6 Fest behauptet wird hier aber im Blick auf Rainer Maria Rilkes Dichtung, daß die Erklärung der sie tragenden religiösen Haltung als ›Immanenz-Gläubigkeit‹ verfehlt ist, also in die Irre führt.7 Rilke tritt gerade nicht in die Fußstapfen von Autoren wie Feuerbach, Marx und Nietzsche. Diese überraschende, aber unleugbare Tatsache vernebelt Joachim W. Storck, indem er sagt: »Auch der ›religiöse‹ Tenor des Stunden-Buch läßt bereits deutlich [Rilkes] ImmanenzGläubigkeit erkennen.« Zum Beleg führt er die als erstes Motto zitierte dritte Strophe eines Gedichts aus dem Buch Von der Pilgerschaft an, das Storck zudem mit einer treffenden Erläuterung versehen hat, die seiner Behauptung der ›Immanenz-Gläubigkeit‹ Rilkes allerdings die Grundlage raubt. Bei Storck heißt es: »Kein Jenseitswarten und kein Schaun nach drüben,/ nur Sehn­sucht, auch den Tod nicht zu entweihn/ und dienend sich am Irdischen zu üben,/ um seinen [Storck fügt hier – mit Recht – hinzu: »d. i. Gottes«] Hän­ den nicht mehr neu zu sein.« Zu Beginn des Gedichtes ›malt‹ Rilke das Sein von Welt, Mensch und Leben zwar zunächst so,8 als ob es die Immanenz der Lebenswelt nicht sprenge: in ihrem immanenten Horizont kommen ›Unendliches‹, ›Göttliches‹ und der auf ›Gott‹ gerichtete Glaube nämlich nicht zur Sprache. Die erste Strophe lautet: Alles wird wieder groß sein und gewaltig. Die Lande einfach und die Wasser faltig, die Bäume riesig und sehr klein die Mauern; und in den Tälern, stark und vielgestaltig, ein Volk von Hirten und von Ackerbauern. 70  |  norbert fischer 

In dieser Situation lastet die zweite Strophe den ›Kirchen‹ indirekt gewaltsame Inbesitznahme Gottes an, beklagt sie und fordert so implizit die Öffnung des Blicks für Gottes ›Tran­szendenz‹. Insoweit bezeugt dieser Text die ›Transzendenz-Gläubigkeit‹ Rilkes und kann sogar als Protest gegen eine – hier den ›Kirchen‹ angelastete – Immanentisierung Gottes verstanden werden:9 Und keine Kirchen, welche Gott umklammern wie einen Flüchtling und ihn dann bejammern wie ein gefangenes und wundes Tier, – die Häuser gastlich allen Einlaßklopfern und ein Gefühl von unbegrenztem Opfern in allem Handeln und in dir und mir.

Vor dem Horizont der immanenten Wirklichkeit, die in der ersten Strophe als gegeben dargestellt und gleichsam fraglos entfaltet wird, eröffnen die folgenden Strophen also zunehmend ›Transzendenz‹, die nur auf Grund ihrer Unfaßbarkeit als solche benannt zu werden verdient.10 Die Rede von ›Transzendenz‹ hat indessen ohne Bezugnahme auf ›Immanentes‹ keinen Sinn; und umgekehrt wird die Rede von ›Immanenz‹ ohne das Korrelat der ›Transzendenz‹ sinnlos. Was Storck mit der Behauptung von Rilkes ›Immanenz-Gläubigkeit‹ gemeint haben kann, ist unklar, und noch unklarer ist, was mit dem Satz gesagt sein soll, »der ›religiöse‹ Tenor des Stunden-Buch« lasse »bereits deutlich Rilkes Immanenz-Gläubigkeit erkennen«. Die Erklärung, wem die uns auffangenden Hände gehören, bezeugt Rilkes Transzendenzglauben, der von uns fordert, uns »am Irdischen zu üben, ›um seinen [scil. Gottes] Händen nicht mehr neu zu sein«. Der Text rührt so an ein Geflecht von Annahmen zu Immanenz und Transzendenz, das überdies auf den Kern der christlichen Trinitätstheologie in der Beziehung von Gott und Mensch weist (ohne daß Rilke dies explizit bedacht hätte – und was sogar Augustinus erst spät bemerkt hat). Rilke lebt dichtend in intensiver Beziehung zur philosophischen und theologischen Tradition. Er reibt sich nicht an vermeintlich ›ungelehrten Kirchenvätern‹, wie Goethe das im Blick auf Krummacher getan hat, um diesen bloßzustellen; vielmehr geht er tiefer, als äußere Hinweise es belegen können, auf große Gestalten der religiösen Tradition ein – zum Beispiel auf Augustinus, den Rilkes Zugang zur Religion  |  71

er selbst zuweilen als Quelle nennt und zu dem es tiefere, subkutane Beziehungen gibt.11 Immerhin hat er auch Texte verfaßt, deren Transzendenzbezug nicht sogleich klar hervor­tritt. Das dreizehnte Sonett des ersten Teils der Sonette an Orpheus, das sich zunächst und scheinbar als rein diesseitsbezogener Text lesen läßt, öffnet sich gleichwohl unableitbar Transzendentem, worauf das »riesig« am Ende deutet – und ebenso auch der in eine Frage mündende Hinweis: »Dies kommt von weit. Wird euch langsam namenlos im Munde?« Das Sonett lautet: Voller Apfel, Birne und Banane, Stachelbeere … Alles dieses spricht Tod und Leben in den Mund … Ich ahne … Lest es einem Kind vom Angesicht, wenn es sie erschmeckt. Dies kommt von weit. Wird euch langsam namenlos im Munde? Wo sonst Worte waren fließen Funde, aus dem Fruchtfleisch überrascht befreit. Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt. Diese Süße, die sich erst verdichtet, um, im Schmecken leise aufgerichtet, klar zu werden, wach und transparent, doppeldeutig, sonnig, erdig, hiesig ‒: O Erfahrung, Fühlung, Freude ‒ riesig!

Sogar der reine Daseinsjubel der ungetrübten Lebensfreude, die sich noch nicht – getroffen von Leiden, Liebe und Tod – zu Sehnsucht und Klage getrieben weiß, verharrt nicht in der bloßen Immanenz, in der sie sich vorfindet. Vielmehr weckt er schon ›Ahnungen‹, die ›namenlos‹ und ohne Worte auf ›Anderes‹ weisen, das offenbar transzendent bleibt – aber so, daß die irdische Wirklichkeit doppeldeutig und das Jenseitige im Diesseitigen »wach und transparent« (regsam und durchscheinend) wird. Auch in Rilkes Festhalten an der von Nietzsche propagierten ›Treue zur Erde‹, die ja biblisch und christlich fundiert ist, bleibt der Transzendenzbezug wirksam.12 Rilkes (wie Augustins) Kernimpuls läßt sich als ›Suche nach dem wahren Leben‹ begreifen.13 Diese Suche geht bei beiden Auto72  |  norbert fischer 

ren, die übrigens beide von ›schwierigen‹ Müttern begleitet waren, nicht von ›entworfenen‹ Vorstellungen aus, also nicht von ›Selbst­ geworfenem‹ (wie Rilke sagt), sondern vom faktischen Leben, ineins mit dem Blick auf Leiden, Liebe und Tod.14 Rainer Maria Rilke hat Augustinus schon 1902, nämlich am Beginn seiner Rodin-Monographie, beiläufig in einer Weise zitiert, die tiefe Vertrautheit voraussetzt und auf innere Verwandtschaft mit Augustinus weist, im Blick auf eine »Kindheit in Armut, dunkel suchend und ungewiß«.15 Diese Verwandtschaft tritt besonders klar im Vergleich zu den von Rilke zitierten Confessiones Augustins hervor, die in der philosophischen und theologischen Augustinus-Rezeption über viele Jahrhunderte eine mindere Rolle spielten und danach oft unsachgemäß ausgelegt wurden.16 Im folgenden ersten Unterabschnitt wird eine Klärung des Sinns von Rilkes Sprechen zu Gott hin versucht; im zweiten Abschnitt werden als Hauptthemen der Dichtung Rilkes (aber auch als Grundlage aller Religion) ›Leiden‹, ›Liebe‹ und ›Tod‹ ins Auge gefaßt; der dritte Teil hat schließlich Rilkes Auslegung des Gottesbezugs des menschlichen Seins zum Thema, aber auch die persönlichen Motive seiner Zurückweisung einiger Besonderheiten des christlichen Glaubens. Das zweite, anfangs vorangestellte Motto (»das Toten-Reich als ein einziges unerhörtes Dasein, unsere kleine Lebensfrist aber als eine Art Ausnahme davon«) weist darauf, daß Rilke sich nicht in einer unversöhnlichen Gegenstellung zum christlichen Glauben hält, sondern eine Deutung des Lebens sucht, die auch den Tod vom Leben umfangen sieht, nicht nur das Leben vom Tod. Nur darum kann er den Tod noch im eigenen, qualvollen Sterben anerkennen und sein Kommen bejahen, ihn in einer äußersten Demut begrüßen und seinen Schrecken annehmen (KA 2,412): »Komm du, du letzter, den ich anerkenne,/ heilloser Schmerz im leiblichen Geweb«.17 1. Vorüberlegungen zum Sinn von Rilkes Sprechen zu ›Gott‹ und von ›Gott‹ Rilke hat mit dem Stunden-Buch ein Werk verfaßt, das fast durchweg im Stil der Anrede Gottes geschrieben ist (wie Augustins Confessiones) und unter dem Titel Gebete veröffentlicht wurde.18 Die Rilkes Zugang zur Religion  |  73

Anrede Gottes, die im Beten, das Kindern mühelos gelehrt wird und das Rilke gelernt hat,19 alltäglich ist, zeigt sich der genaueren Betrachtung als Vorhaben, das der höchsten denkbaren Herausforderung menschlichen Sprechens überhaupt ausgesetzt ist, nämlich als vertrauensselige Rede im Angesicht dessen, dem – so nehmen Betende an – nichts verborgen ist, dem auch nichts verheimlicht werden kann, den Augustinus als ›inspector cordis‹ benennt (im Anschluß an das Wort καρδιoγνoστήϛ aus der Apostelgeschichte, das Martin Luther mit ›Herzenskündiger‹ übersetzt hat).20 Diesem ungeheuren, ›transzendenten‹ Anspruch stellt sich Rilke bewußt, indem er im Stunden-Buch erklärt: »Und ich will meinen Sinn/ wahr vor dir.«21 Solche Willigkeit zur Wahrheit mag im Blick auf die Gottesfrage zwar unausweichlich sein, entpuppt sich angesichts ihres ›Gegenstandes‹ aber als unerfüllbar, da die ›unendliche‹ Aufgabe der Wahrheitssuche die Kraft des seiner Endlichkeit bewußten Men­ schen gänzlich übersteigt. Da Rilke sich trotz der Hürden auf das Sprechen zu und von Gott einläßt, spielt das ›dennoch‹ bei ihm (wie das ›tamen‹ bei Augustinus) eine wichtige Rolle, die noch zu bedenken sein wird. Die Rede von ›Gott‹ war schon immer schwierig, was nicht erst in der Neuzeit bemerkt, sondern durch die ›dogmatische Metaphysik‹ des neuzeitlichen Rationalismus vielmehr verdeckt wurde. Kants ›kritische Metaphysik‹ war insofern die fällige Rückkehr zu vorneuzeitlichen Ein­sichten. Von Hindernissen umstellt war die Rede von ›Gott‹ von Anbeginn, was die großen philosophischen und biblischen Zeugnisse belegen, die von solchem Sprechen überliefert sind.22 Damit steht Rilke, trotz der durch Feuerbach, Marx und Nietzsche verschärften Situation, in der Tradition unmittelbarer ›Anrede Gottes‹, die von der abendländischen Denkweise geprägt ist. Rilke bewegt sich – entgegen dem glaubensfeindlichen Umfeld seiner Zeit – auf einem Gebiet, das Kant als ›Platz zum Glauben‹ wiedereröffnen wollte und mit dem Kant, ohne es ausdrücklich erstrebt zu haben, auch den lebendigen Zugang zur vorneuzeitlichen philosophischtheologischen Tradition, der durch entgegengesetzte Dogmatismen verschüttet war, neu belebt hat.23 Bemerkenswert ist als unbeabsichtigte Nebenwirkung der Kritik Kants das Anwachsen des Interesses an der Philosophie Platons ebenso wie deren Anerkennung durch 74  |  norbert fischer 

die Neukantianer.24 Selbst Nietzsche betritt den von Kant eröffneten ›Platz‹ und erklärt zum Begreifen des Schönen: »Die Be­re­chen­bar­keit der Welt, die Aus­drück­bar­keit alles Gesche­ hens in For­meln – ist das wirk­lich ein ›Be­grei­fen‹? Was wäre wohl an ei­ner Musik be­grif­fen, wenn alles, was an ihr bere­chen­bar ist und in Formeln abge­kürzt wer­den kann, be­rechnet wäre?«25

Nietzsche weiß sogar um das Gegengift gegen den von ihm propagierten Atheismus, das schon bei Kant zu finden ist. Er sagt (Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum 10; vgl. KSA 6,176): »Woher das Frohlocken, das beim Auftreten Kants durch die deutsche Gelehrtenwelt gieng, die zu drei Viertel aus Pfarrer- und Lehrer-Söhnen besteht –, woher die deutsche Überzeugung, die auch heute noch ihr Echo findet, dass mit Kant eine Wendung zum Besseren beginne? Der Theologen-Instinkt im deutschen Gelehrten errieth, was nunmehr wieder möglich war…«.

Wie Kant, der in der kritischen Metaphysik das ›Wissen des Nichtwissens‹ im Blick auf Gott und die Notwendigkeit des ›Glaubens‹ anerkennt, dem er ›Platz‹ schaffen wollte, setzt Rilke bei existenziellen Grundlagen des Glaubens an und gibt der Philosophie damit Stoff zum Denken.26 Gewiß ist Rilke kein ›Philosoph‹ – und noch weniger ein (christlicher) ›Theologe‹ –, sondern ein ›Dichter‹, dem es in aller Radikalität um die Wahrheit der Existenz ging, wie sie unmittelbar begegnet und gesehen werden kann. Als seine schicksalhaft übernommene Aufgabe nannte er: »In Wahrheit singen« (SO I 3) – vor und jenseits dogmatischer Fixierung von ›Glaubenssätzen‹. Von ›Orthodoxie‹ und ›Heterodoxie‹ im Blick auf Rilkes Dichtung zu reden, was von entgegengesetzten Standpunkten aus versucht worden ist, ist also prinzipiell unsachgemäß.27 Rilke knüpft gewiß an »die Selbstreflexivität des modernen Bewußtseins« an, »das sich selbst weiß und das sich selbst zum Gegenstand wird, sich gegenübertritt, mit sich selbst uneins ist«; aber Rilke weiß auch um die Begrenztheit und Unabschließbarkeit »des Fragens des Subjekts nach sich selbst, nach seinem Dasein in der Welt, nach dem Sinn seiner Existenz«28 und erschließt sich damit (wie Kant es auf dem Gebiet der Philosophie getan hatte) im Ansatz den Zugang zu den Fragen und Antworten der religiösen und auch Rilkes Zugang zur Religion  |  75

der vorneuzeitlichen Tra­dition, ohne sich voreilig und unbedacht auf den Streit um ›Orthodoxie‹ und ›Heterodoxie‹ einzulassen. Sogar der Kirchenvater Augustinus hatte zur ›Trinität‹, die gewiß Bestandteil der ›Orthodoxie‹ war, lange geschwiegen, bis ihn innere Beweggründe zum Denken und Sprechen drängten.29 Dem Schriftsteller Augustinus vor De trinitate deshalb ›Heterodoxie‹ anzulasten, wäre verfehlt. Und der ›Dichter‹ steht eben nicht vor der »Aufgabe der Bestimmung Gottes und des Subjekts«: zwar ist es sachgemäß, die »Polarität von Subjekt und Gott« zu betonen; aber vom »Begriff ›Gott‹« zu reden, ist – im Sinne Augustins wie im Sinne Rilkes – ein verfehltes Unterfangen.30 Die Einsicht, daß wir (nach unserem existenziell erfahrenen Durchgang durch Leiden, Liebe und Tod) zu wahrer Selbsterkenntnis und endgültigem Daseinsjubel unfähig sind,31 treibt uns in ihrer Negati­vität zur Idee eines ›Herzenskündigers‹; sie lockt uns unversehens zur Anrede Gottes.32 Der Spur der auferlegten und bejahten radikalen Wahrhaftigkeit folgend legte Augustinus seine Bekenntnisse in einem doppelten Sinn vor, der sich in einen vierfachen Sinn entfalten läßt.33 Augustinus scheint dabei schon von Motiven bewegt zu sein, die Martin Heidegger (gerade auch im Zusammenhang mit seiner frühen Augustinus-Vorlesung) zur Ausarbeitung einer ›Phänomenologie des faktischen Lebens‹ getrieben haben, wie sie ausgearbeitet in Sein und Zeit vorliegt.34 Rilke hat sich selbst nicht nur (wie Augustinus) als ›ruheloses Herz‹ bezeichnet, sondern – im Ton der ›Klage‹ – sogar als ›wildes Herz‹, in dem ›obdachlos die Unvergänglichkeit‹ nächtige. Seine Weise, die Aufgabe des Dichtens zu übernehmen, sperrt sich so gesehen gegen Versuche, seine Texte an einem dogmatisch fixierten theologischen System zu messen, wogegen sich in ähnlicher Weise viele Denker gewehrt haben – z. B. Heidegger im berühmten Brief an Engelbert Krebs –35 was aber weder für Heidegger noch für Rilke zur Folge hatte, daß sie sich von der Sache der Religion abgewandt hätten. Noch weniger aber bedeutet es, daß sie in ›ImmanenzGläubigkeit‹ verfallen wären. Dogmatische Fixierungen finden sich jedoch nicht nur in positiven, religiös oder gar kirchlich geprägten Glaubensformen, sondern auch in dem ihnen ›widerstreitenden Unglauben‹, der nach Kant »jederzeit gar sehr dogmatisch ist«, was Kant motiviert hat, »allen Einwürfen wider Sittlichkeit und Religion 76  |  norbert fischer 

auf sokratische Art, nämlich durch den klärsten Beweis der Unwissenheit der Gegner, auf alle künftige Zeit ein Ende zu machen.«36 Das Ansinnen von ›Forschern‹, Denkern oder Dichtern ›Orthodoxie‹ oder ›Heterodoxie‹ anzu­hängen, sei es in Billigung oder in Ablehnung von deren Texten, ist ein verfehltes Unterfangen. ›Orthodoxie‹ und ›Heterodoxie‹ sind der gemeinschaftlichen Formulierung einer Glaubenslehre verpflichtet und haben auch juridische Funktionen, sind aber keine Kategorien oder Kriterien, an denen sich die von Denkern und Dichtern gesuchte ›Wahrheit‹ messen oder prüfen ließe. Wer zu »Rilkes Gottesbegriff« spricht und behauptet, er sei »in vielfältiger Weise heterodox«,37 verfehlt prinzipiell die Möglichkeit menschlichen Sprechens von Gott, das nicht zu Begriffen führen kann, und auch den möglichen Sinn des Sprechens von Orthodoxie und Heterodoxie. Wenn immer menschliches ›Begreifen‹ mit ›Definitionen‹ (Eingrenzungen) arbeitet, Gott aber (anders als unser Denken) nicht als begreifbare endliche Größe zu verstehen wäre, könnten wir uns Gott denkend nur nähern, indem wir die unserem Denken anhaftende Endlichkeit beachten. In diesem Sinne sagt Augustinus, den man bei allem Theologenstreit in anderen Fragen in diesem Punkt eindeutig für ›orthodox‹ halten darf, in einer Predigt (sermo 117,5): »de deo loquimur, quid mirum si non comprehendis? si enim comprehendis, non est deus. sit pia confessio ignorantiae magis, quam temeraria professio scientiae. attingere aliquantum mente deum; magna beatitudo est: comprehendere autem, omnino impossibile.«

Zu übersetzen wäre: ›Von Gott sprechen wir: was wunders, wenn du nicht begreifst? Wenn du nämlich begreifst, ist es nicht Gott (was du begreifst). Ehrenhaft ist demnach mehr das Bekenntnis des Nichtwissens als die unbedachte Behauptung des Wissens. Gott ein wenig im Geiste zu berühren, ist eine große Seligkeit: ihn aber zu begreifen, ist völlig unmöglich.‹ Rilke denkt und spricht eher im Geiste dieses Kirchenvaters als im Geiste zeitgeistiger Interpreten, die meinen, bestimmen zu können, welche Aussage für ›orthodox‹ und welche für ›heterodox‹ zu halten ist. Fragen von Orthodoxie und Heterodoxie sind nicht von außen zu entscheiden, sondern betreffen stets Glaubensaussagen (›sym­bola fidei‹), die zudem mit der Verantwortung von Institutionen verbunden sind, die zugleich Rilkes Zugang zur Religion  |  77

auf die Lebenswahrheit und den ›sensus fidelium‹ achten müssen. Wer als Ungläubiger von ›Orthodoxie‹ und ›Heterodoxie‹ redet, schleicht sich unbemerkt und unerlaubt in eine Kommunikationsgemeinschaft ein und fungiert dort usurpatorisch als Inquisitor – es sei denn, er erhebt unbewußt und verdeckt den Anspruch, zur ›Catholica‹ zu gehören. Besonders auffällig ist, wie Manfred Engel über »Rilkes Gottesbegriff« und über ›Orthodoxie‹ und ›Heterodoxie‹ seiner Dichtung urteilt, ohne zu bedenken, zu hinterfragen oder zu erklären, was ein ›Begriff‹ im Blick auf ›Gott‹ bedeuten könnte, und ohne ›Rilkes ›Gottesbegriff‹ konkret und bestimmt zu bezeichnen und so eine sachgemäße Diskussion dieses ›Begriffs‹ zu eröffnen.38 Dabei zielt Engel wohl darauf (jedoch ohne konkrete Belege), die religiöse und theologische Auslegung Rilkes, die teilweise problembeladen ist, prinzipiell als unsachgemäß zu erweisen.39 Nach Engel ist die »Rezeption des Stunden-Buches anscheinend wesentlich durch seine fingierte Gattungszugehörigkeit geprägt«, was Fehleinschätzungen begünstigt habe (736). Zu der von ihm für irrig gehaltenen, mit Schwierigkeiten belasteten Deutung des Stunden-Buchs sagt er (ebd.): »Generationen von Lesern – aber auch von Theologen – haben in ihm in der Tat eine Art von Laienbrevier gesehen und ihren Autor zum unermüdlichen Gottsucher, zum großen ›homo religiosus‹ stilisiert.« Obwohl Guardinis und Engels gegensätzlich motivierte Kritik auch zutreffende Motive enthalten, sind sie aus unterschiedlichen Gründen ebenso problembeladen. In einer (nicht polemisch gemeinten) Umkehrung im Titel des erwähnten Beitrags von Wolfgang Braungart wäre zu sagen, der Dichter Rilke sei als ›Schreiber‹ ein ›Maler‹ (vgl. Anm. 8). Rilke geht es in der Dichtung zwar um Wahrheit, aber nicht um deren philosophische Reflexion, die eben die Wahrheit des Seienden im Ganzen und im Höchsten umfassend zu bedenken hätte. Rilke selbst beharrt auf dem genannten Anspruch: »Und ich will meinen Sinn/ wahr vor dir«40 – gibt sich aber nicht den Anschein, die Wahrheit im Allgemeinen und im Höchsten zu wissen. Rilkes Dichtung ist nicht in Verse gefaßte Metaphysik oder Theologie, sondern Verdichtung von Erlebtem und Gesehenem, das uns die Bejahung des Lebens ermöglicht – im Blick auf Motive, die der Dichter für entscheidend hält, also im Blick auf ›Leiden‹, ›Liebe‹ und ›Tod‹. 78  |  norbert fischer 

Karl-Josef Kuschel beginnt seine Darstellung von Rilkes ›Metamorphosen des Religiösen‹ mit dem Hinweis: »Am Anfang stand – Gott sei es geklagt – ein bestimmter Typus von Mutter!«41 Psychologisierungen von Rilkes Problemen mit ›der Religion‹ sind zwar beachtenswert, aber nicht als endgültige Aussage, zumal Rilke schon früh auf die Sache zuging und sich anfangs als ›Antichrist‹ und ›Atheist‹ zu erkennen gab, zum Beispiel im Glaubensbekenntnis von 1893.42 Beachtenswert ist einerseits Rilkes schon früh hervortretender Wille zur Wahrheit, der auch vor scheinbar lästerlichen Gedanken nicht zurückschreckt und sich nicht Frömmlichkeiten hingibt, wie sie der junge Pfarrersohn Nietzsche zunächst in kindlichem Überschwang vorgetragen hat.43 Kuschel nimmt an, daß Rilke nach »dem Zusammenbruch der Welt des Prager Katholizismus« zunächst Ersatzideologien gesucht und sich mit Astrologie und Spiritismus beschäftigt habe, bevor er in den Christus-Visionen zu einem anderen Christus-Bild gelangt sei.44 ›Gott‹ und die Beziehung zu ihm in der ›Religion‹ sind für Rilke lebenslang in immer neuen Transformationen sein vielleicht wichtigstes Thema geblieben – und eben das belegt seine bleibende Überzeugung von der Unfaßbarkeit und Transzendenz der mit ›Gott‹ angesprochenen Wirklichkeit, bei der er sich von unterschiedlichen Tradition anregen, aber von keiner doktrinal bestimmen läßt. Mit Recht sieht Günther Schiwy in Rilke vor allem den ›Gottsucher‹ – trotz der für solches Suchen ungünstigen Epoche und trotz Rilkes Beginn in der ›religiösen Scheinwelt der Mutter‹.45 Angesichts des skizzierten Horizonts erweist sich die Rede von der ›Immanenz-Gläubigkeit‹ Rilkes als schreckliche Verharmlosung, die den leitenden Antrieb von Rilkes Dichtung verfehlt. Rilke wußte zwar – wie Augustinus – um die Gefahren des ›Suchens‹, weil behauptete ›Funde‹ dann leicht als Projektion der Wünsche des Suchenden denunziert werden können, als »Selbstgeworfnes« (KA 2,195), und damit in der Bedeutungslosigkeit des bloß Immanenten versinken. Schon Augustinus hielt die Annahme, Gott sei in der ›memoria‹ zu finden, für nicht zielführend: er berichtet er von der biblischen Erzählung zur Frau, die eine Drachme suchte und nur finden konnte, weil sie deren Aussehen im Gedächtnis hatte (conf. 10,27). Im Blick auf Gott aber erklärt er nüchtern, den Suchenden niederdrückend, Gott sei zunächst nicht in seinem Gedächtnis geRilkes Zugang zur Religion  |  79

wesen (conf. 10,37): »neque enim iam eras in memoria mea, priusquam te discerem.« Dennoch bleibt Augustinus bei der Aufgabe, Gott zu suchen – in der Hoffnung, daß Gott sich ihm am Ende von sich selbst her zeigen werde, in einer Inversion der Aktivität des Suchenden. Dieses Sichselbstzeigen Gottes ist in den Confessiones die Lösung der Aufgabe der Gottsuche.46 »Statt eines Nachworts« weist Schiwy auf die Tatsache hin, daß Rilke sich von seiner frühen Zeit an, seit dem ersten Teil des Stunden-Buchs (Die Gebete), selbst »als Gottsucher bekennt«.47 Dort heißt es (KA 1,189): »Du siehst, daß ich ein Sucher bin.« Obwohl Rilke wie Augustinus wußte, daß eigenmächtiges Suchen im Blick auf Gott keine Aussicht auf Erfolg bietet, da auf diesem Weg nur Selbstgeworfenes gefangen wird, gibt er die Suche nicht auf und bleibt Sucher. Diese Hartnäckigkeit hatte bei Augustinus ihren Grund in der gläubigen Annahme, daß es einen Sinn der Suche auch unabhängig von deren Erfolg gibt. Augustinus spricht ein Psalmwort nach (Psalm 21,27), laut dem schon die Wesen ›Gottt loben‹, die ›ihn suchen‹ (conf. 10,70; vgl. 1,1): »et laudant dominum, qui requirunt eum.« Eben in diesem Sinn ist Rilkes Wort in einem späten Brief an Ilse Jahr zu verstehen (vom 22.3.1923): »Statt des Besitzes erlernt man den Bezug«.48 Inbesitznahme führt zu Immanentisierung, Aneignung; Verzicht öffnet sich der Transzendenz. Rilkes Sprechen von Gott hat nichts mit ›Immanenz-Gläubigkeit‹ zu tun, sondern ist – bis zur Entsagung – vom Bewußtsein der Transzendenz und der Unfaßbarkeit Gottes bestimmt. 2. ›Leiden‹, ›Liebe‹ und ›Tod‹ als Hauptthemen der Dichtung Rilkes – und der Religion Nähme man mit Ulrich Fülleborn an, Rilke hätte im Stunden-Buch zunächst eine »Gottkreation« im Sinne gehabt, diese aber später »als eine besitzergreifende Anmaßung« zurückgewiesen, dann hätte er seine eigenen frühen Suchbewegungen im Blick auf ›Gott‹ später kritisch ins Auge gefaßt, hätte also eingestanden, die Gottsuche am Anfang unangemessen betrieben zu haben.49 Jedem, der ›Gott‹ mit dem Eingeständnis seiner eigenen Endlichkeit sucht, zerrinnt das Bewußtsein, auf dem Feld des Unendlichen etwas ›besitzen‹ zu können: denn ›der Unendliche‹ bleibt ›transzendent‹, solange der 80  |  norbert fischer 

Suchende bei der Sache bleibt und sich keine Chimäre vorgaukelt. Rilke ist sich des ungeheuren Vertrauens, das die Grundlage jedes lauteren Gebetes ist, deutlich bewußt, mehr als seine Interpreten, die über ›das Beten‹ zu Gott und über Rilkes Gebete reden. In seinem Brief vom 5. Januar 2010 an die venezianische Freundin Mimi Romanelli heißt es: »Prié – : vers qui? Je ne peux pas vous le dire. La prière est un rayonnement de notre être soudainement incendié, c’est une direction infinie et sans but, c’est un parallélisme brutal de nos aspirations qui traversent l’univers sans aboutir nulle part. Oh que je me sais ce matin loin de ces avares qui, avant de prier, demandent si Dieu existe.«50

Rilke sieht sich dem ›Gebet‹ geneigt, weiß dessen Adressaten aber nicht zu nen­nen, nennt es ein Ausstrahlen unseres Seins, plötzlich in Brand gesteckt als unendliche Bewegung, ohne intendiertes Ziel: entsprechend unseren Atemzügen, die das All durchqueren, ohne es zu erreichen.51 Diese Reflexionen münden in einen Ausruf im Stil des Malte Laurids Brigge: ›wie fern war ich an diesem Morgen den Geizigen, die, bevor sie beten, zu wissen wünschen, ob Gott existiert.‹52 Daß ›Gott‹ nicht wie ein ›Gegenstand‹ geliebt werden kann, ist ein Gedanke, der zum Beispiel im Denken des ›Kirchenvaters‹ Augustinus53 und des ›Mystikers‹ Meister Eckhart hervortritt. Augustinus, der mit Recht als ›doctor gratiae‹ bezeichnet wird, sofern die ›gratia‹ als Begleiterscheinung der göttlichen Liebe (›caritas‹) zu verstehen ist,54 die vom Geliebten – also dem von Gott Geschaffenen – nicht Besitz ergreift, sondern es frei läßt, war ein wichtiger Anreger Rilkes. In den Confessiones nennt der Kirchenvater, dessen Denken um göttliche Liebe kreist, seine ›Liebe zur Liebe Gottes‹ zweimal als das ihn treibende Motiv: »amore amoris tui facio istuc.«55 Augu­stins Liebesgedanke zeichnet sich besonders dadurch aus, daß Liebe nicht erfolgsorientiert sein darf, sondern sich dem Geliebten um des Geliebten willen (im ›gratis diligere‹) zuwendet. Den von Augustinus gedachten Sinn der Liebe Gottes, die sich der Geschöpfe nicht bemächtigt, hat später Kant aufgegriffen, der annimmt, daß Gott ein höchstes Gut in der Welt ermöglicht.56 Mit diesem schon bei Platon anzutreffenden Gedanken, den Augustinus vertieft und den Kant verschärft hat, erlangt die ›Freiheit‹ – auch als ›Freiheit gegen Gott‹ – konstitutive Bedeutung.57 Und diese schwieRilkes Zugang zur Religion  |  81

rige Freiheit muß zugleich auf die ›Gnade‹ Gottes bezogen werden können. Rilke hat sich zunächst von den Fesseln der Konventionen befreit, um den Blick für die Wirklichkeit des faktischen Lebens, das von Leiden, Liebe und Tod bestimmt ist, frei zu bekommen. Dieses Leben, das noch nicht verstanden ist, unser Gemüt aber tief bewegt, das Rilke besingen und als Ganzes bejahen will, ist mit seinen Phänomenen gewiß der Wurzelgrund, aus dem alle Religion erwächst; aus ihm entspringen aber auch Motive, die sich gegen faktische Ausgestaltungen der Religion richten können – was bei Rilke zum Beispiel in den Christus-Visionen oder auch in den Geschichten vom lieben Gott hervortritt, manchmal in grotesker Weise. Festzuhalten ist das sachliche Problem, das Philosophen und Theologen wie Platon und Augustinus zur Frage bewegt hat, wie Gott als Schöpfer von Menschen gedacht werden kann, deren Vernunft zur Suche nach Erkenntnis (bei bleibendem Wissen des Nichtwissens) und deren Willen zu verantwortlicher Hervorbringung von Gutem und Schlech­tem (=Bösem) befähigt ist. Eine Glaubensform, die dieses ›Problem‹ (diese ›notwendige, theoretisch unlösbare Aufgabe‹) übergeht und vom Menschen nur Unterwerfung fordert, wäre für Rilke unakzeptabel gewesen. Wer sich den Phänomenen von Leiden, Liebe und Tod öffnet, ist auf ›Religion‹ verwiesen, sofern unter Religion die Beziehung zu dem Ursprung zu verstehen ist, aus dem wir leben. Sofern wir das Leben, in das wir ungefragt und ungewollt gekommen sind, bejahen wollen, geht es auch um die Bejahung dessen, was uns auf den ersten Blick in die Verneinung treiben könnte. Daß Leiden uns zur Verneinung treiben können, wissen alle Menschen besser, als sie möchten.58 Rilke äußert sich zu diesem Thema allerdings sehr vorsichtig: »Nicht sind die Leiden erkannt«; er läßt damit ausdrücklich offen, was die Leiden für unsere Stellungnahme zum Leben bedeuten. Daß ›Liebe‹ überhaupt uns fasziniert und die ersehnte Zustimmung zum Leben befördert, wird zwar vorausgesetzt, aber mit einer kühlen Bemerkung versehen: »nicht ist die Liebe gelernt«. Was uns zur Liebe lockt, was uns an ihr reizt, ist uns unbekannt: es bleibt uns vorerst verborgen. Am wenigsten haben wir eine Antwort auf die Frage nach dem ›Tod‹, dessen Sein und Sinn uns als ein unfaßbares Geheimnis begegnet: »und was im Tod uns 82  |  norbert fischer 

entfernt, ist nicht entschleiert.« Schon im Stunden-Buch hat Rilke implizit zwischen ›kleinem‹ und großem Tod unterschieden. Rilke hinterfragt dort die scheinbar endgültige Bedeutung des Todes (KA 1,175): Ich kann nicht glauben, daß der kleine Tod, dem wir doch täglich übern Scheitel schauen, uns eine Sorge bleibt und eine Not. Ich kann nicht glauben, daß er ernsthaft droht; ich lebe noch, ich habe Zeit zu bauen: mein Blut ist länger als die Rosen rot.

Trotz dieses ›Unglaubens‹, der die Gültigkeit der faktischen, immanenten Wirklichkeit in Zweifel zieht, folgt diesem Gedicht, das dem Gedanken an den Tod seine Schwere nehmen zu wollen scheint, ein Gedicht, das gleichsam die Frage nach dem ›großen Tod‹ stellt und diesen Tod zum entscheidenden Problem Gottes – sozusagen auf Leben und Tod – macht (KA 1,176): Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?) Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?) Bin dein Gewand und dein Gewerbe, mit mir verlierst du deinen Sinn. […] Was wirst du tun, Gott? Ich bin bange.

Die Antwortlosigkeit der Gottesfrage erweist die Transzendenz der gesuchten Antwort, ist also kein Beleg für die unklare, zudem modische Meinung, Rilke ›denke‹ Gott »nicht personal, sondern als ganz und gar immanent, als Gott der Erde, der ›Tiefe‹ und des ›Dunkels‹« – »nicht als personal, sondern als Grund des Lebens, als in allem Werden und Vergehen pulsierende elementare Kraft und Bewegung, etwa als Wachsen des Baumes und das Wehen des Windes.«59 Rilke selbst suggeriert in seiner Dichtung gerade nicht, die erwünschte Klarheit gültiger Antworten im Immanenten gefunden zu haben, sondern sucht trotz alles kläglichen Scheiterns »immer von neuem die nie zu erreichende Preisung« (DE 1,40; KA 2,202). Rilkes Zugang zur Religion  |  83

Angesichts des unweigerlich herannahenden Todes wird nicht nur dem Dichter Rilke bange. Rilkes dichtet unter dem Leitwort: »in Wahrheit singen« – in der Hoffnung, daß die Wahrheit uns am Ende zur Bejahung des Lebens führt: »Einzig das Lied überm Land/ heiligt und feiert.« Die ›Leiden‹, die wir nicht erkannt haben, die ›Liebe‹, die wir nicht gelernt haben, der ›Tod‹, der uns als undurchdringliches Geheimnis begegnet, waren stets Hauptthemen der Religion, und besonders ausdrücklich der Botschaft des christlichen Glaubens, die Rilke zwar nicht einfach für sich übernimmt, die er aber immer wieder nennt und vergegenwärtigt, um deren Wahrheit er unablässig ringt, zuweilen jedoch in Gegenstellung – und manchmal auch gewürzt mit Ironie.60 Daß ein Dichter wie Rilke in religiösen Fragen vom Zeitgeist, der am Ende des 19. Jahrhunderts auch von Nietzsche bestimmt war, nicht unbetroffen geblieben ist, kann nicht verwundern.61 Erstaunlich und bemerkenswert ist vielmehr, wie wenig Rilke sich schon bald um den Zeitgeist und verdorbene Religionsauffassungen scherte, sondern für große religiöse Texte offen blieb.62 Das Stunden-Buch sticht zunächst schon dadurch hervor, daß es als Anrede Gottes (Proslogion) konzipiert ist, nämlich in der literarischen Form, die in herausragender Weise durch Augustins Confessiones bekannt ist (was die Rilke-Forschung nicht genügend wahrgenommen hat).63 Am Anfang der »›Auftaktgedichte‹«, als die Manfred Engel die Gedichte Aus dem Nachlaß des Grafen C.W. bezeichnet (vgl. KA 2,567), steht wohl das Gedicht Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben (KA 2,177 f.; hierzu KA 2,564). Rilke berührt hier Gedanken aus dem Prooemium der Confessiones, das er selbst übersetzt hatte (vgl. SW VII,926–961) und greift Motive aus dem elften Buch der Confessiones mit Augustins hoch bedeutender Untersuchung des ›Seins der Zeit‹ auf. Es ist ein klares Defizit der Rilke-Forschung, wenn die offenkundigsten Anknüpfungen Rilkes an Augustinus und die große Tradition übersehen, vernachlässigt oder gar ignoriert werden.64 Am Anfang von Rilkes Wiederaufnahme seiner Arbeit an der ›gültigen Dichtung‹ steht folglich Augustinus – mit einer intimen, das Zentrum von Augustins Denken betreffenden Anknüpfung. Und die in der Rilke-Forschung übersehene Nähe zu Augustins wird umso bemerkenswerter, wenn sich die Gedichte Aus dem 84  |  norbert fischer 

Nachlaß des Grafen C.W. wirklich »auf verblüffend genaue Weise als Parallelprojekt zu den Duineser Elegien und den Sonetten« erweisen (KA 2,568). Die erste Strophe, deren Frage an den Anfang des elften Buches von Augustins Confessiones anklingt, lautet (KA 2,177): Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben! Sie zu halten, wäre das Problem. Denn, wen ängstigts nicht: wo ist ein Bleiben, wo ein endlich Sein in alledem? –

Augustinus beginnt die Untersuchung der Zeit im elften Buch der Confessiones mit der ihn beängstigenden Frage, ob Gott in seiner Ewigkeit »denn nicht zur Kenntnis« nehme, was der Autor ihm sagt, oder ob er »gar für flüchtig und nichtig« ansehe, »was in der Zeit geschieht«.65 Augustinus, der vor der Flüchtigkeit und Nichtigkeit des Zeitlichen zurückschreckt, sucht in der Zeitabhandlung die Entflüchtigung des Zeitlichen, findet sie in einem ersten Schritt in der ›distentio animi‹ (conf. 11,33–39), sieht sich am Ende aber auf ›Gott‹ verwiesen (conf. 11,40). Auch Augustinus hatte angesichts der ›Flüchtigkeit‹ und ›Nichtigkeit‹ des Zeitlichen also ein »Bleiben« gesucht, »ein endlich Sein in alledem«, wie Rilke am Ende der ersten Strophe sagt. Augustins Sprechen von unserem ›ruhelosen Herzen‹ (conf. 1,1: »inquietum cor nostrum«) findet sich gesteigert bei Rilke, indem er von ›seinem wilden Herzen‹ spricht, in dem – jedoch »obdachlos« – »die Unvergänglichkeit« ›nächtige‹. Wie Augustinus über weite Strecken des elften Buches versucht, durch eigene Tätigkeit ein ›Sein der Zeit‹ zu sichern (vgl. bes. 11,26), so ersehnt auch Rilke die Entflüchtigung des Zeitlichen, um vielleicht doch ein ›Sein der Zeit‹ zu erlangen, gesteht am Ende aber – angekündigt schon in der zweiten Strophe – sein Scheitern ein (KA 2,178): Sieh, der Tag verlangsamt sich, entgegen jenem Raum, der ihn nach Abend nimmt: Aufstehn wurde Stehn, und Stehn wird Legen, und das willig Liegende verschwimmt –

Und so endet das Gedicht in der dritten Strophe mit dem Aufschrei der ›Klage‹, die auch Augustinus getrieben hatte, die Rilke jedoch noch einmal mit dem Jubel über die Schönheit der Schöpfung kontrastiert (KA 2,178): Rilkes Zugang zur Religion  |  85

Berge ruhn, von Sternen überprächtigt; – aber auch in ihnen flim­mert Zeit. Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt obdachlos die Unvergäng­lichkeit.

Was uns hindert, das Leben zu feiern und es in reinem Jubel als Gabe zu rühmen, ist unser Unvermögen, den Sinn der Leiden zu erkennen, wahre Liebe zu vollziehen. Es kulminiert im Dunkel, in dem sich das Geschehen des Todes, auf den wir unweigerlich zugehen, verschleiert. Trotz der Aporien, in die sich jeder Mensch geworfen weiß, der seine Aufgaben sieht, endet das hier betrachtete Sonett mit dem Hinweis auf »das Lied überm Land«, das »heiligt und feiert«. Die Herkunft der Möglichkeit der Heiligung und des Feierns bleibt hier verdeckt und unbenannt, obwohl die Sonette, die »als ein Grab-Mal für Wera Ouckama Knoop« geschrieben sind, ins­gesamt ganz offenbar diesem Ziel dienen, das uns auch erlaubt, das Leben trotz der genannten Widrigkeiten und Einschränkungen zu bejahen, die uns ja eher zu Klage und Protest antreiben. Offenbar tritt auch hier die im Brief an Ilse Jahr genannte und oben schon zitier­te »Namenlosigkeit« hervor, »die wieder bei Gott beginnen muß, um vollkommen und ohne Ausrede zu sein.« Rilke ging es im Blick auf das »ins Bodenlose gehängte Leben«, wie es im Brief an Witold von Huléwicz heißt, um »endgültige Bejahung« angesichts der aus eigener Kraft unüberwindbaren Hindernisse, die sich – so wäre das in Grundworten der Philosophie auszudrücken – der in die Transzendenz weisenden Sehnsucht der endlichen mensch­ lichen Existenz entgegenstellen.66 Augustinus beklagt sein Zersplittern in die Zeiten: »et ego in tempora dissilui, quorum ordinem nescio«, bevor er von seiner Hoffnung auf Rettung durch Gott spricht (vgl. conf. 11,39 und 40). Obwohl Rilke seine Hoffnung nicht mit Worten der christlichen Botschaft ausdrücken kann und will, weiß er dennoch um die dem Bewußtsein des Negativen zugrundeliegende Positivität.67 Die Gegebenheit des Gesuchten im Modus der Defizienz bringt Rilke besonders deutlich in einem der Sonette an Orpheus zur Sprache (I 8), das einen Grundgedanken entfaltet und im folgenden letzten Abschnitt dieser Untersuchung ins Auge gefaßt werden soll.

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3. Zu Rilkes Auslegung des Gottesbezugs und zu seiner Absetzung vom christlichen Glauben Die Besonderheit der Dichtung Rilkes besteht im Blick auf ›Gott‹ darin, daß nicht theoretisierend ›über‹ Gott gesprochen wird, aber doch so, daß die Benennung ›Gottes‹ unausweichlich ist. Womöglich könnten denkende Sprechende ›über Gott‹ (wie ›über Sprache‹), wenn sie das Wort ›über‹ ernst nähmen, überhaupt nichts sagen, sobald sie bemerkten, daß sie mit ›Gott‹ und ›Sprache‹ zwar etwas benennen, mit dem sie Bedeutungen verbinden (sonst könnten sie diese Worte nicht in sinnvollem Gebrauch aussprechen), die sich aber dem begrifflichen Zugriff, der ›gegenständlichen‹ Betrachtung und noch mehr jedem Versuch einer ›Definition‹ entzie­hen.68 Obwohl wir als suchende und fragende Wesen keine ›Übersicht‹ über das gewinnen können, was wir mit ›Gott‹ und mit ›Sprache‹ meinen, begegnen wir im Sprechen von Gott und Sprache doch der Endlichkeit unseres Wissens, die uns zugleich unvermeidlich auf Transzendenz weist. Manfred Engel stellt im systematisch zentralen Abschnitt der kommentierenden Einführung in Das Stunden-Buch kritisch die Frage (KA 1,735–740): Mit Nietzsche auf der Suche nach Gott? Diese Frage ist wesentlich und sachgemäß, bedarf also einer sachlichen Erörterung. Indem Engel die Auslegung des Stunden-Buchs als ›Laienbrevier‹ und die Auslegung Rilkes als ›unermüdlichen Gottsuchers‹ als verfehlte ›Stilisierung‹ bekämpft,69 gerät er in Widerspruch zu Selbstaussagen Rilkes, der sein Werk im Wissen um den Sinn des Wortes als Stunden-Buch bezeichnet und dort in direkter Anrede Gottes gesagt hat: »Du siehst, daß ich ein Sucher bin.« Rilke soll hier als ›Dichter‹ betrachtet werden, der zu denken gibt, aber nicht als Denker auftritt. Zur Bezeichnung der Aufgabe des Dichters sei noch einmal das Wort der Sonette an Orpheus genannt, das ein überhohes, göttliches Ziel vorgibt: »In Wahrheit singen«. Mit ihm knüpft Rilke an die schon zitierten Verse des StundenBuches an: »Und ich will meinen Sinn/ wahr vor dir.« Im Fortgang der Sonette wird deutlich, was Rilke mit dem ›Singen‹ meint: es ist ein ›Rühmen‹ (SO I 7), das vom ›Jubel‹ lebt (SO I 8) und in dem es um »das unendliche Lob« geht (SO I 9), das wahrhaft nur im »Doppelbereich« der Lebenden und der Toten vorgetragen werden kann. Rilkes Zugang zur Religion  |  87

Als Quellen des Singens überhaupt werden die drei ›Geschwister im Gemüt‹ (SO I 8) genannt, nämlich ›Jubel‹, ›Sehnsucht‹ und ›Klage‹, die auf die »Rühmung« bezogen werden (SO I 8): Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn, die Nymphe des geweinten Quells, wachend über unserm Niederschlage, daß er klar sei an demselben Fels, der die Tore trägt und die Altäre. ‒ Sieh, um ihre stillen Schultern früht das Gefühl, daß sie die jüngste wäre unter den Geschwistern im Gemüt. Jubel weiß und Sehnsucht ist geständig, ‒ nur die Klage lernt noch; mädchenhändig zählt sie nächtelang das alte Schlimme. Aber plötzlich, schräg und ungeübt, hält sie doch ein Sternbild unsrer Stimme in den Himmel, den ihr Hauch nicht trübt.

Der anfängliche ›Jubel‹, in dem ›die Stimme‹ dem Jüngling ›den Mund […] aufstößt‹ (SO I 3), ist noch kein wahres Singen; erst über die Zwischenstufen der ›Sehnsucht‹ und der ›Klage‹ kann sich ereignen, was Rilke »in Wahrheit singen« nennt (SO I 8): »Aber plötzlich, schräg und ungeübt,/ hält sie doch ein Sternbild unsrer Stimme/ in den Himmel, den ihr Hauch nicht trübt.« Rilke sieht die »endgültige Bejahung« des ›ins Bodenlose gehängten Lebens‹ als Aufgabe des Dichters, aber nicht in der Absicht, theoretische Traktate zur Gottesfrage zu verfassen. Selbst biblische Worte – nicht nur im Alten Testament – können mit ihrer poetischen Kraft die Fragen nach ihrer ›Orthodoxie‹ hervorrufen, die Engel an Das Stunden-Buch richtet. Wer ›Orthodoxie‹ und ›Heterodoxie‹ fokussiert, redet nicht als ›Philosoph‹, der im Wissen des Nichtwissens nach der höchsten Wahrheit fragt, sondern als ›Philodox‹. Rilke hielt sich aus »Ab­neigung gegen derlei Systematisierungen« fern von ›Philosophie‹ (Chronik 222); den Versuch, die Wahrheit des Ganzen zu fassen, hat aber auch Kant als »Philodoxie« bezeichnet (KrV B XXXVII). 88  |  norbert fischer 

Nüchtern hat Ulrich Fülleborn zu ›neuen Möglichkeiten der Rilke-Lektüre‹ gesagt (KA 1,591): »Die gegenwärtige Wirkung von Rilkes Dichtung ist noch immer dadurch gekenn­zeichnet, daß das Hauptinteresse des alten Stamms der Rilke-Leser dem Stunden-Buch und den Neuen Gedichten – und auch hier nur wenigen ausgewählten Texten – gilt, daß man die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge als niederdrückend und das lyrische Spätwerk bei durchaus wahrgenommener ästhetischer Qualität als zu ›schwer‹ empfindet. Daraus darf niemandem ein Vorwurf gemacht werden, nicht den Lesern und schon gar nicht dem Dichter selbst.«

›Neue Möglichkeiten der Rilke-Lektüre‹ können nur aus der eindringlichen Lektüre erwachsen, nicht aus vorgefertigten Vorstellungsmustern, seien diese nun ›christlich‹ oder immanentistisch. Beiden Verführungen muß widerstanden werden: Rilkes Dichtung darf nicht unmittelbar von einer bestimmten, überdies dogmatisch fixierten Fassung eines (des christlichen) Glaubens her verstanden und auf solche Fassungen festgelegt werden, indem man die häufig positiven Bezugnahmen auf christliche Gestalten, glaubensaffine Gedanken und Lebensformen betont, zumal diese Anknüpfungen zuweilen mit Ironie und mit ausdrücklicher Abwehr einhergehen. Verfehlt ist indessen ebenso die Absicht, sie von antichristlichen Positionen her zu deuten. Wie Kant »die unerforschliche Weisheit, durch die wir existiren«, nicht nur für das rühmt, »was sie uns zu theil werden ließ«, sondern auch dafür, »was sie uns versagte«, nämlich ein Wissen von den göttlichen Dingen, das nach Kant dazu geführt hätte, daß »die mehrsten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht geschehen«, so daß »wie im Marionettenspiel alles gut gesticuliren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde« (KpV A 265 f.), so muß auch Rilkes Zögern in der Gottesfrage gesehen werden. Deutlich wird das auch im folgenden improvisierten Gedicht vom 4.6.1924 (KA 2,324 f.): Wie die Natur die Wesen überläßt dem Wagnis ihrer dumpfen Lust und keins besonders schützt in Scholle und Geäst; Rilkes Zugang zur Religion  |  89

so sind auch wir dem Urgrund unseres Seins nicht weiter lieb; er wagt uns. Nur daß wir, mehr noch als Pflanze oder Tier, mit diesem Wagnis gehn; es wollen; manchmal auch wagender sind (und nicht aus Eigennutz) als selbst das Leben ist –, um einen Hauch wagender…. Dies schafft uns, außerhalb von Schutz, ein Sichersein, dort wo die Schwerkraft wirkt der reinen Kräfte; was uns schließlich birgt ist unser Schutzlossein und daß wir’s so in’s Offne wandten, da wir’s drohen sahen, um es, im weitsten Umkreis, irgendwo, wo das Gesetz uns anrührt, zu bejahen.

Dieses Gedicht hat Rilke auf Bitten seiner Frau als Widmungsgedicht in ein Exemplar des Malte Laurids Brigge eingeschrieben (für Hellmuth Freiherrn Lucius von Stoedtner; vgl. KA 2,815). Mit Recht sagt Ulrich Fülleborn in der kommentierten Ausgabe: »Die außerordentliche Bedeutung des Gedichts liegt in dem Versuch, von der im Spätwerk gewonnenen Haltung her noch einmal das existentielle Wagnis, das der Malte-Roman für Rilke war, poetisch zu reflektieren.«70 In bedachtsamer Zurückhaltung hält Fülleborn sein Urteil offen (KSA 2, 816): »Die ›Natur‹ und der ›Urgrund‹ des menschlichen Daseins werden nach ihrem Verhalten gegenüber dem Menschen parallelisiert, aber nicht identisch gesetzt, insofern ›wir‹ ausdrücklich ›gewagt‹ werden.« Mit dem ›Wagnis‹, das der ›Urgrund‹ mit uns eingeht, ist offenbar eine Beziehung bezeichnet, die mit ›Gott‹ zu tun hat und die zum Ausdruck bringt, daß ›Gott‹ etwas mit ›uns‹ zu tun hat.71 Rilkes Rede vom ›Urgrund‹, der ›uns wagt‹, weist auf ›Göttliches‹ und wird im Gedicht mit ›Natur‹, ›Leben‹ und ›Gesetz‹ (vielleicht auch mit der ›Schwerkraft der reinen Kräfte‹) erläutert. Diesem ›Wagnis‹, das der (sich unserem sinnengebundenen Erkennen entziehende) »Urgrund unseres Seins« mit ›uns‹ eingegangen ist, wodurch wir nach Platon wesenhaft in einer ›schönen‹ und ›schrecklichen Ge­ fahr‹ stehen, müssen wir tätig (auf Leben und Tod) entsprechen.72 ›Wagnis‹ ist eindeutig eine ›personale‹ Kategorie, nichts, was als ›naturhaft‹ denkbar wäre: etwas wie »die Natur« oder Naturhaf90  |  norbert fischer 

tes überhaupt wird ein Gegenstück zu dem Spontanen, das etwas »wagen« könnte.73 Der Wechsel des Subjekts von »Natur« zu »Urgrund« ist also sachlich geboten – und die Fehlschreibung in der von Heidegger benutzten Ausgabe ist irreführend.74 Rilke spricht in seiner Dichtung zwar viel von ›Gott‹ und von Göttlichem, ohne dadurch aber zu einem Religionsphilosophen oder Theologen werden zu wollen, sondern richtet seinen Blick als Dichter auf das Leben, mit dem Willen, das Leben in seiner Wahrheit zu sehen und zu besingen. Die gesehene Wahrheit besteht jedoch zunächst darin, daß das Erhoffte noch nicht wirklich ist, wozu immerhin vermerkt werden kann, daß sich der christliche Glaube durch eine Eschatologie auszeichnet, die durch die Spannung zwischen dem ›schon‹ und dem ›noch nicht‹ bestimmt ist. Und diese ›Eschatologie‹, die in die Transzendenz eines Reiches Gottes weist, gesteht dem immanenten Endlichen so hohe Bedeutung zu, daß auch Gott in diese Welt hineingezogen wird. Was die von Rilke (und allen Menschen) gesuchte »endgültige Bejahung« des Lebens ermöglichen könnte, ist nach diesem Text zwar ›noch nicht‹ wirklich, aber im Lied ›schon‹ anwesend. Der unerkannte Sinn der ›Leiden‹, die ungelernte Wahrheit der ›Liebe‹, das verschleierte Geschehen des Todes, der ›uns entfernt‹, öffnet den Blick für die Transzendenz, aus der allein wir die Möglichkeit erhoffen können, das Leben trotz ›unseres Schutzlosseins‹ zu bejahen. Unsere Aufgabe ist es zu verstehen, wie unsere Situation fordert, nicht nur »mit diesem Wagnis« zu gehen, das der »Urgrund« eingegangen ist, sondern manchmal »auch/ wagender« zu sein. Wenn man den ›Urgrund‹ mit göttlichen Prädikaten, die uns fehlen, ausgestattet dächte, wäre der Anspruch, der göttliche Liebe fordert (intransitive Liebe ohne Lohn): nämlich ohne »Eigennutz« mit dem Wagnis zu gehen, zu hoch für uns, da uns die Vollkommenheit Gottes eben fehlt. Also müssen wir »wagender sein […]/ als selbst das Leben ist«. Was hier »Leben« heißt, ist in mehrfachem Sinn zu verstehen: erstens als (ebenfalls gewagtes) Leben der vernunftlosen Natur (»Pflanze oder Tier«), zweitens als unser Leben, also wir selbst, sofern wir »mit diesem Wagnis gehen; es wollen«, drittens als Leben des Urgrundes, der uns und die Wesen der Natur wagt.75 Wir sind schutzlose Wesen von unbestimmtem Sein, die nach Rilkes Gedicht ihr Schutzlossein ohne Eigennutz ins Offne wenden können – in Rilkes Zugang zur Religion  |  91

Richtung der Bejahung des Lebens ohne Eigennutz, womit wir »um einen Hauch/ wagender« werden als das vom Urgrund ausgehende Leben. Der Urgrund wagt uns so, daß wir uns – trotz unserer Endlichkeit und Schwäche – zu einem größeren Wagnis gerufen sehen, als der Urgrund es mit uns eingeht, nämlich auf Göttlichkeit hin (ohne Eigennutz) und ohne Gewißheit, dieses göttliche Ziel auch erreichen zu können. Übergöttlich ist das Ziel, weil es uns endlichen Wesen »außerhalb von Schutz« abverlangt wird. Ziel ist die Bejahung des Lebens, eine Rühmung, die das Ganze in allen Facetten einschließt. Die Vorstellung, daß der ›Urgrund‹ uns gewagt hat, daß er unser Sein ohne Eigennutz bejaht und uns als solche wagt, die ihr Schutzlossein ins Offene hinein wagen sollen, entspricht der Gottebenbildlichkeitslehre, nach der Menschen ›ad imaginem dei‹ geschaffen sind.76 Wo Rilke die Lebenswirklichkeit durch Glaubensaussagen verdeckt sieht, distanziert er sich von Dogmen. Rilke, der 1911– gleichsam in der Mitte seines geistigen Lebens – mit einer eigenen Übersetzung der Confessiones begonnen hat, war schon früh mit Augustinus vertraut gemacht worden.77 Jeder Confessiones-Leser wird die innere Nähe Rilkes zum Autor dieses Werkes bemerken, wenn er im Schluß-Vers eines Gedichts aus der Mitte des Buchs vom mönchischen Leben liest (KA 1,170): »Gott, du bist groß.«. Dieses Wort wird im folgenden Gedicht neu aufgegriffen und dann auf die Kernaussage des Prooemiums von Augustins Confessiones zugespitzt (KA 1,171): »Du bist so groß, daß ich schon nicht mehr bin,/ wenn ich mich in deine Nähe stelle.« Denn die Confessiones beginnen mit den Worten: »Magnus es domine«. Nach dem Beginn mit dem Gotteslob, das dem Psalter entlehnt ist, fällt der Blick auf die eigene Situation, die von Bedeutungsarmut, Sterblichkeit, Sündigkeit und Hochmut bestimmt ist und nicht zum Gotteslob treibt. Dem Fehlen der eigenen Motivation zum Gotteslob stellt Augustinus ein gänzlich unerwartetes »et tamen« entgegen, das überraschend eine Entsprechung in Rilkes »und dennoch« findet.78 Diesen Anfang der Confessiones, an den die zitierten Verse des Stunden-Buchs anklingen, hat Rilke später übersetzt – und damit seine Verbundenheit mit Augustins Art des Redens bezeugt.79 Von ›Orthodoxie‹ und ›Heterodoxie‹ sollte im Blick auf poetische Texte nicht die Rede sein. Aber selbst theore92  |  norbert fischer 

tisch gemeinte Aussagen zu Gott sind mit großer Zurückhaltung zu beurteilen. Zur Überprüfung solchen Redens wäre das schon samt Kontext erwähnte Wort aus einer Predigt Augustins zu bedenken (s. 117,5): »de deo loquimur, quid mirum si non comprehendis?« Rilke nimmt im Blick auf ›Gott‹ gerade nicht die Pose eines Wissenden ein, sondern bekennt (KA 1,189): »Du siehst, daß ich ein Sucher bin.« Der Gottesbezug wird als umfassend genannt (KA 1,209): »Für dich nur schließen sich die Dichter ein/ und sammeln Bilder, rauschende und reiche,/ und gehn hinaus und reifen durch Vergleiche/ und sind ihr ganzes Leben so allein …«. Aber nicht nur am Anfang seines dichterischen Weges ist Rilkes Dichtung von ›Gott‹ bestimmt. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, die ein Schlüsselwerk aus der mittleren Zeit sind, laufen am Ende immer stärker auf Reflexionen zur Bedeutung Gottes zu (vgl. A 66/619): »Noch eh wir Gott angefangen haben, beten wir schon zu ihm: laß uns die Nacht überstehen.« Dieser kryptische Text spricht von der Unausweichlichkeit unserer inneren Beziehung zu Gott, in der wir schon stehen, bevor wir mit »Gott« von uns aus »angefangen haben«. Einerseits erscheint Gott zunächst als Werk unserer Tätigkeit, wie es im Stunden-Buch hieß (KA 1,169): »Sieh, Gott, es kommt ein Neuer an dir bauen,/ der gestern noch ein Knabe war«. Andererseits wird Gott als so groß genannt, daß er nicht von uns angefangen worden sein kann, weil wir von vornherein ›zu ihm beten‹ und ihn bitten, daß er uns ›die Nacht überstehen lasse‹. Es ist wohl die ›Nacht‹ der nicht erkannten ›Leiden‹, die Malte zu solchen Gebeten antreiben. Die zitierte Passage geht so weiter (ebd.): »Und dann das Kranksein. Und dann die Liebe.« Auch im Blick auf die ›Liebe‹, die nicht ›gelernt‹ ist, weisen die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge auf Gott. Dabei wird die Frage nach der Liebe zu einer Brücke für die Frage nach Gott: Daß mit ›Liebe‹ eine Wirklichkeit gemeint ist, nach der ›wir‹ Menschen uns sehnen, ist offenbar weniger Zweifeln ausgesetzt als die unfaßbare Wirklichkeit ›Gottes‹. Wir stehen, ohne es gewußt und gewollt haben zu können, in einer unvordenklichen Beziehung zu ›Gott‹ und zur ›Liebe‹. ›Intransitive‹ Liebe bedeutet nicht, daß es keine ›Geliebten‹ gäbe; die Liebe, »die der Gott einzeln anreizt«, leitet vielmehr dazu an, »aus sich hinauszulieben ohne Erwiderung« (KA 3,623), was sich im Sinn von Augustins Auslegung der göttlich Rilkes Zugang zur Religion  |  93

unbedürftigen Liebe (»gratis diligere«) verstehen läßt. Vielleicht hat Rilke hier wieder das Prooemium von Augustins Confessiones im Sinn, das ein Lob Gottes sucht, das Menschen aus sich selbst nicht möglich ist, das aber wirklich wird, weil Gott uns Menschen zu ihm anreizt (conf. 1,1): »tu excitas«.80 Ebenso weist die ungelöste Frage, »was im Tod uns entfernt«, auf eine göttliche Wirklichkeit. Wie der Tod ohne Gott »die uns abgekehrte, von uns unbeschienene Seite des Lebens« sein kann, ist ohne implizite (vielleicht nur negative) Annahme des Daseins Gottes nicht denkbar.81 In seiner Todesangst spricht Malte sogar Worte, in denen Jesu Anruf Gottes am Kreuz nachklingt (KA 3, 571): »Mein Gott, mein Gott, wenn mir noch solche Nächte bevorstehen […]«. Zwei­fellos sperrt Rilke sich – trotz mannigfacher positiver Bezugnahmen – auch gegen Antworten des christlichen Glaubens, in denen unsere Lebenswirklichkeit vernachlässigt wird. Sein antichristlicher Impuls mag einerseits mit der ›Treue zur Erde‹ zusammenhängen, die Nietzsche gefordert hat, die zwar aus der ›Schöpfung‹ folgt, im Christlichen aber teils unter Bezug auf die ›übersinnliche Welt‹ verdrängt wurde – andererseits mit dem Anspruch, daß Rilke »in Wahrheit singen« will – oder wie er auch sagt (KA 1,163): »Und ich will meinen Sinn/ wahr vor dir.« Rilke hatte Sinn für die göttliche Liebe als reine, nichtegostische Beziehung zum Geliebten. Aber Sinn fürs moralische Gesetz, das auf der Achtung der Personen als Zwecken an sich selbst beruht und Kant zur christlichen Religion geführt hat, scheint er nicht so klar gehabt zu haben. Als Dichter erstrebt er die Wahrheit des ›Gefühls‹, nicht aber die Wahrheit des mensch­lichen ›Seins‹ in allen Aufgabenfeldern, zu denen Kant als Philosoph die drei bekannten zentralen Fragen gestellt hat: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« Daß Rilke diese Fragen nicht gestellt hat, wird man einem ›Dichter‹ nicht zum Vorwurf machen wollen. Wer die grundlegende Bedeutung der drei Fragen erkannt hat, die am Ende zur Religion führen, wird nicht von Dichtern erwarten, was in nüchternem philosophischem Denken zu erfassen ist. Nach Rilke sind Jubel, Sehnsucht und Klage der Ort und die Aufgabe der Dichtung, in der die wirkliche Situation des Menschen gesehen und in ihrer ›Wahr­heit‹ vor Augen gestellt wird. Selbst angesichts des Todes sucht er Frieden mit Gott, wie es schon im Stunden-Buch heißt: 94  |  norbert fischer 

Ich lese es heraus aus deinem Wort, aus der Geschichte der Gebärden, mit welchen deine Hände um das Werden sich ründeten, begrenzend, warm und weise. Du sagtest leben laut und sterben leise und wiederholtest immer wieder: Sein.«

Anmerkungen

Von der Pilgerschaft; Strophe 3 (KA 1,221). 2 Rilke berichtet dieses Wort – »ahnungsvoll gegen ein Ganzes zubewegt« – aus einem Vortrag Alfred Schulers in München an Marie Taxis (= MTT I,409 f.). Aus Spanien hatte er ihr von seiner »beinah rabiaten Antichristlichkeit« geschrieben (17.12.1912; TT I,245). Andererseits lebt Rilkes Dichtung oft von (auch christlichen) Theologoumena. Der zu bedenkende Zwiespalt tritt noch im späten Brief an Witold Huléwicz (13.11.1925) hervor, wo er sich vom ›Christlichen‹ absetzt und sagt, daß er sich von ihm »immer leidenschaftlicher entferne« (Briefe aus Muzot, 334). 3 Vgl. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe (=HA), Band XII, 712 (Kommentar von Hans Joachim Schrimpf). 4  HA XII, 356f,; hier 357. 5  Wie Goethe 1830 erklärt Karl Marx 1843/44: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 31: »Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur […]. Sie ist das Opium des Volks.« Zu Feuerbach und Nietzsche vgl. Norbert Fischer (=NF): Die philosophische Frage nach Gott. Ein Gang durch ihre Stationen (=PFG), 254–274; zu Nietzsche Margot Fleischer: Der ›Sinn der Erde‹ und die Entzaube­r ung des Übermenschen. Eine Aus­einandersetzung mit Nietzsche. Dazu NF: Was aus dem Übermenschen geworden ist. Drei Bücher zum Denken Nietzsches. 6  Vgl. Tilman Borsche: Was etwas ist. Fragen nach der Wahr­heit der Bedeutung bei Platon, Augustin, Nikolaus von Kues und Nietzsche. Zu diesem ambitionierten Buch vgl. die kritische Rezension von NF. 7  Vgl. RHB 5; ›Immanenz‹ ist ein Relationsbegriff, der ohne Bezug auf ›Transzendenz‹ sinnlos wird und im Modus der Defizienz in ihm enthalten ist; vgl. die alte Deutung des ›malum‹ als ›privatio boni‹. Und Rilke weiß um die Relationalität von Immanenz und Transzendenz; vgl. SO I 8: »Nur im Raum der Rühmung darf die Klage/ gehn«; SO I 3: »Gesang, wie du ihn lehrst, ist nicht Begehr,/ nicht Werbung um ein endlich noch Erreichtes«. Gesang ist immer irgendwie ›Jubel‹, der aber faktisch im Kontext von ›Klage‹ und ›Sehnsucht‹ steht. Der Transzendenz-Bezug des menschlichen Geistes weist letztlich 1 St-B:

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auf Unfaßbares, auf ›Göttliches‹. Das sagen auch die Sonette I 5–7: Orpheus »gehorcht, indem er überschreitet« (›oboedit transcendens‹); er ist nicht nur »ein Hiesiger«: »Nein, aus beiden Reichen erwuchs seine weite Natur.«Und dann: »Rühmen« ist selbst eine Transzendenzbewegung.  8  Vgl. Wolfgang Braungart: Der Maler ist ein Schreiber. Zur Theo-Poetik von Rilkes Stunden-Buch.  9  Zu bedenken wäre auch die Möglichkeit, daß Rilkes Rede von seiner »beinah rabiaten Antichristlichkeit‹ (Briefe I, 413; an Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe vom 17.12.1912) aus seiner gesteigerten ›Transzendenz-Gläubigkeit‹ entspringt, ebenso aus seiner Nähe zum alttestamentlichen Glauben und zum Islam (mit deren Betonung der Ferne Gottes). Die Vermenschlichung Gottes durch den Mensch gewordenen Gott, die in ›Christus‹ geglaubt wird, sah Rilke – wie z. B. die Christus-Visionen (SW 3,127–159) und die Geschichten vom lieben Gott (KA 3,343–429) zeigen – als ungeheuren Anspruch, aber auch als Gefahr. Der Kern des im christlichen Glauben Geglaubten bleibt für Rilke ›transzendent‹ (d. h. anziehend und unerreichbar) – folglich nur in ›Sehnsucht‹ und ›Klage‹ gegenwärtig; vgl. die fünfte der Christus-Visionen: Der Jahrmarkt (SW 3, 143–148, hier besonders 147): »Seit mich, von ihrem eitlen Glaubensprahlen/ betört, die Jünger aus dem Grabe stahlen,/ giebts keine Grube mehr, die mich behält.« Dazu vgl. Norbert Stapper: Rainer Maria Rilkes ChristusVisionen. Poetische Bedeutungen und christopoetische Perspektiven; vgl. im vorliegenden Band Ders.: Die »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes. Zu Der Jahrmarkt vgl. auch Daniel Joseph Polikoff: In the Image of Orpheus. Rilke. A Soul History, bes. 36–41. Zudem sind zu diesen Fragen die ›Zeitgedichte‹ Rilkes (in Nähe zu Augustinus) mit zu beachten. Vgl. dazu NF: »Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?« Nachklänge der Zeitauslegung Augustins in der Dichtung Rilkes. 10  Dies kann auch im Sinne der ›scala mystica‹ verstanden werden; vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag von Georg Steer: Rainer Maria Rilke als Leser Meister Eckharts. 11  Vgl. August Stahl: ›Salus tua ego sum‹. Rilke (1875 – 1926) liest die ›Confessiones‹ des heiligen Augustinus. Zu beachten ist dort besonders die Auflistung der ausdrücklichen ›Fundstellen‹ (249–252). 12  Vgl. das in Genesis 1,1 mehrfach ausgesprochene Wort: »Und er sah, daß es (sehr) gut war.« Dazu vgl. Augustinus (lib. arb. 3,36: »omnis natura in quantum natura est bona est«). Vgl. weiterhin NF: bonum. Christus kann als Treue Gottes zur Erde betrachtet werden. 13  Vgl. Aurelius Augustinus: Suche nach dem wahren Leben. Confessiones X/Bekenntnisse 10. Im Sinne der Suche nach dem wahren Leben ist auch die tiefgründige Klage zum Schluß des letzten Gedichts zu verstehen (KA 2,412): »O Leben, Leben. Draußensein./ Und ich in Lohe. Niemand der mich kennt.« 14  Rilke nennt als formales Kriterium für die Möglichkeit der Wahrheit, 96  |  norbert fischer 

die Göttliches vergegenwärtigt (KA 2,195): »Solang du Selbstgeworfnes fängst, ist alles/ Geschicklichkeit und läßlicher Gewinn«; aber auch inhaltliche Kriterien, die mit der faktischen Gegenwart des Göttlichen im menschlichen Leben zusammenhängen (SO I 19): »Nicht sind die Leiden erkannt,/ nicht ist die Liebe gelernt,/ und was im Tod uns entfernt,// ist nicht entschleiert.« Unsere Suche nach Gott bedarf also einer Inversion der Aktivität, die letztlich von Gott ausgegangen sein muß. 15  Vgl. KA 4,403. Vgl. dazu NF: »Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?« Nachklänge der Zeitauslegung Augustins in der Dichtung Rilkes, bes. 283 f. 16  Einer den ersten sachgemäßen Leser ist Meister Eckhart; vgl. NF: Meister Eckhart und Augustins Confessiones. Vgl. den erwähnten Beitrag von Georg Steer. – Jean-Jacques Rousseau und Heinrich Heine betonten (ohne echten Bezug auf Augustins Werk) die autobiographische Seite. Zur literarischen Gattung vgl. NF: Einleitung (Confessiones XI. Bekenntnisse 11), XXV–XXXII, bes. XXVI (Fn 29); Ders.: Einführung (Tusculum), bes. 787 f., 791 f. (mit Hinweisen zur Rezeption). Dem autobiographistischen Mißverständnis der Confessiones ist Rilke nicht erlegen. 17  Dieses Anerkennen ist das letzte Eingeständnis unserer Armut und unseres Ausgesetztseins gegenüber dem Tod – und die Vollendung von Rilkes Anfang im Buch von der Armut und vom Tode (Drittes Buch von St-B). 18  Eine grundlegende Einführung in Das Stunden-Buch bietet Wolfgang Braungart: Rilkes Gott. Rilkes Mensch. Zur Poeto-Theologie des »StundenBuchs«, Ders.: Das Stunden-Buch, bes. 217 f. (Religiöse Dichtung?) und 220–223 (Das erste Buch: Die Gottes- und Subjekt-Konstitution – einige grundsätzliche Deutungsperspektiven). 19  Zur schwierigen religiösen Sozialisation Rilkes vgl. Günther Schiwy: Rilke und die Religion, bes. 13–35. 20  Apg 15,8; dazu Hinweise bei NF: Einführung: ›Natur‹, ›Freiheit‹ und ›Gnade‹, 25 (Fn 20). 21  StB; KA 1,163; mit dieser Aufgabe beginnt das zehnte Buch der Confessiones (conf. 10,1): »›ecce enim veritatem dilexisti‹, quoniam ›qui facit‹ eam, ›venit ad lucem‹. volo eam facere in corde meo coram te in confessione, in stilo autem meo coram multis testibus.« Übersetzung NF: Suche nach dem wahren Leben, 2: »›Du hast der Wahrheit den Vorzug gegeben‹. ›Zum Licht gelangt‹ ja, ›wer den Weg der Wahrheit geht‹. Ich will ihn gehen: im Bekenntnis meines Herzens vor Deinem Angesicht, mit meiner Schrift jedoch vor dem Angesicht vieler Zeugen.« 22  Exemplarisch erwähnt seien hier die Philosophie Platons (Politeia 509b vgl. e4pe2keina th/@ ou4sía@) und die biblische Tradition (Tim 6,16: fw/@ oi4kw/n a4pro2siton, o>n eÎden ou4deì@ a4njrw2pwn ou4de1 i4deῖn du2natai). Wie Kants Philosophie keine Destruktion der Metaphysik, sondern eine Rückkehr zur wahren (undogmati­schen) Metaphysik ist, so strebt Rilke nach einem wahren, lauteren Sprechen hin zu Gott. Rilkes Zugang zur Religion  |  97

Vgl. NF: Wege zur Wahrheit. Zu Immanuel Kants Begründung einer kritischen Metaphysik. 24  Zu erwähnen ist einerseits Friedrich Schleiermachers epochemachende Platonübersetzung mit der bemerkenswerten Einleitung zu Platons Werke (1804 ²1817), die wichtige Hinweise zu Kants Platonauffassung bietet; dazu vgl. NF: Einen Autor besser verstehen, als er sich selbst verstand. Kant, Schleiermacher und Heidegger zur Wahrheitssuche in überlieferten Texten. Weiterhin Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Einführung in den Idealismus, XII. 25  Nachgelassene Fragmente; KSA 12, 314. Auch Nietzsche nutzt hier – zwar auf einem anderen Gebiet (nämlich dem Musik), das für Nietzsche aber ebenfalls existenziell höchst bewegend ist – den von Kant gesuchten ›Platz zum Glauben‹. 26  Vgl. Martin Heidegger: Wozu Dichter? Dazu NF: Das Gewagtsein des Menschen. Die Rilke-Deutung Heideggers als Spur seines Denkens auf dem Weg der Gottesfrage. 27  Auf theologischer und philosophischer Seite wäre Romano Guardini zu nennen, der aus einer kirchlich geprägten Sicht spricht und urteilt, auf philologischer Seite Manfred Engel, dessen Stellungnahmen von der Perspektive einer säkularisierten, kirchenfernen Gegenwart bestimmt sind und den Dichter Rilke irrtümlich als Zeugen für diese flache Sichtweise in Anspruch nimmt. Beide mißverstehen Rilkes Aussageabsicht durch falsche Erwartungen an sie. 28  Vgl. Wolfgang Braungart: Rilkes Gott, Rilkes Mensch. Zur Poeto-Theologie des »Stunden-Buchs«, 134. 29  In den Confessiones gibt es erste wichtige , aber ziemlich versteckte Ansätze, die Trinität zum Thema zu machen (vgl. z. B. das dreifache »id ipsum« in 12,7; vgl. weiterhin Horst Kusch: Studien über Augustinus I: Trinitarisches in den Büchern 2–4 und 10–13 der Confessiones); De trinitate hat das Thema dann als Zentrum. Zu diesem Aspekt von Augustins Denken vgl. bes. Roland Kany: Augustins Trinitätsdenken. Bilanz, Kritik und Weiterführung der modernen Forschung zu ›de tinitate‹. Dazu die Rezension von NF: In: Theologie und Glaube 100, 2010, 505–508. 30  Wolfgang Braungart: Rilkes Gott, Rilkes Mensch, 135. Vgl. die unten zitierte Passage aus Augustinus: s. 117,5. 31  Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft (=KrV) B 157; erkennbar ist zwar, »daß ich bin«, nicht aber, »wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin«; zur praktischen Erkenntnis vgl. B 579 Fn: »Die eigentliche Moralität der Handlungen […] bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments oder dessen glücklicher Beschaffenheit […] zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.« 32 Vgl. conf. 1,1; dazu wäre auf Anselms Proslogion (= ›Anrede‹) hinzuwei23 

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sen, ein Werk, das – gemäß dem Gebet am Beginn – in Augustinischem Geist geschrieben ist; Anselms Ziel ist (cap. I): ›requiescere aliquantulum in eo‹. Daß bei Rilke an die Stelle ›Gottes‹ später der ›Engel‹ tritt, folgt aus unserem Unvermögen, von ›Gott‹ zu sprechen. Das Ausweichen auf den Engel ist ein Zeichen der Demut, richtet sich nicht gegen ›Gott‹. 33 Vgl. Retractationes 2,6,1: »et de malis et de bonis meis deum laudant iustum et bonum atque in eum excitant humanum intellectum et affectum«. Dazu Joseph Ratzinger: Originalität und Überlieferung in Augustins Begriff der confessio; Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Augustinus und die phänomenologische Frage nach der Zeit, 24 f.: 1. »das Bekenntnis der ›Erbärmlichkeit (miseria)‹«, 2. »das Bekenntnis des göttlichen gnädigen Erbarmens als Lobpreisung des gnädigen Gottes«, 3. »das Bekenntnis des Glaubens«, 4. das Bekennen des Wissens und des Nichtwissens aus conf. 11,2: »confiteri scientiam et imperitiam meam«. Zur Form der Confessiones vgl. NF: Einleitung. In: Was ist Zeit? (XXV–XXXII und XXXII–XLI: zum literarische Genus und zur Kompositionsstruktur). 34  Vgl. Martin Heidegger: Augustinus und der Neuplatonismus, GA 60, bes. 205–246 (zum »curare« und den »tentationes«); dazu ­Friedrich-Wilhelm von Herr­mann: Gottsuche und Selbstauslegung. Das X. Buch der Confessiones des Heiligen Augustinus im Horizont von Heideggers Phänomenologie des faktischen Lebens. 35 Vgl. Martin Heidegger und die theologische Fakultät Freiburg, 1909–1923. Hg. von Bernhard Casper. In: Freiburger Diözesan-Archiv 100 (1980), 534–541. 36  Vgl. Kant: KrV B XXX; vgl. dazu NF; Maximilian Forschner (Hg.): Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants. Kant hat zwar ›zum Glauben Platz‹ gelassen, aber kein dogmatisches System des zu Glaubenden entwickelt; er ist zwar nicht Theologe geworden, jedoch in seiner ›Religionslehre‹ in einem intensiven und weithin positiven Gespräch mit der christlichen Glaubenslehre geblieben. Zu Rilkes Kant-Lektüre (mit Jakob von Uexküll) vgl. Ingeborg Schnack: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes, 218. 37  Vgl. insgesamt Manfred Engel: Das Stunden-Buch. Deutungsaspekte; KA 1,732–740, hier bes. 736. 38  ›Begriffe‹ ohne konkreten Bezug auf die Wirklichkeit und ohne Bestimmtheit verdienen ihren Namen nicht. 39  Vgl. Romano Guardini: Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Eine Interpretation der Duineser Elegien. Indem Guardini Rilkes Dichtung den ›ungeheuren Anspruch‹ des Propheten zuspricht, fragt er kritisch, ob Rilkes Dichtung der »Wirklichkeit des Seins entspreche« (21). Er spricht zwar von der »Schönheit dieser Dichtungen«, von seiner »Freude an der Interpretation als solcher« (521), erklärt aber auch (ebd.): »Echtes Dichterwort ist Aussage; und nicht nur darüber, was sein Urheber persönlich gefühlt und gemeint hat, sondern auch darüber, was ist.// Daß es Aussage sei, bildet die Voraussetzung für die Frage, die der Philosoph an ein Dichtwerk richtet.« Er urteilt Rilkes Zugang zur Religion  |  99

ungehörig (422): »Seine Beziehungen zu Menschen waren ebenso zahlreich wie im Letzten un-endgültig« und sagt (423): »Deshalb muß man Jeden, der lernen will, dichterisch zu sprechen, vor Rilke warnen. Wenn er einen Lehrer sucht, soll er zu Mörike gehen, oder zu Goethe, nicht zu ihm.« So kommt die ›Neuzeit‹ insgesamt als Gegner in den Blick – mit einer Wendung, die auf ein mißverstandenes Signalwort Kants (»Autonomie«) weist und Rilke in eine Reihe mit Nietzsche stellt (424): »Der Mensch, der sich zum Herrn seiner selbst und, als solchen, zum Herrn des Daseins erklärt hatte, wird seines Anspruchs müde.« Guardini übersieht Rilkes tiefste Intention, in der er sein ›Ja‹ zum Dasein sucht, und schließt mit der Insinuation, Rilke leugne »die Person« (425): »Diese saugende Leere offenbart sich in der Dichtung Rilkes – eines Menschen, dem an sich jede Diktatur ein Grauen sein mußte.« Mit diesem unsachgemäßen Urteil zur ›Heterodoxie‹ Rilkes bereitet Guardini, der dem Glauben dienen will, die unsachgemäßen Urteile Engels vor, dem der ›Glaube‹ (im Gegensatz zu Rilke) mit Nietzsche vorgestrig sein scheint. 40  Die Frage, ob es angesichts dieses Anspruchs eine philosophische Deutung der Wahrheit des Ganzen geben kann, wird – nach Platon und erneut nach Kant – nicht im Sinne einer ›dogmatischen‹ Metaphysik zu entscheiden sein. ›Philosophie‹ bleibt »sapientiae studium« (Augustinus: vera rel. 8), wird nicht zum ›Besitz der Wahrheit‹. 41  Vgl. Karl-Josef Kuschel: Rainer Maria Rilke und die Metamorphosen des Religiösen, 97. 42  SW 3, 489 (vom 2. April 1893). Vgl. Kuschel, a. a.O., 103: »Begreiflich; daß Rilke es nie wagte, ein solches Produkt aus Religionsspott, Pfaffenschelte und Kirchenzynismus je zu veröffentlichen.« Möglich ist aber auch, daß nicht Furcht und Feigheit die bestimmenden Motive waren, sondern Rilkes gewachsener Blick für Wesentlicheres. 43 Vgl. Du hast gerufen – Herr ich komme (von 1862; Sämtliche Gedichte, 25 f.); vgl. dann aber auch: Vor dem Kruzifix (aus dem Jahr 1863; Sämtliche Gedichte, 43–46; Damit zu vergleichen wäre Rilkes Christus am Kreuz; SW III,491–493). Im Unterschied zu Nietzsche bleibt Rilkes Blick auf die Religion (auch auf die christliche) nicht nur von (teils ebenso scharfer) Ablehnung, sondern auch von Suche nach Tragfähigem bestimmt. Es geht Rilke bei aller Schärfe der Kritik und der nüchternen Distanz weiterhin auch um die mögliche tiefere Wahrheit dieses Glaubens. 44  Ebd., 108–114. Kuschel skizziert die wichtigsten Traditionen, die Einfluß auf Rilke gewonnen haben (114–153). 45  Vgl. Günther Schiwy: Rilke und die Religion; Schiwys Buch bezeugt Vertrautheit mit Rilkes Leben und Werk – und dazu (bei Rilkeforschern eher selten) Sinn für die grundlegenden Fragen der Philosophie und der Theologie. 46 Vgl. conf. 10,38: »vocasti et clamasti et rupisti surditatem meam, coruscasti, splenduisti et fugasti caecitatem meam, fragrasti, et duxi spiritum et anhelo tibi, gustavi et esurio et sitio, tetigisti me, et exarsi in pacem tuam.« 100  |  norbert fischer 

Übersetzung SwL, 57). Vgl.dazu die Erläuterungen von NF: Einleitung (SwL), bes. LIX–LXI. 47  Günther Schiwy: Rilke und die Religion, 167. 48 Vgl. Briefe aus Muzot, 185: »Das Faßliche entgeht, verwandelt sich, statt des Besitzes erlernt man den Bezug, und es entsteht eine Namenlosigkeit, die wieder bei Gott beginnen muß, um vollkommen und ohne Ausrede zu sein.« Im Blick auf Das Stunden-Buch heißt es in diesem Brief (ebd.): »So nannte ich ihn damals auch, den über mich hereingebrochenen Gott, und lebte lange im Vorraum seines Namens, auf den Knieen…«. Dazu Martin Heidegger: Vorwort zur Lesung von Hölderlins Gedichten (GA 4,196): »Die Prüfung muß durch die Knie gegangen sein. Der Eigensinn muß sich beugen und wegschwinden.« 49  Nach Ulrich Fülleborn weist Rilke »die Gottkreation des Stunden-Buchs ausdrücklich als eine besitzergreifende Anmaßung« zurück; vgl. KA 1,596. Fülleborns Rede von ›Gottkreation‹ im Stunden-Buch ist jedoch eine vereinseitigende Zuspitzung. Sofern Rilke von der Unabgeschlossenheit seiner Suche überzeugt war, spricht er Augustins Wort vom Beginn der Confessiones mit (1,1): »et inquietum cor nostrum, donec requiescat in te.« 50  Lettres à une amie vénitienne, 58–60, hier 59; den Hinweis auf diesen Brief verdankt der Autor August Stahl. 51  Bei dem Vergleich des Betens mit dem Atmen sieht der Leser sich auf eines der Sonette an Orpheus verwiesen (II 1). Die erste Strophe lautet: »Atmen, du unsichtbares Gedicht!/ Immerfort um das eigne/ Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht,/ in dem ich mich rhythmisch ereigne.« 52  Zum Hintergrund gehört auch die folgende Stelle aus dem Malte-Roman (KA 3,628): »Manchmal früher fragte ich mich, warum Abelone die Kalorien ihres großartigen Gefühls nicht an Gott wandte. Ich weiß, sie sehnte sich, ihrer Liebe alles Transitive zu nehmen, aber konnte ihr wahrhaftiges Herz sich darüber täuschen, daß Gott nur eine Richtung der Liebe ist, kein Liebesgegenstand?« 53  Dazu vgl. auch schon die zitierte Stelle aus sermo 117,5:»de deo loquimur, quid mirum si non comprehendis?« 54  Die wechselseitig sich ausschließende Entgegensetzung von ›Freiheit‹ und ›Gnade‹ in einer Prädestinationslehre wäre also unsachgemäß; sie ist bei Augustinus ein Problem, mit dem er bis zu seinem Ende gerungen hat. ›Freiheit‹ und ›Gnade‹ dürfen aber nicht als alternative Erklärungen der Kausalität menschlicher Handlungen aufgefaßt werden, sondern müssen positiv aufeinander bezogen und einvernehmlich erklärt werden. Zur Problemlage bei Augustinus und der folgenden Wirkungsgeschichte vgl. NF (Hg.): Die Gnadenlehre als ›salto mortale‹ der Vernunft? Natur, Freiheit und Gnade im Spannungsfeld von Augustinus und Kant. 55  Vgl. 2,1; 11,1. Vgl. dazu NF: Amore amoris tui facio istuc. Zur Bedeutung der Liebe im Leben und Denken Augustins, bes. 183–186 mit dem ›Versuch einer Bestimmung von Augustins Begriff göttlich vollkommener Liebe‹. NF: Rilkes Zugang zur Religion  |  101

»Deum et animam scire cupio«.Zum bipolaren Grundzug von Augustins metaphysischem Fragen. Zu Heideggers Deutung von Augustins Liebesgedanken vgl. Tatjana Noemi Tömmel: »Wie bereit ich’s, daß Du wohnst im Wesen?« Heideg-ger über Liebe und die Eigentlichkeit des anderen in den Marburger Jahren. 56  Zu Augustins Lehre vom ›höchsten Gut‹ vgl. NF: bonum, bes. 677 f. Bei Kant vgl. GMS BA 1 (= AA4,393); dazu KpV A 265: in einer vom Allmächtigen beherrschten Welt würde »wie im Marionettenspiel alles gut gesticuliren, aber in den Figuren doch kein Leben sein«. Darin findet Kant »die unerforschliche Weisheit [scil. Gottes], durch die wir existiren« und die »nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zutheil werden ließ.« Gottes Liebe wird so als Befreiung zu eigenem Selbstsein (»Autono­mie«) ohne Anspruch des Schöpfers auf Besitz des Geschaffenen gedacht. Und so sieht die Welt faktisch aus, die nach Kant noch kein »Reich Gottes« ist, sondern in der allenthalben ›Streit‹ herrscht (nicht Liebe und Gerechtigkeit). Auch Kant redet von der »Liebe« Gottes, vgl. RGV B B 177 = AA 6,120, die mit unserer Vernunft und Freiheit zusammenhängt. 57  Zu Platon vgl. das au4tepitaktiko2n (Politikos 267a). Augustinus denkt den Willen als »prima causa peccandi« und als selbsthervorgebrachtes oberstes Gut (lib. arb. 1,26 f.); dazu NF: bonum. Zu Kant vgl. GMS BA 1 = AA 4,393; RGV B 25 = AA 6,31. Vgl. dazu NF: Endzweck Mensch. Zum Sinn der Schöpfung nach Immanuel Kant. 58  Vgl. z. B. Ludwig Büchner: Dantons Tod, Dritter Act. Das Luxemburg. Ein Saal mit Gefangenen; dort will Payne seinen Mitgefangenen Chaumette »katechisiren«, daß es keinen Gott gibt, weil dieser sich angesichts der bevorstehenden Hinrichtung ängstigt und ihm der Atheismus zweifelhaft zu werden beginnt. Vgl. dazu NF: PFG 245 f. 59  Manfred Engel: Das Stunden-Buch. Deutungsaspekte; KA 1,736. Was Engel mit dem ›Wachsen des Baumes‹, dem ›Wehen des Windes‹ meint, bleibt unklar; indem er ›Personales‹ ausschließt, behindert er sogar das Verstehen. Zu der Antwort suchenden Anrede Gottes bei Rilke verhalten sich solche ›Auslegungen‹ völlig disparat. 60  Besonders eindrucksvolle Beispiele für das Zusammengehen von ›Ernst‹ und ›Spiel‹ bieten Rilkes Gedichte in Das Marien-Leben. Ernst und Spiel sind indessen schon in der Philosophie Platons für die Betrachtung der höchsten Wahrheit unerläßlich; vgl. z. B. Platons Ausführungen zu spoudh2 und paidia2 im Phaidros 276b–278d. 61  Vgl. die Hinweise von Manfred Engel mit Passagen aus dem Florenzer Tagebuch (= TF). – TF wurde 1898 »als ein Reisebericht für Lou Andreas-Salomé geschrieben« (vgl. das Nachwort der Hgg. Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber; TF 115 f.). Rilke war bei der Niederschrift ein junger Mann. Die von Engel hervorgehobenen Passagen (KA 1,737) spiegeln Rilkes Reaktion auf Nietzsche; umso bemerkenswerter mag indessen sein (was Engel ignoriert), 102  |  norbert fischer 

daß das St-B aus anderem Geist geschrieben ist, der die von Engel genannte ›Rezeption‹ nicht unmöglich gemacht hat, auch wenn diese »ihre Schwierigkeiten« haben mag. 62  Auch die zeitlebens unveröffentlicht gebliebenen ›Christus-Visionen‹, die schon weit weniger harsch gegen das Christentum sprechen als einige frühere Texte, gehören in diesen Kontext; vgl. wiederum Norbert Stapper: Rainer Maria Rilkes Christus-Visionen. Poetische Bedeutungen und christopoetische Perspektiven. 63  Anselm von Canterburys Proslogion schließt im ersten Kapitel (»excitatio mentis ad contemplandum Deum«) an Stil und Gehalt von Augustins Confessiones an – jedoch nur dort: es folgt ein streng sachlich-systematischer Text. 64  Dagegen NF: »Kostbar ist mir jeder Tropfen Zeit…«. Einführung zum elften Buch von Augustins ›Confessiones‹, bes. 305–309; vgl. weiter NF: »Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?« Nachklänge der Zeitauslegung Augustins in der Dichtung Rilkes. 65 Vgl. conf. 11,1: »numquid, domine, cum tua sit aeternitas, ignoras, quae tibi dico, aut ad tempus vides quod fit in tempore?« Hier im Text die teils zitierte, teils paraphrasierte Übersetzung von NF (vgl. Meiner: Hamburg ²2009,3). 66  Briefe aus Muzot (Briefstempel vom 13.11.1925), 332; diese Aufgabe habe sich ihm schon im Stunden-Buch gestellt, in beiden Teilen der Neuen Gedichte, dann »im Malte konflikthaft zusammengezogen«, dessen Voraussetzungen »dort beinah zum Beweis führen, daß dieses so ins Bodenlose gehängte Leben unmöglich sei«. Dieses Leben werde in den ›Elegien‹ »aus den gleichen Gegebenheiten heraus […] wieder möglich«, ja hier erfahre es die gesuchte »endgültige Bejahung«. Zwar betont Rilke, er entferne sich »immer leidenschaftlicher« von einer Antwort »im christlichen Sinne« (334), aber er sieht seine Sehnsucht »nicht einen Augenblick in der Zeitwelt befriedigt, noch in sie gebunden« (ebd.). Er zielt auf die »Mitte jenes Reiches hin, dessen Tiefe und Einfluß wir, überall unabgegrenzt, mit den Toten und den Künftigen teilen« (333). Diese Zielbestimmung kann mit Augustins Wort in den Confessiones umschrieben werden (vgl. 11,3: »regnum tecum perpetuum« und 11,40). 67  Schon im Stunden-Buch berichtet Rilke von einem ›Wissen‹ aus seinen ›Dunkelstunden‹ (KA 1,158): »Aus ihnen kommt mir Wissen, daß ich Raum/ zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.« Und in den Duineser Elegien geht es ihm nicht um ›Entzeitlichung‹, sondern um die ›Entflüchtigung des Zeitlichen‹ (vgl. zu diesen Begriffen NF: Einleitung: AZ, bes. XLI); dazu DE (Die zehnte Elegie; KA 2,251), wo Rilke vom »ersten Zustand zeitlosen Gleichmuts, dem der Entwöhnung« spricht, aber im Sinne der »Klage«, die er – wie sogleich genauer zu betrachten sein wird – in SO I 8 »die jüngste […]/ unter den Geschwistern im Gemüt« nennt. 68  Vgl. dazu Karl Rahner: Meditation über das Wort Gott. Vgl. auch NF: PFG 105: »Dies Hindenken auf Gott ist also nur durch Entgrenzungen (InfiRilkes Zugang zur Religion  |  103

nitionen) von Gehalten des menschlichen Geistes möglich, nicht durch Definitionen Gottes, die dessen Unendlichkeit nur verunstalten würden«; vgl. insgesamt Kapitel II von PFG (101–167: Zu der Notwendigkeit und den Schwierigkeiten inhaltlicher Aussagen zum Wesen Gottes). Daß auch ›Theologen‹ oft keinen Sinn für die konstitutiven Schwierigkeiten der Rede von Gott haben, muß eingestanden werden. 69  Auffällig ist, wie Engel von »Rilkes Gottesbegriff« spricht und (als nicht autorisierter Glaubenswächter) über dessen ›Ortho­doxie‹ und ›Heterodoxie‹ urteilt, ohne zu bedenken, was ein ›Begriff‹ im Blick auf ›Gott‹ überhaupt bedeuten könnte, auch ohne ›Rilkes ›Gottesbegriff‹ bestimmt zu benennen, um eine sachgemäße Diskussion der Frage nach diesem ›Begriff‹ zu eröffnen. Dabei zielt Engel wohl darauf (aber ohne konkrete Belege), die in Teilen vielleicht problembeladene religiöse und theologische Deutung Rilkes als prinzipiell unsachgemäß zu erweisen. Nach Engel ist, wie er ausdrücklich betont, die »Rezeption des Stunden-Buches anscheinend wesentlich durch seine fingierte Gattungszugehörigkeit geprägt«, was nach Engel Fehleinschätzungen dieses Werkes begünstigt hat (ebd.). Die schon erwähnte von ihm für irrig gehaltene, mit Schwierigkeiten belastete Auffassung des Stunden-Buchs als »Laienbrevier« und die Auffassung Rilkes als unermüdlichen ›Gottsuchers‹ und ›homo religiosus‹ mag voreilig und in Teilen problematisch sein; Engels Auslegung ist indessen ebenso problembeladen (KA 1,736). Gründliche, nüchterne Untersuchungen zu Rilke’s View of God im St-B (vgl. Mark S. Burrows: Introduction, 22–25) bleiben also eine dringliche Aufgabe. 70  KA 2,815 f. Dieses Gedicht steht im Zentrum von Heideggers Abhandlung Wozu Dichter? Vgl. dazu auch NF: Das Gewagtsein des Menschen. Heideggers Rilke-Deutung als Spur des Denkens auf dem Weg der Gottesfrage. 71  Im Gedicht sind die Ausdrücke, die auf das Absolute als Ursprung unseres Seins weisen: ›Natur‹, ›Urgrund‹, ›Leben‹, ›Gesetz‹. Das Wagnis führt nach dem Gedicht ins »Schutzlossein«, birgt uns aber darin, weil es doch die Möglichkeit bietet, unser Leben »zu bejahen«, weil wir es »in’s Offne wandten«, in unbestimmtes Transzendentes. 72  Zum Rückzug des kubernh2th@ tou/ panto2@ vgl. Politikos 272b; zum menschlichen Leben als ›schreckliches‹ und ›schönes Wagnis‹ (kínduno@ deino2@ und kínduno@ kalo2@) vgl. Phaidon 107d;114d. Dazu NF: Philosophieren als Sein zum Tode. Zur Interpretation von Platons ›Phaidon‹. Vgl. auch NF: Unsicherheit und Zweideutigkeit der Selbsterkenntnis. Augustins Antwort auf die Frage ›quid ipse intus sim‹ im zehnten Buch der ›Confessiones‹. 73  Vgl. Kant (KrV A 446 Anm.): »Natur, adjective (formaliter) genommen, bedeutet den Zusammenhang der Bestimmungen eines Dinges nach einem innern Princip der Causalität. Dagegen versteht man unter Natur substantive (materialiter) den Inbegriff der Erscheinungen […]«. Nur eine Kausalität aus Freiheit kann personal gedacht und mit einem ›Wagnis‹ verknüpft werden. 74  Bei Heidegger (Wozu Dichter?, 277) heißt es auf Grund der Fehlschrei104  |  norbert fischer 

bung der Ausgabe von 1934: »es wagt uns«; vgl. dazu NF: Das Gewagtsein des Menschen, 158–162. 75  Damit gelangt Rilke in die Nähe der Unterscheidungen in Platons Symposion (bes. 202a–204a), wo der Mensch als ›Zwischenwesen‹ betrachtet wird; vgl. dazu NF: Menschsein als Möglichsein. Platons Menschenbild ange­sichts der Paradigmendiskussion in der Platonfor­schung. 76 Vgl. conf. 1,1: »fecisti nos ad te«; »inquietum cor nostrum«; Vl. Thomas von Aquin: Summa theologiae I 93, 1c. 77  Vgl. noch einmal August Stahl: ›Salus tua ego sum‹ (unter ›4. Fund-Stellen‹),249: »1885–1890: Rilke ist Schüler des Religionslehrers und geistlichen Professors Franz Horaček, eines Augustinus-Kenners.« 78 Auffallend und erstaunlich ist jedoch die Verwandtschaft zwischen Augustins Gebrauch des ›et tamen‹ und Rilkes des ›Und dennoch‹; vgl. NF: »Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?«, bes. 287–289. 79  Der frühe Text Mir zur Feier endet mit Versen, die Nähe und Distanz bezeugen (KA 1,111): »Du mußt wissen, daß dich Gott durchweht/ seit Anbeginn, / und wenn dein Herz dir glüht und nichts verrät,/ dann schafft er drin.« Vgl. an. quant. 77; »quo nihil sit secretius, nihil praesentius, qui difficile invenitur, ubi sit, difficilius, ubi non sit.« 80  Vgl. NF: Amore amoris tui facio istuc. Zur Bedeutung der Liebe im Leben und Denken Augustins; und: »Deum et animam scire cupio«.Zum bipolaren Grundzug von Augustins metaphysischem Fragen. Beide Texte mit Hinweisen zum Gedanken des schon erwähnten ›gratis diligere‹, das auf Rilkes Gedanken der nicht-transitiven Liebe bezogen werden kann (vgl. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge; KA 3,628 f.). 81  Vgl. den schon erwähnten Brief an Witold von Huléwicz (Briefe aus Muzot, hier 332 f.). Rilke zielt dort auf einen nicht in der Zeit gegebenen (eschatologischen) Zustand, der Diesseits und Jenseits eint. Damit denkt er parallel zu Augustins Hoffnung auf Ruhe in Gott (conf. 13,51 f.) und dessen Haltung zum Tod des Jugendfreundes, die durch ein ›tamen‹ eingeleitet wird (conf. 4,10): »et tamen nisi ad aures tuas ploraremus, nihil residui de spe nostra fieret.« Dagegen hat der frühe Rilke eher einer eindeutigen Immanenz-Gläubigkeit Ausdruck gegeben; vgl. das Glaubensbekenntnis von 1893 (SW III,489 ff., vgl. dazu den Beitrag von Jakub Sirovátka im vorliegenden Band, bes. 115 f.).

Rilkes Zugang zur Religion  |  105

– Jakub Sirovátka –

Rilkes Herkunft und ein erster Blick auf seinen Weg 1. Einführung Am 4. Dezember 1875 wurde in Prag der Dichter René (später Rainer) Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke geboren. Zum damaligen Zeitpunkt war Prag und Böhmen Teil der österreichischen k. u. k. Monarchie, in der sich im Zuge nationaler emanzipatorischer Bestrebungen gewaltige Spannungen anstauten, die nach dem ersten Weltkrieg zum Zerfall der Monarchie und zur Gründung neuer Staaten führten, wie auch der Tschechoslowakei im Jahre 1918. Auch wenn Rilke in Prag geboren und aufgewachsen ist, trotz seiner Sympathie für die nationale Selbstbestimmung der Tschechen und den neu entstandenen Staat der Tschechoslowakei, dessen Staatsangehörigkeit er besaß und trotz seiner Sympathie für das einfache tschechische Volk ‒ die jedoch eher romantischer Natur war und später durch die Liebe zu Rußland abgelöst wird ‒ wird man schwer Prag als Rilkes eigentliche Heimat bezeichnen können.1 Ebenfalls hat auch die eher unglückliche Kindheit nicht dazu beitragen können, ein Heimatgefühl zu entwickeln. Hatte Rilke überhaupt so etwas wie ›Heimat‹? Er scheint keine echte Heimat im geographischen Sinne zu haben:2 als Angehöriger der deutsch sprechenden Minderheit ist er von der tschechischen Mehrheit umringt, als Österreicher fühlt er sich aber auch nicht. Als einem, »dem Rußland, Frankreich, Italien, Spanien, die Wüste und die Bibel das Herz ausgebildet habe«, ist ihm »rein unausdenkbar und unausfühlbar«, im »Österreichischen ein Zu-hause zu haben«.3 Auch wenn dieses Bekenntnis nicht einer gewissen Selbststilisierung entbehrt4 und in den Kriegsjahren geschrieben ist, trifft es doch ins Schwarze. Auch wenn sich Rilke gegen jede Deutschtümelei klar abgrenzt, kann er dem »deutschen Wesen nicht fremd sein«, wie er selber sagt. Zur Heimat wird ihm zunehmend die deutsche Sprache ‒ in der er »bis an die Wurzeln ausgebreitet« ist5 – die Dichtung und die Kunst als solche und auch   |  107

das Religiöse, das mit der Kunst eine unauflösliche Allianz eingeht. Rilke wird in der Tat im besten Sinne des Wortes zu einem ›europäischen‹ Dichter, der sich eine Art ›portative Heimat‹ schafft mittels seiner äußeren und inneren Reisen. Und man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, daß so etwas wie ›Heimat‹ bei ihm immer erst erkämpft werden muß, soweit sie erkämpft werden kann. Rilke gehört zu den zahlreichen Prager Schriftstellern deutscher Sprache wie Franz Kafka, Franz Werfel, Max Brod, Paul Leppin, Johannes Urzidil, Egon Erwin Kisch und andere; nicht zufällig hieß es in Prag ›es brodelt und kafkat‹. Zu Rilkes Zeit machte die deutsche Bevölkerung in Prag eine Minderheit aus, die allerdings der Oberund Mittelschicht angehörte. Im Jahre 1880 beträgt der Anteil der deutschsprachigen Einwohner von Prag 15,5%, im Jahre 1900 nur noch 7,5% – bedingt durch die Zuwanderung von Arbeitskräften.6 Auch weil die Deutschen mehrheitlich der Oberschicht angehörten, gab es zahlreiche nationale Spannungen und Reibereien unter Tschechen und Deutschen, vor allem mit dem Aufkommen des tschechischen Nationalbewußtseins und dem Streben nach einer größeren staatlichen Autonomie im Rahmen der Habsburgischen Monarchie. Jede Nation hatte zum Beispiel ein ›eigenes‹ Korso, wo man am Sonntag spazieren ging, um zu sehen und gesehen zu werden, man traf sich in unterschiedlichen Cafés und wie Egon Erwin Kisch geschrieben hat, »sogar das Anzünden der Zigarre geschah mit eigenen, nie mit fremden Streichhölzern«.7 So wie auch bei anderen Autoren deutscher Zunge führte die Isolation innerhalb der tschechischen Mehrheit zu einer großen Sensibilität für sprachliche Experimente und zu einem eigenständigen ›Ton‹ in der Literatur deutscher Sprache.8 Und Peter Demetz meint in diesem Zusammenhang: »Das deutschsprachige Prag war eine zu kleine, als enge Clique organisierte Welt, als daß besonders viel Spontaneität und frische Luft zur Verfügung gestanden hätten, und sobald die jungen Leute einer neuen, begabten Gruppe sich genauer umzusehen begannen, entschlossen sie sich, anderswo hinzugehen – an einen Ort, der vielleicht weniger magisch war, wo es aber mehr Verleger, Zeitungen und stimulierend widersprüchliche Meinungen gab.«9 Einige gingen nach Leipzig, Wien, Berlin oder München ‒ wie z. B. Rilke, Werfel, Kornfeld oder auch Kafka (der später zurückkehrte und das berühmte »Prag läßt mich nicht los, das Mütterchen hat 108  |  jakub sirovátka 

Krallen« äußerte), andere wie Brod, Leppin, Urzidil sind vorerst geblieben. Allen Spannungen zum Trotz gab es aber auch etliche Kontakte zwischen den Literaten beider Nationen, die die nationalen Gegensätze zu überwinden suchten. Rilkes Verhältnis zum böhmischen Element seiner Herkunft bleibt zwiespältig. Nach Demetz konnte Rilke »kläglich wenig Tschechisch«, »wie sich aus der […] Korrespondenz mit Valerie David-Rhonfeld zeigt, seiner ersten Prager Liebe«.10 Zu einem modifizierten Urteil kommt Clara Mágr, die sich auf das Zeugnis von Rilkes Zeitgenossen stützt, die mit ihm in Prag in einem freundschaftlichen Kontakt verkehrten. Nach Auskunft des Arztes und Schriftstellers Hugo Salus oder des tschechischen Dekadenzdichters Jiří Karásek ze Lvovic hat Rilke tschechisch flüssig gesprochen, wenn auch mit Fehlern.11 Am ausgewogensten erscheint hier Václav Černý, wenn er nüchtern feststellt: Rilkes »deutsche[n] Biographen glauben an seine Tschechischkenntnisse nicht, die Tschechen überschätzen sie gerne.« Er kommt jedoch zu dem Schluß, daß seine »Tschechischkenntnisse größer waren, als man gewöhnlich annimmt«.12 Bekannterweise hat Rilke Prag seine frühe Gedichtsammlung Larenopfer (1895) gewidmet, in dem verschiedene Motive insbesondere aus der glorreichen Vergangenheit Böhmens vorkommen: das Prag Rudolfs II., Rabbi Löw, der Reformator und Universitätsmagister Jan Hus, der Dichter Jaroslav Vrchlický, der Dreißigjährige Krieg. Eisner hebt vor allem das Motiv des ›Liedes‹ hervor, das am deutlichsten die Verbindung zu seinem böhmischen Herkunftsland bekundet.13 Und immer wieder wird das Thema des einfachen Volkes aufgenommen, besonders das Schicksal der untersten sozialen Schichten. Auch in seinen frühen Erzählungen Zwei Prager Geschichten, Das Lachen des Pán Mráz oder Frau Blaha’s Magd finden wir ›böhmische Motive‹ vor, die allem voran das Leben des einfachen Volkes zur Sprache bringen. Das slawische Element in der Gestalt des Tschechischen, das sich fast ausschließlich in der frühen WerkPhase niederschlägt, wird später durch den Einfluß des Russischen ersetzt.14

Rilkes Herkunft und ein erster Blick auf seinen Weg  |  109

2. Rilkes religiöse Herkunft Böhmen ist schon immer das slawische ›Frontland‹ im Westen gewesen, in dem sich germanische Stämme mit keltischen und slawischen vermischten. Die religiöse Situation in Böhmen spiegelt diese geographische Situation wider. Bereits die Anfänge der Christianisierung stehen unter dem Zeichen des Kampfes um Einfluß zwischen den fränkischen Missionaren und den slawischen Herrschern. In diesem Jahr (2013) feiert die Tschechische Republik das 1150. Jubiläum der Ankunft der ›Slawenmissionare‹ Konstantinos und Methodios. Nachdem sich »vierzehn böhmische duces« im Jahre 845 in Regensburg taufen ließen,15 bat Rastislav, der Fürst des großmährischen Reichs, den byzantinischen Kaiser Michael III. um Missionare, die eine Art ›Gegengewicht‹ bilden könnten gegen die fränkischen Missionare. 863 kamen die griechischen Brüder Konstantinos (später Kyrill) und Methodios. Konstantin schuf die neuartige slawische glagolitische Schrift und beide übersetzten die liturgischen Texte ins Altslawische (868 wurde das Altslawische als neue Kirchensprache vom Papst anerkannt). Schon bald setzte sich jedoch in Böhmen erneut die westliche, lateinische Tradition durch. Nach der Verbrennung von Jan Hus beim Konzil zu Konstanz im Jahre 1415 wurde Böhmen zu einem religiösen Schmelztiegel von unterschiedlichen reformatorischen und antireformatorischen Bewegungen. Man braucht nur an die Hussitischen Kriege (1420–1437) und die Hussitische Kirche zu erinnern oder an die Verfolgung der Böhmischen Brüder (der letzte Bischof und Pädagoge Johann Amos Comenius mußte fliehen und starb 1670 in Amsterdam). Die katholische Gegenreformation durch die Habsburger fiel besonders hart aus; 1920 wurde die Tschechoslowakische Kirche gegründet, als es nach der Gründung des selbstständigen Tschechoslowakischen Staates hieß: »weg von Wien, weg von Rom«. Paradoxerweise ist – trotz der vielen reformatorischen Bewegungen und der vielen protestantischen Kirchen tschechischer Provenienz – die katholische Kirche bis heute die stärkste religiöse Kraft geblieben. Rilke wurde in seiner Kindheit katholisch sozialisiert (die deutsche Schicht gehörte meistens der katholischen Kirche an, die in der Habsburger Monarchie eine Art Staatsreligion war; zu dieser Sozialisation gehörte auch der Besuch der Piaristenschule; Demetz 110  |  jakub sirovátka 

berichtet über Werfels Erinnerung an einen Spruch, der ihnen von anderen Jungs auf der Straße zugerufen wurde: »Piaristen, schlechte Christen – Piaristé, peklo jisté!«16), was Rilke jedoch nicht daran gehindert hat, im Larenopfer als die bestimmende Figur Jan Hus zu besingen, an dem er vor allem das aufrichtige und reine Herz rühmt. Aus Rilkes Kindheit und Jugendzeit wären zwei Personen zu nennen, die ihn in religiösen Dingen am stärksten beeinflußten: allem voran seine Mutter und vielleicht auch sein Religionslehrer Franz Horáček. In der Beziehung zu Phia Rilke mischt sich in fataler Weise ein kompliziertes Mutter-Sohn-Verhältnis mit einer krankhaft religiösen Erziehung. Bekannterweise wurde Rilke als der einzige Sohn bis zu seinem fünften Lebensjahr als Mädchen erzogen, in Erinnerung an seine ältere, kurz nach der Geburt verstorbene Schwester. Die Ehe seiner Eltern war alles andere als glücklich. Im Jahre 1884 kam es zur Trennung – und der neunjährige René wurde nur von seiner ehrgeizigen Mutter erzogen, die ihn zwar verwöhnte, bald aber seine Erziehung den Verwandten überließ. Nach dem Scheitern ihrer Ehe und ihrer Träume von der großen Welt wandte sich Rilkes Mutter immer stärker einem exaltierten katholischen Glauben zu, der Echtheit vermissen ließ und sich in Riten, Zeremonien und im Sammeln von Heiligenbildern erschöpfte. Diese religiöse Scheinwelt paarte sich mit dem Interesse an Spiritismus und Esoterik. In einem Brief (vom 17. 12. 1922) schildert Phia ihrem Sohn seine Geburt folgendermaßen: geboren »um Mitternacht, – die gleiche Stunde, wo unser Heiland geboren wurde, – und da es zum Samstag ging, – wurdest Du sofort ein Marienkind! – der gnadenreichen Madonna geweiht. – Papa und ich segneten, küßten Dich, – unser helles Glück flüchtete im Dankgebet zu Jesus und Maria. Klein und zart war unser süßer Bubi, – aber prächtig entwickelt! – und als er vormittags im Bettchen lag, bekam er das kl. Kreuzchen, – so wurde ›Jesus‹ sein erstes Geschenk.«17 Wie Carl Sieber berichtet, mußte der kleine René das Kreuz »an den Stellen der Nägelmale, da, wo Christus Schmerzen habe«, küssen.18 »Wenn ich es bedenke, so muß ich sagen, daß mir meine Erziehung in mancher Richtung sehr geschadet hat.«19 Dieser Selbstdiagnose eines anderen Prager Schriftstellers deutscher Zunge ‒ Franz Kafkas ‒ würde aller Wahrscheinlichkeit nach auch Rilke zustimmen. Trotz des überaus schwierigen Verhältnisses zu seiner Mutter Rilkes Herkunft und ein erster Blick auf seinen Weg  |  111

brach Rilke mit ihr nie endgültig, auch wenn er sich sein Leben lang an dieser Beziehung abarbeitete. In einem Brief an Lou AndreasSalomé aus dem Jahre 1904 schildert Rilke sein Leiden in Bezug auf die eigene Mutter: »Wenn ich diese verlorene, unwirkliche, mit nichts zusammenhängende Frau, die nicht altwerden kann, sehen muß, dann fühle ich, wie ich schon als Kind von ihr fortgestrebt habe, und fürchte tief in mir, daß ich, nach Jahren und Jahren Laufens und Gehens, immer noch nicht fern genug von ihr bin, daß ich innerlich irgendwo noch Bewegungen habe, die die andere Hälfte ihrer verkümmerten Gebärden sind, Stücke von Erinnerungen, die sie zerschlagen in sich herumträgt; dann graut mir vor ihrer zerstreuten Frömmigkeit, vor ihrem eigensinnigen Glauben, vor allem diesen Verzerrten und Entstellten, daran sie sich gehängt hat, selber leer wie ein Kleid, gespenstisch und schrecklich. Und daß ich doch ihr Kind bin; daß in dieser zu nichts gehörenden, verwaschenen Wand irgendeine kaum erkennbare Tapetentür mein Eingang in die Welt war.«20 Und in einem Gedicht heißt es: Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein. Da hab ich Stein auf Stein zu mir gelegt, und stand schon wie ein kleines Haus, um das sich groß der Tag bewegt, sogar allein. Nun kommt die Mutter, kommt und reißt mich ein. Sie reißt mich ein, indem sie kommt und schaut. Sie sieht es nicht, daß einer baut. Sie geht mir mitten durch die Wand von Stein. Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein. Die Vögel fliegen leichter um mich her. Die fremden Hunde wissen: das ist der. Nur einzig meine Mutter kennt es nicht, mein langsam mehr gewordenes Gesicht. Von ihr zu mir war nie ein warmer Wind. Sie lebt nicht dorten, wo die Lüfte sind. Sie liegt in einem hohen Herz-Verschlag und Christus kommt und wäscht sie jeden Tag.21 112  |  jakub sirovátka 

Diesem negativen Bild der Mutter stehen jedoch auch liebevolle Darstellungen gegenüber, die das innere Ringen um eine echte Mutter-Sohn-Beziehung ahnen lassen.22 Trotz der eher katastrophalen religiösen Sozialisation eröffnet jedoch unübersehbar das Religiöse einen imaginativen Raum für Rilke und auch durch das Verknöcherte und Schiefe der religiösen Formen um ihn hindurch erahnt er doch die existentielle Tiefe der Beziehung zum Göttlichen. In dieser Hinsicht läßt sich mit Jacob Steiner sagen, daß Rilkes ›religiöse Umwelt und Herkunft‹ als ›Ermöglichungsgrund seiner eigentümlichen Einbildungskraft‹ anzusehen sind.23 So wird auch verständlich, daß Rilke stets für sich die Psychoanalyse ablehnte: die Einflüsse seiner Kindheit, gegen die er sich wehrte, haben ihn genötigt, all seine künstlerischen Kräfte zu mobilisieren, um diesen Einflüssen zu entkommen, indem er sie für seine Zwecke von innen verwandelte und sie sich dichterisch aneignete. Stefan Keppler sagt richtig: »Rilke bewältigt die intensivsten religiösen Erfahrungen seiner Erziehung, indem er sie mit den in ihr selbst angelegten ästhetischen Potentialen verfügbar macht und letztlich unterwirft«24 ‒ und somit auf diesem Weg zum Kern des Religiösen vorstößt. In diesem Zusammenhang untersucht Keppler die Rolle des Religionslehrers Franz Horáček an der Militär-Unterrealschule in St. Pölten, die Rilke besuchte. Horáček, dem Rilke »eine große Verehrung und eine durch die Jahre dauernde Dankbarkeit« (in einer brieflichen Selbstauskunft an Franz Kappus vom 17. 2. 1903; B I, 44) bewahrte, scheint eine interessante Persönlichkeit gewesen zu sein. Er zeigt sich nach Keppler als »glänzender Stilist mit weitem intellektuellen Einzugsgebiet«, der Kopernikus und Leibniz zitiert25 und sich nicht scheut, bei seinen Vorträgen über die Bibel die Ergebnisse der Evolutionstheorie zum Vergleich heranzuziehen. Ein ehemaliger Schüler – der spätere General Edmund zu Glaise-Horstenau – bezeichnet Horáček sogar als einen Hussiten, da er das Unfehlbarkeitsdogma nicht anerkannte, »weil das vatikanische Konzil gar nicht ordnungsgemäß geschlossen worden sei«.26 Durch Horáček lernt Rilke vielleicht die ›Confessiones‹ von Augustines kennen und vor allem die Gestalt des heiligen Franz von Assisi, den Horáček als den ›größten Heiligen Italiens‹ bewundert.27 Auch wenn Keppler »eine gewaltige Kluft zwischen dem Dichter und seinem Religionslehrer« sieht,28 eröffnet Horáček Rilke offenbar die Augen für die Rilkes Herkunft und ein erster Blick auf seinen Weg  |  113

›tragenden ästhetischen Momente‹ der Religion, für das Gebet als ein ›Akt der Imagination‹.29 3. Der lebenslage Weg zum ›umittelbaren Bezug‹ zu Gott Die Gottsuche in Rilkes Dichtung läßt sich meines Erachtens nach am besten aus der Perspektive eines Wortes betrachten, das Rilke in einem Brief an Ilse Jahr am 22. 2. 1923 schreibt. Dieses Wort, das als ein programmatisches Motto gelesen werden muß, lautet: »statt des Besitzes erlernt man den Bezug« [KA 1, 596; Hervor. vom Vf.]. Im Verhältnis zu Gott ist jedwedes Besitzdenken fehl am Platz, religiöse Besitztümer kann es in der Beziehung zum Absoluten nicht geben: Auch der dich liebt und der dein Angesicht erkennt im Dunkeln […] besitzt dich nicht. Und wenn dich einer in der Nacht erfaßt, so daß du kommen mußt in sein Gebet: Du bist der Gast, der wieder weiter geht. Wer kann dich halten, Gott? Denn du bist dein, von keines Eigentümers Hand gestört.30

Allein in einem ›erlernten‹, d. h. in einem errungenen und mit dem eigenen Leben verbürgten Bezug findet eine adäquate Beziehung zum Göttlichen statt. In diesem Sinne ist auch der These Ulrich Fülleborns zuzustimmen, daß die Dichtung Rilkes »nicht den ›Besitz‹ von irgendwelchen neuen Wahrheiten« zu bieten vermag, »sondern nur den ›Bezug‹ zu einer Wirklichkeitsdimension, die jenseits von Sprache und Bewußtsein bleiben muß.«31 In Rilkes Werk kommt deutlich die Überzeugung zur Sprache, daß jeder Mensch von vornherein in einer Urrelation zum Göttlichen steht, das ihm immer schon voraus liegt und ihn unendlich übersteigt. So ist die Existenz eines jeden Menschen in diese Beziehung eingetaucht, auch wenn er sie nicht wahrhaben will oder sie ablehnt. Das Wort des Mönchs im Stunden-Buch ist auf jeden Menschen, auch auf den Dichter selbst umzumünzen (KA 1,157): »Ich kreise um Gott, um den uralten 114  |  jakub sirovátka 

Turm,/und ich kreise jahrtausendelang;/und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm/oder ein großer Gesang.« Der Ablehnung des Besitzens und dem Lernen des Bezuges entsprechen im Werk Rilkes zwei Leitmotive, die sich in der Frage nach Gott wie zwei Seiten derselben Medaille bis zum Schluß durchhalten. Auf der einen Seite steht eine scharfe Kritik des Christentums. Von den negativen, blasphemisch anmutenden Äußerungen, die es in der Tat gibt, darf man sich jedoch nicht vorschnell blenden lassen. Diese ablehnende Haltung gegenüber dem Christlichen, die von etlichen Interpreten hervorgehoben wird (vgl. z. B. KA 4,1060 ff.), stellt nur eine Seite der Gottsuche Rilkes dar. Auf der anderen Seite ist die Dichtung Rilkes von einem unermüdlichen Suchen nach einem echten, tiefen und unmittelbaren durch nichts verstellten Bezug zu Gott durchdrungen. Diese Suche führt aber zu keinem bestimmten Ergebnis, das sich festhalten ließe, sondern verbleibt letztlich in einer Art ›negativer Poesie‹,32 im Dunkeln. Die Unmittelbarkeit des Gottesbezuges geht mit einer ›Namenlosigkeit Gottes‹33 einher, da die Wirklichkeit Gottes den Menschen und seine Sprachfähigkeit dermaßen übersteigt, daß sie sich ihm entzieht. So ist von der Grundthese auszugehen, daß die letztgültigen Motive für Rilkes Kritik am Christentum in der Sorge um eine unverstellte und unmittelbare Beziehung zu einem den Menschen übersteigenden Gott zu suchen sind. Die Kritik, gegen die man sicher auch Einwände ins Feld führen könnte, speist sich aus einer tiefen Sensibilität für das Echte und Lebendige eines Bezugs zum Unendlichen. Die Doppelperspektive ›Nicht Besitz/sondern Bezug‹34 soll im Folgenden im Hinblick auf die Frage nach Gott im Durchgang der Werke Rilkes in seinen unterschiedlichen Phasen durchgespielt werden, wobei der Akzent auf das frühe und späte Werk gelegt wird. 4. Die Kritik am Christentum Die Kritik am Christentum oder an der Gestalt Jesu Christi zieht sich durch das ganze Werk Rilkes hindurch. Wie bereits dargelegt, ist die Kritik am Christentum zunächst als Versuch der Loslösung von der durch die Mutter vermittelte religiöse Erziehung im Sinne Rilkes Herkunft und ein erster Blick auf seinen Weg  |  115

einer Selbstfindung zu verstehen: Eine Selbstfindung als Künstler und auch als Mensch, da bei Rilke die künstlerische und die existentiellen Seite des Lebens sehr eng miteinander verflochten sind. Aus dieser Perspektive ist z. B. das Gedicht Glaubensbekenntnis (1893) zu lesen, das der 18jährige Rilke verfaßt: Ihr lippenfrommen Christen nennt mich den Atheisten und flieht aus meiner Näh’, weil ich nicht wie ihr alle betöret in der Falle des Christentums geh. […] »Du wirst dann untergehen«, ruft ihr, »nicht auferstehen, wenn die Posaune gellt!« »Habt Dank, ‒ ich bleibe liegen, ich lasse mir’s genügen an dieser einen Welt. ‒

Der kecke, draufgängerische Ton verliert sich jedoch gleich im nächsten Gedicht Christus am Kreuz, in dem das Ich des Gedichts – hier sicher noch stark autobiographisch gefärbt – unter einem schlichten Holzkreuz am Wegesrand stehend darüber nachdenkt, warum es nicht an Christus zu glauben vermag: Nun ist mirs klar, warum ich ihn nicht lieben noch achten kann, und kein Gebet ihm weihn: Er wäre als Mensch so göttlich groß geblieben, und nun als Gott erscheint er menschlich klein!

Erstaunlich an diesen zwei frühen Gedichten ist die Tatsache, daß sie bereits Motive enthalten, die für die Ablehnung des Christentums bis zu den letzten Werken bestimmend bleiben. Zuerst ist das immer wieder variierte Motiv des ›Diesseits‹, des ›Hiesigen‹ zu betonen. Rilke lehnt das Christentum nicht per se ab, sondern weil er glaubt, die christliche Hoffnung auf ein Jenseits entwerte und verdunkele das diesseitige Leben auf der Erde. Das »tief und innig Hiesige, das die Kirche ans Jenseits veruntreut hat«35 soll in das Leben zurückgeholt werden. Das irdische Leben soll geliebt werden und 116  |  jakub sirovátka 

zwar mit seinen schönen, beglückenden als auch mit seinen schweren, dem Leiden ausgesetzten und dem Tod geweihten Seiten. Die Abwehrhaltung gegenüber der Abwertung der menschlichen Existenz läßt Rilke gegen das christliche Jenseits sprechen (KA 1,221: Aus dem Buch von der Pilgerschaft des Stundenbuchs): Kein Jenseitswarten und kein Schaun nach drüben, nur Sehnsucht, auch den Tod nicht zu entweihn und dienend sich am Irdischen zu üben, um seinen Händen nicht mehr neu zu sein.

Dasselbe Motiv finden wir im späten Werk: etwa in den Duineser Elegien (1912–1922) die Ausrufung »Hiersein ist herrlich« (KA 2,221; Die siebente Elegie) [ist jedoch nicht immanentistisch gemeint, wie die Neunte Elegie zeigt] oder in dem fiktiven Brief des jungen Arbeiters (1922; KA 4,747): »Gebt uns Lehrer, die uns das Hiesige rühmen.« In demselben Werk wird die vom Christentum verursachte Entwertung der Erde als Ursache für ihre Ausbeutung genannt (KA 4,737 f.): »Sie lassen sich nicht vor Eifer, das Hiesige, zu dem wir doch Lust und Vertrauen haben sollten, schlecht und wertlos zu machen, – und so liefern sie die Erde immer mehr denjenigen aus, die sich bereit finden, aus ihr, […] wenigstens einen zeitlichen, rasch ersprießlichen Vorteil zu ziehn. Die zunehmende Ausbeutung des Lebens, ist sie nicht eine Folge, der durch die Jahrhunderte fortgesetzten Entwertung des Hiesigen? Welcher Wahnsinn, uns nach einem Jenseits abzulenken, wo wir hier von Aufgaben und Erwartungen und Zukünftigen umstellt sind.« Die Reihe der christentumkritischen Stellen läßt sich beliebig durch Zitate aus den Briefen fortsetzen.36 Das zweite entscheidende Motiv der Kritik am Christentum stellt neben der Entwertung des Diesseits durch das christliche Jenseits die Ablehnung der Mittlerrolle Christi dar. Rilke zieht die irdische Gestalt Jesu dem auferstandenen Christus vor, da er erneut die Verfinsterung des Irdischen fürchtet. Der verklärte Christus wisse nichts über die Not des Menschen, »seine Verhältnisse waren so weitaus andere« (Brief des jungen Arbeiters; KA 4,735). Christus als Mittler zwischen Gott und Mensch behindere und verstelle die unmittelbare Beziehung zu Gott. Sarkastisch schreibt Rilke in einem Brief (an Maria Thurn und Taxis vom 17.12. 1912; B I, 413), daß sich mit Gott großartig reden läßt, »ohne das Telephon ›Christus‹, in Rilkes Herkunft und ein erster Blick auf seinen Weg  |  117

das fortwährend hineingerufen wird: Holla, wer dort? – und niemand antwortet.« Rilke meint, den Religionen näher zu stehen, in denen »der Mittler weniger wesentlich oder fast ausgeschaltet erscheint« (Brief an Rudolf Zimmermann vom 16. 1. 1922; B II, 301). Es scheint ihm unverständlich zu sein, warum ein Umweg über Christus zu nehmen ist, der eine Erlösung und die ihr vorausgehende Sündhaftigkeit impliziert, statt sich direkt und unvermittelt Gott zuzuwenden. »Ich will mich nicht schlecht machen lassen um Christi willen, sondern gut sein für Gott« schreibt der fiktive junge Arbeiter in seinem Brief (KA 4,746).37 So wird die Figur Jesu Christi fast ausschließlich in seinen irdischen Bezügen dargestellt und die Göttlichkeit Christi karikiert. In den frühen Christus-Visionen (1896/1898) wird Christus in verschiedenen Gestalten gezeigt: als ›Narr‹, als ›Bettler‹ oder als der ›ewige Jude‹. In der achten Vision der ersten Folge, dem Judenfriedhof, läßt Rilke Jesus sogar erklären, der Himmel sei leer, Gott gibt es nicht (SW III,157 f.): »Und dann von tausend Erdensorgen schwer/stieg meine Seele in den hohen Himmel,/und meine Seele fror; denn er war leer./So warst du niemals – oder warst nicht mehr,/als ich Unsel’ger auf die Erde kam.« Das Echo von Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei, ist unüberhörbar. Der ikonoklastische Eifer, das Niederreißen von bestimmten Bildern der christlichen Tradition sind meines Erachtens zunächst als eine notwendige Durchgangsstation im Werk Rilkes zu sehen. Rilke ist offensichtlich nur durch den Gang durch dieses Fegefeuer in der Lage, die Frage nach Gott ursprünglich und neu zu stellen. Er wendet sich vor allem gegen die zu seinen Lebzeiten verbreiteten Lebensund Leibfeindlichkeit des Christentums und gegen die bürgerlichen Formen des christlichen Lebens: »Sie haben aus dem Christentum ein métier gemacht, eine bürgerliche Beschäftigung, sur place, einen abwechselnd abgelassenen und wieder angefüllten Teich« (Brief des jungen Arbeiters; KA 4,737). Vor allem durch seine zwei Reisen nach Rußland gewinnt Rilke einen neuen Zugang zum Christentum und zur Religion überhaupt, indem er die einfache Frömmigkeit der russischen Bauern kennenlernt. Der selbstverständliche Vollzug einer Gottesbeziehung im alltäglichen Leben hinterläßt einen bleibenden Eindruck bei Rilke. Die deutlichste Spur der Bewunderung für dieses orthodoxe Christentum finden wir im Buch vom mönchischen 118  |  jakub sirovátka 

Leben, dem ersten Buch des Stunden-Buchs. Das lyrische Ich spricht als ein russischer Mönch, der sich als Ikonenmaler und als Dichter zeigt. Die Faszination Rilkes für die Ikonenmalerei ist insbesondere in der Tatsache begründet, daß sie in ihrem Schaffen Religion und Künstlertum in sich vereint.38 Der Bezug auf die christliche Tradition bleibt im ganzen Werk Rilkes ambivalent. Wenn Rilke schreibt, daß er im Hinblick auf die Gottesfrage viele Themen zuerst ›aller Überlieferung zum Trotz‹ entfaltet, ist diese Behauptung nur zum Teil richtig. Rilke greift die christliche Überlieferung nämlich auch positiv auf und seine Dichtung zeigt sich von christlichen Motiven und Bildern durchdrungen: zu nennen wären aus dem mittleren Werk etwa Gedichte wie Der Ölbaum-Garten, Magnificat aus den Neuen Gedichten (1903–1908) oder aus dem Spätwerk Das MarienLeben (1912). Freilich wird allem voran die irdische Seite des Lebens von Jesus und Maria hervorgehoben und in Bilder gefaßt, in denen eine ›hiesige Version [des] Christentums‹39 vergegenwärtigt wird. Rilke ist darüber hinaus ein eifriger Bibelleser, bezeichnet die Bibel als unentbehrlich für sich.40 Eine konstante Beschäftigung mit Augustinus läßt sich ebenso aufzeigen, die ersten zwölf Kapitel der Confessiones werden sogar von Rilke ins Deutsche übertragen. Eine große Anziehungskraft übt auf Rilke die Gestalt des Franz von Assisi aus. Der heilige Franziskus wird als Prototyp und als Vorbild eines Menschen dargestellt, der das diesseitige Leben in einen größeren Bezug aufnimmt und es verwandelt. Im Abschlußgedicht des Stunden-Buchs, das Rilke sogar unter dem Titel Hymnus auf den heiligen Franz drucken läßt,41 wird Franziskus als die idealtypische Gestalt des ›großen Armen‹ präsentiert, der durch seine richtige Haltung dem Leben und dem Tod gegenüber Hoffnung auf Veränderung ausbreitet (vgl. den Kommentar in KA 1,778): O wo ist der, der aus Besitz und Zeit zu seiner großen Armut so erstarkte, daß er die Kleider abtat auf dem Markte und bar einherging vor des Bischofs Kleid. Der Innigste und Liebendste von allen, der kam und lebte wie ein junges Jahr; der braune Bruder deiner Nachtigallen, in dem ein Wunder und ein Wohlgefallen und ein Entzücken an der Erde war. Rilkes Herkunft und ein erster Blick auf seinen Weg  |  119

Bereits im Stunden-Buch, aber vor allem später in den Sonetten an Orpheus verschmelzen die Züge von Franziskus mit denen des Orpheus. 5. Der unmittelbare Gottesbezug Wie bereits angedeutet, eröffnen die Reisen nach Florenz (1898) und insbesondere nach Rußland (1899 und 1900) – verbunden mit der Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst (die Künstlerkolonie in Worpswede, wo er seine Frau Clara Westhoff kennenlernt, die Kunst von A. Rodin [dessen Privatsekretär er für einige Monate im Jahr 1905/1906 war] und P. Cézanne) – Rilke einen neuen Zugang zur Religion. In einem Brief an den Pfarrer Rudolf Zimmermann (vom 3. 2. 1921; KA 1,729 f.) erklärt Rilke, daß er auf der Suche nach einer ›unmittelbarsten Gottesbeziehung‹ sei. Das Stunden-Buch sei »noch in viel leidenschaftlicherem Grade ein Versuch, die unmittelbarste Gottesbeziehung herzustellen, ja sie, aller Überlieferung zum Trotz, dem Augenblick abzuringen«. In der Tat stellt das StundenBuch wahrscheinlich dasjenige Werk dar, daß die Gottesbeziehung am Eindringlichsten in einer Fülle von Bildern zum Ausdruck bringt, auch wenn sie bereits dort in ›Dunkelheit‹ gehüllt wird. Die Vergegenwärtigung Gottes wird als eine Aufgabe des Menschen vorgestellt, der sich sein Leben lang in den Bezug zum Unendlichen zu bringen hat. Was Gott an sich ist, bleibt für den Menschen unerklärlich, auch wenn er von vornherein in Beziehung zu ihm steht: Mein Gott ist dunkel und wie ein Gewebe von hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken. Nur, daß ich mich aus seiner Wärme hebe, mehr weiß ich nicht […]42 oder Du Dunkelheit, aus der ich stamme, ich liebe dich mehr als die Flamme, welche die Welt begrenzt43

Trotz oder vielleicht aufgrund dieser Dunkelheit Gottes hat der Mensch die Aufgabe, sich selbst und sein ganzes Leben in existentieller Weise in die Beziehung zu diesem ihn übersteigenden Gegen120  |  jakub sirovátka 

über zu bringen. Der Mensch soll Gott ›malen‹, an ihm ›bauen‹, ihn ›gebrauchen‹, so daß Gott in ihm reifen kann. In der Rede von diesem ›Gebrauchen Gottes‹ darf jedoch nicht eine Beschreibung oder gar Predigen einer immanentistischen Religion gesehen werden, wie es einige Kommentare nahelegen. Vielmehr vergegenwärtigt das Stunden-Buch die Aufgabe eines Theologen ‒ wie W. Braungart sagt ‒,44 oder anders gesagt, die eines jeden Menschen, der sich ›Gott vorgenommen hat‹: Malte (KA 3,620): »Wir aber, die wir uns Gott vorgenommen haben, wir können nicht fertig werden. […] Noch eh wir Gott angefangen haben, beten wir schon zu ihm: laß uns die Nacht überstehen.« Diese Aufgabe, Gott zu ›sagen‹, scheint eine Paradoxie zu enthalten, da sie zwei entgegengesetzte Pole der Nähe und Ferne zu vereinen hat. Auf der einen Seite steht die Forderung nach einem existentiellen Bezug zum Absoluten im eigenen Leben und auf der anderen Seite das Wissen um die Unerreichbarkeit, Unsagbarkeit und Verborgenheit dieses Absoluten. Die Paradoxie löst sich indes auf, wenn begriffen wird, daß sich das sprachliche ›Bauen und Malen Gottes‹ gerade aus seiner Dunkelheit, aus seiner Größe heraus ergibt (vgl. Marginalien zu Friedrich Nietzsche ›Die Geburt der Tragödie‹; KA 4,161): »Da wir aber nicht imstande sind, unangewandte Kraft, (d. h. Gott selbst), zu ertragen, so bringen wir sie mit Bildern, Schicksalen und Gestalten in Beziehung und stellen, […] immer neue vergleichende Dinge an ihren Weg.« In der Hervorhebung der existentiellen Erfahrbarkeit des Gottesbezuges im Wissen um den unendlichen Abstand berührt sich Rilkes Dichtung mit der Tradition der Mystik etwa eines Meister Eckhart oder Nikolaus von Kues. Wenn Meister Eckhart über die Geburt Gottes im Menschen spricht, dann ist damit ebenfalls keine Immanentisierung Gottes gemeint (auch wenn die Gefahr einer Verschmelzung von Gott und Mensch nicht völlig auszuschließen ist), sondern eher die Notwendigkeit einer existentiellen Erfahrung Gottes in den Vordergrund gerückt. Die Rede von der ›Dunkelheit Gottes‹ läßt sich wiederum mit De visione Dei von Nicolaus Cusanus in Verbindung bringen. Gott wohnt laut dieser Schrift im ›heiligen Dunkel‹, in einem ›unzugänglichen Licht‹ (Vom Sehen Gottes, 7). Die Unendlichkeit Gottes ist so groß, daß sie für jedes Begreifen unbegreiflich bleibt und letztendlich nur in Paradoxien zum Ausdruck gebracht werden kann. Die ›wissende Unwissenheit‹ (docta ingnorantia) im Bezug auf Gott, Rilkes Herkunft und ein erster Blick auf seinen Weg  |  121

die ›Dunkelheit des unsichtbaren Lichts‹ Gottes bei Cusanus findet ihre poetologische Entsprechung in den Versen des Stunden-Buchs (KA 1,170 f.): Gott, du bist groß. Du bist so groß, daß ich schon nicht mehr bin, wenn ich mich nur in deine Nähe stelle, Du bist so dunkel; meine kleine Helle an deinem Saum hat keinen Sinn. Dein Wille geht wie eine Welle und jeder Tag ertrinkt darin. Nur meine Sehnsucht ragt dir bis ans Kinn und steht vor dir wie aller Engel größter: ein fremder, bleicher und noch unerlöster, und hält dir seine Flügel hin.

Die expliziten Nennungen und Bilder Gottes werden im Verlauf der dichterischen Entwicklung Rilkes immer mehr zurückgenommen zugunsten der wachsenden Einsicht in die Unsagbarkeit, Unausprechlichkeit des Unendlichen. Das »Dunkel Gottes, in dem allein Gemeinschaft ist«, das Rilke in Rußland gefunden hat, verdichtet sich immer mehr. Diese Dunkelheit darf indessen nicht als eine Minderung verstanden werden, sondern als eine angemessene Vergegenwärtigung des Absoluten. Rilke stellt fest, daß zwischen ihm und Gott ›eine unbeschreibliche Diskretion‹ eingetreten ist, »und wo einmal Nähe war und Durchdringung, da spannen sich neue Fernen […] Das Faßliche entgeht, verwandelt sich, statt des Besitzes erlernt man den Bezug, und es entsteht eine Namenlosigkeit, die wieder bei Gott anfangen muß, um vollkommen und ohne Ausrede zu sein.« 45 Die Dunkelheit Gottes ‒ der Abstand zwischen Gott und Menschen ‒ muß ausgehalten und sogar durchlebt werden, denn nur durch diesen Abstand hindurch scheint eine Beziehung des Irdischen zum Göttlichen möglich (Brief an Ilse Jahr vom 22. 2. 1923; ebd.): »Die starke innerlich bebende Brücke des Mittlers hat nur Sinn, wo der Abstand zugegeben wird zwischen Gott und uns –; aber eben dieser Abgrund ist voll vom Dunkel Gottes, und wo ihn einer erfährt, so steige er hinab und heule drin […]. Erst zu dem, dem auch der Abgrund 122  |  jakub sirovátka 

ein Wohnort war, kehren die vorausgeschickten Himmel um, und alles tief und innig Hiesige, das die Kirche ans Jenseits veruntreut hat, kommt zurück; alle Engel entschließen sich, lobsingend zur Erde!« Die eigene Existenz, die Dinge in der Welt – alles soll gemäß dem Wort der Sonette an Orpheus ›Wolle die Wandlung‹ (Sonett XII des zweiten Teils) verwandelt werden und in den einen großen Bezug gebracht werden (Vom mönchischen Leben, KA 1,194): »Gieb mir noch eine kleine Weile Zeit: ich will die Dinge so wie keiner lieben,/bis sie dir alle würdig sind und weit.« Eine echte Beziehung zu Gott gibt es nur in der Rückkehr zu seinem eigenen wahren Selbst, das um die eigene Endlichkeit weiß.46 Allein der ›rechte Gebrauch‹ des Lebens bringt den Menschen in den richtigen Bezug zu Gott (Brief des jungen Arbeiters; KA 4,738): »Das Hiesige recht in die Hand nehmen, herzlich liebevoll, erstaunend, als unser, vorläufig Einziges: das ist zugleich, es gewöhnlich zu sagen, die große Gebrauchsanweisung Gottes, die meinte der heilige Franz von Assisi aufzuschreiben in seinem Lied an die Sonne«. Die ›Treue zur Erde‹, die Betonung der Annahme des ›Hiesigen‹, die sich in dem Ausruf »Hiersein ist herrlich« (KA 2,221) aus der Siebten Elegie ihre Bahn bricht, speist sich bei Rilke im Gegensatz zu Nietzsche noch aus anderen Quellen. Die eigene irdische Existenz kann nicht im vollen Sinne gelebt werden, wenn sie sowohl Gott als auch den Tod aus dem Vollzug hinausdrängt. Gott und der (eigene) Tod verkörpern das ›Andere‹, das ›Fremde‹, in Rilkes Dichtung auch das für das Leben ›Bedrohliche‹. Die menschliche Existenz kann sich jedoch in ihrer ›Eigentlichkeit‹ – um mit Heidegger zu sprechen – nur dann entfalten, wenn sie sich angesichts des Todes und Gottes vollzieht, wenn sie sich in Bezug zu Gott und den eigenen Tod zu bringen weiß. Die Welt hat durch ihre Verdrängungsstrategie vergessen, daß sie »durch den Tod und durch Gott von vornherein und endgültig übertroffen war.«47 Das ›hier Geschaute und Berührte‹ soll nicht ›in ein Jenseits‹ eingefügt werden, »dessen Schatten die Erde verfinstert, sondern in ein Ganzes, in das Ganze. […] So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden.«48 Rilkes Herkunft und ein erster Blick auf seinen Weg  |  123

Sowohl im Stunden-Buch als auch in den Duineser Elegien (21. 1. 1912 – 26. 2. 1922) wird unermüdlich die Frage Augustins erhoben, ob sich Gott um den Lauf der Welt und um das Schicksal des Menschen kümmert. Inmitten des Werdens und Vergehens richtet sich die Hoffnung auf ein Bleiben, auf ein bleibendes Sein, indem der Mensch auch angesichts des Todes und eines unendlichen Gottes bestehen kann (Buch von der Pilgerschaft; KA 1, 203): Bist du denn Alles, – ich der Eine, der sich ergibt und sich empört? Bin ich denn nicht das Allgemeine, bin ich nicht Alles, wenn ich weine, und du der Eine, der es hört? Hörst du denn etwas neben mir? Sind da noch Stimmen außer meiner?

Und in Die erste Elegie heißt es (KA 2,201): Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein.

In Die zweite Elegie (KA 2,206): Schmeckt denn der Weltraum in den wir uns lösen, nach uns? Fangen die Engel wirklich nur Ihriges auf, ihnen Entströmtes, oder ist manchmal, wie aus Versehen, ein wenig unseres Wesens dabei?

Bereits in den Neuen Gedichten, die zum mittleren Werk Rilkes gezählt werden, im Gedicht L’ Ange du Méridien. Chartres, das 1906 entstand (also 6 Jahre vor der ersten Elegie) wird in einem ähnlichen Ton die Frage nach dem Verhältnis des zeitlichen Daseins des Menschen zu einer ›Vollzähligkeit der Zeit‹, einer vollendeten Zeit des Engels49 aufgeworfen.50 Im Hintergrund des Gedichts steht Rilkes Besuch der Kathedrale von Chartres (zusammen mit Rodin), an deren Südseite sich eine Engelstatue mit einer Sonnenuhr befindet (KA 1, 462 f.): 124  |  jakub sirovátka 

Im Sturm, der um die starke Kathedrale wie ein Verneiner stürzt der denkt und denkt, fühlt man sich zärtlicher mit einem Male von deinem Lächeln zu dir hingelenkt: lächelnder Engel, fühlende Figur, mit einem Mund, gemacht aus hundert Munden: gewahrst du gar nicht, wie dir unsre Stunden abgleiten von der vollen Sonnenuhr, auf der des Tages ganze Zahl zugleich, gleich wirklich, steht in tiefem Gleichgewichte, als wären alle Stunden reif und reich. Was weiß du, Steinerner, von unserm Sein? und hältst du mit noch seligerm Gesichte vielleicht die Tafel in die Nacht hinein?

Hinter diesem fragenden Rufen verbirgt sich die Sorge um den Bestand des Endlichen angesichts des Unendlichen, die zum Grundtenor der Dichtung Rilkes gehört. Ohne das das Subjekt überragende Unendliche ist ein Vollzug und ein richtiges Verständnis der eigenen Endlichkeit nicht gegeben. In diesem Sinne müssen die Fragen, die das Ich des Gedichts an Gott oder die Gestalt des Engels richtet ‒ die an Stelle Gottes tritt51 ‒ nicht nur als rhetorische Fragen gelesen werden, sondern in ihrer ganzen existentiellen Wucht. Es handelt sich um echte aus der tief empfundenen Not des Vergänglichen sich erhebende Klagen an das dem Menschen überlegene Sein Gottes oder des Engels, ungeachtet dessen, daß die Klagen ohne eine eindeutige Antwort verhallen. Auch wenn die Gestalt des Engels, die noch für die Duineser Elegien bestimmend ist und an Stelle Gottes als ein vom lyrischen Ich angesprochenes Du getreten ist, in den Sonetten an Orpheus (2.–23.2. 1922) verschwindet und der Bezug zur Transzendenz sich eher im Entzug und im Nichtsagbaren zeigt, verschwindet auch dort dieser Bezug nicht. Im XIII. Sonett des zweiten Teils stehen folgende Verse (KA 2,263): Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter dir, wie der Winter, der eben geht. Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter, daß, überwinternd, den Herz überhaupt übersteht. Rilkes Herkunft und ein erster Blick auf seinen Weg  |  125

Sei immer tot in Eurydike – , singender steige, preisender steige zurück in den reinen Bezug. […] Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung, den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung, daß du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.

Das Leben in seiner Todhaftigkeit wird im Bezug auf ein größeres Ganzes gesehen, in das es eingetaucht ist. Auch wenn die menschliche Existenz nur dieses eine ›einzige Mal‹ vollzogen werden kann, drückt sich hier durch den Tod hindurch die Hoffnung aus, daß auch der Tod von einem ›unendlichen Grund‹ umfangen ist, daß der ›reine Bezug‹ bis in das Ende des Lebens hineinreicht. Angesichts des bevorstehenden Todes eines geliebten Menschen schreibt Rilke in einem Brief an Nanny Wunderly-Volkart (30. 1. 1920), die Verse des XIII. Sonetts gleichsam vorwegnehmend (KA 2,754): »Aber ein Maaß ist da, ein größeres Maaß unserer so merkwürdigen Zugehörigkeit, […] daß nicht mehr der Moment, der, ach, so verlierbare! ins Auge gefaßt wurde, sondern das Ganze […] die Bindung durch Gott, die ja die größte Freiheit ist von Mensch zu Mensch«. 6. Religion als Urrelation des Menschen Im Verlauf seines Lebens und seines Werkes gelangt Rilke zum Verständnis der Religion als einer Urrelation des Menschen (Buch von der Pilgerschaft, KA 1,219): »Du bist der Dinge tiefer Inbegriff,/der seines Wesens letztes Wort verschweigt/und sich den Andern immer anders zeigt:/dem Schiff als Küste und dem Land als Schiff«. Die Dimension des Göttlichen geht dem Menschen voraus und übersteigt ihn unendlich. In dieses Verständnis bezieht Rilke auch sich selbst ein, wie aus einer Briefstelle ersichtlich ist, in der er sich überzeugt zeigt, daß sein Dasein »durch sein eigenes schweres und seeliges Geheimnis mit allen Geheimnissen der Welt ja mit Gott selber, unerschöpflich zusammenhing und von dort geheim und großmüthig erhalten wurde«.52 Rilkes Verständnis der Religion kommt sehr schön in einem Brief aus dem Jahre 1906 an die ›Vereinigung für Schulreform‹ in Bremen zum Ausdruck, in dem er als Reaktion 126  |  jakub sirovátka 

auf eine Umfrage dieser Vereinigung die Streichung des Schulfaches Religion unterstützt. Die Ablehnung der Religion als eines schulischen Faches geschieht aber nicht aus atheistischen, sondern aus genuin religiösen Motiven heraus. Rilke versteht die Religion nämlich als eine grundlegende Dimension des menschlichen Daseins, die zum Menschen wesentlich gehört und die sich nicht beseitigen läßt. In Malte wird diese Unausweichlichkeit der Gottsuche klar ausgesprochen: Wir muten uns Gott »nicht mehr zu. Wir ahnen, daß er zu schwer ist für uns, daß wir ihn hinausschieben müssen, um langsam die lange Arbeit zu tun, die uns von ihm trennt. Nun aber weiß ich, daß diese Arbeit genau so bestritten ist wie das Heiligsein« (KA 3,584). Gott stellt eine Mächtigkeit dar, die den Menschen übersteigt, ihn zutiefst angeht und wie eine Art Heimsuchung über ihn kommt: »welche Anmaßung liegt darin, zu glauben, daß sie [die Religion] sich unterdrücken läßt? Wer von uns zweifelt daran, daß sie, wo eine Stelle ihr vermauert wird, tausend andere Zugänge finden, daß sie uns bedrängen, daß sie uns anfallen würde, wo wir es am wenigsten erwarten? Und ist das nicht gerade die Art, wie Religion zu den Menschen kommt: von Überfall zu Überfall? Ist sie im Leben je anders gekommen, als in der Gestalt des Unerwarteten, des Unsagbaren, des Absichtslosen?« Angesichts des Absoluten können alle Menschen nur Lernende und Empfangende sein (KA 4,586): »Denn, daß vor dem Ewigen und Unsagbaren nun keiner mehr der Wissende und Gebende ist, sondern beide Teile, wo es sich um das Größte handelt, Demütige sind und Empfangende, das ist ihre lebensgroße Gemeinsamkeit und ihre gemeinsame Arbeit.« Mit der christlichen Tradition gesprochen, jeder Mensch ist und bleibt lediglich ein discipulus veritatis, nicht ihr Meister und zugleich ein homo religiosus. In den Briefen an einen jungen Dichter wird unmißverständlich klargestellt, daß man den echten Glauben nicht wie ›einen kleinen Stein‹ verlieren kann. Wer meint, den Glauben an Gott mit der eigenen Kindheit verloren zu haben, hat ihn nie besessen. Der Bezug zu Gott, in dem der Mensch immer schon steht, muß erlernt, errungen werden (KA 4,532): »Warum denken Sie nicht, daß er der Kommende ist, der von Ewigkeit her bevorsteht, der Zukünftige, die endliche Frucht eines Baumes, dessen Blätter wir sind? […] Sehen Sie denn nicht, wie alles, was geschieht, immer wieder Anfang ist, und könnte es nicht Sein Anfang sein, da doch Rilkes Herkunft und ein erster Blick auf seinen Weg  |  127

Beginnen an sich immer so schön ist? […] Muß er nicht der Letzte sein, um alles in sich zu umfassen […] Wie die Bienen den Honig zusammentragen, so holen wir das Süßeste aus allem und bauen Ihn. Mit dem Geringen sogar, mit dem Unscheinbaren […] fangen wir an, mit der Arbeit und mit dem Ruhen hernach, […], mit allem, was wir allein, ohne Teilnehmer und Anhänger tun, beginnen wir ihn, den wir nicht erleben werden, sowenig unsere Vorfahren uns erleben konnten.« 7. Schluß In einem Brief sagt Rilke im Hinblick auf einige Völker, daß »Ihnen Gott Herkunft und darum auch Zukunft« (B II, 285) sei. Läßt sich diese Aussage auch im Sinne einer Selbstauskunft lesen? Die Antwort hängt wahrscheinlich davon ab, was unter Gott und Religion verstanden wird. Die Dichtung Rilkes vergegenwärtigt die Frage nach Gott wie kein anderer Dichter der Moderne. Rilke selbst mag kein Christ im orthodoxen Sinne gewesen sein, sein Werk ist jedoch erfüllt von einer ursprünglich vergegenwärtigten Lebendigkeit des Gottesbezugs, die sich von bestimmten Formen der Religiosität und von bestimmten Bildern trennen muß, um zum Ursprung einer echten und unmittelbarsten Beziehung zu Gott zu gelangen. Für Rilke ist Religion eher ein ›natürliches Bewegtwerden innerhalb eines Daseins‹, eine ›Richtung des Herzens‹ als ein Glaube. Seine Dichtung ist religiös in dem Sinne, daß sie das Wesen der Wirklichkeit und ihr Geheimnis zu zeigen und zu vergegenwärtigen vermag. Geborgen in diesem Geheimnis dürfen die Dinge so sein, wie sie sind und können ins Unsichtbare verwandelt werden. Damit hängt ebenso Rilkes fundamentales Bestehen auf der eigenen, lebendigen Erfahrung zusammen, die alles nicht innerlich Angeeignetes abzulegen hat. Fragen, die der Mensch nicht vor sich selbst absolut aufrichtig beantworten kann, sollen folglich in ihrer Offenheit gehalten werden. Rilkes ›Christentum‹ vertritt nicht eine kirchliche Weltanschauung, sondern stellt eine bestimmte Haltung gegenüber dem Leben und der Welt dar. Die christliche Tradition öffnet Rilke die Augen für die tragenden ästhetischen Elemente der Religion und eröffnet ihm Raum für ein tiefes Ergreifen der Weltwirklich128  |  jakub sirovátka 

keit in der imaginativen Dimension. Rilkes Dichtung versucht nicht das Wesen der Welt zu eliminieren, sondern sie in ihrer Endlichkeit zu halten und sie gerade in dieser Endlichkeit ernstzunehmen. Die unmittelbare Beziehung zum unsichtbaren Ganzen ist alleine in der ›Treue zu Erde‹ zu vollziehen, in innigster Relation zu den Dingen in der Welt, zur Natur, zum Tod. So läßt sich mit Kuschel resümierend festhalten, daß Rilke in seiner ›frommen Nichtfrömmigkeit‹ wie kein anderer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts dem Christentum so fern und zugleich so nah steht, die christliche Tradition ablehnt und zugleich von ihr und aus ihr lebt.53 Trotz seiner sich selbst attestierten ›beinah rabiaten Antichristlichkeit‹54 zehrt Rilke in seiner Dichtung vom Christentum und von Religion im Allgemeinen. Die Nähe Gottes zeigt sich in Rilkes Dichtung in seinem unendlichen, ›äußersten Abstand‹.55

Anmerkungen 1  Neben

den üblichen Biographien zu Rilkes Verhältnis zu Prag vgl. den Beitrag von Hugo Rokyta: Pražská rilkovská topografie [Rilkesche Topographie Prags], 83‒90. 2  Rilke bezeichnet sich selbst als einen ›heimatlosen Österreicher‹. Vgl. Rainer M. Rilke: Briefe II, 172. 3  Vgl. ebd.: Briefe II, 45 f. 4  Die menschliche Identität, sie sich vor allem durch den inneren Bezug auf im Gedächtnis Verwahrtes und Erlebtes konstituiert, ist in gewissem Sinne immer eine Selbststilisierung und ein Mythos. Auf diesen Sachverhalt verweist der tschechische Schriftsteller und Übersetzer Jan Vladislav und zwar unter Anschluß an die Autobiographie von Ch. Baudelaire und an die Gedächtnis- und Zeitanalysen Augustins im 10. und 11. Buch der Confessiones. Vgl. Jan Vladislav: Otevřený deník [Offenes Tagebuch], 686 f. oder 843 ff. 5  Vgl. Rainer M. Rilke: Briefe II, 45. 6  Peter Demetz: Prag, 471. 7  Vgl. dazu Dieter Sudhoff/Michael M. Schardt: Einleitung in: Prager deutsche Erzählungen, 20. 8  Vgl. dazu z. B. das Nachwort von Hanuš Karlach: Rilke ‒ básník plodných nejistot [Rilke ‒ Dichter fruchtbarer Unsicherheiten], 309. Vgl. auch Peter Demetz: Prag, 532: »Ob Jude oder nicht, die deutschsprachigen Prager enthüllten dem Hörer sofort, daß sie ›anders‹ waren, indem sie Konsonanten p, t, k an der Stelle der weichen b, d, g verwendeten, alle Diphthonge zu einem einheitRilkes Herkunft und ein erster Blick auf seinen Weg  |  129

lichen ai verschliffen und sich auf tschechische Präpositionalkonstruktionen verließen.«  9  Peter Demetz: Prag, 527. 10  Ebd., 534. 11  Vgl. dazu Clara Mágr: Sprach Rilke tschechisch?, 86 ff. 12  Vgl. Václav Černý: Rainer Maria Rilke, 9. 13  Vgl. ebd., 69. Vgl. dazu das bekannteste Gedicht Volksweise (KA 1, 37): Mich rührt so sehr/böhmischen Volkes Weise,/schleicht sich ins Herz sich leise,/macht sie es schwer.//Wenn ein Kind sacht/singt beim Kartoffeljäten,/klingt dir sein Lied im späten/Traum noch der Nacht.//Magst du auch sein/weit über Land gefahren,/fällt es dir doch nach Jahren/stets wieder ein. 14  Vgl. Pavel Eisner: Milenky. Německý básník a česká žena [Geliebten. Der deutsche Dichter und die tschechische Frau], 66. 15  Peter Demetz::Prag, 31. 16  Vgl. Peter Demetz: René, 23. 17  Vgl. Carl Sieber: René Rilke, 64. 18  Vgl. ebd.: 72. 19  Franz Kafka: Die Tagebücher, 14. 20  Zitiert nach Hans E. Holthusen: Rilke, 14. 21  KA 2, 135. 22  Die Rilke-Untersuchung von Gertrud Höhler trägt den bezeichnenden Titel ›Niemandes Sohn‹. Zur Kindheit gibt es ebenfalls gegensätzliche Auskünfte bei Rilke: sie wird trotz allem auch als »köstlicher, königlicher Reichtum, Schatzhaus der Erinnerungen« bezeichnet (vgl. Rainer M. Rilke: Briefe I, 42). 23  Vgl. dazu den Hinweis bei Stefan Keppler: »Zu einem genetischen Verständniß der Kunst«, 30. 24  Vgl. ebd. 31. 25  Vgl. ebd. 20. 26  Vgl. Peter Broucek: Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen Edmund Glaise von Horstenau, 96. Vgl. auch August Stahl: ›Salus tua ego sum‹. Rilke (1875‒1926) liest die ›Confessiones‹ des heiligen Augustinus, 231 f. 27  Vgl. Stefan Keppler: »Zu einem genetischen Verständniß der Kunst«, 23. 28  Vgl. ebd. 25. 29  Ebd. 21 und 29. 30  Buch von der Pilgerschaft, KA 1, 229. 31  Vgl. Ulrich Fülleborn: Zu Rilkes Lyrik und ihrer Kommentierung in KA 1, 598. 32  Vgl. ebd., 597. 33  Vgl. ebd., 597. Rilke erklärt im oben genannten Brief an Ilse Jahr, daß mit dem Bezug eine ›Namenlosigkeit‹ entsteht, »die wieder bei Gott beginnen muß.« 130  |  jakub sirovátka 

In den Sonetten an Orpheus entspricht dieser Doppelbewegung das Paar ›Anwesenheit‹ der Dinge und ›Entzug/Entziehen‹; vgl. dazu den Kommentar von U. Fülleborn in KA 2, 752 f. 35  Vgl. Rainer M. Rilke: Briefe II, 396; Brief an Ilse Jahr vom 22. 2. 1923. 36  Stellvertretend soll aus einem Brief (an die Gräfin Margot Sizzo-NorisCrouy) aus dem Jahre 1923 zitiert werden (B II, 379). Rilke erklärt, daß er sich von den christlichen Vorstellungen eines Jenseits immer mehr entfernt. Sie enthalten für ihn die Gefahr, »uns nicht allein die Entschwundenen ungenauer und zunächst unerreichbarer zu machen –: sondern auch wir selber, uns in der Sehnsucht hinüberziehend und fort von hier, werden darüber weniger bestimmt, weniger irdisch«. 37  Vgl. auch Tagebücher aus der Frühzeit, 296 (4. 10. 1900; KA 1,753): »Für junge Menschen […] ist Christus eine große Gefahr, der Allzunahe, der Verdecker Gottes. Sie gewöhnen sich daran, mit den Maßen des Menschlichen das Göttliche zu suchen […] und erfrieren später in der herben Hochluft der Ewigkeit.« 38  Vgl. den Kommentar in KA 1,742 f. 39  vgl. Rainer M. Rilke: Briefe I, 413; Brief an Thurn und Taxis-Hohenlohe vom 17. 12. 1912. 40  Vgl. den Brief Rilkes an Franz Xaver Kappus vom 5. April 1903: »Von allen Büchern sind mir nur wenige unentbehrlich, und zwei sind sogar immer unter meinen Dingen, wo ich auch bin. Sie sind auch hier um mich: die Bibel, und die Bücher des großen dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen.« Vgl. Rainer Maria Rilke: Briefe an einen jungen Dichter, Leipzig 1940, 15. Vgl. auch den Brief an Rudolf Zimmermann vom 10. 3. 1922 (Briefe II, 326): »Es ist in mir eine am Ende doch ganz unbeschreibliche Art und Leidenschaft, Gott zu erleben, die unbedingt dem Alten Testament näher steht, als der Messiade«. 41  Vgl. August Stahl: Rilkes Franz von Assisi, 76. 42  KA 1, 158. 43  KA 1, 161. 44  Vgl. dazu Wolfgang Braungart: Der Maler ist ein Schreiber, 74: »In diesem Sinne ist der Maler-Mönch des Stunden-Buchs wahrhaft ein SchreiberMönch: ein moderner Theo-Loge, der das literarische Bild erschreibt […].« 45  Briefe II, 395; Brief an Ilse Jahr vom 22. 2. 1923.Vgl. aber auch schon einen ähnlichen Gedanken im Brief an Marlise Gerding vom 14. 5. 1911 (Briefe I, 304): »Das Verhältnis zu Gott setzt, so wie ich es einsehe, Produktivität, ja irgend ein, ich möchte sagen wenigstens privates, die anderen nicht überzeugendes Genie der Erfindung voraus, das ich mir so weit getrieben denken kann, daß man auf einmal nicht begreift, was mit dem Namen Gott gemeint ist, sich ihn wiederholen, sich ihn vorsagen läßt, zehnmal, ohne zu verstehen, nur um ihn ganz neu, irgendwo an seinem Ursprung, an seiner Quelle aufzusuchen. Dies ist etwa die Beimischung Unglauben im Stundenbuch, Unglauben nicht aus Zweifel, sondern aus Nicht-Wissen und Anfängerschaft.« 34 

Rilkes Herkunft und ein erster Blick auf seinen Weg  |  131

46 

»Sis tu tuus et ego ero tuus« ‒ »sei du deiner und ich werde dein sein«, so lautet der Imperativ in De visione dei von Cusanus. 47  Vgl. Brief an Lotte Hepner vom 8. 11. 1915 (KA 2, 617); vgl. ebd.: »Könnte man die Geschichte Gottes nicht behandeln als einen gleichsam nie angetretenen Teil des menschlichen Gemüts, einen immer aufgeschobenen, aufgesparten, schließlich versäumten.« 48  B II, 482, Brief an Witold Hulewicz vom 13. 11. 1925. 49  Hier erscheint der Engel als dem Menschen zugewandtes Wesen. In den Duineser Elegien fast nur noch als ein übermächtiges Wesen: »Ein jeder Engel ist schrecklich.« (KA 2, 201; Die erste Elegie). 50  Vgl. dazu Jacob Steiner: Gott und Engel bei Rilke, 67. 51  Vgl. Romano Guardini: Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins, 29: »Man darf mit einiger Genauigkeit sagen, an Stelle Gottes sei als Ziel der unmittelbaren religiösen Anrede der Engel getreten.« Guardini hält im Ganzen die Dichtung Rilkes als mit der christlichen Botschaft unvereinbar, jedoch nicht so radikal wie Rio Preisner (der sich u. a. auf Hans Urs von Balthasar und Gustav Siewert bezieht; vgl. Rio Preisner: Když myslím na Evropu I [Denke ich an Europa I], 335–389). 52  Brief an Magda von Hattinberg vom 21. 2. 1914; KA 2,635: »Jemehr ich von den Absichten, Erfolgen und Fortschritten der Analyse erfuhr, desto besser mußte ich einsehen, daß sie geradezu wie Zersetzung wirken müßte in einem Dasein, das ja doch seine stärkste Antriebe eben darin hatte, daß es sich nicht kannte, daß es durch sein eigenes schweres und seeliges Geheimnis mit allen Geheimnissen der Welt ja mit Gott selber, unerschöpflich zusammenhing und von dort geheim und großmüthig erhalten wurde.« Als ob die Psychoanalyse in der Gefahr stünde, den lebendigen – wenn auch dunklen – Bezug des Geheimnisses des Lebens und seiner Beziehung zu Gott in einen Besitz zu verwandeln, indem sie ihn aus den Tiefen der Seele ans Licht der objektiven psychischen Zustände zerren könnte. 53  Vgl. dazu Karl-Josef Kuschel: Rainer Marie Rilke und die Metamorphosen des Religiösen, 97: »Kaum einer der großen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts dürfte dem Christentum zugleich so fern und so nah gewesen sein; kaum einer hat sich so bitter und sarkastisch von Christus und der Kirche distanziert und zugleich die Welt der Kirche und die Gestalt Christi so extensiv in sein Werk hineingenommen; kaum einer ist von ›Religion‹ so weit weg und ihr zugleich so stark verhaftet wie der Poet Rainer Maria Rilke (1875–1926).« 54 Vgl. Briefe I, 413; Brief an Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe vom 17. 12. 1912. 55  Damit paraphrasiere ich die Überschrift des Gesprächs mit dem Germanisten Rio Preisner. Vgl. Rio Preisner: Když myslím na Evropu II [Denke ich an Europa II], 909. Vgl. Malte (KA 3, 633): »Aber während er sich sehnte, endlich so meisterhaft geliebt zu sein, begriff sein an Fernen gewohntes Gefühl Gottes äußersten Abstand.« 132  |  jakub sirovátka 

II. Zur Auslegung einzelner Werke und Werkgruppen



­– Norbert Stapper –

Die »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes Aus der Perspektive der späten Gedichtzyklen Rilkes – den Duineser Elegien, den Sonetten an Orpheus und auch den französischen Gedichten – mögen die Christus-Visionen an der Schwel­le vom frühesten zum frühen Werk, entstanden zwischen 1896 und 1898, als ein mit Recht zu vernachlässigender Teil der Jugendgedichte Rilkes erscheinen. Aber Vorsicht ist geboten, denn gerade der offensichtliche Kontrast stellt sich werkgenetisch weniger kraß dar als in ästhetischer Blickweise und eröffnet einen Zugang zum Fundament des Werkes.1 Mit einem von der Wirkungsgeschichte unverstellten Blick bemerkte Lou Andreas-Salomé in einem Brief an Rilke vom Juli 1913: »[…] doch wie ist alles was Du geschaffen einheitlich bewegt zwischen diesen vergangenen Christusvisionen und den kommenden Engelvisionen.«2 Die Spannung zwischen Unterschiedlichkeit und Einheitlichkeit fordert heraus. 1. Ein Überblick Der frühe Zyklus Christus-Visionen umfaßt auf immerhin vierzig Textseiten elf Gedichte in zwei Folgen und ist in dieser Form ein »editorisches Produkt«: Veröffentlicht wurden die Gedichte erstmals 1959 im dritten Band der Sämtlichen Werke durch Ernst Zinn,3 also mehr als 60 Jahre nach ihrer Entstehung und fast 33 Jahre nach dem Tod Rilkes. Dabei war ihre Existenz kein Geheimnis, sondern in Briefen des Dichters schon seit Ende der 30er Jahre allgemein nachzulesen,4 ebenso in zwei germanistischen Arbeiten aus der gleichen Zeit.5 Zinn griff für seine editorische Arbeit als erstes auf eine Einteilung des Zyklus durch Rilke von 1898 zurück: darin finden sich die Gedichte, die 1896 und 1897 entstanden waren und die Zinn als »erste Folge« bezeichnet. Diesen sieben Gedichten fügt er an achter Die »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes  |  135

Stelle ein Gedicht aus der gleichen Zeit an und versieht es mit dem Titel Judenfriedhof – darauf wird zurückzukommen sein. Nach den Gedichten von 1896/97 und im Anschluß an die große Italienreise – das Florenzer Tagebuch ist daraus entstanden – hatte es im Sommer 1898 einen brieflich dokumentierten Neuanfang, zumindest den Plan gegeben, an den Christusgedichten weiter zu arbeiten. Und so ordnete Zinn drei Gedichte aus dieser Zeit zu einer unabgeschlossenen »zweiten Folge«. Das erste Gedicht der zweiten Folge – überschrieben mit Die Kirche von Nago – knüpft erkennbar an das Konzept der vorausgehenden Texte an. Die beiden anderen Gedichte jedoch, wenn sie überhaupt dazu gehören sollten, repräsentieren eine ganz andere Poetik und sind den inzwischen entstandenen kleineren Zyklen MädchenGestalten, Lieder der Mädchen und Gebete der Mädchen zu Maria6 viel näher als den vorausgegangenen Christus-Visionen. Vielleicht sollten sie die Themen der neueren Gedichte mit denen der älteren Visionen verbinden. Auf jeden Fall wird durch sie – wenn sie von Rilke dazu gedacht waren – der Zyklus unabschließbar: denn in ihnen wird der Titelgeber Christus beinahe unsichtbar – im zweiten Gedicht als blinder Knabe ein Symbol seiner selbst, während er im dritten Gedicht, von Zinn mit Die Nonne überschrieben, nur noch als ein erinnertes Moment in einem ganz anderen Zusammenhang zitiert wird. Im Grunde vollzieht sich in den beiden Gedichten die Anonymisierung der Christusgestalt. Sie löst sich förmlich aus ihren Vorgegebenheiten und ihrer Erkennbarkeit, wird unsichtbar und geht in andere, namenlose Zusammenhänge über. Das ist einerseits konsequent und paßt in die poetologische Entwicklung Rilkes,7 ist aber andererseits in einem Zyklus unter der Überschrift »Christus« letztlich nicht mehr darstellbar. Daß sich innerhalb der Arbeitszeit an einem Gedicht-zyklus Stoffe, Inhalte und Poetik verändern und damit das Grundkonzept in Spannung gerät, ist übrigens ein Problem, das seine Spuren auch in den folgenden großen Gedichtzyklen hinterläßt: etwa im dritten Teil des Stunden-Buches und anders bei den Duineser Elegien, neben deren Vollendung ein ganz anderer, weiterführender Zyklus entsteht, die Sonette an Orpheus. Aus diesen Gründen sind die Gedichte, die zwischen Oktober 1896 und Hochsommer oder Herbst 1897 entstanden sind, ohne 136  |  norbert stapper 

die Weiterführung vom Sommer 1898 als eine in sich geschlossene Werkeinheit zu verstehen. Auf sie konzentrieren sich die folgenden Ausführungen.8 2. Die acht Gedichte der »ersten Folge« Bei den Christus-Visionen handelt es sich um Erzählgedichte mit einer dramatisierenden Poetik. Es liegen kleine dramatische Szenen in Gedichtform vor – Rilke hatte schließlich schon in Prag einige (z. T. sogar aufgeführte) Stücke für das Theater geschrieben und in zwei Beispielen mit sog. Psychodramen, die man als Übergangsform zum Gedicht charakterisieren könnte, experimentiert.9 Es gibt in diesen Gedichten, wie für gewöhnlich im Drama, eine Umgebung und auftretende Personen und es kommt auf deren Konstellationen und Interaktionen in Handlung, Dialogen oder Monologen an. Es gibt in den Gedichten einen Erzähler, einmal auch ein lyrisches Ich und – wie im Theater – den Zuschauer, d. h. den Leser. So ist es nötig, diese einzelnen Ebenen und innerhalb der Gedichte die Perspektiven der jeweiligen Personen zu beachten, um den Gang eines Gedichtes angemessen einschätzen zu können. Deshalb ist es hilfreich, die Gedichte grundsätzlich als in und für sich funktionierende Organismen zu verstehen,10 deren Interpretation einen vordergründigen inhaltlich-positionellen Zugriff verbietet und stattdessen eine Hermeneutik der Einsicht verlangt. Alle Interpreten, die sich einfach an einzelne scheppernd-wortstarke Zitate halten, sie aus ihrem Zusammenhang herausnehmen, um etwa mit ihnen den antichristlichen Affekt oder die blasphemische Überbordung Rilkes darzustellen, übergehen mit ihrer den Texten vorausliegenden Interpretationsidee per se die immanente Perspektivität der Texte. Dabei unterscheiden sie selten Gedichterzähler und Autor und nehmen einzelne Sätze als kräftigen Ausdruck für anderorts niedergelegte briefliche Äußerungen des Dichters, besonders aus späteren Zeiten. Damit läßt sich je nach Geschick ein schlüssig erscheinendes Bild vom Dichter und seinen Absichten konstruieren, aber den Texten wird es nicht gerecht. Es handelt sich um eine weltanschaulich geleitete Lektüre, die bis heute ihre Kapitel schreibt und die mit den Worten eines ganz frühen Rilkeinterpreten Die »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes  |  137

»den Preis sehr bedenklicher Unterschlagungen und Fälschungen des Tatbestandes« bereit ist zu zahlen.11 Wenn hier nun für eine erste Orientierung innerhalb des Zyklus der Ereignisverlauf der einzelnen Gedichte wiedergegeben wird, werden die Gedichte auf ihren Erzählstrang reduziert. Der ist aber weitgehend nur die Form, in der sich die jeweiligen Bedeutungen entspinnen; die Form, in der die Visionen entstehen: ›1‹ Die Waise Auf dem Friedhof findet sich ein Mädchen, dessen Mutter gerade in ärmlichen Umständen beerdigt wurde: »ein unerklärliches Verhängnis« (Vers 6) für das Kind, das in Tagträume vom Himmel als einer »Märchenstadt« (15) entweicht. – An der Friedhofmauer lehnt ein Fremder in grauem Gewand, mit dem sich ein hölzerner, mit Mißverständnissen durchsetzter Dialog entwickelt. An dessen Ende steht die Unentschiedenheit der Situation, was denn nun mit dem Kind und seinem unerklärlichen Verhängnis werden wird. ›2‹ Der Narr Aus einer fröhlichen Kindergruppe greift sich ein fremder Mann, der Narr, ein Mädchen heraus. Die anderen fliehen. – Zwischen dem Erwachsenen und dem Kind entspinnt sich ein Gespräch. Das Entsetzen des Mädchens verwandelt sich bald in ein Vertrauen und das Gespräch wird ganz behutsam durch den Fremden geführt. Am Ende ist dem Leser deutlich geworden, daß er der Vater der kleinen Anna ist (und ihre Mutter natürlich Magdalene heißt), während das Mädchen etwas anderes begreift, nämlich wie ungerecht das Wort »Narr« für diesen Mann ist und wie er trotz aller Ärmlichkeit etwas ganz Stolzes – »wie ein König« – in sich trägt. Der Mutter sagt sie erst beim Schlafengehen: »Du […], ich hab einen Mann gesehn,/ der war – wie der Mann am Kreuz …« (128) ›3‹ Die Kinder Nun sind es viele Kinder, die sich um eine Heilandsgestalt – mit langem Haar und Talar – drängen, während sich die umherstehenden Erwachsenen darüber wundern. Er spricht die Kinder an und wendet behutsam ihre Blicke von sich weg in ihr eigenes Leben: »Es wartet eine Welt« (51). Er sei »die Kindheit, die Erinnerung« (46), 138  |  norbert stapper 

während »der neue und noch niegebrauchte / Gott seine Hände euch entgegenhält.« (49 f.). Die Kinder nehmen es an. – Nur ein Junge ist da, der will nicht und klammert sich fest an ihn. Die einfühlsame Nachfrage des Heilands ergibt: er lebt in größter Armut, kein Spiel, keine Zuwendung, die Mutter ist lange schon tot. Und erschüttert antwortet er dem Jungen (92 f.): »… dann warst du schon draußen im Leben, und wir können beisammen sein.« ›4‹ Der Maler Ein Maler wird in seinem Atelier mit dem Christus-Motiv eines seiner Bilder konfrontiert. Der erscheint nämlich des Nachts in fast gespenstischem Ambiente und geht hart mit dem Maler ins Gericht: »Warum malst Du mich so?« (52) Der Maler aber bleibt dabei und entgegnet ihm grob: »ich sah dich immer so« (68), auch als der Erschienene ihn auf die ganz andere Art ihrer Begegnungen in dessen Kindheit hinweist: in Notsituationen von eigener Krankheit und dem Verlust der Mutter. Der Widerstand gegen die Darstellung des Künstlers besteht darin, daß er auf dem Bild überhaupt dargestellt ist (60) und dann noch ganz heruntergekommen gezeigt wird: ein »Proletar« (40)! Der Maler solle ihn malen – eben in dem Sinne, wie schon das Mädchen in Die Kinder ihn auf einmal mit kindlichvertrauendem Blick erkennen konnte: – mit einem Stolz, der von innen her kommt, in einer Indirektheit, die sich dem direkt darstellenden Zugriff entzieht. Schließlich, nachdem der Erschienene in einem Exkurs davon berichtet hat, wie die Menschen sich stets alle Götter zum Besitz machen und nur »der niegewußte/ Gott« (79 f.) groß sein könne, d. h. unabhängig und eben Gott, entzieht sich der Visions-Christus und aus der Entfernung hört man seine Stimme noch davon sprechen, wie er »den Himmel ganz verschwende[n]« wolle an alle Kinder, die unterwegs seien (102 f.). ›5‹ Der Jahrmarkt Eine Schaubude auf dem Münchner Oktoberfest: »Das Leben Jesu Christi und sein Leiden« (63) steht auf einem Schild. Dort tritt der Erzähler ein und sieht sich die dargestellten Lebensabschnitte des Erlösers an. Am Ende, bei der Kreuzigung geschieht es, daß der dortige Wachschristus lebendig wird und einen schaurigen Monolog hält: er sei einer, den kein Grab halten könne, seitdem ihn seine JünDie »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes  |  139

ger aus dem Grab gestohlen hätten – an jedes Kreuz, das in Kirchen oder in Jahrmarktsbuden steht, »auf blutigen Sandalen« (130) herantreten müsse, um sich dort anzuhängen: da wüchsen ihm dann »die Nägel aus den Wundmalen« (132). Das sei sein Schicksal als Ahasver, »der täglich stirbt um täglich neu zu leben« (145) und »die Rache derer die verdarben/ an meinem Wort.« (148 f.). Nur eine Rache habe er selber: Das ewig aus seinen Wunden strömende Blut tränken die Leute, die sich im Herbst über den Wein hermachten und sie tränken dabei »Gift und Glut in sich hinein…« (158). Als schließlich eine Besuchergruppe lärmend in die Bude eintritt, ist der Spuk vorbei. Der Wachschristus hängt wie zuvor an seinem Kreuz. ›6‹ Die Nacht Ein Nachtlokal zu später Stunde, nur noch ein Mann und eine Frau als Gäste. Eine Zwiesprache, in der die Frau versucht, ihren traurigen Freier zur Lebens- zur Liebeslust zu bewegen: »Da packt es ihn, den neidlos, freudlos Kalten. […] Er faßt das Weib mit einem wilden Schrei« (45.48) – In der Müdigkeit nach dem Liebesakt entspinnt sich das Gespräch erneut: Erinnerungen werden wach und der Leser erkennt die Verurteilungsszene vor Pilatus wieder: »Bist du Gottes Sohn?« (70) – Und wie er damals geantwortet habe »Ja, ich bin’s. Zu meines Vaters Rechten ist mein Thron!« (75 f.), so kann er genau das nun nicht mehr nachvollziehen: »Nein, ich bin es nicht,/ ich bin kein Gott« (79 f.), hält er dem Spott der Frau entgegen. – Die aufgeladene Situation welkt wie die im Liebeskampf zerdrückten Rosen und es bleibt der schale Geschmack, den der Mann resümiert (116 f.): »›Wir sind der ewge Erbfluch dieser Welt: / Der ewige Wahn ich – du die ewige Dirne.‹ – « ›7‹ Venedig Aus der Dämmerung der morbiden Stadt fügt sich eine Gestalt, die ebenso traurig ist, wie ihre Umgebung. In einem schwer nachzuzeichnenden Gemisch von Gedanken und Rückblicken ist der Mann todunglücklich und verhaftet in seiner Vergangenheit, aus der er ausgestoßen und nun heimatlos ist. Und doch geschieht eine Art Wandlung auf seinem Gang durch die Stadt. Denn endlich ist er auf einem Balkon angelangt, neben ihm erscheint der Doge und zwischen ihnen findet ein kleines Gespräch statt, in dem der Doge 140  |  norbert stapper 

Venedigs – wie im Gedicht der Heiland den Kindern – ein Anwalt zum Erwachsen-Werden der Menschheit wird. In kommenden Zeiten, so schaut er voraus, »da keine Völker mehr/ wie Kinder sein und Kinder spielen wollen« (98 f.), »dann bleibt auch dein Palast für ewig leer« (101; 102–105): »Der Alte schwieg. Wie betend blieb er knien. Sternknospen sprangen an den Himmelsachsen. Und dieses Knien schien weit hinauszuwachsen vorbei an Christo und weit über ihn …«

So endet das Gedicht und mit ihm der Zyklus in der Anordnung Rilkes von 1898. Es folgt das von Rilke ausgesonderte und von Zinn zugeordnete Gedicht: ›8‹ Judenfriedhof Auf dem Prager Judenfriedhof, am Grabstein des berühmten Rabbi Löw, erscheint an einem Frühlingsabend Jesus, »der arme Jude,/ nicht der Erlöser, lächelnd und erlaucht« (21 f.), wie es dort heißt. Er sei dorthin gekommen, um vor und gegen Gott seine Anklage vorzubringen: »Jehovah – weh, wie hast du mich mißbraucht« (25), so beginnt sein 28-versiger, erster Monolog. Zerknirschung, Enttäuschung und Aufbegehren begründet er im Rückblick auf sein Erlösergeschick, das ihn nun – da er erkannt habe, daß der Himmel leer sei, es Gott, den er anklagt, gar nicht gebe – haltlos und unglücklich zurückläßt. Eine Zwischenstrophe trennt diese Klage voll biblischer Referenzen von einem zweiten, exakt gleich langen Monolog, in dem der deprimierte Jesus den Ton urplötzlich wechselt und in eine Haßtirade – geordnet in einer apokalyptischen 7er-Reihe – gegen den Himmel, gegen die Welt und die gesamte Mensch­heit verfällt: daß »[…] die ganze Welt zugrund geht an der Liebe!›« (86), ist der Wunsch, in den dieser Ausbruch kulminiert. – Der Gedichterzähler übernimmt wieder das Wort und beschreibt, wie Jesus in Hohn auflacht und dieses Lachen in den Steinen »wie des wunden Wildes Sterbeschrei« (88) widerhallt. Der Erzähler gibt Einblick in eine allerletzte, ganz andere und in die Natur eingefügte Szene (90 f.): Ein schwarzer Falter zieht im Flug vorbei und er sieht Christum einsam knien und weinen. Die »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes  |  141

3. Der Christus der Gedichte und ihr zyklisches Gefüge Acht kleine Erzählungen beinhaltet der Zyklus, die in keinem direkten inhaltlichen Zusammenhang zueinander stehen. Zusammengehalten werden die einzelnen Stücke durch die Überschrift des Zyklus: Auch die fast anonyme Christusgestalt der ersten und zweiten Vision gewinnt dadurch für den Leser von vornherein ihre Eindeutigkeit. Der Christus, der in den Gedichten »erscheint«, ist als Christus redivivus zu charakterisieren, also als der in eine andere als seine ursprüngliche Zeit wiederkommende Christus. Er ist eine literarische Gestalt, die in Nachbarschaft zum gewichtigen theologischen Topos von der Wiederkunft Christi am Ende der Zeit steht, ebenso wie zu seiner Präsenz im christlichen Glaubenshorizont12, einschließlich seiner anonymen Präsenz im hilfsbedürftigen Menschen13, aber in der Art des jeweiligen Textanliegens ganz unabhängig von den Glaubenserwartungen seiner Jüngerschaft und den kanonisierten Vorgaben »frei« auftritt: als literarisches Spiel, als Vision, als Utopie, Kritik oder Persiflage, als Rekonstruktion, Aktualisierung etc. Und diese freie, literarische Form ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts, erstmalig zu finden in H. de Balzacs Jesus Christus in Flandern von 1831 und dann in größerem Bekanntheitsgrad in der Erzählung vom Großinquisitor in F. Dostojewskijs Die Brüder Karamasow von 1880.14 Hier in den acht Erzählgedichten verfügt Christus jeweils über eine doppelte Existenz: zum einen ist er erkennbar als der Christus der Christen, zum anderen ist er der von Mal zu Mal andere Christus des jeweiligen Gedichtes, die jeweilige ›Gedicht-Vision‹ von Christus. Warum dabei der von Rilke gebrauchte Titel Visionen nicht nur ein »als ob«, also nur eine Behauptung und Anleihe an die Form eines mystischen Frömmigkeitsvollzugs ist, was und inwiefern dieser Titel in der Poetik der Gedichte ihren Sachstand hat, ohne dabei dessen religiös-bekenntnishaften Charakter zu teilen, kann später genauer beschrieben werden. Knüpft man nun an die oben vorgenommene inhaltliche Wiedergabe der Gedichte an, so wird deutlich, daß sich der Zyklus in die Gedichte 1–3 und 5–7 (8) aufteilt: In den ersten drei Gedichten wird die Christusgestalt im Zusammenspiel mit Kindern gezeigt, einzelnen Kindern oder solchen in Gruppen. Im Spiegel der Kinder, 142  |  norbert stapper 

ihrer Schicksale, ihrer Zuneigung, ihrer Ängste etc. erscheint der jeweilige Christus. Im zweiten Teil dagegen finden wir die Christusgestalt jedes Mal konfrontiert mit den Folgen seiner eigenen Wirkung; er ist gefangen in dem, was er einmal war und wollte. Das zuletzt entstandene Mittelstück Der Maler überbrückt das eine Thema zum anderen, ohne in dieser Funktion aufzugehen und fügt das Ganze zu seiner Einheit. Aufgrund der editorischen Anmerkungen Ernst Zinns ist es möglich, die zyklische Anordnung mit der Chronologie der Entstehung abzugleichen.15 Dabei nehmen zwei Gedichte eine herausragende Stellung ein, nämlich die ersten beiden am 5. und 6. Oktober 1896 entstandenen Stücke: Sie stellen den thematischen Entwurf beider Zyklusteile dar, eine Art »doppeltes Keimblatt«, aus dem sich der Rest des Zyklus nach und nach entwickelt. Während das erste Gedicht Die Waise in den Zyklus als Eröffnungsgedicht eingeht, scheidet das zweite Gedicht Judenfriedhof später aus, weil es von den Texten des zweiten Teils ersetzt wird. Geht man auf diesem Hintergrund durch die Gedichte in der Reihenfolge ihrer zeitlichen Entstehung, so ist der Progreß der Thematik auf beiden Themenseiten und die Verwobenheit der einzelnen poetischen Figuren wahrzunehmen.16 Der Heilands-Christus in Die Kinder etwa scheint die Fortsetzung des Dogen aus Venedig zu sein und nun seinerseits das zu predigen, was der dort im zuvor geschriebenen Gedicht verkündet hatte. Schon an diesem Detail wird deutlich, wie genau bei einzelnen inhaltlichen Aussagen auf die Zusammenhänge geachtet werden muß und wie wenig einzelne Aussagen einfach das widerspiegeln, was ihr Dichter meint und findet. 4. Zur Poetik der Gedichte und ihrem Erkenntnisgewinn Was läßt sich nun in einer eingehenderen Beschäftigung mit den Texten der Christus-Visionen entdecken und welche Einblicke können über die frühen Texte hinaus für das Werk Rilkes und sein Fundament gewonnen werden? Zuerst einmal interessiert es grundsätzlich, dem Entstehungsprozeß dieser Texte nachzugehen, ihrer Ästhetik, ihren überbordenden Ideen. Es interessiert, die Kindheitsschicksale nicht nur als Die »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes  |  143

äußerliche Plattitüden einer triefend-kitschigen Rührseligkeit17 zu verstehen, sondern als Teilstücke von emotionalen Erlebnishintergründen, die in den einzelnen Erzählungen zur Gestalt kommen, als »Gefühlsstoffe« oder »Vorwände« für »feinste Gefühlsoffenbarungen«, für »ganz persönliche Geständnisse«, wie es Rilke bald poetologisch reflektieren wird.18 Es ist weiterhin von Interesse, wie verschiedenste Topoi und Motive oder irgendwelche Stoffe, Kunstwerke und Auseinandersetzungen mit Zeitströmungen und aktuellen Künstlern (etwa Fritz von Uhde in der dritten und vierten Vision, Oskar Panizza in der fünften Vision)19 im poetischen Entstehungsprozeß aufgegriffen werden und zu etwas ganz anderem werden, eben zu jenen »Vorwänden« und »Gefühlsstoffen«, darin offenbar sonst unzugängliche Gefühle (»Geständnisse«) ihre Gestalt gewinnen und als Gewinn ihrem Dichter die Realität, Dichter zu sein, zukommen lassen. In diesen Gedichten findet sich eine Autopoiesis, die Selbsterschaffung des Dichters als Dichter, weil in ihnen die Entstehung der Texte als Texte nachgezeichnet werden kann.20 Dieser Umstand ist im nächsten Unterpunkt zu vertiefen. Hier liegt dann auch der poetisch-sachliche Grund für den Zyklustitel Visionen als Umkehrung eines oberflächlich religiösen Sinnes von »Vision«: Der Text entsteht aus sich selber, ist nicht etwas von außen Eingegebenes – wie es religiös von »Visionen« gemeint sein könnte –, sondern ein aus seinen Voraussetzungen Erhobenes. Und genauer noch: die Christusgestalt entsteht in den meisten der Gedichte aus den dort gesetzten Umständen. Vision bezeichnet dabei den Schreibvorgang als einen Vorgang, der nicht nur gezielt und in Absicht getan wird, sondern – wir befinden uns in der Zeit vor Sigmund Freud – unbewußt seine Steuerung erfährt. Ein solcher Vorgang verfügt immer über unerkannte »weiße Flecken«, zudem ist er keine Analyse, sondern eine Gestaltwerdung und lotet in der gedichteten Gestalt Verborgenes aus, ohne daß sie deshalb »von außen« käme, auch, wenn sie Vorgaben rezipiert. Das ansonsten Uneinsehbare ist das Ziel; die Poesie die Möglichkeit, dorthin zu gelangen. In späterer Zeit, dem mittleren Werk, schiebt Rilke unter dem Einfluß Rodins die Verklärung dieser Schreibweise als »Inspiration« und ähnliches zur Seite und findet in jenem »toujours travailler«, in 144  |  norbert stapper 

dem »immer Arbeiten« seines Lehrers, die Begrifflichkeit, um die Außenseite seiner Dichtertätigkeit stärker zu machen – während die Innenseite inzwischen so ausgebildet ist, daß sie sich auch noch im sachlichsten Sagen mitzuteilen vermag.21 Genau solche Ausblicke sind der Gewinn aus der Beschäftigung mit der frühesten Zeit Rilkes am Übergang zur frühen Zeit. Sie machen deutlich, daß die Suche nach Einflüssen und Erlebnissen für eine jeweilige Poetik im Schreiben Rilkes immer nur im Zusammenhang mit den grundsätzlichen poetischen Vorgegebenheiten Sinn macht und zur Erhellung beiträgt. Solche Ausblicke bestätigen, daß die einzelnen poetischen Phasen und Konzepte im Werk des Dichters nie so voneinander getrennt sind, daß sie nicht als die Kontinuität eines steten Werdeprozesses begriffen werden müßten.22 Und das gilt gerade unter Einschluß jener erst in den letzten Jahren etwas mehr beachteten frühesten Zeit.

5. Vertiefung: Der Text entsteht aus dem Text und gerät in Bewegung Wie im »vorwändigen« Schreiben Rilkes der Text aus dem Text entsteht und wie dabei der ganze Text in Bewegung gerät – für seine Gestalten, schließlich aber auch für den Dichter und den Leser –, soll an zwei Beispielen gezeigt werden. Dafür kann auf die beiden ersten Gedichte, auf das »doppelte Keimblatt« des Zyklus zurückgegriffen werden. ›1‹ Die Waise Die Waise erfährt beim Begräbnis der Mutter von den Erwachsenen nur einen Scheintrost: »Sie sagten Alle heute: Gott sei Dank – / sie ist erlöst. Ihr aber war so bang vor einem unerklärlichem Verhängnis« (4 ff.). Diesem Verhängnis entweicht sie, allein wie sie ist, so wie manchmal Kinder in Situationen des existentiellen Alleinseins entweichen können: in Bilder der Phantasie. Der Kontrast der dunklen Friedhofserde zum weißen Leinen, in dem die Mutter sonst gebettet war, führt sie assoziativ zur Helligkeit des Himmels. Den malt sie sich nun aus – wie schon erwähnt – als Märchenbild. Die »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes  |  145

Ein Tagtraum, der erleichtert und ablenkt, bis sie den Frühling rings um sich herum wahrnimmt und nach der Himmelsablenkung nun in der Frühlingsstimmung vom »unerklärlichen Verhängnis« ganz befreit scheint (33): »der Kleinen ists ein Jubel – und sie lacht.« Damit aber beginnt das Gedicht erst richtig, denn genau in diesem Moment, als von dem Bangesein nichts mehr übrig ist, entdeckt das Mädchen den fremden Mann an der Friedhofsmauer. In ihm verkörpert sich nun geradezu ihre Trauer, die sie nicht mehr empfindet und nimmt über diesen »Vorwand« wieder Kontakt zu ihr auf: zu sich selber in jenem anderen, der nun ihr und dem Leser so eindringlich sein »Verhängnis« zeigt: »reglos und müd« (35) steht er dort (36–42): in seinen dunkelgroßen Augen glüht wie eine trübe Totenkerze – Trauer. Derb ist und bäuerisch sein grau Gewand; ins wirre Haar krallt er die irre Hand und starrt verloren nach der Berge Rand als ob zum Fluge in das fremde Land sich seiner Seele leise Schwinge breite.

Natürlich ist die Beobachtung am Text zunächst nur die, daß sich innerhalb der Erzählkontinuität des Gedichtes die anfängliche Trauer der Waisen in der Trauer des Fremden wiederfinden läßt. Einen Kausalnexus zwischen der einen und der anderen Trauer zu erstellen, also in dem Fremden die Trauer und Bangigkeit des Kindes verkörpert und in Erscheinung getreten zu sehen, beruht dabei auf einer Annahme, die nur durch ihre Möglichkeit im Text und inhaltliche Schlüssigkeit für sich werben kann; zwingend kann sie nicht sein. Immerhin legt sie eine poetologische Spur frei, die auch in anderen der Gedichte wieder zu finden ist. In einer solchen Gefühlsübertragung zwischen den Personen der Handlung einen poetischen Schreibvollzug zu erkennen, ist von der vorangehenden Annahme abgeleitet und mag zunächst den Status einer Hypothese einnehmen. Untermauern läßt sie sich hier allerdings im Verhältnis der beiden Gestalten, in dem das Mädchen den Fremden nicht zu gewinnen vermag, obgleich es seine Nähe weiterhin sucht und in ihm mehr als in den anderen Erwachsenen einen Gefährten seiner Trauer findet. Die Unentschiedenheit des 146  |  norbert stapper 

Gedicht-endes, seine Offenheit entspricht dem »unerklärlichen Verhängnis« des Anfangs, in dem sie von den umstehenden Erwachsenen nur Scheintrost erfahren hatte. Wie das unüberwindbare »Verhängnis« eines Kindes sich in dem trauernden und grauen Christus als einem Fremden in fremder Umgebung findet, ist Thema dieses Gedichtes und zugleich die poetische »Vision Christi«. Und doch kann die Waise die Trauer in diesem Fremden nicht überwinden, ebenso wenig wie zuvor im Tagtraum vom Himmel oder in der Frühlingsfreude und erst recht nicht in den gutgemeinten Trostangeboten der Erwachsenen oder im ungesicherten Himmelstrost des Pfarrers auf ein dortiges Wiedersehen. Der Rauch aus den Hütten ist fern – ein Zuhause nicht mehr zugängig – fremd ist auch das Mädchen neben dem »großen Grauen«, der schweigt … (67). Die Bewegung des Gedichts führt zu keiner Lösung, wohl aber zu einem äußersten Punkt, der nicht mehr von Scheinlösungen verdeckt wird. An dessen Seite steht der namenlose Christus des Gedichtes.23 Noch deutlicher wird die Kontur des Gedichtes durch einen intertextualen Vergleich: Das – wörtlich – »Eia popeia« des Engel­ gesangs, unter dem in Gerhart Hauptmanns Traumdichtung Hanneles Himmelfahrt (1894)24 ein sterbendes Kind nach seinem Suizidversuch in den Himmel auffährt, hat die Waise Rilkes schon nach der ersten Gedichtstrophe hinter sich gelassen. Ihre Vision des fremden Christus ist kein herkömmlicher Trost, keine Erleichterung und doch ein Bezug, der dem Verhängnis des Mutterverlustes etwas zur Seite stellt; vielleicht als Stillstand, vielleicht als Übergang zu etwas ganz anderem, allemal aber etwas anderes als Hauptmanns naturalistisches Schlußwort des Arztes: »Tot!«. Die dortige Aufspaltung in Realität (»Tot«) und himmlische Traumtröstung (»Eia popeia«) ist in Rilkes Gedicht ein gegen alle anderen Lösungsvorschläge gesetztes Bestehen auf der immanenten Gegebenheit eines »unerklärlichen Verhängnisses«. Auch in Hauptmanns Stück gibt es einen Fremden, der unschwer als Christus zu erkennen ist. Er spricht vor den Engeln noch von jenem himmlischen Trostort, zu dem nun Hannele auffährt, während der Fremde bei Rilkes Waise in der Ungeklärtheit der Situation stehen bleibt. Solche »Immanenz« ist poetisch keine philosophischtheologische Position, sondern der äußerst erreichbare Rand in der Die »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes  |  147

Totalität einer Trauersituation und die Voraussetzung eines vielleicht dahinter liegenden Übergangs. ›2‹ Judenfriedhof Das zweite Beispiel: Auf die Unterschiedlichkeit der beiden gleichlangen Monologe der Jesusgestalt in Judenfriedhof wurde bereits hingewiesen. Und auch innerhalb des ersten, gehaltvolleren Monologs findet sich inhaltlich ein Widerspruch (V. 25–52): Jehovah – weh, wie hast du mich mißbraucht, hier wo der treuste ruht von deinen Knechten, will ich, greiser Gott, jetzt mit dir rechten! – Denn um mit dir zu kämpfen kam ich her. Wer hat dir Alles denn gegeben, wer? – Der Alten Lehre hatte mancher Speer aus Feindeshand ein blutend Mal geschlagen, – da bracht ich ein Glauben und mein Wagen, da ließ ich neu dein stolzes Gottbild ragen und gab ihm neue Züge, rein und hehr. Und in der Menschen irres Wahngewimmel warf deinen Namen ich – das große ›Er‹. Und dann von tausend Erdensorgen schwer stieg meine Seele in den hohen Himmel, und meine Seele fror; denn er war leer. So warst du niemals – oder warst nicht mehr, als ich Unsel’ger auf die Erde kam. Was kümmerte mich auch der Menschheit Gram, wenn du, der Gott, die Menschen nicht mehr scharst um deinen Thron. – Wenn gläubiges Gefleh nur Irrsinn ist, du nie dich offenbarst, weil du nicht bist. – Einst wähnt’ ich, ich gesteh, ich sei Stimme deiner Weltidee …… Mein Alles war mir, Vater, deine Näh … Du Grausamer, und wenn du niemals warst, so hätte meine Liebe und mein Weh dich schaffen müssen bei Gethsemane. ……………………………………………………..

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Hier ist anzuknüpfen: Der Jesus, der auf dem Nicht-Sein Gottes beharrt, beharrt gleichzeitig mit existentieller Wucht darauf, ihn dafür anzuklagen. In dieser Paradoxie ist er gefangen und erschöpft sich am Ende seiner ersten Rede. Zu der nimmt dann der zweite Monolog eine noch weniger folgerichtige Gegenposition, auch, wenn er sich nun nicht mehr an Gott, sondern an und gegen den toten Rabbi Löw wendet, den er zuvor noch als eine Art Anwalt in den ersten Monolog mit eingebracht hatte (V. 59–86): Dir auch gefiel es, Alter, manchen Spruch zur Ehre jenes Gotts zusammenzuschweißen. Wer hat dich, morscher Tor, auch blättern heißen in alten Psalmen und im Bibelbuch? Du hast so viel gewußt, stehst im Geruch, dich gar geheimer Weisheit zu befleißen. Heraus damit jetzt! Weißt du keinen Fluch, daß ich des Himmels blaues Lügentuch mit seiner Schneide kann in Stücke reißen. Hast Du ein Feuer in den Dämmerungen des Alchymistenherdes je entdeckt, das fürchterlich und ewig unbezwungen mit gierem Lecken seine Rachezungen bis zu des Weltalls fernen Angel streckt? Kennst Du kein Gift, das süß ist wie der Kuß der Mutter, das nach seligem Genuß den Ahnungslosen sicher töten muß. O Glück, die ganze Welt so zu vergiften. Weißt Du kein Mittel, herben Haß zu stiften, der jeden Mann zum wilden Raubtier macht? Kannst du nicht ziehn in diese stillen Triften die Schauerschrecken einer Völkerschlacht. Kannst du nicht eine neue Lehre stiften, die Wahnsinnswut in jeder Brust entfacht. Ins Unbegrenzte steigre ihre Triebe und sende Pest und sende Seuchenschwärme, daß in des Lotterbettes feiler Wärme die ganze Welt zugrund geht an der Liebe!

Die »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes  |  149

Durchaus lassen sich für einzelne Motive und Zusammenhänge dieser Jesusreden zum einen biblische und dann auch zeitgenössische Texte finden (Richard Dehmel, Gethsemane (1891); Julius Zeyer, Christo de la Luz. Eine toledanische Legende (1894)),25 die Rilke als An­knüpfungspunkte gedient haben können. Aber in solchen Entdeckungen findet sich neben überraschenden Ähnlichkeiten doch kein Erklärungsschlüssel für das ganze Gedicht und die Widersprüche der Jesusmonologe. Noch weniger entschlüsseln den erst klagenden und dann tollwütigen Christus Ideen, die als Hintergrundgedanken des Dichters anzunehmen wären: etwa, den »armen Juden« (21) als Rilkes Darstellung eines ganz undogmatischen und »historischen Jesus« zu sehen, der im Gedicht Rilkes nicht Gottessohn oder Erlöser, sondern »nur ein Mensch« sei. Ebenso wenig hilft es weiter, Rilkes Gedicht-Jesus als »armen Juden« im Zusammenhang seiner Ablehnung des Neuen Testaments und Wertschätzung des Alten Testaments verstehen zu wollen.26 Auch die Nietzsche-Anklänge des zweiten Monologes helfen kaum zu dessen Aufklärung. Unter der Voraussetzung, daß die vordergründig unschlüssigen Zusammenhänge doch einen Sinn machen, kommt nur eine textimmanente Lesart dem Gedicht als Organismus auf die Spur – und führt gerade über die Widersprüche zu einem überraschenden Ergebnis: (a) Die Konstruktionslogik des Christus im ersten Monolog ist keine logisch-gedankliche oder historische. Die Argumentationen des ersten Monologs sind Vorwände. Im Kern ist die Konstruktionslogik emotional. Der »arme Jesus« im ersten Monolog von Judenfriedhof, der im Rückblick auf seine Vergangenheit als »Erlöser« den Verrat Gottes bedenkt, obgleich er ihm, Gott, doch »Alles« (29) gegeben habe und der sich jetzt in einem »leeren« Himmel (39) auch noch als inexistent herausstellt und nun für seine Nichtexistenz angeklagt wird, dieser in seiner Logik mehr als hilfsbedürftige Jesus ist nichts anderes als ein großes emotionales Gemisch. Vor aller Konstruktion steht ein Gefühl – wie ein »unerklärliches Verhängnis« –, aus dem sich poetisch die Christusgestalt webt und in ihren Anschuldigungen und Begründungen ihren Gefühlsgehalt zur Gestalt werden läßt. Der »arme Jude« auf dem Friedhof steht dabei seiner eigenen Vergangenheit, dem »Erlöser, lächelnd und erlaucht« (22) gegenüber. 150  |  norbert stapper 

Sein Leben wird in der Anklage Gottes emotional rekonstruiert und in ihrer schrecklichen Veränderung als ein Gemisch aus tiefster Enttäuschung, Erschöpfung, Traurigkeit und Wut dargestellt. Das aktuelle Gefühlsgemisch rekonstruiert seinen Grund, indem es ihm Gestalt und Geschichte verleiht. (b) Der zweite Monolog, der sich ganz aus der Selbstverstrickung des ersten Monologes löst, indem Jesus sich in einen Haßausbruch hineinkatapultiert, läßt sich innerhalb des Gedichtes nicht als eine psycho-logische Weiterentwicklung verstehen, sondern nur als das Konstrukt einer poetischen Spiegelung von isolierten, einzelnen Elementen des ersten Monologes. In einer genauen Textanalyse kann man nachvollziehen, wie daraus die Umkehrung des ErlöserJesus, nämlich ein Zerstörer und Verderber wird.27 Die einzelnen Jesus-Elemente finden im zweiten Monolog ihre Ausformung ins Gegenteil. Der aggressive Anteil des vor allem schwermütigen Jesus auf dem Friedhof, wird in der umkehrenden Spiegelung des vergangenen Erlösers zur apokalyptischen Emphase stilisiert, die die ganze Erde vernichten will. Aber anstatt einen großen Weltenbrand auszulösen, bleibt seine Attacke »nach außen« wirkungslos. Erlauchter Erlöser, armer Jude und Weltzerstörer sind – einer wie die anderen – selbstgetäuschte Gestalten, die dann jedoch »nach innen« eine unerwartete Beruhigung erfahren: (c) In der Schlußstrophe, die wieder dem Erzähler gehört, kommen auf einmal alle drei dargestellten Jesus-Typen in einer vierten Jesusgestalt zusammen, die – in sich gekehrt und in das Naturidyll des geschilderten Friedhofs integriert – endlich die Situation des Gefühls angemessen repräsentiert. Der Falter sieht »Christum einsam knien und weinen« (91): Durch alle Negationen hindurch, ist die Situation gefunden, von der aus – am Rand und in der Einsamkeit – ein Aufbruch möglich wäre. Vielleicht gilt dieser mögliche Aufbruch der Schlußeinstellung – nun von der Intention des Dichters aus gesehen – nicht einmal primär dem Christus des Gedichtes, sondern dem Dichter selber, dem die Jesusgestalten bis hierher poetisch im vorwändigen Schreiben »erschienen« sind und die nun auch »überstiegen« werden können. Denn der Ort der Ankunft in nichts als der fühlbaren und angenommenen Immanenz am Ende einer ganzen Geschichte von Verzweiflung und Überhebung ist der Ort, von dem der Dichter ausDie »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes  |  151

geht, wenn er – wie Jesus oder wie die Waise im ersten Gedicht – alle Illusionen und fehlleitenden Selbst- und Fremdvorgaben hinter sich lassen kann. Die Haltung und Unmittelbarkeit des Jesus am Ende von Judenfriedhof ist die Voraussetzung für Poesie. Diese vielleicht etwas überraschende Wende in die Frage nach dem Gewinn für den Dichter beim Dichten, kann erst am Ende einer Texterschließung genommen und hier auch nur als eine Möglichkeit formuliert werden.28 Bei den Gedichttexten als Organismus anzusetzen bedeutet, daß am Ende die Frage nach dem Dichter, die bislang nicht die Untersuchung geleitet hatte, Impulse erhalten kann, die weit näher an seine Wirklichkeit heranreichen als ein grundsätzlich biographischer Ansatz mit – stets ausgewählten, aus dem Zusammenhang gelösten und zusammengestellten – Briefäußerungen, illustrierenden Gedichtzitaten und anderen biographischen Hinweisen. ›3‹ Drei Merkmale der »Christus-Visionen« Dem Verständnis der Gedichte galten die bisherigen Ausführungen – und deshalb wurde beispielhaft an den beiden zuerst entstandenen Christus-Visionen das Strukturelement der selbstreferentiellen Texterstellung aufgewiesen, deren poetisch erzeugte Bewegung an den Rand der zuvor unüberwindlich erscheinenden Gegebenheiten der Waisen bzw. der Jesusgestalt auf dem Friedhof führt. Die Struktur der Selbstreferenz und die Bewegung eines Über­stiegs sind deshalb zwei poetische Merkmale dieser Gedichte, die durch eine dritte Komponente zu ergänzen ist: Denn beide sind erst möglich mit dem literarischen Mittel der Entknüpfung und Neuverknüpfung von Stoffen und Motiven.29 Die Entknüpfung ist das rezeptionell wichtigste poetische Mittel Rilkes: Stoffe, Motive, Themen aufzugreifen und sie aus ihrem gegebenen Kontext herauszulösen, um sie neu, in anderer Maßgabe und »vorwändig« einzusetzen. Damit wird der Dichter im Maße seines handwerklichen Zugewinns in der mittleren Zeit, besonders in den Neuen Gedichten, alles bewegen und »verflüssigen« können. In der Rezeption biblischen Materials bedarf er nicht mehr der Neuerschaffung von Christus-Geschichten wie im vorliegenden Zyklus oder in den Geschichten vom lieben Gott (KA 3, 343–429), sondern er kann sich in die bestehenden Christus- oder Gottesgeschichten einfinden, das Sagen wird »sachlich«, freilich nicht einfach objektiv, sondern in der Weise einer höchst 152  |  norbert stapper 

subjektiven Sachlichkeit. Außerhalb dieser Sachlichkeit der mittleren Zeit, kann die Namenlosigkeit Christi bis zur weitgehenden Unkenntlichkeit führen. In dieser Perspektive läßt sich etwa das Gedicht Leichen-Wäsche in Der Neuen Gedichte anderer Teil (KA 3, 540) als ein anonymes Christus-Gedicht entdecken, in dem – ähnlich wie in Der blinde Knabe der zweiten Folge der Visionen – die Christusgestalt durch eine Symbolgestalt ersetzt und mit den Signifikanten Christi und seiner Geschichte ausgeformt wird.30 6. ›Gott‹ in den Christus-Visionen? Um in einer auch der frühen Poesie Rilkes angemessenen Weise nach Gott zu fragen, muß hier wie bislang die Dichtung als Dichtung verstanden werden und nicht als verborgene Philosophie oder Theologie oder sogar als kunsthandwerkliche Gedankenverschönerung, deren »Reinform« einer Diskurserweiterung dienlich wäre.31 ›1‹ Gott als poetisches Material und die Bewegungsfigur des Überstiegs Es konnte deutlich werden, daß der materiale »Gottes-Gebrauch« in den Christus-Visionen in Ent- und Neuverknüpfung nicht zu trennen ist von der poetisch evozierten Bewegung des Überstiegs: Genannt und poetisch verwendet wird »Gott« einerseits als ungelöste Vergangenheit Jesu im ersten Monolog von Judenfriedhof, deren Entknüpfung erst weiter führen kann. Andererseits findet sich »Gott« ausdrücklich in Die Kinder als Menschenzukunft, die noch nicht vorliegt, also im Werden, d. h. zu-kommend ist.32 Die gleiche Figur einer poetisch ermöglichten Bewegung findet sich – nun aber ohne von »Gott« zu sprechen – am Ende von Die Waise: als mühsam erreichte und noch uneingeholte Offenheit. Aber auch in der zweiten Hälfte des Zyklus, in der die Jesusfigur so sehr und unglücklich an seine Gottes-Herkunft gefesselt ist, findet sich diese Ermöglichung von Zukommendem, die Überstiegsposition in Bezug auf das Vergangene und im Blick auf das noch Ungeschehene, also die Bewegungsfigur des Überstiegs: wieder uneingeholt und offen am Ende von Judenfriedhof, ebenso wie am Ende von Venedig; dort allerdings in einem jugendstilartig verklärten Schlußbild. Anders in Jahrmarkt: dort trifft man auf die ÜberstiegsDie »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes  |  153

figur in der Befreiung des lyrischen Ichs von seiner geradezu hypnotisch wirkenden Vision des Kreuzchristus, der für sich genommen ebenso wenig zu retten ist wie der Jesus im zweiten Monolog von Judenfriedhof. In Die Nacht ist die Vergangenheit abgewiesen, aber noch unbewältigt; als Leid und Unwirklichkeit wird sie in der Gegenwart erlitten. Wie im ersten Monolog von Judenfriedhof, ist dort die Bewegung noch kaum »in Gang« gekommen. Mit dem »Gottes-Material« der Gedichte verbunden findet sich also das Drama der Lösung von der jeweiligen Art der Herkunft: dem Unglück oder der Bindung der Kinder und der selbst­bedingten Gefangenschaft im Vergangenen bei den Jesusgestalten der zweiten Zyklushälfte. Auf der anderen Seite steht offen, aber noch unerreicht, ein anstehender Lebensaufbruch, die Zukunft. ›2‹ Am Ende ein Anfang: die Anknüpfbarkeit der Gedichte Die Frage nach Gott muß dort ansetzen, wo Materialität und Bewegungsfigur nicht voneinander getrennt werden können und mehr noch, wo die »Immanenz« des Gedichtes zu einer Bewegung führt, die etwas erlangt, für das das Gottesmaterial im Gedicht nicht hinreicht, sondern in dessen Gegebenheiten sogar zum Problemaufweis oder -grund geworden ist. In diesem Sinne lassen sich die beiden besprochenen Gedichte anschauen: (a) Die Waise: Die Poetik des Gedichtes erstellt eine Bewegung und führt eine Richtung vor Augen, die an den Rand geht; sie erreicht eine Unentschiedenheit oder Offenheit. Von »Gott« ist hier am Gedichtende nicht die Rede, und – ganz anders als in Hauptmanns Hanneles Himmelfahrt – unterbleiben Eingriff des Himmels und Übergriff auf ihn. Aber an diesem Rand, der erschriebenen Offenheit und ohne, daß er Erwähnung fände, ist bei diesem Gedicht von Gott zu sprechen: Im poetisch – mit der Waisen und dem Christus des Gedichtes – erreichten immanenten »Stand der Realität« eröffnet sich eine »bange« Weite, säumt eine größere Wirklichkeit. Es ist die Vorläufigkeit im Abschluß des Gedichtes, die als »Ergebnis« der poetisch konstruierten Bewegung die Aufmerksamkeit auf sich zieht und in ihr – für das Gedicht, den Dichter und den Leser – einen Anfang (oder vorsichtiger: einen Ausblick) ermöglicht. George Steiner bezeichnet das philosophische Denken und ohne Unterschied das poetische Schaffen als »Samstagskinder«,33 also 154  |  norbert stapper 

als ein Tun, das nicht in der Erfüllung des Sonntags, des Auferstehungstages, geschieht, sondern als eine Tätigkeit, die das Warten, den Schmerz, aber auch die Hoffnung ausdrückt. Der Gedichtausgang der ersten Christus-Vision, in poetischen Mitteln und poetischer Absicht erstellt, kreuzt sich mit der Perspektive des Karsamstags christlicher Prägung. Dafür bedarf es aber den, der so rezipiert und das ist nicht der Dichter, sondern, wenn er oder sie es will, der Leser oder die Leserin. Deshalb fixiert der sich »kreuzende Blick« nicht das Christus- oder andere Gottes-Material, nicht den abgewiesenen Trosthimmel oder die aufgehobene Pfarrerautorität, sondern knüpft an die poetische Struktur des Textes an und begreift darin die poetisch erreichte Unentschiedenheit des Gedichtes als Gewinn, in dem es nicht um die Rechtfertigung der Jesusgestalt, sondern um die Lebensmöglichkeit der Waisen geht. Denn in ihr liegt die zentrale Perspektive des Gedichtes. Daß diese nicht in einer Identifikation mit dem Visionschristus geschieht, gehört zu der Möglichkeitsbedingung der poetisch erstellten Bewegung ebenso, wie sie sich im Gegenüber zum Visionschristus und in jener eigenartigen Distanz- und Projektionsbeziehung überhaupt erst vollzieht. (b) Judenfriedhof: Im zweiten Gedicht des Zyklus kam für den Christus, der sich an seiner Gottes-Vergangenheit abmüht und verzweifelt, diese Vergangenheit in Bewegung und zur Verwandlung der aktuellen Situation. Der »arme Jesus« steht die Verzweiflung durch (und mit ihr der Dichter und wenn es gewollt ist, auch der Leser) und konvertiert in einen anderen Zustand: Durch alle Negationen hindurch wird eine neue Position evoziert. Ob eine solche poetische Evokation in einer theologischen Rezeption zum Anhaltspunkt werden darf, etwa für eine Reflexion, wie aus einer verengten Glaubensbindung ein freier Gottesglaube werden kann, ist nicht Frage des Gedichtes und nicht Anliegen des Dichters, aber rezeptionsästhetisch hält das Gedicht eine solche Lektüremöglichkeit vor: Der Text führt aus dem Unterfangen des Dichters zu einer produktiven Rezeption durch den Leser. Auch darin liegt ein »Überstieg«. Deshalb gilt: Die rezeptionsästhetische Qualität einer theologischen oder philosophisch produktiven Lektüre ist legitim, wenn sie den poetischen Textvollzug als Grundlage ansieht und keine Rückübertragung auf die Intention des Dichters Die »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes  |  155

unternimmt. Die Legitimität einer produktiven Rezeption gilt dann nicht nur für diese frühesten und »schäumenden« Gedichte, sondern grundsätzlich für die gesamte Poesie Rilkes.34

Anmerkungen 1 

Die Ausnahmestellung im Jugendwerk, die diesem Zyklus manchmal zugebilligt wurde (vgl. E.C. Mason: Rainer Maria Rilke. Sein Leben und Werk, 24; August Stahl: Rilke-Kommentar zum lyrischen Werk, 92; Donald A. Prater: Ein klingendes Glas. Das Leben des Rainer Maria Rilke, 68), führte nicht dazu, ihn näher zu erforschen – und auch noch KA1 von 1996 (Gedichte 1895–1910, hg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn) läßt die Gedichte unbeachtet. So ist die Literatur zu den Christus-Visionen, die sich den Gedichttexten ernsthaft zuwendet, äußerst übersichtlich: vgl. immerhin Siegfried Mandel: Introductory Essay; weiterhin (den Handbuchartikel) Jutta Heinz: Die frühen Gedichtsammlungen (RHB, 182–210, 197–201). Der vorliegende Aufsatz basiert auf meinen Untersuchungen: Rainer Maria Rilkes Christus-Visionen. Poetische Bedeutungen und christopoetische Perspektiven (= Norbert Stapper: CV). Daniel Joseph Polikoff (In the Image of Orpheus. Rilke. A Soul History, 27–58) nähert sich dem Zyklus durch Kommentierung ausgewählter Gedichte. 2  Brief vom 24.7.1913: Rainer Maria Rilke, Lou Andreas-Salomé. Briefwechsel, 290. Mit den »Engelvisionen« sind die Duineser Elegien gemeint, deren erste Teile Lou Andreas-Salomé vorlagen. Rilke hatte sie gebeten, die Christus-Visionen, die bei ihr aufbewahrt waren, erneut zu lesen. Die Freundin bemerkt in ihrer Antwort zunächst: »Im Ton stehn sie so weitab von den beiden jetzigen, letzten, – doch wie ist alles was Du geschaffen einheitlich bewegt […]«. Die Christus-Visionen standen am Anfang der Beziehung Rilkes zur lebenslangen Freundin; in seinem ersten Brief rekurriert er im Zusammenhang mit den Gedichten auf einen Aufsatz L. Andreas-Salomés (Jesus der Jude). Entgegen anderslautender Behauptung spielt dieser Aufsatz aber keine Rolle für die Entstehung der Gedichte. Vgl. den Kommentar E. Pfeiffers (Briefwechsel, 490–493) und zur Selbstdeutung Rilkes und dem poetologischen Zusammenhang mit Perspektive auf den Aufsatz: Norbert Stapper: CV, 436–440. 3  Dort (=SW III,127–169) unter dem Titel: Christus. Elf Visionen (1896/1898). Aufgenommen auch in der handlichen einbändigen Ausgabe der deutschsprachigen Gedichte (Rilke: Die Gedichte, 721–763). Ebenfalls abrufbar unter: www.rilke.de (Die frühen Gedichte). 4  Z. B. Br. 16.2.1897 an Karl Du Prel, in: Rainer Maria Rilke: Briefe aus den Jahren 1892 bis 1904, 31 f. 156  |  norbert stapper 

Ruth Mövius: Rainer Maria Rilkes Stunden-Buch. Entstehung und Gehalt, 149–152; Marianne Sievers: Die biblischen Motive in der Dichtung Rainer Maria Rilkes, 80–85.  6  Alle drei Zyklen sind aufgenommen in Mir zur Feier: KA 1, 63–111: 84–86; 87–94; 95–102. Vgl. Norbert Stapper: CV, 291 f.  7  Vgl. Norbert Stapper: CV, 295–300; 447–450.  8  Zu den Gedichten der zweiten Folge Norbert Stapper: CV, 283–300.  9  Zur Form und zu Rilkes kaum beachtetem Psychodrama Murillo (SW III, 97–100), das – entgegen den beiden Gedichten Glaubensbekenntnis und Christus am Kreuz (SW III, 489–493) – im Zusammenhang mit seinem Christus-Finale nirgendwo in der Rilke-Literatur Beachtung gefunden hat, Norbert Stapper: CV, 231–259. Zu den beiden Gedichten, die vor allem plakativ als Kronzeugen der religiösen Abwehr des jungen Rilkes gehandelt werden vgl. deren Analyse und Kontextualisierung bei Norbert Stapper: CV, 141–230. 10  Sie lassen sich auch mit dem Bild Ulrich Fülleborns in seiner Strukturuntersuchung zum Spätwerk als »Gleichungen mit mehreren Unbekannten« bezeichnen; vgl. Ulrich Fülleborn: Das Strukturproblem der späten Lyrik Rilkes. Voruntersuchung zu einem historischen Rilke-Verständnis, 44. 11  Eudo C. Mason: Lebenshaltung und Symbolik bei Rainer Maria Rilke, IX. Das gilt besonders, wenn es eine einheitliche religiöse oder auch antireligiöse Ideenwelt in Rilkes Texten zu entdecken gilt. Als Beispiele sind zu nennen: Gertrud Höhler (Niemandes Sohn. Zur Poetologie Rainer Maria Rilkes) oder Günther Schiwy (Rilke und die Religion). Vgl. Norbert Stapper: CV, 41–54; 26 Anm. 4; 262 Anm. 10. 12  Im Anschluß etwa an die Zusage Jesu an seine Jünger in Mt 28, 20b: »Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.«, die sich glaubenspraktisch nicht zuletzt in Gebet und Liturgie spiegelt. 13  Gleichnis vom Weltgericht im Matthäusevangelium: Mt 25, 31–46. 14  Vgl. Uwe Kächler: Die Jesusgestalt in der Erzählprosa des deutschen Naturalismus, 64–67; 77–81. 15  Die Waise: 5.10.1896; Judenfriedhof: 6.10.1986; Jahrmarkt: 9.10.1896; Die Nacht: 1.12.1896; Der Narr: Ende 1896; Venedig: April/Mai 1897; Die Kinder: Sommerhalbjahr 1897; Der Maler: Hochsommer/Herbst 1897 (SW III, 921 f.). 16  Wie sich die Gedichte 2–7 aus diesem »doppelten Keimblatt« entfalten, findet sich dargestellt in: Norbert Stapper: CV, 407–435. Dies widerlegt auch die inhaltliche Deutung von Jutta Heinz (Die frühen Gedichtsammlungen), die die erste und zweite Folge in einem komplementären Verhältnis zu einander sieht, weil in der zweiten Folge die »Belebung« und in der ersten Folge die grundsätzliche Kritik am Christentum dargestellt werde. In der ersten Folge findet sich aber ebenso »Belebung«, wie in der zweiten Kritik. Vgl. Norbert Stapper: CV, 263 f. 17  Vgl. Ulrich Baer: Das Rilke-Alphabet, Frankfurt/M 2006, 198. 5 

Die »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes  |  157

Moderne Lyrik (1898), in: KA 4, 61–86, 65. Zur Vorwand-Poetik: KA 1, 662–665 (Manfred Engel) und RHB, 483–485 (Manfred Koch). 19  Norbert Stapper: CV, 407–434; dort bislang unbekanntes oder nicht ausgewertetes Material. 20  Zur Verwobenheit von Gottesmotiven und poetischer Selbsterschaffung beim frühesten Rilke: Norbert Stapper: CV, 113–122. 21  Noch im Jahr 1907 (8. März) findet sich in einem Brief aus Capri an Clara Rilke eine prägnante Beschreibung des Vorgangs, in dem sich unbewußt, außerhalb oder hinter der Anschauung etwas vollzieht und seinen »einzig möglichen Namen« findet (RMR: Briefe in 2 Bänden, Bd. 1,247). Das führt schon weit in die Frage nach der Poetik der mittleren Zeit, also der Neuen Gedichte und der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (vgl. Anthony Stephens: Ästhetik und Existenzentwurf beim frühen Rilke. In Ingeborg Solbrig; Joachim W. Storck (Hg.): Rilke heute. Beziehungen und Wirkungen, Bd. 2, 95–114) Vom »Vorwand« schreibt Rilke noch der Vierten Duineser Elegie: »[…] wie voll Vorwand/ das alles ist, was wir hier leisten. Alles/ ist nicht es selbst. […]« (KA 2,212/V. 63 ff.). 22  Darin liegt auch die Möglichkeit, das Werk in einen poetischen Strukturzusammenhang zu stellen, wie es etwa Winfried Eckel vorgelegt (Wendung. Zum Prozeß der poetischen Reflexion im Werk Rilkes) und Ulrich Fülleborn (Das Strukturproblem der späten Lyrik Rilkes. Voruntersuchung zu einem historischen Rilke-Verständnis) in die Rilke-Forschung eingebracht hat. 23  Vgl. Norbert Stapper: CV, 303–315 f. 24  Als einziges Stück Hauptmanns wurde Hanneles Himmelfahrt in der deutschsprachigen Provinzialität Prags aufgeführt. So Peter Demetz: René Rilke Prager Jahre, 168. Zu Hauptmanns Stück und Rilkes Gedicht: Norbert Stapper: CV, 307. 25  Sichtung und Auswertung der bislang unbeachteten Referenzen: Norbert Stapper: CV, 343–351. 26  Norbert Stapper: CV, 340–343; dort auch Analyse und Kritik an der Forschung in ihrer generalisierenden Übernahme von brieflichen Urteilen Rilkes zu Altem und Neuem Testament (Anm. 26). 27  Norbert Stapper: CV, 371–376. 28  Eine systematische Auswertung der Gedichtanalyse von Judenfriedhof im Blick auf die Person des Dichters und seinen poetischen Auseinandersetzungen mit der Christusgestalt findet sich bei Norbert Stapper: CV, 383–406. 29  Zu diesen übergeordneten Merkmalen: Norbert Stapper: CV, 441–450. 30  Norbert Stapper: CV, 448 ff. 31  Welche Wege gegangen wurden, um in theologischer Perspektive unterschiedlichste Literatur wahrzunehmen und dabei zu einem grundsätzlichen und im Einzelnen angemessenen Verständnis zu gelangen, findet sich dargestellt bei Georg Langenhorst: Theologie & Literatur. Ein Handbuch. Zum Christusthema in der Rilke-Forschung und -Rezeption: Norbert Stapper: CV, 18 Vgl.

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25–54, 458–461. Dort auch die Sichtung der Christuskritik Rilkes am »Mittler« und die Nachfrage, wie denn mit diesem immer wieder in Publikationen aufgegriffenen theologischen Topos literaturwissenschaftlich angemessen, d. h. nicht – wie meistens – weltanschaulich umzugehen wäre: 459 f. 32  Systematisch zum Verhältnis von Herkunft und Zukunft, in deren Spannung Rilke in frühester Zeit von ›Gott‹ spricht und die sich als Grundlage seines Schreibens unter der Maßgabe der Entknüpfung von Christus und Gott auch in den Christus-Visionen wiederfindet: Norbert Stapper: CV, 139 f. 33  George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, 302: »Philosophisches Denken, poetisches Schaffen sind Samstagskinder. Sie sind einer Unermeßlichkeit des Wartens und Erwartens entsprungen. Gäbe es sie nicht, wie könnten wir ausharren?« 34 Zur Frage einer theologischen Hermeneutik, d. h. den Möglichkeiten, Voraussetzungen und Unmöglichkeiten einer christlichen Lektüre der Gedichte: Norbert Stapper: CV, 456–470.

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– Alexander W. Belobratow –

»Gott (wohne) in der Achselhöhle …« Zur Bedeutung von Rilkes Rußlanderlebnis

Rilkes russische Reisen (1899 und 1900) und seine Bewunderung des »Märchenlandes« Rußland finden zahlreiche Spuren in seinen Tagebüchern, Briefen und dichterischen Texten und wurden öfters dokumentiert und interpretiert. Jürgen Lehmann hält mit Recht fest: »zu keinem Bereich der deutsch-russischen literarischen Beziehungen gibt es so viele Veröffentlichungen in deutscher, englischer und russischer Sprache« wie zu Rilkes Rußlanderlebnis.1 Die Liste der Publikationen zum Thema ist inzwischen noch umfangreicher geworden, auch in Rußland.2 Ausreichend mit Selbst- und Fremdzeugnissen belegt,3 wird die russische Erfahrung und Offenbarung »allgemein dem exotisch-vertrauten Mythos von der ›russischen Seele‹ zugeordnet«.4 1925 berichtete Rilke in einem Gespräch mit Witold Hulewicz, dem polnischen Literaten und Übersetzer seiner Werke, über die ersten Stunden seines Aufenthaltes in Moskau vor mehr als einem Vierteljahrhundert: »Als ich das erste Mal […] nach Rußland kam, ging ich nach einem kurzen Aufenthalt im Gasthaus trotz meiner Ermüdung sofort in die Stadt. Ich traf auf dieses: in der Dämmerung ragten die riesigen Konturen einer Kirche empor, an den Seiten im Nebel zwei kleine silberne Kapellen, auf den Stufen warteten Pilger auf die Öffnung der Türen. Dieser für mich ungewohnte Anblick erschütterte mich in der Tiefe: zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich ein ausdrückbares Gefühl, etwas wie ›Heimatgefühl‹ – ich fühlte mit großer Kraft die Zugehörigkeit zu etwas, mein Gott, zu etwas in dieser Welt«.5 Rilkes Briefe, die sich durch die Diskursivität der Begeisterung, der gehobenen Gefühle, auch der deutlichen Lenkung seiner Korrespondenten und Korrespondentinnen auf bestimmte Topoi seiner Weltauffassung auszeichnen,6 sind die wichtigsten Zeugnisse seines   |  161

Rußland-Traums. Der ideale Ort, locus amoenus für Rilke wird mit der deutlichen Verwendung der rhetorischen Topik präsentiert: der liegt fern, beherbergt etwas, was der anderen, nahen, bekannten Welt nicht eigen ist, ist märchenhaft, homogen, einprägsam in der Seele des Menschen. Es gibt dort noch Gott und Erbauung. Es führt ein Tor dorthin (russische Pilger in Moskau warten »auf die Öffnung der Türen«): »klopfet an, so wird euch aufgetan« (Mt 7,7). Und dieses Anklopfen taucht auch im Buch vom mönchischen Leben auf (SW I,255): Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manchesmal in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, – so ists, weil ich dich selten atmen höre und weiß: Du bist allein im Saal.

Die spätere Darstellung des urplötzlichen »Sich-Zeigens« der den Fremden in ihren Bann ziehenden russischen Religiosität und des mitreißenden Heimatgefühls, von Rilke mehrfach in seinen Briefen und Gesprächen fixiert, darf aber auch nicht die Tatsache vergessen lassen, daß diese romantisch-mythologische Auffassung von Rußland durch vieles gründlich vorbereitet war und auch gewisse Züge der Selbstinszenierung des Autors aufweist. Kurz vor seiner ersten Reise nach Rußland schreibt Rilke (am 10.04.1899) an Wilhelm von Scholz: »Zu dünnstimmig waren mir die Ostern und ohnmächtig. Ich will sie noch einmal unter den volleren Glocken haben, und köstlicher soll der Klang der Kremlinkirchen mein frommes Horchen krönen«.7 Auf den Klang der »volleren«, »großen« und »gewaltigen« Glocke vom »Iwan Welikij«-Glockenturm in Moskau8 wartete Rilke schon, in das »geheimnisvolle Wesen« Rußlands durch Lou Andreas-Salomé eingeweiht. Hans Egon Holthusen bemerkt in seiner Rilke-Biographie: Im Brief an Alfred Schaer »unterbricht sich Rilke selber« beinah gewaltsam, in der Beantwortung der Frage nach »Einflüssen«, um endlich dasjenige Erlebnis zu nennen, das nach seinen Maßstäben für die eigene Entwicklung weitaus befördernder geworden ist als jede Art von »Einfluß« oder literarischer Berührung: »aber da wirkte, durch einen nahen Menschen, der es in seiner Natur zusammenfaßte, zwei Jahre ehe ich es bereiste, Rußland herein, und damit war, wie Sie richtig erkennen, die Wendung ins eigentlich Eigene vorbereitet«.9 162  |  alexander w. belobratow 

Es wurden in mehreren Arbeiten auch andere genau eruierten bzw. vermuteten Quellen von Rilkes vorbereiteter »Rußlandbegeisterung« erwähnt. Zusammenfassend schreibt Jürgen Lehmann über »ein aus vielen Quellen gespeistes und deshalb auch in sich widersprüchliches Rußland-Bild«: Es wird z. B. Wilhelm Heinrich Riehl erwähnt, der in seinem berühmtesten Werk Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik (4 Bände, 1851–1869), im ersten Band Land und Leute (1854), den Nationalcharakter der europäischen Völker in eine unmittelbare Beziehung zu der sie umgebenden Umwelt setzte und Rußland als »ein vorzivilisatorisches Land« bezeichnete.10 Auf Friedrich Nietzsches Äußerungen über Rußland als »einem Land der Gottsucher« wurde oftmals verwiesen.11 Auf der Lektüreliste Rilkes stand auch das zu jener Zeit meistgelesene Buch über die russische Literatur (Melchior de Vogüé: Le roman russe). Am 2. Dezember 1899 notierte Rilke in seinem Tagebuch: »In diesen Tagen hab ich mich ganz dem Russischen zugewendet, das ja auch lange genug verlassen war. Ich las außerdem mit großem inneren Erfolge: Melchior de Vogüé, Le roman russe. In meinen Notizen habe ich alles Bemerkenswerte dieses feinen Buches zurückbehalten. Von den ersten Anfängen wird man bis zu Tolstoi geführt, der mit großer Gerechtigkeit besprochen ist.«12 Vogüé schrieb in Vorwort zu seinem Buch: »Traversez cent villages entre Pétersbourg et Moscou: par les traits, les attitudes et le costume, tous les gens que vous rencontrerez sont frappés а la même effigie. Comme dans la plupart des civilisations très-neuves, l’effort personnel ne les a pas dégagés du lien collectif; quelques portraits pris au hasard peindront tous ces frères. Ainsi de leurs esprits: une âme est représentative de beaucoup plus d’âmes que chez nous. […] Les questions d’art ont leur intérêt et leur grandeur; mais il y a plus encore d’intérêt et de grandeur dans le secret qu’elles m’aident а poursuivre, le secret de cet être mystérieux, la Russie. […] mais а leur insu, dans les fibres les plus intimes de leur cœur, ils demeurent toujours ces chrétiens dont une voix éloquente disait naguère : ›Ils n’ont pas cessé de compatir а ce pleur universel dont les hommes et les choses, tributaires du temps, alimentent le flot intarissable‹ — En parcourant leurs livres les plus étranges, on devine dans le voisinage un livre régulateur vers lequel tous les autres gravitent ; c’est le vénérable volume qu’on voit а la place d’honneur, dans la Bibliothèque »Gott (wohne) in der Achselhöhle …«  |  163

impériale de Pétersbourg, l’Évangile d’Ostromir de Novgorod (1056) ; au milieu des productions si récentes de la littérature nationale, ce volume symbolise leur source et leur esprit«.13 Die Verbreitung des Mythos von der »russischen Seele«, der Übergang in der Auffassung von Rußland als einem antichristlich »Fremden« zum christlich »Eigenen« findet Ende des 19. Jahrhunderts übrigens nicht nur in Frankreich und Deutschland statt. Dieser Umschwung betrifft z. B. auch die angelsächsische Kultur. Ich verweise hier auf den Beitrag von Svetlana Klimova Rußlandmythos in der englischen Kultur um die Jahrhundertwende, wo die Besonderheiten dieser Mythologisierung des »russischen Glaubens« dargestellt werden. Es gehe in Rußland nicht um die Ungebildetheit und die dunkle Philosophie, sondern um den Urgrund, der die Toleranz, Güte, Menschenliebe gebiert.14 Es wird im Beitrag u. a. auch das Buch The Mainsprings of Russia des englischen Literaten und Reisenden Maurice Baring erwähnt, der am Anfang des 20. Jahrhunderts Rußland mehrmals bereiste. Mit Baring: »Now as to the chief characteristics of the Russian peasant. In the first place, and most important of all, he is intensely religious, and his religion is based on common sense.[…] In this sense the Russian peasant is a mystic. His religion does not come to him through books or study or spiritual sciences, but it is the outcome of his experience, and of a very hard and bitter experience. The first and cardinal point of the peasant‘s whole outlook on life is that he believes in God, and that he sees the will of God in all things, and that he regards a man who disbelieves in God as something abnormal, and as something not only abnormal but silly. He believes in God because it seems to him nonsensical not to do so«.15 Eine wichtige Spur in der Gärung der »religiösen«16 Rußlandbegeisterung Rilkes könnte hier u. a. verfolgt werden, indem man die Publikationen der Wiener Wochenzeitung Die Zeit aus den Jahren durchblättert, die direkt an beide seiner Rußlandreisen grenzen bzw. damit zeitlich überlagern: Ein wertvoller Verweis darauf findet sich im Beitrag von Alois Woldan.17 Bekanntlich publizierte Lou Andreas-Salomé in dieser Zeitung im Januar 1898 ihren Beitrag »Russische Philosophie und semitischer Geist« und im Dezember 1899 eine Buchbesprechung »Russische Geschichten«, es ist also durchaus möglich, daß Rilke auch einige andere Publikationen zum 164  |  alexander w. belobratow 

russischen Thema nicht ohne Aufmerksamkeit ließ, z. B. erschien dort ein Beitrag von Hermann Bahr Gegen Tolstoj (Nr. 205, 3. September 1898). Bahr bezieht sich auf die französische Übersetzung von Leo Tolstojs Buch Was ist Kunst?, das in der deutschen Sprache auch 1898 erschien: »Um zu einer wahren Kunst unserer Zeit zu kommen, müssen wir also nach ihrer Religion suchen« – so fasst Bahr Tolstojs Ansicht zusammen. »Ich werde mit ihm nicht streiten, weil man in der Kunst nichts beweisen kann. Da ist alles Glaube und Gefühl. Ich will nur meine Meinung gegen seine stellen. Ich halte das nämlich alles für falsch. Ich halte seinen Begriff der Kunst für falsch, ich halte es für falsch, die Kunst mit der Religion zu verbinden, und ich halte seine Religion für falsch«. Und dann folgt Bahrs Hauptargument, das, so Woldan, »ganz der Ästhetik des Modernismus verpflichtet ist«: »Die Kunst hat keinen anderen Zweck als sich selbst. […] Ob sie nützt, oder schadet, fragt sie nicht; von Gut und Böse weiß sie nichts; sie kennt nur sich selbst, sie kann nicht dienen«.18 Die Nachklänge dieser Publikation fühlt man in Rilkes Essay Über Kunst, der laut Angaben der Kommentatoren vermutlich im Juli/August 1898 entstanden worden ist, was evtl. einer Berichtigung bedarf, und im November in Wien in »Ver sacrum« erschien. Jedenfalls hört man einige Töne von Bahrs Überlegungen im Essay Russische Kunst ganz deutlich heraus.19 Tolstoj selbst war in dieser Zeitung mit einigen seiner wichtigen Texte vertreten, u. a. Widersprüche der empirischen Moral (1895), Verstand und Religion (1896), Gedanken über Gott (Februar 1901), Gedanken über den Sinn des Lebens (Mai 1901), die für Rilke eine gewisse Rolle spielen konnten, auch später, bei der Arbeit am Malte-Roman. Es soll auch noch auf eine wichtige Publikation aus dieser Zeitung hingewiesen werden. Es erschien dort in fünf Folgen Anton Čechovs Novelle Die Bauern (vom 25. Dezember 1897 bis 22. Januar 1898), d. h. der 4. Teil wurde in der gleichen Nummer gedruckt wie Andreas-Salomés Essay. Der Text von Čechov, seine erschütternde Beschreibung des rohen russischen Bauernlebens ist aber auch verbunden mit manchmal fast rührenden, sentimentalen Einschüben, die grundsätzlich entweder Naturbeschreibungen betreffen (die breite russische Flusslandschaft) oder die Darstellung der Glaubensszenen und der religiösen Symbole aus der Perspektive der bäuerlichen Figuren. Kannte Rilke diesen Text? Denn schon der »Gott (wohne) in der Achselhöhle …«  |  165

Titel konnte ihn zur Lektüre verlocken. Mit welcher Brille las er diesen? Obwohl ich hier hervorheben muss, daß das Elend und die tierischen Zustände des Bauernlebens Rilke nicht unbekannt bleiben durften, las er wohl aus dem Text das Erbauliche, das Heilige heraus – die Vorstellungen über die »Grundqualitäten« der »russischen Seele«, aber auch über die Armut und Demut dieser Menschen, denen die Barmherzigkeit nicht fremd bleibt. Diese Methode des »Herauslesens«, der partiellen Erfassung der russischen »Wirklichkeit« scheint für Rilke selbst durchaus klar zu sein. Bei der Vorbereitung seiner Reise zu Spiridon Drožžin, dem russischem Dichter und Bauer, der in einem nahe an Jaroslawl gelegenen Dorf lebte, bekommt Rilke von seiner russischen Bekannten Sophia Schill eine warnende Ermahnung (Brief vom 24.03.1900): »Dort werden Sie das wahre russische Leben kennenlernen, das einfache, unkultivierte Dorf, seinen ganzen Schmutz, seine Armut und Unsauberkeit. Wenn Sie dort gewesen sind, werden Sie ganz bestimmt Ihre Meinung über Rußland in vielem ändern. Sie werden sich über Ihre Begeisterung entsetzen und vielleicht mit einem ganz anderen Gefühl auf Ihre Heimat schauen, wo die Leute trotz alledem wenigstens wie Menschen leben und nicht wie Tiere«.20 Rilke antwortet am 10.04.1900 mit klaren Worten: »Denken Sie nicht, daß es ein russisches Dorf gibt, elend genug, um meine Meinung und Empfindung zu Rußland umzustürzen; ich denke mir: überall ist dasselbe Quantum Schmutz, und wo man es (wie in unserer Kultur) nicht mehr sieht, da hat es sich eben auf das geistige Gebiet zurückgezogen – um so schlimmer!«21 Noch deutlicher – obwohl in eine fiktionale Form eingehüllt – wirkt diese »auserwählte« Perspektive in den Geschichten vom lieben Gott: Der Ich-Erzähler möchte seinem Zuhörer, dem lahmen Ewald, eine Geschichte erzählen: »Es war zur Zeit, als man im südlichen Rußland um die Freiheit kämpfte«. Der von dem heiligen Rußland faszinierte Ewald reagiert aber abwehrend: »Das würde nicht zu dem passen, was ich mir von Rußland denke, und auch mit Ihren früheren Erzählungen in Widerspruch stehen. […] Denn ich liebe das Bild, welches ich mir von den Dingen dort gemacht habe, und will es unbeschädigt behalten« (SW IV, 329 f.). Dieses im Voraus von den Dingen gemachte Bild dominiert in Rilkes russischen Erinnerungen und Darstellungen. Alexander Michailow 166  |  alexander w. belobratow 

schreibt in seinem Vorwort zur Anthologie Der goldene Schnitt. Österreichische Lyrik des 19.–20. Jahrhunderts in russischen Übersetzungen: »Rilkes Volksvorstellung war eine Schreibstubenphantasie: Rilke reiste nach Rußland und es widerfuhr ihm etwas kaum Denkbares – das Land zu Gesicht zu bekommen, mit seinen Menschen zu sprechen, aber, wie in einem Traum verweilend, die in seiner Seele lebenden phantastischen Vorstellungen von ihm zu behalten«.22 Interessanterweise polemisiert Rilke in seinen Essays aus der Zeit gerade mit dem europäischen Umschwung in der Auffassung Rußlands, wobei er seine eigenen Rußlandkenntnisse und sein Verstehen von Rußland dem falschen Verstehen bzw. totalem Missverstehen seitens Europa gegenüberstellt. In seinem Aufsatz Russische Kunst (1901) schreibt er darüber, daß »Europa gewohnt ist, seine schmeichelhafte Aufmerksamkeit gerade Rußland zuzuwenden […]. Aber gerade der Umstand, daß man im Westen die fremdartigen Offenbarungen eines primitiven Lebens für Sensationen hält, beweist, daß aller Verkehr zwischen dem Zarenreich und dem übrigen Europa auf einer Reihe von Mißverständnissen beruht […]. Denn zu meinen, daß irgendeine Nation von westlicher Kultur dem Russen menschlich, in Teilnahme und Verständnis nahe stünde, heiße behaupten, daß die Römer eine Ahnung gehabt hätten von dem inneren Leben jener barbarischen Märtyrer, welche in den atemlosen Arenen mit Tigern spielten« (SW V, 493 f.). Rilke gilt hier also als der einzige, der die russische Kultur aus seiner Erfahrung kenne und präsentiere (übrigens ein Topos der Reiseliteratur, indem jeder neue Reiseberichtschreibende die Vorstellungen und Darbietungen seiner Vorgänger als falsch oder verkehrt bewertet und nun sich selber als den wahren Zeugen und genauen Beobachter des Fremden preist). Er steht hier auch als quasi kein Vertreter »von westlicher Kultur«, sondern jemand, der seine »neue Heimat« im Osten entdeckt. Es ist in dieser Hinsicht nicht ohne Interesse, an Rilkes 1898, also vor seiner ersten Rußlandreise, verfassten Essay »Über Kunst« hinzuweisen, wo er über die Verbindung der Kunst mit dem Göttlichen spricht, den Künstler als den »Menschen des letzten Zieles« bezeichnet. »Die anderen haben Gott hinter sich wie eine Erinnerung. Dem Schaffenden ist Gott die letzte, tiefste Erfüllung. Und wenn die Frommen sagen: ›Er ist‹, und die Traurigen fühlen: ›Er war‹, so »Gott (wohne) in der Achselhöhle …«  |  167

lächelt der Künstler: ›Er wird sein«. Und sein Glauben ist mehr als Glauben; denn er selbst baut an diesem Gott« (SW V, 427). Rußland wird also (im Bereich des Glaubens und der Kunst, die am Gott baut) als ein auserwähltes Land dargestellt. Nach Rilke, wie es dann 1901 heißt, »wird Rußland nur durch seine Künstler Kultur empfangen« – wenn die russischen Künstler den »beiden Gefahren«, die sie bedrohen, ausweichen können: »einmal der bestechende, glänzende Einfluß fremder Schönheit, der ihn seinem Volke entfremdet, und anderseits, wenn er seinem Volke gehört, der dringende Wunsch, ihm mit seiner Kunst zu helfen« (SW V, 495). Es soll dabei hervorgehoben werden, daß Rilke eigentlich schon lange vor seiner Rußlandreise diese Gedanken formuliert hat – in Verbindung mit der tschechischen Kultur. Nach Peter Demetz: »Renés kritische Thesen zur tschechischen Literatur gehen von der Voraussetzung aus, das tschechische Volk dürfte, sofern es sich nicht seinem eigenen Schicksal entfremden wollte, nur das Leid seiner naiven Existenz im schlichten Volkslied aussprechen. Auch die großen Dichter des tschechischen Volkes können sich, nach Rilkes Auffassung, nur dann vollenden, wenn sie den schlichten Offenbarungen des Volksgeistes lauschen […]. Rilkes Vereinfachung der tschechischen Dichtung auf das melancholische Volkslied, dem er allein ursprüngliche Echtheit zuerkennt, enthält die ästhetische Sublimierung einer traditionell-ostdeutschen Auffassung von den slawischen Völkern. […] Was macht ihn glauben, die deutsche Kunst würde vom fremden Vorbild gefördert, die tschechische aber zerstört?« 23 Im Brief an Ekaterina Woronina, 28. 05. 1899 in Petersburg geschrieben, meint Rilke: »Alles ist so gut in ihrem Rußland. Sogar der sonst sehr häßliche Umstand, daß so viele moderne Russen ihrer Heimat entfremden, für das Ausland schwärmen und seine flache oder endende Eigenart nachahmen! Denn da diese versäumen, die Schönheiten ihrer Heimat zu erfassen und zu benützen, hoffe ich – der Fremde! – , immer mehr der Vertraute russischen Wesens zu werden und der Verkünder seiner Hundert Herrlichkeiten. […] Es ist für mich etwas Unwillkürliches: Ich fühle, daß die russischen Dinge die besten Bilder und Namen für meine persönlichen Gefühle und Geständnisse sind. Und daß ich mit ihnen – sobald ich sie gründlich erfaßt habe – alles aussprechen werde, was in meiner 168  |  alexander w. belobratow 

Kunst nach Klang und Klarheit drängt. […] Um einen unabsehbaren Kreis ist meine Kunst reicher und mächtiger geworden, und ich kehre heim an der Spitze eines langen Zuges und schimmernder Beute«.24 Rilkes Intention und literarische Strategie wird hier deutlich dargestellt: Seine Reise ins »Märchen-Land« macht seine Kunst reich und mächtig und weist ihm, dem Poeten, einen hohen Platz zu. Erika Greber, die die »Semiotik der Einbildung« bei Rilke aus intermedialer Perspektive analysierte (Die Znamenskaja und den Gedicht-Kreis Die Zaren), schreibt dazu: »Eine tropologische Interpretation erweist, daß Rilke selbst genau an der Stelle ins Bild kommt, wo der Zar steht. […] Der 25jährige Rilke fährt nach Rußland, um vor den Ikonen […] sein eigenes Gesicht zurückzuspiegeln und zu autorisieren, um sich einzutragen in den sakralen Raum der hohen Dichtung«.25 Und er kommt wirklich wie ein großer Zar und Herrscher »an der Spitze eines langen Zuges und schimmernder Beute« in die europäische Dichtung zurück: Das Stunden-Buch (1899–1903 geschrieben, 1905 erschienen) verhilft dem Lyriker zum Durchbruch und wird das meistgelesene Buch von ihm für die nächsten Jahrzehnte. Seine russische »Beute« scheint dabei keine geringe Rolle gespielt zu haben. Wolfgang Braungart schreibt über »Rilkes Erfahrung und Stilisierung der russischen Religiosität«26 in Verbindung mit dem Stunden-Buch. Es soll noch auf ein Fallbeispiel dieser Stilisierung hingewiesen werden, das von der Forschung schon berücksichtigt worden war, ohne dabei aber das »produktive Mißverständnis« bei Rilke zu bemerken, das die Mechanismen der Stilisierung und Mythologisierung fremder kultureller Inhalte charakterisiert. Am 1. Februar 1920 schreibt Rilke an Nanny Wunderly-Volkart aus Locarno über seine neue Freundin: »denn irgendwie ist sie eine Art Mignon […] eine slavische, eine Mignon der russischen Ebene, mit einem Blut voller Märchen und der unbeschreiblichsten Erinnerungen an ein verlorenes […] Geborgengewesensein bei jenem Gott, von dem es in einer russischen Erzählung heißt, daß er in der Achselhöhle wohne«.27 Bekanntlich sind die Haare der Achselhöhlen (und die des Unterleibs) Bestandteile der Bildsprache der Erotik in der Lyrik der Moderne. Rilke verwendet dieses Bild z. B. in der Klage um Jonathan (Der Neuen Gedichte anderer Teil, 1908): »denn »Gott (wohne) in der Achselhöhle …«  |  169

da und da, an meinen scheusten Orten, / bist du mir ausgerissen wie das Haar, / das in den Achselhöhlen wachst und dorten, /wo ich ein Spiel für Frauen war« (1, 562). Doch scheint bei Rilke dieses Bild auch eine andere gedankengestalterische Bedeutung zu haben, die mit diesem sehr ungewöhnlichen ›Wohnsitz‹ des Gottes zu tun hat. Dieser Körperbereich findet bei Rilke noch eine Erwähnung: Im Gedicht Das Jüngste Gericht (Der Neuen Gedichte anderer Teil, 1908) wird dieser in Verbindung mit Gott gebracht (SW I,574): Aber Engel kommen an, um Öle einzuträufeln in die trocknen Pfannen und um jedem in die Achselhöhle das zu legen, was er in dem Lärme damals seines Lebens nicht entweihte; denn dort hat es noch ein wenig Wärme, daß es nicht des Herren Hand erkälte oben, wenn er es aus jeder Seite leise greift, zu fühlen, ob es gälte.

Wieder verwendet Rilke dieses Bild, das das Körperhafte, Natürliche, fast Naturalistische vermuten lässt, diesmal aber nicht in einer erotischen Konnotation, sondern mehr in der mit der Körpersprache des Menschen, der seine kalten Hände unter den Achseln aufzuwärmen versucht. Wie kommt aber Rilke dazu, gerade den russischen Gott in diesem Bereich anzusiedeln? In dem Bereich, der sonst kein bevorzugter Ort am menschlichen Körper ist, mit vielen Schweiß- und Talgdrüsen, welche unter anderem für Krankheiten wie die Achselnässe verantwortlich sein können? Die »russische Erzählung«, auf die Rilke im Brief verweist, ist ihm vertraut geworden dank Lou Andreas-Salomé, genauer dank ihrem Essay Das russische Heiligenbild und sein Dichter (Vossische Zeitung Nr. 1 und Sonntagsbeilage Nr. 1,1898). In ihrem Buch, erschienen nach dem Tode des Dichters, schreibt sie: »Dieser russische Gott überwältigt nicht als sonderlich großer Machthaber, nicht dadurch wurde er vor dem Leben Fruchtlosen im innersten Gefühle so glaubhaft; nicht alles kann er hindern oder bessern, nur Nähe kann er sein allezeit (weshalb er auch nach Ljeskows, des russischen 170  |  alexander w. belobratow 

Heiligenbild-Dichters, schönem Vergleich, unter der linken Achsel, dem Herzen des Menschen am nächsten, seine Wohnung hat)«.28 Bei Nikolai Leskow gibt es zwei Texte, wo Andreas-Salomé diese seltsame Beschreibung der »Wohnung« Gottes entdecken (und falsch übersetzen) konnte: Es könnte erstens um seine Erzählung Na kraju sveta (Am Rande der Welt, 1875) gehen,29 zweitens gibt es die Szene mit einem Gespräch über den russischen »Gottesort« in Leskows Reiseskizze Monašeskie ostrova na Ladožskom ozere (Mönchische Inseln auf dem Ladoga-See, 1872). In der erwähnten Reisebeschreibung richtet ein Mitreisender auf dem Schiff, das nach Walaam, zu den mönchischen Inseln, fährt, seine tadelnden Worte gegen die Russophilen: »Komische Käuze, echt komische Käuze sind sie! Sie machen Sorgen um den russischen Menschen, und dabei kennen sie ihn kaum! Bei ihm ist der Glaube angeboren und wohnt häuslich, zwischen Hemd und Haut«.30 Leskow verwendet den Ausdruck »za pazuškoj« (zwischen Hemd und Haut) weiter in der Erzählung Am Rande der Welt, indem »der Glaube« durch den »Gott« ersetzt wird: »Ich muß ihnen gestehen, daß ich hoch über alle Vorstellungen von der Gottheit diesen unseren russischen Gott liebhabe, der sich sein Haus »zwischen Hemd und Haut« gründet«.31 Diese Erzählung erwähnt Andreas-Salomé in ihrem Aufsatz von 1898. Das russische Wort »pazucha« (bzw. »pazuška«) bedeutet aber nicht »die Achselhöhle«, wie sie es versteht, sondern den Raum zwischen Brust und Kleidung, also »zwischen Hemd und Haut«, wo nach der alten russischen Gewohnheit wichtige und wertvolle Sachen versteckt bzw. beherbergt werden konnten (in der südslawischen Sprache bezeichnet »pazuška« den Hemdausschnitt). Ende März 1920 schreibt Rilke an Anita Forrer über seine kulturellen Ursprünge, indem er wieder das Slawische, das Russsiche hervorhebt: »Ich bin Oesterreicher, übrigens in Prag geboren, bin mir aber der vielfältigen Zusammensetzung der oesterreichischen Natur, in deren deutsche Mitte einerseits das Lateinische, andererseits das Slavische weit hineinreicht, von Kindheit an eigentümlich bewußt gewesen; ein Heimatgefühl überkam mich zuerst im Jahre 1899 in Moskau: ich mußte mit einem Schlage im russischen Wesen das mir Vertrauteste erkennen und erfahren, in einer wie vaguen und unzusammenstimmenden Umgebung ich bis dahin gelebt »Gott (wohne) in der Achselhöhle …«  |  171

habe«.32 Es scheint aus dem angeführten Material klar ersichtlich zu sein, wie stark dieses Gefühl der fernen Heimat, des ›wahren‹ Göttlichen, dieses »im Fernen nicht im Fremden gehen« (SW III,194) bei Rilke präformiert war durch seine (gelungene) Suche auf eine besondere Position im literarischen Feld Westeuropas.

Anmerkungen

Jürgen Lehmann: Rußland (RHB), 110. der voluminöse Sammelbandbeitrag von Konstantin Azadovskij: Das Märchenland und das Buch von Nina Pavlova Über Rilke, in dem zwei Kapitel den russischen Motiven und Bezügen gewidmet sind. Es ist zu vermerken, daß Rilkes Popularität in Rußland keineswegs nachläßt, gerade umgekehrt: Seit der ersten russischen Übersetzung seines Textes von1897: Vse v odnoj / Alle in einer sind bis 2000, d. h. im Laufe von 100 Jahren, ca. 280 Publikationen, darunter 41 Bücher von Rilke erschienen, von 2001 bis 2012 aber schon 90 Publikationen, darunter 25 Bücher. Es kann auch darauf hingewiesen werden, daß die wissenschaftliche und publizistische Rezeption von Rilke in Rußland sehr aktiv ist: im 20. Jahrhundert hat man über Rilke in mehr als 260 Büchern, Beiträgen, Aufsätzen, Rezensionen geschrieben, in 10 Jahren des 21. Jahrhunderts sind es schon über 150 Veröffentlichungen zu und über Rilke. 3  Als Krönung der langjährigen Sammel-, Kommentar- und Interpretationsarbeit zum »russischen Rilke« sind zwei von Konstantin Azadovskij hg. Bücher zu verzeichnen: 1. Rilke und Rußland: Briefe. Tagebücher. Erinnerungen. Gedichte. 2. Rilke und Rußland: Aufsätze und Publikationen. 4  Erika Greber: Ikonen, entikonisierte Zeichen. Zur Semiotik der Einbildung bei Rilke (eine intermediale und interkulturelle Studie), 158. 5  Witold Hulewicz: Gespräche mit Rilke, 2. 6  Dazu: Martina King: Pilger und Prophet. Heilige Autorschaft bei Rainer Maria Rilke. 7 RMR: Briefe und Tagebücher aus der Frühzeit (B99–02), 8. 8  Rilke schreibt dem einflußreichen russischen Verleger Alexej Suworin am 5.03.1902 (vgl. Konstantin Azadovskij (Hg.): Rilke und Rußland, 337): »Mir fehlen die Worte, Ihnen zu sagen, welches Ereignis es mir war, Moskau zu sehen: meine ganze Kindheit, die von den Jahren einer bangen und verworrenen Jugend überflutet, mir verlorengegangen war, tauchte wieder auf wie eine versunkene Stadt, und als ich in der Osternacht mit meiner kleinen Kerze auf dem Kreml stand, da schlug die Glocke auf dem »Iwan Welikij« so gewaltig und groß, daß ich glaubte, das Herz des Landes schlagen zu hören, das auf seine Zukunft wartet von Tag zu Tag«. Diese gehobene und rhyth1 

2  Z. B.

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misierte Darstellung des großen und prophetischen Ereignisses wiederholt sich im abweichenden, aber nichtsdestoweniger emphatischen und dazu noch erotisch-leidenschaftlichen Ton in seinem Brief an Lou Andreas-Salomé am Gründonnerstag aus Rom (März 1904; vgl. ebd. 142): »Ach, aber es ist keine Osterstadt und kein Land, das unter großen Glocken zu liegen weiß. Es ist alles Aufwand ohne Frömmigkeit, Festvorstellungen statt Fest. Mir war ein einziges Mal Ostern; das war damals in jener langen, ungewöhnlichen, ungemeinen, erregten Nacht, da alles Volk sich drängte, und als der Iwan Welikij mich schlug in der Dunkelheit, Schlag für Schlag«.  9  Hans Egon Holthusen: Rainer Maria Rilke mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 33. 10  Jürgen Lehmann: Rußland, 100. 11 Wolfgang Braungart (Das Stunden-Buch. RHB 216–227) bezeichnet Nietzsche als den »Begründer des kulturkritischen Impulses, der sich in der Wendung nach Rußland äußert« (217). Mit Friedrich Nietzsche gesprochen (vgl. Götzen-Dämmerung; KSA 6,141) ist »Rußland, die einzige Macht, die heute Dauer im Leibe hat, die warten kann, die etwas noch versprechen kann – Rußland, der Gegensatz-begriff zu der erbärmlichen europäischen Kleinstaaterei und Nervosität […]. Der ganze Westen hat jene Instinkte nicht mehr, aus denen Institutionen wachsen, aus denen Zukunft wächst«. 12 RMR: Tagebücher aus der Frühzeit, 173. 13  Eugène-Melchior de Vogüé: Le roman russe, IX, XLV. – Mit Vsevolod Bagno: »Das Buch des katholischen Schriftstellers, der sich um die Verkümmerung des religiösen Gefühls in den westeuropäischen Ländern Sorgen machte und die ›buddhistischen‹ Wurzeln der russischen Geistigkeit hervorhob, […] erfüllte im wesentlichen die Funktion, die für das europäische Publikum die Doktrinen der Slavophilen nicht erfüllen konnten, weil diese als eine Art Propaganda von außen empfunden wurden«. – Vsevolod Bagno: Russkaja ideja Zapada. (K postanovke problemy). In: K istorii idej na Zapade : »Russkaja ideja«, 16. – Patricia P. Brodsky (Russia in the works of Rainer Maria Rilke, 21 f.) verweist auf den Einfluß von russophilen Ideen auf Rilke, die er aus dem Buch von Nina Hoffmann (Th.M. Dostojewsky. Eine biographische Studie. Berlin 1899) schöpfen konnte, doch scheint für Rilke die Lektüre von Dostoevskijs Armen Leuten eine wichtigere Rolle zu spielen. 14  Svetlana Klimova: Russlandmythos in der englischen Kultur um die Jahrhundertwende. 15  Maurice Baring: The Mainsprings of Russia, 47. 16  Eine der schon früh von der Forschung hervorgehobenen Begründungen für Rilkes Faszination für Rußland sei seine Suche nach dem »echten« Glauben. Vgl. auch: Konstantin Azadovskij: Rilkes Rußlandbild im Lichte der Oktoberrevolution, 137: »Rilkes Wahrnehmung Rußlands war zunächst ein religiöses (religiös-mystisches) Erlebnis. Zahlreiche Zeugnisse belegen diesen Eindruck. Rilke, ein Gottsucher, war bestrebt, in Rußland das zu finden, was »Gott (wohne) in der Achselhöhle …«  |  173

seinen innigsten Erwartungen entsprach: ein frommes und demütiges Volk, das mit dem ›geistlosen‹ Westen wenig gemein hatte«. 17  Alois Woldan: Rußland und die russische Literatur in der Zeit zwischen 1894 und 1904. 18  A. a.O., 163 f. 19  Anfang November 1904 besuchte Rilke die pädagogisch fortschrittliche Gemeinschaftsschule Samskola in Schweden. Er sprach dort auch über »den starken Eindruck«, den auf ihn ein kleines Buch von Tolstoj machte, und nannte es zweimal »Gegen die Kunst«, obwohl das Buch Was ist Kunst? hieß: es kann dies als »Versprechen« von Rilke empfunden werden, ein Versprechen, das seine Kenntnis von Hermann Bahrs Beitrag Gegen Tolstoj bestätigt. 20  Vgl. Konstantin Azadovskij (Hg.): Rilke und Rußland, 143. 21  A. a.O., 148. 22  Aleksandr Michajlov: Iz istočnika velikoj kuĺtury, 31. 23  Peter Demetz: René Rilkes Prager Jahre, 158 f. 24  Konstantin Azadovskij (Hg.): Rilke und Rußland, 99. 25  Erika Greber: Ikonen, entikonisierte Zeichen, 186. 26  Wolfgang Braungart: Das Stunden-Buch, 216. 27  Rainer Maria Rilke: Briefe an Nanny Wunderly-Volkart. Bd. 1, 142. 28  Lou Andreas-Salomé: Rainer Maria Rilke (1928), 21 f. 29  Vgl. Daniel J. Polikoff: In the Image of Orpheus. Rilke. A Soul History, bes. 307–440 (Part III). 30  Nikolaj Leskov: Monašeskie ostrova na Ladožskom ozere, 50:»Чудаки, право, чудаки! О русском человеке хлопочут, а русского человека не знают. Тут, видите, вера прирожденная, и живет она у человека по-до­ машнему, за пазушкой«. 31  Nikolaj Leskov: Sobranie sočinenij, 360. 32  Rainer Maria Rilke – Anita Forrer. Briefwechsel, 62.

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– Magdolna Orosz –

»Gebirge, Gestein, Wildnis, Un-Weg« Raumwahrnehmung und Transzendenzerfahrung in Rainer Maria Rilkes Capreser Gedichten 1. Deutungs- und Bedeutungsvielfalt in Rilkes Œuvre: die Mehrdeutigkeit von ›Gott(suche)‹ Rilkes Dichtung, in der unterschiedliche Ausdrucksformen, Gattungen, Themen, Motive mit- und nacheinander ausprobiert und ständig mit den Möglichkeiten künstlerischen Ausdrucks konfrontiert werden, hat von Anfang an verschiedene Analyse- und Interpretationsversuche hervorgerufen,1 die das Œuvre, sowie dessen einzelne Phasen, Texte und/oder Textgruppen aus verschiedenen ideologisch-methodologischen Annäherungen betrachteten. Die Frage nach ›Gott‹ bei Rilke bzw. in seiner Dichtung kann auch enger oder weiter verstanden werden: In den folgenden Überlegungen wird auf Grund einiger Texte aus einer Werkgruppe von Rilke das Problem einer bestimmten Selbst- und Welterfahrung in den Mittelpunkt gestellt, die für eine moderne Transzendenzerfahrung des Künstlers (als eine Variante von Gotteserfahrung) als repräsentativ betrachtet werden dürfte, denn schon beim frühen Rilke geht die ›Suche nach Gott‹ über im engeren Sinne Religiöses hinaus und »wird zur Suche nach dem eigenen Ich«.2 Die Beschäftigung mit Rilkes Texten bringt auch Fragen der Einordnung in Textgruppen, Zyklen oder sie übergreifende ideologisch-philosophische, motivische und andere Zusammenhänge, z. B. ihre Zuordnung zu Stilentwicklungen oder Epochengrenzen mit sich. Das dichterische Werk von Rilke, das meistens in voneinander klar trennbare Phasen von durch bedeutende (vom Dichter selbst zusammengestellte) Sammlungen gekennzeichnetem Frühwerk (etwa bis 1906), mittlerem Werk (etwa 1906–1910) und nach 1910 einsetzendem Spätwerk geteilt wird, zeigt auch solche Über  |  175

gänge und Überlappungen auf, die eine scharfe Trennung dieser Abschnitte in Frage stellen und eine differenziertere Sicht verlangen können, um dadurch ihre Relevanz für das Œuvre oder für umfassendere literarisch-ästhetische Kontexte herausarbeiten zu können. Die sogenannten Capreser Gedichte von Rilke artikulieren – wie sich dies auch am Gebrauch von Ausdrücken wie ›Gott‹, ›Er‹, ›Allergrößtes‹, ›Schicksal‹, ›Himmel‹, ›Unendliches‹, ›Unfaßbares‹ in einigen dieser Texte nachweisen läßt – neben anderen Problemstellungen einen hin und her gleitenden Übergang zwischen verschiedenen Positionen einer engeren Gottes- und einer umfassenderen Naturerfahrung, deren gleichzeitige Wahrnehmung im wahrnehmenden Ich zur Einsicht in ein sich öffnendes und zugleich auf sich gestelltes Subjekt führt. 2. Capri als Übergangsstation in Rilkes Dichtung Als Zwischenstation zwischen unterschiedlichen Orten, die der viel reisende Dichter früher oder später besuchte und die für sein Schaffen wichtig waren bzw. wurden (wie Paris, Duino, Muzot) und beinahe symbolische Funktion erhielten, lieferte Capri für ihn Eindrücke und Einsichten, die in Gedichte Eingang fanden, die für seinen dichterischen Werdegang – worauf neuere Untersuchungen hinweisen – von besonderer Bedeutung sind. Rilke war zweimal auf der Insel Capri: Sein erster Aufenthalt dauerte vom 4. Dezember 1906, d. h. von seinem 30. Geburtstag bis zum 20. Mai 1907,3 der zweite begann am 29. Februar und endete am 18. April 1908.4 Auf der Insel hielt er sich in der Villa Discopoli bei seiner Gastgeberin Frau Alice Faehndrich (Baronin Nordeck von Rabenau) auf. Zu ihnen gesellten sich beim ersten Aufenthalt ab dem 22. Dezember 1906 »Frau Nonna«, d. h. Freifrau Julie von Nordeck zur Rabenau und die damals 24 Jahre alte Gräfin Manon zu Solms-Laubach (vgl. RC 257). Rilke wohnte nicht in der Villa selbst, sondern in dem im Garten der Villa befindlichen sog. »Rosenhäusl«,5 wo er die für ihn notwendige Einsamkeit, Zurückgezogenheit, Ungestörtheit haben konnte. Beim zweiten Aufenthalt waren außer seiner Gastgeberin Alice Faendrich noch Frau Nonna, sowie Graf Eberhard von Schwerin, Marietta Freiin von Nordeck 176  |  magdolna orosz 

zur Rabenau und Elisabeth Schenk zu Schweinsberg in der Villa Discopoli anwesend (RC 298). Rilke nähert sich Capri in mehreren Schritten: Zuerst bleibt er einige Tage in Neapel, wo er »hinter der Sonne […] neben Sorrents Vorgebirgen Capris Kontur« wahrnimmt (an Clara Rilke am 29. November 1906, B06–07,193) und die Fremde und das Fremdsein, »dieses von niemandem Gekanntsein«, genießt (a. a.O.,194). Aus dieser Perspektive bezeichnet er Capri als »das Neue da drüben, diesen Kontur«, »den es gelten wird, auszufüllen« (a. a.O.,194 f.) – dies tut er dann in den Monaten auf Capri durch seine Gedichte, die seine Insel- und Landschaftserlebnisse verarbeiten. Capri als geographischer Ort stößt Rilke zuerst eher ab. Einige Tage nach seiner Ankunft, schreibt er am 6. Dezember an Clara Rilke (B06–07,203 f.): Aber die ganze Insel, soweit ich sie bis jetzt begreife, hat etwas Überfülltes, teilweise durch die vielen Villen und Hotels, die im Anschluß an das Städtchen sich breit oder vielmehr eng machen, teilweise auch schon durch das Auf und Ab des Terrains; zu viel Berge auf zu engem Raum. Aber andererseits auch wieder merkwürdige Ausblicke, […] doch eine gewisse Weite nach dem Meere hin. Ein Milieu, an das man sich anpassen muß, wie an eine ein wenig überfüllte Wohnung.

Obwohl Rilke dies zugleich ein wenig vorsichtig als »Einfluß der ersten Eindrücke« bezeichnet, was »alles noch sehr anders scheinen« kann (B06–07,204), stempelt er Capri einige Tage später als »ein Unding« ab.6 Capri wurde nach den 1830er Jahren ein beliebtes Reiseziel, zuerst vor allem für Künstler, dann auch für Wissenschaftler, die die dortige Flora und Fauna untersuchten, oder die archäologischen Reste der Antike entdeckten. Um 1900 war die Insel schon ein beliebter Ort eines damals immer intensiver werdenden Tourismus, außerdem auch für einige berühmte, bekannte Persönlichkeiten wie z. B. Maxim Gorki, Axel Munthe, die auf Capri lebten oder sich längere Zeit dort aufhielten, ihre Villen hatten: Künstler, Wissenschaftler, Bürger und Adelige.7 Rilke war dieses sein »vollkommenes Alleinsein, Unbeobachtet-, Ungesehen-, Unsichtbarsein«8 störende touristische Gedränge fremd und er fühlte sich anfänglich nicht wohl auf der Insel, bis er nach einer Zeit, etwa »Gebirge, Gestein, Wildnis, Un-Weg«  |  177

vom 16. Februar 1907 an, die andere Hälfte um Anacapri entdeckte und Wanderungen zum Monte Solaro, zur Migliera und anderen Orten unternahm. Die dadurch kennengelernte Landschaft in ihrer Wildheit und Ursprünglichkeit vermittelte Rilke Erfahrungen, die in Gedichten ihren Niederschlag fanden und als erste Anzeichen gewisser Veränderungen in seiner Selbst- und Welterfahrung und somit als Überführung zum Spätwerk zu verstehen wären. 3. Die Capri-Gedichte: Ein offenes Textkorpus Die auf Capri verbrachten Aufenthalte fallen in die sogenannte ›mittlere Periode‹ Rilkes, die die Rilke-Forschung zwischen 1906 und 1910 setzt, in der bestimme Werke (vor allem die Neuen Gedichte und die Neuen Gedichte II. Teil, sowie nach einem langen Schaffensprozeß 1910 endlich Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge) zum Abschluß kommen, jedoch (nach Fülleborn) Neues bzw. Vielfältiges im Entstehen ist: in dieser Periode »überrascht vor allem die große Themen- und Bildervielfalt bei deutlicher Bezogenheit auf unterschiedliche Deutungsaspekte«9 – die Capreser Texte sollen, wie Fülleborn meint, dazu bedeutend beitragen. In Hinsicht auf das Korpus der als Capreser Gedichte bezeichneten Texte können Unsicherheiten auftreten. Allein in Bezug auf ihre Publikationsgeschichte lassen sie sich mehrfach einteilen und klassifizieren. Zum einen gibt es unter ihnen solche, die Rilke in die Neuen Gedichte (=NG) aufgenommen hatte, so einerseits Gedichte in den NG I, bei denen der Entstehungsort mit Sicherheit Capri war (acht Texte in NG I vom ersten Capri-Aufenthalt, nämlich Liebes-Lied, Gesang der Frauen an den Dichter, Die Spitze II, Todes-Erfahrung, Der letzte Graf von Brederode entzieht sich türkischer Gefangenschaft, Die Kurtisane, Alkestis, Die Rosenschale, sowie ein Gedicht in NG II, das Lied vom Meer aus dem zweiten CapriAufenthalt), andererseits gibt es in NG II Gedichte mit unsicherem Entstehungsort, wo entweder Paris oder Capri als solcher angegeben werden kann (Leda, Klage um Antonius, Der Auferstandene, Schlangen-Beschwörung, Landschaft, Papageien-Park, Die Laute, Don Juans Kindheit, Übung am Klavier, Die Flamingos, Rosa Hortensie).10 Allein die in NG I und NG II aufgenommenen Gedichte 178  |  magdolna orosz 

zeugen von einer ziemlich intensiven Schreibtätigkeit Rilkes während seines ersten Capri-Aufenthaltes, bzw. von ihrer teilweise erst späteren Verwendung in dichterischen Publikationen. Die andere große Gruppe der Capreser Gedichte – die öfter als »ungesammelte« oder »verstreute Gedichte« verstandenen Texte11 – bilden diejenigen Capreser Texte von Rilke, die zu seinen Lebzeiten nicht publiziert wurden und, bis auf wenige Ausnahmen, erst nach 1950 erschienen sind (SKlW 215–220, 237). Es sind etwa 30 Gedichte – bis auf einen Text (Nächtlicher Gang) stammen alle aus der Zeit des ersten Capri-Aufenthaltes.12 Unter ihnen könnten bei näherem Hinsehen auch bestimmte inhaltlich-formale Textgruppierungen unterschiedlicher Art vorgenommen werden. Es lassen sich dabei Zyklen oder zyklenartige Texte feststellen: Die Gedichte mit den Anfangszeilen »Täglich stehst du mir steil vor dem Herzen«, »Wie wenn ich, unter Hundertem, mein Herz«, »So viele Dinge liegen aufgerissen« und »Nun schließe deine Augen: daß wir nun« hat Rilke selbst 1925 unter dem zyklenbildenden Titel Aus einem alten Taschenbuche (1906). Improvisationen aus dem Capreser Winter für Katharina Kippenberg zusammengefaßt (SklW 216). Sie sind erst 1950 im Band Aus Taschen-Büchern und Merk-Blättern – in zufälliger Folge – 1925 im Insel-Verlag erschienen. Außerdem besteht Santa Maria a Cetrella aus sieben numerierten Gedichten unterschiedlicher Länge und könnte eventuell als eine Art Zyklus betrachtet werden, den thematisch-motivische Elemente zu einem solchen machen. Darüber hinaus könnten die Gedichte auf Grund des Merkmals, ob sie einen Titel oder keinen haben, wiederum in zwei – somit eher formale – Gruppen eingeteilt werden. Die vier Texte der Improvisationen z. B. blieben ohne Titel,13 bestimmte »alleinstehende« Gedichte haben ebenfalls keinen, andere wiederum wurden betitelt: Dafür ließen sich nur schwer auf Grund formaler oder thematischer Momente weitere Einteilungskriterien finden (wie z. B. »Situationsgedichte« einer bestimmten Art wie Die Marien-Vase; gewissermaßen auch Santa Maria a Cetrella, die neben den auf das MarienLeben vorausweisenden christlichen Motiven durch »Motive einer vorchristlichen Antike«14 miteinander verbunden sind; Sexte und Segen oder Kore; eine andere Gruppe könnten spezifische »Naturgedichte« bilden). Diese oder ähnliche Gliederungen können die Cha»Gebirge, Gestein, Wildnis, Un-Weg«  |  179

rakteristika der einzelnen Texte sowie ihre eventuellen Verbindungen mit solchen »Etikettierungen« allerdings nur ungefähr erfassen. Diese Vielfalt der Capreser Texte widerspricht in gewisser Hinsicht der Feststellung von Ulrich Fülleborn, wenn er behauptet (KA 1,850): »Die aus dem Winter 1906/07 (einschließlich des Frühlings 1907) stammenden Gedichte und Fragmente […] bilden innerhalb der Einzelgedichte der mittleren Zeit eine höchst bemerkenswerte homogene Textgruppe.« Seine Aussage könnte eher so verstanden werden, daß diese Gedichte bestenfalls im Verhältnis zu anderen Texten dieser Zeit als »homogene Textgruppe« hervorzustechen vermögen, in sich selbst jedoch – da es sich immerhin um ein größeres Textkorpus handelt – vielfältige Unterscheidungsmöglichkeiten erlauben und somit nicht mit der Geschlossenheit/Homogenität der großen Zyklen/ Textgruppen der Duineser Elegien oder der Sonette an Orpheus, aber auch nicht mit der Durchkomponiertheit der Neuen Gedichte zu vergleichen wären. 4. Deutungsaspekte der Capreser Gedichte Die »mittlere« Periode von Rilke erstreckt sich, wie dies in neueren Forschungen festgestellt wird, auf die Jahre zwischen 1906 und 1910, also auf die Zeit nach dem Stunden-Buch und vor den ersten Duineser Elegien. Für diese Phase ist besonders die Entstehung und Redaktion von Werken Rilkes ausschlaggebend, die aus verschiedenen Aspekten Neues in die Lyrik bzw. in die Erzählliteratur der Epoche gebracht haben, wie die beiden Teile der Neuen Gedichte, sowie die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge.15 Die anderen in dieser Periode entstandenen Werke betreffend betont Ulrich Fülleborn, daß bestimmte Texte der Konzeption der Neuen Gedichte nahe stehen, andererseits aber »gibt es Texte, bei denen das Objektivitätsideal der Neuen Gedichte von vornherein gar nicht im Vordergrund steht, sondern die Not und die Hoffnung eines deutlich hervortretenden Dichter-Ich, dem es explizit um einen neuen poetischen Daseins- und Weltentwurf geht, dessen erste Umrisse sich freilich nur schwach abzeichnen« (KA 1,847). Im Erscheinungsjahr der Kommentierten Ausgabe lenkt Fülleborn die Aufmerksamkeit 180  |  magdolna orosz 

auf solche Texte oder Textgruppen Rilkes, denen in der älteren Forschung – bis auf wenige Ausnahmen –16 eine weniger intensive Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Winfried Eckel sieht einige Jahre später »[d]ie Gründe für das bisherige Desinteresse der Forschung […] zum einen in der lange Zeit unbefriedigenden Editionslage« der Capreser Texte, die erst mit der Kommentierten Ausgabe behoben werden konnte, »zum anderen in einigen allzu einfachen Vorstellungen über R[ilke]s Werkentwicklung im allgemeinen und in der mittleren Periode im besonderen«.17 Diese Vorstellungen waren, Eckels Ansicht nach, in der Rilke-Forschung weitverbreitet und veränderten sich nur allmählich. In einem ein Jahr nach der Kommentierten Ausgabe publizierten längeren Aufsatz deutet Ulrich Fülleborn 1997 die in die Jahre zwischen 1906 und 1910 fallende Schaffensperiode Rilkes als »Durchbruch zur Moderne«,18 und er hebt einerseits die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge als »seinen entschiedensten und kühnsten Schritt in die Moderne« (ebd.), sowie die Neuen Gedichte als »ein nicht weniger bedeutsames modernes Ereignis« hervor (ebd.), andererseits weist er auch auf die »Einzelgedichte« hin, die – wie dies auch schon in der Kommentierten Ausgabe betont wurde – »immer wieder nur die Not und die Sehnsucht eines Dichter-Ich aussprechen, dem es um […] einen Entwurf jenseits der Dinglyrik des mittleren Werks [geht]« (a. a.O., 163). Fülleborn sieht dafür »bestimmte Raum-Vorstellungen signifikant« (ebd.) und betont, »[m]odern an Rilkes Raummetaphorik von ›Nähe‹ und ›Ferne‹ sei erstens, daß sie den aus dem Christentum ererbten Dualismus von Diesseits und Jenseits ersetzt, und zweitens, daß jede Raumwahrnehmung aus der Perspektive eines Ich heraus erfolgt« (a. a.O., 164). Die Capreser Gedichte betreffend betont Fülleborn ebenfalls die zweifache Ausrichtung dieser Texte zurück zum Stunden-Buch beziehungsweise vorwärts zu den Elegien. Als Bilanz stellt er wiederum fest: »Rilkes Capreser Lyrik ist ein herausragendes Beispiel für die gleitenden Übergänge zwischen den einzelnen Werkphasen und das Nebeneinander sehr verschiedener poetischer Konzepte« (a. a.O., 168). Er meint, in ihnen (bzw. den Einzelgedichten der mittleren Werk­ phase) zeichne sich ein »dritte[r] Weg« ab, der – neben den »zwei moderne[n] poetische[n] Konzepte[n]« der Neuen Gedichte und der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge – »über beide hinaus»Gebirge, Gestein, Wildnis, Un-Weg«  |  181

führen sollte und sich in der Verwirklichung durch die späte Dichtung als nicht weniger modern erwies« (a. a.O., 178). Fülleborns Überlegungen fortführend konzentriert sich Winfried Eckel auch auf die Capreser Texte, um daran den sich nach und nach abzeichnenden Neuansatz Rilkes nach dem »Programm des »sachlichen Sagens«« zu demonstrieren.19 Er betont, daß »die Anfänge dieser Krise weiter zurückreichen« (a. a.O., 112) als die Jahre nach dem Abschluß der Neuen Gedichte und der Aufzeichnungen, da sie eben in die Zeit fallen, als Rilke sich im Winter 1906–1907 auf Capri aufhielt. Dabei mißt Eckel der Capreser Lyrik eine wesentliche Funktion bei, weil sie »den werkgeschichtlich vielleicht wichtigsten Komplex darstellt« (a. a.O., 113). Er sieht ihre Unterschiede im Verhältnis zu den anderen Werken dieser Periode im »direkten Ausdruck von Subjektivität« sowie in »der Erfahrung einer großartigen Landschaft […], die das lyrische Ich zu überwältigen scheint« (ebd.). Eckel analysiert die von Rilke selbst zusammengefaßten vier Improvisationen zwar nicht als geschlossene Einheit innerhalb der Capreser Gedichte, jedoch als solche Texte, in denen »[e]ine grundlegende Voraussetzung der Neuen Gedichte, ein stabiler Abstand und Bezug zum Gegenstand, […] völlig zusammengebrochen [scheint]« (a. a.O., 114). Eine »Wendung nach innen« zeichne sich damit ab, eine »Anverwandlung von Raum« (ebd.) aus dem Außen zum Innen, so daß der Capreser Raum »als eine dynamisch sich entfaltende Umgebung« für Rilke erscheine, der »den Betrachter in sich einbeziehen und umschließen« kann (a. a.O., 117). Die Bedeutung der Capreser Gedichte sieht Eckel damit auch darin, sie »dürften den Ansatz der Neuen Gedichte nicht nur von außen in Frage gestellt, sondern auch gleichsam von innen an seine Grenzen getrieben haben« (a. a.O., 120): Die Capri-Texte nehmen so eine Zwischenstellung ein, was auch in ihrer Konzeption, Form und Struktur nachweisbar ist. 5. Raumwahrnehmung als Transzendenzerfahrung in den Capreser Gedichten Die Begegnung mit der Capreser Landschaft war für Rilke ambivalent, das ihn zuerst abstoßende Gedränge von »Schönheitskonzerten, wo alles Programmnummer ist und erprobt und beabsichtigt 182  |  magdolna orosz 

und ausgewählt«,20 wird immerhin bald von einer Reflexion der Einzigartigkeit der Inselwelt begleitet, die für ihn wie eine Urlandschaft erscheint (Brief an Clara Rilke vom 18. Februar 1907; B06–07,264 f.): da ist wieder das Meer, oder vielmehr da ist ein anderes, eines, durch das nochmals Odysseus kommen kann, jeden Augenblick, ein altes griechisches Meer, tief, tief unter einem anhebend und ohne Absehen. […] Und an solchen Tagen […] da oben in den Berggeländen einer Hirtenwelt, erwächst einem langsam und immer wieder verwischt eine Ahnung von jener antikischen Südlichkeit, von der Uexküll neulich schrieb.

Rilke erblickt hier damit eine eher vorzivilisatorische Landschaft (Brief an Clara Rilke vom, 25. Februar 1907; B06–07,272): wenn der Morgen plötzlich irgendwo draußen ruft, so daß man meint, dort irgendwo müßte noch ein anderer sein, ein ganz großer Morgen, der Morgen der Möwen und der Inselvögel, der Morgen der Abhänge und der unerreichbaren Blumen, jener immer gleiche ewige Morgen, der noch nicht mit Menschen rechnen muß […]. Und man muß nur eine halbe Stunde gehen, […] um ihn wirklich um sich zu haben, den Meermorgen, der sicher ist, daß alles in ihm mit ihm ist und nichts gegen ihn; daß in seinem Aufgehen tausendmal und tausendmal seine eigene Gebärde sich wiederholt, bis sie in den kleinen Blumen sich verlangsamt und gleichsam zusammenfaßt.

Die menschenleere Landschaft, die Beschreibung ihrer Erscheinungen in den Briefen präfiguriert jene Ur-Elemente der Natur, die in den Capreser Gedichten explizit oder implizit aufgerufen – wie in den Versen »Gebirge, Gestein, / Wildnis, Un-weg« (KA 1,371) sowie »Uraltes Wehn vom Meer« (im Lied vom Meer, KA 1,550) – und mit einem Transzendenzgefühl, an manchen Punkten sogar mit einer von der Naturwahrnehmung getragenen besonderen Gotteserfahrung verbunden werden. Böschenstein hebt die Bedeutung dieser Briefe eben deshalb hervor, denn, meint er, sie »gehören zum Inspiriertesten seines [=Rilkes] Gesamtwerkes«,21 hier »kann er [Rilke], der damals an den regelmäßig gebauten und gereimten Neuen Gedichten arbeitet, wahrer und grenzenloser eine elementare Erfahrung aussagen, deren Tragweite erst fünf Jahre später sichtbar wird«.22 »Gebirge, Gestein, Wildnis, Un-Weg«  |  183

5.1.  Naturerfahrung – Übergänge zur ›inneren Landschaft‹ Der Übergang zu einem komplexen Landschaftserlebnis läßt sich in den von Rilke selbst – wenn auch erst 1925 – zusammengestellten vier Improvisationen aus dem Capreser Winter spüren, deren nachträgliche Titelgebung die sonst titellosen einzelnen Texte zu einer Art Zyklus verbindet.23 Mit dem Ausdruck »Improvisation« wird gleichzeitig auf einen gewissen Entwurfcharakter der vier Texte hingewiesen, der auch durch ihre stilistischen, metrischen und gedanklichen Unebenheiten zum Vorschein kommt, an manchen Stellen sogar etwas befremdend wirkt. Die Bedeutung dieser vier Gedichte wird schon 1972 von Judith Ryan betont, die in ihnen »einen ersten Schritt zu einer neuen Landschaftsmetaphorik« erblickt.24 Ihre Ansichten werden in späteren Interpretationen, die die besondere Raumwahrnehmung akzentuieren, weitergeführt: so hebt z. B. Peter Sprengel in seiner Übersicht über Rilkes Dichtung zwischen 1900 und 1918 aus dem Capreser Textkorpus nur die Improvisationen aus dem Capreser Winter hervor, denn, wie er betont, in ihnen »kündigen sich eine Radikalisierung der Subjektivität und eine grundsätzliche Problematisierung der Stellung des Menschen in der Welt an«.25 Sprengel verbindet die Improvisationen mit Rilkes späterem Schaffen, mit der Spanischen Trilogie und den Duineser Elegien, weil seiner Meinung nach in ihnen »die Subjekt-Objekt-Struktur, wie sie der Ding-Lyrik der Neuen Gedichte zugrunde lag, aufgegeben [ist] zugunsten einer mystischen Hoffnung auf Verwandlung und Zugang zu höheren Sphären«.26 Die Improvisationen aus dem Capreser Winter sind im Dezember 1906 (Improvisationen 1–3) und am 16. Februar 1907 (Improvisation 4) entstanden, sie artikulieren somit die ersten Begegnungen Rilkes mit der Capreser Landschaft und bringen die unmittelbaren Eindrücke in einen breiteren Wahrnehmungszusammenhang, der sowohl nach Innen vertieft als auch nach Außen – ins Unendliche – ausgeweitet wird. Angesichts dieser Bewegung erblickt Judith Ryan in den Improvisationen »die verschiedenen Stadien des Schaffensprozesses«: »[D]as Hinausschauen in die Welt«, »die Aufnahme der äußeren Erscheinungen ins Innere« und letztlich »die Vereinigung von Subjekt und verinnerlichtem Objekt zu einer neuen Einheit, die »größer« als beide ist, weil sie über das bloß Individuelle hinaus184  |  magdolna orosz 

geht«.27 Die beiden Pole bleiben aber in ständigem Übergang und sind, entgegen Ryans Behauptung über ihre »Objektivierung«,28 kaum oder nur augenblicklich und eben als Übergangsbewegung (als eine augenblicklich aufscheinende ›innere Landschaft‹) festzuhalten. Improvisation 1 mit der Anfangszeile »Täglich stehst du mir steil vor dem Herzen« führt gleich die Zweiheit des Ich und des ihm Gegenüberstehenden ein, das einerseits als Ur-Natur (»Gebirge, Gestein, / Wildnis, Un-weg«), andererseits und zugleich als »Gott« (KA 1,371), als eine Ur-Gewalt (Naturgewalt) mythisch-mystischer Art wahrgenommen wird. Durch die »spannungsvolle Dramatik zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem«29 entfaltet sich eine Art Hineingehen bzw. Hineinnehmen des Subjekts in die Landschaft (ebd.): Weisend greift mich manchmal am Kreuzweg der Wind, wirft mich hinein in den Pfad der beginnt oder es trinkt mich ein Weg im Stillen.

Die so erfahrene Natur, die »dein[em] [= Gottes?] unbewältigte[n] Willen« gehorcht, zeigt ebensolche Momente eines Sich-Verlierens30 auf wie sie das Ich empfindet, dessen Selbst- und Weltwahrnehmung im »Wirbel« der Elemente der gotterfüllten Natur, einer »mit Gott identifizierte[n] Gebirgslandschaft«,31 die ihm zugleich Schutz bieten sollte, ein »Festes« (KA 1,371) suchend, sich zu behaupten versucht (ebd.): […] laß mich, den Rücken an den Colossen, warten, an deinem Rande, daß dieser Schwindel, mit dem ich verrinne meine hingerissenen Sinne wieder an ihre Stelle legt.

Es entfaltet sich zugleich eine Verinnerlichung im »Gesicht, mein Gesicht«, das den ständigen Übergang repräsentiert »für so ein Innen, / drin sich immerfort das Beginnen / mit dem Zerfließen zu etwas ballt« (KA 1,372), und das der gesichtslosen, d. h. subjektlosen, dinghaften Natur (Meer, Himmel) gegenübersteht. Eine Zwischenwelt repräsentieren dabei die »Tiere« (KA 1,372), deren »Gesicht […] ihnen zu schwer [ist]« (ebd.), und die mit »Gebirge, Gestein, Wildnis, Un-Weg«  |  185

»ihr[er] kleinwenig Seele« (ebd.) und ihrem »Schrei«, dem »Vogellaut, / vieltausendmal geschrien und wieder geschrien« (ebd.) für den Menschen ein eventuell zu erreichendes Stadium der Befreiung von den »Worte[n], die kommen und fliehn« (ebd.) signalisieren. Mit der Hinwendung zur nicht individuierten und naturgebundenen Tiersphä­re wäre auch die Wahrnehmung Gottes mit dem Herzen ermöglicht,32 jedoch bleibt das Ich gegenüber der Gott bergenden Landschaft »klein, / weil Er es überragt« (373): Dieses ›Er‹ bleibt »statt als ein die Welt fassendes, vielmehr als ein von dieser rücksichtslos erfaßtes« Wesen da.33 Die »Herausforderung des Ichs durch das Andere, das Fremde«34 bleibt in den anderen Improvisationen in unterschiedlicher Form erhalten. Improvisation 2 variiert das Motiv des Herzens weiter, indem das Ich hier sein Herz, das sein Inneres repräsentiert, »in das, / was draußen ist« (KA 1,373), »in Wind und Stille«, »auf Felsen, auf Granit«, »in das härteste von allen / Gebirgen« (ebd.) transponieren will und es der gott- bzw. transzendenzerfüllten Naturgewalt überläßt – (KA 1,373 f.): Und treibt es nicht, ist es nicht jung genug, wird es allmählich von dem Höhenzug die Art und Farbe lernen vom Gestein und wird daliegen unter seinen Splittern, mit ihm verwachsen und mit ihm verwittern und mit ihm stehen in den Sturm hinein.

Letztendlich wird das Ich von dem »freie[n], unbegreifliche[n] Verschwender« (KA 1,374), dem »Unerreichte[n]« (KA 1,374) fallengelassen: es wird hier »von einem Erbarmen Gottes« abhängig gemacht.35 In Improvisation 3 wird diese Abhängigkeit des Ich von Gottes Willen und seiner Naturgewalt weitergeführt, indem hier »wissen« (KA 1,375), d. h. das rationale Erfassen der Welt einem »unbegreiflich Dunkle[n]« (ebd.) gegenübergestellt wird, wobei das Ich zur Einsicht kommt, daß es keine Antwort vom in der Natur verborgenen Gott zu erwarten hat, vielmehr soll es »der unverfügbaren göttlichen Antwort demütig […] harren«.36 Improvisation 4 variiert das Problem von Innen und Außen, Ich und Welt, indem es die Wahrnehmung der Innen- wie der Außenwelt durch die Mo186  |  magdolna orosz 

tive des Auges und des Sehens gleichzeitig und aufeinander bezogen artikuliert. Die sich refrainartig wiederholenden Sätze »Nun schließe deine Augen«, »Laß die Augen zu«, »Schließ inniger die Augen« (KA 1,380), »Schließ, schließ fest die Augen« (KA 1,381) beziehen sich einerseits auf ein Nach-Innen-Schauen und »[Sich-] [V]erschließen« (KA 1,380), andererseits auf ein Erkennen der Außenwelt, der Natur (Meer, Felsen, Himmel) »als dem Bewußtsein ›gegebene‹ Inhalte«,37 die in einer plötzlichen Offenbarung, wie im »Übermaß« (KA 1,381), Nahes und Fernes umfassend ins Innere aufgenommen werden (ebd.): Du kannst es schon nicht mehr von deinem Innern trennen. Himmel im Innern läßt sich schwer erkennen.

Die Wechselbewegungen von Schließen und Öffnen übertragen sich von den Augen auf das Ich als Subjekt, das mit einem Vergleich jedoch durch die Eigenschaft des ›Zu­gehens‹ / ›Schließens‹ als Naturwesen (»Anemonen«) bezeichnet wird, und dem pflanzlichen Tagesrhythmus folgend, die beiden Pole verbindend, ins nach Innen projizierte Grenzenlose übergeht: »das ist es, was wir sollen: / Zugehn lernen / über Unendlichem« (KA 1,381). In einer letzten Bewegung wird diese Wendung verstärkt, indem das Innere »noch einen Rest / von anderm Unfaßbaren unterbringen, / wie einer, dems gehört«, kann (ebd.). So soll, durch die »Anverwandlung von Raum« und durch »die Transformation des gesehenen Himmels« in den »Himmel im Innern««, wie Eckel sagt,38 »das Ich sich selbst stei­gern« – doch bleibt die Rückbewegung des Ich zur Natur in einer Wechselbeziehung von Subjekt- und Objektposition und damit die Ambivalenz von Innen und Außen in ihrer Aufeinanderbezogenheit erhalten. In der innerhalb der vier Improvisationen postulierten Bewegung von einer Natur- und Gotteserfahrung zu einer Selbsterfahrung und zurück zur transzendenten Naturwahrnehmung funktioniert die Natur als Ort der Vermittlung zwischen dem Ich und einer Transzendenz, als Ort, der beide in sich aufnimmt, einander gegenüberstellt und zugleich annähert: die »mit Gott identifizierte Gebirgslandschaft erscheint sowohl als übermächtiges Gegenüber, »Gebirge, Gestein, Wildnis, Un-Weg«  |  187

das sich mit dem Ich schroff konfrontiert […], wie als umfassender Raum, in den das Ich zeitweilig Eingang findet«.39 Den in freien Rhythmen geschriebenen vier Gedichten, die an manchen Stellen eher holprig wirken und gegenüber der stilistischen Abrundung der Neuen Gedichte vielmehr als Formexperimente des Dichters gelten könnten, dürfte vielleicht eben wegen dieser beweglichen Position eine Sonderstellung in Rilkes mittlerer Periode zugeschrieben werden. 5.2.  Naturwahrnehmung und Transzendenz Die Besonderheit der Natur- und Raumerfahrung in den Capreser Gedichten wird wohl von diesem »Wechsel von Gegenüber- und Einbezogensein« (Eckel ebd.) in die gottähnliche Transzendenz der Natur und ihrer gleichzeitigen menschlich-subjektiven Unzugänglichkeit geprägt, der in den einzelnen, von Rilke in keine Sammlung aufgenommenen Gedichten mehr oder weniger stark und unterschiedlich formuliert entworfen wird, wie sich dies am Beispiel des ersten, am 15. Dezember 1906 – damit in zeitlicher Nähe zu den ersten drei Improvisationen – auf Capri verfaßten Texts ebenfalls zeigt (KA 1,370): Da wechselt um die alten Inselränder das winterliche Meer sein Farbenspiel und tief im Winde liegen irgend Länder und sind wie nichts. Ein Jenseits, ein Profil; nicht wirklicher als diese rasche Wolke, der sich das Eiland schwarz entgegenstemmt. Und da geht einer unterm Insel-Volke und schaut in Augen und ist nichts als fremd. Und schaut, so fremd er ist, hinaus, hinüber, den Sturm hinein; zwar manchen Tag ist Ruh; dann blüht das Land und lächelt noch. Worüber? Und die Orangen reifen noch. Wozu? Was müht der Garten sich ihn zu erheitern den Fremden, der nichts zu erwarten schien, 188  |  magdolna orosz 

und wenn sich seine Augen auch erweitern für einen Augenblick – : er sieht nicht ihn. Wenn er vom Vorgebirge in Gedanken des Meeres winterliches Farbenspiel und in den Himmeln ferner Küsten Schwanken manchmal zu sehen glaubt: das ist schon viel.

Das Gedicht weist, im Gegensatz zu den freien Rhythmen und der lockeren Reim- und Strophengestaltung der Improvisationen, eine strengere formale Struktur auf: Die fünf vierzeiligen Strophen enthalten Kreuzreime, deren etwas eintönige Abwechslung durch die vielen Enjambements40 und die in den Strophen unterschiedlich verstreuten Alliterationen und Assonanzen aufgelockert wird: Sie führen die formale Struktur bestimmende semantische Verbindungen herbei und unterhalten ein gewisses Spannungsverhältnis zu den trennenden Momenten der Aussagestruktur. Die Verbformen implizieren unterschiedliche Modalitäten: Die erste Strophe ist durchgehend im Indikativ gehalten (»wechseln«; »liegen«, »sind«), der in der zweiten weiterhin aufrechterhalten bleibt (»entgegenstemmt«, »geht« »ist«), und die letzte Strophe kehrt mit der letzten Halbzeile (»das ist schon viel«) wieder zum Indikativ zurück. In der dritten Strophe dominiert zwar noch die Indikativform (»schaut«, »ist«, »blüht«, »lächelt«, »reifen«), hier wird jedoch durch den Konzessivsatz »so fremd er ist« und die zwei Fragen »Worüber?« und »Wozu?« ein Übergang zur vierten Strophe geleistet, in der dann der verkappte Fragesatz in Vers 1–2 mit dem modalen Nebensatz (»der nichts zu erwarten schien«) und dem »wenn… auch«-Konzessivsatz den Wechsel zum Indikativ am Ende dieser Strophe (dadurch ein Hin und Her der Modal- und zugleich der Wahrnehmungsperspektiven) zwar hervorspringen, diesen aber in der fünften Strophe durch den Konditionalis realis und die Wahrnehmungs- und Meinungsaussage (»zu sehen glaubt«) wiederum abwechseln läßt, um erst ganz am Ende zur indikativischen Versicherung zurückzukehren. Durch die Thematisierung von Naturerscheinungen entsteht auch ein inhaltlich-semantischer Rahmen: »das winterliche Meer« mit »sein[em] Farbenspiel« kehrt am Ende mit einer leichten Veränderung zurück, indem das Adjektiv »winterlich« vom »Meer« »Gebirge, Gestein, Wildnis, Un-Weg«  |  189

auf sein »Farbenspiel« übertragen wird (»des Meeres winterliches Farbenspiel«). Zwischen den beiden Rahmungen tritt in der dritten Strophe, d. h. in der Mitte des Gedichts ein Wendepunkt im Gedankengang ein, der durch die Veränderung der Satzstruktur (durch den Übergang zu Fragen) auch unterstützt wird: Der Gegensatz zwischen »Sturm« und »Ruh« ist eng an die Wahrnehmungsperspektive des wahrnehmenden Subjekts gebunden, dessen Sicht sozusagen als Vermittlungsmedium funktioniert. Die Wahrnehmung der ferneren und näheren Naturerscheinungen (Inselränder, winterliches Meer, Farbenspiel, Wind, irgend Länder, Jenseits, Wolke bzw. Insel, Land, Garten, Vorgebirge) etabliert die Pole von ›Nähe‹ und ›Ferne‹: Nähe vs. Eiland   Meer Insel-Volk Land Garten Vorgebirge Ruh erheitern, lächelt

Ferne tief im Winde irgend Länder Meer ferne Küsten Sturm erweitern (in die Ferne schauen)

Die Gegensätze werden jedoch durch mehrere Faktoren miteinander verbunden, relativiert und als in ständigem Übergang befindlich erlebt: sie werden nämlich alle durch die Perspektive des Subjekts vermittelt, das eigentlich keinem der Pole gänzlich angehört. Es wird als »einer« und zugleich »fremd« (›ein Fremder‹) dem »InselVolk« gegenübergestellt: einer

vs.

Insel-Volk

Zugleich aber steht er als ›menschliches Subjekt‹ (und in dieser Eigenschaft mit dem »Insel-Volk« verbunden) der ›Natur‹ gegenüber: Natur

vs.

Mensch (einer vs. Insel-Volk)

Das so auf zweifache Weise postulierte Subjekt wird damit sowohl mit der ›Ferne‹ als auch mit der ›Nähe‹ verbunden, seine Wahrnehmung verhindert aber seine Zuordnung, indem die ›Nähe‹ nicht wahrgenommen (»sieht nicht ihn«), die ›Ferne‹ aber als »wechselnd«, »vorübergehend«, »für einen Augenblick«, »manchmal« 190  |  magdolna orosz 

gesehen bzw. als solche geglaubt wird. Das ›Schauen‹ schafft ständig Übergänge, und in dem Gegenüber von ›Wandel‹, den die ferne Natur im »winterliche[n] Farbenspiel« ständig aufzeigt und von ›Abgrenzung‹, die den »Inselränder[n]«, »de[m] Garten« und damit dem »Insel-Volk« zugeschrieben werden, überwiegen die durch die physische Bewegung des Fremden (»da geht einer«) sowie seine Wahrnehmung etablierten Grenzüberschreitungen (»schaut […] hinaus, hinüber«, »seine Augen […] erweitern«, »zu sehen glaubt«), die durch die Betonung des Momenthaften und Vorübergehenden der Erscheinungen weiter verstärkt werden.41 Somit erweist sich das Subjekt selbst als »Übergang« zwischen ›Ferne‹ und ›Nähe‹, also als ein Subjekt, das vor der menschlichen Nähe verschlossen bleibt und sich den sich wechselnden (jedoch überzeitlichen) Naturerscheinungen – wenn auch subjektiv perspektiviert (»glaubt«) – öffnet: Wenn er vom Vorgebirge in Gedanken des Meeres winterliches Farbenspiel und in den Himmeln ferner Küsten Schwanken manchmal zu sehen glaubt: das ist schon viel.

Der Blick wandelt hier vom »Jenseits, ein Profil« (obwohl der Ausdruck keinen dezidiert religiösen Inhalt impliziert, einen solchen jedoch durch potentielle Konnotationen auch nicht ausschließt) über die Sicht des »Garten[s]« bzw. seine Menschennähe wieder hinaus zu »des Meeres winterliche[m] Farbenspiel« und zu »den Himmeln ferner Küsten Schwanken«, d. h. wiederum zu einem gewissen »Jenseits«, auch wenn es an die wahrnehmbaren Naturerscheinungen gebunden bleibt: Das potentiell Religiöse oder Transzendente äußert sich somit durch die Raum- und Naturerfahrung des sich davor abwechselnd verschließenden und öffnenden Subjekts. Die Momente von Trennung, Übergang und Vereinigung sowie ihre Übersteigung/ Übersteigerung bestimmt auch die Raumvorstellungen und die Situierung des Ich in dem am 15. Februar auf Capri verfaßten Gedicht, das von der Mehrheit der Capreser Gedichte abweichend einen Titel trägt, nämlich Ein Frühlingswind (KA 1,379): Mit diesem Wind kommt Schicksal; laß, o laß es kommen, all das Drängende und Blinde, »Gebirge, Gestein, Wildnis, Un-Weg«  |  191

von dem wir glühen werden – : alles das. (Sei still und rühr dich nicht, daß es uns finde.) O unser Schicksal kommt mit diesem Winde. Von irgendwo bringt dieser neue Wind, schwankend vom Tragen namenloser Dinge, über das Meer her was wir sind. … Wären wirs doch. So wären wir zuhaus. (Die Himmel stiegen in uns auf und nieder.) Aber mit diesem Wind geht immer wieder das Schicksal riesig über uns hinaus.

Das Gedicht gliedert sich in drei Strophen von 5, 3 und 4 Zeilen mit Kreuz- und umarmenden Reimen (ababb – cbc – deed), und im Gegensatz zum Gedicht Da wechselt um die alten Inselränder gibt es hier nur zwei Enjambements, jedoch in betonten Positionen, d. h. zwischen den ersten zwei und den letzten zwei Versen, wodurch eine Art formal-syntaktischer Rahmen zustandekommt. Die Verbformen und Modi lassen eine Kreisbewegung vom Indikativ Präsens und Futur (»kommt« und »glühen werden«) durch den Imperativ (»laß, o laß«, »Sei still, rühr dich nicht«) in der ersten Strophe und durch eine Rückkehr zum Indikativ in der zweiten Strophe (»bringt«, »sind«), sowie nach Konjunktiv- und Konditionalformen in der dritten Strophe (»wären wirs doch«, »wären wir«) erneut zum Indikativ (in den Zeitformen Imperfekt – »stiegen« – und Präsens – »geht… hinaus«) erkennen, damit einen bestimmten modalen Rahmen etablierend. Das Gedicht schafft eine gewisse, jedoch im eher Unpersönlichen gehaltene Kommunikation zwischen einem kollektiven Aussagesubjekt »wir« (das allerdings das wahrnehmende Ich mit einschließt) und einem »du«, das zugleich, ein Selbstgespräch etablierend, als Selbstanrede funktionieren dürfte, und ist um den Begriff »(unser) Schicksal« zentriert: Das Wort kommt im ersten, fünften und letzten Vers vor und zeichnet eine gedankliche Linie, die das ›Schicksal‹ mit unterschiedlichen Bewegungen (Annäherung mit »kommen« und Entfernung mit »über uns hinaus[gehen]«) sowie mit Naturerscheinungen (»Wind«) verbindet:

192  |  magdolna orosz 

Schicksal kommt mit diesem Wind

unser Schicksal kommt dieser neue Wind

das Schicksal geht … hinaus mit diesem Wind

Die Sphäre der Natur wird hier ebenfalls der menschlichen Sphäre gegenübergestellt: Es entsteht die Opposition von ›Natur‹ und ›Mensch‹, sowie auch von zur Natur gehörendem ›Wind‹ und dem zum Menschlichen gehörenden ›Schicksal‹ (das auch als »unser Schicksal« gesetzt wird): Natur Wind

vs. vs.

Mensch Schicksal

Die Gegenüberstellung suggeriert, daß die Natur (der Wind) den Menschen mit seinem Schick­sal überfordert, denn das Schicksal wird als »all das Drängende und Blinde«, als »namenlose Dinge« und als die Existenz des Menschen (»was wir sind«) postuliert, was jedoch diese Existenz gewissermaßen sprengt: »geht immer wieder / das Schicksal riesig über uns hinaus«. Gleichzeitig aber leistet die Natur gerade durch ihre Erscheinung, den Wind eine Annäherung an die menschliche Sphäre (»kommt«, »bringt«, sogar »schwankend«) und damit die Möglichkeit einer Identität des Menschen (»was wir sind«), der er sich öffnen will: »laß, o laß es kommen« sowie »Sei still und rühr dich nicht, daß es uns finde«. Dies wird jedoch zur Wunschvorstellung abgeschwächt: »Wären wirs doch. So wären wir zuhaus«. Letzten Endes bleibt die Option der Vereinigung der Sphären durch eine Akzeptanz der Na­tur(notwendigkeit), durch eine Verinnerlichung der Natur, der Überwältigung, die sie auslöst (»Die Himmel stiegen in uns auf und nieder«) für das wahrnehmende Subjekt offen. In der Konfrontation von Natur und Subjekt »erfährt es [das Ich] die Landschaft als bleibenden Auftrag und unentwegte Herausforderung«,42 die sich immer wieder zeigt und die in immer neuen Anläufen und in ihren wechselvollen Erscheinungen im Gedicht zu fassen wäre. Die »Wende« durch eine besondere Naturerfahrung beschreibt Rilke auch in einem Brief an Clara:

»Gebirge, Gestein, Wildnis, Un-Weg«  |  193

Merkwürdig war die Nacht der Frühlingswende, eine Mondnacht mit lauter über die (aus weißem Licht gemachten) Wege hingehetzten Blätterschatten. […] Aber der Wind (sah man) reichte nicht mehr so weit hinauf in die Nacht, – es war nur mehr ein Windstrom, eine Windstraße, über der unbewegt, tief und still, blühender Himmel stand, Frühlingshimmel mit einzelnen, großen, offenen Sternen.43

Dieses Wendeerlebnis wird in ein anderes, am 21. März geschriebenes Gedicht mit teilweise ähnlichen Ausdrücken als dessen dominierendes Thema aufgenommen (KA 1,391): Die Nacht der Frühlingswende (Capri, 1907) Ein Netz von raschen Schattenmaschen schleift über aus Mond gemachte Gartenwege, als ob Gefangenes sich drinnen rege, das ein Entfernter groß zusammengreift. Gefangner Duft, der widerstrebend bleibt. Doch plötzlich ists, als risse eine Welle das Netz entzwei an einer hellen Stelle, und alles fließt dahin und flieht und treibt…. Noch einmal blättert, den wir lange kannten, der weite Nachtwind in den harten Bäumen; doch drüber stehen, stark und diamanten, in tiefen feierlichen Zwischenräumen, die großen Sterne einer Frühlingsnacht.

Das Gedicht gliedert sich in 3 Stophen mit 4, 4 und 5 Versen, die ersten beiden Strophen weisen umarmende, die letzte Strophe Kreuzreime mit einer Waise am Ende auf. Die ersten zwei Strophen bilden in formaler Hinsicht eine gewisse Einheit außer der ähnlichen Reimstruktur auch durch die in ihnen, nicht aber in der dritten Strophe auftretenden Enjambe­ments.44 Die Verbstruktur hebt die ersten zwei Strophen wiederum von der dritten ab, indem sich in ihnen ein Wechsel vom Indikativ zum irrealem Vergleichssatz (»als ob«), wieder zum Indikativ, dann erneut zu irrealem Vergleich 194  |  magdolna orosz 

(»als«) mit abschließendem Übergang zum Indikativ (»fließt«, »flieht«, »treibt«) vollzieht, wogegen die dritte Strope eine Reihe Indikativsätze aufführt. Die semantischen Beziehungen verstärken die formalen Zusammenhänge, sie konterkarieren sie aber zugleich in mancher Hinsicht. Die ersten zwei Strophen sind durch Verben dominiert, die eine sich steigernde Dynamik ausdrücken (»schleift… über«, »drinnen rege«, »zusammengreift«, »als risse… entzwei«, »fließt dahin«, »flieht«, »treibt«). Es etabliert sich hier immerhin ein Gegensatz, indem in der ersten Strophe ein »Schatten«, in der zweiten demgegenüber eine »helle Stelle« durch die raschen Bewegungen postuliert wird. Es entsteht zugleich auch ein Rhythmuswechsel von Beschleunigung – Innehalten – Beschleunigung (»schleift … über«, »zusammengreift«, »risse … entzwei«), der im polysyndetisch verstärkten hastigen Tempo von »alles fließt dahin und flieht und treibt« seinen Ausklang findet. In der dritten Strophe entsteht eine Verbindung der Gegensätze ›dunkel‹ und ›hell‹ durch die Schaffung von »Zwischenräumen«, die die in den ersten zwei Strophen artikulierten Seinssphä­ren von ›(irdischer) Natur‹ (»Gartenwege«, »Duft«, »Welle«, »Nachtwind«) und ›Mensch‹ (»wir«) verbinden. Beide Sphären werden nämlich in den von einem »Entfernten«, d. h. von Gott oder einer transzendenten Macht, einer überirdischen Naturgewalt (»der weite Nachtwind«) beherrschten »tiefen feierlichen Zwischenräumen« vereint, indem sie die über beide, Mensch und Natur, stehenden »großen Sterne einer Frühlingsnacht« überragen. Diese Verknüpfung wird durch die sich verlangsamenden Zustandsbeschreibungen (»noch einmal blättert«, »lange kannten«, »drüber stehen«) und ihre Festigkeit (»stark und diamanten«) stabilisiert, so daß die symbolhafte Verbindung der drei Sphären im Übergang von ›unten‹ und ›oben‹, sowie durch die Übertragbarkeit von ›Härte‹ sowohl auf die irdische Natur (»in den harten Bäumen«) als auch auf die »himmlische« Sphäre (»stark und diamanten […] die großen Sterne einer Frühlingsnacht«) semantisch zweifach gefestigt wird, indem jedoch das Ich (»wir«) zwischen beiden, keiner eindeutig zugeordnet, gesetzt bleibt.

»Gebirge, Gestein, Wildnis, Un-Weg«  |  195

6. Übergangsstellung der Capreser Gedichte Das Versprechen eines neuartigen Verhältnisses von Natur und Mensch, Subjekt und Objekt wird in diesen Gedichten zwar angedeutet, es kann aber nicht gänzlich eingelöst werden, denn »[e]ine Sprache, die der neuartigen Aufgabe zu genügen und die Verwandlung nach innen zu realisieren vermöchte, steht offenbar noch nicht zur Verfügung«.45 Das beweisen auch die formalen Ungleichmäßigkeiten u. a. der Improvisationen aus dem Capreser Winter sowie ihre gedanklichen Brüche, die vielfachen Anläufe zu einer Formulierung und Festigung der Neuartigkeit des Wahrgenommenen. Rilke erprobt in den Capreser Gedichten, die in seine sorgfältig komponierten Gedichtsammlungen und Zyklen vermutlich wegen ihrer (vom Dichter selbst wahrgenommenen) Übergangsstellung nicht eingegangen sind, offensichtlich eine Sprache, deren erste Spuren in den Formulierungsversuchen der neuartigen, von der Dinghaftigkeit der Neuen Gedichte sich entfernenden Raumerfahrung zu entdecken sind. Eckel folgert daraus, daß die Capreser Gedichte zwar »Abweichungen vom strengen Programm der Neuen Gedichte« und eine »Verunsicherung« ausdrücken. In ihnen konnte aber, seiner Meinung nach, die »Krise, die nach 1910 offen ausbrach, […] in den mittleren Jahren noch latent bleiben«,46 denn – so sein Resümee – [d]as »sachliche Sagen« [der Neuen Gedichte] hatte seinen Sinn noch nicht erschöpft – und die vielen glänzenden Resultate dieses Verfahrens vermochten es, die ihm eigene Problematik eine zeitlang vergessen zu machen«.47 Fülleborn betont das Experimentelle der Gedichte: »Speziell auf diese spannungsvollwidersprüchliche Weise scheint für Rilke der Übergang in die ästhetische Moderne möglich geworden zu sein. Und nur so, als groß angelegtes Experiment auf mehreren Ebenen und unter jeweils anderen Voraussetzungen konnte ihm wohl in der Dichtung gelingen, was synchron in den übrigen Künsten und den Naturwissenschaften erreicht wurde«. Es könnte, eben ihre Widersprüchlichkeit und ihren Versuchscharakter berücksichtigend, etwas differenzierter behauptet werden, daß die Capreser Gedichte eine andersartige Annäherung Rilkes an die ästhetische Moderne erahnen lassen, indem sie von seinem suchenden Experimentieren mit unterschiedlichen ästhetischen Konzeptionen Zeugnis ablegen. 196  |  magdolna orosz 

Capri und der Capreser Raum werden damit – aus späterer Sicht – wirklich zu einem »Un-Ding«, zur Entfernung von einer dinghaften Schreibweise, die Rilke jedoch während der Arbeit an den Neuen Gedichten gleichzeitig ausübt, die aber über die Capreser Texte und ihrer neuen Erfahrungen allmählich zu einer anderen Poetik vom Rilke des Spätwerks führen kann: Die Capreser Erfahrung verbindet, wie ein Knotenpunkt, frühere und spätere »Fäden« des Rilkeschen Œuvre und demonstriert zugleich dessen moderne Komplexität.

Anmerkungen  1 

Zur Geschichte der Rilke-Philologie vgl. die kurze Übersicht in Sascha Löwenstein: Poetik und dichterisches Selbstverständnis. Eine Einführung in Rainer Maria Rilkes frühe Dichtungen (1884–1906), 29–39.  2  Ralph Freedman: Rainer Maria Rilke. Der junge Dichter 1875 bis 1906, 221. Immerhin wird das ›Ich‹ im Laufe von Rilkes Schaffen in anderen Kontexten positioniert, wobei auch die Funktion von ›Gott‹ (vom Mystischen, Transzendenten) anders ausgelegt wird.  3  Vgl. dazu die Zeittafel in SKlW 40; sowie RC 256–269.  4  Vgl. SKlW 40, RC 298–302. In meinen Überlegungen werde ich auf den zweiten Aufenthalt nicht näher eingehen.  5  Rilkes Brief an Clara Rilke am 6. Dezember 1906. In: B06–07, 203.  6  Rilkes Brief an Elisabeth und Karl von der Heydt vom 11.1 Dember 1906, B06–07, 211.  7  Vgl. dazu die Darstellung von Dieter Richter: Capri und die Deutschen.  8  Rilkes Brief an Elisabeth und Karl von der Heydt am 11. Dezember 1906, B06–07, 208.  9  Ulrich Fülleborn: Die Gedichte 1906 bis 1910. In KA 1,847. 10  Vgl. die Datierungen in KA 1,957–1005. Die Unsicherheiten bei der Angabe des Entstehungsortes resultieren aus dem Verlust der betreffenden Notizen Rilkes im Ersten Weltkrieg, was eine genaue Datierung nicht mehr zuläßt. 11  Die Bezeichnung der Texte, die Rilke selbst nicht zu Sammlungen geordnet hatte und deren Großteil zu seinen Lebzeiten nicht erschienen ist, ist uneinheitlich: Der Übersetzer James Blair Leishman (vgl. Introduction, 1, zu den Capri-Gedichten vgl. 14 f.) nennt die zwischen 1906 und 1926 entstandenen Texte dieser Art »uncollected poems«. 12  Außerdem sind in die KA 1 einige kurze Texte nicht aufgenommen, die im Kommentar von August Stahl als Capreser Texte erwähnt werden: Wie, »Gebirge, Gestein, Wildnis, Un-Weg«  |  197

wenn ich jetzt aus diesen Einsamkeiten, La tentation c’est à refaire, Die Kuppeln der Kalifen-Gräber (vgl. SKlW 216–220). 13  Bis auf die Widmung der vierten Improvisation an Manon zu SolmsLaubach, die jedoch kein ›eigentlicher‹ Titel ist. 14  Jo Catling: Rilke auf Capri, 220. Catling erwähnt hier auch die Nähe des Santa Maria a Cetrella-Zyklus zum Marien-Leben. 15  Für eine zusammenfassende Übersicht der Forschungsliteratur zu diesen Werken vgl. die Hinweise in RHB. 16  Vgl. Eudo C. Mason: Rainer Maria Rilke. Sein Leben und sein Werk; Anthony Stephens: Rainer Maria Rilke’s Gedichte an die Nacht: an essay in interpretation; Judith Ryan: Umschlag und Verwandlung. Poetische Struktur und Dichtungstheorie in R.M. Rilkes Lyrik der mittleren Periode, die diesen »mittleren Texten« eine auf spätere Werkphasen vorausweisende Funktion zuschreiben; vgl. Bernhard Böschenstein: Rilkes Briefe aus Capri vom Januar 1907, bes.154. 17  Winfried Eckel: Einzelgedichte 1906–1910 (II): Vorbereitungen des Spätwerks, 353. 18  Ulrich Fülleborn: Rilke 1906 bis 1910: Ein Durchbruch zur Moderne, 160. 19  Winfried Eckel: Hinter den Kulissen der Neuen Gedichte. Zur werkgeschichtlichen Bedeutung von Rilkes Capreser Lyrik, 110. 20  Rilkes Brief an Elisabeth und Karl von der Heydt am 11. Dez. 1906. B06–07,209. 21  Bernhard Böschenstein: Rilkes Briefe aus Capri vom Januar 1907,142. 22  Böschenstein verortet die Capreser Texte auf Grund der Briefe als Produkte einer Übergangszeit, und situiert zugleich Rilkes Natur- und Welterfahrung, wie sie im Brief vom 1. Januar 1907 erscheint, im Kontext der Hölderlinschen und sogar Jean Paulschen Tradition (ebd.,144), sowie in der dionysischen Antikeerfahrung der Jahrhundertwende, wie sie sich auch bei Thomas Mann oder Stefan George äußert (ebd.,146 f.). 23  Ralph Freedman (Rainer Maria Rilke. Der Meister 1906–1926,34) bemerkt auch die Zusammengehörigkeit der Improvisationen und ihre Funktion im Œuvre, denn »sie waren in einem Stil gehalten«, und sie »waren nicht nur ein Rückgriff auf bereits Überwundenes; in ihrer Bildsprache und geistigen Ausrichtung weisen sie zugleich auf Rilkes Spätwerk voraus (a. a.O., 35). 24  Judith Ryan: Umschlag und Verwandlung. Poetische Struktur und Dichtungstheorie in R.M. Rilkes Lyrik der Mittleren Periode (1907–1914), 93. 25  Peter Sprengel: Die Entwicklung von Rilkes Lyrik im Zeitraum 1900–1908. Ein Überblick, 121. 26  A. a.O., 121 f. Sprengels Ausführungen erfassen nicht die ganze Komplexität und Vielfalt der Capreser Gedichte; er trägt nur einer »Ausrichtung« dieser Gedichte Rechnung, indem er sie mit den Duineser Elegien verbindet (was durchaus berechtigt ist), er erwägt aber die möglichen Verbindungslinien mit den Neuen Gedichten nicht (nicht einmal die Tatsache, daß bestimmte 198  |  magdolna orosz 

Gedichte aus Capri in die Neuen Gedichte Eingang gefunden haben, was auch die Frage der Kriterien dieser Aufnahme aufwerfen dürfte). 27  Judith Ryan: Umschlag und Verwandlung, 95. 28  Die Objektivierung der »neuen Einheit« (Ryan, ebd.) kann m. E. nur vorübergehend entstehen, denn die verschiedenen Stadien werden in einer Hin und Her-Bewegung gehalten (wie dies an einzelnen Capreser ›Naturgedichten‹ nachweisbar ist). 29  Winfried Eckel: Hinter den Kulissen der Neuen Gedichte, 113. 30  KA 1, 371: »Aber dein unbewältigter Willen / zieht die Pfade zusamm wie Alaun / bis sie, als haltlose Rillen, / sich verlieren ins Abgrundsgraun …« 31  Winfried Eckel: Hinter den Kulissen der Neuen Gedichte, 114. 32  Schon der erste Vers intoniert eine Gegenüberstellung der Landschaft mit dem Herzen (»Täglich stehst du mir steil vor dem Herzen«). 33  Winfried Eckel: Hinter den Kulissen der Neuen Gedichte, 114. 34  Jo Catling: Rilke auf Capri, 214. 35  Winfried Eckel: Hinter den Kulissen der Neuen Gedichte, 115. 36  Winfried Eckel: Hinter den Kulissen der Neuen Gedichte, 115. 37  Vgl. den Kommentar von Ulrich Fülleborn: KA 1, 851. 38  Winfried Eckel: Hinter den Kulissen der Neuen Gedichte, 115. 39  Winfried Eckel: Hinter den Kulissen der Neuen Gedichte, 114. 40  Es gibt ein Strophenenjambement zwischen Strophe1 und 2; Enjambements sind in Strophe 2 zwischen den Zeilen 1 und 2, in Strophe 3 und 4 sogar je zwei Enjambements zwischen den Versen 1 und 2 bzw. 3 und 4 zu finden. 41  Vgl. dazu die Verwendung der Ausdrücke »noch«, »für einen Augenblick«, »manchmal«. 42  Winfried Eckel: Hinter den Kulissen der Neuen Gedichte, 116. 43  Rilkes Brief an Clara am 25. März 1907 (B06–07,296). 44  Enjambements sind in der ersten Strophe zwischen Vers 1 und 2, in der zweiten zwischen Vers 2 und 3 zu finden. 45  Winfried Eckel: Hinter den Kulissen der Neuen Gedichte, 116. 46  Winfried Eckel: Hinter den Kulissen der Neuen Gedichte, 123. 47  Winfried Eckel: Hinter den Kulissen der Neuen Gedichte, 123. Eine etwas anders akzentuierte und kürzere Variante dieser Ausführungen ist in das Rilke-Handbuch eingegangen. Vgl. Winfried Eckel: Einzelgedichte 1906–1910. Vorbereitungen des Spätwerks (RHB 347–354).

»Gebirge, Gestein, Wildnis, Un-Weg«  |  199

– William Waters –

Fragen nach Gott in den ›Neuen Gedichten‹ Wollte man nach Rilkes poetischem Gottesgedanken fragen, würde man dann an die Neuen Gedichte als einen wahrscheinlichen Ort für diese Untersuchung denken? Ja und nein. Die zwei Bände der Neuen Gedichte enthalten etwa fünfzehn explizit biblische Gedichte, zusammen mit einer Reihe von anderen, manche von ihnen gut bekannt, die Kathedralen, Engel, Heilige, christliche Legenden, Mohammed und so weiter betreffen. Auf den ersten Blick also spielen religiöse Vorstellungen hier eine beträchtliche Rolle.1 Auf der anderen Seite bekräftigt die Rezeptionsgeschichte das Gefühl vieler heutiger Leser, daß der Schwerpunkt der Neuen Gedichte anderswo liegt. Nach der Sprache des intimen religiösen Gefühls im Stundenbuch und in gewissen Teilen des Buchs der Bilder wurde von mancher Seite die ›Kälte‹ und ›Künstlichkeit‹ der Neuen Gedichte beklagt, von welchen Beschwerden Rilke selber in einem Brief berichtet hat.2 Von den früheren Tönen der ›Mystik‹ ist hier nichts mehr zu vernehmen. Und von dem poeta vates des Spätwerks findet sich in den Neuen Gedichten noch kein Zeichen. Es überrascht deswegen nicht, daß sich die Untersuchung von Rilkes Gottesgedanken in erster Linie mit anderen Werken beschäftigt hat. Auch innerhalb der Neuen Gedichte ist ›Gott‹ oft nicht da, wo man ihn erwartet. Die meisten derjenigen Gedichte, die mit biblischen Figuren oder anscheinend religiösen Bereichen zu tun haben, spielen dennoch nicht auf Gott an. Ob es Engel oder Heilige sind, Kathedralen oder Propheten, der gekreuzigte oder sogar der auferstandene Christus: in fast 30 der Gedichte, die religiöse Themen berühren, ist von ›Gott‹ nicht einmal andeutungsweise die Rede.3 Auf der anderen Seite jedoch erwähnen einige alttestamentarische Figurengedichte Gott (Josuas Landtag, Tröstung des Elia, Saul unter den Propheten, Ein Prophet, Jeremia, Adam, Eva); ebenso nennen ihn einige Gedichte, die an Heiligenlegenden anklingen (Der Stylit, Die Versuchung, Sankt Georg). Der sogenannte   |  201

Kathedralenzyklus lenkt den Blick auf Gott in Das Portal, und Gott spielt die zentrale Rolle in Gott im Mittelalter und in Die Fensterrose. Die meisten Gedichte über Maria und Jesus lassen Gott beiseite; jedoch bilden Der Ölbaumgarten und Magnificat wichtige Ausnahmen zu dieser Regel.4 Eine erste Bemerkung also wäre, daß Rilkes tiefe Verbindung nicht nur zur Bibel, sondern zum christlichen und allgemein zum westlichen monotheistischen Erbe mit der Abtrennung dieser Themen von aller notwendigen Verbindung zu Gott oder zur Religion einhergeht. Ein Gedicht spricht von Gott, ein thematisch Ähnliches nicht; das ist also kein Säkularisierungsprojekt, sondern vielmehr die Aufhebung der notwendigen Verknüpfung dieser traditionell religiösen Themen mit den Vorstellungen von Göttlichkeit. Sieht man die relevanten Gedichte in einer Zusammenschau, so fällt auf, daß die meisten von ihnen Gott aus der spezifischen Perspektive einer Figur im Gedicht nennen. Diese Feststellung entspricht einem zentralen, doch immer noch oft übersehenen Aspekt dieser Bände: die Neuen Gedichte sind in ihrer Mehrheit keine Dinggedichte, sondern ›Menschengedichte‹, das heißt, Gedichte, die die Perspektiven menschlicher Figuren – und oft zugleich Perspektiven auf dieselben Figuren – darstellen. Im Hinblick auf unser Thema heißt das, es wird so gut wie nichts Auktoriales direkt über Gott ausgesagt; stattdessen hängt alles von dem individuellen Blickwinkel ab, den das jeweilige Gedicht entfaltet. Aber die perspektivische Herangehensweise an Gott ist alles andere als einschränkend. Trotz dieser Sichtvielfalt ist es möglich, zu einer These über die Vorstellung von Gott in diesen Bänden zu kommen. Diese perspektivische Herangehensweise ist sogar auf engste mit Rilkes Gottesgedanken überhaupt in den Neuen Gedichten verbunden. Die Komplexität innerhalb auch eines einzelnen Gedichts wird deutlich am Beispiel von Der Ölbaumgarten, einem von den neun neutestamentlichen Gedichten (KA 1,459 f.):5 Der Ölbaum-Garten Er ging hinauf unter dem grauen Laub ganz grau und aufgelöst im Ölgelände und legte seine Stirne voller Staub tief in das Staubigsein der heißen Hände. 202  |  william waters 

Nach allem dies. Und dieses war der Schluß. Jetzt soll ich gehen, während ich erblinde, und warum willst Du, daß ich sagen muß Du seist, wenn ich Dich selber nicht mehr finde. Ich finde Dich nicht mehr. Nicht in mir, nein. Nicht in den andern. Nicht in diesem Stein. Ich finde Dich nicht mehr. Ich bin allein. Ich bin allein mit aller Menschen Gram, den ich durch Dich zu lindern unternahm, der Du nicht bist. O namenlose Scham . . . Später erzählte man: ein Engel kam – . Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht und blätterte gleichgültig in den Bäumen. Die Jünger rührten sich in ihren Träumen. Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht. Die Nacht, die kam, war keine ungemeine; so gehen hunderte vorbei. Da schlafen Hunde und da liegen Steine. Ach eine traurige, ach irgendeine, die wartet, bis es wieder Morgen sei. Denn Engel kommen nicht zu solchen Betern, und Nächte werden nicht um solche groß. Die Sich-Verlierenden läßt alles los, und sie sind preisgegeben von den Vätern und ausgeschlossen aus der Mütter Schooß.

Es ist typisch für die Neuen Gedichte, daß im Gedicht der Referent des Pronomens ›er‹ (d. h. das Nomen, worauf es sich bezieht) nicht genannt wird. Weniger typisch ist das Fehlen dieses Substantivs auch im Titel, der hier die Person mit seiner Umgebung ersetzt. Es ist sogar kein Ortsname, der im Titel erscheint, sondern eine allgemeine Bezeichnung, die von der bekanntesten Version derselben (Der Ölberg) abweicht.6 Ab der ersten Strophe findet die Stimmung des Gedichtes ihren Niederschlag in einer Art stolpernder Wiederholung, nicht nur in der Alliteration und in Assonanzen, sondern Fragen nach Gott in den ›Neuen Gedichten‹  203

auch in der ständigen Wiederkehr gewisser Worte und ganzer Zeilen: »grau« in V. 1–2 und »Staub« – »Staubigsein« in Zeile 3–4 sind die ersten von vielen sich wiederholenden Worten und Phrasen in dem Gedicht. Der Ölbaumgarten tritt hinter seiner eigenen grauen Farbe und dem Grausein von Jesus zurück, denn sein Gesicht »voller Staub« wird nicht in den Händen gehalten sondern in ihrem »Staubigsein«. Dieses trostlose Bild des Gebets entspricht dem Kern der Sache für Rilkes Gedicht, nämlich Jesu »Seele … betrübet bis an den Tod« (Mt 26,38). Brigitte Bradley weist hin auf die »in doppelter Weise veranschaulicht[e] Eintönigkeit–farblose Monotonie der Landschaft und monotone Gleichheit von Umgebung und Figur … Die Person erfährt sich als ›aufgelöst‹ und ist sich selbst unkenntlich geworden.«7 In allen drei synoptischen Evangelien wird diese Szene ähnlich beschrieben. Bei Lukas heißt es (22,44): »Vnd es kam, das er mit dem Tode rang / vnd betet hefftiger. Es ward aber sein Schweis wie Blutstropffen / die fielen auf die Erden.«.8 Geheimnisvolle Sätze. Was heißt es, daß einer im Beten »mit dem Tode ringt«? Heftigeres Beten und Schwitzen sind vielleicht äußerlich zu bemerken. Daß Jesus »mit dem Tode rang« sollte wohl für die Innenperspektive stehen, bleibt aber kryptisch. Rilkes Version liefert einen Inhalt für dieses Gebet: Nach allem dies. Und dieses war der Schluß. Jetzt soll ich gehen, während ich erblinde, und warum willst Du, daß ich sagen muß Du seist, wenn ich Dich selber nicht mehr finde. Ich finde Dich nicht mehr. Nicht in mir, nein. Nicht in den andern. Nicht in diesem Stein. Ich finde Dich nicht mehr. Ich bin allein. Ich bin allein mit aller Menschen Gram, den ich durch Dich zu lindern unternahm, der Du nicht bist. O namenlose Scham …

Was in den vielen Kommentaren zu diesem Gedicht immer noch zu selten nachgegangen wird, ist die Feststellung, daß diese Zeilen nachdrücklich, ja sogar aufdringlich in der zweiten Person als Anrede an Gott formuliert sind. Die Kommentierte Ausgabe von Ril204  |  william waters 

kes Werken erfaßt also nur die halbe Wahrheit, wenn dort zu den kulminierenden Worten »der Du nicht bist« (V. 14) angemerkt wird, »Gottesleugnung als Kontrafaktur zur biblischen und christlichen Tradition« (KA 1,928). Streng genommen wäre Gottesleugnung notwendigerweise in der 3. Person auszudrücken, der grammatischen Form, die Emile Benveniste als Merkmal der Abwesenheit des Besprochenen gekennzeichnet hat.9 »Es gibt keinen Gott« wäre die Aussage dessen, der tatsächlich ohne jede Vorstellung von Gott denkt und sein Leben ganz ohne Gott erfährt. Jesus in Rilkes Gedicht drückt etwas Subtileres und Paradoxeres aus, indem er immer wieder, beinah anklopfend, das großgeschriebene Anredepronomen wiederholt (sieben Mal in acht Zeilen) und als festen kommunikativen Rahmen behält für alles, was er sagt. Ein paar Zeilen früher führte derselbe angeblich in Gottesleugnung kulminierende Passus einen Appell ein (»und warum willst Du«), der Gottes Willen ausdrücklich anerkennt. Zwar wird dieser Satz durch seinen zweiten Teil gewissermaßen ausgehöhlt: »und warum willst Du, daß ich sagen muß / Du seist, wenn ich dich selber nicht mehr finde«. Hier wird aber ein Unterschied noch aufrechterhalten: Sagen, daß man etwas nicht findet, impliziert an sich bei weitem nicht, daß dieses Etwas nicht ist; und: nicht sagen wollen, daß etwas existiert, heißt auch nicht notwendigerweise, man leugne dessen Existenz. Man sollte nicht zu schnell lesen; es ist in Jesu Worten kein Traktat, sondern etwas Tastendes. Sein letzter Satz ist nicht mit dem ersten identisch. Als später das Wort des Nicht-Seins dann doch fällt – »der Du nicht bist« – bleibt es, wie schon gesagt, fest innerhalb des stabilen Anrederahmens, so daß das Gegenüber nicht bloß ›postuliert‹ sondern durchgehend vorausgesetzt und bekräftigt wird in derselben Geste, mit der sein Fehlen anerkannt wird. Die Kraft der Zeilen liegt aber darin, daß der Anrede-Rahmen sozusagen vergessen wird, gleichsam unbemerkt aus dem Bewußtsein gleitet. Denn der Ausdruck tiefster Verlassenheit und Verzweiflung ist echt, in keiner Hinsicht vorgetäuscht noch als erträglicher suggeriert, obwohl Form und Inhalt einander nicht entsprechen. Im Gegenteil ist es, als ob das Nicht-Entsprechen den hohlen Raum um Jesu Worte vergrößere. Würde ein Leser das Wort ›Gottesleugnung‹ mit einer atheistischen Weltanschauung assoziieren, so würde dieses Verständnis hier völlig fehlgehen, wie die Worte »erblinde« und Fragen nach Gott in den ›Neuen Gedichten‹  205

»nicht mehr« deutlich unterstreichen. Stattdessen geht es um das Erlebnis des Entzugs Gottes und der Verlassenheit, d. h. um die auf einmal erfahrene Einsamkeit, um die Räume, wo Gott gerade war und aus denen er nun verschwunden ist. Es geht nicht um Unglauben, sondern um Verlust. An dieser Stelle wird der Gesichtspunkt Jesu, seine Stimme, auch vom Gedicht verlassen: in der zweiten Gedichthälfte wird das Geschehen wieder nur von außen her geschildert. An diesem Punkt tritt das Gedicht sogar aus der Szene selbst heraus, um die Frage nach deren Überlieferung zu stellen: »Später erzählte man: ein Engel kam–. / Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht«. Obwohl das Beten in Gethsemane auch bei Markus (Mk 14,32–42) und Matthäus (Mt 26,36–46) erscheint, ist nur im (tatsächlich später verfaßten) Lukas-Evangelium von einem Engel die Rede, und vielleicht weist Rilkes Abstreiten auf diese Diskrepanz hin. Jedenfalls wird auf den Engel hier nur darum angespielt, um auch ihn zu subtrahieren: ein zweiter Entzug, der die Einsamkeit vermehrt. Der abrupt apodiktische, ja prophetische Ton der letzten Strophe des Gedichts erweitert das Ausgeschlossenheitsgefühl – man hört die eiserne Tür gleichsam zuschnappen – indem ›solche Beter‹ (mit dieser Ausdruck wird Jesus sogar zum Mitglied einer Klasse reduziert) als die ›Sich-Verlierenden‹ bezeichnet werden, denen auch alle Verbindung zu der Menschengemeinschaft entzogen wird. Die Verben im generellen Präsens wenden Jesus den Rücken zu, denn um ihn geht es nicht mehr persönlich. Hier ist nicht nur von Verlust und Verlassenheit zu sprechen; es ist eine Geste des herzlosen, bewußten Ausschließens und Auslieferns. Die Grausamkeit der Geste wird dadurch verstärkt, daß in dieser Verweigerung Vater und Mutter nicht in der Singularform erscheinen, die ja ihrer geliebten Einmaligkeit entsprechen würde, sondern gesichtslos und allgemein im Plural. In dem sich verschärfenden prophetischen Ton dieser abschließenden Zeilen vernimmt man eine wachsende, eindringlich werdende Gewißheit, die Jesus fehlt – die Bereitschaft oder den Drang, Andere zu beurteilen und zu verwerfen. Diese letzte Steigerung hat die Färbung einer neuen Perspektive. Wem ist diese Haltung zuzusprechen, die fast als Fluch in den letzten Zeilen in den Vordergrund tritt? Es wäre möglich, in ihr die Kehrseite von Jesu Gefühl 206  |  william waters 

zu sehen, gleichsam eine Projektion: fühlt man sich so verlassen, dann müßte es jemand geben, der einem das angetan hat, der einen nicht nur losläßt, sondern bewußt ausschließt, und zwar aus dem ganzen Leben. Die Ironie ginge tief: das Verlassenheitsgefühl rührt eben daher, daß Jesus festgestellt zu haben glaubt, gerade diesen Jemand gebe es gar nicht. So widersprüchlich-komplex wären bei dieser Lesart die Perspektiven auf Gott in diesem Gedicht, das auf dem ersten Blick vielleicht ohne Gott auszukommen schien. Der Gegenpol zu diesem Verlust Gottes tritt in Form der Prophetengestalten in den Neuen Gedichten in aller Deutlichkeit in Erscheinung.10 Hier wird die Anwesenheit Gottes nicht bezweifelt, sondern als lebenslange Last evoziert. Der Prophet wird von Gott rücksichtslos instrumentalisiert, und weiß es auch. Herz und vor allem Mund des Menschen werden übernommen, der Prophet wird zum Zuschauer der eigenen Worte und Handlungen. Unter den sechs Propheten-Gedichte ist nur Jeremia ein ›Rollengedicht‹; es vermeidet die Schilderung des Propheten in der dritten Person und besteht stattdessen aus der Rede des Jeremia selbst (KA 1,521 f.): Jeremia Einmal war ich weich wie früher Weizen, doch, du Rasender, du hast vermocht, mir das hingehaltne Herz zu reizen, daß es jetzt wie eines Löwen kocht. Welchen Mund hast du mir zugemutet, damals, da ich fast ein Knabe war: eine Wunde wurde er: nun blutet aus ihm Unglücksjahr um Unglücksjahr. Täglich tönte ich von neuen Nöten, die du, Unersättlicher, ersannst, und sie konnten mir den Mund nicht töten; sieh du zu, wie du ihn stillen kannst, wenn, die wir zerstoßen und zerstören, erst verloren sind und fernverlaufen und vergangen sind in der Gefahr: Fragen nach Gott in den ›Neuen Gedichten‹  207

denn dann will ich in den Trümmerhaufen endlich meine Stimme wiederhören, die von Anfang an ein Heulen war.

Jeremia ist nicht nur ein Gedicht in der Ich-Form, von Anfang bis Ende besteht es aus einer direkten Anrede an Gott. Insofern könnte man vielleicht eine Vergleichsmöglichkeit zwischen diesem Gedicht und dem Gebet von Jesus im Ölbaumgarten erwarten. Aber nicht jede Anrede an Gott gehört zur Gattung ›Gebet‹. Um was für eine Anrede handelt es sich also in Jeremia? Offensichtlich ist es eine Klage, fast eine Anklage, gegen Gott als ›Rasenden‹ und ›Unersättlichen‹. Kaum als liedhaft zu bezeichnen, ist das Gedicht aber wenigstens mit einem Lied zu vergleichen in der einen Hinsicht, daß die Anrede stilisiert oder ritualisiert erscheint und sozusagen keinen echten oder dynamischen verbalen Dialog suggeriert. Trotz der Klage wird keine Antwort erwartet. Diese nicht gerade kommunikative Situation ist nichts Ungewöhnliches für das moderne Gedicht. In diesem Fall ist aber zusätzlich darauf hinzuweisen, daß sie der ritualisierten Sprache der biblischen Klagelieder im Buch Jeremia entspricht. Eigentlich folgt auf die Klagelieder Jeremias in der Bibel meistens eine Antwort von Gott. Aber sowohl Klage als Antwort klingen in sich geschlossen, ritualisiert; sie sind weniger Gespräch als Wechselgesang. Auch bei Rilke ist dieser Apostrophencharakter spürbar (mit Quintilian verstehe ich eine Apostrophe vor allem als eine Anrede, auf die keine Antwort erwartet wird).11 Von den vier Du-Sätzen im Gedicht erscheinen die ersten drei in der Vergangenheitsform, die unmerklich mit den übrigen Aussagen über Vergangenes verschmelzen. Mit dem leicht mahnenden Imperativ in Vers 12 – »sieh du zu« – faßt Rilke knapp die gleichgültige Vertrautheit zusammen, die schon in den Worten »du Rasender« und »du, Unersättlicher« angedeutet worden war. Aber auch dieser Ausdruck (»sieh zu…«) erwartet normalerweise keine Antwort. War Der Ölbaumgarten ein perspektivistisches Gedicht, ein Gedicht, das sich wie so viele der Neuen Gedichte um die zentrale Achse der Perspektive dreht, so ist Jeremia ein Gedicht, das sich um die Zeit-Achse dreht. Von »Einmal« als erstes Wort des Gedichts bis »endlich« in der vorletzten Zeile beschreibt das Gedicht eine 208  |  william waters 

dreistrophige Meditation über die Vergangenheit, über Gottes Inanspruchnahme von dem Herzen und dem Mund des Propheten. Anscheinend wird in der letzten Strophe diese Vergangenheit beiseitegelegt, um in der letzten, längeren Strophe eine Vision der Zukunft zu ermöglichen, die nicht gerade prophetischer Art ist. Endlich möchte Jeremia, in den Trümmerhaufen nach dem endgültigen Abzug der Feinde, seine Stimme wiederhören. Im ersten Kapitel des Buches Jeremia rekapituliert der Prophet, fast ein Knabe, die versuchte Weigerung von Moses: »JCH aber sprach / Ah HErr HERR / Jch taug nicht zu predigen / Denn ich bin zu jung.«12 Trotzdem wird berichtet (1,9):, »Vnd der HERR recket seine Hand aus / vnd rüret meinen Mund / vnd sprach zu mir / Sihe / Jch lege meine wort in deinen mund.« Aus diesem Grund war die Stimme des Jeremia »von Anfang an ein Heulen«. In Kapitel 20 klagt der Prophet zu Gott (7 f.): »HERR / Du hast mich vberredt / vnd ich hab mich vberreden lassen / Du bist mir zu starck gewest / vnd hast gewonnen / Aber ich bin drüber zum Spot worden teglich / vnd jederman verlachet mich. / Denn sint ich geredt / geruffen vnd gepredigt habe / von der plage vnd verstörung / ist mir des HERRN wort / zum hohn vnd spot worden teglich.« Dieses Von-der-Plage-und-Verstörung-Rufen ist das Heulen, von dem Jeremia in Rilkes Gedicht spricht; aber das ›Heulen‹ ist auch sein Klagen über gerade diese unausweichliche, bittere Sendung, über Gottes Gewalttat an ihn. Es liegt eine schmerzliche Ironie in den abschließenden Zeilen des Gedichts. Hier wird deutlich impliziert, falls Gott am Ende Jeremia den Mund zu stillen gestattet, daß die Stimme, die dann »endlich« hörbar würde – die eigene, längst verlorene Stimme des Menschen Jeremia –, auch nur ein ›Heulen‹ wäre, weil der »Anfang« sowohl seine Geburtstunde bezeichnen muß als auch den Tag seiner Erwählung. Es ist, als bliebe ihm nichts Eigenes übrig. Wie schon gesagt ist unter den Prophetengedichten der Neuen Gedichte nur Jeremia in der Ich-Form geschrieben; das heißt: auch Rilke legt seine Worte in einer Weise in den Mund dieses Propheten, als ob Jeremias eigene Stimme es nicht schaffen könne, etwas Eigenes auszudrücken, was zu unterscheiden wäre von dem Klagen, für das Jeremia sprichwörtlich auch steht. Als Pendant zu Jeremia, und in gewisser Hinsicht auch zu Der Ölbaumgarten, ziehe ich ein Gedicht heran, das normalerweise nicht Fragen nach Gott in den ›Neuen Gedichten‹  209

zu den Prophetengedichten gezählt wird, aber mit ihnen wichtige Züge teilt und sie variiert. Auch die Jungfrau Maria wird, wie Rilkes Propheten, leiblich von Gott in Anspruch genommen: das Rollengedicht Magnificat läuft also gewissermaßen parallel zu der Klage Jeremias darüber, daß sein Mund nicht ihm gehorcht. Erfahren die Prophetengestalten jedoch Gott als immer zu viel, und erfährt Jesus in Gethsemane nur die Leerstelle, wo Gott früher war, so steht Maria so gut wie alleine in den Neuen Gedichten für den richtigen Grad von Kontakt zu Gott (KA 1,535): Magnificat Sie kam den Hang herauf, schon schwer, fast ohne an Trost zu glauben, Hoffnung oder Rat; doch da die hohe tragende Matrone ihr ernst und stolz entgegentrat und alles wußte ohne ihr Vertrauen, da war sie plötzlich an ihr ausgeruht; vorsichtig hielten sich die vollen Frauen, bis daß die junge sprach: Mir ist zumut, als wär ich, Liebe, von nun an für immer. Gott schüttet in der Reichen Eitelkeit fast ohne hinzusehen ihren Schimmer; doch sorgsam sucht er sich ein Frauenzimmer und füllt sie an mit seiner fernsten Zeit. Daß er mich fand. Bedenk nur; und Befehle um meinetwillen gab von Stern zu Stern –. Verherrliche und hebe, meine Seele, so hoch du kannst: den Herrn.

Wie Der Ölbaumgarten beginnt Magnificat mit einem Rahmen, in diesem Fall siebeneinhalb Verse, die die Szene (auch hier der Aufstieg auf einen Hügel) gewissermaßen von außen beschreibt und auf die Rede der zentralen Figur vorbereitet. Hier ist aber die innere Perspektive schon von Anfang an präsent, da von Glauben und Wissen die Rede ist. Das korrespondiert zu der Transparenz der Figuren Maria und Elisabeth zueinander. Schon in Lukas 1 ist die Szene die eines sofortigen Erkennens: die schwangere Maria 210  |  william waters 

40 . . . kam in das haus Zacharias / vnd grüßet Elisabeth. 41 Vnd es begab sich / als Elisabeth den grus Maria höret / hüpffet das Kind in jrem leibe. Vnd Elisabeth ward des heiligen Geists vol / 42 vnd rieff laut / vnd sprach / Gebenedeiet bistu vnter den Weibern / vnd gebenedeiet ist die Frucht deines Leibes. 43 Vnd wo her kompt mir das / das die Mutter meines HErrn zu mir kompt? 44 Sihe / da ich die stimme deines Grußes hörete / hüpffet mit freuden das Kind in meinem Leibe.

Das Medium dieses sofortigen Erkennens (sozusagen das Medium, in dem sich der heilige Geist hier manifestiert) ist der Laut: es geht um Grüßen, um lautes Rufen, um Sprechen. Hier bildet Rilkes Version einen deutlichen Kontrast: Es ist sogar denkbar, daß Maria und Elisabeth in Rilkes ersten sieben Zeilen, die tiefstes gegenseitiges Verständnis und Sympathie schildern, kein Wort zueinander sprechen. Als Maria dann in Rilkes Vers 8 zu sprechen beginnt, ist es kein Gebet und auch keine sonstige Anrede. Sie spricht von Gott und nicht zu ihm. Während aber in der Bibel das ›Magnifikat‹ ein unadressierter Lobgesang ist,13 spricht Rilkes Maria, mit dem Vokativ »Liebe« in Vers 9 und dem sanften Imperativ »bedenk nur« in Vers 14, eindeutig Elisabeth an. Die letzten zwei Zeilen wenden sich dann von dieser intimen Anrede ab, um feierlicher die eigene Seele anzureden: wo Lukas »magnificat anima mea« schreibt, hat Rilke sozusagen stattdessen »magnifica, o anima mea, dominum« gedacht. Das Gedicht gestaltet Marias Gesang persönlicher als die Bibel, den Moment schildernd, in dem Maria zu Maria wird, keine »elende Magd« mehr ist (Lk 1,48), sondern die ›Mutter Gottes‹. Gegenüber der äußerlichen, Ruhm-orientierten Perspektive der Bibel – in Luthers Version heißt es (ebd.): »von nu an werden mich selig preisen alle Kinds kind« – spricht Rilkes Maria von einer innerlichen Empfindung: »Mir ist zumut, / als wär ich, Liebe, von nun an für immer.« Zu dem traditionellen Lobgesang gehört der Satz (1,53): »die Hungerigen füllet er mit Güttern / Und lesst die Reichen leer.« Rilkes Maria dagegen nimmt wahr, daß der Herr die Reichen reich sein läßt. Das tut er aber »fast ohne hinzusehen«, völlig gleichgültig, den Status des Reichtums als Unwichtiges, als Eitelkeit, unterstreichend. Es ist bedeutungslos im Vergleich zu seiner kolossalen, liebevollen, Fragen nach Gott in den ›Neuen Gedichten‹  211

Himmel und Erde bewegenden Arbeit, aus Maria Maria zu machen. Denn die ganze zielstrebige, unvorstellbare kosmische Räume (»Befehle […] von Stern zu Stern«) mit ›fernster Zeit‹ vereinigende Aktivität Gottes und des Universums, alle Zeiten und Räume und Energien des Weltalls also, treffen sich an der Stelle und ruhen sich in dem Moment aus, wo Maria zu Maria wird, ihre Seele aufrufend, den Herrn zu verherrlichen. In der Auswahl seiner Gedichte, die Rilke im Winter 1918–1919 für Richard von Kühlmann handschriftlich hergestellt hat, hat Rilke nicht nur die letzten zwei Zeilen dieses Gedichtes von den vorletzten zwei getrennt, er hat auch das letzte Wort in Majuskeln geschrieben.14 Diese typographische Variation wurde 1975 von Ernst Zinn in die Sämtliche Werke aufgenommen und somit kanonisiert. Es gehört zu den nur in dieser Kühlmannschen Handschrift erscheinenden Variationen, die Zinn als »wohlbedachte Verbesserungen« betrachtet. In diesem Fall fällt es nicht schwer, Zinn zuzustimmen. Es handelt sich natürlich um eine Anspielung auf die traditionelle (auch Luthersche) Druckweise dieses Wortes in der Bibel in Großbuchstaben. Somit scheint Rilkes Text mit dem der Bibel in den letzten zwei Versen zusammenzulaufen. (Nicht, daß der Wortlaut identisch wäre; aber bei der Ähnlichkeit ist die Typographie genug.) Es ist, als ob der Leser dann auf einmal in dem Schriftbild sieht, wie die Maria dieses Gedichts sozusagen mit der anderen Maria, der der Bibel, zusammenfällt. Auch in dieser Weise wird Maria zu Maria, die individuelle Sprecherin dieses Gedichts wird die zeitlose, für immer geltende Figur der Mutter Gottes. Wie wir gesehen haben, stellte Jeremia, wie die anderen Prophetenfiguren der Neuen Gedichte, einen Gegentypus zu Maria dar. Auch sein Körper unterliegt der Macht des Herrn, doch im Gegensatz zu Maria empfindet er diesen Zustand als Unfreiheit, ja als Qual. An dieser Stelle sei nur kurz eine Art Gegenstück zu beiden noch erwähnt, und zwar noch ein Gedicht, in dem es um Gehorchen und Körperlichkeit geht, nur im invertierten Sinn: es ist Josuas Landtag. Der alte Josua erinnert an die Propheten wegen der unwiderstehlichen Kraft seines Mundes, und er erinnert an Maria, weil um seinetwillen kosmische Kräfte ins Spiel gebracht werden. Als der 110-jährige Josua »die Ältesten der Stämme« zusammenruft und wütend ermahnt, heißt es (KA 1,457): 212  |  william waters 

wie hielten alle Herz und Hände an, als hübe sich der Lärm von dreißig Schlachten in einem Mund; und dieser Mund begann. Und wieder waren Tausende voll Staunen wie an dem großen Tag vor Jericho, nun aber waren in ihm die Posaunen, und ihres Lebens Mauern schwankten so, daß sie sich wälzten von Entsetzen trächtig und wehrlos schon und überwältigt, eh sie‘s noch gedachten, wie er eigenmächtig zu Gibeon die Sonne anschrie: steh: Und Gott ging hin, erschrocken wie ein Knecht, und hielt die Sonne, bis ihm seine Hände wehtaten, ob dem schlachtenden Geschlecht, nur weil da einer wollte, daß sie stände.

In Jeremia und Magnificat gehorcht der Mensch (wie auch sein Körper) dem Willen Gottes. In Josuas Landtag spricht Josuas Mund für Josua, doch wie mit Gottes Kraft; und es hören auf ihn nicht nur die anderen Menschen, sondern Gott selber, der hier für einen Menschen in das Funktionieren des Universums eingreift, noch konkreter als mit seinen von Stern zu Stern gegebenen Befehlen in Magnificat. Auf den ersten Blick haben die Anmut des Magnifikats auf der einen Seite und, auf der anderen, der gezwungene Gehorsam des Propheten – der, so oft er redet, schreien muß, der Gewalttat und Zerstörung rufen muß – mit der charmanten Karikatur Gottes als erschrockener Knecht Josuas nichts gemeinsam. Aber an gerade dieser Gruppe von Gedichten wird deutlich, daß Rilke tiefes Interesse hat an Situationen, in denen ein Wille für Gott und einen Menschen reicht. Dem Gedicht Magnificat folgen die Adam- und Eva-Gedichte, die sich bekanntlich in ihren einander ähnelnden Anfangsversen auf die Skulpturen an der Westfront der Kathedrale Notre Dame in Paris beziehen, und in dieser Hinsicht zu den sogenannten ›Dinggedichten‹ Rilkes zählen können. Jedes dieser Gedichte ›vergißt‹ aber diesen Anfang, die Kathedrale und die Plastiken hinterlassend, und in der jeweiligen zweiten Strophe geht es unmerklich über zu einer Fragen nach Gott in den ›Neuen Gedichten‹  213

Darstellung der Innerlichkeit der Person, die legendären Figuren sozusagen von innen erlebend. Hier ist auch die bekannte Kontrafaktur zu sehen, denn Adam möchte (KA 1,536) aus dem fertig-vollen Garten Eden einen Ausweg in die neue Erde finden. Gott war schwer zu überreden; und er drohte ihm, statt zu gewähren, immer wieder, daß er sterben werde. Doch der Mensch bestand: sie wird gebären.

Das heißt: Rilke hat gewiß seine Freude daran, die Geschichte einfach gegen den Strich zu erzählen, aber das ist nicht alles, was er hier macht. Die Ausgangssituation wird so umerzählt, daß die Intention, um die es geht, nicht in erster Linie die Intention Gottes ist (von Gehorsam oder Verbot ist keine Rede), sondern die des Menschen. Adam ist schon in Eden der Ackerbauer, der ein ›Noch nicht‹ braucht, damit er Neues schaffen kann. Er ist zum Tode fest entschlossen, weil es ohne das Vergehen kein Werden geben kann. Er sucht die Kontingenz, er sucht das Offene, das, was in dem fertigvollen Paradies nicht zu finden ist. Seinen Ausweg schafft er durch Entschlossenheit, durch Überreden und Bestehen – also wieder eine Situation, in dem letzten Endes ein Wille für zwei, ja in diesem Fall sogar für drei, genügt. Denn nicht nur Gott, sondern auch Eva macht mit (KA 1,536 f.): Ach, sie hätte gern in jenem Land noch ein wenig weilen mögen, achtend auf der Tiere Eintracht und Verstand. Doch da sie den Mann entschlossen fand, ging sie mit ihm, nach dem Tode trachtend, und sie hatte Gott noch kaum gekannt.

Wie Eurydike in Rilkes Orpheus. Eurydike. Hermes (KA 1,500–503) ist Eva dem Unbewußten näher als ihr Mann. Den Tieren, dem Garten, und insgesamt ›dem Kreis der Ewigkeiten‹ nahe stehend, fügt sie sich, wie die Jungfrau Maria, dem Willen eines Anderen. In ebenso starkem Kontrast zu der Tradition, die sich um ihr Verhalten in der Bibel gesammelt hat, gibt Eva in Rilkes Gedicht das auf, was 214  |  william waters 

sie gerne gehabt hätte. Ihre Beziehung zu Gott, ein ›noch kaum Kennen‹, erweist ganz andere Maßstäbe als Adams Überreden. Könnte man vielleicht noch sagen, daß Gott für Eva nicht derselbe Gott ist wie für Adam? Bisher ist von Gott nur in seiner Beziehung zu Einzelnen die Rede gewesen. In dem bekannten Gedicht Gott im Mittelalter erweist sich Gott als zu viel für die Menschen, die hier im Plural der Allgemeinheit erscheinen. Der leicht paradoxe Titel – denn ist Gott nicht zeitlos? – läßt erkennen, daß hier in einem gewissen Sinne mehr vom Mittelalter gesprochen werden wird als von Gott (KA 1,467): Gott im Mittelalter

Und sie hatten Ihn in sich erspart und sie wollten, daß er sei und richte und sie hängten schließlich wie Gewichte (zu verhindern seine Himmelfahrt) an ihn ihrer großen Kathedralen Last und Masse. Und er sollte nur über seine grenzenlosen Zahlen zeigend kreisen und wie eine Uhr Zeichen geben ihrem Tun und Tagwerk. Aber plötzlich kam er ganz in Gang, und die Leute der entsetzten Stadt ließen ihn, vor seiner Stimme bang, weitergehn mit ausgehängtem Schlagwerk und entflohn vor seinem Zifferblatt.

Zuerst schaffen sich die mittelalterlichen Menschen einen begrenzten, meßbaren Gott nach ihren eigenen Maßstäben. Die Kleinheit ihrer Vorstellung wird erst dann klar, als dieser Gottesgedanke dann doch tatsächlich aktiv wird, sich – und sie – übertreffend. Der Umschlag erinnert an den ›Reliquienschrein‹ (in Rilkes Gedicht unter diesem Namen), der auf einmal aufwacht, um den ihn anfertigenden Goldschmied auf einmal zu mustern und zu beurteilen; oder an den archaischen Torso Apollos, der, aufs Intensivste angeschaut, allmählich selber zum All-Seher wird, ein Auge Gottes – ein Fragen nach Gott in den ›Neuen Gedichten‹  215

Erlebnis, dem man dann gerecht zu werden versuchen muß. Erst durch solche Vergleichsbeispiele wird es erklärlich, wie und warum in diesem Gedicht eine völlig unzureichende Vorstellung von Gott, eine Karikatur, dann doch am Ende zu einer echten Offenbarung wird oder führt. Die Uhr, könnte man sagen, wird hier zur Zeit. Im Grunde ist die ängstliche Reaktion der Menschen auf den in-Gang-gekommenen Gott ähnlich der, auf die die Worte eines Propheten oft treffen. Nicht jeder Herausforderung ist man gewachsen; aber die Echtheit bricht trotzdem immer wieder durch, es von neuem versuchend. Rilkes kühnsten Versuch, das mittelalterliche Gotteserlebnis zu begreifen und darzustellen, stellt das Gedicht Die Fensterrose dar (KA 1,465 f.):15 Die Fensterrose Da drin: das träge Treten ihrer Tatzen macht eine Stille, die dich fast verwirrt; und wie dann plötzlich eine von den Katzen den Blick an ihr, der hin und wieder irrt, gewaltsam in ihr großes Auge nimmt, – den Blick, der, wie von eines Wirbels Kreis ergriffen, eine kleine Weile schwimmt und dann versinkt und nichts mehr von sich weiß, wenn dieses Auge, welches scheinbar ruht, sich auftut und zusammenschlägt mit Tosen und ihn hineinreißt bis ins rote Blut –: So griffen einstmals aus dem Dunkelsein der Kathedralen große Fensterrosen ein Herz und rissen es in Gott hinein.

Beim ersten Lesen ist der Gedichtanfang völlig verwirrend. Nach dem Titel stößt man auf das starke Deiktikum oder weisende Wort »Da drin«. Zwangsläufig denkt man zuerst, das müßte ›in der Fensterrose‹ bedeuten; doch erweist sich dies als ein deiktisches Ablenkungmanöver seitens des Gedichts, eine falsche Fährte. Die Fortsetzung der ersten Zeile steigert die Verwirrung durch ein kataphori216  |  william waters 

sches Pronomen, das heißt: das Gedicht spricht von ›ihren Tatzen‹, schon zwei Zeilen bevor klar gemacht wird, worauf sich dieses ›ihr‹ bezieht. ›Sie‹ bedeutet hier ›die Katzen‹, wohl in einem Käfig gesperrte Raubkatzen wie Rilkes berühmter Panther. Es ist also ein bewußt holpriger Anfang. Nachdem man das Gedicht einmal ganz durchgelesen hat, hält man das eigentliche Thema des Gedichts wahrscheinlich für geregelt: es gehe, so denkt man, um die Macht der Fensterrosen. Das weit hergeholte Gleichnis vom Katzenauge sei das, worum es nicht gehe. Dieses Gleichnis sei sowohl deutlich von dem Thema der Fensterrosen abgegrenzt als auch ihm untergeordnet. Das Bild von den Katzen, das fast vier Fünftel des Gedichtes einnimmt, sei jedoch nur da, um die Kraft der mittelalterlichen Religion und religiöser Kunstwerke zu beschwören. So jedenfalls könnte ein Leser zuerst denken; und für den Moment lasse ich die Gültigkeit dieser Bemerkungen noch offen. Die Kunst dieses Sonetts ist es, das anfängliche Gleichnis in elf Versen unablässig aufzubauen und zu erweitern. So steigert sich eine immer größer werdende Spannung im Blick auf die Frage, was es mit diesem ›wie‹ auf sich hat – was wird damit verglichen werden? – wie auch im Blick auf die Frage, was Titel und Gedicht überhaupt miteinander zu tun haben. Jedes Mal, sobald eine syntaktische Lösung in Aussicht steht, schöpft das Gedicht Atem und dehnt die Konstruktion noch weiter aus. Zuerst scheint der ›wie‹-Satz in Vers 5 zwar sein Ende zu finden; aber das Substantiv ›der Blick‹ nimmt stattdessen in Vers 6 die Konstruktion wieder neu auf; dieser Satz wiederum scheint in Vers 8 zu Ende zu sein, doch der nächste Vers öffnet das Problem nochmals mit einem Nebensatz und dem wiederholten Nomen »das Auge«, Vers 5 fortsetzend. Anstatt vorwärts zu kommen, blickt das Gleichnis immer wieder zurück, oder besser gesagt nach innen, und verharrt im Strudel der Worte »Blick« und »Auge«. Jede neue Spirale inszeniert wieder das erste Bild: in den Versen 3 bis 5 nimmt eine Katze den Blick eines Betrachters in sein Auge hinein. In den Versen 6 bis 8 nimmt etwas wie ein Wirbel einen Blick in … ja, wer weiß wohin? Und in den Versen 9 bis 11 nimmt das Auge der Katze einen Blick in sein Blut. Was immer gleich bleibt, ist die Tatsache, daß das passive Objekt – das, was weggerissen wird – der Blick des Zuschauers ist. Blick ist aber gerade das Wort, das die hanFragen nach Gott in den ›Neuen Gedichten‹  217

delnde Kraft (die ›Agency‹) und die Subjektivität des Zuschauers bezeichnen sollte. Als die letzten drei Zeilen des Sonetts endlich die kolossale aufgestaute Energie des Gedichtes mit dem lange verschobenen Wort ›So‹ loslassen, funktioniert das Gedicht in mehrfacher Hinsicht wie ein Katapult. Gerade in dem Moment, wo nicht nur unser Blick uns weggenommen wurde sondern auch alle Hoffnung, daß wir einmal verstehen könnten, wieso dieses Katzengedicht unter dem Titel Die Fensterrose erscheinen konnte, wird die Beziehung endlich klar. Dieses ›Aha‹ ist ein Teil des Katapulteffekts. Zusätzlich löst sich auf einmal die Spannung der weit über die Grenzen des leichten Verstehens ausgedehnten Grammatik, denn hier wird sie endlich in dem So-Satz verankert. Die Lösung der syntaktischen Spannung ist also noch ein Teil des Katapulteffekts. Und zuletzt ist das letzte Bild im Gedicht selber ein Bild von Hineingerissenwerden, hineingesaugt durch die erhabene Faszination eines Rosenfensters in das Auge und die Vergessenheit und das Blut, das Gott ist. Mit anderen Worten wird unser Erlebnis von Rilkes Fensterrose durch die bewußte Eigenschaft dieses Sonetts strukturiert, daß es die Frage nach seinem eigenen Thema (das ›Worum geht es?‹) aufzeigt, ja daß es von dieser Frage angetrieben wird. Die Seitwärtsbewegung vom Titel weg ist weit hergeholt und desorientierend, doch in einer gewollten und höchst kontrollierten Weise. Das echte Thema von Die Fensterrose wird so lange wie möglich zurückgehalten, oder besser gesagt: immer wieder zurückgebeugt, die Spannung immer weiter aufwickelnd, sobald sie im Begriff scheint, sich aufzulösen. Zugleich spiegelt das Gedicht in seinem Inhalt den Eindruck, daß seine Struktur uns kontrolliert. Deutete der Titel an, daß dieses Gedicht eine Fensterrose beschreibt, dann wäre das ein Versprechen, das es absolut nicht einhält. Doch nachdem wir das ganze Sonett gelesen haben, können wir sehr gut sagen, daß es das Erlebnis des Anschauens eines Rosenfensters evoziert. Das ist etwas völlig Anderes als eine Beschreibung des Objekts. Sobald das Fenster, das wir implizit untersuchen, sich als ein immenses Auge entpuppt, das uns untersucht, läßt das Gedicht diese Einsicht ineinsfallen mit der Erkenntnis, daß es am Ende doch tatsächlich von Rosenfenstern handelt.16 218  |  william waters 

Früher habe ich vorgeschlagen, das Gedicht Die Fensterrose generiere seinen Effekt dadurch, daß das Bild der nicht-anwesenden Katzen dem der anwesenden Fensterrose konsequent subordiniert wird, auch wenn – und eben weil – diese Subordination erst am Ende des Gedichts sichtbar wird. Es ist jetzt aber an der Zeit, zu bemerken, daß dieser Vorschlag, der ja auch nur heuristisch gemeint war, zwei wichtige Tatsachen am Gedicht verschweigen mußte. Erstens: das Gleichnis der Raubkatzen fängt erst in Vers 3 an. Die ersten zwei Verse des Sonetts gehören dem Bild des Gleichnisses, sind aber syntaktisch unabhängig. Diese undichte Stelle im Gleichnis muß die These logisch stützen, die Katzen seien dann doch vorhanden und nicht, in Kontrast zu dem, was ich früher gesagt habe, eine Abweichung vom eigentlichen Thema des Gedichts. Der zweite Hinweis, daß es in dem Gedicht vielleicht doch um Katzen geht, erscheint in seinem Übergang zur Vergangenheitsform in den letzten drei Zeilen. Wie mit dem Wort »einstmals« eindeutig gemacht wird, wird anerkannt, daß die Fensterrosen nicht mehr das tun, was wir sie tun gesehen haben. Wie die Kathedralen im allgemeinen für Rilke, sind sie Teil eines großen, stillgelegten Mechanismus des Heiligen. Dies ist eine verblüffende Wendung. Wenn die Katzen wirklich sind, und wenn die Macht der Fensterrose deshalb bloß imaginiert wird; wenn das Gedicht uns also jetzt vor einen Käfig stellt, ›da drin‹ schauend, und nur assoziativ daran denkt, was die Kathedralengänger einer fernen Vergangenheit gefühlt haben, – wie vereinbaren wir das mit dem dramatischen Erlebnis, das dem Leser dieses Sonetts zuteil wird? Das Gedicht wendet alle seine gesammelten architektonischen Kräfte daran, den Leser um die Kurve in den Versen 11–12 zu schleudern. Die Lösung der ungeheuren grammatischen Spannung führt sozusagen an uns das aus, was der Fensterrose zugeschrieben wird. Sodann ist zu beachten, daß der Titel Die Fensterrose lautet – und nicht etwa Die Katzen. Ich schätze, es sind nicht viele Leser, die sich an dieses Gedicht erinnern als ein Gedicht über etwas, das nicht mehr geschieht. Stattdessen ist alles darauf ausgerichtet, daß es jetzt und uns geschieht. Oder wenigstens, daß wir etwas erleben, wie das Gesehenwerden und Beherrschtwerden von der dionysischen Animalität dieses geometrischen Kunstwerks aus Glas und Stein. Fragen nach Gott in den ›Neuen Gedichten‹  219

Letzten Endes hat jedes der zwei Bilder Priorität. Logisch ist es ein Gedicht über die Faszination des Tierischen, das uns gefährlich nah ist, das uns aber vernichtend übersteigt und das adäquateste moderne Äquivalent ist für die Macht des Göttlichen, die die mittelalterliche Welt erlebt hat. Doch in der Zeit gelesen handelt das vom ersten bis zum letzten Wort erlebte Gedicht von der vernichtenden Wildheit der Kunst und Gottes, die wir verloren haben – aber als verloren, als Verlust, immer noch erleben können. Manchmal wird Rilkes eigene Kunst in den Neuen Gedichten noch als eine Kunst des ›Seienden‹ beschrieben. Aber was dieser Dichter am tiefsten an der Welt liebt ist ihre Weise, immer wieder leer von sich selbst aufzutauchen, in Wiederspiegelungen, in absences, an Stellen, wo etwas gerade war (aber nicht mehr ist). Sofern ein Ding fort ist–wie das Haupt des berühmten Archaischen Torso Apollos – kommt der Strom seiner Präsenz ungehindert durch. Die sogenannten ›Dinggedichte‹ in Rilkes Neuen Gedichten stellen in meiner Sicht ihre Objekte dar, nicht als Wesen oder Essenz, sondern als Spiel der Beziehung von Vordergrund und Hintergrund, von Tenor und Vehicle (Bildspender und Bildempfänger), von dem, was noch da ist und was schon fort ist. Das wäre ein viel längeres Argument, das ich an anderer Stelle zum Teil schon vorgetragen habe;17 an dieser Stelle kann ich im Hinblick auf diese These nur auf Die Fensterrose hinweisen. Aber sie hat mit unserem Thema der perspektivischen Darstellung Gottes manches zu tun. Denn diese Instabilität des Blickes auf Gott, die leise Destabilisierung der Situationen durch interagierende Gesichtspunkte, die Faszination von denjenigen Konstellationen, in denen ein Wille für Gott und einen Menschen ausreicht, das alles trägt bewußt dazu bei, den Raum um Gott freizulassen. Was die Neuen Gedichte zu der Untersuchung von Rilkes Gottesverständnis beitragen können, ist nicht am wenigsten ihre sprachliche Architektur, die diese offene Räume kreiert. In seiner 1913 entworfenen, nie gehaltenen Rede über die Gegenliebe Gottes drückt Rilke seine Dankbarkeit dafür aus, daß Gott nicht auffindbar ist (SW VI, 1043 f.): »Ich begreife immer weniger, was eigentlich uns in der Liebe zu Gott aufhält und irre macht. Eine Zeit lang konnte man denken, daß es die Unsichtbarkeit sei, – aber gehen nicht seither alle unsere Erfahrungen dahin, daß die Gegenwart eines geliebten Gegenstandes zwar für den Beginn der Liebe 220  |  william waters 

hülfreich ist, ihrem späteren Großsein aber Kummer und Abbruch tut?« Rilke entdeckt, daß der heilige Aspekt der Welt in ihrem Werden liegt, in ihrer nicht-Koinzidenz mit sich selber, in der Tatsache, daß die Welt aus Perspektiven, Bewegungen, und Beziehungen gemacht ist, nicht aus Totalität. Die Neuen Gedichte sind tiefgreifend um die Inszenierung dieses Wissens bemüht.

Anmerkungen

ist die Untersuchung von Manfred Windfuhr: »Religiöse Produktivität« – die biblisch-jüdischen Motive in Rilkes Neuen Gedichten. Siehe auch: Ulrich Fülleborn: Rilkes Gebrauch der Bibel; und Manfred Egenhoff: Zur Textgrundlage der biblischen Gedichte in Rainer Maria Rilkes »Neuen Gedichten«. 2  Rainer Maria Rilke – Sidonie Nádherný von Borutin: Briefwechsel 1906– 1926, Brief vom 3. Nov. 1908, 68. 3  Abisag, David singt vor Saul, Der Auszug des verlorenen Sohnes, Pietà, L’ange du méridien, Die Kathedrale, zwei der Portal-Gedichte, Das Kapitäl, Sankt Sebastian, Der Engel, Auferstehung, Béguinage, Die Marien-Prozession, Klage um Jonathan, Samuels Erscheinung vor Saul, Absaloms Abfall, Esther, Der Stifter, Der aussätzige König, Der Reliquienschrein, Die ägyptische Maria, Kreuzigung, Der Auferstandene, Abendmahl, Vor-Ostern, San Marco, Die Berufung; siehe auch Das Einhorn, in dem ein Heiliger und sein Gebet erscheinen. 4  Andere Texte, in denen Gott erwähnt wird, sind Der Gefangene II und Der Alchimist. 5  Marianne Sievers (Die biblischen Motive in der Dichtung Rainer Maria Rilkes, 46) zählt 13 alttestamentarische und 9 neutestamentarische Gedichte in den Neuen Gedichten. 6  Der Begriff ›Garten‹ für Gethsemane fällt nur im Johannes-Evangelium. 7  Brigitte Bradley: R.M. Rilkes Neue Gedichte: Ihr zyklisches Gefüge, 46 8 Zitiert nach Martin Luther: Das Neue Testament in der Fassung des Bibeldrucks von 1545. 9  Émile Benveniste: Structure des relations de personne dans le verbe. Problèmes de linguistique générale I, 228. Auch Bernhard Blume (vgl. Jesus der Gottesleugner: Rilkes »Der Ölbaumgarten« und Jean Pauls »Rede des toten Christus«, 138) hatte bemerkt: »Für das ›Der Du nicht bist‹ von Rilkes Gedichte erscheint das Wort ›Gottesleugnung‹ fast schon zuviel«, aber bei Blume blieb die Verbindung dieser Einsicht mit der Anredeform aus. 1  Hilfreich

Fragen nach Gott in den ›Neuen Gedichten‹  221

Marianne Sievers (Die biblischen Motive in der Dichtung Rainer Maria Rilkes) identifiziert sechs Gedichte über Propheten: Josuas Landtag; Tröstung des Elia; Saul unter den Propheten; Samuels Erscheinung vor Saul; Ein Prophet; und Jeremia. 11 Quintilian: Institutio Oratoria 4.1.63–70. 12  Jer. 1,6. Die gantze Heilige Schrifft: Deudsch. Martin Luther, 1545. 13  Das Wort »siehe« übersetzt das Griechische i d 4 ou 2 (Lk 1,49), das – mit Akut statt Zirkumflex – als Adverb fungiert und nicht mehr als Imperativ (vgl. voilà; ecco; lo!); es ist also wenigstens im griechischen Original nicht als Anrede anzusehen. 14  Vgl. das Faksimile in: Rainer Maria Rilke–Gedichte aus den Jahren 1902 bis 1917. Taschenbuch-Ausgabe der 1931 als Privatdruck erschienenen Edition der Handschrift Rainer Maria Rilkes, 104 f. 15  Folgende Diskussion dieses Gedichts beruht z. T. auf William Waters: The Elusiveness of Things in Rilkés Dinggedich­te, bes. 328–331. 16  Wir werden vielleicht an Meister Eckharts Predigt Qui audit me (ME W1,142–151) erinnert, und es ist möglich, daß Rilke sich auch daran erinnert hat (ME W1,148): »Daz ouge, dâ inne ich got sihe, daz ist daz selbe ouge, dâ inne mich got sihet; mîn ouge und gotes ouge daz ist éin ouge und éin gesiht und éin benennen und éin minnen«. Nach Marianne Sievers (Die biblischen Motive in der Dichtung Rainer Maria Rilke, 29 f.) erwähnen Rilkes Briefe zweimal Meister Eckhart, nennen diese Predigt aber nicht spezifisch. 17  Vgl. William Waters: »New Poems«. 10 

222  |  william waters 

– Norbert Fischer –

»Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also.« Sämtliche Fundstellen zum Wort ›Gott‹ in ›Die Auf­zeichnungen des Malte Laurids Brigge‹ mit ­kurzem ­Kontext und erläuternden Anmerkungen

Das Wort ›Gott‹ kommt in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge oft unscheinbar vor, aber in großer Zahl und teilweise mit hohem Ernst, der sich zum Ende des Romans hin steigert.1 Die 67. Aufzeichnung hebt das Gewicht von Maltes Beziehung zu ›Gott‹ deutlich hervor (620): Wir aber, die wir uns Gott vorgenommen haben, wir können nicht fertig werden. Wir rücken unsere Natur hinaus, wir brauchen noch Zeit. Was ist uns ein Jahr? Was sind alle? Noch eh wir Gott angefangen haben, beten wir schon zu ihm: laß uns die Nacht überstehen. Und dann das Kranksein. Und dann die Liebe.

Diese Passage stellt die Gottesfrage vor den Hintergrund von Leiden, Liebe und Tod (SO I 19). Sie weist auf das berühmte Widmungsgedicht zum Malte,2 explizit als Frage derer, die sich »Gott vorgenommen haben« und »nicht fertig werden können«. Manche Stellen, in denen ›Gott‹ nebenbei irgendwie erwähnt wird und nur beiläufig vorkommt, scheinen zur unauthentischen Art des Sprechens im Alltag zu gehören, bei der die Sprechenden nicht bedenken und oft nicht einmal zu bemerken scheinen, was sie mit diesem Wort sagen. Dagegen könnte – in abgewandeltem Sinn – darauf hingewiesen werden, daß die Sprache ihre eigene Wahrheit hat – wie Martin Heidegger (in anderem Zusammenhang) sagt: »Die Sprache spricht«.3 Überdies könnte man bei einem Dichter vom Rang Rilkes vermuten, daß er die im Wort ›Gott‹ enthaltene Kraft, die ihm auch in beiläufigen Erwähnungen zukommt, gespürt und es bewußt eingesetzt hat, um den Lesern eine andere   |  223

Sphäre zu eröffnen und sie zum Denken anzuregen. Womöglich hat Rilke selbst in verdeckten und schwachen Nennungen ›Gottes‹ eine wirkliche Weise seiner Vergegenwärtigung gesehen, sofern Gott sich uns nicht aufdrängt, zumal seine unmittelbare Präsenz uns den Atem zum Leben nähme, das uns gegeben und aufgegeben ist. Im Umkehrschluß zu Stefan Georges Vers (Gedichte 162): »Kein ding sei wo das wort gebricht«, wäre zu sagen, daß Worte (auch wo sie nicht zur eindeutigen Bezeichnung von ›Dingen‹ dienen) zumindest eine Weise unbestimmter Vergegenwärtigung von etwas ›Gemeintem‹ sind. Wo Worte wie ›Gott‹ (oder wie ›Leiden‹ , ›Liebe‹ und ›Tod‹) genannt werden, ist die in ihnen gemeinte ›Wirklichkeit‹ (Georges ›Ding‹) doch angesprochen und gleichsam herbeigerufen. Nur so läßt sich auch das Pathos des ›Atheisten‹ Nietzsche verstehen, der trotz Leugnung des Daseins Gottes in die Gottesfrage verstrickt bleibt und am Fehlen ›Gottes‹ leidet. Nietzsche, der den Anspruch erhoben hatte, »den ganzen Horizont wegzuwischen« (FW 125; KSA 3,481), bleibt denkend und fühlend dennoch im Horizont des Unendlichen (vgl. FW 124; KSA 3,480). So bleibt er der Sehnsucht nach Gott und Göttlichem verhaftet, wie der folgende Text zeigt:4 Liebeserklärung (bei der aber der Dichter in eine Grube fiel – ). Oh Wunder! Fliegt er noch? Er steigt empor, und seine Flügel ruhn? Was hebt und trägt ihn doch? Was ist ihm Ziel und Zug und Zügel nun? Gleich Stern und Ewigkeit Lebt er in Höhn jetzt, die das Leben flieht, Mitleidig selbst dem Neid –: Und hoch flog, wer ihn auch nur schweben sieht! Oh Vogel Albatross! Zur Höhe treibt’s mit ew’gem Triebe mich. Ich dachte dein: da floss Mir Thrän’ um Thräne, – ja, ich liebe dich!

224  |  norbert fischer 

Im folgenden Hauptteil werden die Fundorte des Wortes ›Gott‹ in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge in drei Gruppen aufgeführt: die erste Gruppe enthält die Stellen, in denen das Wort Gott‹ eher nur nebenbei vorkommt; die zweite Gruppe blickt auf mittelstarke Erwähnungen, die dritte Gruppe faßt das explizite, aussagekräftige Vorkommen des Wortes ›Gott‹ von der Art des vorangestellten Zitats aus der 67. Aufzeichnung genauer ins Auge. Ein vorläufiges Resümee zur Bedeutung Gottes in diesem opus magnum Rilkes schließt die Untersuchung ab.5 1. Hinführung zu Rilkes Malte-Roman und zur Methode der Untersuchung der Gottesfrage Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge werden das »Werk« genannt, »das sich als erstes innerhalb der deutschen Literatur radikal vom realistischen Roman des 19. Jh.s unterscheidet«, da es weder eine »kontinuierliche Handlung […] noch einen Erzähler im herkömmlichen Sinne« kenne. Gewiß ist: »Seine äußere Form bildet das fingierte Tagebuch einer ›erfundenen Figur‹.«6 Rilke hat dieses Werk wohl am 8. Februar 1904 in Rom begonnen; es spiegelt Motive des ersten Pariser Aufenthalts (1902/03), zudem spielen die Rußlandreisen und der Aufenthalt in Skandinavien samt der Lektüre skandinavischer Autoren eine wichtige Rolle.7 August Stahl bemerkt zu den Aufzeichnungen (KA 3,878): »Rilke hat von Anfang an und zeit seines Lebens den Malte für eines seiner bedeutenden Werke gehalten, für ein ›opus ma­gnum‹.« Stahl zitiert, nachdem er die von Ulrich Fülleborn formulierte Erwartung genannt hatte, »daß ›Sinnleere in Sinnfülle‹ umschlagen würde«, aus Rilkes beklemmendem Brief an Karl von der Heydt (12.12.1908; KA 3,880 f.): »Freuen Sie sich nicht zu sehr auf ihn; Sie wissen, er geht an eben dieser ›Hölle‹ zugrunde und endgültig, ohne Pardon noch Auferstehung. Gott helfe ihm.« Aber er nennt auch die »doppelte Deutung« des Malte, die Rilke im Brief an Lotte Heppner (vom 8.11.1915) nachträglich gegeben hat, die – wie Stahl sagt – »in Rilkes entschiedenster Hoffnung« gründe, »daß die Erlösung nur über die Annahme des äußersten Leids zu erreichen sei«: Rilkes Selbstdeutung weist also, wie Stahl erwähnt, auf die »Bildlichkeit der christlichen Eschatologie«.8 »Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so b i s t du also.«  |  225

Die folgende Untersuchung geht von dem äußerlich faßbaren Befund aus: das Wort ›Gott‹ wird in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge anhand seines tatsächlichen – gelegentlich auch unscheinbaren und eher beiläufigen – Auftretens im Text des Romans ins Auge gefaßt. Dies geschieht in der Annahme, daß der ›äußere‹ Sprachgebrauch auf die ›innere‹ Beziehung des Autors zu ›Gott‹ als dem transzendenten ›Innersten‹ verweist (vgl. dazu conf. 3,11). 2. Überblick über alle Stellen im Malte Laurids Brigge mit Erwähnung des Wortes ›Gott‹ Schon daß es in unserer Sprache das Wort ›Gott‹ gibt, ist eine eigens zu bedenkende Tatsache,9 die aber (da Gott und Göttliches in der Welt nicht unmittelbar erscheinen) Zweifler ermuntern kann, den Sinn solcher Worte zu hinterfragen und das Arsenal der Religionskritik zu aktivieren.10 Wenn wir aufgefordert wären, gemäß sprachkonstruktivistischen Kriterien zu sagen, was es mit ›Leiden‹, Liebe‹ und ›Tod‹ auf sich hat – oder mit ›ich‹ sagender ›Person‹, mit ›Verantwortung‹ oder ›Vertrauen‹ (um einige Beispiele willkürlich herauszugreifen) – gerieten wir beim Versuch, unsere Worte durch »Zeigehandlungsschemata« zu erläutern (LP 62 f.), in große Verlegenheit. Sie könnte schließlich darauf hinauslaufen, nicht nur ›Gott‹, sondern auch die anderen genannten Beispiele für bloße Fiktionen zu halten und nur solches für wirklich anzuerkennen, auf das in einer ›deiktischen Geste‹ sinnlich wahr­nehmbar mit dem Finger ›gezeigt‹ werden kann. Daß ›Gott‹ nicht unmittelbar in der Welt begegnet und durch ›Begriffe‹ (sofern diese eingrenzenden Charakter haben und sich also immer auf Endliches beziehen) nicht erfaßt werden kann, haben schon die Alten erklärt, zum Beispiel Platon (vgl. Politeia 509b), der von der ›Idee des Guten‹ (ἰδέα τoυ ἀγαϑoῦ) sagt, sie sei ›jenseits der Seiendheit‹ (ἐπέκεινα τῆϛ oὐσίαϛ). Platon behauptet indessen nicht die Nichtexistenz des Göttlichen, sondern seine Unfaßbarkeit. Darin sind ihm die großen Denker gefolgt, genannt seien hier nur Augustinus und Immanuel Kant: sie sind ihm gefolgt und haben dennoch ihre Fragen um ›Gott‹ und die ›Seele‹ zentriert.11 Rilke hatte, als er 1904 mit dem Malte-Roman begann, Das Stunden-Buch 226  |  norbert fischer 

schon vollendet, das 1905 publiziert wurde und wie Augustins Confessiones im Stil der ›Anrede Gottes‹ verfaßt ist.12 a) Beiläufige Erwähnungen des Wortes ›Gott‹ in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge ›Gott‹ scheint in Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge über weite Strecken keine beachtenswerte Rolle zu spielen und ist bisher kaum als entscheidendes Thema gesehen worden. Wie avisiert werden hier zunächst beiläufige Erwähnungen ›Gottes‹ in den Blick genommen; danach folgen Stellen von mittlerer Bedeutung für die Sache; zuletzt werden Texte betrachtet, deren Gewicht der Gottesfrage einen überragenden Rang im Sinngebäude des Romans zuweist. Zuvor sei erwähnt, daß die Einordnung der Fundorte in eine der drei Gruppen nicht immer eindeutig vorgenommen werden konnte, sondern eine Sache der Interpretation bleibt.13 Das Wort ›Gott‹ taucht im Malte oft alltagsprachlich auf, wie aus Versehen. Die erste Erwähnung spricht davon, wie »in Gottes Hôtel« gestorben wird (458) – also von etwas, das im alltäglichen Leben nicht alltäglich ist, aber trotzdem selten beachtet und meistens ignoriert wird. Schon die zweite Stelle, bei der das Wort ›Gott‹ wie zufällig vorangestellt ist und den folgenden Satz beiläufig einzuleiten scheint (459: »Gott, das ist alles da.«), erhält durch den Kontext eine tiefere Bedeutung, sofern die gesehene Wirklichkeit des faktischen Sterbens im zitierten Satz auf ›Gott‹ bezogen wird – und zwar als eine Wirklichkeit, die um den Unterschied zwischen dem je ›eigenen Tod‹ und dem massenhaft, ›fabrikmäßig ausgeführten‹ Tod kreist, wie der Tod nach der zu vermutenden Meinung Maltes eigentlich nicht sein sollte.14 Die Stelle lautet (459): Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich doch leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine »Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so b i s t du also.«  |  227

Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben. Gott, das ist alles da. Man kommt, man findet ein Leben, fertig, man hat es nur anzuziehen.

In der scheinbaren Unbedachtheit des gewöhnlichen Sprechens in der Alltagssprache kommt das Wort ›Gott‹ an zahlreichen – hier nicht alle explizit erwähnten – Stellen vor (z. B. 483): Aber es ist anders gekommen, Gott wird wissen, warum. Meine alten Möbel faulen in einer Scheune, in die ich sie habe stellen dürfen, und ich selbst, ja, mein Gott, ich habe kein Dach über mir, und es regnet mir in die Augen.

Die erste Nennung (»Gott wird wissen, warum«) sagt gewöhnlich nur: ›Niemand weiß, warum‹, was sie belanglos zu machen scheint (vgl. ähnlich: 480, 509, 534, 553, 573, 586, 593, 627, 657). Die Fortsetzung geht dann zur (beiläufigen, scheinbar unwichtigen) Anrede (»mein Gott«) über (vgl. 505, 530, 597). Das alltagssprachliche »mein Gott« kommt aber, wie erwähnt, offenbar auch in gezielterem Wortgebrauch vor (vgl. 505, 509, 530, 571, 602, 603, 615, 630, 634, 663). Die genannte Passage verknüpft sie mit der anrührenden Klage, die den Sinn des Alltagswortes intensiviert und so verwandelt: »ich habe kein Dach über mir, und es regnet mir in die Augen.« In seiner existenziellen Lage scheint Malte sich so an ›Gott‹ als einzig möglichen Adressaten zu wenden – wie Augustinus im Kontext des Berichts vom Tod seines Jugendfreundes gesagt hatte, daß ›all unsere Hoffnung schwände, wenn wir nicht zu den Ohren Gottes hin weinen könnten‹.15 Das gedankenlos scheinende Dahersagen des Wortes ›Gott‹ an den genannten Stellen, wie es in der Alltagssprache vorkommt, erlangt indessen eine andere, eigens zu bedenkende Qualität, da es im Roman ähnlich viele Stellen gibt, in denen der Gebrauch des Wortes ›Gott‹ zwar ebenso harmlos daherkommt, aber doch stutzig macht (vgl. den folgenden Abschnitt mit Erwähnungen des Wortes ›Gott‹ von mittlerem Gewicht), oder sogar mit großem Nachdruck ins Spiel gebracht wird und von genau Lesenden höchste Aufmerksamkeit fordert, weil in diesen Erwähnungen die Sinnspitze des Romans mit im Spiel ist. Die schwächer scheinenden Erwähnungen ›Gottes‹ gewinnen, sofern die Intention des Romans mit der Gottes228  |  norbert fischer 

frage und der Beziehung Maltes zu Gott zusammenhängt (vgl. die anfangs zitierte Passage aus 620), die Bedeutung einer geplanten, gleichsam pädagogischen Hinführung des Lesers zur Hauptfrage des Romans. Rilkes Beginn mit dem Stunden-Buch hatte seine Nähe zu Gott schon klar angezeigt. Dieser Beginn bedurfte aber – da er ›seinen Sinn wahr vor Gott wollte‹ (St-B I; KA 1,163) – der Bewährung durch die Alltagswirklichkeit, die der Malte-Roman in oftmals niederdrückender Weise vergegenwärtigt. b) Stellen mit dem Gebrauch des Wortes ›Gott‹ von mittlerem Gewicht Eine Aufzeichnung im zweiten Bändchen des Malte beginnt mit dem Hinweis (571): »Seitdem habe ich viel über die Todesfurcht nachgedacht, nicht ohne gewisse eigene Erfahrungen dabei zu berücksichtigen.« Solche ›Furcht‹ habe ihn »oft ganz ohne Grund« – aber auch beim Tod von Tieren (seines Hundes, von Fliegen) – überfallen; Malte schreibt von seiner ›Todesangst‹, in der er sich an sein Lebendigsein klammerte; er sucht eine ›letzte Hoffnung‹, redet von der »plötzlichen Armut des Sterbens« und seiner ›Einsamkeit‹. In dieser Situation spricht er in einer Weise, in der die Gottverlassenheit der Worte Jesu am Kreuz nachklingt (vgl. Mk 15,34; Mt 27,46): Mein Gott, mein Gott, wenn mir noch solche Nächte bevorstehen, laß mir doch wenigstens einen von den Gedanken, die ich zuweilen denken konnte.

Im Kontext geht es nicht direkt und ausdrücklich um Maltes ›Gottverlassenheit‹, aber doch um das ›Verlassen‹ und Verlassensein von Menschen, das für Rilke große Bedeutung hatte (571): Die Einsamkeit, die ich über mich gebracht hatte und zu deren Größe mein Herz in keinem Verhältnis mehr stand. Menschen fielen mir ein, von denen ich einmal fortgegangen war, und ich begriff nicht, wie man Menschen verlassen konnte.

Rilke, dem das ›Verlassen von Menschen‹ aus seiner eigenen Lebensgeschichte nicht unbekannt war, betont im Blick auf Malte, daß dieser nicht begriff, »wie man Menschen verlassen konnte«. Solche »Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so b i s t du also.«  |  229

Ratlosigkeit begegnet ihm nun auch im Blick auf den »schweren Tod« des Kammerherrn Brigge, den er auf Gott (als Letztverantwortlichen für alles Geschehen) bezieht; und er erwähnt, daß auch der Pfarrer, der das öffentlich eingestanden habe, »Gott nicht begreifen« konnte (463): Und was sie alle dachten und beteten, das sagte der Pfarrer laut von der Kanzel herab, denn auch er hatte keine Nächte mehr und konnte Gott nicht begreifen.

Obwohl Gott in der Welt nicht unmittelbar begegnet (sondern – wie es in einem scholastischen Axiom heißt: ›mediante natura‹) und mit körperlichen Sinnen nicht wahrzunehmen ist, schreibt Malte von zwei (im Pariser Leichenschauhaus, der ›Morgue‹, abgenommenen, vgl. KA 3,936) Masken von Toten, die der Mouleur, »an dem ich jeden Tag vorüberkomme, […] neben seiner Tür ausgehängt« hatte (vgl. 507 f.). Zur zweiten Maske heißt es (508): Und darunter sein wissendes Gesicht. Diesen harten Knoten aus fest zusammengezogenen Sinnen. Diese unerbittliche Selbstverdichtung fortwährend ausdampfen wollender Musik. Das Antlitz dessen, dem ein Gott das Gehör verschlossen hat, damit es keine Klänge gäbe, außer seinen.

Malte sagt damit indirekt, daß von ›Göttlichem‹ wirklich »Klänge« ausgehen, deren Nichthören eine Folge unserer minderen Art des Hörens ist, die sich nur auf Äußeres richtet. Die Wirkung dieser von ›Gott‹ ausgehenden Klänge ist die Erweckung der Menschen, die diesen Klang hören, zur Hervorbringung von Musik. Der Hinweis auf »Beethovens Taubheit« (KA 3,937) ist ein treffliches Beispiel (auch im Blick auf dessen Totenmaske), bleibt aber Äußerem verhaftet. Das Hören solcher inneren Klänge bedarf nach Malte einer Weltabgewandtheit, Entsagung und Askese, die er als Voraussetzung für die Möglichkeit des Hörens der Stimme Gottes versteht. Diesem Ruf spricht Malte hier – in Entsprechung zu biblischen Berufungsgeschichten (vgl. bes. 1 Samuel 3; aber auch Confessiones 10,38) – den Rang einer ›Berufung durch Gott‹ zu (511): Bitte keinen, daß er von dir spräche, nicht einmal verächtlich. Und wenn die Zeit geht und du merkst, wie dein Name herumkommt 230  |  norbert fischer 

unter den Leuten, nimm ihn nicht ernster als alles, was du in ihrem Munde findest. Denk: er ist schlecht geworden, und tu ihn ab. Nimm einen andern an, irgendeinen, damit Gott dich rufen kann in der Nacht. Und verbirg ihn vor allen.

Die folgende Stelle ist von scharfen Kontrasten bestimmt, einerseits der konventionsbestimmten Haltung der Eltern (Maltes oder Rilkes), andererseits von der authentischen ›Entwickelung‹ des Erzählers, die er später (also nach der Zeit seiner Prägung durch die Eltern)16 »auf Gott« bezogen habe – »und zwar mit solcher Heftigkeit, daß er [scil. Gott] sich bildete und zersprang, fast in demselben Augenblick.« Diese ›Entwickelung‹ wird als reines, unbeeinflußtes Geschehen der inneren Natur dargestellt, die für Malte zur ›Bildung‹ und zum ›Zerspringen‹ seiner Beziehung zu Gott führt, also in eine existenziell kritische Situation, die das Herz ruhelos macht (531 f.): *(Was übrigens meinen Vater betraf, so war seine Haltung Gott gegenüber vollkommen korrekt und von tadelloser Höflichkeit. In der Kirche schien es mir manchmal, als wäre er geradezu Jägermeister bei Gott, wenn er dastand und abwartete und sich verneigte. Maman dagegen erschien es fast verletzend, das jemand zu Gott in einem höflichen Verhältnis stehen konnte. Wäre sie in eine Religion mit deutlichen und ausführlichen Gebräuchen geraten, es wäre eine Seligkeit für sie gewesen, stundenlang zu knien und sich hinzuwerfen und sich recht mit dem großen Kreuz zu gebärden vor der Brust und um die Schultern herum. Sie lehrte mich nicht eigentlich beten, aber es war ihr eine Beruhigung, daß ich gerne kniete und die Hände bald gekrümmt und bald aufrecht faltete, wie es mir gerade ausdrucksvoller schien. Ziemlich in Ruhe gelassen, machte ich frühzeitig eine Reihe von Entwickelungen durch, die ich erst viel später in einer Zeit der Verzweiflung auf Gott bezog, und zwar mit solcher Heftigkeit, daß er sich bildete und zersprang, fast in demselben Augenblick.

Trotz der heiklen Beziehung zu Gott, die einer langen ›Entwickelung‹ bedurft hatte, bevor er sie als solche bemerkte und die er »erst viel später in einer Zeit der Verzweiflung auf Gott bezog«, sieht er im Rückblick, wie heftig er sie ersehnt hatte und wie verzweifelt er nun nach ihr fragt. Dabei bemerkt er als zwiespältig an Gott, daß »Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so b i s t du also.«  |  231

er sich einerseits dem direkten Zugriff entzieht, andererseits aber, daß es für einzelne (hier für »Bettine«)17 von Hoffnung getragene Augenblicke gibt, in denen alles für alle für gut (»im Einklang mit Gott«) zu sein scheint (598): Du fühltest dich so recht im Einklang mit Gott, wenn du jeden Morgen eine neue Erde von ihm verlangtest, damit doch alle drankämen, die er gemacht hatte. Es kam dir armselig vor, sie zu schonen und auszubessern, du verbrauchtest sie und hieltest die Hände hin um immer noch Welt. Denn deine Liebe war allem gewachsen.18

In den Aufzeichnungen Maltes wird ›Gott‹ immer wieder als einer zur Sprache gebracht, der sich um die Menschenwelt sorgt, der den Weg der Menschen in Sorge begleitet – was ein altes Thema der Philosophie (z. B. Platon: Politikos 273d) und mehr noch des biblischen Glaubens ist. Auch das Oxymoron von äußerster Ferne und unfaßbarer Nähe Gottes, das Augustinus scharf hervorgehoben hatte (vgl. an. quant. 77: »quo nihil sit secretius, nihil praesentius, qui difficile invenitur, ubi sit, difficilius, ubi non sit«) scheint Rilkes Malte geläufig zu sein (611): Jakob von Cahors hatte widerrufen. Und man könnte meinen, Gott selber hätte seine Irrung erweisen wollen, da er so bald hernach jenen Sohn des Grafen von Ligny aufkommen ließ, der seine Mündigkeit auf Erden nur abzuwarten schien, um des Himmels seelische Sinnlichkeiten mannbar anzutreten. […] Und in der Tat, wieviel rechthaberische Verbissenheit gehörte dazu, sich vorzustellen, daß, während hier so dichte Wirrsal geschah, irgendwo Gesichter schon im Scheine Gottes lagen, an Engel zurückgelehnt und gestillt durch die unausschöpfliche Aussicht auf ihn.19

Scharf betont Malte vor allem die ›Ferne Gottes‹ und bestreitet ausdrücklich, daß »wir einen Gott haben« (wobei solches ›Haben‹ vielleicht der tiefste Wunsch aller Menschen wäre) – wenn Malte auch nicht ohne Hoffnung ist, daß die Wirklichkeit Gottes einst noch zutage treten wird. Er charakterisiert die Situation der Menschen also in einer Weise, die sich die Wahrheit eines eschatologischen Vorbehalts im ›Schon‹ und ›Noch nicht‹ eingesteht (617):

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*(Laßt uns doch aufrichtig sein, wir haben kein Theater, so wenig wir einen Gott haben: dazu gehört Gemeinsamkeit. Jeder hat seine besonderen Einfalle und Befürchtungen, und er läßt den andern so viel davon sehen, als ihm nutzt und paßt. Wir verdünnen fortwährend unser Verstehen, damit es reichen soll, statt zu schreien nach der Wand einer gemeinsamen Not, hinter der das Unbegreifliche Zeit hat, sich zu sammeln und anzuspannen.)

Ein wichtiges Thema Maltes ist das Ringen um den Sinn von ›Liebe‹, die – wie Rilke in den Sonetten an Orpheus sagt (I 19) – ›nicht gelernt‹ ist und im folgenden Abschnitt mit expliziten und aussagekräftigen Erwähnungen ›Gottes‹ noch eine Rolle spielen wird. Solange sie nicht gelernt ist, leben vor allem – wie Malte schreibt – »die Geliebten« schlecht […] und in Gefahr«, sofern sie als Ziel der Liebe nicht selbst tätig sind. Malte geht es darum, das Geliebtwerden zu überstehen, selbst zum Liebenden zu werden und – wie noch zu sehen sein wird – Andere nicht zu einem ›Gegenstand‹ der Liebe herabzuwürdigen. Sofern ἔρωϛ der Bedürftigkeit entspringt (Platon: Symposion 203b; dort sind πόρoϛ und πενία die Eltern des ἔρωϛ), sind Geliebte nur das gefundene Fressen, das die Liebenden sich einverleiben. Rilke arbeitet in den Aufzeichnungen des Malte am Gedanken der nicht-begierigen Liebe, von der Augustinus spricht und von der – im Anschluß an Augustinus – Heidegger später gesprochen hat20. Zunächst sagt er (618): Schlecht leben die Geliebten und in Gefahr. Ach, daß sie sich überstünden und Liebende würden. Um die Liebenden ist lauter Sicherheit. Niemand verdächtigt sie mehr, und sie selbst sind nicht imstande, sich zu verraten. In ihnen ist das Geheimnis heil geworden, sie schreien es im Ganzen aus wie Nachtigallen, es hat keine Teile. Sie klagen um einen; aber die ganze Natur stimmt in sie ein: es ist die Klage um einen Ewigen. Sie stürzen sich dem Verlorenen nach, aber schon mit den ersten Schritten überholen sie ihn, und vor ihnen ist nur noch Gott.

Als Kennzeichen wahrer Liebe kann gelten, daß Geliebte sie nicht zu fürchten brauchen (622 f.): Er kennt auf einmal dieses entschlossene Herz, das bereit war, die ganze Liebe zu leisten bis ans Ende. Es wundert ihn nicht, daß man »Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so b i s t du also.«  |  233

es verkannte; daß man in dieser überaus künftigen Liebenden nur das Übermaß sah, nicht die neue Maßeinheit von Liebe und Herzleid. Daß man die Inschrift ihres Daseins auslegte wie sie damals gerade glaubhaft war, daß man ihr endlich den Tod derjenigen zuschrieb, die der Gott einzeln anreizt, aus sich hinauszulieben ohne Erwiderung. […] Über dem Schicksal sang sie den firnen Lieblinginnen ihr Brautlied; erhöhte ihnen die Hochzeit; übertrieb ihnen den nahen Gemahl, damit sie sich zusammennähmen für ihn wie für einen Gott und auch noch seine Herrlichkeit überstünden.«

c) Bewußt gesetzte, aussagekräftige Erwähnungen des Wortes ›Gott‹ im Malte Laurids Brigge Wie Augustinus im elften Buch der Confessiones – gleichsam als ›Digression‹ im Stile Platons (vgl. Theaitetos 172c–177c) – die Frage nach der Zeit als selbständige Untersuchung so eingefügt hat, daß Heidegger sie später als eine der drei ›bahnbrechenden Besinnungen auf das Wesen der Zeit‹ bezeichnen konnte,21 so enthalten auch Maltes Aufzeichnungen eine ›Digression‹, die (wie die Abhandlung im elften Buch der Confessiones) das Wesen der Zeit zum Thema hat.22 Das erste der ›Auftaktgedichte‹, die Rilke 1920 mit dem Titel Aus dem Nachlaß des Grafen C.W. verfaßt hat, atmet diesen Augustinischen Geist (KA 2,177 f.).23 Das Gedicht lautet: Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben! Sie zu halten, wäre das Problem. Denn, wen ängstigts nicht: wo ist ein Bleiben, wo ein endlich Sein in alledem? – Sieh, der Tag verlangsamt sich, entgegen jenem Raum, der ihn nach Abend nimmt: Aufstehn wurde Stehn, und Stehn wird Legen, und das willig Lie­gende verschwimmt – Berge ruhn, von Sternen überprächtigt; – aber auch in ihnen flim­mert Zeit. Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt obdachlos die Unvergäng­lichkeit. 234  |  norbert fischer 

Dieses aus der Alltagssprache herauswachsende, improvisiert wirkende Gedicht, das Rilkes Sehnsucht nach einer ›Entflüchtigung des Zeitlichen‹ ausspricht,24 greift die Zeitproblematik auf, die Nikolaj Kusmitschs Verhalten bestimmt und die am Ende zu dessen Katastrophe führt.25 Die Kusmitsch-Episode der Aufzeichnungen hat keine unmittelbare Beziehung zur Gottesfrage. Ausgangspunkt der Reflexionen ist jedoch die Feststellung (574): »Zeit war kostbar«, die zum Scheitern und schließlich zum Zusammenbruch Nikolaj Kusmitschs führt und die dem Anfang von Augustins Zeituntersuchung entspricht (conf. 11,2): »caro mihi valent stillae temporum.«26 Weil uns jeder Tropfen Zeit kostbar ist und sie uns doch zwischen den Fingern zerrinnt, sind wir durch die Zeiterfahrung unweigerlich auf eine Macht verwiesen, auf die wir nur hoffen können. Die Zeitbetrachtung verdeutlicht die Not des Zeitwesens, das der Mensch ist. Die Not lehrt ihn (ohne äußere Anleitung) zu beten, wie es Rilke, wie das Stunden-Buch zeigt, selbst gelernt hat. Dessen erstes Buch hat Rilke 1899 unter dem Titel Die Gebete verfaßt, obwohl (Maltes Bericht ist gewiß auf Rilke zu übertragen) seine Mutter ihn »nicht eigentlich beten« gelehrt hatte (531). Das ›wilde Herz‹ Rilkes spiegelt das ›cor inquietum‹ Augustins und ist wie letzteres – wenn auch »obdachlos« – auf die Ruhe in Gott ausgerichtet (conf. 1,1: »donec requiescat in te«). Auch Nikolaj Kusmitsch sucht und findet eine Art Ruhe – zunächst dadurch, daß er alle äußeren Aktivitäten einstellt (577): »Und seither lag Nikolaj Kusmitsch.« Er sucht aber nicht nur äußere Ruhe, sondern erfüllte Ruhe, »etwas Stabiles«; er findet sie »innerlich« schon in der Zeit durch das ›langsame Hersagen von Gedichten‹, »mit gleichmäßiger Betonung der Endreime« (577). Wie Malte etwas Stabiles sucht, hatte Augustinus seine Hoffnung auf Gott gerichtet, nicht um sich im Unendlichen ohne Form und Gestalt aufzulösen, sondern um Stand und Festigkeit für sich selbst zu gewinnen, in seiner ihm ›eigenen (endlichen) Form‹, gerettet durch die (unendliche) ›Wahrheit Gottes‹ (conf. 11,40): »et stabo atque solidabor in te, in forma mea, veritate tua«. Die Grundfrage des eigenen Lebens hat für Rilkes Malte mit Leiden, Liebe und Tod zu tun. Deswegen mag es kein Zufall sein, daß sich die hochwichtigen Passagen zu ›Gott‹ bald nach der Geschichte zur ›Zeitbank‹ Nikolaj »Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so b i s t du also.«  |  235

Kusmitschs häufen, in der er sich fragt, wie er Anderes (und »Stabiles«) wenig­stens gegen »einen Teil seiner lumpigen Sekunden umwechseln könne« (575). Schon in Aufzeichnung 14 hatte er sich um Selbstvergewisserung bemüht und kritisch gefragt, was mit ›Gott‹ gemeint sein könnte. Seine Antworten auf diese Fragen ermöglichen einerseits ›Glauben‹, betonen andererseits aber den Wagnischarakter des Glaubens (469 f.): Ist es möglich, daß es Leute giebt, welche ›Gott‹ sagen und meinen, das wäre etwas Gemeinsames? – Und sieh nur zwei Schulkinder: es kauft sich der eine ein Messer, und sein Nachbar kauft sich ein ganz gleiches am selben Tag. Und sie zeigen einander nach einer Woche die beiden Messer, und es ergiebt sich, das sie sich nur noch ganz entfernt ähnlich sehen, – so verschieden haben sie sich in verschiedenen Händen entwickelt. (Ja, sagt des einen Mutter dazu: wenn ihr auch gleich immer alles abnutzen müßt. – ) Ach so: Ist es möglich, zu glauben, man könne einen Gott haben, ohne ihn zu gebrauchen? Ja, es ist möglich.27

Im Anschluß an die Kusmitsch-Geschichte nehmen die Passagen zu, die ›Gott‹ in wesentlichem Sinn auf das Leben Maltes beziehen und ihm so eine zentrale Stellung im Roman zusprechen. Malte wehrt sich (wie Rilke) gegen jede Art von ›Mittlern‹, steht aber selbst in tiefreichender Beziehung zu ›Gott‹ und sieht in ihr den Ursprung der eigentlichen Aufgabe des menschlichen Lebens, die sich jedem Einzelnen stellt und wesentlich auf das weist, was mit Liebe gemeint ist. Als aufgegebenes und asymptotisch zu erstrebendes Ziel nennt Rilke das »Heiligsein« (583): Wo aber einer ist, der sich zusammennimmt, ein Einsamer etwa, der so recht rund auf sich beruhen wollte Tag und Nacht, da fordert er geradezu den Widerspruch, den Hohn, den Haß der entarteten Geräte heraus, die, in ihrem argen Gewissen, nicht mehr vertragen können, daß etwas sich zusammenhält und nach seinem Sinne strebt. Da verbinden sie sich, um ihn zu stören, zu schrecken, zu beirren, und wissen, daß sie es können. Da fangen sie, einander zuzwinkernd, die Verführung an, die dann ins Unermessene weiter wächst und alle Wesen und Gott selber hinreißt gegen den Einen, der vielleicht übersteht: den Heiligen. 236  |  norbert fischer 

Das Streben nach Heiligkeit mag für Rilke einen weiteren Sinn haben als den »moralischen«, wie Kant ihn gesehen und ausgelegt hat.28 Aus Rilkes Gedanken zur ›Liebe‹ folgt indessen doch seine prinzipielle Zustimmung zu einem (verstanden im Sinne Kants) ›reinen‹ Moralprinzip. ›Leiden‹ und ›Arbeit‹ versteht Rilke wie Augustinus (vgl. conf. 10,39: »dolor et labor«) als konstitutive Ingredienzien des menschlichen Lebens, in dem ›Heiligkeit‹ nur in einem unendlichen Progressus erstrebt, niemals in Vollendung aus eigener Kraft erreicht werden kann (584): Es gab Zeiten, da ich diese Bilder für veraltet hielt. Nicht, als ob ich an ihnen zweifelte. Ich konnte mir denken, daß dies den Heiligen geschah, damals, den eifernden Voreiligen, die gleich mit Gott anfangen wollten um jeden Preis. Wir muten uns dies nicht mehr zu. Wir ahnen, daß er zu schwer ist für uns, daß wir ihn hinausschieben müssen, um langsam die lange Arbeit zu tun, die uns von ihm trennt. Nun aber weiß ich, daß diese Arbeit genau so bestritten ist wie das Heiligsein; daß dies da um jeden entsteht, der um ihretwillen einsam ist, wie es sich bildete um die Einsamen Gottes in ihren Höhlen und leeren Herbergen, einst.

Die »Heiligen« nennt Malte die »eifernden Voreiligen, die gleich mit Gott anfangen wollten um jeden Preis« – woraus entnommen werden kann, daß Malte das Heiligsein als ›Ideal‹ vorstellt, das allerdings »zu schwer ist für uns«, aber dennoch als Ideal gültig bleibt und anerkannt wird. Heiligsein wird als die uns ›mögliche Annäherung an Gott‹ gedacht (mit Platon: ὁμoίωσιϛ ϑεῷ κατὰ τo δυνατόν, wobei Gott als der ›allein Heilige‹ gedacht wird; vgl. Theaitetos 175b/c). Es ist uns als Aufgabe auferlegt, wie es Kant in analoger Weise gesagt hat. Kant nennt »Heilig­keit« eine »Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt in keinem Zeitpunkte seines Daseins fähig ist«, die aber »in einem ins Unendliche gehenden Progressus zu jener völligen Angemessenheit« erstrebt werden soll, da sie »das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht« (KpV A 58). Das Ziel des ›Heiligseins‹ stellt uns auch nach Malte in die Beziehung zu Gott, da es unser Ziel ist, »langsam die lange Arbeit zu tun, die uns von ihm trennt« und »diese Arbeit [der Annäherung an Gott] genau so bestritten ist wie das Heiligsein«.29 »Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so b i s t du also.«  |  237

Trotz der Ferne und Übergröße Gottes (vgl. noch einmal Augustinus an. quant. 77: »quo nihil sit secretius, nihil praesentius«) sieht Malte sich auf Gott verwiesen und wehrt dabei mögliche Hindernisse des Gottesglaubens ab; in höchster Reflektiertheit erwähnt er sogar – auf Spuren Kants (z. B. KrV B XXX und KpV A 265) – die Untunlichkeit jedes ›Wissens‹ von Gott (602): Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also. Es giebt Beweise für deine Existenz. Ich habe sie alle vergessen und habe keinen je verlangt, denn welche ungeheuere Verpflichtung läge in deiner Gewißheit. Und doch, nun wird mirs gezeigt. Dieses ist dein Geschmack, hier hast du Wohlgefallen. Daß wir doch lernten, vor allem aushalten und nicht urteilen. Welche sind die schweren Dinge? Welche die gnädigen? Du allein weißt es.30

Wie selbstverständlich unterscheidet Malte zwischen ›außen‹, ›innen‹ – und einem ›Innersten‹, sofern das Innere noch ›vor‹ dem angesprochenen Gott bleibt und über das Innere hinausgeht.31 Malte sieht sich in mehrfachem Sinn ›vor Gott‹, verunsichert, aber stets im Willen, ›das Falsche abzunehmen und wirklich zu sein‹. Solange wir nicht können, was wir wollen und sein sollen, »gehen wir herum, ein Gespött und eine Hälfte: weder Seiende, noch Schauspieler« (615): Außen ist vieles anders geworden. Ich weiß nicht wie. Aber innen und vor Dir, mein Gott, innen vor Dir, Zuschauer: sind wir nicht ohne Handlung? Wir entdecken wohl, daß wir die Rolle nicht wissen, wir suchen einen Spiegel, wir möchten abschminken und das Falsche abnehmen und wirklich sein. Aber irgendwo haftet uns noch ein Stück Verkleidung an, das wir vergessen. Eine Spur Übertreibung bleibt in unseren Augenbrauen, wir merken nicht, daß unsere Mundwinkel verbogen sind. Und so gehen wir herum, ein Gespött und eine Hälfte: weder Seiende, noch Schauspieler.

Malte deutet uns Menschen als Zwischenwesen im Sinne Platons (vgl. Symposion 202a–204a: μεταξύ), nicht gebunden an das Sein und Treiben der Tiere, nicht befähigt zu göttlichem Sein. Wir sind das, was wir sind, dadurch, daß »wir uns Gott vorgenommen haben«, in einer Weise, daß wir mit ihm – und unserer eigentümlichen Aufgabe – »nicht fertig werden« können (620):

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Vielleicht. Vielleicht ist das neu, daß wir das überstehen: das Jahr und die Liebe. Blüten und Früchte sind reif, wenn sie fallen; die Tiere fühlen sich und finden sich zueinander und sind es zufrieden. Wir aber, die wir uns Gott vorgenommen haben, wir können nicht fertig werden. Wir rücken unsere Natur hinaus, wir brauchen noch Zeit. Was ist uns ein Jahr? Was sind alle? Noch eh wir Gott angefangen haben, beten wir schon zu ihm: laß uns die Nacht überstehen. Und dann das Kranksein. Und dann die Liebe.32

Aus seiner konkreten Situation heraus fragt Malte nach dem »Anspruch der Liebe«, enthüllt sich ihm die Problematik der ›Liebe‹, die eben »nicht nach Stillung grub, sondern nach Sehnsucht«. Derart wird ›der zeitliche Zweck des Geschlechtes mit einer unendlichen Absicht‹ überstiegen. Das Ergebnis der Transzendenzbewegung ist nicht Stillung, sondern Erweckung zur Sehnsucht. Durch sie wird die geschlechtliche Liebe zur »scala mystica«, auf der die Liebende »die schwachen Geliebten, die sie sich zum Lager trug, an sich zu Liebenden glühte, die sie verließen«. Und die ›Liebe‹, die ja nach den Sonetten an Orpheus noch ›nicht gelernt‹ ist (SO I 19), wird so zu einem Weg zu Gott, der vom Liebenden Vergöttlichung fordert (623): Hier steht der Sinnende auf und tritt an sein Fenster, sein hohes Zimmer ist ihm zu nah, er möchte Sterne sehen, wenn es möglich ist. Er täuscht sich nicht über sich selbst. Er weiß, daß diese Bewegung ihn erfüllt, weil unter den jungen Mädchen aus der Nachbarschaft die eine ist, die ihn angeht. Er hat Wünsche (nicht für sich, nein, aber für sie); für sie versteht er in einer nächtlichen Stunde, die vorübergeht, den Anspruch der Liebe. Er verspricht sich, ihr nichts davon zu sagen. Es scheint ihm das Äußerste, allein zu sein und wach und um ihretwillen zu denken, wie sehr im Recht jene Liebende war: wenn sie wußte, daß mit der Vereinigung nichts gemeint sein kann, als ein Zuwachs an Einsamkeit; wenn sie den zeitlichen Zweck des Geschlechtes durchbrach mit seiner unendlichen Absicht. Wenn sie im Dunkel der Umarmungen nicht nach Stillung grub, sondern nach Sehnsucht. Wenn sie es verachtete, daß von Zweien einer der Liebende sei und einer Geliebter, und die schwachen Geliebten, die sie sich zum Lager trug, an sich zu Liebenden glühte, die sie verließen. »Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so b i s t du also.«  |  239

An solchen hohen Abschieden wurde ihr Herz zur Natur. Über dem Schicksal sang sie den firnen Lieblinginnen ihr Brautlied; erhöhte ihnen die Hochzeit; übertrieb ihnen den nahen Gemahl, damit sie sich zusammennähmen für ihn wie für einen Gott und auch noch seine Herrlichkeit überstünden.«

Dem Versuch, den unendlichen Sinn der Liebe zu lernen, dient auch die folgende, nicht leicht sachgemäß zu erfassende Passage, die darauf abzielt, der »Liebe alles Transitive zu nehmen«. Wahre ›Liebe‹ soll gerade nicht im alltäglichen Sinn eines Werbens um Gegenliebe verstanden werden, wie es bei bedürftigen Wesen der Fall ist, die von der ›Liebe‹ eine Überwindung ihres unbefriedigten Zustands erhoffen, die sie allein durch sich selbst nicht ins Werk setzen können. Liebe soll eben nicht zur Stillung erstrebt werden, sondern wird als solche eher gefürchtet. Sie kann sich folglich nur auf Unbedürftiges, Göttliches richten, sofern nur von solchem »keine Gegenliebe«, die der Erfüllung bedarf und sie sucht, »zu fürchten« ist. Die ›Liebe‹, die noch nicht gelernt ist, kann nur verstanden werden als ein »gratis diligere« im Augustinischen Sinn.33 Rilkes Versuch, der »Liebe alles Transitive zu nehmen«, hat nicht das Ziel, die Gottesbeziehung zu destruieren, sondern die uneigennützige Reinheit der wahren Liebe zu befördern (628): Manchmal früher fragte ich mich, warum Abelone die Kalorien ihres großartigen Gefühls nicht an Gott wandte. Ich weiß, sie sehnte sich, ihrer Liebe alles Transitive zu nehmen, aber konnte ihr wahrhaftiges Herz sich darüber täuschen, daß Gott nur eine Richtung der Liebe ist, kein Liebesgegenstand? Wußte sie nicht, daß keine Gegenliebe von ihm zu fürchten war? Kannte sie nicht die Zurückhaltung dieses überlegenen Geliebten, der die Lust ruhig hinausschiebt, um uns, Langsame, unser ganzes Herz leisten zu lassen? Oder wollte sie Christus vermeiden? Fürchtete sie, halben Wegs von ihm aufgehalten, an ihm zur Geliebten zu werden? Dachte sie deshalb ungern an Julie Reventlow? // Fast glaube ich es, wenn ich bedenke, wie an dieser Erleichterung Gottes eine so einfältige Liebende wie Mechthild, eine so hinreißende wie Therese von Avila, eine so wunde wie die Selige Rose von Lima, hinsinken konnte, nachgiebig, doch geliebt. Ach, der für die Schwachen ein Helfer war, ist diesen Starken 240  |  norbert fischer 

ein Unrecht; wo sie schon nichts mehr erwarteten als den unendlichen Weg, da tritt sie noch einmal im spannenden Vorhimmel ein Gestalteter an und verwöhnt sie mit Unterkunft und verwirrt sie mit Mannheit. Seines stark brechenden Herzens Linse nimmt noch einmal ihre schon parallelen Herzstrahlen zusamm, und sie, die die Engel schon ganz für Gott zu erhalten hofften, flammen auf in der Dürre ihrer Sehnsucht.

Wie ›Gott‹ ist ›Herz‹ ein oftmals zu einem verflachten Sinn herabgewürdigtes Alltagswort: ›Herz‹ kann die gefühlsmäßig sich anzeigende Mitte der Person bezeichnen und bedeutet zum Beispiel in der Bibel, bei Augustinus (und vielen anderen) den eigentlichen, inneren Menschen. An diesen Sinn anknüpfend verbindet Pascal die Logik des Verstandes mit der des Herzens.34 Nach Malte ist es nicht unser Ziel, ›Gott‹ mit Hilfe der theoretischen Vernunft zu erkennen, sondern »unauffällig und unmittelbar mit Gott in Beziehung zu kommen« (629): Es ist gleichwohl möglich, daß Abelone in späteren Jahren versucht hat, mit dem Herzen zu denken, um unauffällig und unmittelbar mit Gott in Beziehung zu kommen.«

Mit dieser ziellosen (nicht den Nutzen berechnenden)35 Beziehung zu Gott, die mit Leiden und Arbeit zu tun hat (vgl. z. B. conf. 10,39: »dolor et labor«) und in die ›Sehnsucht‹ nach »durchdringender, strahlender Liebe« mündet, sucht er dennoch keine Befriedigung, sondern gesteht sich »Got­tes äußersten Abstand« ein – seine ›Transzendenz‹ – und erkennt diese an (633):36 Gleichviel. Ich seh mehr als ihn, ich sehe sein Dasein, das damals die lange Liebe zu Gott begann, die stille, ziellose Arbeit. Denn über ihn, der sich für immer hatte verhalten wollen, kam noch einmal das anwachsende Nichtanderskönnen seines Herzens. Und diesmal hoffte er auf Erhörung. Sein ganzes, im langen Alleinsein ahnend und unbeirrbar gewordenes Wesen versprach ihm, daß jener, den er jetzt meinte, zu lieben verstünde mit durchdringender, strahlender Liebe. Aber während er sich sehnte, endlich so meisterhaft geliebt zu sein, begriff sein an Fernen gewohntes Gefühl Gottes äußersten Abstand. Nächte kamen, da er meinte, sich auf ihn zuzuwerfen in »Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so b i s t du also.«  |  241

den Raum; Stunden voller Entdeckung, in denen er sich stark genug fühlte, nach der Erde zu tauchen, um sie hinaufzureißen auf der Sturmflut seines Herzens.

Gottes Transzendenz ist im Sinne der Un(be)greifbarkeit und Ferne Gottes nach den Aufzeichnungen Maltes ein notwendiges, konstitutives Merkmal der ersehnten menschlichen Beziehung zu ihm und hat also nichts mit ›Immanenzgläubigkeit‹, Atheismus oder Indifferentismus zu tun. Kant, dem solche Haltungen ebensowenig anzulasten sind, sagt in der Kritik der praktischen Vernunft (A 266), daß »die unerforschliche Weisheit, durch die wir existiren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zu theil werden ließ«. Rilkes Malte verschärft den Gedanken der ›Wirklichkeit‹ Gottes auch im Blick auf ihre anzunehmenden Konsequenzen. Zwar hatte er nicht ohne Zustimmung notiert (602): »Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also. Es giebt Beweise für deine Existenz«; aber die gläubig angenommene Existenz Gottes löst nicht die Probleme des menschlichen Lebens (ebd.): »Daß wir doch lernten, vor allem aushalten und nicht urteilen. Welche sind die schweren Dinge? Welche die gnädigen? Du allein weißt es.« Denn was mit ›Gott‹ gedacht wird, ist nicht wirklich, vielleicht: noch nicht wirklich. So hatte Rilke im Stunden-Buch gesagt (KA 1,169): Sieh, Gott, es kommt ein Neuer an dir bauen, der gestern noch ein Knabe war; von Frauen sind seine Hände noch zusammgefügt zu einem Falten, welches halb schon lügt. Denn seine Rechte will schon von der Linken, um sich zu wehren oder um zu winken und um am Arm allein zu sein.

Die Vollendung Gottes fängt gleichwohl auch im Stunden-Buch mit Gottes Schöpfertum an, das jedoch dem Sein und Wirken der Geschöpfe eine wesentliche Rolle zuschreibt (KA 1,170): Du hast dich so unendlich groß begonnen an jenem Tage, da du uns begannst, – und wir sind so gereift in deinen Sonnen, 242  |  norbert fischer 

so breit geworden und so tief gepflanzt, daß du in Menschen, Engeln und Madonnen dich ruhend jetzt vollenden kannst.37

Die Wirklichkeit ›Gottes‹, so sagt Malte, ist nicht ohne die menschliche Wirklichkeit denkbar.38 Er spricht damit einen Gedanken aus, der sich schon bei Platon findet, der im Timaios Gott zwar als den Ursprung des Ganzen bezeichnet (29 d/e), aber dennoch von der Schöpfung als einem werdenden (34 b: ἐσόμενoϛ ϑεόϛ) und wahrnehmbaren Gott (92c: ϑεὸϛ ἀισϑητόϛ) spricht.39 Nach Malte hat jeder einzelne Mensch – ohne ›Mittler‹ (also gleichsam ohne Christus) – die Aufgabe, »unter seliger Mühsal, seinen einzig möglichen Gott« zu beginnen (652): Wenn Gott ist, so ist alles getan und wir sind triste, überzählige Überlebende, für die es gleichgültig ist, mit welcher Scheinhandlung sie sich hinbringen. Sahen wirs nicht? Hat nicht jener große Todesfürchtige, da er immer geiziger einging auf einen seienden und gemeinsamen Gott, das gesegnete Erdreich seiner Natur zerstört? Einst, da er sich, ringend mit allem, seine verwandelnde Arbeit entdeckte, wie half er da. Begann er nicht in ihr, unter seliger Mühsal, seinen einzig möglichen Gott, und die es in seinen Büchern erlebten, wurden sie nicht von Ungeduld erfüllt, jeder in sich, auch zu beginnen?

Malte (bzw. Tolstoj)40 sucht seinen »einzig möglichen Gott«, mit dem »jeder in sich« […] zu beginnen« hat, als Aufgabe, die jedem Mensch obliegt: als das uns aufgegebene »Herzwerk« (652). Dieses Herzwerk führt in belehrter Unwissenheit (›doc­ta ignorantia‹) in die Nähe ›mystischer‹ Gedanken (652): »Er begriff nicht mehr, daß man es nicht verstehen durfte«. Alles andere, ›der fertige‹ oder der ›verabredete Gott‹, verfehlt den Ernst der Gottsuche, an dem die scheitern, »die keinen [Gott] machen können und doch einen brauchen.« Maltes Gedanke ›des verabredeten Gottes‹ changiert in den Aufzeichnungen zwischen einem in Feuerbachs Sinn ›gemachten Gott‹ und dem innerlich aufgegebenen Gott, der zugleich als ›Gott in uns‹ (sofern wir auf das ›Bild Gottes‹ hin geschaffen sind)41 und als ›Gott über uns‹ gedacht werden muß (654):

»Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so b i s t du also.«  |  243

Da war er allein; allein mit der namenlosen Angst seiner innern Gefahr; allein mit dem Vorgefühl seiner unmöglichen Wahl; mit dem Versucher allein: so allein, daß er sich bangsam zu dem fertigen Gott entschloß, der gleich zu haben war, zu dem verabredeten Gott derer, die keinen machen können und doch einen brauchen. Und hier beginnt der lange Kampf eines Schicksals, das wir nicht übersehen.

Es gibt keine ›äußeren‹ Beweise, weil das Aufgegebene »ganz und gar innen zu leisten ist«.42 Immerhin fallen ihm beim Zeitungsverkäufer christliche Symbole wie Figuren von Christus und der Pietà ein, wenn auch »wahrscheinlich nur, um eine gewisse Neigung hervorzurufen, in der sein langes Gesicht sich hielt, und den trostlosen Bartnachwuchs im Wangenschatten und die endgültig schmerzvolle Blindheit seines verschlossenen Ausdrucks, der schräg aufwärts gehalten war.« Ohne Erläuterung der Aussage berichtet Malte, er habe schon damals begriffen, daß »nichts an ihm nebensächlich sei«. Obwohl er die äußere Erscheinung des Verkäufers mit ›Mantel‹, ›Kragen‹, ›Krawatte‹ und ›Filzhut‹ genau beschreibt, sieht er ihn »wie irgendeinen verabredeten fremden Gegenstand« (A 59/601). Trotz seiner ›Feigheit‹, die ihn anleitete, »nicht hinzusehen«, habe er es doch so weit gebracht, »daß das Bild dieses Mannes sich schließlich oft auch ohne Anlaß stark und schmerz­haft in mir zusammenzog zu so hartem Elend, daß ich mich, davon bedrängt, entschloß, die zunehmende Fertigkeit meiner Einbildung durch die auswärtige Tatsache einzuschüchtern und aufzuheben.« Nachdem der Verkäufer als Schmerzensmann in Anspielung auf Christus vergegenwärtigt ist, folgt ein Zwischenspiel, das die drangvolle Vergegenwärtigung des Verkäufers wieder in den Hintergrund schiebt (601): Nun muß man wissen: es ging auf den Frühling zu. Der Tagwind hatte sich gelegt, die Gassen waren lang und befriedigt […] durch die schmalen, beinah römischen Gassen sah man unwillkürlich hinaus in die Jahreszeit. Im Garten und davor war so viel Bewegung von Menschen, daß ich ihn nicht gleich sah. Oder erkannte ich ihn zuerst nicht zwischen der Menge durch?

Mit diesem Hinweis knüpft Rilke an den Anfang der Aufzeichnungen an, der jetzt aber auf das ›Sehen Gottes‹ bezogen wird. Am Anfang hieß es, inhaltlich noch ganz unbestimmt (456): 244  |  norbert fischer 

Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.

Sofern ihm in diesem Sehen am Ende »mit Ungestüm« ›Gott‹ einfällt und ›Gott‹ – ohne außen gesehen zu werden – ihm in den Blick kommt, zeigt sich der Weg von Maltes Sehenlernen von Anfang an von der Frage nach der Wirklichkeit Gottes geleitet. Bevor ›Gott‹ ausdrücklich genannt wird, erklärt Malte, er habe gewußt, daß seine äußere »Vorstellung wertlos war« (601). Er gesteht: »Die durch keine Vorsicht oder Verstellung eingeschränkte Hingegebenheit seines Elends übertraf meine Mittel.« Gleichwohl sieht er den Zeitungsverkäufer nun anders (601): Ich war stehngeblieben, und während ich das alles fast gleichzeitig sah, fühlte ich, daß er einen anderen Hut hatte und eine ohne Zweifel sonntägliche Halsbinde; sie war schräg in gelben und violetten Vierecken gemustert, und was den Hut angeht, so war es ein billiger neuer Strohhut mit einem grünen Band. Es liegt natürlich nichts an diesen Farben, und es ist kleinlich, daß ich sie behalten habe. Ich will nur sagen, daß sie an ihm waren wie das Weicheste auf eines Vogels Unterseite. Er selbst hatte keine Lust daran, und wer von allen (ich sah mich um) durfte meinen, dieser Staat wäre um seinetwillen?

Im folgenden Satz und Abschnitt redet Malte Gott an, im Stil der unmittelbaren und vertrauten Anrede wie im Stunden-Buch, aber jetzt »mit Ungestüm« und unerwartet, wie nach einer langen Periode nagenden Zweifels und einer schmerz­haften Entfremdung. Die Betonung des folgenden Satzes liegt gewiß auf dem kursiv gesetzten »bist«, aber durch die Weise, wie das ›Sein Gottes‹ hervorgetreten ist, zugleich auch auf dem »so«: Es geht nicht nur darum, daß Gott ›ist‹, sondern auch, daß er ›so ist‹, daß sein Sein am Sehen des Zeitungsverkäufers hervortreten konnte, bei dem er an ›Christusse‹, an ›irgendeine Pietà‹, an Schmerzhaftes, an Leiden und an die Zartheit ›des Weichesten auf eines Vogels Unterseite‹ erinnert wird. Er sagt völlig überraschend (602):

»Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so b i s t du also.«  |  245

Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also. Es giebt Beweise für deine Existenz. Ich habe sie alle vergessen und habe keinen je verlangt, denn welche ungeheuere Verpflichtung läge in deiner Gewißheit. Und doch, nun wird mirs gezeigt. Dieses ist dein Geschmack, hier hast du Wohlgefallen. Daß wir doch lernten, vor allem aushalten und nicht urteilen. Welche sind die schweren Dinge? Welche die gnädigen? Du allein weißt es.

Die Rede von Gottesbeweisen tritt hier nicht nur unerwartet auf, sondern wird auch sogleich wieder beiseite geschoben – einerseits weil sie als belanglos charakterisiert werden (»Ich habe sie alle vergessen und habe keinen je verlangt«), andererseits, weil sie sogar für unerwünscht gehalten werden (»denn welche ungeheuere Verpflichtung läge in deiner Gewißheit«). Die feste Überzeugung vom Dasein Gottes (»so bist du also«) ereignet sich folglich auf anderem Weg, nämlich durch ein ›Sehen‹, das sich im Zusammenhang mit dem Zeitungsverkäufer ergibt und das Rilke als Offenbarung (Inversion der Aktivität) und unmittelbare Gottesbegegnung benennt: »Und doch, nun wird mirs gezeigt. Dieses ist dein Geschmack, hier hast du Wohlgefallen.« Daß die Gewißheit nicht intersubjektiv vermittelbar ist, gehört ebenfalls zum Kern des Ereignisses. Weil die Gewißheit nicht als intersubjektiv zwingende Einsicht dargestellt wird, sind eingangsweise nebenbei doch ›Beweise‹ für die Existenz Gottes genannt (»Es giebt Beweise für deine Existenz«), die Spöttern, die den Gottesglauben lächerlich machen wollen, den Schneid ein wenig abkaufen können und ihnen verbieten, die Leugnung als überlegene Einsicht auszugeben. Damit bewegt Rilke sich in der Beweisfrage auf einem Niveau, das schon bei Platon (und gänzlich explizit schließlich in der kritischen Metaphysik Immanuel Kants) gegeben ist. Die Sehnsucht nach dem wahren Leben und das Leiden am faktischen Leben drängen Malte zur Vergegenwärtigung Jesu, in der Hoffnung, daß Jesus, »der noch das Auferstehen in allen Gliedern hat«, diese Spannung ertrüge und sie uns zu ertragen helfe. ›Intransitive‹ Liebe bedeutet nicht, daß es kein Ziel der Liebe gäbe, keine ›Geliebten‹; die Liebe, »die der Gott einzeln anreizt«, leitet vielmehr dazu an, »aus sich hinauszulieben ohne Erwiderung« (623). Vielleicht denkt Rilke an das Prooemium von Augustins Confessiones, 246  |  norbert fischer 

das mit dem Lob Gottes beginnt, obwohl es Menschen aus sich selbst nicht möglich ist, aber doch geschieht, weil Gott uns lockt (conf. 1,1): »tu excitas«.43 Die Reflexionen Maltes, in denen ›Gott‹ begegnet, nehmen einerseits persönlichste, konkreteste Begegnungen auf, andererseits spiegeln sie allgemeinste, abstrakteste Reflexionen wider. Sie kreisen um die Frage, wie ›Gott‹ als ›Liebe‹ zu verstehen sei – und was dieses Verständnis für unser Leben, für die Liebe, für das Leiden und den Tod bedeutet (622 f.). 3. Epilog zur Vergegenwärtigung Gottes und der Gottesfrage in Rilkes Malte-Roman Im Anfang des ›ursprünglichen Schlusses der Aufzeichnungen: Tolstoj‹ gelangt Malte zu Annahmen oder Einsichten, die wiederum an tiefgründige philosophische Gedankenzusammenhänge erinnern, wie sie von Platon bis hin zu Kant in verschiedener Form vorgetragen wurden. Rilke läßt seinen Malte aber keine durchreflektierten denkerischen Systeme vortragen, die von ersten Grundsätzen abgeleitet wären und dann auf ihre innere Konsistenz hin untersucht würden. Immerhin sollen hier einige grundlegende Gedanken samt deren denkerischen Konsequenzen genannt und wenigstens kurz beleuchtet werden, wenn auch nicht in vollständiger Disjunktion. Im Hintergrund steht die Frage, wie Gott gedacht werden müßte, wenn seine Annahme für unseren Lebensvollzug den ersehnten Sinn haben können sollte. In diesem Sinne fragt Malte nach dem ›einzig möglichen Gott‹. Wer »einen seienden und gemeinsamen Gott« anneh­men wollte, wird gewarnt, daß diese Annahme »das gesegnete Erdreich seiner Natur zerstört«. Denn einerseits scheint zu gelten, wie Rilke – ähnlich wie später Heidegger (vgl. Anm. 37) – sagt (652): »Wenn Gott ist, so ist alles getan und wir sind triste, überzählige Überlebende, für die es gleich­gültig ist, mit welcher Scheinhandlung sie sich hinbringen.«

Gegen diese Konsequenz kann argumentiert werden – und ist (wie erwähnt) seit Platon mit der Auslegung des Kosmos als eines ›werdenden Gottes‹ (ϑεὸϛ ἐσόμενoϛ) argumentiert worden. Anderer»Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so b i s t du also.«  |  247

seits hält Rilke gleichsam selbstverständlich gläubig an seiner Beziehung zu Gott fest. Die Annahme der Nähe und der Ferne Gottes gehören zum Kern christlicher Rede von Gott. Rilke geht es in den Aufzeichnungen aber nicht um denkerische Arbeit, sondern um die lebendige Wirklichkeit eines auf die Gottesfrage gestoßenen und stoßenden Menschen, der angesichts der Phänomene, auf die ihn der Gottesgedanke stößt, ein wahres, lebendiges Leben zu leben versucht, das nicht zu einem vom Allmächtigen gelenkten Marionettentheater und zu Schattenspielen degeneriert. Nicht ohne Grund sind Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge ein Fragment geblieben. In ihnen ringt Rilke um seine lautere Beziehung zu Gott und setzt sich dabei den schärfsten Einwänden und Fragen der Theodizee aus, gleichsam »aus Scheu vor der Wirklichkeit«, auch in der »Angst seines Stolzes« und in der Ahnung, »daß sein eigener, eingeborener Gott kaum begonnen war« – was zur Folge hätte, »daß er, wenn er jetzt stürbe, nicht lebensfähig sein würde im Jenseits; daß man sich schämen würde für seine rudimentäre Seele und sie in der Ewigkeit verstecken würde wie eine Frühgeburt« (659). Die (teils unveröffentlichten und unvollständigen) Fragmente vom Schluß der Aufzeichnungen lassen vielleicht einige Konjekturen zu, aber keine sicheren Auslegungen zu Rilkes letzten Intentionen in der Gottesfrage. Die Rilke-Forschung betont oft den gelegentlich aufbrechenden antichristlichen Impuls Rilkes, der jedoch in einem seltsamen Kontrast zu dessen Vergegenwärtigung christlicher Bilder und Haltungen steht. Dieses Dilemma hat seinen Ursprung wohl in der zwiespältigen Beziehung Rilkes zu ›Christus‹: als innig bewunderter und mitunter auch heftig abgelehnter Figur, der Rilke sich verweigert, weil Christus als ›Mittler‹ die gesuchte Unmittelbarkeit der Beziehung zu Gott stören scheint. In Rilkes Zustimmung und Ablehnung könnte eine Anerkennung von Augustins »fecisti nos ad te« (conf. 1,1) zu finden sein: Zustimmung, sofern Rilke das »Heiligsein« und die reine Liebe radikal als wirkliches Ideal anerkennt; Ablehnung, sofern ihm die Behauptung des historischen Jesus als des wahren Gottmenschen Christus unzugänglich ist. Darin könnte der Kern von Rilkes zwiespältigem Verhältnis zum christlichen Glauben und die zeitweilige Bevorzugung des Islam liegen, der Jesus zwar als großen Propheten, nicht aber als den ›Sohn Gottes‹ anerkennt. Ein Glaube, der sich der – von Rilke 248  |  norbert fischer 

vielleicht mehr gefühlten als gedachten – Schwierigkeiten bewußt wäre, könnte für Rilke annehmbarer gewesen sein, als er dies auch ohnehin für ihn war. Immerhin wäre zu bedenken, daß Augustinus in den Confessiones Jesus Christus zwar zuweilen nebenbei nennt, auch daß er seine Heilsbedeutung an zwei systematisch entscheidenden Stellen hervorhebt und systematisch reflektiert (vgl. 4,19 und 10,67–70), daß die Confessiones jedoch eine Anrede Gottes als ›Herrn‹ sind, die einer Vermittlung nicht zu bedürfen scheint.44 Ohne Beziehung auf ›Gott‹ und Göttlichkeit ist Rilkes Dichtung, ist Rilkes ›opus magnum‹, sind Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge nicht zu verstehen. Ob in diese Richtung gehende Versuche schon sachgemäß unternommen worden sind – oder ob diese Aufgabe bisher auch nur ausreichend verstanden worden ist, scheint zweifelhaft.45 Obwohl Rilke kein Forscher war, der sich der abendländischen Geistesgeschichte verschrieben gehabt hätte, hat er doch Wesentliches aus ihr in seiner existenziellen Bedeutung wahrgenommen, es in sich aufgesogen und in seiner Dichtung verarbeitet. Die Kenntnis der abendländischen Geschichte von Philosophie und Theologie gehört wie die Anerkennung von Rilkes Bezugnahme auf sie zur Rilke-Auslegung. Die vorgetragene Zusammenstellung der einschlägigen Passagen zur Gottesfrage kann samt den vorläufigen Erläuterungen aber nur der Anfang eines gründlicheren Bedenkens der bisher kaum in Angriff genommenen Aufgabe sein, zum Kern der Intention dieses Romans vorzudringen.

Anmerkungen 1 

Das Auftreten des Wortes ›Gott‹ hat in MLB unterschiedliches Gewicht: anfangs kommt es oft in unspezifischem Kontext vor, später zunehmend gezielt. Fundstellen (hier immer zitiert nach KA 3): 458, 459, 463, 469, 470, 480, 483 (2), 505, 508, 509, 511, 517, 530, 531 (3), 532, 534, 548 (2), 553, 571 (2), 573, 581, 583, 584 (2), 586 (2), 593, 594, 597, 598, 599, 602, 603, 606, 608, 611 (2), 615, 616, 617, 618, 620 (2), 623 (2), 627, 628 (4), 629, 630, 633 (2), 634 (2). Und im Material Aus dem Nachlass: 652 (3), 653 (2), 654 (3), 655 (3), 657, 659, 661 (2), 663 (2). 2  Vgl. KA 2,324 f., dazu KA 2,815); weiterhin Norbert Fischer: Das Gewagtsein des Menschen. Die Rilke-Deutung Heideggers als Spur seines Denkens auf dem Weg der Gottesfrage. Rilkes Gedicht ist im vorliegenden Band 89 f. zitiert. 3 Vgl. Unterwegs zur Sprache (GA 12, bes. Die Sprache = GA 12, 9–30), pas»Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so b i s t du also.«  |  249

sim, vgl. 10: »Der Mensch spricht […] wir sprechen stets.« 30: »Die Sprache spricht. Ihr Sprechen spricht für uns im Gesprochenen.« Vgl. auch Das Wesen der Sprache (GA 12,147–204), bes. 160 zu Stefan Georges Versen: »So lernt ich traurig den verzicht;/ Kein ding sei wo das wort gebricht.« In der Erläuterung heißt es (160): »Es schickt sich ihm etwas zu, trifft ihn und verwandelt sein Verhältnis zum Wort.« Das Wort ›Gott‹, wenn es kein Gefasele ist, hat (wo es dennoch auftaucht) eine tiefere Bedeutung, als Sprechende ahnen, auch wo unbedacht gesprochen wird (etwa: »ach, du lieber Gott«). Vgl. Der Weg zur Sprache (GA 12,227–257), bes. 230: »So sind wir denn allem zuvor in der Sprache und bei der Sprache.«  4  FW Anhang: Lieder des Prinzen Vogelfrei, KSA 3,644. Der ›Albatross‹ ist analog dem ›ersten unbewegt Bewegenden‹ (πρῶτον κινοῡν ἀκίνητον) des Aristoteles dargestellt, der ›wie ein Geliebtes bewegt‹ (kinei/ dh w3@ ­e4rw2menon; vgl. Mp XII, 1072b–1074b). – Der Vogel Albatross bewegt den Prinzen Vogelfrei zu Tränen der Liebe. Vgl. auch Augustinus, der den schaffenden Gott als die Ruhe selbst denkt (conf. 13,53: »tua quies tu ipse es«)  5  Eine wichtige Grundlage ist immer noch der große Beitrag von Veronika Merz: Die Gottesidee in Rilkes »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«; zu beachten sind ebenfalls die Hinweise von Maria Norberta Hoffmann: Rilke als Dichter der Transzendenz.  6  Vgl. Joachim W. Storck: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In: KLL 14,138. Vgl. AS in KA 3, 866–888; zur ›Wirkung‹: KA 3,888–891; zu ›Deutungsaspekten‹: KA 3,891–909; ›Stellenkommentar‹ von AS: KA 3,909– 954. ›Gott‹ und Maltes Frage nach ihm kommen im Rahmen dieses Kommentars weniger zur Sprache.  7 Storck nennt Rilkes Lektüre der Schriften Jacobsens, Kierkegaards, Bangs und Obstfelders (a. a.O.). Wenigstens mit Kierkegaard ist ein maßgebender religiöser Schriftsteller von hohem Rang mit von der Partie.  8  KA 3,881 (Seitenzahlen zu MLB immer nach KA 3); im Brief an Lotte Heppner schreibt Rilke (zitiert nach KA 3,880), er empfände das Buch manchmal »wie eine hohle Form, wie ein Negativ […], dessen alle Mulden und Vertiefungen Schmerz« seien, »Trostlosigkeiten und weheste Einsicht, der Ausguß davon aber, wenn es möglich wäre einen herzustellen […] wäre vielleicht Glück, Zustimmung; – genaueste und sicherste Seligkeit.«  9  Eine anregende Lektüre für das Bedenken dieser Frage bietet Karl Rahner: Meditation über das Wort Gott. 10  Sprachkonstruktivisten stellen Kriterien für sinnvolles Sprechen auf, die das Wort ›Gott‹ nicht erfülle. Exemplarisch genannt sei Wilhelm Kamlah / Paul Lorenzen: Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens (=LP), die als Beispiele vernünftigen Redens folgende Sätze nennen (LP 178): »›Das Frühstück findet zwischen 8 und 11 Uhr statt‹ … ›der Starfighter hat sich als ein gefährliches Spielzeug erwiesen‹, ›der F 8 Rheinblitz verkehrt täglich zwischen Dortmund und Basel‹«. Im Blick auf die Möglichkeit, von Gott ›ver250  |  norbert fischer 

nünftig‹ zu reden, wird gefragt, ob »hier nur fingierende Kennzeichnungen vorliegen« (LP 106; vgl. 126). 11 Augustinus sol. 1,7; ord. ord. 2,47; dazu Norbert Fischer (=NF): »Deum et animam scire cupio«.Zum bipolaren Grundzug von Augustins metaphysischem Fragen. Nach Kant (KrV B 841) haben wir »es in einem Kanon der reinen Vernunft nur mit zwei Fragen zu thun, die das praktische Interesse der reinen Vernunft angehen, und in Ansehung deren ein Kanon ihres Gebrauchs möglich sein muß, nämlich: ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?« 12  Vertrautheit mit Augustins Confessiones zeigt schon die Rodin-Monographie (vgl. bes. KA 4,405); dazu NF: »Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?« Nachklänge der Zeitauslegung Augustins in der Dichtung Rilkes. Weiterhin August Stahl: ›Salus tua ego sum‹. Rilke (1875–1926) liest die ›Confessiones‹ des heiligen Augustinus. 13  Diese Gruppen sind in der vorgenommenen Einteilung äußerlich betrachtet (quantitativ) von ähnlichem Umfang. Als Stellen mit (teils nur scheinbar) beiläufiger Erwähnung seien hier genannt: 458, 459, 480, 483, 505, 509, 517, 530, 534, 548 (1), 553, 573, 581, 586 (2x), 593, 594, 597, 627; Anhang: 657. 14  Die hier angedeuteten Phänomene des ›alltäglichen Sterbens‹ bieten eine Negativfolie zum Bericht vom »Tod des Kammerherrn Christoph Detlev Brigge«, der »seinen schweren Tod« starb (vgl. 461–463). Zum Tod des Kammerherrn ist auch zu beachten (463): »Und was sie alle dachten und beteten, das sagte der Pfarrer laut von der Kanzel herab, denn auch er hatte keine Nächte mehr und konnte Gott nicht begreifen.« Diese Passagen vom Anfang des MLB gehören auch zum Hintergrund der Phänomenologie des Todes in Heideggers Sein und Zeit; vgl. dort bes. das erste Kapitel des zweiten Abschnitts (235–267): Das mögliche Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode. Rilkes zwiespältige Darstellung des Sterbens in MLB scheint dem von Heidegger Gemeinten noch näher zu stehen als Tolstois Erzählung »Der Tod des Iwan Iljitsch«, auf die Heidegger hinweist (SuZ 254). 15 Vgl. conf. 4,10: »nisi ad aures tuas ploraremus, nihil residui de spe nostra fieret.« Die Ergriffenheit, die sich im Weinen bezeugt, weist auf die Tragweite der Situation. Ähnlich (oft mit hintergründigem Ernst) 505; 509; 517 (»Gott behüt mich«); 530; 534; 548; 553; 573; 581; 586; 597; 616 (»Götter und Schicksal«); 627; im Laufe der Aufzeichnungen werden auch eher floskelhafte Wendungen (wie 630: »Mein Gott«) zunehmend bedeutungsvoller. 16  Zur zwiespältigen Bedeutung der Familie spricht auch folgende Stelle (548): »Der Weg ist irgendwie enger geworden: Familien können nicht mehr zu Gott.« Weiterhin ist die anrührende Stelle zu beachten (581): »Lieber Gott, dachte ich, seine Mutter ist da. Sie saß neben dem Licht, sie redete ihm zu, vielleicht hatte er den Kopf ein wenig gegen ihre Schulter gelegt. Gleich würde sie ihn zu Bett bringen.« Zu Rilkes Verhältnis zu seinem Vater vgl. z. B. KA 3, 922 f., 947 f., 950 f., 973 f.; im Blick auf die Mutter vgl. Karl-Josef Kuschel: Rainer Maria Rilke und die Metamorphosen des Religiösen, 97; Günther Schiwy: »Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so b i s t du also.«  |  251

Rilke und die Religion, bes.13–35: 1. Kinderfrömmigkeit und ihre Folgen; darin 13–15: Die religiöse Scheinwelt der Mutter. Rilke ging es seiner Ablehnung von Mittlern um Gottunmittelbarkeit (Brief vom 29. Oktober 1925 an Nanny Wunderly-Volkart; Briefe II,1192): »Schlimm genug, daß ich, in den körperlichen Nöthen meiner Natur, den Vermittler und Verhandler, im Arzte, zulassen mußte; der Bewegung meiner Seele, aufs Offene zu, wäre jeder geistliche Zwischenhändler kränkend und zuwider.« 17  Gemeint ist Bettina von Arnim (KA 3,995: »eine jener großen Liebenden«); vgl. auch KA 3,998. 18  In diesen Kontext gehören dann auch Stellen, die Gott als sorgenden (sogar ungeduldigen) Begleiter der Geschichte der Menschenwelt vorstellen (606): »Wenn man dann das alles bedacht hatte, immer wieder bis ans Ende, kurz wie es war, so begehrte das Volk einen zu sehen, und es sah einen: ratlos. Aber das Volk freute sich des Anblicks; es begriff, daß dies der König sei: dieser Stille, dieser Geduldige, der nur da war, um es zuzulassen, daß Gott über ihn weg handelte in seiner späten Ungeduld.« 19  Rilkes Malte bleibt in diesen Reflexionen unbestimmt, läßt also andere Möglichkeiten zu, die am Ende auch in die Verzweiflung führen können (616): »Hier, in diesem großen, eingebogenen Sitzkreis herrschte ein wartendes, leeres, saugendes Dasein: alles Geschehen war drüben: Götter und Schicksal. Und von drüben kam (wenn man hoch aufsah) leicht, über den Wandgrat: der ewige Einzug der Himmel.« 20  Augustins Denken kreist um die Frage einer göttlichen (nicht-appetitiven) Liebe, er will sein Leben der göttlichen Liebe widmen, er schreibt aus Liebe zur göttlichen Liebe (conf. 2,1; 11,1: »amore amoris tui facio istuc«). Heidegger hat mehrfach (mit unbestimmtem Hinweis auf Augustinus) den Gedanken göttlicher Liebe so gefaßt: »amo: volo, ut sis«. Er denkt göttliche Liebe nicht so, daß Geliebte um ihr Selbstsein fürchten müßten. Dafür spricht auch Augustins Gedanke des ›gratis diligere‹ (z. B. conf. 6,26; s. Lambot 4: »ecce ipse Iob, provocatus ut gratis diligeret deum«). Zum Kontext bei Augustinus und Heidegger vgl. NF: Amore amoris tui facio istuc. Zur Bedeutung der Liebe im Leben und Denken Augustins, 174–176: NF: »Deum et animam scire cupio«. Zum bipolaren Grundzug von Augustins metaphysischem Fragen, bes. 91–94; vgl. bes. auch Tatjana Noemi Tömmel: »Wie bereit ich’s, daß Du wohnst im Wesen?« Heidegger über Liebe und die Eigentlichkeit des Anderen in den Marburger Jahren. 21 Vgl. Des hl. Augustinus Betrachtung Über die Zeit. Confessiones lib. XI. Heideggers Typoskript des Vortrags: Beuron, Erzabtei St.Martin 26.X.1930 (Conferenz vor den Mönchen, Klerikern und Novizen), 1. Dort heißt es: »die erste hat Aristoteles durchgeführt, die zweite ist das Werk des hl.Augustinus, die dritte stammt von Kant.« 22  Das Thema ›Zeit‹ hat Rilke weiter beschäftigt, auch in dem ersten der ›Auftaktgedichte‹; vgl. Manfred Engel: KA 2,567 und 574; dort wird die Frage: »Wo ist ein Bleiben« gar als das »Hauptthema von DE II« genannt. 252  |  norbert fischer 

Vgl. dazu NF: »Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?«, bes. 293–297. »Entflüchtigung des Zeitlichen« vgl. NF: Confessiones 11: ›Distentio animi‹. Ein Symbol der Entflüchtigung des Zeitlichen; weiterhin: Einleitung (AZ), u. a. bes. XLI, LII–LIV, 62, 67, 109 (mit Literaturhinweisen). 25  Vgl. AS: Kommentar 978–980, bes. 978 f.: »Die Geschichte des Nikolaj Kusmitsch variiert trotz der in ironischer Tonlage zur Schau getragenen Überlegenheit Maltes nur dessen eigene Ängste und nur seine eigenen Mittel, dagegen anzukämpfen. Kusmitschs Versuch, seine Zeit zu vermehren oder auch nur zu sparen, ist nur eine Form, Tod und Vergänglichkeit außer Kraft zu setzen«. Rilkes ›wildes Herz‹ knüpft an Augustins ›cor inquietum‹ an (conf. 1,1). Vgl. zum Thema Maria Schmidt-Ihms: Die Zeitbank des Nikolaus Kusmitsch. Eine Analyse. 26  Vgl. NF: »Kostbar ist mir jeder Tropfen Zeit…«. Einführung zum elften Buch von Augustins ›Confessiones‹. Auch Augustins Untersuchung führt zur Klage (conf. 11,39), er sei in die Zeiten zersplittert (»at ego in tempora dissilui«). Aus ihr kann Augustinus sich nur befreien, indem er seine Hoffnung auf Gott setzt (conf. 11,40). 27  Zum Wagnischarakter des Glaubens, der mit einer Gefahr einhergeht, seien hier nur vier klassische Autoren der Philosophiegeschichte genannt: Platon (Phaidon 107c und 114d : kínduno@); Augustinus (z. B. conf. 10,39: ›tentatio‹); Blaise Pascal (vgl. Pensées 680; Sellier 469 f.; zur ›Wette‹ vgl. MLB; KA 3, 633); Immanuel Kant knüpft mit der hypothetischen Frage an Pascal an, »man solle worauf das Glück des ganzen Lebens verwetten« (KrV B 853). 28 Vgl. KpV A 58; dort bezeichnet Kant die »Heiligkeit des Willens« als »praktische Idee« und ›Urbild‹, »welchem sich ins Unendliche anzunähern das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht«. Diese Annäherung könnte auch mit Kant als ›Arbeit‹ (die auch mit ›Leiden‹ verbunden ist) bezeichnet werden. 29  Vgl. auch 599: »Das Schicksal liebt es, Muster und Figuren zu erfinden. Seine Schwierigkeit beruht im Komplizierten. Das Leben selbst aber ist schwer aus Einfachheit. Es hat nur ein paar Dinge von uns nicht angemessener Größe. Der Heilige, indem er das Schicksal ablehnt, wählt diese, Gott gegenüber. Daß aber die Frau, ihrer Natur nach, in Bezug auf den Mann die gleiche Wahl treffen muß, ruft das Verhängnis aller Liebesbeziehungen herauf: entschlossen und schicksalslos, wie eine Ewige, steht sie neben ihm, der sich verwandelt.« 30  In der Ungewißheit dessen, was getan werden soll, wendet Malte sich unmittelbar ratsuchend (betend) in inniger Vertraulichkeit an Gott und sagt (603): »Vielleicht meinst du, mein Gott, daß ich alles lassen soll und sie lieben. Oder warum wird es mir so schwer, ihnen nicht nachzugehen, wenn sie mich überholen? Warum erfind ich auf einmal die süßesten, nächtlichsten Worte, und meine Stimme steht sanft in mir zwischen Kehle und Herz. Warum stell ich mir vor, wie ich sie unsäglich vorsichtig an meinen Atem halten wurde, diese Puppen, mit denen das Leben gespielt hat, ihnen Frühling um Frühling 23 

24  Zur

»Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so b i s t du also.«  |  253

für nichts und wieder nichts die Arme auseinanderschlagend bis sie locker wurden in den Schultern.« 31  Zum Augustinischen Hintergrund vgl. vera rel. 72; conf. 3,11; dazu NF: Foris – intus; NF: Transzendieren und Transzendenz im Augustins ›Confes­ siones‹ (›tu autem eras interior intimo meo et superior summo meo‹). 32  Zu beziehen auf: »Wie die Natur die Wesen überläßt/ dem Wagnis ihrer dumpfen Lust…« (KA 2,324); zum ›Offenen‹ als Anzeige des göttlichen Bereichs vgl. auch den Brief an Witold Huléwicz (Briefe aus Muzot,333; bes. 334). Rilke will mit der gelegentlich ausgesprochenen Ablehnung des ›christlichen Sinnes‹ (auf dem Boden des Christlichen und im Ausgang von ihm) nicht vom wesentlich Christlichen weg, sondern tiefer in den Sinn des Christlichen eindringen und vielleicht über die faktische Verfassung des Christlichen hinausweisen. 33  Vgl. die Hinweise in Fn 18. Daß im folgenden Text beiläufig kirchliche ›Mystikerinnen‹ vom Schlage der Mechthild von Magdeburg und der Theresia von Avila herangezogen werden, wäre eigens zur Interpretation zu beachten. 34  Vgl. Albert Raffelt: Logik des Verstandes und Logik des Herzens bei Pascal, 128. Zitiert wird dort Blaise Pascal: Pensées 142 (Sellier 202): »Nous connaissons la vérité non seulement par la raison, mais encore par le cœur.« 35  Dazu wäre die Spannung von ›frui‹ und ›uti‹ im Denken Augustins zu beachten; vgl. Henry Chadwick: Frui–uti. 36  Vgl. 634: »In diesen Jahren gingen in ihm die großen Veränderungen vor. Er vergaß Gott beinah über der harten Arbeit, sich ihm zu nähern, und alles, was er mit der Zeit vielleicht bei ihm zu erreichen hoffte, war ›sa patience de supporter une ame‹. […] Die die Geschichte erzählt haben, versuchen es an dieser Stelle, uns an das Haus zu erinnern, wie es war; denn dort ist nur wenig Zeit vergangen, ein wenig gezählter Zeit, alle im Haus können sagen, wieviel. Die Hunde sind alt geworden, aber sie leben noch. Es wird berichtet, daß einer aufheulte. Eine Unterbrechung geht durch das ganze Tagwerk. Gesichter erscheinen an den Fenstern, gealterte und erwachsene Gesichter von rührender Ähnlichkeit. Und in einem ganz alten schlägt plötzlich blaß das Erkennen durch. Das Erkennen? Wirklich nur das Erkennen? – Das Verzeihen. Das Verzeihen wovon? – Die Liebe. Mein Gott: die Liebe.« 37  Auch dieser Gedanke läßt sich innerhalb der christlichen Tradition verstehen, wie sie bei Augustinus und Kant zum Vorschein kommt. Besonders eindrucksvoll ist Augustins Wort, daß Gott – obwohl er die ›Ruhe selbst ist (»tua quies tu ipse es«), am Ende der Tage in uns ruhen werde (vgl. conf. 13,52). Vgl. z. B. NF: Gott und Zeit in Augustins ›Confessiones‹. Zum ontologischen und theologischen Zentrum seines Denkens. Weiterhin NF: Endzweck Mensch. Zum Sinn der Schöpfung nach Immanuel Kant. 38  Vgl. Martin Heidegger: Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 42), 207: »Der Mensch muß sein, damit der Gott offenbar werde. Was ist 254  |  norbert fischer 

ein Gott ohne den Menschen? Die absolute Form der absoluten Langeweile. Was ist ein Mensch ohne den Gott? Der reine Wahnsinn in der Gestalt des Harm­losen.« 39  Vgl. dazu NF: Die Ursprungsphilosophie in Platons ›Timaios‹. 40  Vgl. den Kommentar von AS, hier bes. 1046–1049. 41  Der biblische Gedanke vom ›Bild Gottes‹ (Genesis 1,27) spiegelt sich in Maltes Rede vom ›Gott-Talent‹ (655): »Wenn seine verzehrte Gestalt für immer verschwindet in dem undatierten Verhängnis. Wenn es nach und nach klar wird, daß er, trotz der latenten Kraft seines eigenmächtig verwendeten Gott-Talents, an Gottes Besitzstand so wenig nachweisbar ist wie jene, die, schlecht und ausgehöhlt, auf Gott herabgekommen sind, als auf die leichteste und allgemeinste Ausschweifung, die sie noch konnten.« 42  Im Hintergrund wäre Augustins Wort zu betrachten (vera rel. 72): »noli foras ire, in te ipsum redi. in interiore homine habitat veritas. et si tuam naturam mutabilem inveneris, transcende et te ipsum.« Vgl. NF: Vom Berühren der ewigen Wahrheit. Zu Augustins christlicher Umdeutung der neuplatonischen Mystik. 43  Vgl. auch 571 (nach der zitierten Stelle: »Mein Gott, mein Gott«): »Und dennoch, seit einer Weile glaube ich, daß es unsere Kraft ist, alle unsere Kraft, die noch zu stark ist für uns. Es ist wahr, wir kennen sie nicht, aber ist es nicht gerade unser Eigenstes, wovon wir am wenigsten wissen?« Rilke scheint wie Augustinus anzunehmen, daß Gott uns innerlicher ist als unser Innerstes und höher als unser Höchstes (conf. 3,11): »tu autem eras interior intimo meo et superior summo meo«. Zum ›et tamen‹ Augustins und Rilkes ›Und dennoch‹ (das auch in MLB nicht selten ist) vgl. NF: »Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?«, bes. 287 f. 44  Diese Tatsache könnte ein Teil des Reizes gewesen sein, der Rilke dazu bewogen hat, selbst eine Übersetzung dieses ›opus magnum‹ Augustins in Angriff zu nehmen, auch wenn diese ein Fragment geblieben ist (vgl. SW 7,926–961). Immerhin ist Rilke von der Unerreichbarkeit des Ideals des Heiligseins überzeugt, in der auch ein systematisches Problem der ›Christologie‹ liegt, das sich bei Augustinus in der Lehre von der Idiomenkommunikation zeigt. Wenn wir (wie Augustinus in conf. 10,67–70 sagt ) als ›Sterbliche und Sünder‹ auf einen Mittler angewiesen sind, der – weil er (wie der biblische Jesus Christus) als Heiliger doch zugleich ein Sterblicher ist – und so als ›Mittler‹ (»mediator«) zwischen Gott und Mensch fungieren kann, so stellt sich die Frage, inwieweit ein solcher Mittler noch als ›wahrer Mensch‹ gedacht werden kann, weil Menschen die Heiligkeit zwar aufgegeben, aber nicht erreichbar ist. Diese der Lehre von der Idiomenkommunikation immanenten Probleme sind auch später weiter bedacht worden, z. B. durch Thomas von Aquin (vgl. z. B. Summa theologiae I 93,1c), wo Thomas erläutert, warum der Mensch nicht als ›Bild Gottes‹ gedacht werden kann, sondern als ›auf das Bild Gottes hin »Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so b i s t du also.«  |  255

geschaffen‹ (»ad imaginem«) gedacht werden muß. Ähnliche Hintergründe haben Kants Überlegungen, z. B. in GMS BA 29=AA4,408. 45 Vgl. aber Veronika Merz: Die Gottesidee in Rilkes »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«; vgl. auch die Kontroverse mit Martina WagnerEgelhaff (im vorliegenden Band erwähnt bei Georg Steer). Als wichtige Bestandsaufnahme sei noch einmal genannt: Maria Norberta Hoffmann: Rilke als Dichter der Transzendenz.

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– Wolfgang Braungart –

Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts Sprachsuche, Selbstsuche, Gottsuche in Rilkes ›Duineser Elegien‹1

Für Manfred Koch

1. Vorbemerkungen und einleitende Thesen Vielleicht wird man mich fragen: Wer, wenn du dies schriebest, interessierte sich noch für einen weiteren Aufsatz zu Rilkes Elegien? Oder, noch etwas elegischer und womöglich realistischer, mit einer kaum weniger berühmten Stelle: »Niemand wird lesen, was ich hier schreibe.«2 Aber neue geschichtlich-kulturelle Kontexte brauchen auch erneute Lektüren und Interpretationen bekannter Texte; und grundlegende Fragen erübrigen sich nicht von selbst, bloß weil sie schon oft gestellt worden sind. Dennoch muß man einräumen: Die Frage nach Gott bei Rilke wieder aufzunehmen, das könnte schon sehr nach erbaulicher Vereinnahmung schmecken und nach einer entsprechend orientierten Forschung, die einmal ihre Berechtigung gehabt haben mag, deren Zeit aber doch hinter uns liege. Nun bin ich grundsätzlich der Meinung, daß wir Texte (und Kunstwerke überhaupt) durchaus zu brauchen vermögen.3 Man sollte das wissen und damit angemessen umgehen: ein wichtiges Problem ethisch reflektierter Hermeneutik. Das ist das eine. Das andere ist: daß sich die Frage nach Gott auch in der Moderne keineswegs einfach erledigt hat. Würde man das be­haupten, simplifizierte man die Moderne selbst doch arg. Kaum ein Schriftsteller von Rang weicht dieser Frage völlig aus. Nur ist sie eben als eine moderne zu begreifen, also unter der Bedingung konsequenter und nicht hintergehbarer poetologischer und hermeneutischer (Selbst-)Reflexivität. Darum wird es mir im folgenden gehen. Um dies ein wenig verständlicher zu machen, muß ich zuerst in die Epoche zurückgehen,   |  257

in der sich die Moderne konstituiert: ins 18. Jahrhundert. Ich stelle dabei ganz auf die kommunikative und reflexive Bewegung des Subjekts, die kommunikative und reflexive Anstrengung, das Problem der Suche ab – und bin so schon ziemlich nahe an dem Zugang zu Rilkes Elegien, den ich anschließend umreißen werde. Zuvor fünf allgemeine, einführende Thesen: (1)  Die Beziehung zu Gott, zur Instanz der Transzendenz, kann, ja muß grundsätzlich auch als Suchbewegung aufgefaßt werden. Das gilt schon für das Alte Testament; es ist ebenso grundlegend für mystisches Denken; und es ist kein Privileg der westlichen Religionstraditionen. ›Spirituelle Suche‹ ist auch keine ›Erfindung‹ der Moderne,4 sondern ein Ausdruck unserer ›unruhigen Seele‹.5 Unruhig ist sie, weil wir ein – mehr oder weniger – reflexives Bewußtsein haben. Die Confessiones des Heiligen Augustinus thematisieren dies fortwährend.6 In der Moderne radikalisiert sich dieses Problem allerdings, weil sich das, was sich religiös gehört und was das im Religiösen Angemessene ist, immer weniger von selbst versteht und weil es immer stärker dem Individuum selbst überantwortet wird. Eine andere – und ebenfalls noch immer ›gebrauchte‹ – Form der Beziehung zu Gott ist die kultisch-rituelle: Sie wird realisiert als Vollzug dessen, was sich, wie gesagt, im Umgang mit dem Heiligen kulturell gehört; sie wird kollektiv verbindlich geregelt und erfordert Formen der Institutionalisierung. In ihnen wird das reflexive Bewußtsein entlastet; ihnen kann es sich anvertrauen. Hier findet die ›unruhige Seele‹ immer verläßliche Gestaltung vor; sie muß sie nicht selbst ›leisten‹. In kultisch-ritueller Religiosität stellt sich die Frage, ob und was einer subjektiv glaubt, solange nicht, wie glauben heißt: das kultisch-rituell Rechte, das Geforderte zu tun. Das macht Kult und Ritual gerade für die Moderne wieder so attraktiv – und verführerisch. (2)  Grundlegender Modus dieser reflexiven Suche ist die Sprachbewegung, in der sie sich artikuliert und in der sie kommunizierbar, also ganz wörtlich: gemeinschaftsstiftend wird und insofern teilbar. Eine solche Sprache muß aber selbst ständig errungen werden; man kann sie nur begrenzt vor-finden.7 Diese Spracharbeit, diese Sprachbewegung, ist deshalb ›poietisch‹, produktiv. Insofern ist sie die Sache selber; sie ist nicht sekundär. Auch dies gilt schon für das 258  |  wolfgang braungart 

Alte Testament und besonders für die Mystik, wo sich ihre poetische Kraft und Qualität zeigt. Darum ist die Geschichte von Religion immer eine Geschichte produktiver sprachlicher, imaginativer Pluralisierungen. (3)  Solche ›Suche‹ ist Aufgabe von ›Subjekten‹. In ihr konstituieren sie sich am ›ganz Anderen‹, und zwar in der suchenden Hinsprache, also performativ, im kommunikativen Prozeß. Sie ›vermögen‹ den andern, auch den ›ganz Anderen‹, insofern also doch ›zu brauchen‹. Wenn sie sich auf ihn beziehen, erfahren sie sich zugleich als auf ihn bezogen; ein Prozeß, in dem sie sich selbst nie abschließend begreifen, es sei denn in ihrer ›Aufhebung‹, in der ersehnten ›unio‹. Das ist ein ›Brauchen‹ des anderen, des ›ganz Anderen‹, ins ›Offene‹, nicht ein ›Brauchen‹ im Sinne eines ›Haben‹. Insofern ist es riskant und notwendig zugleich. (4)  Gerade diesen Prozeß-Gedanken kann und wird die Moderne weiterführen. Mit der späten Aufklärung wird ihr das Mythische, Anschauliche, Vorstellbare, Imaginative von Religion zum Problem werden. Radikalste Konsequenz dieses Mißtrauens in die vorgefundenen ›Bilder‹ der Religion ist die negative Theologie, die auch eine negative Religionsästhetik impliziert. Genau deshalb steht hier die Literatur als der kulturelle Ort der fortwährenden Produktion von Imaginationen seit der Romantik vor neuen Herausforderungen und neuen Aufgaben. Rilkes Elegien (und sein Werk überhaupt) nehmen sie an. (5)  Darum sind die Elegien auch als hermeneutische Poesie verstehbar. Das betrifft ihre poietische Sprachbewegung selbst genauso wie die verstehend-imaginative Leistung des hermeneutischen Subjekts, die sie von ihm verlangen. Von ihm ist eine viel größere Anstrengung gefordert, als sich ›nur‹ in einen ›Überlieferungszusammenhang‹ und in ein ›Traditionsgeschehen‹ vertrauensvoll einzurücken. Diese Anstrengung charakterisiert nicht eine nur selbstgenügsame Subjektivität. Subjektivität richtet sich vielmehr aus, sie transzendiert sich. Und sie weiß, daß sie das tun muß.

Von hier aus wird nun auch der folgende Abschnitt etwas weniger überraschend erscheinen.

Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  259

2. Ein Schritt zurück ins 18. Jahrhundert: Lessings ›Nathan der Weise‹. Oder: Religion ist auch für die Menschen da Es ist eine triviale, aber ganz und gar zutreffende Einsicht, daß sich in den großen Texten der Literatur immer noch und wieder etwas Neues entdecken läßt und etwas, was Bedeutung auch für uns Heutige hat – wenn wir das denn wollen und zulassen. Eben deshalb sind sie ja große Texte. Erlaubt sei also ein kleiner Exkurs, der für einen Moment in die Diskussion um das Wunderbare und das Wahrscheinliche im 18. Jahrhundert zurückführt. In Lessings ›dramatischem Gedicht‹ von 1779 (Uraufführung 1783) kommt Nathan der Weise, der mit Recht diesen Beinamen trägt, zu Beginn der Handlung von seiner Geschäftsreise zurück. Daja, die in Nathans Haus wohnende »Gesellschafterin« der »angenommenen Tochter« Recha,8 erzählt ihm nun, was während seiner Abwesenheit passiert ist: daß sein Haus gebrannt habe (dadurch setzt das Drama mit einem ganz großen Symbol ein!)9 und daß Recha auf wundersame Weise gerettet worden sei. Recha selbst aber ist von dem Erlebten noch ganz gefangen und beunruhigt: »Im Schlafe wacht / Im Wachen schläft ihr Geist: bald weniger / Als Tier, bald mehr als Engel« (I, 1, V. 63 ff.). Lessing – und mit ihm Rilke in den Elegien! – nimmt hier einen anthropologischen Topos der Aufklärung auf.10 Recha ist aus dem natürlichen, naiv-selbstverständlichen Rhythmus ihres Lebens herausgefallen: die Voraussetzung dafür, zu Bewußtsein und selbstreflexiver Vernunft zu kommen. Wird ihr das gelingen? Wird sie – und mit ihr etliche andere Figuren des Dramas – insofern ganz ›Mensch‹ werden? Daß wir (leidendes, erleidendes) Bewußtsein haben, das sich auf sich selbst zurückwendet, zurückwenden kann, macht uns als Wesen zwischen ›Tier und Engel‹ entscheidend aus (Kleist kommt bekanntlich darauf zurück, besonders in der Erzählung Die Marquise von O.);11 die Philosophie um 1800 ist fasziniert davon, die Literatur auch und problematisiert es sogleich. Auch dies markiert den Beginn der Moderne. Freilich: Eine sich auf sich selbst richtende Reflexivität kann auch dem religiösen Bewußtsein nicht fremd sein. Es muß sich schließlich selbst beobachten, um sich nicht den falschen seelischen Regungen hinzugeben.12 Auf Recha antwortet Nathan selbst sogleich entsprechend: »Armes Kind! / Was sind wir Menschen!« Wahrlich eine Grundfrage 260  |  wolfgang braungart 

von Literatur (und Religion). Auch auf sie gibt das Drama eine Antwort. Recha meint sich offensichtlich von einem Engel gerettet; an ihr habe sich mithin ein Wunder vollzogen. Eisern hält sie an dieser Überzeugung fest. Man muß hier bedenken, daß die Frage, welchen Status das Wunder, das Wunderbare für die Poesie habe, im aufgeklärten Literaturstreit zu Mitte des 18. Jahrhunderts zwischen den Zürchern Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger einerseits und dem Leipziger ›Literaturpapst‹ der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Johann Christoph Gottsched, andererseits zentral war. Er hallt offensichtlich in Lessings Nathan noch nach.13 Das Wunderbare wird bei Bodmer und Breitinger zu einem psychologischen Phänomen und ist ästhetisch verursacht. So wirkt es auf die Seele. Es wird nicht primär unter dem Gesichtspunkt des ›logischerweise‹, vernünftigerweise Möglichen und empirisch Wahrscheinlichen gesehen. Ein psychologisches Phänomen ist es ganz entschieden für Lessings Recha. Lessing radikalisiert jetzt die Position Bodmers und Breitingers, indem er den Raum, den die Seele beansprucht, ausdehnt und ihm noch mehr Eigenrecht zugesteht. Zäh und unbeeinflußbar durch jedes vernünftige Argument hält Recha an dieser Version ihrer Geschichte der Engelserscheinung fest. Das ist auch viel leichter. Vor-Urteile, eingeübte Denkmuster, ›verzogene Gewohnheiten‹ (Erste Elegie) entlasten. Recha kann sich, was sich an ihr vollzogen hat, nur als Einbruch des ›ganz Anderen‹ erklären. Nathan hat zwar gar nichts gegen Engel. Doch sich auf solche Wundergeschichten zurückzuziehen bei einem so bedeutenden Ereignis, das wäre ihm gerade zu einfach. Vor Beginn des zentralen Gesprächs mit Saladin, das dann zur Ringparabel führt, will Nathan selbst freilich den Sultan wie ein Kind ›einfach‹ mit einem Märchen ›abspeisen‹ (»Ich muß / Behutsam gehen! – Und wie? wie das? – So ganz / Stockjude sein zu wollen, geht schon nicht. – / Und ganz und gar nicht Jude, geht noch minder. / Denn wenn kein Jude, dürft er mich nur fragen, / Warum kein Muselmann? – Das wars! Das kann / Mich retten! – Nicht die Kinder bloß, speist man / Mit Märchen ab. – Er kömmt. Er komme nur!« [III, 6, V. 367 ff.]). Er muß also selber lernen, auch Saladin ganz ernstzunehmen und ihn nicht kindlich-didaktisch, nur psychologisch geschickt zu behandeln. Er muß seine eigene Vorgabe für die ganze Handlung, die Ablehnung einer zu einfachen Wundergeschichte im ersten Akt, selber einlöDas Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  261

sen. Ohne eine umfassend vernünftige, über sich selbst aufgeklärte, bewußte Anstrengung des Subjekts geht es auch bei ihm nicht. Nathan will Recha hier, schon zu Beginn der Handlung, aufklären. Das ist wohl noch zu früh. Dazu braucht es bessere, reflektiertere Voraussetzungen. Sie werden dann natürlich nicht zufällig genau in der Mitte des Dramas im Gespräch, ja Disput, zwischen Saladin und Nathan geschaffen. Daß Rechas Retter ein gewöhnlicher Mensch gewesen sei, das genüge doch vollkommen als Wunder. Ja, das sei eigentlich das größte Wunder, sagt Nathan (I, 2, V. 217 ff.): »Der Wunder höchstes ist, / Daß uns die wahren, echten Wunder so / Alltäglich werden können, werden sollen.« Und dann, wiederholt, sehr eindringlich insistierend (Rilke ist jetzt auch sprachlich gar nicht mehr so weit weg), denn darauf kommt es ihm und dem ganzen Drama an (IV, 2, V. 168, 174, 180 f.): »Es war ein Mensch«, der Recha gerettet habe. Das hört sich an wie die vorweggenommene Replik auf den ebenfalls wiederholten, mit dogmatischer Härte genau dreimal vorgebrachten Satz des Patriarchen: »Tut nichts! der Jude wird verbrannt«. Der Patriarch nämlich definiert sich ganz als Repräsentant seiner Institution. Er denkt nur vom Machterhalt her, damit gleichsam anstrengungslos, weil nicht als selbst-bewußtes, selbst-reflexives, sich vor sich selbst, seinem Gewissen auch rechtfertigendes Subjekt. Durch Nathans beharrliche kommunikative Anstrengung aber werden Recha und alle übrigen (der Patriarch ausgenommen, eben weil er sich nichts anderes vorzustellen vermag als Repräsentant zu sein) auf das eigentliche Wunder, das der Mensch und das Menschliche selbst sind, zurückgeführt. So wie Minna in der Komödie ›Minna von Barnhelm‹, zehn Jahre früher, durch die Kraft ihrer Liebe ihren Major Tellheim auf dieses bloße Menschsein zurückführt.14 Und wäre dieses bloße Menschsein nicht Wunder genug? Auch Minna muß zäh kämpfen, geleitet von dem, was sie ausmacht und was ihr Name schon sagt: die Liebe. Bevor man in Lessing etwas zu schnell den ›Apostel‹ aufgeklärter religiöser Toleranz sieht, muß man schon auch wahrnehmen, daß er dafür ein Argument entwickelt, das grundlegende Bedeutung hat. Wieder sind wir nicht weit weg von Rilke. Humanisierung von Religion: Das ist eine Grundintention von Lessings letztem Drama, und wir müssen sie ganz wörtlich nehmen. Sie ist unsere Aufgabe. ›Humane‹ Auslegung ist von uns zu leisten. Religion allein als ›ob262  |  wolfgang braungart 

jektives‹ System mit mehr oder weniger großer theologischer Stringenz: Das ist gar nicht so sehr die Frage. Die Frage nach der ewigen, richtigen Religion ist gar nicht relevant, sondern nur die, welche Auslegungen für uns, auch heute, sinnvoll und human sind. Religion ist nicht nur für das Heilige da, sondern genauso für die Menschen selbst. Im Hinblick auf die Religionskonflikte der Gegenwart hat das nichts von seiner Bedeutung verloren. Aber es subjektiviert Religion auch radikal. Religion braucht also offensichtlich diese dialektische Spannung: zwischen dem rechten Ausdruck unserer selbst und dem rechten Tun für uns Menschen einerseits; und der Orientierung auf das Heilige hin und dem rechten Tun, das sich auf das Heilige richtet, andererseits. Denn wo bliebe sonst noch Raum für das religiöse Geheimnis, für das ›Fascinosum et Tremendum‹ (Rudolf Otto). Im Ereignis der durchaus religiös motivierten humanen Praxis selbst? Das ist die Antwort der ›Ring-Parabel‹. Genügt das? Und überfordert das uns Menschen nicht womöglich, diese dauernde kommunikative Selbstkonstitution? Mit dieser Frage kämpft schon Lessing und dann erst recht die Romantik in der Debatte um eine ›Neue Mythologie‹. Denn dahinter erscheint das moderne Gespenst des ›erschöpften Selbsts‹, wie der französische Soziologe Alain Ehrenberg es treffend genannt hat, weil dieses ›Selbst‹ nun alles allein »leisten« soll.15 »Und so drängen wir uns und wollen es leisten, / wollens enthalten in unsern einfachen Händen, / im überfüllteren Blick und im sprachlosen Herzen. Wollen es werden«, heißt es in der Neunten Elegie. Die Wiederholung der Konjunktion »und« läßt spüren, wie notwendig und zugleich anstrengend die Aufgabe ist (DE 9, V. 17 f.): »Wollen es werden«, romantisch gesprochen: »Wir« sollen also immer nur Werdende, immer nur im Werden sein? Also (DE 9, V. 20–22): »Wem es geben? Am liebsten / alles behalten für immer … Ach, in den andern Bezug, / wehe, was nimmt man hinüber?« – An der Frage des ›Geheimnisses‹ scheiden sich generell die Geister der Buch- bzw. der Textreligionen. Sie impliziert eine hermeneutische Grundfrage: Gestehe ich zu, daß es einen tieferen, verborgenen, womöglich nie ganz aufklärbaren Sinn hinter dem initialen gibt? Wer diese Frage bejaht, muß auch die innere Differenzierung von Religion und von Kunst zulassen. Oder gehe ich davon aus, daß der wörtliche, buchstäbliche Sinn der einzige ist, das autorisierte Wort Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  263

Gottes? Wer dies behauptet, provoziert religiösen Fundamentalismus: »Tut nichts! der Jude wird verbrannt«. Die Analogie zum ästhetischen Diskurs ist offensichtlich. Indem der Diskurs der Aufklärung theoretisch und ästhetisch (etwa im Geheimbundroman) wie sozial-praktisch (Freimaurer, Illuminaten)16 die Frage des Geheimnisses in sich aufnimmt, bewahrt er sich auch die Aufmerksamkeit für ein womöglich simplifizierendes Verständnis von Vernunft. Nicht nur wegen dieses Diskurses über die Erscheinung des rettenden Engels und des vermeintlichen Wunders habe ich den kleinen Nathan-Exkurs an den Beginn gestellt. Er muß im Zusammenhang mit dem ›Fragmentenstreit‹ und den weiteren Debatten der Aufklärungstheologie um die Geltung der christlichen Religion, den Status der Dreifaltigkeit, der Offenbarung und des Wesens Gottes gesehen werden. Lessing selbst steht im Zentrum dieser Debatten. Sondern auch dieser regelrechten Vorführung der gemeinsamen kommunikativen Anstrengungen halber, die das Drama leistet. Ihrer bedarf es, wenn das ›nackte Subjekt‹,17 der bloße Mensch, jenseits aller Nützlichkeiten und Brauchbarkeiten hervortreten und anerkannt werden soll.18 Denn das vollzieht sich mit dem Drama Lessings auch: eine Vorführung dessen, was wirklich aufgeklärte, das heißt: emphatisch verstandene Kommunikation in diesem ihrem Prozeß ist, in dem sich Gemeinschaft herstellen kann und muß im Vertrauen auf das, was wir gemeinsam haben: unsere Vernunft, und in der Anerkennung dessen, was wir unaufgebbar und unhintergehbar sind: »ein Mensch«. Hauptmann Werner in Lessings Minna von Barnhelm zum Major »ärgerlich: ich bin ein Mensch«. Worauf Tellheim nur noch bitter-ironisch kommentiert: »Da bist Du was rechts!« (V, 11, 105). Das muß er freilich selber noch ganz begreifen, und er begreift es am Ende. Denn das ist wirklich »was rechts«, »ein Mensch« zu sein. Auf die Bühne kommt also ein Prozeß, eine Bewegung, in der diese Einsicht regelrecht kommunikativ erarbeitet wird. Auf das Prozeßhafte, das auch für uns selbst im ästhetischen Verstehen gefordert ist, komme ich am Ende noch einmal zurück. Lessing ist, wenn ich mich nicht täusche, der erste Autor der Neuzeit, der dieser Idee der Würde des Menschen jenseits seiner Nützlichkeiten und Brauchbarkeiten, jenseits seiner Instrumentalisierbarkeit so deutlich und kompromißlos literarische Gestalt verleiht. Aber wie eben schon gefragt: Wo bleibt nun das ›Wunder‹, das 264  |  wolfgang braungart 

ganz und gar Unbegreifliche, das Geheimnis der Transzendenz? Ist es das Geheimnis des Subjekts selbst in seiner Subjektivität? Wer vermöchte schon von sich und vom andern sagen, wer er ist. Wie immer man das Pontifikat Papst Benedikts XVI. einmal einschätzen wird: Ihm ist zu danken, daß die hohe Bedeutung der Aufklärung auch katholischerseits endlich auch von Rom aus mehr anerkannt wird. Man muß sich nichts vormachen: Die epochale Leistung der Aufklärung gelten lassen zu können, fordert den Katholizismus bis heute heraus. Aber es gibt hier eine Grundspannung, die sich auch bei Benedikt nicht auflöst und sich für religiöse Menschen nicht auflösen läßt. Zwischen der aufgeklärten Position einerseits: Wir müssen unsere Dinge selbst leisten in unseren kommunikativen Prozessen; und wir können dies auch, dank der uns gemeinsamen Vernunft und unserer Herzensbegabungen. Und einem Verständnis von Glaube, Religion und Kirche andererseits, das an der NichtVerfügbarkeit Gottes und seiner fortlaufenden Selbstrealisierung in der Heilsgeschichte, mithin des religiösen Geheimnisses, festhält. Die aufklärungskritische Vernunftkritik, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einsetzt (übrigens auch schon bei Lessing), bewahrt diesen Gedanken, daß es für das funktionalistische, instrumentelle Denken Unverfügbares gibt, im Zeichen von Natur, Anthropologie und Geschichte. Die Idee der Würde des Menschen, auf deren auch literarische Genese ich hier einen ganz flüchtigen Blick geworfen habe, ist ohne die jüdisch-christliche Tradition nicht zu denken. Sie geht nicht aus der aufgeklärten, sich autonom und säkular verstehenden Vernunft allein hervor. Hans Joas hat dies betont und den Prozeß der ›Sakralisierung der Person‹ im 18. Jahrhundert, der zur Ausformulierung und politischen Etablierung der Idee der Würde des Menschen geführt habe, auch von der jüdisch-christlichen Tradition her rekonstruiert, obwohl es eine spezifische Konstellation brauchte, damit sie politisch umgesetzt werden konnte.19 Was wirklich autonom und unverfügbar ist: das Heilige, dem gebührt Verehrung um seiner selbst willen. Gott, dem Heiligen kommt unsere interesselose Liebe zu, unser interesseloses Wohlgefallen, wie es Moritz und Kant für das Schöne fordern. Man sollte Rilkes Konzeption der Liebe, seine Verwerfung eines bloß instrumentellen Verhältnisses zum geliebten Menschen, zur Welt und zur Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  265

Transzendenz in diesem größeren Zusammenhang sehen. Selbstzweckhaft ist letztlich auch die Liebe Gottes (genitivus subjectivus und objectivus). In der nicht-instrumentellen Liebe bekommt auch die Transzendenz gewissermaßen ihre Würde zurück. Man muß also die Moderne in ihrer Wurzel, in ihrer Genese bejahen! Das ist, bei aller berechtigten Kritik an den Auswüchsen des modernen Individualismus, die grundsätzliche Position Charles Taylors, der ich zustimme.20 Es ist insofern, vom 18. Jahrhundert her gesehen, in höchstem Maße berechtigt, die religiöse Frage nach der Transzendenz und die poetologische nach der poetischen Bedeutung des Geheimnisses, des ›ganz Anderen‹, die Frage nach der Kunst, generell und besonders bei Rilke aufeinander zu beziehen. Denn die Kunst wird mit dem 18. Jahrhundert der kulturelle Ort des Geheimnisses, des Unverfügbaren, das uns nicht nur die unabschließbare, prozeßhafte Anstrengung des Verstehens, sondern auch der ebenso immer neu geforderten Anerkennung und Zustimmung abverlangt.21 So wird die autonome Kunst zum großen Symbol der Würde und Unverfügbarkeit des Menschen selbst. Genau dies gelingt den Elegien auf ihre Weise in ihrer Prozeßhaftigkeit, in ihrer Sprach- und Suchbewegung, in ihrer Grundspannung von Hymnischem und Elegischem. Ich habe mir diese Zumutung zur Einführung erlaubt, weil von dem hier nur allzu knapp skizzierten Problem aus ein eigenes Licht auf die schier übergroßen Anstrengungen poetischer Rede, poetischer Kommunikation, auf die Verwerfung eines instrumentellen Weltverhältnisses und sogar auf den Engel Rilkes fällt. Ich schließe an diesen aufklärerischen, modernen Gedanken des ›produktiven‹ Verhältnisses des Menschen zu sich, zum Sozialen, zur empirischen Welt und schließlich auch zum Heiligen an,22 der kommunikativen Bewegung und zugleich großen subjektiven Anstrengung, wenn ich bei Rilke dieses Moment der Bewegung und der ›spirituellen Suche‹ betone, das nicht bloß ein Vorlauf zum ›Eigentlichen‹ ist, sondern die Sache selbst. Wer richtig zu suchen weiß, dem kann sich freilich auch etwas »heranheben« und »hingeben« (1, V. 28–30), etwas widerfahren und gnadenhaft geschenkt werden, was er sich durch die Suchbewegung zwar nicht wirklich verdient, worauf er sich aber doch vorbereitet hat, ohne je der Frage entgehen zu können: »Aber bewältigtest du’s?« (1, V. 31) 266  |  wolfgang braungart 

3. Natürlich: die Engel – Figurationen des Geheimnisses, der Transzendenz oder unserer Subjektivität? Oder beides? Rilkes Duineser Elegien sind ein lyrischer Zyklus; vielleicht der bedeutendste und konsequenteste, den die moderne deutsche Lyrik kennt. Sie entwickeln ein großes Thema, das sie zentriert, ohne daß sie dabei wirklich – in einem teleologischen Sinne – vorankommen. Das dürfen sie auch gar nicht, wenn sie ihrem zentralen Gedanken, dem rechten Verhältnis zur Transzendenz, zur Welt, zum Menschen selbst, nicht performativ widersprechen wollen. Mit dem Ende kehren sie also, nachdem sie ihr Thema ausgeschritten haben, zu ihrem Anfang zurück.23 Die Verse, mit denen Rilkes Erste Duineser Elegie eröffnet wird, gehören zu den berühmtesten in der Geschichte der deutschen Lyrik, und dies vollkommen zu Recht (DE 1, V. 1–9): Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich. Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf dunkelen Schluchzens.

Die Engel also, schon wieder Rilkes berühmte Engel! Hätten sie sich nicht endlich einmal eine hermeneutische Pause verdient? Aber von Gott ist direkt nur einmal in den Elegien die Rede. Dies nicht zufällig an einer besonders vertrackten Stelle der ›Ersten Elegie‹: »Nicht daß du Gottes ertrügest die Stimme, bei weitem. Aber das Wehende höre« (1, V. 58 f.; Herv. d. Verf.), also das Amorphe, nicht Faßbare »höre«, das, was nicht bildhaft konkretisiert wird (das sagt der Lyriker!) und doch seit jeher Zeichen der Transzendenz ist, die vielleicht nur so erfahrbar sein kann. Der »Wind voller Weltraum« begegnet dem Leser schon zu Beginn der Elegien. Der Sturm, der vom Paradies her bläst, treibt auch noch Benjamins Engel der Geschichte in die Zukunft. In den Elegien sind die Engel die grundlegende Figuration der Transzendenz. Sie sind das eigentliche Gegenüber zur Sprecherinstanz, die sich als ›Ich‹- wie auch als ›Du‹Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  267

und als ›Wir‹-Instanz äußert. Sie sind der Adressat der poetischen Rede in der Ersten Elegie und noch am Schluß in der Zehnten Elegie (und auch in allen anderen außer der dritten, sechsten und achten). Mit ihnen wird der Zyklus also eröffnet und geschlossen. In der Anrede an sie konstituiert sich die hymnische (das heißt aber auch: von unten nach oben, hierarchisch ausgerichtete) und die elegische Sprech-Position des Subjekts (also: grundsätzliche Unterlegenheit, grundsätzliche Vergeblichkeit). Wenn demnach nicht direkt von Gott selbst die Rede ist, so umso mehr von Gottes Boten. Mit der Medienphilosophin Sybille Krämer: von seinen Medien, die die Kommunikation mit der Transzendenz – von dort nach hier, von hier nach dort – ermöglichen.24 Sie könnten, traditionsgeschichtlich gesehen, Gottes Hermeneuten sein. Sie sind es hier aber nicht. Das sind poeto-theologische Aussagen, die weder in die eine (hin zur Poesie), noch in die andere Richtung (hin zur Theologie) einseitig aufgelöst werden können. Die Engel sollen bei Rilke Hermeneuten des Menschen sein, gerade als diejenigen, die ganz anderen »Ordnungen« angehören: »euch frag ich nach uns«. – Ich benutze, eigentlich unnötig zu sagen nach dem LessingVorspann, den Begriff ›Kommunikation‹ nicht in dem etwa von Botho Strauß zu Recht so scharf kritisierten Trivialverständnis von Gerede, gar völlig leerem Geräusch, sondern emphatisch von der Idee der Communio her: also für den oft sehr anstrengenden, oft aber auch anstrengungslos wie von selbst, wie geschenkt gelingenden Prozeß, in dem letztlich Gemeinschaft möglich und erfahren werden soll. Ohne die Engel haben wir zu ihm hier keinen Zugang und läuft unser »Hinweg« nur ins Nichts. Aber vielleicht tut er das dennoch, auch mit den Engeln? Rilke hat bekanntlich eine Deutung der Engel in der jüdischchristlichen Tradition zurückgewiesen. Dazu muß man grundsätzlich sagen, daß das Kulturelle, auf das er sich damit bezieht, einem Autor nicht einfach gehört wie ein Besitz. Rilke läßt eine Deutung in dieser Tradition selbst zu, wenn die ›Zweite Elegie‹ an die »Tage Tobiae« erinnert, »da der Strahlendsten einer […] an der einfachen Haustür« stand und sich als Reisebegleiter anbietet, so nun »schon nicht mehr furchtbar« (DE 2, V. 3 f.). An die Tage also, da es noch einen, sozusagen, selbstverständlichen, naiven ›Grenzverkehr‹ zwischen Immanenz und Transzendenz gegeben haben soll. Den 268  |  wolfgang braungart 

könnten wir Heutigen aber nicht mehr aushalten. Uns »erschlüg[e] das eigene Herz« (DE 2, V. 9), unsere überraschte und überforderte Subjektivität, die so beschaffen ist, daß sie die tatsächliche, objektive Präsenz des ›ganz Anderen‹, des Heiligen, nicht mehr erträgt. Ihr ist es unmöglich geworden, mit der selbstverständlichen Realpräsenz des Heiligen, in Gestalt etwa des »Erzengels«, zu leben. In den »Tage[n] Tobiae« war er nur »ein wenig verkleidet«, unterschied sich also gar nicht so sehr von uns und gehörte einfach zum Menschlichen dazu. Warum das so anders geworden ist, nämlich durch die unterscheidende Kraft unseres Bewußtseins – »wir sind nicht einig« –, darauf sind die Elegien insgesamt ein großer Antwortversuch. Aber sie unternehmen ihn in ihrem Vollzug. Man sollte Rilkes Elegien jedoch nicht vorschnell nur als einen großen Klagegesang über den Verlust einer ehemals vermeintlich intakten, vermeintlich authentischen Religiosität und naiven Einheit verstehen. Denn in jenen »Tage[n] Tobiae« gab es eben auch keinen wirklichen Abstand zum Heiligen, der es erlaubt hätte, das Heilige als ein solches ›ganz Anderes‹ wahrzunehmen und anzuerkennen – und damit auch uns selbst in unserem Gegenübersein. Denn im Unterscheiden werden immer beide Seiten bestimmt. Dazu ist aber erst die Subjektivität, unser »Herz«, unser »Gefühl«, unser entwickeltes Bewußtsein in der Lage. Diese unsere Subjektivität ist eine, die von sich selbst weiß und sich selbst beobachtet. Wenn auch »bang vor [ihres] Herzens Vorhang«, weil nicht, nie klar ist, was alles hinter dem Vorhang zum Vorschein kommt (DE 4, V. 19). Jetzt und immer weiter, unabschließbar, hat man sich nur erst einmal als Zuschauer vor seiner inneren Bühne eingefunden (DE 4, V. 37): »Hab ich nicht recht?« Ja, dieses poetische Subjekt hat recht. Selbstreflexive Subjektivität ist also geradezu Voraussetzung dafür, daß das Heilige seinen vollen Rang, seine volle Würde des ›ganz Andersseins‹ zugesprochen bekommen kann. Auch darum sind die Engel »schrecklich«, weil sie es jetzt erst wirklich sein können. Sie sind nun nicht mehr nur vertraute Weggefährten. Sie sind schrecklich, weil sie in der Unterscheidung die Konstitution des Subjekts in seiner Reflexivität ermöglichen: also das reflexive Gericht des Subjekts über sich selbst. Aber als solche Engel des (Selbst-)Gerichts sind sie eben Voraussetzung für dieses Subjekt selbst. Es hat diesen Akt der reflexiven Wahrnehmung und Anerkennung immer selbst Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  269

zu leisten. Es wird nie fertig. (Ich rücke damit Mystik und Schleiermacher ziemlich nahe aneinander.) Aus dem unaufhebbaren Verlust jener Naivität der »Tage Tobiae« wird demnach zugleich eine große Herausforderung und ein großer Gewinn: Die Elegien sind wirklich elegisch und hymnisch zugleich. Mit der Kraft des Subjekts, das Höchste, Heilige in seiner unüberbrückbaren Differenz zu uns zu erkennen, kommt auch das Subjekt in seiner Subjektivität wirklich zu sich selbst, findet sich, begreift sich, erkennt sich, erkennt sich selbst an. »War es nicht Wunder? O staune, Engel, denn wir sinds / wir, o du Großer, erzähls, daß wir solches vermochten« (DE 7, V. 74 f., freilich mit Bezug auf die von Menschen geschaffene große Architektur, in der aber auch »wir« uns ausdrücken). Ich bleibe in der Linie des späteren 18. Jahrhunderts, die ich eingangs mit den Hinweisen auf Lessing begonnen habe und die jetzt mit der Bewußtseinsphilosophie um 1800 weiterzuziehen wäre. Engel sind aber auch, jenseits von individueller Gläubigkeit, kulturelle Tatsachen. Sie laden sich von der Kultur aus, der islamischen, der jüdischen, der christlichen, mit Bedeutung auf. Deshalb kann über sie hier viel konkreter poetisch gesprochen werden. Der Dichter erfindet sie nicht einfach; er findet sie auch vor. Wie reich damit die poetische Einbildungskraft zu tun bekommt, zeigt sich in der Zweiten, der Engels-Elegie. Eindrucksvoll ist, wie in dieser Strophe die mythopoetisch konstituierte, ästhetische ›Objektivität‹ der so nun auch ästhetisch erfahrbaren Engels-Ordnung übergeht in die Anerkennung ihrer eigenen Subjektivität, die sich in ihrer eigenen »Wonne« und ihrem »stürmisch entzückten Gefühl« zeigt. Das macht sie, die uns so fern und anders sind, »uns« dann doch so nah. (Das Problem der Aura; es beschäftigt nicht nur Walter Benjamin.) So werden sie im poetischen Verfahren wirklich zu unserem Gegenüber (DE 2, V. 10–17): Frühe Geglückte, ihr Verwöhnten der Schöpfung, Höhenzüge, morgenrötliche Grate aller Erschaffung, – Pollen der blühenden Gottheit, Gelenke des Lichtes, Gänge, Treppen, Throne, Räume aus Wesen, Schilde aus Wonne, Tumulte, stürmisch entzückten Gefühls und plötzlich, einzeln, 270  |  wolfgang braungart 

Spiegel, die die entströmte eigene Schönheit wiederschöpfen zurück in das eigene Antlitz.

An den Engeln als kulturelle Tatsachen und Figurationen des kollektiven Gedächtnisses – etwas zugespitzt: jeder weiß, wie Engel aussehen; jeder hat sie schon gesehen – ist also religiöse Erfahrung als aisthetische, sinnenhafte Erfahrung von Transzendenz viel leichter möglich. Diese sinnenhafte Erfahrung richtet sich auf den ganzen Kosmos als Schöpfung, der sich in den Engeln zeigt (»morgenrötliche Grate / aller Erschaffung«). Wie sollte man dagegen aber Gott erfahren? Die »Vielfalt der religiösen Erfahrung«, die William James in seinem berühmten Buch von 1901/02 analysiert, ist in Wahrheit eine Vielfalt religiöser Gefühle und Bewußtseinszustände des Subjekts, die förmlich nach den objektiven »Ordnungen« als Widerpart und Gegenlager ›schreien‹, wenn sie sich nicht in sich selbst verlieren wollen. Man sieht: Ich versuche, eine gewissermaßen ›protestantische‹, am Subjekt in seiner Subjektivität orientierte, und eine gewissermaßen ›katholische‹, ›objektive‹ Position theo-poetisch miteinander zu verbinden. Ohne die Subjektivität fehlt Religion (und Kunst) das dynamisierende Ferment des lebendigen Geistes. Ohne Kult und Ritual fehlt ihr das Stabilisierende, Strukturierende, Vergemeinschaftende der Form, das auch dem Subjekt einen Raum gibt, sich zu »bergen« (DE 1, V. 696 f.). Die literarische Moderne tut sich schwer, nach der Mythologiekritik der Aufklärung über Gott noch viel Konkretes zu sagen. Höchstens in seiner Negation scheint das noch möglich.25 Höchstens über den Gottessohn, den Menschensohn, zu dem auch Rilke wirklich Bedeutendes und Ergreifendes zu sagen hat (so etwa im Gedicht Der Ölbaumgarten aus den Neuen Gedichten).26 Für die Elegien aber bleibt Gott poetisch ein moderner Deus absconditus. Sie brauchen deshalb die (kulturelle) Objektivität und (kulturelle) Erfahrbarkeit der Engel, auf die auch der mythopoetische Dichter setzt. Dieser Begriff der ›Mythopoesie‹ wird in der Forschung zu den Elegien immer wieder benutzt. Er verweist auch auf die romantische Idee einer ›Neuen Mythologie‹: Die Aufgabe einer romantischen, das heißt einer modernen, mythopoetischen Poesie sei ja mit dieser Idee geradezu identisch. Ich nehme mit diesem Begriff der Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  271

›Mythopoesie‹ das schon umrissene Problem der Anstrengungen des Herstellens, des kommunikativ zu Leistenden wieder auf. Hier zeichnet sich eine schwierige Spannung zwischen einer ›Gemachtheit‹ einerseits ab, die aus der poetischen Subjektivität hervorgeht – und andererseits der trans- bzw. intersubjektiven Allgemeinheit und Geltung, die Poesie auch beanspruchen muß, sonst kann sie sich dem andern nicht ›ansinnen‹ (Kant: z. B. KU B 110). Daß sie das kann, ist eine wesentliche Leistung der Form. Auch Religion sichert diese ihre Geltung durch Form und Gestaltung, durch Kult und Ritual, also ebenfalls ästhetisch-performativ; zugleich durch Institutionalisierung, durch Dogmatisierung. Literatur um 1800 hat im Konzept der romantischen Mythopoesie nur ihre ästhetische Verbindlichkeit.27 Die Spannung wird nicht aufgelöst, sondern poetisch produktiv gemacht, indem Mythopoesie als transzendentale, also ironische, progressive Universalpoesie gedacht wird. Hans-Georg Gadamer sieht in den Bildern der Elegien generell gewissermaßen mythopoetische Objektivierungen der Subjektivität selbst, die verstehend rückübersetzt werden müßten. Anthony Stephens hat das überzeugend kritisiert; besonders die Vorstellung der Rückübersetzbarkeit, die Rilke zum allegorischen Dichter machte.28 Gadamers Position ist in der Tat forciert, zumal sie die poetische BildKraft der kulturellen und religiösen Tradition, in der auch der Dichter steht, merkwürdigerweise unterbestimmt, erst recht aber die Kraft gelingender poetischer Gestaltung, die auch bei Rilke ihr eigenes Recht beansprucht und nicht einfach ›rückübersetzt‹ werden kann. Diese Position wäre aber auch für Religion in der Moderne zu eng, wie uns in jüngster Zeit in der öffentlichen Debatte Charles Taylor (in seiner Schleiermacher- und James-Kritik) sehr nachdrücklich vor Augen führt. Auch in der Moderne kann Religion nicht nur religiöses Gefühl des Subjekts sein, wenn sie denn irgendeine Relevanz beanspruchen will, die über das Subjekt selbst hinausgeht. Und das muß Religion. Stichwortartig: Schleiermacher und Karl Barth; religiöse Subjektivität und Tradition, Institution, Systematik; Suchbewegung des Subjekts und transsubjektiver Kult, gemeinschaftsstiftendes Ritual. In meinen Eingangsthesen habe ich dieses Problem schon zuzuspitzen versucht. Es ist nun eine große Leistung von Rilkes poetischem Werk, schon des Stundenbuchs, in der prinzipiell unendlichen, unendlich 272  |  wolfgang braungart 

schwierigen, kreisenden, um Sprache ringenden Hinsprache auf den »Herrn« die religiöse Frage zugleich eben als genuin moderne Frage formuliert zu haben, nämlich als die Frage nach dem Subjekt, das sich selbst in seinem Selbst- und seinem Weltverhältnis immer sucht und nie stabil hat. Das sprachliche Bauen Gottes und des Subjekts, die moderne, ›progressiv‹ unabschließbare Arbeit am ›ganz Anderen‹, die ›Gott‹ meint und genauso das Subjekt selbst, kennt hier schon die Vergeblichkeit, den Umschlag nämlich in die Negativität des Nicht-Sagen-Könnens, des Verstummens und des Nicht-Verstanden-Werdens (DE 8, V. 68 f.): »Wir ordnens. Es zerfällt / Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.« Nun also auch so: das Elegische und Hymnische zugleich. Poetologisch heißt das in der Romantik: Favorisierung des Fragments. Aber bei Rilke? Die Elegien bilden eine ästhetische GesamtGestalt, einen Zyklus. Ja, sie sind wirklich einer. Sie konstituieren damit eine poetisch-ästhetische Ordnung, eine Gestalt dort, wo das Problembewußtsein einen Abschluß nicht mehr möglich erscheinen läßt. Nie zuvor im Werk hat Rilke den lyrischen Zyklus so konsequent durchgeführt wie jetzt in den Elegien. Ihr semantisches Zentrum ist die Konstellation ›Ich/Du/Wir‹ in ihrem Verhältnis zum Engel. Darum entwirft die Zehnte und letzte Elegie diese große Allegorie der ›Leid-Stadt‹. Sie verweist auf sich selbst, insofern sie als Allegorie, das heißt: als gemacht erkannt werden soll, als Mythopoesie, die sich ganz der Kraft und Intensität der Kunst verdankt. Hier ist die meistens problematische Metapher der Konstruktion einmal angebracht. (›Konstruieren‹ wir schon, wenn wir uns kulturell artikulieren?29) Der Zyklus der Elegien ist zu Ende und könnte von neuem beginnen in seiner Bewegung, elegisch und hymnisch, ohne Ende. Aber es sind doch auch genau zehn Elegien; und dies wohl mit Bedacht. Die Zahl Zehn ist symbolisch hoch aufgeladen. Nach der Kreisbewegung um das eine große Thema ist, sozusagen, alles gesagt. Das heißt: Die ästhetische Form ist die moderne Lösung für eine Aufgabe, die größer nicht sein könnte und sich nicht (mehr) lösen läßt.30

Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  273

4. Der Rilke-Ton: Bedeutung der Aufgabe, Intensität der Suche In seinem Anspruch, seiner rhetorischen Wucht und seinem Pathos ist der Beginn der Ersten Duineser Elegie vielleicht nur noch dem Beginn von Hölderlins Patmos vergleichbar: »Nah ist / und schwer zu fassen / der Gott.«31 Auch hier schon: eine poetische Version der Aura! Nah und zugleich unendlich fern. Der Beginn der Elegie ist eine Stelle, an der das Verstehen beginnt, ja beginnen muß. Denn sofort wird ein rhetorischer Druck aufgebaut, wird der Ton so insistierend, daß der Leser kaum eine Möglichkeit hat, auszuweichen oder auch nur allmählich, gemächlich in das Gedicht hineinzufinden. Rilke streift immer wieder den Kitsch, ja, mitunter überschreitet er die Grenze durchaus. Das zu behaupten, kann man als unangemessene Kritik an einem großen poetischen Werk verstehen.32 Mir scheint es dennoch unstrittig so zu sein. Es läßt sich kaum bezweifeln (und so ist es auch von ihm selbst gesehen worden), daß Rilke sich selbst gegenüber nicht immer genügend kritischen Abstand hatte, daß er auch nicht alles in derselben Intensität durchgearbeitet und teilweise zu früh und unnötigerweise veröffentlicht hat. Man muß darin jedoch keineswegs notwendig einen bloß kritischen Einwand sehen. Ich will vielmehr nur verdeutlichen, wie stark, wie insistierend die kommunikative Bewegung ist, auf die sich Rilke einläßt. Sein Werk ist immer auch äußerste Sprachsuche für ein äußerstes Anliegen. Davon versuche ich zu sprechen. Der Rilke-Ton ist so charakteristisch und so durchgängig wie bei kaum einem Autor der Moderne sonst, daß er schon früh zur Parodie eingeladen hat. Das Insistierende, ja Zudringliche dieses Tones macht den Fehl, den Mangel und zugleich die Größe der Aufgabe spürbar, die zu »leisten« ist mit »unsern einfachen Händen, / im überfüllteren Blick und im sprachlosen Herzen« (DE 9, V. 17 f.). Und das ist eine große poetische Leistung. »[I]m sprachlosen Herzen«? Dann wüßten wir gemeinsam nichts davon. Es gäbe nur eine instinktive ›Communio‹ des naiven Bewußtseins. Wie die »findigen Tiere«. Damit aber würden »wir« uns selbst gerade verfehlen in dem, was uns eigentlich auszeichnet: unser Bewußtsein. Rilke ist, neben Jean Paul, der bedeutendste Manierist der modernen deutschen Literatur. Keinen erkennt man so deutlich an seinem Ton, an seinem Stil, an charakteristischen Formeln, Kon274  |  wolfgang braungart 

struktionen, Wendungen. Und zwar von Anfang an und bei allen konzeptionellen Unterschieden, die es in seiner Entwicklung gibt (zum Beispiel von den Neuen Gedichten zu den Elegien). Rilke ist in diesem Sinne Autor eines Werkes, das aus einer starken, sich immer ungeschützt zeigenden Subjektivität heraus entsteht, aber von ihr nicht völlig ›beherrscht‹ wird. ›Herrschaft‹ kennzeichnet dagegen die ›Werkpolitik‹ Stefan Georges, des großen Antipoden Rilkes in der Lyrik um 1900.33 Das poetische Subjekt sucht in Rilkes Elegien nach einem gültigen Bezug, nach dem ›Andern‹ der Subjektivität, findet ihn nicht und weiß doch immer, daß es ihn braucht. Darum ist die Frage nach Gott im Werk Rilkes so wichtig. Sie hat sich überhaupt nicht erledigt. Sie ist Rilke vielmehr ganz und gar angemessen. Subjektivität, die sich immer nur reflexiv auf sich selbst zurückbiegt und sich nicht ausrichtet, droht solipsistisch zu werden und schließlich in heillose Melancholie abzustürzen. Damit bekommt sie einen spezifisch modernen Zug. Hölderlin arbeitet dieses Problem in seinem Hyperion-Roman (Band 1: 1797; Band 2: 1799) als erster in der Geschichte der deutschen Literatur wirklich durch.34 Rilkes Sprachbewegung ist eine fortwährende, auch in den Elegien nicht wirklich zum Abschluß kommende Suchbewegung. Die so oft verhöhnte Konzeption der ›intransitiven‹, ich möchte eher sagen (auch aus ästhetischen und poetologischen Gründen: es geht nämlich auch um Kunst): der interesselosen Liebe, die in den Elegien mit der Poetik des Rühmens und des Bejahens korrespondiert, überzeugt ja auch aus systematischen Gründen so ungemein, weil sie die Liebe zwar einerseits ausgerichtet denkt (eben: im ›Bezug‹, ein Grundwort Rilkes), weil sie aber ihre Instrumentalisierung andererseits zurückweist. Auch darin ist Rilke Hölderlin ganz nah.35 Eine allein vom Interesse des Subjekts ausgehende Liebe und ein bloß instrumentelles Weltverhältnis ›würfe‹ die Subjektivität gerade nur auf sich selbst zurück. Ich betone genau dieses Verb, weil ich es gleich noch einmal aufnehmen will. »Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm / kannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem« (DE 9, V. 52 f.). »Du« sagt Rilke, weil ›du‹ das von ›dir‹ wissen mußt; weil ›du‹ zu ›dir‹ in ein reflexives Verhältnis treten mußt. Abgewiesen wird also eine Subjektivität, die sich nur an sich selbst berauscht, eine narzißtische Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  275

Subjektivität: »im Weltall, / wo er fühlender fühlt, bist du ein Neuling.« (DE 9, V. 53 f.) Wenn, ja, indem ›du‹ ihn also preist, mußt ›du‹ ihn anerkennen als einen, der ›dich‹ grundsätzlich übersteigt. Deine Welt ist die des »Einfache[n], das von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet, / als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im Blick. / Sag ihm die Dinge.« (DE 9, V. 54–57) »Sag ihm« diese deine Menschenwelt, aber nicht als eine »gedeutete«, sondern so, wie sie in diesem »Bezug« ihr eigenes Recht wahrt, weil sie nicht nur deutend gebraucht wird. Das ist unmöglich, weil jedes Sagen und Zeigen immer auch ein Verstehen und Deuten ist – ich habe dann ja immer schon verstehend entschieden, was sagens- und zeigenswert ist. Es ist dennoch paradoxerweise absolut notwendig, wenn ›du‹ dir nicht selbst genug sein und über dich hinauskommen willst. Nur dann verfehlst ›du‹ dich nicht selbst. Dieses Insistieren, das ihn sogar zu deiktischen Kursivierungen veranlaßt, begründet den Rilke-Ton. Es gibt, glaube ich, in der Moderne – außer eben Hölderlin – keinen Dichter, der ›Subjektivität‹, diese Grundbedingung der Moderne, so insistierend, so bejahend poetisch durchdenkt und der so zustimmend von einem starken Subjektbegriff ausgeht wie Rilke (philosophisch jedoch: Schiller). Und der ihn zugleich so kritisch in seinen Grenzen reflektiert. George kennt diesen starken SubjektBegriff nicht. Das macht ihn anfällig für eine poetische Kulturkritik, die maßlos werden kann (»Blöd trabt die menge drunten · scheucht sie nicht«;36 »Schon eure zahl ist frevel«37). Dergleichen kann Rilke nicht sagen und sagt er nie. 5. Noch einmal: der Beginn der ›Ersten Elegie‹. Der Schrei Es wäre nun lächerlich und anmaßend, meinte ich, zu der reichen Deutungsgeschichte dieses Anfangs wirklich noch etwas Neues beitragen zu können. Ich nehme diese ersten Verse nur ganz ernst und versuche, von ihnen aus eine weitere Überlegung zu entwickeln, die mich in das Problem von Rilkes Gott-Suche noch tiefer hineinführen soll. Schreien muß man nur in Not und Bedrängnis. Wenn man es wirklich nötig hat und man sich ausdrücken muß, um nicht an sich zu ersticken, auch wenn einen womöglich keiner hört oder hören 276  |  wolfgang braungart 

will. Auch das ist eine Dimension der (poetischen) Sprache. Diese Eingangsverse der Ersten Elegie stellen ein Subjekt in seiner Not den Engeln in ihren Ordnungen gegenüber. So denkt man sie sich in der islamischen wie in der jüdisch-christlichen Tradition. Also ein Subjekt, das in besonderer Weise auf sich selbst zurückgeworfen ist und sich damit genötigt sieht, sich mit sich selbst zu befassen und zu sich selbst in ein Verhältnis zu kommen. Was eben zugleich heißt: darüber hinaus kommen zu wollen. Leiden und Not fordern unseren Selbstbezug und unsere Selbstreflexion heraus, nicht Glück und Gelingen, die es zum Rhythmus der ganzen Elegien (und man darf wohl sagen: des ganzen Lebens) aber auch braucht. Philoktet, Hiob und andere fallen uns leicht ein, wenn es um die poetische Produktivität des Leidens geht.38 Aber die Frage, »Wer, wenn ich schriee«, ist rhetorisch. Die äußerste kommunikative Anstrengung des poetischen Subjekts – an der Grenze von Kommunikation, also der appellativste, intentionalste sprachliche Akt! – scheint ganz sinnlos. Der Schrei würde nicht gehört werden. Das muß jedoch nicht zwingend die einzige Konsequenz sein, die mit der rhetorischen Frage impliziert ist. Das Schreien lohnt nicht, wenn ich damit etwas erreichen will. Aber es ist damit doch nicht sinnlos und überflüssig, weil sich in ihm eine weitere Dimension von Sprache realisiert, die zu ihr notwendig gehört: die expressive (neben der darstellenden/repräsentativen und der appellativen): Das berühmte, vielfach variierte Bühler’sche OrganonModell der Sprache, auf das ich mich hier beziehe, reicht jedoch auch für die Elegien nicht aus. Roman Jakobson, Jan Mukařovský und andere, die sich um eine linguistische Poetik bemüht haben, ergänzen es, im Grunde auf der Linie von Kants Kritik der Urteilskraft, um eine ästhetische Funktion. Sie umgreift alle anderen drei, von denen sie gleichwohl nicht ablösbar ist. Alles Darstellen ist immer auch Gestalten. Das bringt mich zurück zu Rilkes Grundgedanken eines nichtinstrumentellen Weltverhältnisses und also auch einer nicht-instrumentellen poetischen Sprache, einer Sprache, in der es eine Dimension geben muß, die ›nichts‹ will. Transzendenzsuche und poetische Sprachsuche sind so unauflösbar miteinander verschränkt. Man kann die Elegien also auch als eine Phänomenologie poetischer Sprache lesen. Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  277

Die kleine Abschweifung führt doch gleich zum Kern: Warum kann der Schrei nun nicht gehört werden? Zwei Antworten, wenigstens, scheinen hier möglich: Die eine Antwort: Weil das Schreien aus der Sicht des Subjekts zwar nahe liegen, vielleicht sogar existenziell nötig sein mag, als Schrei (oder »Anruf«; Ende der Siebenten Elegie) aus der Sicht der Engel aber völlig unpassend und unangemessen wäre: Denn »wider so starke / Strömung kannst du [der Engel selbst; W.B.] nicht schreiten« (Ende der DE 7, V. 87 f.). Gegen die gewissermaßen überdimensionierte Intentionalität des Schreiens und Anrufens des Subjekts kommt selbst der Engel nicht an, weil sie eigentlich nur sich selbst ausdrücken und den andern damit gar nicht erreichen will. Dann müßte ›ich‹ also versuchen, mich dem Engel vielleicht auf andere Weise zuzuwenden und eine andere Sprache suchen? Eben dies sagte ich gerade. Die Elegien sind ja selbst auch poetische Schreie, die sich als solche nicht selbst genügen können. Von diesem Mangel, der ihnen von vornherein eingeschrieben ist, handeln die Elegien und ihn vollziehen sie selbst auch performativ, insofern sie ebenso Hymnen sind und ihn so zu überwinden versuchen. Dieses Ineins von Rühmen und Klagen kennen wir wiederum von Hölderlin, auf den sich Rilke intensiv bezieht.39 Rühmen und Klagen sind natürlich auch zwei religiös und anthropologisch grundlegende Sprechakttypen und zum Beispiel schon in den Psalmen des Alten Testamentes miteinander verschränkt. Dort kommen noch andere Typen gerichteten, intentionalen Sprechens hinzu wie das Bitten, das Fragen, das Zweifeln, das Danken. Das Spektrum menschlichen Bezogenseins auf den andern wird in einer Weise differenziert und ausgesprochen, daß die Psalmen schon allein aus diesem Grund bis heute ein großer Fundus für das (poetische) Sprechen sein können.40 Dieser grundlegende, doppelte Modus des poetischen Sprechens der Elegien ist Vollzug des grundlegenden doppelten, dialektisch verschränkten Modus des Subjekt-Seins, das sich in der Annahme des Herausgefordert-Seins durch die Transzendenz selbst begreift, indem es sich immer und unabschließbar doppelt ausspricht, ja aussprechen muß. Auf das berühmte Rühmen als eines Sprachund Seins-Modus, der die Intentionalität überwunden hat, laufen die Elegien doch keineswegs so klar zu, wie man oft behauptet. Das 278  |  wolfgang braungart 

Rühmen wäre naiv, wie in jenen »Tagen Tobiae«, die jedoch unwiederbringlich vorbei sind, vollzöge es sich nicht im Bezug auf das Klagen und im Wechselspiel mit ihm. Das Klagen seinerseits wäre solipsistisch, vollzöge es sich nicht aus einer Not heraus, die zugleich den rühmenden Modus kennt, in dem das Subjekt sich in dieser seiner Not selbst transzendiert. Die andere Antwort, warum das Schreien nicht gehört würde: Das Schreien ist vergeblich, weil die Engel »in Ordnungen« sind, von denen dann die Zweite Elegie ausführlich spricht. So ›ordentlich‹ sind diese »Ordnungen« aber gar nicht, wenn die elegische in die hymnische Perspektive umschlägt: Wir sehen sie so, uns erscheinen die Engel so. In unserer Spracharbeit gewinnen auch diese »Ordnungen« ihre Gestalt. Wir leben also offenbar nicht in solchen schönen und herrlichen »Ordnungen«, die die Elegien ›ansingen‹. Sondern in unseren instabilen, unzuverlässigen ›Ordnungen‹ einer immer schon »gedeuteten Welt«, die wir nie hintergehen können.41 Das Schreien wäre vergeblich, weil den Engeln eine Seinsweise zugesprochen wird, die der des Subjekts diametral entgegensteht. Sie sind Figurationen der Transzendenz; und sie sind, wie gesagt, Boten, zuständig für die Kommunikation zwischen »uns« – und wem? »Wer seid ihr?«, fragt die ›Zweite Elegie‹ ungemein direkt (auch für diese zweifelnde Frage gibt es viele Entsprechungen bei Hölderlin).42 Etwas zugespitzt: Hier das Subjekt, das sich in seiner Not zu artikulieren sucht, und zwar denen gegenüber und herausgefordert durch sie, die eben einer anderen, ganz anderen ›Ordnung‹ angehören. Weil das so ist, kann ›ich‹ sie und muß ich sie schließlich auch ›ansingen‹, nicht nur anschreien. Das ist so notwendig wie vergeblich, ist eben Hymne und Klage zugleich. Wer sich auf diesen Weg des Ansingens macht, sich auf diese reflexive Sprachbewegung einläßt, in der er sich am ganz Andern in der Nähe und der Unterscheidung zu artikulieren, also zu behaupten und zu begreifen versucht, kommt zu keinem Ende. »Fast tödliche Vögel der Seele« nennt die Zweite Elegie die Engel auf »fast« ein wenig frivole Weise. Als versuchte das lyrische Subjekt so, sich ihnen gegenüber zu behaupten. »Vögel der Seele«, weil sie auf eine elementare Weise das Subjekt in seiner Subjektivität angehen. Eine Nebenbemerkung ist hier nötig: Der Vogel ist ein wichtiges poetologisches Symbol für den Dichter und für das Gedicht seit der Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  279

Antike und bis zu Charles Baudelaires Albatros und Stefan Georges Herr der Insel.43 Aufschwung, Fliegen, Schweben sind wichtige Metaphern für die Bewegung der Phantasie. So ließen sich auch die Engels-Elegien selbst, insofern sie Gedichte sind, als »Vögel der Seele« verstehen. Damit rücken das Poetische und das Religiöse, wie schon in der Frühromantik, aufs Engste, ja bis zur Ununterscheidbarkeit zusammen. Und so ist es doch: Religion ist immer auch für die Menschen da und von Menschen auch für Menschen gemacht, ein Kunstwerk, unser künstliches Werk. Es ist zynisch, dies als menschlichen Selbstbetrug zu denunzieren. Man wird dadurch keinen Deut freier. Nun aber stellt sich das Problem der Mythopoetik, das ich bereits angesprochen habe, noch einmal und in aller Schärfe.44 Die Engel, also auch Gott, also die Transzendenz ganz allgemein: nichts als eine ›Konstruktion‹ der poetischen und, allgemein, unserer ›poietischen‹ Subjektivität? Das ist und bleibt der grundlegende moderne Zweifel, und er wird im 19. Jahrhundert schon deutlich geäußert. Ihm ist nicht zu entkommen, weder so noch so: weder durch den dezisionistischen ›Sprung in den Glauben‹ Kierkegaards, noch durch naive Negation. Auch die Subjektivität ist jedoch, macht man sich erst einmal auf die Suche nach ihr, nicht weniger unfaßbar und deutend unausschöpfbar wie die Transzendenz. Auch deshalb kommen die Elegien nicht wirklich zu Ende (DE 10, V. 110–114): Und wir, die an steigendes Glück denken, empfänden die Rührung, die uns beinah bestürzt, wenn ein Glückliches fällt.

Das ist das Ende des Zyklus. Die überdeutliche Architektur-Allegorie der ›Leid-Stadt‹ in der letzten Elegie zeigt diese grundsätzliche ›Gemachtheit‹ unserer Welt- und Seins-Deutungen, unserer ganzen Existenz. Poetologisch läßt sich das beschreiben als ein Zeigen des Zeigens, das dann bei Brecht zum poetischen Prinzip45 und als solches auch ständig poetologisch reflektiert wird. Das ›Machen‹ von Religion, das in Lessings Nathan noch sehr emphatisch, aber auch schon nicht mehr unbefangen optimistisch, als ein ›RealwerdenLassen‹ ihrer eigentlichen Idee einer humanen Praxis verstanden wird, begründet bei Rilke das Elegische mit. Man könnte auch sa280  |  wolfgang braungart 

gen: das Sentimentalische. Von hier aus läßt sich die eigentümlich zudringlich werdende Dritte Elegie, die der Sexualität gewidmet ist, als Versuch verstehen, einen präreflexiven, ganz authentischen Grund zu finden, den die Moderne immer wieder sehnsüchtig sucht. Im 18. Jahrhundert kommt diese Idee der Authentizität auf und heißt Natur.46 Schopenhauer nennt den präreflexiven Grund, düster und melancholisch, »Willen«, Literatur und Lebensphilosophie um 1900 nennen ihn »Leben«.47 So etwa Hugo von Hofmannsthal. Das Problem unserer ›unruhigen Seele‹, der Reflexivität unseres Bewußtseins, diese große poetische Triebkraft von Rilkes Elegien, löst sich dadurch freilich nicht in Wohlgefallen auf. 6. Ich und wir und – die Engel: also keine Auflösung der Grundspannung? Noch einmal und nun etwas anders akzentuiert: hier also das poetische Ich, das Subjekt. In den Elegien wichtiger noch: das poetische, existenziell gemeinte ›Wir‹. Und dort die »Ordnungen« der Engel, vielleicht auch: die Institution. Aber nicht die traditionelle angelologische Hierarchie der Engelsordnungen, die mit dem »strahlendsten« Erzengel, dem Reisegefährten »Tobiae«, sachte angedeutet wird. Damit ist man auch mitten in einem Grundproblem von Religion: Religion in ihrer institutionellen Verfaßtheit, die man bekanntlich Kirche nennt, und von Religiosität in ihrer individuellen Dimension. Diese Spannung – es muß eine sein! Das ist für Religion und Religiosität essentiell. Darauf möchte ich bestehen. Auch diese Spannung ist keine moderne Erfindung. In den Psalmen, im Hohenlied spricht nicht die Stimme der Institution, sondern die des Subjekts. Sie sind keine institutionell autorisierte poetische Rede; die ›autorisiert‹ sich selbst durch die reflexive Subjektivität. In der jüdisch-christlichen Tradition also auch: Gesetzesreligion einerseits, Regelsystem. Und subjektives Bedürfnis nach der Instanz, die das Ich grundsätzlich übersteigt, an die es sich wenden und an der es sich selbst begreifen, an der es zum Ich werden kann, andererseits. Die Reformation hat diese Spannung nicht erfunden, aber zugunsten des Subjekts neu justiert. Sie hat aber auch einen neuen Begriff der Institution Kirche etabliert: Aus dem Corpus Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  281

Christi mysticum, dem eine eigene Sakralität zukommt und eine notwendige Rolle in der Heilsgeschichte, wird die Gemeinschaft der Gläubigen, die im unbedingten Vertrauen auf die Schrift, den Glauben und die Gnade Gottes ihre religiösen Dinge dennoch selbst zu gestalten haben und es auch dürfen. Das ist ein folgenreicher, soziologisch und philosophisch vieldiskutierter Schritt, der es berechtigt erscheinen läßt, von der Reformation als dem Beginn der Aufklärung zu sprechen. Man sieht daran umso deutlicher, daß es durchaus eine bedeutende Leistung darstellt, wenn die katholische Kirche die Aufklärung inzwischen stärker anerkennt. Zugleich verschärft sich die aporetische Konstellation: Denn der römische Kirchenbegriff ist nicht wirklich mit Aufklärung kompatibel zu machen. Auch hier also: Die Spannung und der fortdauernde, sich nicht einfach abschließende Prozeß, sie müssen wohl selbst anerkannt werden. Zu den ersten Versen der Elegien zurück, die auch eine Hypothese implizieren, unter der sich die Spannung zwischen SubjektInstanz und religiöser bzw. transzendenter Institution auflösen könnte (DE 1, V. 2–4): […] Und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein.

Um ein »Herz« zu haben, müßten die Engel selbst Subjekt werden. Darauf hat die Stelle, die ich aus der Engels-Elegie bereits zitiert habe, schon hingedeutet. Sie müßten »mich […] ans Herz« nehmen, also etwas von sich aus und aus ihrer Gefühlskraft heraus tun, was zwar grundlegend ist für das mystische Verhältnis des Subjekts zur Instanz der Transzendenz, aber nun gerade nicht zum Wesen von Ordnungen bzw. Institutionen gehört. Diese affektive Zuwendung der Engel zu ›mir‹ wäre nur denkbar als eine Auslöschung meiner Subjektivität, die doch eigentlich erst den Kommunikationsversuch des Subjekts begründet: »ich verginge«. Die Liebe des Engels, diese von ihm selbst ausgehende Vis unitiva, wäre ›mein‹ völliger ›Eingang‹ in ihn und damit auch mein Untergang, also auch der endgültige Friede für die unruhige Seele. Dieser Konsequenz mystischer Liebe und mystischer Einigungssehnsucht, die sich der transzendenten Instanz ganz anvertraut, schließt sich Rilke nie völlig an. Er 282  |  wolfgang braungart 

ist insofern ein skeptischer Mystiker der Moderne.48 Skeptisch auch deshalb, weil er sich in dieser Grundfrage der Mystik, wie die Liebe zwischen Subjekt und transzendenter Instanz zu verstehen ist, nicht auf die Seite der mystischen Selbsterlösung des Subjekts schlägt, das mit seiner Liebes-Kraft alles selbst leisten kann. Sie bringt den Mystiker grundsätzlich und seit jeher unter Häresie-Verdacht. Genauso wenig sieht Rilke in der »dunkelen« ›Vis unitiva‹ der Sexualität (Dritte Elegie) eine wirkliche Lösung. In den Suchbewegungen der Elegien stellt sie auch nur eine Facette dar, auf die sich die Elegien aber nicht festlegen. Rilkes Liebe kommt wirklich dort zu sich selbst, realisiert sich wirklich selbst, wo sie nichts mehr will, also auch keine letzte Unio, und doch Liebe eines Subjekts bleibt. Damit bleibt sie aber immer Prozeß, bleibt immer auf dem Weg. Wie oft ist über dieses LiebesKonzept gelästert worden, wie oft hat man versucht, es zu pathologisieren. Zurückhaltung ist tatsächlich angebracht. Aber das systematische Problem, moderne Subjektivität nicht zu negieren, sondern an ihr festzuhalten, ja sie emphatisch zu bejahen, und ihr zugleich ihren ›Ego-Stachel‹ zu ziehen und ihre Neigung zu bändigen, jede Weltbeziehung auf sich selbst hin zu instrumentalisieren, das ist alles andere als trivial: »Und so verhalt ich mich denn und unterdrücke den Lockruf / dunkelen Schluchzens!« Darauf muß ›ich‹ mich also einstellen, und so muß ›ich‹ mich entsprechend ›verhalten‹. Und darum muß ich mich zurückhalten, ver-halten, mich in mich selbst gleichsam stauen (in der Medizin benutzt man das Wort auch heute noch so). Rilke hält die Spannung zwischen Subjekt und Transzendenz, Trans-Subjektivität, durch die Elegien immer offen und damit die spannungsreiche, aber poetisch gerade so produktive Sprachbewegung in ihrer unabschließbaren, modernen, man könnte auch sagen: ›romantischen‹ Progressivität. Das hat Konsequenzen zugleich für das Verstehen, das nicht fertig wird und nie zur hermeneutischen Unio kommt. Das ist meine zentrale, nun schon länger umkreiste These. (Ich halte die rezeptionshermeneutische, im Grunde mystische Metapher von der Horizontverschmelzung ganz grundsätzlich für sehr problematisch.) Die ›herzliche‹ Zuwendung des Engels ist für ›mich‹, für ›uns‹ darum nicht auszuhalten. Auf sie zu setzen, wäre auch ein MißverDas Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  283

ständnis. Denn Institutionen agieren nicht in Ansehung der Person. Das macht ja gerade ihre Verläßlichkeit für ›uns‹ aus. Nur so können sie uns entlasten, weil sie nicht subjektiv willkürlich agieren. Man muß der Transzendenz ihre ›Objektivität‹ lassen, wenn wir sie ›brauchen‹ wollen. Das ist ein Widerspruch in sich. In ihrer Objektivität scheint sie uns nämlich nicht zu ›brauchen‹. Man sieht, wie Rilke hier auch grundlegende Vorstellungen mystischen Denkens überschreitet. Die wechselseitige Abhängigkeit von Subjekt und Transzendenz wird in der Mystik, auch in der islamischen, immer wieder angesprochen. Die Transzendenz braucht nämlich durchaus das Subjekt, »damit sie sich manifestieren kann«.49 »Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, weil es gelassen verschmäht, / uns zu zerstören.« Über diesen plötzlichen Neuansatz der Ersten Elegie, diesen plötzlichen Sprung in die Abstraktion,50 muß man sich wundern.51 Zunächst kommentiert er auch die ersten Engels-Verse. ›Die Wahrheit dieses Mythos‹ (Kurt Hübner) ist nicht naiv zu nehmen, sie ist eine reflexive Wahrheit, hervorgegangen aus der Reflexivität der Subjektivität. Das hat sich schon mit dem Hinweis auf die Zehnte Elegie gezeigt. Das ›Schöne‹, dieses Versprechen des Engels, das in seiner Schönheit liegt – »denn«: es ist ein Kausalsatz –, daß das Subjekt in den Ordnungen der Engel, in ihrer ›Institution‹ eine ›herzliche‹ Heimat, eine ›herzliche‹ Erfahrung grundlegender Zugehörigkeit finden könnte, und das ›Schreckliche‹ des Selbstverlustes des Subjekts, der folgen müßte, hängen unweigerlich zusammen. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Also bleibt eben nur die Bewegung, der Prozeß der Subjektivität selbst in ihrem existenziellen Rhythmus von Hymne und Klage. Das bestimmt auch den hermeneutischen Nachvollzug, der sich, wie gesagt, nicht harmonisch auflöst durch Horizontverschmelzung und Einrückung in einen Überlieferungszusammenhang. Darauf möchte ich nun abschließend noch am Beispiel einer etwas schwierigen Stelle aus der Ersten Elegie eingehen.

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7. Der hermeneutische Prozeß und die ›Arbeit‹ der Einbildungskraft. Ein Beispiel aus der ›Ersten Elegie‹52 Die (literarische) Einbildungskraft ist immer geschichtlich, auf Überlieferung bezogen, und gegenwärtig zugleich, reproduktiv und produktiv, wie Kant sagt.53 Sie entfaltet sich in der Spannung von geschichtlich-kultureller Semantik, über die man sich mit dem Anspruch auf eine gewisse ›Objektivität‹ verständigen kann, ja muß, und im ›Hiersein‹ gegenwärtiger Produktivität. Gemeint ist mit dem Begriff der ›Objektivität‹, der für den hermeneutischen Prozeß schwierig ist, eigentlich nur dies: die Rekonstruktion von geschichtlichen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen, an denen die Semantik eines literarischen Textes (und jeder sprachlichen Äußerung, insofern sie eben sprachlich verfaßt ist) unweigerlich teilhat. Das eigentlich Herausfordernde aber ist die Gegenwärtigkeit der ›Imaginationsarbeit‹, die uns bedeutende Texte in besonderer Weise abverlangen. Sie muß ganz ›hier sein‹ wollen, ganz präsentisch: »Hier ist des Säglichen Zeit, hier seine Heimat. / Sprich und bekenn.« (DE 9, V. 42 f.) Das erste kann man mit einigem Fleiß ganz anständig lernen. Man kann Techniken und Methoden dafür entwickeln und immer weiter verfeinern. Es ist auch vergleichsweise leicht und nachvollziehbar in institutionellen Vermittlungsprozessen zu lehren. Das zweite aber ist wirklich ›Arbeit‹, ›arebeit‹, ist Mühe, Sorgfalt, Aufwand und Anstrengung in besonderer Weise, weil es Zeit braucht, Konzentration verlangt, die Bereitschaft zur vergegenwärtigenden ›Anerkennung‹ der anderen Stimme. Das muß nicht gleich ›Kampf‹ heißen,54 sondern schließt zunächst ein, daß man bereit ist, den eigenen Anspruch, schnell Bedeutung haben zu wollen, wenigstens hinausschieben kann. (Die wahre mystische Liebe ist die, die nichts will.) Diese Bedeutungsgier hat Adorno einmal mit einer schönen alkoholischen Metapher beschrieben: Die Bedeutung werde dann ›abdestilliert‹ – wie der Schnaps aus der vergorenen Maische. Solche literarische Hermeneutik, wie sie auch aus ethischen Gründen gefordert ist, das heißt aus der Achtung vor der Individualität des Textes, also aus Achtung vor dem Individuum, die sie symbolisch artikuliert, ist sinnlich und asketisch zugleich. Triviale Texte verlangen sie uns kaum ab; sie zwingen uns nicht zum Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  285

Innehalten, zur Individualisierung unserer Aufmerksamkeit, zur Anstrengung unserer eigenen imaginativen Kreativität. Dies ist ein hier nur knapp skizziertes, aber meines Erachtens grundlegendes Problem einer Ethik literarischen Verstehens. Der Beginn der ›Ersten Elegie‹ sei nun noch etwas weiter zitiert (DE 1, V. 8–54):   Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht, und die findigen Tiere merken es schon, daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern und das verzogene Treusein einer Gewohnheit, der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht.   O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum uns am Angesicht zehrt –, wem bliebe sie nicht, die ersehnte, sanft enttäuschende, welche dem einzelnen Herzen mühsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter? Ach, sie verdecken sich nur mit einander ihr Los.   Weißt du’s noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug. […] […] Ist es nicht Zeit, daß wir liebend uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehn: wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung mehr zu sein als er selbst. Denn Bleiben ist nirgends.

Unsere Einbildungskraft ist hier – und oft bei Rilke – in einer Weise herausgefordert, daß die Aufgabe uns fast, um ein für Rilke wichtiges Prädikat zu gebrauchen, »übersteigt«. Sie muß sich, dabei sich selbst ständig kritisch beobachtend, auf den Weg machen, der dennoch immer nur »Hinweg« bleibt, vorläufig und unabgeschlossen. Nach den doch äußerst anspruchsvollen Eingangsversen wechselt der Ton. Er wird nun ganz einfach. Die Verse scheinen leicht verständlich; sie konstatieren unseren menschlichen Mangel. Schwie286  |  wolfgang braungart 

rig mutet es für unser Verstehen sicher nicht an, wenn die Elegie klagt: »Ach, wen vermögen / wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht«. Wieder eine rhetorische Frage. Aber stimmt das auch? Man könnte so antworten: Eben weil uns nicht mehr zu helfen ist. Ist das der moderne Zweifel, der ›alle Vorstellungen unserer modernen Selbstgewißheit stets wird begleiten müssen‹? Weil wir unaufhebbar zwischen ›Engel und Vieh‹ positioniert sind? Dann folgen aber die »findigen Tiere«; und jetzt wird es anschaulich. Unsere Imaginationsarbeit ist herausgefordert: Inwiefern können Tiere »findig« sein? Was finden sie denn und wie finden sie etwas? Doch erleben wir sie nicht oft in einer Weise, als wüßten sie schon immer, was sie zu tun haben? Damit haben wir den Übergang zu den beiden folgenden Versen, die unsere Existenznot in Verbindung bringen mit unserem Leben, das sich immer schon in einer »gedeuteten Welt« ereignet. Wie leicht hat es der, der mit den »findigen Tieren« in seiner Imagination etwa den Hund in Erinnerung rufen kann, der zu spüren scheint, wenn ›Herrchen‹ oder ›Frauchen‹ mißgestimmt sind, wenn sie übellaunig oder traurig nach Hause kommen. Oder der, der einmal auf einem Ochsenkarren mitfahren durfte. Der Bauer versucht, sein Gespann zu beschleunigtem Tempo anzutreiben. Er hat in seiner zweckhaften, ›produktiven‹ Welt nämlich noch anderes zu erledigen. Aber die »findigen Tiere« können nicht schneller ziehen, weil die Straße abschüssig ist; und sie »merken es schon«. Sie scheinen zu spüren, daß jetzt etwas geschehen soll, was zueinander nicht paßt. Und so ›finden‹ sie selbst ihren Weg nach Hause; ihnen gelingt es, auf ihre Weise. Nun dieser eigentümliche Vers, ungeheuer anziehend, bei dem ich mich noch einmal etwas aufhalten möchte: »Weißt du’s noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere / zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel / die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug.« Seltsam paradox: Wie soll man auch die »Leere zu den Räumen« hinzuwerfen? Die Frage, mit der diese paradoxe Formulierung eingeleitet wird, klingt eigentümlich ungeduldig: Müßtest ›du‹ das nicht doch längst schon wissen?! Ja, eigentlich weißt ›du‹ es schon, ließest du dieses Wissen nur zu. Das meine ich mit diesem rhetorischen Druck, den Rilke entfalten kann: Die ungeduldige Frage bereitet den Leser darauf vor, Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  287

daß er sich jetzt wirklich anstrengen muß, wahrzunehmen, was ihn selbst unbedingt angeht. Jetzt hat er zunächst zu imaginieren, und zwar in vollem Umfang, was zum ›Werfen‹ auf der phänomenalen Ebene gehört und was es ermöglicht. Ich versuche eine kleine Paraphrase, auch wenn diese nachschaffende Hermeneutik häufig kritisiert wird:55 Üblicher­weise wirft man immer etwas – hier soll aber »die Leere« geworfen werden. Manchmal nimmt man zum Wurf sogar einen kleinen Anlauf, um den zu werfenden Gegenstand möglichst stark beschleunigen und möglichst weit werfen zu können. Das erfordert aber eine ziemlich komplizierte Bewegung. Am Ende müssen die Anlaufschritte nämlich in Stemmschritte umgesetzt werden, so daß man auf den Punkt genau abstoppen kann und die ganze Bewegungsenergie gleichsam versammelt in den Wurf hineinlegt. Wenn man sich, zum Beispiel, einmal einen Speerwerfer anschaut, sieht man leicht, was für ein schwieriger und höchst koordinierter Bewegungsablauf das ist. Mit dem Moment des Wurfes konzentriert sich die gesamte Energie des Körpers im Wurfarm, in der Wurfhand. Der ganze Körper spannt sich an, stellt sich, von den Füßen über die Beine, über den ganzen Rumpf und die Kopfhaltung, ja, sich ausbalancierend mit dem anderen Arm, der nicht direkt am Wurf beteiligt ist, auf diese Wurfbewegung ein. Der Rumpf krümmt sich nach hinten, die Muskulatur ist vollkommen ›wach‹; der Werfende ist völlig ausgerichtet auf den Vorgang des Werfens. Ein Moment höchster Intentionalität.56 Die Augen schauen in die entsprechende Richtung. Genau im richtigen Moment muß der Gegenstand losgelassen werden. Wer diesen richtigen Augenblick, fast möchte ich sagen: den Kairos des Wurfes, in dem sich alle Intentionalität eines Körpers konzentriert, verpaßt, dem mißlingt der Wurf. Das kann beim Speerwurf sogar so gefährlich werden, daß einem der Speer wirklich um die Ohren fliegt. Zusammengefaßt: Eine im höchsten Maße intentionale Handlung soll, so die Elegien-Stelle, dazu genutzt werden, hier gerade nichts zu erreichen. Es soll etwas getan werden mit höchster Energie und höchster Konzentration, mit höchster Zielstrebigkeit und höchster Aufmerksamkeit, um nichts Faßbares, Habbares, Sichtbares, Bedeutsames, Wirkungsvolles zu erreichen: nämlich den Räumen die »Leere« hinzuzufügen. 288  |  wolfgang braungart 

Von diesen Räumen wird nun gesagt, daß wir sie »atmen«. Wir verleiben uns also ein, worin wir immer schon sind. Wir verbinden uns mit dem Raum, indem wir ihn gleichsam spiritualisieren. Genau diese Räume, die durch den leeren Wurf etwas hinzugefügt bekommen und so reicher werden, sollen wir verinnerlichen. Das im höchsten Maße Intentionale, das für nichts gut ist, ist damit, gerade so, wirklich gut für uns. Das ist die ›Lehre‹ der ›Leere‹. Rilke spielt mit dem Homophon.57 Man könnte die Aufforderung, die an ›mich‹ ergeht, auch auf ›Leere‹ beziehen: Es würde sich so sehr viel nicht ändern, weil das Atmen so ebenfalls ›spirituell‹, immateriell verstanden würde, nicht primär als biologisch-physiologische Notwendigkeit. Erinnern darf man sich auch, bei allen berechtigten Reserven gegenüber der Parallelstellenmethode, des ersten Sonetts des Zweiten Teils der Sonette an Orpheus: Atmen, du unsichtbares Gedicht, das noch einmal deutlich macht, wie sehr es bei Rilkes Sprachsuche, Subjektsuche, Gottsuche um das Gedicht selber geht, um Poetologie. Das Gedicht, das die soeben hermeneutisch nachvollzogene Elegien-Stelle geradezu fortzuschreiben scheint, lautet (SO II 1, KA 2, 257)58: Atmen, du unsichtbares Gedicht! Immerfort um das eigne Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht, in dem ich mich rhythmisch ereigne. Einzige Welle, deren allmähliches Meer ich bin; sparsamstes du von allen möglichen Meeren, – Raumgewinn. Wieviele von diesen Stellen der Räume waren schon innen in mir. Manche Winde sind wie mein Sohn. Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte? Du, einmal glatte Rinde, Rundung und Blatt meiner Worte.

Ich bin mit meiner Imaginationsarbeit fast selbst schon in die Bereiche mystischer Aufmerksamkeit vorgedrungen.59 Durch diese Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  289

konzentrierte, sinnvoll-sinnlose Handlung des Werfens der »Leere« geschieht etwas, das die »Luft« verändert, ja ›erweitert‹. Zumindest könnte es so sein (»Vielleicht daß …«). Wirkliche Gewißheit können wir nicht gewinnen, weil wir ja immer welche sind, die in der »gedeuteten Welt« leben und dadurch bestimmt werden. Aber durch die höchste, jedoch intentionslose Intentionalität könnte dies geschehen. Wenn überhaupt. Dessen kann man nie habhaft werden; man wird es nie dinglich, materiell, fixiert zur Hand haben können. Gefordert ist etwas, was man mit einer Formel aus Kants Kritik der Urteilskraft als ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹ beschreiben könnte (z. B. KU B 44). Das gilt auch für das Subjekt selbst: Es darf nicht meinen, sich selbstgewiß (und selbstgefällig) zu ›haben‹, wenn es sich ›gewinnen‹ will. Und es begrüßt genau dies im Angesicht der Transzendenz. Es ist nicht verkehrt, hier an das Kirchenlied »Mir nach«, spricht Christus, unser Held des großen Barockmystikers Angelus Silesius (Johannes Scheffler) von 1668 zu denken, wo es in der fünften Strophe heißt: »Wer seine Seel zu finden meint, / wird sie ohn mich verlieren; / wer sie um mich verlieren scheint, / wird sie nach Hause führen.« Aber diejenigen, die ›findig‹ sind, die sich auch zurechtfinden, intentionslos, ohne es zu wollen: die »Vögel«, sie könnten es unter Umständen »fühlen«. Sie sind den »Vögeln der Seele«, den Engeln, und den Menschen verwandt. Ihnen könnte das gelingen; nun wiederum nicht durch eine Art von bewußtseinsmäßiger Reaktion, also nicht zweckhaft, strategisch und kontrolliert, sondern durch ihr natürliches Findig-Sein, das ihnen ermöglicht, ständig Zeichen zu produzieren, von deren Zeichenhaftigkeit sie freilich selbst gar nichts wissen. So nur können sie es »mit innigerm Flug« vielleicht fühlen. Doch sie werden es nie wissen. Und so werden auch wir nie in einem pragmatisch brauchbaren Sinne ›Bescheid wissen‹. Wir könnten es nur verstehen, wenn wir ebenfalls bereit wären, intentionslos-intentional zu »fühlen« mit unserer ganzen seelischen Kraft. Am ehesten kann das den Liebenden gelingen und der Poesie. So nicht nur die Elegien, sondern Rilkes Werk wohl überhaupt. Man darf hier noch einmal an die poetologische Bedeutung des Motivs des Vogels denken. Die Poesie könnte vielleicht, wenn überhaupt, diese intentionslose Intentionalität ›fühlend‹ verstehen, weil sie Zweck an sich selbst ist, sich also auch nicht aus dem Begriff 290  |  wolfgang braungart 

heraus versteht. Das wäre nämlich die allegorische Lösung.60 So wie die Liebenden in ihrer Liebe, die sich zwar auf den andern richtet, aber von ihm nichts will und ihn insofern als Zweck an sich selbst anerkennt. Legt man Rilkes Liebesethik so aus, verliert sie ihre Seltsamkeit und verweist sie zurück auf die späte Aufklärung, in der die autonome Kunst zum großen Symbol der autonomen Würde des Menschen wird.61 Mit den folgenden Versen, etwa dem Bild des »Pfeils«, der »die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung / mehr zu sein als er selbst«, könnte ich nun in ähnlich produktiver Weise meiner zugleich rekonstruktiven Einbildungskraft fortfahren. Leicht ließe sich gegen mein Verfahren vorbringen, daß es doch auf die Wiederauferstehung der sogenannten werkimmanenten Methode hinausliefe. Aber ist der Vorwurf nicht einerseits gegenüber der Gegenwärtigkeit des lyrischen ›Bildes‹ in den Anstrengungen der Imaginationsarbeit, der ich mich für einen Moment unterzogen habe und die mich zum Verweilen, zum Innehalten, zur Konzentration, tatsächlich zum Absehen von aller praktisch faßbaren Zweckhaftigkeit gezwungen hat, vollkommen gleichgültig? Und ist er nicht andererseits auch theoretisch unsinnig, weil es reine Werkimmanenz gar nicht geben kann? Denn nicht nur hat jeder literarische Text, wie ich schon sagte, notwendig an kultureller Semantik teil. Auch meine Einbildungskraft hat immer teil an kultureller, geschichtlicher, kollektiver Einbildungskraft, weil ich keine fensterlose Monade bin.62 Zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen, Geschichtlichen, Objektiven konstituiert sich das (sprachliche) Kunstwerk; und in dieser Spannung bewegt sich auch das literarische Verstehen. Das zu behaupten, ist selbstverständlich nicht neu. Schiller und Schleiermacher haben es schon betont;63 Adornos Ästhetik basiert ganz darauf. Aber es ist nach wie vor die große ethische Herausforderung im Umgang mit Kunstwerken. Der Produktivität einer sich auf die Engel, die Transzendenz hin ausrichtenden Suchbewegung, die zugleich immer eine produktive Sprach- und Subjektsuche ist, korrespondiert in Rilkes Elegien die Prozessualität und Produktivität der hermeneutischen Einbildungskraft. Die Elegien entwickeln ein großes Thema, ohne wirklich voranzukommen im Sinne zweckhafter, zielgerichteter Produktivität. Das können sie auch gar nicht. Dennoch ist ihre Suchbewegung notDas Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  291

wendig. Nicht nur voller »Hinweg«, sondern auch voller Sinn. Das wollte ich erläutern. Am Ende weisen sie, nachdem sie ihr Thema ausgeschritten haben, auf ihren Anfang zurück. Die moderne Subjektivität wird in ihrer Suche nach sich selbst und in ihrer sprachlichen und religiösen Suchbewegung immer weiter unterwegs sein. Sie kennt dabei immer nur »Hinweg«. Ob sie dabei »immer nach Hause« (Novalis)64 unterwegs ist: Wer vermag das schon zu sagen? Anmerkungen 1 

Dieser Aufsatz ist meinem Freund Manfred Koch in großer Dankbarkeit gewidmet, einem Kenner Rilkes wie nur wenige. Wie gerne denke ich zurück an ein gemeinsames Seminar über die ›Duineser Elegien‹ (Universität Gießen 1993), das mein Verständnis Rilkes grundlegend verändert hat. Manfred Koch hat sich selbst zum Problem des Engels bei Rilke geäußert (Rilkes Engel oder Der heilige Kampf um die Sprache), allerdings mit anderen, sprach- und kunstphilosophischen Akzentsetzungen und vor allem mit Blick auf die Vierte Elegie. Norbert Fischer und August Stahl danke ich für die Tagung in Mainz, bei der ich diesen Vortrag halten durfte, den weiteren Referenten und den Diskussionsteilnehmern dieser Tagung danke ich für freundliche Aufmerksamkeit und manche Anregung. Ebenso danke ich Charis Goer, Lothar van Laak, Jörg Löffler, Markus Pahmeier, Christina Peters (alle Bielefeld). Den Stil des mündlichen Vortrags habe ich aus Gründen der Zugänglichkeit beibehalten. Der Aufsatz versucht auch Rücksicht darauf zu nehmen, daß er vielleicht Leser finden mag, die nicht in der Rilke-Forschung zuhause sind. Es ist klar, daß man sich zu Rilke nicht äußern sollte, ohne die reiche Forschung zur Kenntnis zu nehmen. Ich kann aber nur summarisch die grundlegende Bedeutung vieler Studien zu den Duineser Elegien betonen und will wenigstens einige Verfasser nennen: Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Käte Hamburger, Peter Krumme, Peter Por, August Stahl, Jacob Steiner, Anthony Stephens und neuerdings Raoul Walisch. Der Artikel im RHB (365–383), den Anthony Stephens verfaßt hat, führt ausgezeichnet und eigenständig in die Elegien ein und nennt die wichtigste Literatur. 2  Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente I,311. 3  Zur Frage der ›Brauchbarkeit‹ der Literatur, die bei der ›Stelle‹ beginnt, vgl. Wolfgang Braungart (=WB): Vom Sinn und Leben der Stelle; Joachim Jacob: Kleine Stellenkunde gibt erstmals einen großen Überblick zur Geschichte der Stellenlektüre. 4  Vgl. Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter, 847. Zur Diskussion grundlegend: Michael Kühnlein / Matthias Lutz-Bachmann (Hg.): Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor. 292  |  wolfgang braungart 

Vgl. WB: Vom Sinn und Leben der Stelle. Vgl. auch: Manuela Di Franco: Die Seele. Begriffe, Bilder und Mythen.  6  Vgl. Norbert Fischer (Hg.): Freiheit und Gnade in Augustins ›Confessiones‹. Der Sprung ins lebendige Leben. Zur Bedeutung Augustinus’ für Rilke vgl. August Stahl: Salus tua ego sum. Rilke (1875–1926) liest die ›Confessiones‹ des heiligen Augustinus. Man darf diese theologischen Bezüge bei Rilke nicht übersehen, auch wenn Rilke nirgends ein theoretisch denkender Dichter ist. August Stahl hat z. B. auch die Bedeutung des Franziskus von Assisi im Detail rekonstruiert; vgl. etwa August Stahl: Franz von Assisi. Der unvergleichliche Heilige Rilkes. Interpretation des Gedichts ›Die Heiligen‹.  7  Poetisch durchdacht wie sonst kaum wird dies in den großen Gedichten Hölderlins um 1800.  8  Zitiert wird nach der Ausgabe des Deutschen Klassikerverlags, Nachweise hier im Text (Akt, Szene, Vers).  9  Vgl. Manfred Lurker: Wörterbuch der Symbolik, 279 f. 10 Vgl. Jörg Wesche: »Unselig Mittel-Ding von Engeln und von Vieh!«. Mensch und Tier in der Lyrik der Frühaufklärung; vgl. auch Lothar Schneider: Reden zwischen Engel und Vieh. Zur rationalen Reformulierung der Rhetorik im Prozeß der Aufklärung. 11  Vgl. auch WB: Walter Burkert. Kulturtheorie und Poetik der Tragödie. Sophokles, ›Philoktet‹, Friedrich Dürrenmatt: ›Der Besuch der alten Dame‹, Heiner Müller, ›Philoktet‹; WB: Mythos und Ritual, Leiden und Opfer. Ein strukturgeschichtlicher Versuch zur Tragödie. 12  Vgl. Annemarie Schimmel: ›Die Religion des Islam‹. Eine Einführung (z. B. 98); bes. nachdenklich stimmt die immer wieder hervortretende poetisch-ästhetische Produktivität und innere Reflexivität des Islam, die Schimmel auch betont. 13  Vgl. Karl-Heinz Stahl: Das Wunderbare als Problem und Gegenstand der deutschen Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts; Hans Otto Horch; GeorgMichael Schulz: Das Wunderbare und die Poetik der Frühaufklärung. 14  Vgl. WB: »Ich bin ein Mensch«. Ästhetische Erfahrung, religiöse Erfahrung und die jüdisch-christliche Idee des Subjekts. In Georg Büchners Woyzeck wird Marie fragen: »Bin ich ein Mensch?«, und die Frage wird – vor dem skizzierten Kontext – eigenartig ambivalent; genauso wie die herablassende Bemerkung des Hauptmanns gegenüber Woyzeck: »Gut Woyzeck. Du bist ein guter Mensch, ein guter Mensch. Aber du denkst zuviel«. Vgl. Woyzeck, 16 (Szene 4), 17 und 19 (Szene 5). Woyzeck selbst bezieht sich auf Jesus (18): »Der Herr sprach: lasset die Kindlein zu mir kommen.« – Oder Henrik Ibsen: Nora (Ein Puppenheim), dort erklärt Nora am Schluß gegenüber ihrem Mann Helmer (90): »Vor allem bin ich ein Mensch, glaube ich, ebenso wie du«. 15  Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. 16  Vgl. Monika Neugebauer-Wölk (= MN-W) (Hg.): Themenschwerpunkt:  5 

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Arkanwelten im politischen Kontext; MN-W (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation; MN-W u. a. (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Wege in die Moderne; Helmut Reinalter: Die Freimaurer. 17  Ich wähle bewußt diese Anspielung, weil Giorgio Agamben bei seiner Konzeption des ›Homo sacer‹ diese Zusammenhänge – für mich unbegreiflicherweise – außer Acht läßt. 18  Ich unterscheide mich darin von dem ›wunderbaren‹ Buch Apels, der seine moderne Geschichte der literarischen Engel mit der Romantik beginnen läßt, wie es ja auch näher zu liegen scheint. Vgl. Friedmar Apel: Himmelssehnsucht. Die Sichtbarkeit der Engel in der romantischen Literatur und Kunst sowie bei Klee, Rilke und Benjamin. 19  Vgl. Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. 20  Vgl. Charles Taylor: Das Unbehagen an der Moderne; Ders.. Säkulares Zeitalter. 21  Vgl. dazu detailliert, u. a. mit Bezug auf John Henry Newman, WB: Die Kunst der Zustimmung. Eine ästhetisch-theologische Hypothek der Moderne. Mit einem Kapitel zu Brechts später Lyrik. 22  Vgl. zu diesem für die Moderne epochalen Gedanken der ›Produktion‹ viele Studien des Braunschweiger Philosophen Scheier, z. B. (freilich noch viel weiter ausgreifend) Claus Artur Scheier: Ästhetik der Simulation. Formen des Produktionsdenkens im 19. Jahrhundert. 23  Zur Bestimmung des lyrischen Zyklus vgl. Claus-Michael Ort: Zyklus. 24  Vgl. Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, hier besonders Kapitel V. 10 ›Engel: Kommunikation durch Hybridisierung‹. 25  Vgl. Uwe Spoerl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende. 26  Stappers intensive theologische Studie nennt auch die einschlägige literaturwissenschaftliche Forschung, vgl. Norbert Stapper: Rainer Maria Rilkes Christus-Visionen. Poetische Bedeutungen und christopoetische Perspektiven. 27  Dies gilt selbst, wenn man Gattungen – mit der neueren Gattungstheorie (bspw. Wilhelm Voßkamp) – als kulturelle Institutionen, die eine spezifische kulturelle Leistungsfähigkeit auszeichnet, bestimmt. 28  Anthony Stephens kritisiert das in seinem Artikel zu den Duineser Elegien im RHB, 368–371. Vgl. Hans-Georg Gadamer: Mythopoetische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien. 29  Die Metapher ist oft unangebracht, weil sie Planung, Konzept, Voraussicht impliziert. Kulturelle Handlungen und Gestaltungsprozesse verlaufen so aber meistens doch nicht. 30  Vgl. dazu die grundlegende Studie von Dieter Burdorf: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. 31  Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden 1,350. 294  |  wolfgang braungart 

32 

So Peter Por in seiner Besprechung des RHB. Vgl. Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. 34  Vgl. WB: Hyperions Melancholie. 35  Vgl. Claudia Kalász: Hölderlin. Die poetische Kritik instrumenteller Rationalität. 36  Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden, VI/VII, 12 f. 37  Ebd. 30 f. 38  Vgl. WB: Walter Burkert; WB: Mythos und Ritual, Leiden und Opfer. 39  Vgl. Herbert Singer: Rilke und Hölderlin. 40  So bei Trakl, Bachmann, Celan, in der Gegenwartsliteratur bei Arnold Stadler. 41  So sehr sich die Moderne nach Authentizität sehnt und diese Sehnsucht auch poetisch produktiv macht: im Sturm und Drang, im Naturalismus, im Expressionismus zum Beispiel. 42  Vgl. Sabine Doering: »Aber was ist diß?«. Formen und Funktionen der Frage in Hölderlins dichterischem Werk. 43  Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen 16; Stefan George: Sämtliche Werke III, 18. 44  Hier nehme ich besonders einen Gedanken auf, den Manfred Koch in unseren Debatten über Rilkes Engel vertreten hat: Die Engel seien verstehbar als Figurationen der Subjektivität. Damit bleibt man freilich auf der Argumentationslinie Gadamers (»mythopoetische Umkehr«; vgl. Anm. 28). 45  Man denke nur an seine Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1929). 46  Vgl. Jutta Schlich: Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte; religionswissenschaftlich: Charles Taylor: Säkulares Zeitalter, 788 ff. 47  Grundlegend dafür ist Wolfgang Riedel: Homo Natura. Literarische Anthropologie um 1900. 48  Zwei Bücher sind hier zu nennen: Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert: Uwe Spoerl: Gottlose Mystik. 49  Annemarie Schimmel: ›Die Religion des Islam‹. Eine Einführung, 109. 50  Ich benutze bewußt diese zentrale Metapher Kierkegaards; zu seiner Rezeption durch Rilke vgl. Christian Wiebe: Der witzige, tiefe, leidenschaftliche Kierkegaard. Zur Kierkegaard-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur bis 1920. 51  Noch einmal: Das ist ein poetisches Verfahren, das auch für Hölderlin ganz wichtig ist. 52  In etwas anderer und kürzerer Form ist dieser Abschnitt auch erschienen in WB: »Wirf aus den Armen die Leere«. Eine literaturethische und literaturdidaktische Anmerkung zur Lyrik. Am Beispiel einer Stelle in Rilkes erster ›Duineser Elegie‹. 33 

Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts  |  295

Vgl. [Art.] Einbildungskraft. In: Rudolf Eisler: Kant-Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichem Nachlaß, 105–107. 54  Vgl. Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. 55  Zum ganzen Problem der performativen ›Kunst der Interpretation‹ vgl. jetzt den sehr klaren, pointierten Aufsatz von Robert Vellusig: Texte zum Sprechen bringen. Über »das eigentliche Ziel der Literaturwissenschaft«; vgl. ebenso WB: Vom Sinn und Leben der Stelle, 89 ff. 56  Zum philosophischen Begriff: Gertrude E. M. Anscombe: Absicht. 57  Das Französische und die französische Literatur lieben das Spiel mit Homophonen. Rilke hat selbst auch Gedichte in französischer Sprache geschrieben, die im Supplementband von KA abgedruckt und übersetzt sind. 58  Ich danke Katja Malsch, Köln, für die Anregung, auch an dieses Sonett zu denken! 59  Zu dieser ästhetischen Grundkategorie vgl. Barbara Thums: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. 60  Wie sie Anthony Stephens (RHB) kritisch Gadamer vorhält (vgl. Anm. 28). 61  Vgl. WB: »Ich bin ein Mensch«. 62  Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich auf eine grundlegende, heute ganz zu Unrecht zu wenig beachtete Studie hinweisen: Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. 63  Vgl. Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Textinterpretation nach Schleiermacher. 64 Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 1, 325. – Man erinnert sich vielleicht auch der schönen Stelle in Pascals Pensées: »j’ay souvent dit que tout le malheur des hommes vient de ne sçavoir pas se tenir en repos dans une chambre.« – Nach der Edition 31671, 77 (E-Book 2010): www. samizdat.qc.ca/Ebooks). 53 

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– Friedrich-Wilhelm von Herrmann –

»Und zitternd hochgerissen standen sie krumm und hatten bange lieb« Zu Rilkes Emmaus-Gedicht

1. Gottsuche und Gotteserfahrung Wenn das Fragen die eigenste Verhaltensweise der Philosophie und deren Denkens ist, dann ist nicht die Gottesfrage, wohl aber die Gottsuche die Verhaltensweise jenes Dichtens, das danach trachtet, Gott, Göttliches und Religiöses ins dichterische Wort zu bringen. Zwar ist auch das Fragen des Denkens ein Suchen, dessen Gesuchtes das Gefragte ist, aber als fragendes Suchen ist es darauf aus, Frage und Antwort in das denkerische Wort eingehen zu lassen. Den Unterschied zwischen dem dichterischen und dem denkerischen Sprechen können wir an dem Unterschied zwischen dem dichterischen Bild und dem denkerischen Begriff festma­chen. Weil für Martin Heidegger das Denken und das Dichten je ein ausgezeichneter Bezug zur Sprache und deren Sagekraft ist, halten sie sich in einer Nähe zueinander, die grundsätzlich durch die Sprache gestiftet ist. Jedoch ist diese Nähe zugleich durch eine Ferne in Gestalt einer Differenz gekennzeichnet: der Differenz zwischen dem Dichten und dem Denken. Die aus dem gemeinsamen Sprachwesen hervorgehende Nähe ist die ›Nachbarschaft von Dichten und Denken‹. Weil aber das Dichten und das Denken in ihrer Nachbarschaft durch ihre unterschiedlichen Weisen des bildhaften und des begrifflichen Sagens und Sprechens auseinandergehalten bleiben, durchzieht ihre Nähe und Nachbarschaft zwar keine grobe, sondern eine zarte, dennoch aber keine trübe, sondern eine helle Differenz.1 Zart ist ihre Differenz, sofern Dichten und Den­ken zwei ausgezeichnete Verhaltensweisen zur Sprache sind. Hell ist aber ihre Differenz, weil weder das Dichten im dichterischen Bild in den denkerischen Begriff über­geht noch das Denken im Begriff in das dichterische Bild   |  297

wechselt. Die dichterische Gott­suche vollzieht sich auf den Wegen einer Gotteserfahrung, in der dem Suchenden Gott und Göttliches widerfährt. Hier versteht sich die Erfahrung als Widerfahrnis, deren Widerfahrenes dichterisch ausgelegt und ins dichterische Sagen gehoben wird. Unsere Erläuterung von Rilkes Emmaus-Gedicht nähert sich diesem in einer phänomenologisch-hermeneutischen und darin philosophischen Zugangsweise, die freilich in Würdigung und Respekt von den Forschungsergebnissen der Literaturwissenschaft, Philologie und Editionswissenschaft bzw. -technik dankbaren Gebrauch macht. 2. Das Emmaus-Gedicht im Ganzen Rilkes Gedicht EMMAUS, entstanden im April 1913 in Paris, gehört zu den Gedichten von 1910 bis 1922, steht also zwischen den NEUEN GEDICHTEN (1907–1908) und dem SPÄTWERK von 1922 bis 1926. Seiner lyrischen Form nach ist es ein überwiegend aus fünffüßigen Jamben bestehendes Reimgedicht von 20 Versen. Wie die mit EMMAUS zeitnah entstandenen Gedichte Auferweckung des Lazarus (Januar 1913) und Christi Höllenfahrt (April 1913) ist auch das Gedicht EMMAUS die dichterische Gestaltung eines biblischen Stoffes, ›Christus und die Emmaus-Jünger‹ aus der Ostergeschichte nach Lukas 24,13–35. Um das Verhältnis von Rilkes Gedicht EMMAUS und dem Bericht aus dem Lukas-Evangelium besser überschauen zu können, vergegenwärtigen wir uns zuerst die Verse 13 bis 31 aus dem 24. Kapitel: 13. Und siehe, zwei aus ihnen gingen an demselben Tage in einen Flecken, der war von Jerusalem sechzig Feld Wegs weit; des Name heißt Emmaus. 14. Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschichten. 15. Und es geschah, da sie so redeten und befragten sich miteinander, nahte Jesus zu ihnen und wandelte mit ihnen. 16. Aber ihre Augen wurden gehalten, daß sie ihn nicht kannten. 17. Er sprach aber zu ihnen: Was sind das für Reden, die ihr zwischen euch handelt unterwegs, und seid traurig ? 18. Da antwortete einer mit Namen Kleophas und sprach zu ihm: Bist du allein unter 298  |  friedrich-wilhelm von herrmann 

den Fremdlingen zu Jerusalem, der nicht wisse, was in diesen Tagen darin geschehen ist ? 19. Und er sprach zu ihnen: Welches? Sie aber sprachen zu ihm: Das von Jesus von Nazareth, welcher war ein Prophet, mächtig von Taten und Worten vor Gott und allem Volk; 20. wie ihn unsere Hohenpriester und Obersten überantwortet haben zur Verdammnis des Todes und gekreuzigt. 21. Wir aber hofften, er solle Israel erlösen. Und über das alles ist heute der dritte Tag, daß solches geschehen ist. 22. Auch haben uns erschreckt etliche Weiber der Unsern; die sind früh bei dem Grabe gewesen, 23. haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen, sie haben ein Gesicht der Engel gesehen, welche sagen, er lebe. 24. Und etliche unter uns gingen hin zum Grabe und fanden’s also, wie die Weiber sagten; aber ihn sahen sie nicht. 25. Und er sprach zu ihnen: O ihr Toren und träges Herzens, zu glauben alle dem, was die Propheten geredet haben ! 26. Mußte nicht Christus solches leiden und zu seiner Herrlichkeit eingehen ? 27. Und fing an von Mose und allen Propheten und legte ihnen alle Schrif­ten aus, die von ihm gesagt waren. 28. Und sie kamen nahe zum Flecken, da sie hingingen; und er stellte sich, als wollte er fürder gehen. 29.Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben. 30. Und es geschah, da er mit ihnen zu Tische saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen. 31. Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen.2

Im Anschluß an das gelesene und gehörte Geschehen am Ostermontag, wie es von Lukas berichtet wird, lesen und hören wir nun Rilkes dichterische Antwort auf den Lukas-Text in seinem Gedicht (KSA 2,55): Emmaus Noch nicht im Gehn, obwohl er seltsam sicher zu ihnen trat, für ihren Gang bereit ; und ob er gleich die Schwelle feierlicher hinüberschritt als sie die Männlichkeit; noch nicht, da man sich um den Tisch verteilte, beschämlich niederstellend das und dies, und er, wie duldend, seine unbeeilte »Und zitternd hochgerissen standen sie krumm …«  |  299

Zuschauerschaft auf ihnen ruhen ließ; selbst nicht, da man sich setzte, willens nun, sich gastlich an einander zu gewöhnen, und er das Brot ergriff, mit seinen schönen zögernden Händen, um jetzt das zu tun, was jene, wie den Schrecken einer Menge, durchstürzte mit unendlichem Bezug – da endlich, sehender, wie er die Enge der Mahlzeit gebend auseinanderschlug: erkannten sie. Und zitternd hochgerissen, standen sie krumm und hatten bange lieb. Dann, als sie sahen, wie er gebend blieb, langten sie bebend nach den beiden Bissen.

Rilkes Gedicht EMMAUS setzt ein mit dem gemeinsamen Gang der beiden Jünger und Jesu, läßt also die Gespräche der Jünger vor dem Hinzutreten Jesu aus, übergeht desgleichen das Gespräch Jesu mit den Jüngern während ihres Gehens, um in den ersten zehn Versen in einem einzigen, nur durch Kommata und Semikola unterteilten Satz das Geschehen: daß die Jünger Jesu von Situation zu Situation nicht als den, der er in Wahrheit ist, erkennen, noch nicht erkennen, dichterisch vernehmbar zu machen. Mit dem Beginn der zweiten Hälfte des Gedichts, mit dem elften Vers, mit dem Ergreifen des Brotes durch Jesus, kündigt sich der Höhepunkt des Gedichtes und die Wende im Geschehensgang des Gedichtes an. Jetzt endlich werden die Jünger sehender und erkennen Jesus als den Auferstandenen. Somit nehmen sie aus seinen Händen das ihnen dargereichte Brot. In den ersten siebenzehn Versen entfaltet Rilke ein dramatisches Geschehen des zunächst lange Verhülltbleibens des Auferstandenen, bis dieses umschlägt in die Selbstenthüllung und Offenbarung Jesu als des wahrhaft auferstandenen Christus. Von dieser Offenbarung her schwindet bei den Jüngern das Gehaltenwerden ihrer Augen, werden sie sehender und gelangen in die Erkenntnis, die vom Beginn ihres gemeinsamen Weges mit Jesus ausblieb. Das ganze Gedicht handelt von der Dramatik des langehin Verhülltbleibens und Nichterkennens und des bestürzenden Umschlags in die Enthüllung und Offenbarung des auferstandenen Christus.

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3. Das Emmaus-Gedicht im einzelnen seiner Verse Die sich steigernde Dramatik des langehin Verhülltbleibens Jesu als des Auferstandenen wird vernehmlich durch das dreimalige ›Noch nicht‹, ›noch nicht‹ und ›selbst nicht‹. Die Jünger – das sind der von Lukas genannte Kleophas und der nicht namentlich genannte Simeon. In Adolf Schlatters Kommentar zum Lukas-Evangelium heißt es zu diesen Jüngern: »Der eine der beiden Jünger war Kleophas. Durch alten, der Beachtung wohl würdigen Bericht wird von ihm gemeldet, er sei Josephs Bruder, also Jesu Oheim gewesen. Sein Sohn Simeon hat bis ins hohe Alter die Gemeinde, die in Jerusalem nach der Verwüstung der Stadt sich wieder sammelte, als Bischof geleitet. Das erklärt, warum gerade diese Geschichte in besonderer Weise ein Glied der christlichen Osterbotschaft geworden ist«3. »Noch nicht im Gehn« auf dem gemeinsamen Gang nach Emmaus erkannten die beiden Jünger den zu ihnen getretenen Wanderer nicht als den, der er ist, »obwohl er seltsam sicher zu ihnen trat« und »für ihren Gang bereit« war. Die ›seltsame Sicherheit‹, mit der der Wanderer sich zu den Jüngern gesellte und die ihn vom Gehn der Jünger unterschied, hätte die Jünger aufmerken lassen können. Und »ob er gleich die Schwelle feierlicher hinüberschritt«, die Türschwelle beim Betreten des Hauses der Jünger, nachdem sie zu diesem gelangt waren. Der Wanderer trat nicht nur »seltsam sicher« zu ihnen, sondern überschritt auch beim Betreten des Wohnhauses der Jünger die Türschwelle »feierlicher« als sie, die Jünger, die Rilke »die Männlichkeit« nennt. Der ›seltsam sichere‹ Gang und das ›feierliche‹ Überschreiten der Türschwelle hätte den Jüngern auffällig werden können. »Aber ihre Augen wurden gehalten«, wie es bei Lukas heißt. Die Jünger erkannten den Wanderer immer »noch nicht«, als ›man‹, als die Jünger und der Wanderer »sich um den Tisch verteilte[n]« und die Jünger aus ihren bescheidenen Vorräten »das und dies« auf den Tisch »beschämlich« niederstellten. Währenddessen ließ der Wanderer »wie duldend, seine unbeeilte Zuschauerschaft auf ihnen ruhen«. Auch dieser ›duldende‹ und ›unbeeilte‹, langsam gleitende Blick des Wanderers auf die Jünger läßt in diesen keinen Verdacht der Ungewöhnlichkeit des Wanderers aufkommen. Sie erkannten ihn »selbst [dann] nicht«, als sie sich mit dem Wanderer um den gedeckten Tisch setzten, um nun »sich »Und zitternd hochgerissen standen sie krumm …«  |  301

gastlich an einander zu gewöhnen«. Im Vers 11 kündigt sich aber der Umschlag und die jähe Einsicht der Jünger an: »und er das Brot ergriff«, der Wanderer »mit seinen schönen zögernden Händen«. Das Ergreifen des Brotes allein führt die Jünger noch nicht zur Erkenntnis. Vom Wanderer aber heißt es, daß er das Brot ergriff, »um jetzt das zu tun, was jene, wie den Schrecken einer Menge, durchstürzte mit unendlichem Bezug«. Das aber, was der Wanderer mit dem von ihm ergriffenen Brot ›tut‹, wird zu dem, woran die Jünger den unbekannten Wanderer als Jesus und als den Auferstandenen erkennen. Im Lukas-Evangelium lesen wir: »Und es geschah, da er mit ihnen zu Tische saß, nahm er das Brot (λαβὼν τὸν ἄρτoν), dankte bzw. segnete es (εὐλόγησεν), brach’s und gab’s ihnen (καὶ κλάσαϛ ἐπεδίδoυ αυτoῖϛ). Das Brechen (Segnen) und Geben des Brotes – diese Handlungen des Wanderers sind das, was die Jünger als Schrecken durchstürzte, weil diese ihnen als die Handlungen Jesu vertraut sind. Als der noch nicht als der auferstandene Jesus erkannte Wanderer, mit den beiden Jüngern am Tische sitzend, das Brot ergriff, um »jetzt das zu tun«, was die Jünger tief erschreckte und sie »durchstürzte mit unendlichem Bezug«, »da endlich« wurden sie »sehender«, weil sie nun nicht mehr nur den fremden Wanderer, sondern den auferstandenen Jesus sahen. Sie sahen, »wie er (Jesus) die Enge der Mahlzeit«, so wie diese zur täglichen Erhaltung des endlichen Menschenlebens gehört, im Geben des Brotes in die Weite des ›unendlichen Bezugs‹ »auseinander­schlug«; sie sahen, wie die endliche Mahlzeit sich in die un-endliche Eucharistie, in das von Christus am Gründonnerstag eingesetzte Abendmahl mit dem »unendlichen Bezug« wandelte. Zu dem, was Rilke hier den »Bezug«, den ›unendlichen Bezug‹ nennt, führt Martin Heidegger in seiner 1946 zum 20. Todestag Rilkes verfaßten Rilke-Interpretation Wozu Dichter? folgendes aus (WD 283): »Das Wort ›der Bezug‹ ist ein Grundwort der gültigen Dichtung Rilkes und zwar in den Wendungen wie ›der reine Bezug‹, ›der ganze‹, ›der wirkliche‹, ›der klarste‹, ›der andere Bezug‹ (d. h. derselbe Bezug in anderer Hinsicht). Man versteht Rilkes Wort ›der Bezug‹ nur halb und d. h. in solchem Falle überhaupt nicht, wenn man den Bezug nur vom Wort Beziehung her und diese im Sinne von Relation auffaßt. Man tut ein übriges an Mißdeutung, wenn 302  |  friedrich-wilhelm von herrmann 

man diese Beziehung als das Sichbeziehen des menschlichen Ich auf den Gegenstand vorstellt. Diese Bedeutung, nämlich ›sich beziehen auf‹, ist die sprachgeschichtlich spätere. Rilkes Wort ›der Bezug‹ kennt diese Bedeutung zwar auch, meint sie aber nicht in erster Linie, sondern nur auf dem Grunde der ursprünglichen«. »Etwas einholen und etwas sich irgendwoher beschaffen, es sich kommen lassen, nennen wir: es beziehen. Das ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Bezug. Wir sprechen noch vom Bezug der Ware, des Gehaltes, des Stromes« (WD 282). Demzufolge bedeutet Rilkes Wendung im Vers 14 »mit unendlichem Bezug«: ›mit dem Bezug des Unendlichen‹, das die Jünger aus der Einsicht in die Bedeutung des Segnens, Brechens und Gebens des Brotes beziehen. In dieser plötzlichen Einsicht erblicken sie das Unendliche des auferstandenen Christus, so, daß sie das göttlich Unendliche sich kommen lassen und beziehen. Nur auf dem Grunde dessen, daß ihnen das Unendliche zuteil wird, indem sie es von diesem selbst her beziehen, stehen sie auch im Bezug zum Unendlichen. Als das Unendliche des auferstandenen Christus sie, einem Schrecken gleich, »durchstürzte«, als sie »sehender« denn bislang geworden waren, da endlich »erkannten sie«. Wen oder was erkannten sie? Mancher Rilke-Interpret vermißt hier das Objekt. Bei Lukas heißt es im Vers 31: »Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn« (αὐτῶν δὲ διηνoίχ ϑησαν oἱ ὀφϑαλμoί, καὶ ἐπέγνωσαν αὐτόν). Rilke aber läßt das Objekt und damit das ›ihn‹, Jesus Christus, bewußt weg, weil die Jünger nicht nur ›ihn‹, Christus als den Auferstandenen, erkannten, sondern mit ihm das ganze zurückliegende Geschehen seit dem Hinzutreten des Wanderers. Alles, was ihnen auf dem Weg nach Emmaus, beim Eintreten in das Wohnhaus und beim gemeinsamen Sichsetzen um den Tisch an Bedeutsamem verhüllt geblieben war: nicht nur Jesus selbst, sondern auch alle seine Worte, die er zu ihnen gesprochen hat, alles dies zusammen »erkannten sie« nun in seiner zusammenhängenden Bedeutsamkeit. Alles, was ihnen bisher verhüllt geblieben war, enthüllte und offenbarte sich in seiner sinnhaften Bezogenheit auf den auferstandenen Jesus Christus. Diese plötzliche Einsicht und Erkenntnis ergreift und durchgreift sie derart, daß Rilke im 17. und 18. Vers sagt: »Und, zitternd hochgerissen, standen sie krumm und hatten bange lieb«. Was die »Und zitternd hochgerissen standen sie krumm …«  |  303

Jünger mit heiligem Schrecken ergreift, reißt sie aus ihrer sitzenden Lage zitternd hoch, derart, daß sie nun »krumm«, d. h. gekrümmt und gebeugt über den Tisch zu Christus hingewendet standen mit gefalteten und ausgestreckten Händen und den das Brot gebenden und den Kelch ergreifenden Christus ›lieb hatten‹, ihm ihre Liebe aus ihren weit aufgerissenen Augen entgegenbrachten. Aber sie hatten ihn »bange«, angstvoll lieb, ihre Christus-Liebe war durchzogen durch Bangigkeit, durch heilige Angst. Das Unendliche des erkannten auferstandenen Christus stimmte sie in Angst, die nicht Angst vor einem Bestimmten ist, sondern Angst, die sie von allem Alltäglichen und Geheuren löste und im Ungeheuren schweben läßt. Das Gedicht schließt mit den Versen: »Dann, als sie sahen, wie er gebend blieb, /langten sie bebend nach den beiden Bissen«. Während Lukas im 31. Vers berichtet: »Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen« (αὐτῶν δὲ διηνoίχ ϑησαν oἱ ὀφϑαλμoί, καὶ ἐπέγνωσαν αὐτόν· καὶ)αὐτὸϛ ἄφαντoϛ ἐγέντo ἀπ᾿ αὐτῶν), heißt es bei Rilke im 19. Vers »Dann, als sie sahen, wie er gebend blieb«. Rilke endet sein Gedicht mit dem ›gebenden Bleiben‹ Christi, während Lukas seinen Bericht damit abschließt, daß Christus für die Jünger unsichtbar wurde. Er wurde für sie unsichtbar, weil sich der sich den Jüngern offenbart habende Christus entzogen, d. h. verhüllt hat. 4. Zur vermuteten Bildvorlage Friedrich Wilhelm Wodtke nennt in seiner germanistischen Dissertation Rilke und Klopstock (Kiel 1948) drei Vorbilder, die Rilke in seinem Emmaus-Gedicht geleitet haben: »In seinem Gedicht ›Emmaus‹ lassen sich […] deutlich drei Vorbilder nachweisen, die Rilke beeinflußt haben: der biblische Bericht (Lukas 24, V. 13–35), Rembrandts Gemälde im Louvre bzw. dessen Deutung durch Emile Verhaeren, vor allem aber Klopstocks Schilderung des Ganges nach Emmaus im 14. Gesang des ›Messias‹, den Rilke in den Tagen, in denen dieses Gedicht entstand, gerade in der von ihm so freudig begrüßten Ausgabe von 1780 liest«.4 Daß der biblische Bericht im Evangelium des Lukas die zuerst zu nennende Quelle für das Emmaus-Gedicht bildet, steht außer Zweifel. Daß Klopstocks Messias 304  |  friedrich-wilhelm von herrmann 

im ganzen für Rilkes Dichtung und die Förderung seiner sprachschöpferischen Kraft von Bedeutung ist, das weist Wodtke in seiner Dissertation Rilke und Klopstock überzeugend nach. Daß auch der 14. Gesang aus dem Messias in manchen Motiven und sprachlichen Wendungen Eingang in Rilkes Emmaus findet, ist ebenfalls von Wodtke gezeigt worden. Wieweit aber Rilkes Anschauung von Rembrandts Gemälde Christus in Emmaus (1648) ebenfalls Vorbild für das Emmaus-Gedicht geworden ist, ist wohl eine offene Frage. Wodtke schreibt zu den vier letzten Versen von Rilkes Emmaus: »Das Gedicht schließt mit dem fast ins Groteske übersteigerten Bild der Jünger, das Rilkes Bestreben zeigt, Unaussprechliches durch die Ausdruckskraft der Gesten wiederzugeben: ›Und zitternd hochgerissen, standen sie krumm und hatten bange lieb.[…]‹« Über diese beiden Verse urteilt Wodtke: »Diese Haltung der Jünger findet sich weder bei Klopstock noch auf dem Bilde Rembrandts; sie entspringt einer barocken Übersteigerung der Gestaltung, die Rilke von El Greco gelernt haben dürfte«.5 In der Tat, diese gleichsam ekstatische Haltung der Jünger aus dem 17. und 18. Vers von Rilkes Emmaus findet sich weder in Rembrandts Emmaus-Gemälde noch in den anderen bekannten und öffentlich zugänglichen Emmaus-Bildern der Geschichte der Malerei. Das bedeutendste Emmaus-Bild neben dem von Rembrandt ist das Gemälde von Caravaggio in der Liebfrauenkirche zu Brügge. Weitere Bilder mit dem Emmaus-Motiv sind das Gemälde Cena in Emmaus von Jacopo Bassano (1537/38) in der Kirche von Cittadella, sodann das Gemälde La Cena di Emmaus von Filippo Tarchiani (1625) im County Museum von Los Angeles, ferner das Gemälde aus der Pinacoteca Civica in Cento (1628) und schließlich das Altarbild von Bernhard Rode Die Jünger von Emmaus (1779) in der St. Marienkirche in Berlin-Mitte. Keines dieser Gemälde zeigt die Jünger auch nur annähernd in der von Rilke in seinem Emmaus-Gedicht ins dichterische Wort gebrachten Haltung. Daß Rembrandts Christus in Emmaus im Louvre für Rilkes Emmaus motivierend gewesen sein könnte, wäre schon deshalb naheliegend, weil das Gedicht 1913 in Paris entstanden ist. Daß aber Rilke für die Gestaltung der Jünger (»zitternd hochgerissen, standen sie krumm«) von El Grecos Gemälden gelernt haben könnte, ist eine berechtigte Vermutung, da Rilke am 1.11. 1912 seine Spanienreise beginnt, von der er zwischen »Und zitternd hochgerissen standen sie krumm …«  |  305

dem 19. bis 25.2. 1913 über Madrid nach Paris zurückkehrt, wo dann im April das Emmaus-Gedicht entsteht. Auch im zweiten Band der ausgezeichneten Kommentierten Ausgabe von Rilkes Werken (hg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn) wird als Bildvorlage für das Emmaus-Gedicht »möglicherweise Rembrandt, Christus in Emmaus (1648)« genannt. Dort heißt es dann weiter: »unter den diversen Fassungen findet sich auch mindestens eine – heute in Kopenhagen – mit zwei aufgestandenen Jüngern, die in etwa Rilkes Beschreibung entsprechen« (vgl. KSA 2, 475). Doch bei genauerem Hinschauen zeigt sich, daß die Kopenhagener Fassung weit hinter der von Rilke beschriebenen Haltung der beiden Jünger zurückbleibt. Aber es gibt noch ein weiteres Gemälde unter dem Titel Christus und die Jünger von Emmaus, gemalt 1899 von dem Berliner Maler Rudolf Eichstaedt (geboren 1857 n Berlin, gestorben 1924 ebenda). Noch im selben Jahr seiner Entstehung wurde dieses Gemälde mit zwei weiteren von Rudolf Eichstaedt in der ›Großen Berliner KunstAusstellung‹ vom 7. Mai bis 17. September im Landes-Ausstell-Gebäude am Lehrter Bahnhof ausgestellt. Die Ausstellungszeit fällt in die Zeit von Rilkes Berliner Aufenthalt. Ab 1. August 1898 wohnt Rilke in Berlin-Schmargendorf, wo er sein Schmargendorfer Tagebuch beginnt. Von hier aus unternimmt er immer wieder kleine Reisen. Von Ostern 1899 bis August 1900 ist er an der Berliner Universität als Student der Kunstgeschichte immatrikuliert. Hier von Berlin aus tritt Rilke am 25. April zusammen mit Lou Andreas-Salomé und deren Ehemann seine erste Rußlandreise an, von der er am 18. Juni zurückkehrt. Alle jetzt von uns benannten Daten besagen,6 daß Rilke während der Ausstellungszeit des Emmaus-Gemäldes von Rudolf Eichstaedt sich in Berlin aufgehalten hat und somit diese Ausstellung besucht haben kann. Allerdings befand er sich zur Zeit der Eröffnung dieser Ausstellung (7. Mai 1899) bereits auf seiner am 25. April angetretenen Rußlandreise. Doch nachdem er von dieser am 18. Juni nach Berlin zurückgekehrt war, hatte er Gelegenheit, vom 19. oder 20. Juni ab bis zum 17. September 1899 die Große Berliner Kunst-Ausstellung am Lehrter Bahnhof aufzusuchen. Die hier jährlich stattfindenden Ausstellungen wurden gemeinsam von der Akademie der Künste Berlin und dem Verein Berliner Künstler ausgerichtet. 306  |  friedrich-wilhelm von herrmann 

So ist zu vermuten, daß Rilke, der gern und zahlreich Ausstellungen in Museen und Salons aufsuchte, auch die Große Berliner Kunstausstellung in den Zeiten seiner Berliner Anwesenheit besucht hat und dort auch auf das Gemälde Christus und die Jünger von Emmaus von Rudolf Eichstaedt gestoßen ist. Da Rilke schon seit einiger Zeit an seinen Christus-Visionen arbeitete, muß ihn das Emmaus-Gemälde von Rudolf Eichstaedt besonders angezogen haben. Da die Haltung beider Jünger auf diesem Gemälde recht genau den Versen 17 und 18 des Emmaus-Gedichts entspricht, muß sich Rilkes Anblick dieses Gemäldes so tief eingeprägt haben, daß er nach fast 14 Jahren, als im April 1913 in Paris sein Gedicht entsteht, dieses Gemäldes gedenkt und den beiden tief erschrockenen Jüngern die Haltung zuspricht, die er auf dem Emmaus-Gemälde Rudolf Eichstaedts 1899 betrachtet hat. Rudolf Eichstaedts Emmaus-Gemälde ist in der Öffentlichkeit nur einmal gezeigt und zugänglich geworden – eben auf der Großen Berliner Kunstausstellung von 1899. Obwohl es im Katalog als ›verkäuflich‹ gekennzeichnet war, wechselte es damals nicht seinen Eigentümer. In Wikipedia heißt es aber: »Seine Malerei fand durch die Lebendigkeit der Darstellung, die Wärme der Empfindung und durch ihre koloristischen Vorzüge allgemeinen Beifall. Nach seinen Gemälden sind zahlreiche Stiche und Reproduktionen angefertigt worden«. Wer nicht die Ausstellung von 1899 besucht hatte, konnte das Emmaus-Bild nur als Stich oder als Reproduktion betrachten. Unter den bei Wikipedia in Auswahl genannten fünf Gemälden Rudolf Eichstaedts befindet sich auch Christus und die Jünger von Emmaus, obwohl dieses Gemälde nach der Ausstellung von 1899 nicht mehr in der Öffentlichkeit zugänglich war und ist. Nach der Ausstellung nahm es der Maler wieder in sein Berliner Atelier zurück. Dort hing es bis zu jenem Tage, an dem Rudolf Eichstaedt dieses großformatige Gemälde demjenigen zum Geschenk machte, dem er die Inspiration zu diesem Bilde verdankte. Es war der Geistliche und bedeutende Kanzelredner an der Berliner KaiserWilhelm-Gedächtniskirche, Pfarrer Theodor Krummacher, der am Ostermontag 1899 seiner Predigt das Evangelium von Christus und den Emmausjüngern zugrundegelegt hatte. Zu seinen Gemeindemitgliedern zählte auch der Historienmaler Rudolf Eichstaedt, der an jenem Ostermontag diese Predigt angehört hatte, die für ihn so»Und zitternd hochgerissen standen sie krumm …«  |  307

gleich zur Inspirationsquelle für die Entstehung des Gemäldes Christus und die Jünger von Emmaus geworden war. Dieses EmmausBild wurde dann später innerhalb der Familie des einst Beschenkten vererbt und hängt heute in einer Bielefelder Privatwohnung. Dort wurde die photographische Aufnahme gemacht, die im Seminar über »›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes« gezeigt wurde und hier im Buch reproduziert ist. Abschließend soll noch einmal ein vergleichender Blick auf die Verse 17 und 18 von Rilkes Gedicht Emmaus und auf das EmmausBild Rudolf Eichstaedts geworfen werden. Es besteht kein Zweifel daran, daß auf dem Gemälde beide Jünger von ihren Sitzen »zitternd hochgerissen« sind. Der Sitz, auf dem im Vordergrund des Bildes Simeon gesessen hat, ist deutlich sichtbar, Simeon ist von diesem Sitz hochgerissen, um neben dem Tisch zu knien und beide Arme und Hände über die Tischplatte hinweg Christus entgegenzustrecken. Auch der links von ihm stehende Kleophas, dessen Sitz durch den Tisch verdeckt ist, steht hochgerissen am Tisch und faltet seine Hände in der Geste des erschreckten Staunens. Kleophas steht und Simeon kniet in leicht gebeugter und somit ›krummer‹ Haltung. »Hochgerissen« von ihren Sitzen stehen bzw. knieen sie »krumm«, in erschreckter und staunender Hinwendung zu Christus. Ihr Erschrecken und Staunen ist ihren Gesichtern deutlich zu entnehmen. Christus selbst aber sitzt an der gegenüberliegenden Schmalseite des Tisches, in seinen Händen den Kelch haltend und in eine weiße Wolke eingehüllt. Es ist der Augenblick , in dem die Jünger ihn als den auferstandenen Christus mit staunendem Erschrecken erkennen und in dem Christus ›vor ihnen verschwand‹. In Rilkes Gedicht ist es das Danken, Brechen und Geben des Brotes, worin sich Christus den Jüngern zu erkennen gibt, um sogleich für sie auch unsichtbar zu werden. Dagegen ist es in Rudolf Eichstaedts Gemälde der von Christus ergriffene Kelch, der Kleophas und Simeon von ihren Sitzen hochreißt und sie zutiefst erschrocken und staunend sich in gekrümmter, nach vorn gebeugter Haltung zu dem nunmehr von ihnen erkannten Christus hinwenden läßt. Die angedeuteten Unterschiede im Gedicht und Gemälde lassen jedoch nicht über ihr Gemeinsames hinwegsehen, daß beide Jünger in dem Augenblick der ihnen zuteilwerdenden Erkenntnis eine Haltung einnehmen, die sich sprachlich fassen läßt als »zit308  |  friedrich-wilhelm von herrmann 

ternd hochgerissen, standen sie krumm«. Aber auch die zweite Hälfte des Verses 18 »und hatten bange lieb« läßt sich in ihrer tiefen Bedeutung an der Körperhaltung und den Gesichtern der Jünger ablesen. Sie schauen nicht nur erschrocken und staunend, sondern darin auch in unendlicher Liebe auf Christus, aber in einer Liebe, die von Bangigkeit, von Angst erfüllt ist, einer Angst, die die Jünger von allem Endlichen um sie herum löst und in der Erfahrung des Unendlichen in Christus für einen Augenblick schweben läßt.7 Wenn man dieses Emmaus-Gemälde von Rudolf Eichstaedt kennt und anschaut, dann endet Rilkes Gedicht nicht mehr mit einem »fast ins Groteske übersteigerten Bild der Jünger« (Wodtke), dann zeigt sich vielmehr eine erstaunliche Entsprechung zwischen Rilkes Worten und den gemalten Jüngern. Wenn uns heute eine solche Gottes-, eine solche Christuserfahrung, wie sie den EmmausJüngern widerfuhr, zuteil würde, könnten wir wohl kaum anders als Kleophas und Simeon im Gemälde Eichstaedts und im Gedicht Rilkes auf diese außerordentliche Erfahrung antworten: »zitternd hochgerissen« und »krumm« stehend vor dem uns erscheinenden Christus.

Reproduktion des Emmaus-Gemäldes von Rudolf Eichstaedt »Und zitternd hochgerissen standen sie krumm …«  |  309

Anmerkungen

Vgl. Friedrich-Wilhelm v. Herrmann: Die zarte, aber helle Differenz. Heidegger und Stefan George, 9 ff., 190 ff. 2  Lk 24,13–31. Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments – nach der deutschen Übersetzung von D. Martin Luther. 3  Adolph Schlatter: Die Evangelien nach Markus und Lukas.Ausgelegt für Bibelleser von D.A. Schlatter, 285. 4  Friedrich Wilhelm Wodtke: Rilke und Klopstock, 115. 5  Friedrich Wilhelm Wodtke: Rilke und Klopstock, 122. 6  Vgl. Ingeborg Schnack: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes 1875–1926. 7 Frau Dr. Angelika Wesenberg, der wissenschaftlichen Leiterin der Wissenschaftlichen Handbibliothek der Sammlung zur Kunst des 19. Jahrhunderts der Alten Nationalgalerie Berlin, und ihren Praktikantinnen Friederike Voßkamp und Sylvie Möwes schulde ich großen Dank für ihre überaus hilfreichen Auskünfte zur Großen Berliner Kunstausstellung vom 7. Mai bis 17. September 1899 im Landes-Ausstell-Gebäude am Lehrter Bahnhof sowie zu den Angaben zu Rudolf Eichstaedt im Katalog der genannten Berliner Kunstausstellung von 1899. – Auch der wissenschaftlichen Leitung der Berliner Akademie der Künste gilt mein aufrichtiger Dank für wichtige Hinweise auf meinen Wegen der Nachforschung zur Großen Berliner Kunst-Ausstellung von 1899. Frau Prof. Dr. Claudia Blümle (v. Herrmann) hat mir die Kopenhagener Fassung des Rembrandtschen Gemäldes zugänglich gemacht, wofür ich ihr meinen herzlichen Dank ausspreche. Desgleichen danke ich herzlich Frau Elisabeth v. Herrmann für die photographische Aufnahme des Gemäldes von Rudolf Eichstaedt. 1 

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– Albert Raffelt –

Rainer Maria Rilke – Paul Hindemith: Das Marien-Leben Der Versuch, relativ kurz Rilkes Marien-Leben und die drei Versionen Hindemiths vorzu­stellen, muß Stückwerk bleiben.1 Der Schwerpunkt soll hier bei Hindemith liegen, vorher sind aber zum MarienLeben Rilkes einige Grundinformationen zusammenzufassen und einige Fragen nach dem hermeneutischen Interpretations-Rahmen für das Rilkesche Werk anzureißen, da die gängige Interpretation bis zu der nicht nur antireligiösen, sondern sogar ›antimetaphysischen‹ Deutung von Anika Davidson die Spannung zu Hindemiths Werk noch vergrößert. 1. Rilkes Marien-Leben Rilkes Marien-Leben steht im Kontext einer vorangehenden gut fünfzehnjährigen Beschäfti­gung mit Marien-Gedichten.2 Der äußere Anlaß der Entstehung – eine Bitte des Jugendstil­künstlers Heinrich Vogeler, auf einen früheren Plan der Zusammenstellung und Illustration von Mariengedichten zurückzukommen – ist also nicht rein äußerlich, sondern im Werk angelegt. Allerdings war für Rilke zum Zeitpunkt der Entstehung des Zyklus der Stil des Jugendstil-Adepten Vogeler zu weit entfernt; das Genus war es nicht – es gibt spätere Mariengedichte Rilkes, schon bald sogar eine Quasi-Fortsetzung des Zyklus mit zwei Himmelfahrts-Gedichten; ein Topos, der schon im originalen Zyklus enthalten ist. Schließlich sogar in der spätesten Zeit ein französisches Gedicht zu den sieben Schmerzen Mariens und weitere Anspielungen in Gedichten. Das zweite Bemerkenswerte ist, daß das Marien-Leben gleichzeitig mit den ersten Anfängen der Duineser Elegien entsteht. Es steht am Beginn des Spätwerks, allerdings vor der langen – wenn auch   |  311

nicht vollständigen – Unterbrechung des dichterischen Schaffens um den Weltkrieg. Das dritte und problematischeste ist Rilkes eigene Wertung des Werkes, die anfangs sehr positiv,3 später schwankend ist und es dann eher als unbedeutendes, auf einer früheren Stufe seiner Dichtung stehendes Parergon ansieht,4 wobei er durchgehend einzig die Stillung Mariä mit dem Auferstandenen ausnimmt.5 Das spiegelt sich auch in der Sekundärliteratur, wobei noch als weiteres Moment dazu­kommt, daß man trotz aller Herbeischaffung der christlichen Quellen, die ja breit doku­mentiert sind, häufig die Bedeutung der christlichen Thematik dieses Zyklus herunter­ zuspielen sucht. Das gilt auch noch für das eigentlich sehr schöne Buch von Richard Exner,6 das das Verdienst hat, den Zyklus in seiner Zugehörigkeit zum Spätwerk zu deuten. Die Quellen für Rilkes Gedichte sind zum einen das Neue Testament mit den Kindheitsgeschich­ten Jesu, zum anderen – und noch wesentlicher – apokryphe legendarische Überlieferungen. Quelle dafür ist nach dem Briefwechsel Rilkes7 vor allem die Heiligenlegende des Paters Pedro de Ribadeneyra SJ (1526–1611), der Flos sanctorum, den Rilke in der deutschen Fassung von dessen Ordensbruder Johannes Hornig unter dem Titel Die Triumphierende Tugend / Das ist: Die außerleßneste Leben der Heiligen Gottes las.8 Sie wird m. E. in der Rilke-Literatur (von der KA bis zu Davidson) noch zu wenig herangezogen, auch wo es ganz direkte Übernahmen gibt. Statt dessen wird m. E. etwas weit auf die Quellen Ribadeneyras zurückgegriffen. Rilke hat ferner als Quelle für den Zyklus Das Handbuch der Malerei vom Berge Athos. e3rmhnei2a th/@ zwgrafikh/@9 und den sog. Kiewski Paterik genannt.10 Rilke bezieht sich bei der Bildlichkeit m. E. aber oft eher auf die »Brüder in Sutanen im Süden, wo in Klöstern Lorbeer steht«, von denen der Mönch gegen Anfang des Stunden-Buchs sagt: »Ich weiß, wie menschlich sie Madonnen planen, / und träume oft von jungen Tizianen, durch die der Gott in Gluten geht.« Und natürlich auf die legendarische Tradition, diese vermittelt zumindest vor allem eben durch Ribadeneyra. Daß Rilke daneben damals auch Augustinus las (und übersetzte) ist inzwischen in Erinnerung gerufen und dokumentiert worden.11 Im Kontext der Werkzyklen Rilkes ist noch wichtig, daß das Marien-Leben am Anfang des Spätwerks nach Rilkes Aussagen in 312  |  albert raffelt 

Parallelität zu den Sonetten an Orpheus am Ende desselben quasi als ein Geschenk neben der Arbeit dargestellt wird.12 Man kann also mit gutem Grund den Zyklus dem Spätwerk zugesellen und nach den Bezügen fragen, die es in dieses einreihen. Das Buch und ein vorangehender Aufsatz von Exner haben dafür eine Bresche geschlagen. Allerdings indem er gleichzeitig eine Deutung vorlegt, die Maria als »einfache Frau« vorstellt, also bewußt die Transzendenz-Dimension kappt.13 Radikaler tut dies noch Anika Davidson. Anders ausgedrückt: Die »offizielle« Rilke-Forschung nimmt das Marien-Leben erst als vollgültig wahr, nachdem sie eine entchristlichte oder sogar areligiöse Deutung vorlegen konnte. Ein Vorläufer ist Holthusen, der den Zyklus »als eine der sublimen Parodien Rilkes auf Figuren der christlichen Heilsgeschichte« las.14 Nun ist der Zyklus in mehrere Richtungen deutbar. Die Oberflächenschicht läßt sich relativ konventionell von den christlichen Quellen Rilkes her verstehen. Nur so erklären sich wohl auch die 70.000 verkauften Exemplare zu Rilkes Lebzeiten (KA 2,444). Dies gilt, auch wenn viele bewußte Härten eingebaut sind, sicher keine Parodien, aber wohl Kontrafakturen. Allerdings benötigt eine strikt antichristliche Deutung als Voraussetzung eine christliche Dogmatik als Folie, auf der dann die »Häresien« Rilkes gelesen werden können. Nun sind aber Rilkes Quellen keine dogmatischen, sondern weitgehend legendarische und solche der bildenden Kunst. Dazu kommt, daß die neutestamentlichen weitgehend den Kindheitsgeschichten des Neuen Testaments entnommen sind, die man im sensus communis heutiger Exegese – nicht derjenigen der Rilke-Zeit – als haggadische Midraschim – als narrative theologische Deutung – lesen muß, obwohl zugegebenermaßen bis zu dem letzten Buch Joseph Ratzingers15 immer wieder eigentümliche Historisierungen versucht wurden. Bereits in seiner Einführung in das Christentum hat Ratzinger vor 45 Jahren allerdings deutlich gemacht, daß Jesus kein »Halbgott«, nicht im biologischen Sinne von Gott gezeugt und daß »[die] Lehre vom Gottsein Jesu […] nicht angetastet [würde], wenn Jesus aus einer normalen menschlichen Ehe hervorgegangen wäre.«16 Außerdem muß man als katholischer Dogmatiker darauf hinweisen, daß die sogenannten mariologischen Dogmen entweder christologische – wie jeoto2ko@ (DH 252) – oder anthropologische Rainer Maria Rilke – Paul Hindemith: Das Marien-Leben  |  313

wie das letzte Mariendogma (DH 3900–3904) bzw. wie im Vaticanum II ekklesiologische Aussagen sind (DH 4172). Rilke nimmt sich nun im Grunde die gleiche Freiheit mit dem Quellenmaterial, die die verarbeiteten Legenden mit vorliegenden Überlieferungen vornahmen. Der heutige gläubige theologische Leser muß also angesichts Kontrafakturen, Psychologisierungen, Ausspinnungen u. ä. nicht in jedem Fall so ablehnend reagieren, wie ihm selbst die neuste Auslegung von Anika Davidson immerfort unterstellt. Damit soll freilich die säkularisierende oder profanisierende Tendenz der Dichtung nicht geleugnet werden, allerdings sollte man nicht von Vermenschlichung sprechen, da es auch in der striktesten Orthodoxie immer nur um eine »menschliche« Frau geht. Rilkes Ablehnung eines konventionellen Christentums ist damit nicht tangiert. Aber durch sie ist das Problem des positiven Gehalts dieser Gedichte noch nicht gelöst. Der Zyklus läßt sich jedenfalls auf verschiedenen Ebenen lesen. Neben der von der konventionellen Thematik ausgehenden, läßt er sich als ein poetologisches Programm lesen, das die dichterische Inspiration in religiösen Bildern auslegt. Er läßt sich – wie Exner es tut – als Frauen-Leben lesen. Wenn man Rilkes Aussagen über die Frau im Hintergrund sieht, läßt es sich auch als Menschen-Leben (oder mindestens als Teil desselben) lesen. Es läßt sich in manchem auch autobiographisch lesen, worauf August Stahl aufmerksam gemacht hat.17 Daneben kann man einzelne inhaltliche Thematiken in den Vordergrund rücken, etwa die Frage nach »Größe« oder nach Bestimmung und Freiheit. Schließlich muß der schlichte Leser nicht unbedingt Einzelaspekte favorisieren, sondern kann sich dem Spiel seiner Assoziationen überlassen und im Spiegel seiner eigenen Rezeption weitere Schwerpunkte setzen. Anders ist es bei geschlossenen wissenschaftlichen Interpretationen. Sie haben einen Konsequenzzwang. Hier ist es nicht erlaubt, nicht in die eigene Konzeption Passendes wegzuschieben. Das geschieht etwa in Anika Davidsons ingeniöser und äußerst facettenreicher Interpretation, die ausgerechnet das von Rilke durchweg als »gültig« angesehene Gedicht Stillung Mariä mit dem Auferstandenen nicht ihrer Konzeption einordnen kann. Auch wenn die positive Wahrnehmung des Zyklus nicht an die Frage seiner theologischen Korrektheit gebunden ist, soll noch eine 314  |  albert raffelt 

Frage nach der Deutungsmöglichkeit als religiöser oder religiös relevanter Lyrik angesprochen werden. 2. Religiöse Lyrik? Karl Rahner schreibt in einem Aufsatz in den 50er Jahren einmal: »Warum stellen wir überrascht fest, daß man bei Hölderlin oder Rilke eine Fähigkeit der Realisation numinoser Mächte, der Götter, der Engel bemerken kann, eine Fähigkeit, die wir als stärker denn unsere eigene empfinden? Wir wissen z. B., daß die Engel bei Rilke allerletztlich doch eine literarische Staffage sind im Vergleich zum christlichen Glauben an die Engel, wie er sein sollte. Aber wir empfinden gleichzeitig, daß diese Engel bei Rilke doch stärker sind als in unserem tatsächlich vollzogenen Glauben«.18 Wenn man die »Staffage« einmal beiseite läßt, so macht der Text zumindest nachdenklich. Jedenfalls sollte man die Frage des religiösen Gehalts nicht zu schnell wegschieben. Für die Dichtung ist die Frage nicht entscheidend, ob es sich beim Marien-Leben auch in irgendeiner Form um »religiöse Lyrik« handelt. Aber der Blick auf die Interpreten macht die Frage interessant. Richard Exner bringt in seinem schönen Buch alle christlichen Quellen herbei bis zum Pater Ribadeneyra, versucht diese mit einer Koran-Sure zu relativieren und folgert – mit so starken Begründungen wie dem Bindestrich im Marien-Leben –, es gehe nur um eine Frau wie du und ich (wenn man denn eine ist…). Genauer: eine »irdische Frau, die Schmerzen und Freuden erfährt« (Das MarienLeben, 8). Hat den je eine Theologie behauptet, Maria sei keine »irdische Frau, die Schmerzen und Freuden erfährt«? Hier liegt eine höchst seltsame Vorstellung von Christentum zugrunde. Entschuldigend kann man auf die schrecklich kitschige Marienfrömmigkeit bis zum Vaticanum II in weiten Teilen der katholischen Welt hinweisen, die ja auch beim frühen Rilke Spuren hinterlassen hat. Gewissermaßen von der anderen Seite fragt Hans Urs von Balthasar: »Warum sind seine zahlreichen Gedichte mit christlichem Inhalt: […] Marienleben […], so tief unchristlich?« und kommentiert, daß »seine christlichen Gedichte auch nicht das Christliche selbst, sondern nur dessen Wiederhall [sic] im Weltlichen, Seelischen, in Rainer Maria Rilke – Paul Hindemith: Das Marien-Leben  |  315

Natur oder Psychologie« geben.19 Das »Christliche selbst« ist für Balthasar wohl der heilsgeschichtliche Punkt der Inkarnation. Er zitiert zu diesem »Fehl« bei Rilke einen Brief aus Muzot, in dem dieser über den Mittler und das »Dunkel Gottes« reflektiert und kommentiert dies: »Rilke hat, ohne es zu wissen, das Geheimnis des Ölbergs begriffen, sofern der leidende Gott seine Leidensform als ein kosmisches Gesetz über die Natur und jedes einzelne Leben gebreitet hat. Aber die geschichtliche Spitze dieses kosmischen Geschehens will Rilke nicht anerkennen.« Das ist möglicherweise mehr Balthasar als Rilke, zeigt aber doch die Komplexität der Fragestellung. Die Frage ist, was man von Dichtung fordern darf, damit sie auch »christlich« relevant – wenn damit auch noch nicht »christlich«! – sei. Beim Marien-Leben kann man sicher schlecht die heilsgeschichtliche Dimension im Text völlig abblenden. Ob Rilke und in welcher Zeit er mehr oder weniger fern dem Christentum stand, ist eine psychologische Frage. Für den Theologen ist sie nochmals gebrochen durch die Außen-/Innenperspektive. Letztere ist ohnehin unzugänglich. Was die Texte enthalten, kann man aber unabhängig davon, was Rilke »glaubte«, hermeneutisch ermitteln. Auf dieser Ebene lassen sich einige der Texte auf höchst traditionelle Weise lesen. Wenn etwa Anika Davidson den Argwohn Josephs als Einbruch moderner Skepsis sieht, so ist doch hier wirklich keine Quellenferne bei Rilke gegeben, keine Kontrafaktur und keine Areligiosität herauszulesen. Nicht wesentlich besser steht es um das gleiche Argument beim sog. »ungläubigen Thomas« im dritten Gedicht vom Tod Mariä, auch wenn hier eine legendarische Kontrafaktur einer neutestamentlichen Erzählung und nicht eine solche selbst vorliegt. Eine solche Deutung ist wohl auch eine Verharmlosung wirklicher Skepsis. Was das Marien-Leben anbelangt, so ist die Formulierung von Karl-Josef Kuschel vielleicht offen genug: »Mit Maria als literarischer Figur ließen sich Grundhaltungen des Menschen zur Wirklichkeit, zur Welt und zur Kunst, symbolisch-ästhetisch spiegeln, auf die es ihm in seinem Kunstprogramm, für sein Selbstverständnis als Künstler ankam und die in immer neuen Variationen sein Werk durchziehen: die Hingabe und das Dienen, die Sorge um und das Warten auf die Dinge, das Wissen um das Wunderbare und das 316  |  albert raffelt 

Offensein für das Göttliche, das Rühmen und Preisen. Hier spielt Maria ihre kaum durch eine andere Frauenfigur ersetzbare Rolle: Sie wird zum Symbol des Weiblichen schlechthin« – aber vielleicht doch nicht nur des »Weiblichen« oder anders gesagt – warum nicht des »Menschlichen«?20 Man kann aber doch genauer nach der »kaum ersetzbaren Rolle« fragen, die Kuschel anspricht und fragen, ob es nicht doch eine nicht ersetzbare Rolle ist. Die sog. »Humanisierung« nimmt dabei dem Zyklus nicht die religiöse Bedeutung. Maria, die Heiligen, auch Jesus sind Menschen. Die säkularen Deutungen haben – wie schon gesagt – oft ein monophysitisches Mißverständnis als Voraussetzung.21 In diesem weiteren Rahmen kann man nun durchaus theologische Dimensionen und religiöse Themen identifizieren – und dies nicht gegen Rilke. Etwa Gnade und Freiheit – oder Schicksal und Selbstbestimmung, aber auch – ähnlich wie von Balthasar – durchaus theologisch Tiefsinniges. Ich denke etwa an die Reflexion darüber, was Größe ist mit ihrer Spiegelung des ke2nwsi@-Gedankens,22 der Entäußerung, Erniedrigung Gottes. Oder der rigorose Umgang mit dem Text der Hochzeit von Kana, der das klassische Theologoumenon der felix culpa in Worte bringt oder mit Karl Rahner gesagt, des »heilsgeschichtlichen Muß« [deî, vgl. Mt 16,21, 1 Kor 11,19].23 Man macht damit Rilke nicht gegen seinen Willen kirchlich, kann aber anerkennen, daß er höchst bedenkenswerte Übernahmen aus dem ihm geläufigen religiösen Repertoire tradiert und sie durchaus tiefsinnig verarbeitet. Ihn schlicht antireligiös, antimetaphysisch etc. zu deuten, ist eine weltanschauliche Deutung, sozusagen das umgekehrte Pendant zu Guardinis weltanschaulichem Versuch. Schon Gadamer hat klargelegt, daß man auf die Wahrheit der Dichter anders hören muß.24 Man kann das Problem auch mit einem Druckfehler verdeutlichen: Exner (Das Marien-Leben, 61) zitiert auf Rilkes Narzißmus bezogen Ovid (Metamorphosen 3,464) mit dem Satz »Uror amore mei« und übersetzt etwas abschwächend: »Liebe für mich rührt sich in mir«. Er schreibt aber fälschlich im lateinischen Zitat: »Uror amore dei«.25 Vielleicht liegt die Wahrheit der Texte Rilkes genau dazwischen, in der Sehnsucht nach dem »Fehl« in der übernommenen Bildlichkeit. Rainer Maria Rilke – Paul Hindemith: Das Marien-Leben  |  317

Rilkes Position eines Agnostizismus – wenn wir ihn so einschachteln wollen – kann man vielleicht doch nicht so einfach abtun, wenn man über eine Spitzenaussage von Karl Rahner nachdenkt, der sogar zum expliziten Atheismus – kaum die Position des späten Rilke – schreibt, er könne »vom Christentum nicht allein als Offenbarung des Neins des Menschen verstanden werden, in dem er sich weigert, sich auf das unbegreifliche Geheimnis Gottes einzulassen, sondern auch als ein Moment in der Geschichte der Erfahrung Gottes, in der er immer radikaler als das anzubetende Geheimnis erscheint, dem wir uns in Hoffnung überlassen«.26 Damit sollen Rilkes Absetzungen von christlicher Dogmatik nicht relativiert werden, aber wie bei Heidegger mit seiner bekannten Aussage, daß ihm »das System des Katholizismus problematisch und unannehmbar« geworden sei,27 kann die Absetzung nicht verdecken, daß der amor dei auch bei ihm eine Triebkraft geblieben ist. 3. Die Problematik einer Vertonung Rilkescher Texte Eine Rilke-Vertonung ist nicht nur anspruchsvoll, sondern zunächst einmal gegen den erklärten Willen Rilkes. Er schreibt an die Gräfin Maria Viktoria Attems: »Ich weiß nicht, auf welche meiner Arbeiten Ihre künstlerische Gestaltung Bezug genommen hat, – aber im Grunde gilt es für alle, daß ich jeder – sowohl musikalischen wie zeichnerischen – Begleitung meiner Produktion, ach!, recht von Herzen abgeneigt bin. Liegt mir doch daran, den ganzen Kunstraum, der einem inneren Gegenstande sich bietet, mit meiner Hervorbringung auszufüllen. […] Die Illustration ist mir da ganz besonders fatal, weil sie dem freien beweglichen Spiel der Imagination (des Lesers) bestimmte einschränkende Diktate auferlegt. […] So kann ich mir die einzelnen Künste garnicht getrennt genug vorstellen […] Wir sind vor die Aufgabe gestellt, uns reinlich zu entscheiden, jeder zu einer, seiner Ausdrucksform, und dieser, in einem Fache beschlossenen Gestaltung wird jedes Zuhülfekommen anderer Künste schwächend und gefährlich«.28 Rilke schreibt das am 12.03.1921, also kurz bevor Hindemith sein Marienleben beginnt. Nun ist die junge Gräfin eine Illustratorin. Und die Briefäußerung zunächst einmal auf die konkrete Anfrage bezogen. Der folgende 318  |  albert raffelt 

Brief bestätigt ihr eine »sehr entwicklungsfähige« Begabung, was man sehr unterschiedlich lesen kann (vgl. B14–21, 392). Allerdings lassen sich auch andere Äußerungen beibringen,29 die Rilkes Zurückhaltung gegenüber Vertonungen seiner Lyrik erkennen lassen, die freilich trotzdem schon seit 1894 [!]30 häufig erfolgt sind.31 Auf Rilkes Verhältnis zu Musikern können wir hier nicht mehr ausführlicher eingehen. Bemerkenswert ist aber, daß es gerade zur Avantgarde Beziehungen gibt,32 so zu Ferrucio Busoni, dessen Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst durch Rilkes Vermittlung seinen Publikumserfolg in der Insel-Bücherei feiern konnte.33 Daß er 1924 noch Ernst Křenek (1900–1991) kennenlernte und für ihn Gedichte zur ausdrücklichen Vertonung schrieb, führt immerhin in die Nähe der Musik Hindemiths34– und relativiert auch die Behauptung, daß das Marienmotiv im Spätwerk völlig fehle.35 Leider habe ich keinen Hinweis Rilkes selbst zu dem doch zu seinen Lebzeiten erschienenen Werk Hindemiths gefunden.36 Allerdings muß Rilke es in Muzot erhalten haben.37 Es ist darauf hingewiesen worden, daß andere Musiker vor den literarisch hochrangigen Werken zurückschreckten.38 Bei Hindemith ist das völlig anders. Mit Trakl, Benn, Claudel bis Thornton Wilder u. a. hat er fast durchweg hochrangige Texte vertont. Wie sorgfältig Hindemith seine Texte wählt und mit ihnen umging,39 ist im übrigen durch die Studie von Ann-Katrin Heimer belegt40 – gegen das Adorno-Klischee vom halbgebildeten musikalischen Naturburschen (»Orchestergeiger«).41 Und die neuere Literatur hat zudem den hohen Reflexionsgrad schon des ersten Marienlebens deutlich gemacht. 4. Kleine Werkgeschichte zu Hindemiths Vertonungen Auch wenn der große Marienlieder-Zyklus eine eigene Stellung hat, sind im Werk des frühen Hindemith doch schon knapp 30 Klavierlieder und Lieder in anderen Besetzungen, darunter die TraklLieder Die junge Magd vorausgegangen. Daß Hindemith außer mit dem Marienleben als Liedkomponist kaum wahrgenommen wird, liegt auch daran, daß die relativ umfangreichen LiedkompositioRainer Maria Rilke – Paul Hindemith: Das Marien-Leben  |  319

nen in den 30er Jahren nicht zu Publikationen geführt haben und erst durch die Arbeit von Ann-Katrin Heimer und die Sämtlichen Werke dokumentiert sind bzw. publiziert werden42 und die späten – vor allem die 13 lateinischen Motetten aus dem liturgischen Weihnachtszyklus – in der Rezeption kaum eine Rolle spielen. Vielleicht ist auch der private Hintergrund von Bedeutung, daß viele Lieder zunächst für Hindemiths Frau komponiert sind, die nicht öffentlich auftrat. Der Rilke-Zyklus stellt aber jedenfalls einen Einschnitt dar.43 Das Marienleben wird gewöhnlich der Stilepoche – so problematisch solche quer über die Künste gelegten Etiketten sein mögen – der neuen Sachlichkeit zugeordnet. Kennzeichen ist eine Abwendung von der spätromantischen »Moderne«, von der extremen Subjektivierung, die Anknüpfung an die Vormoderne, die Radikalisierung kontrapunktischer Schreibweise, ein »Neobarock« auch in der Übernahme barocker Formen.44 Dieser Objektivismus findet sich in Hindemiths Marienleben 1923. Daß Koloristik und Illustration hier kaum vorkommen, ist schon öfter festgestellt worden.45 Das gibt es fast nur randlich, etwa beim »Hüpfen« des kleinen Johannes im Mutterschoß am Ende der Heimsuchung oder vielleicht beim Melisma der »Tränenbäche« in Vom Tode Mariä 1,46 das man allerdings besser als musikalische »Figur« deutet, wie solche Dinge äußerst differenziert in den Arbeiten von Siglind Bruhn untersucht werden. Musikalische Topoi wie das Pastorale in den Geburtsgedichten knüpfen an Hörerwartungen an. Das musikalische Zitat – »Es kam ein Engel…« in der ursprünglichen Fassung von Mariä Verkündigung hat einen versteckt illustrierenden Charakter. Strenge musikalische Formen wie die Passacaglia (beim Schreiten der kleinen Maria in der Darstellung immerhin auch mit einem »illustrierenden« Wert, die chromatische Version als passus duriusculus47 auch in der barocken Figurenlehre verankert), Fugato und Variationen verlassen die Ebene üblicher Textinterpretation in Liedern. Sie »verobjektivieren« gewissermaßen. Kompositorisch legitimierte Verfahren stehen manchmal hart zur Textdeklamation. Die erste Fassung war ein auch für Hindemith überraschender Erfolg. Der junge Adorno schreibt 1923 in einer Konzertrezension der Uraufführung: »Die Marienlieder von Hindemith […] sind voll von wirklicher, geräumiger, schwingend bewegter Musik; die Hinde320  |  albert raffelt 

mith Vielschreiberei vorwerfen, sind widerlegt von der Formkraft, die weitverzweigte, in entlegenen Metaphern sich verlierende Gedichte in Bögen sammelt, deren Freiheit niemals ins Episodenhafte und Schildernde entgleitet. Meisterlich sind diese Lieder; trotzdem aber will es mir scheinen, als habe die Begegnung mit Rilkes Lyrik, ihrer ersehnten, nur nicht geglaubten Gläubigkeit, ihren aus allen Bildungsbereichen gesammelten ästhetischen Religionssurrogaten in Hindemiths Welt einen fremden Klang gebracht. Doch ist ihm Rilke wohl keine Gefahr, und wenn ich ihn recht verstehe, so hat ihn am ›Marienleben‹ weit eher die musikhafte Unkörperlichkeit der Phantasiegesichte als des Dichters eigene Seelenart gereizt.« Die Reserve gilt also hier nur der Dichtung.48 Etwas später – vgl. den im folgenden zitierten Text von 1928 – ist die Distanz Adornos schon groß. Hindemith hat aus dem Erfolg die Verpflichtung zur Verbesserung der kompositorischen Arbeit abgeleitet. Diese wurde zwar bald begonnen, aber dann unterbrochen und erst im amerikanischen Exil am Ende des Zweiten Weltkriegs und kurz danach zu Ende gebracht. Dazwischen liegt eine grundsätzliche Besinnung auf die kompositorische Arbeit, einerseits durch die aufgenommene Lehrtätigkeit bedingt, anderseits durch die Erfahrungen des Nationalsozialismus, der Hindemith ächtete und letztlich zur Auswanderung zwang. Hindemith reflektiert in dieser Zeit die kompositorischen, aber auch die ethischen Grundlagen der musikalischen Komposition. Das Ziel ist ziemlich ungeschützt im Vorwort zum neuen Marienleben formuliert: »Ich begann ein Ideal edler und möglichst vollkommener Musik zu erschauen, das ich dereinst zu verwirklichen imstande sein würde, und ich wußte, daß von nun an das Marienleben mich auf diesem Wege leiten und mir zugleich als Maßstab für die Annäherung an das Ideal dienen würde«.49 Zur Musikkonzeption Hindemiths sei nur noch so viel gesagt, daß er sich einerseits auf Boethius und seine Theorie der musica mundana bezieht – die »Harmonie der Welt«, um es mit einem späteren Werktitel Hindemiths zu bezeichnen, der gleichzeitig noch eine andere Quelle nennt (Kepler) –, anderseits auf die Musiktheorie Augustins, mit der Zielvorstellung: »Musik muß in moralische Stärke verwandelt werden. Wir vernehmen die Klänge und Formen der Musik, aber sie bleiben bedeutungslos, wenn es uns nicht Rainer Maria Rilke – Paul Hindemith: Das Marien-Leben  |  321

gelingt, sie in unsere geistige Tätigkeit einzubeziehen und ihre fermentierende Kraft dort im veredelnden, übermenschlichen und idealen Sinne wirksam werden zu lassen«.50 Im folgenden sollen kurz zwei Beispiele aus dem Zyklus – (fast) ungeachtet der Frage ob Neubearbeitung oder Erstfassung – angesprochen werden: 5. Zwei Einzelhinweise (I):  Geburt Mariä Das Eröffnungsgedicht Geburt Mariä ist äußerlich konventionell mit drei vierzeiligen Strophen. Sprachlich ist es trotzdem eng mit dem sonstigen Spätwerk Rilkes verzahnt. Die Engel eröffnen den Zyklus; die Gegenüberstellung aufsingen / aufweinen hebt die Szene über das Gewöhnliche hinaus; die Schlußzeile der ersten Strophe bietet sozusagen den theologischen Gehalt: die Mutter des »Einen, der bald erscheint«. Das läßt sich durchaus traditionell christlich lesen. Das »schwingend verschwiegen«, der »Raum«, die »reine Verdichtung« bringen Sprach- und Vorstellungsmaterial, das ins Spätwerk verweist. Der »Raum« ist ja schon in der bei Rilke laut den Kommentatoren wohl gemeinten Fehlübersetzung des Mottos der Arbeit genannt: »ζάλην ἔνδοθεν ἔχων« (»Raum« statt »Sturm«). Die dritte Strophe setzt einen Gegensatz in einer niedrigeren Sprachdimension, adäquat, da die angesprochene Wirklichkeitsdimension eine niedrigere ist. In der zweiten Strophe war nur die Richtung dahin gewiesen. Nun ist das Gehöft im Blick und die menschliche und kreatürliche Alltäglichkeit, die wiederum aufgehoben wird im Schlußsatz: »Denn so war es noch nie«.51 Manfred Engel schreibt in der Kommentierten Ausgabe, damit werde »die den ganzen Zyklus prägende Spannung zwischen ›hohem‹, metaphysischem Stoff und seiner auf Allgemeinmenschliches und Irdisches zielenden Behandlung und Umformung aufgebaut« (KA 2,453). Gegenfrage: Wird in der Umformung der Stoff nicht vielmehr »aufgehoben« in dem bekannten dreifachen Wortsinn (tollere, conservare und elevare)? Das »elevare«, die neue Synthese ist dabei das eigentlich Interessante. 322  |  albert raffelt 

Die Quelle für die Geburt Mariens ist apokryph, nicht biblisch. Das Thema findet sich im Handbuch der Malerei vom Berge Athos / e3rmhnei2a th/@ zwgrafikh/@ nur mit einer nicht übereinstimmenden Bildtradition,52 wohl aber in Ribadeneyras Triumphierender Tugend. Sie erklärt auch die »muhende Kuh«. Das ist keinesfalls eine »Parodie« à la Hans Egon Holthusen,53 sondern es ist die Hineinnahme der Kreatur in die Heilsgeschichte.54 Bei Ribadeneyra sind es die »blökenden Schafe«. Ochs und Esel an der Krippe Jesu wären wohl die Parallele, dort in der Bethlehem-Szene nach dem Prophetenwort eingefügt. Es ist schlicht Voreingenommenheit oder Unkenntnis dieser Traditionen, wenn man hierzu bemerkt, Rilke setzte »erneut komisch-skurrile Effekte ein, um Jenseitshoffnungen zu entlarven«.55 Mit der Parodie-Deutung ist auch gleichzeitig eine Deutung zurückzuweisen, die Rilkes Gedicht jede heilsgeschichtliche Qualität abspricht und nur das Frauenleben schlechthin als Gegenstand des Zyklus sieht. Schon vom ersten Gedicht her ist das nicht stimmig. Selbstverständlich ist damit die Frage, »was Rilke glaubt«, überhaupt nicht tangiert. Es kommt hier nur darauf an, was im Text steht. Hindemith nimmt schon in der Anweisung »Leicht wiegende Viertel. Durchweg sehr zart und schlicht« das Genus des Wiegenliedes auf. Das Stück ist dementsprechend im Dreiertakt. Das ist sozusagen ein klassisches Muster, wie etwa auch das Pastorale in der Geburt Jesu – hier in zwei unterschiedlichen Kompositionen in beiden Fassungen.

Die Quart-/Quint-Parallelbewegung hat etwas Archaisches. Adorno spricht vom ›frischgebackenen Mittelalter‹ zu Beginn des Zyklus, verurteilt allerdings die »pseudoreligiösen, kunstgewerblichen und Rainer Maria Rilke – Paul Hindemith: Das Marien-Leben  |  323

im Inneren ganz sentimentalen Goldgrundgedichte jenes Rilkeschen Zyklus« gleich mit.56 M. E. ein Beispiel, wie stark ideologisch die Diskussion sowohl um den Rilke-Zyklus wie noch mehr um Hindemiths Vertonungen geprägt war. Das Motiv wird verwandelt im »Schwingend verschwiegen […]« aufgenommen. Verblüffend ist die Beobachtung von David Neumeyer, daß die Melodiestimme eine theologische Aussage trägt. Sie verarbeitet das Surrexit Christus hodie / Erstanden ist der heil’ge Christ. Als Quelle Hindemiths wird dafür auf die von ihm sehr geschätzten Rosenkranz-Sonaten des Heinrich Ignaz Franz von Biber (1644–1704) hingewiesen. Die erstgenannten Kennzeichen des Liedes wird jeder Hörer intuitiv wahrnehmen, auch wenn er sie nicht benennt. Die Verarbeitung des Chorals dagegen kaum. Sie ist verborgen im Satz. Musikwissenschaftliche Analyse hebt sie hervor. Wesentlich ist, daß auch schon die Erstfassung des Marienlebens nicht das eruptive Werk eines Naturmusikanten ist, sondern ein hochreflexives Gestalten zeigt, das im übrigen auch die religiöse Dimension des Textes weiterverarbeitet. Noch kurz zu den zwei Fassungen des Liedes. Es gehört zu denjenigen, die in der Grundstruktur in der Neubearbeitung erhalten geblieben sind. Die obigen Beispiele gelten für beide Fassungen. Geändert ist vor allem Melodie und Figuration der Klavierbegleitung am Schluß der ersten Strophe. Die »theologische« Hervorhebung des »Einen« – das über drei Takte gehaltenen« – dem das unbegleitete »Erscheinen« folgt ist wohl der inhaltliche – nicht der musikalische – Grund der Änderung. Zum musikalischen schreibt Hindemith selbst: »Die Takte 21–32 ersetzen eine Version, die in ihrer harmonischen Härte zuviel Selbständigkeit hatte und dadurch dem als Brücke zwischen zwei bedeutungsvolleren Konstruktionsgliedern dienenden Teil zu große Wichtigkeit gab«.57 Ein inhaltlicher Grund steht hier gegen eine musikalisch effektvollere Ausgestaltung. Kein Wunder, daß manche Musiker die Änderung bedauern. Sie ist aber konsequent.

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(II):  Stillung Mariä mit dem Auferstandenen Die Ersterscheinung vor Maria ist apokryph, aber bei Ribadeneyra genannt. Ungewöhnlich ist hier schon die Überschrift. »Stillung« ist ein ἅπαξ λεγόμενον in Rilkes Lyrik.58 Es bedeutet nach dem Grimmschen Wörterbuch59 »das stillmachen, aufhalten, beruhigen« bzw. »stillung als zustand, der aus dem stillmachen folgt, ist auszer vereinzelten spätmhd. beispielen für ›innerliche ruhe‹ und einem für ›silentium‹ nur lexikalisch im 15. bis 17. jh. belegt und wohl kaum wirklich lebendig geblieben«. Des näheren wird dann differenziert in 1. »stillung einer wirklichen bewegung: stillung des sturmes, des blutes« (Erreichung der tranquillitas), 2. »stillung von bewegungen menschlichen lebens im groszen; aufruhr u.s.w.« (pacificatio), 3. »stillung seelischer erregungen« (sedatio), 4. »stillung körperlicher empfindungen, von schmerzen, hunger, durst« und schließlich 5. »stillung der kinder«. Gewöhnlich wird bei der Deutung der Überschrift hier angeknüpft, was aber nicht besonders sinnvoll ist, so sehr Rilke auch mit Doppeldeutigkeit spielen mag, hier um ein Mutter-Sohn-Verhältnis zu benennen. Immerhin kommt bei Ribadeneyra bei der apokryphen Situation – wie beim ersten Lied ist sie nicht biblisch –60 das Stillen der Tränen vor, allerdings in der Umwendung, daß der Anblick des Sohnes diese nicht stillte, sondern nur in Freudentränen wandelte. Bemerkenswert ist noch, daß Rilke nicht »durch« sondern »mit dem« Auferstandenen schreibt. Damit wäre die Frage von den Quellen her angegangen. Und wie beim ersten Lied enthält auch hier das Malerhandbuch vom Berg Athos kein entsprechendes Kapitel. Man wird die Quellenfrage nicht überbewerten dürfen. Ribadeneyra gibt einen Anstoß, mehr nicht. Neben dem »Stillen« findet sich allerdings auch die Berührung (»umfangen«). Aber das ist alles sprachlich stark verändert. August Stahl hat auf die mit dem Entstehen des Zyklus zeitgenössische Beschäftigung des Dichters mit den Confessiones des Augustinus und darin auf die Ostia-Szene hingewiesen (conf. 9,23–26). Der Hinweis ist wichtig, um nicht zu eng an beliebigen Einzelheiten der sogenannten Quellen zu kleben. Es ist – wie schon gesagt – das Gedicht des Zyklus, das Rilke auch in seinen das Marien-Leben herunterspielenden Äußerungen als gültig herausgenommen hat. Rainer Maria Rilke – Paul Hindemith: Das Marien-Leben  |  325

Merkwürdigerweise ist es auch das einzige Lied, das Hindemith unverändert in den neubearbeiteten Marienleben-Zyklus aufgenommen hat. Warum unverändert?61 Die Übernahme setzt voraus, daß das Lied den Kriterien Hindemiths für die Neubearbeitung schon entsprochen hat. Es paßt in den tonsymbolischen Rahmen, den Hindemith in der Neubearbeitung durchweg durchsetzt. Die für Christus reservierte Tonalität E ist hier schon vorhanden. Günther Metz meint daher, daß diese Symbolik von diesem Lied aus entworfen wurde.62 Symbolisiert der schwebende – Metz nennt ihn »herbsüß« – Klang der in der Entfernung von zwei Oktaven – und damit gemildert – gleichzeitig erklingenden dissonanten Dur- und Moll-Terz die göttliche und menschliche Dimension? Man kann solche Assoziationen haben, aber sie sind nicht zwingend. Auffallend ist die außerordentliche Sparsamkeit der Mittel in diesem Lied. Pietà und Stillung… sind »die beiden einfachsten Lieder des Zyklus«, wie Glenn Gould bemerkt und – ersteres: fast – unverändert übernommen.63 Metz hat in seiner ausführlichen Analyse aufgezeigt, wie konsequent die Binnenstruktur dieses Liedes entwickelt wird und wie dies auch dem Textbezug entsprechend konstruiert ist. Es ist sinnvoll, das hier auch mit seinen Worten wiederzugeben: »Das Lied Stillung Mariä mit dem Auferstandenen zeigt in der Stringenz der Entfaltung seiner Teilmomente aus einem zu Anfang exponierten Kern wie in seiner schlüssigen tonalen Kosmogenese, in der phantasievoll differenzierten Handhabung der formalen Disposition wie in der inneren Proportionalität seiner Gestalt ein außerordentlich hohes Maß an kompositorischer Rationalität. Die ›Einfachheit‹ seiner Faktur ist nur eine scheinbare; sie birgt in der Fülle der Textbeziehungen gleichermaßen wie in der strengen Konstruktivität überdies eine reiche – jenen geheimnisvollen, letztlich unfaßbaren Vorgang der Transzendierung leiderfüllten irdischen Daseins in der Berührung Mariens mit dem Auferstandenen einbegreifende – Symbolik.«64

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6. Die zwei – bzw. drei – Fassungen in der Diskussion Der späte Adorno erinnert sich dann nicht mehr so genau, wenn er zum Marienleben schreibt: »Als dessen erste Fassung erschien, gingen mir die Ohren auf. Was jedoch Hindemith vorher komponierte, hatte mich sehr beeindruckt […]«.65 Hier ist die ideologische Barriere aufgebaut. Mit Erscheinen der Neufassung – die dazwischen liegenden Orchesterfassungen einzelner Lieder spielen in der Diskussion kaum eine Rolle –66 gibt es sehr erregte Polemiken. Auf der einen Seite stehen Komponisten, die sich gewissermaßen an die frühe Fassung geklammert haben und nun Hindemiths Zuwendung zu einem konventionelleren Stil bedauern. Hans Werner Henze schreibt etwa: »Die alte Fassung hat soviel von Enthusiasmus und Einmaligkeit (gerade da, wo der Satz tonal inkommensurabel oder die Führung der Singstimme von unausgewogener Chromatik ist) wie die neue von satztechnischer und formaler Meisterschaft. Der Schmelz des Erstmaligen und eine eigenartige, wilde Schönheit sind dabei verlorengegangen.«67 Der Text ist vornehm, aber grundsätzlich: Er sieht generell in der tonalen Schreibweise keine Zukunft. Radikalisiert ist die Position durch den jungen Rudolph Stephan, damals noch Student, dessen polemischer Artikel – nach Ablehnungen – zunächst 1954 englisch, dann rückübersetzt 1974 deutsch in seinem Sammelband zur musikalischen Analyse in der wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschien.68 Die Analysen – bis hin zum Vorwurf falscher Deklamation u. a. – lassen sich im Einzelnen befragen. Wichtiger ist die Gesamtperspektive. Sie ist eine ästhetische Position bzw. ist ideologisch: »Hindemith hat sich auf den Mittelweg, den Weg des geringsten Widerstandes zurückgezogen«; ihm wird die »Ablehnung jeglichen radikalen Geistes« zugesprochen (a. a.O., 438). Immerhin wird ihm am Schluß noch auf die Schulter geklopft mit der Aussage, »daß es ihm, trotz allem, noch immer möglich ist, neue Musik von großem künstlerischem Wert zu komponieren« (a. a.O., 439). Ein Versuch, sich ernsthaft auf Hindemiths kompositorische und – s. v. v. – musikethische Position zu beziehen, gibt es hier nicht. Grundsätzlich müßte man wohl den Wandel Hindemiths zu seiner Rainer Maria Rilke – Paul Hindemith: Das Marien-Leben  |  327

Spätposition auf seine Entwicklung in der Spätweimarer und der Nazizeit beziehen, auf die Position, mit Musik ethische Wirkungen zu verbinden, auf den Versuch des sog. inneren Widerstands mit der ›Mathis‹-Thematik und dem ›Franziskus‹-Ballet Nobilissima visione. Natürlich auch auf die Erfolge und die Zeichen, die er damit in jener Zeit gehabt und gesetzt hat (Zürcher Aufführung etc.). Von links positionierten Komponisten und Schriftstellern – die ja zeitweilig durchaus mit Hindemith eng zusammengearbeitet haben – ist das als Infragestellung ihrer eigenen Position verstanden worden. Der andere gewichtige Punkt ist die Musiktheorie Hindemiths und deren Gültigkeitsanspruch. Der Versuch einer Ordnungstheorie auf Grund der physikalischen – also naturgegebenen – harmonischen Ordnung widersprach radikal den aktuellen und »politisch korrekten« Ästhetiken der Nachkriegszeit in Europa. Daß Hindemith trotz aller Polemik auch seinerseits eine viel größere kompositorische Weite besaß, zeigt auch, daß die Spätwerke nicht immer so klar nach seiner Theorie zu deuten sind. Sympathischer als Stephans forscher Aufsatz ist die Ablehnung durch Glenn Gould, der sich als Interpret für die erste Fassung einsetzt. Gould sieht das Marienleben als Hindemiths Hauptwerk an. Zum Unterschied knapp: »Das erste Marienleben stammt aus Hindemiths Jugend, aus einer Zeit, in der Veränderung in der Luft lag, Tonalität eine Ausweitung erfuhr, die sie mit Zerfall bedrohte, und zur Wiederbelebung des Kontrapunkts anführte, die die Fundamente der tonalen Harmonie, die Gefahr liefen unterzugehen, festigen sollte. Es ist ein Werk von ansteckender Spontaneität, von göttlicher Intuition, in dem Zusammenhänge verspürt werden, lange bevor eine Exegese ihr Vorhandensein zu bestätigen vermag. Das zweite Marienleben ist die Summe von Hindemiths lebenslangem Streben nach systematischer Kohärenz – ein Produkt intensiver Überlegung, gründlicher Kalkulation und wohldurchdachter Rücksicht auf Vokalisten und Instrumentalisten.«69 Im einzelnen vergleicht Gould einige der Hindemithschen Lösungen. Die Sympathie für die Frühfassung ist deutlich. Gould schreibt emphatisch: »wie der Leser wohl schon erraten haben mag, glaube ich fest, daß Das Marienleben in seiner ursprünglichen Form der größte Liederzyklus ist, der je geschrieben wurde« (a. a.O., 238). 328  |  albert raffelt 

Heutzutage ist diese Diskussion wohl passée. Die zwei Fassungen haben eigenständige Bedeutung. Die Musikwissenschaft kann sich relativ unbelastet von ideologischen Vorgaben damit befassen.70 Vor allem Siglind Bruhn hat dies umfassend getan.71 Mein Eindruck ist, daß die Musikwissenschaft meist für die frühen Lösungen plädiert. Wenn man nach den CD-Einspielungen geht, hat die zweite Fassung wohl den Vorzug bei den Interpreten. Die Deutungen der Vorzüge und Nachteile der Fassungen sind durchaus unterschiedlich. In den kritischen Analysen Siglind Bruhns werden etwa die Hochzeit zu Kana und die Bearbeitung des dritten Gedichts Vom Tod Mariä gegenüber der Erstfassung bevorzugt – während Glenn Gould gerade bei letzterem am polemischesten agiert.72 7. Marienleben 1923/1948 Wie unterscheiden sich die Fassungen nun wirklich? In seinem sehr ausführlichen Vorwort zur Fassung von 1948 hat Hindemith ausführlich seine Intentionen bei der Bearbeitung dargestellt. Zunächst zu den verschiedenen Kategorien der Bearbeitung: 1. Vollständig übernommen ist nur ein Lied, die Stillung, fast vollständig auch Pietà – übrigens das erstkomponierte Lied wie das erst gedichtete Stück bei Rilke!73 2. Vollständig ersetzt sind Mariä Verkündigung und Geburt Christ 3. Dazwischen gibt es Lieder mit geringfügigen Änderungen (Rast auf der Flucht), Austausch gewisser Teile (Geburt Mariä, das wurde schon genannt) oder gründlicher Umarbeitung bei Beibehalten der Grundidee (Darstellung …, Hochzeit …).

Besonders erregte Gegnerschaft haben die Teile gefunden, die man als »Konventionalisierung« der Komposition empfunden hat. Die harmonische Theorie Hindemiths in seiner »Unterweisung im Tonsatz« stand im Kreuzfeuer der Kritik. Die Fortschrittspartei, die die musikalische Entwicklung nur in der von Schönberg ausgehenden Linie als legitim ansah – Adorno und Verwandte –, polemisierte erbittert gegen die Bearbeitung. Die neue Einleitung der Nr. 4 (Mariä Heimsuchung) ist ein Beispiel. Sie zeigt, wie eine bitonale Einleitung Rainer Maria Rilke – Paul Hindemith: Das Marien-Leben  |  329

auf klarer harmonischer Basis ersetzt wird, trotzdem aber das thematische Material der Singstimme (zu Beginn) aufgenommen wird:

Als Beispiel für einen völligen Ersatz sei nur die Geburt Christi angesprochen. Diese Komposition wird von Hindemith besonders stark kritisiert. Musikalisch ist sie durchaus reizvoll, aber in den Gesamtzyklus nicht ausreichend eingebunden. Während die Neukomposition gleich auf das Eröffnungsthema der Geburt Mariä zurückkommt und dieses »Geburtsthema« auch im folgenden in der Klavierbegleitung gebraucht, also die zyklischen Bezüge stärkt. Man könnte natürlich noch viele Vergleichsbeispiele bringen. Dazu gehörte etwa der klavieristisch fulminante Neuanfang der Hochzeit zu Kana, die gegenüber der Erstfassung etwa um das Doppelte vergrößert ist. Die große Klaviereröffnung fehlt in der Erstfassung. 8. Zum religiösen Sinn des Marien-Lebens bei Hindemith Hindemiths Zyklus hat Glenn Gould eine Komposition genannt, »die vom Wunder der Transzendenz handelt«, und in seiner ersten Form ist es für ihn »der größte Liederzyklus …, der je geschrieben wurde«.74 Er ist damit erstens doch im Reich des Religiösen angesie330  |  albert raffelt 

delt und zweitens in eine Dimension gehoben, die Rilkes immer ein wenig als Parergon angesehenes Werk nie beansprucht hat. Die Neubearbeitung hat die erste Komponente aber ganz sicher noch verstärkt. Der Zyklus ist eingebaut in Hindemiths Weltdeutung, in die »Harmonie der Welt«, auf augustinisch-boethianisches Fundament gestellt. Er ist in seiner tonartsymbolischen Anlage nochmals theologisiert. Die gewissermaßen dogmatischen Elemente, die bei Rilke eher zurückgestellt, aber doch angesprochen werden, sind in der Tonartensymbolik unterstrichen. Man muß nicht Glenn Goulds Wort vom »größten Liederzyklus« angesichts vieler anderer grandioser Beispiele von Schubert bis Wolf, Mahler und anderen unterschreiben. Aber es ist zweifellos ein großartiges Werk in seinen zwei bzw. drei Fassungen. Anmerkungen 1  Der

Text diente bei der Tagung in Mainz der Einführung zur Aufführung der zweiten Fassung des Hindemith­ schen Werkes durch Kateryna Kasper und Jeong-Hwa Fischer. Von den im Handel befindlichen Interpre­ tationen sei für die erste Fassung hingewiesen auf Paul Hindemith: Das Marienleben: original version / Roxalana Roslak [Sopran]. Glenn Gould [Klavier]. – München: Sony BMG Music, 2007 (Glenn Gould jubilee edition). – Aufnahme: Toronto, Eaton’s Auditorium, 1976–1977; für die zweite Fassung: Das Marien­leben : op. 27. Liederzyklus nach Rainer Maria Rilke / Erna Berger [Sopran]. Gerhard Puchelt [Klavier]. Bellaphon, ca. 1982. – Schallplatte – Konzertmitt­ schnitt, Berlin 1953. – Marienleben : Lieder for soprano, op. 27 / Gerda Hartmann [Sopran]. John Whitelaw [Klavier]. – München: Koch International, 1996. – Aufnahme 1991 – Das Marienleben, op. 27 / Maya Boog [Sopran]; Michael Lakner [Klavier]. Georgsmarienhütte: CPO, 2014, Aufnahme 2013; für die Lieder der Orchester­fassung: Orchestral songs & Lieder / Ziesak, Ruth [Sopran]. Radio-Philhar­monie Hannover, Cord Garben [Dirigent]. – Georgsmarien­hütte: CPO-Musikproduktion, 1997. – Aufnahme: 1995. 2 Vgl. dazu vor allem Anika Davidson: Advocata Aesthetica: Studien zum Marienmotiv in der modernen Literatur am Beispiel von Rainer Maria Rilke und Günther Grass. Und die schöne mit Quellen und Selbstzeugnissen angereicher­te kommentier­te Edition von Richard Exner: Rainer Maria Rilke. Das Marien-Leben. 3  Im Brief vom 15.4.1913 an Hugo Salus schriebt Rilke: »Das Gute und Zustimmende, das Sie mir zu meinem Marien-Leben sagen, ist mir aufrichtig Rainer Maria Rilke – Paul Hindemith: Das Marien-Leben  |  331

werth; es ist ein kleines Buch, das mir so recht über mich hinaus von einem stillen großmütigen Geist ist geschenkt worden, und ich werde mich immer herzlich damit vertragen, genau wie ich’s that, da ich’s schrieb«. Zitiert bei Richard Exner: Das Marien-Leben, 108. Den Brief an die Mutter vom 31.8.1913 wird man vielleicht nicht zum vollen Nennwert nehmen dürfen (a. a.O., 109): »Ich freue mich von Herzen, daß das Marien-Leben Dir lieb ist, mir ist es auch eine besonders liebe Arbeit.« 4  Im Übergang aus der Zeit der positiven Äußerungen: »Mein, in einem großen inneren Bezug, vorbildlos und im Nachbild wachsend, ist nur eines: Die Stillung Mariens mit dem Auf­erstandenen. Die anderen Gedichte sind fast nur dazu da, dieses eine warm zu halten«. An Ellen Key am 7.7.1913; vgl. Richard Exner: Das Marien-Leben,109. Später dann etwa an Margot Sizzo am 17.3.1922: »Es ist nicht so sehr die Existenz dieser Verse, die ich anstreite, als vielmehr ihre Entstehungs­z eit; wären diese Nebenproduktionen etwa zehn Jahre früher anzusetzen, so hätte ich alle Duldsamkeit für sie. Aber sie griffen […] weit zurück im Ton« (vgl. a. a.O.,114), oder an Hermann Pongs am 21.10.1024 (a. a.O., 116): »Die Entstehung des Marien-Lebens, mit dem ich (im Winter 1912) einen älteren, längst übertroffe­nen Ton wieder aufnahm, war ganz äußerlich bedingt […]«. 5  Richard Exner: Das Marien-Leben,112 (an Margot Sizzo): »Mit Ausnahme vielleicht eines einzigen Stückes, das aus damals neuen, gegenwär­t igen Mitteln gebildet wurde, und, wenn ich mich nicht irre, die Überschrift trägt: Stillung Mariä mit dem Auferstan­denen«. 6  Ebd. – Etwa die Heranziehung der Stellen über Maria in der Koran-Sure 19, für die es m.W. gar keinen Beleg im Werk gibt (Kommentar Exners; a. a.O., 10): »Mit welcher Zustimmung wird Rilke, dem zuzeiten die christliche Sehweise sehr fern lag, ja unsympathisch war, im Koran die ›Sura von Maria‹ gelesen haben!«, – warum lobt Rilke dann gerade den Pater Ribadeneyra SJ?). Oder der Kommentar des Ribadeneyra-Zitats (a. a.O., 11): »Es geht Rilke immer um diese ›Frau Himmels und der Erden‹, diese irdische [!] Frau […]« oder »ein Leben wie deines oder meines« (ebd.). Warum dann aber diese ganzen künstlerischen und literarischen Quellen? Warum nicht einen Gedichtzyklus über Frauen-Bilder von Paula Modersohn-Becker o. ä.? – Im Gefolge steht auch Siglind Bruhn (Hindemiths große Vokalwerke, 54), wenn sie zum Zusammen­ hang des Hindemitschen Trakl-Zyklus und des Marienlebens schreibt: »Beide Zyklen behandeln Szenen aus dem Leben einfacher [!] junger Frauen.« Abgesehen davon ist dies die maßgebende grund­legende musikwissen­schaftliche Analyse.  7 Vgl. Rilkes Brief vom 12.1.1912 an Manon zu Solms-Laubach (nach Richard Exner: Das Marien-Leben,102): »als Lektüre den heiligen Augu­stinus [!] und die schönen alten Heiligen­legenden des Spaniers Ribadeneira«.  8  Augsburg und Dillingen: Johann Casper Bencards Seel. Wittib und Erben. Mir liegt der vierte Druck des ersten Bandes von 1734 im Digitalisat der 332  |  albert raffelt 

BSB München vor. – Ein paar direkte Bezüge (36): »unter dem Blecken der unschul­d igen Schäfflein«; 37: »ihrem Sohn den ungenäheten Rock würcken«; (38): »Sie entsetze sich etlicher massen in Erblickung des Engels, nicht zwar ob seiner Gegenwart, massen ihr solcher nicht frembd…«; (38): »Frau Himmels und der Erden« und zu Elisabeth »über das schwäre Jüdische Gebürg« sowie daß Johannes »vor Freuden anfienge, aufzuhupffen« (was allerdings auch neutestamentlich ist); (39): »Argwohn« zu Joseph u. a. m. – Bemerkens­wert scheint mir auch zu sein, daß Rilke viele der bei Ribadeneyra genannten Seltsamkeiten nicht ironisiert.  9  Dionysios ‹von Phurnâ›: Das Handbuch der Malerei vom Berge Athos / Godehard Schäfer (Übers.). 10  Vgl. Brief vom 17.7.1914 an Helene von Nostiz. Letzteres jetzt Dietrich Freydank u. Gottfried Sturm (Hg.): Das Väterbuch des Kiewer Höhlenklosters. 11  Vgl. August Stahl: »Salus tua ego sum«: Rilke (1875–1926) liest die ›Confessiones‹ des heiligen Augustinus, 243. Diese einführende Darstellung steht auch vor dem Hintergrund von Norbert Fischer: »Giebt es wirklich die Zeit, die zerstören­de?« Nach­klänge der Zeitauslegung Augustins in der Dichtung Rilkes. 12  An Margot Sizzo am 6.1.1922 (Richard Exner: Das Marien-Leben,111): »… der Strom des begnadeten Geistes war so gewaltig in mir, daß ich, nebenan, auch noch diese kleine Mühle des Marien-Lebens mit unterhalten durfte.« 13  Vgl. auch Manfred Engel (KA 2,451): »So wie Rilke einst in den ChristusVisionen (SW III 127–169) das Leben Jesu auf allgemein-menschliche – und nicht zuletzt: allgemein-männliche – Existenz­probleme transparent zu machen suchte, so wird ihm nun Maria zum Exempel für ein Frauen­leben, in dem die Grunderfahrungen von Liebe und Sexualität, von Geburt und Mutterschaft, aber auch von Verlust, Leid und Tod gestaltet werden«. 14  Hans Egon Holthusen: Rainer Maria Rilke in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 108. 15  Joseph Ratzinger: Jesus von Nazareth. [Bd. 3:] Prolog – Die Kindheitsgeschichten. Das Buch ist nach Aussagen des Papstes selbst eine private theologische Arbeit. Es ist daher zwar der Katalog­konvention entsprechend, aber sachlich falsch, es unter dem Papstnamen zu zitieren. 16  Joseph Ratzinger: Einführung in das Christentum, 225. 17 August Stahl: Marginalien zur Rilke-Literatur, 345: »Ich hätte nicht gedacht, daß man vom Marien-Leben aus einmal zurückschauen sollte auf die frühe Erzählung Pierre Dumont  und den Unteroffizier mit der ›brutalen Stimme‹ (SW IV,414) in die Nähe des ›Drohenden mit der Juwelenbrust‹ aus dem Marien-Leben (SW I,668) stellen könnte.« 18  Karl Rahner: Die ewige Bedeutung der Menschheit Jesu für unser Gottesverhältnis [1953],254. 19  Hans Urs von Balthasar: Apokalypse der deutschen Seele: Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen. Bd. 3: Die Vergöttlichung des Todes [1939],310. Rainer Maria Rilke – Paul Hindemith: Das Marien-Leben  |  333

20  Karl

Josef Kuschel: Maria in der deutschen Literatur des 20. Jahrhun-

derts,226. 21  Bei einem Theologen wie Kuschel wirkt es befremdend, wenn man liest (a. a.O., 229): »Maria erscheint […] weniger als göttliche denn als sehr irdische Frau und Mutter.« 22  Manfred Engels Interpretation des Magnificat in KA 2,457 liegt völlig falsch. Nicht »die Größe und Macht des em­pfangenen Kindes« wird hier gepriesen und demzufolge bei Rilke auch nicht der »Preis göttlicher Größe […] relativiert«. 23  Vgl. Karl Rahner: Theologische Deutung der Position des Christus in der modernen Welt, 258–261, 266–268. 24  Hans Georg Gadamer: Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins [1955]. 25  Richard Exner: Das Marien-Leben,61. 26  Karl Rahner: Warum bin ich heute ein Christ [1972], 497. 27  Vgl. den berühmten, von Albert Junghanns entdeckten Brief Heideggers an Engelbert Krebs vom 9. Januar 1919, vgl. Heidegger-Jahrbuch 1, 67 f. 28  B14–21, 383 f. Maria Viktoria Josepha Mathilde Jacqueline Reichsgräfin von Attems-Heiligenkreuz (1899–1983) war als Zeichnerin ausgebildet und tätig. 29  Vgl. etwa B99–02,37, hier nach Clara Mágr: Rainer Maria Rilke und die Musik,31: »Diese Ver­k nüpfung [von Wort und Ton] ist denn auch einem Zugeständnis­se an das Publikum ent­sprungen, das sich in seiner Trägheit am liebsten eine Kunst von der zweiten kommentieren lassen möchte.« 30  Clara Mágr: Rainer Maria Rilke und die Musik, 171. 31  Jessica Riemer: Rilkes Frühwerk in der Musik; Dies.: , zur Ergänzung von Fritz Kunle: Bibliographie der Vertonun­ gen von Texten Rainer Maria Rilkes. 32  Wobei die größte Hochschätzung allerdings Beethoven galt, vgl. den etwas seltsamen Satz bei Jessica Riemer: Rilkes Frühwerk, 240: »Von all den Komponisten, die Rilke im Laufe seines Lebens kennenlernen konnte, schätzte Rilke Ludwig van Beethoven am meisten.« 33  Triest: Schmidl, 1907, 2., erw. Ausgabe, 21.–25. Tausend. Leipzig: InselVerlag, 1916 (Insel-Bücherei ; 202); diverse Nachdrucke; Ergänzte und kommentiert Neuausgabe von Martina Weindel. Wilhelmshaven: Noetzel, 2001 (Taschenbücher zur Musikwissenschaft; 145). – Vgl. Jessica Riemer: Rilkes Frühwerk,246; Clara Mágr: Rainer Maria Rilke und die Musik, 170 f. 34  Ernst Krenek: O Lacrimosa … 3 Gesänge op. 48 (für Sopran oder mittlere Singstimme und Klavierbegleitung); Wien: Universal-Edition. Da­zu Clara Mágr: Rainer Maria Rilke und die Musik,177 f. 35  Gegen Anika Davidson: Advocata Aesthetica, z. B. 112. KA 2, 850 nennt »lacrimosa« als Marien-Attribut, vgl. etwa das Patronat der Deutschordenskirche Santa Maria Lacrimosa in Bologna. Gelegentliches Vorkommen der Marien-Thematik gibt es beim späten Rilke auch sonst noch, vgl. die 334  |  albert raffelt 

französi­schen Gedichte in KA Suppl., 90, Nr. 11; 184 f. Vgl. auch den Beitrag von August Stahl (Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos) im vorliegenden Band. 36  Bei Lara Mágr (Rainer Maria Rilke und die Musik) fehlt der Name Hindemiths im Register. Das Büchlein kommt auf das Marien-Leben, das ja von Aussagen zum Gesang nicht nur der Engel überquillt – sonst bei der Autorin breit referiert – nur an einer Stelle despektierlich zu sprechen (181 f.): »Das im Frühwerk häufigste musikalische Motiv, Gesang und Lied, ist jetzt [scil.: im dichterischen Werk der Spätzeit] kaum je mehr im gewöhnlichen konkreten Sinn verwendet. Es kann noch zur Veranschaulichung religiös-kirchlicher Vorstellungen dienen, wie die singenden Engel, die wie in Rilkes ersten Gedichtbüchern auch noch in dem 1912 entstandenen ›Marienleben‹ vorkommen, – welches aber eine archaisieren­de Leistung war, anknüpfend an eine eigene im Grunde schon über­w undene Schaffensperiode. Im eigentlichen [sic] Spätwerk hat der Engel eine andere Be­deutung, er hat nichts mit der christlichen Engelwelt zu tun.« 37  Vgl. Christian Goubault: Les deux versions de Das Marienleben: Entre l’intuition et le savoir: deux Madones d’un même maître, 288. 38  Zu Max Reger vgl. Jenifer Cushman: »Dann sang er«, 82. Originalquelle ist Grete Weh­meyer: Max Reger als Liederkomponist, 261 bzw. Adalbert Lindner: Max Reger, 281 (»… daß es mir wie Wahnsinn vorkommt, da noch etwas hinzuzfügen zu wol­len«). – Im Zusammenhang von Adornos HindemithPolemik kommt dies anhand Schubert höchst verquer vor (vgl. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften 18,352): »denn wie zu Schuberts Zeiten lassen sich auch heute noch nur zu guten Gedichten gute Lieder machen.« 39  Zum Text des Marien-Lebens: Die Erstausgabe in Fraktur in der InselBücherei weicht vom Druck in Ernst Zinns Ausgabe durch die Schreibweise Mariä und Ägypten (statt wie bei Zinn Mariae und Aegypten), die Setzung von Kursiven in den Gedichten Argwohn Josephs, Rast auf der Flucht in Ägypten, Tod Mariä 2 (die für Fraktur mögliche Alternative von Sperrungen ist in der Insel-Bücherei nicht gewählt), durch die Schreibweise »Schoß« (statt »Schooß«), durch das groß geschriebene »Da« in Die Darstellung Mariä im Tempel, Z. 13, durch »o« (statt »Oh«) in der Verkündigung über den Hirten, Z. 8, durch Vom Tod Mariä 2, Z. 12, »Wohlgeruch« (statt »Wohl-Geruch«) ab. Hindemith folgt hier insgesamt der Ausgabe der Insel-Bücherei. Die FrakturAusgabe zeichnet natur­gemäß die Gedichtanfänge nicht durch Kapitälchen, sondern durch Initialen aus (was im Gesangstext verständ­licherweise nicht übernommen ist). Die Zählung der drei Stücke des letzten Gedichts ist bei Hindemith wie in der Zinn-Ausgabe römisch, in der Insel-Bücherei arabisch. Den Titelzusatz »(Drei Stücke)« läßt Hindemith weg, wiederholt aber jeweils die Überschrift »Vom Tode Mariä«. In Einzelheiten (Gedankenstrich hinter »Wölbung« in der Darstellung Z. 10, ebd. Z. 18 Korrektur »wie« für »wenn«; Korrektur des Titels Verkündi­g ung über den Hirten – statt über die; in der Rainer Maria Rilke – Paul Hindemith: Das Marien-Leben  |  335

Rast…, Z. 10 die Kennzeichnung der Parenthese) ist die Neufassung genauer als die Erstfassung des Marienlebens von Hindemith. 40  Ann-Katrin Heimer: Paul Hindemiths Klavierlieder aus den dreißiger Jahren, bes. 38–55. 41  Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften Bd. 17,241. 42  Band 2 der Klavierlieder fehlt noch in der Ausgabe. 43  Es kann hier nicht mehr auf die übrigen Versuche, Gedichte aus dem Marien-Leben zu vertonen, eingegangen werden, darunter etwa vielfach die Pietà, etwa von Mark Lothar bis zu Carl Rütti. Auch Helmut Bornefelds Bearbeitung der Passionsgedichte des Hindemith-Zyklus für Orgel und Sing­ stimme wäre zu nennen. Anhand dieser Kompositionen wäre auch die Frage nach dem »geist­lichen« Gehalt der Dichtung nochmals differenziert anzusehen, anders als in der fachgerma­nistischen Sicht. Die schöne MarienlebenKomposition von Rütti wäre aus dieser Sicht eine Analyse wert. 44  In seiner »Logik« ist dieser Umschwung gut beschrieben von Giselher Schubert: Paul Hindemith und der Neobarock. 45  Etwa von Giselher Schubert: Hindemith. 50. 46  Wie schwierig musikalische Werturteile sind, zeigen die Deutungen bei Christian Goubault und Jenifer Cushman; vgl. Christian Goubault: Les deux versions de Das Marienleben: Entre l’intuition et le savoir: deux Madones d’un même maître, 298: »La vocalise alla Bach de la nouvelle version est incontestablement plus travaillée, plus douloureuse et élancée que celle de la version originelle qui, par comparaison, apparaît assez fade.« Vgl. Jenifer Cushman: »Dann sang er«. Das Marienleben from Rilke to Hindemith, 89: »Here, the 1923 version more literally melds music with textual meaning, as ›Tränen­bäche‹ turns the singer’s voice into a series of musical water drops that rain into a pool of tears […]; in 1948, the series never reaches the moving depths of the original.« 47  Dazu Hans Ludwig Schilling: Hindemiths Passacagliathemen in den beiden Marienleben. 48  Theodor W. Adorno: Musikalische Schriften. Bd. 6, 26. 49  Paul Hindemith: Das Marienleben. In: Ders.: Das Marienleben: Neufassung (1936 – 1948), III. 50  Paul Hindemith: Komponist in seiner Welt, 20. 51  Siglind Bruhns (Hindemiths große Vokalwerke) Interpretation der ›einfachen jungen Frau‹ scheint mir auch hier nicht korrekt. Ich finde in dem Gedicht keinen Beleg für Sätze wie: »In Anbetracht des Unbehagens, mit dem Rilke das nicht verwirklichte Frauenschicksal kommentiert, verwundert es kaum, daß er Maria frei zeigt von jeder Mitverantwortung für die beabsichtigte unbefleckte Empfängnis« (56 f.). Ob in der Aussage klar ist, daß letzteres ein Terminus für die Empfängnis Mariens – und nicht Jesu – ist, scheint mir auch nicht deutlich. Auch für die »zu lebenslanger Keuschheit [sic] bestimmte Maria als Frau« (59) finde ich keinen Hinweis in dem Gedicht (im übrigen: ist »Enthaltsamkeit« gemeint?). 336  |  albert raffelt 

Dionysios von Phurnâ: Das Handbuch der Malerei vom Berge Athos,126. Unver­ständlich ist mir daher die Aussage von Roland Perlwitz (RHB 357), zu den Handbüchern der Ikonenmalerei: »Sieht man von ihrem mittelbaren, ästhetischen Einfluß ab, dürften diese Werke demnach nur in einigen Fällen (Geburt Mariae […]) als direkte Vorlagen in Betracht gekom­men sein.« 53  Vgl. Egon Holthusen, Rainer Maria Rilke; der Ausdruck »Travestie« scheint mir ebenso unangemessen für den Zyklus; »Kontra­faktur« mag für manche Teile angemessener sein, wobei Roland Perlwitz (RHB 356) dann doch die »Kari­k ierung« nur »nicht durchgehend« als zutreffend ansieht – m. E. unzutreffend. 54  Hier verwundert die Deutung von Karl-Josef Kuschel: Maria in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, 231 f. 55  Roland Perlwitz (RHB), 358. 56  Theodor W. Adorno: Situation des Liedes [1928], 352. 57  Paul Hindemith: Das Marienleben, V. 58  Vgl. Ulrich K. Goldsmith (Hg.): Rainer Maria Rilke: a verse concordance to his complete lyrical poetry. 59  Hier nach der digitalen Version: (Abruf 11.05.2013). 60 KA 2,459 führt bei Quelle »Unbekannt« an. Ribadeneyra wird hier durchweg ignoriert. 61  Vgl. die ausgezeichnete Analyse von Günther Metz: Hindemiths Lied Stillung Mariä mit dem Aufer­standenen. 62 A. a.O., 56. – Allerdings »paßt« auch das erste Lied schon. 63  Glenn Gould: Zwei Marienleben, 226. 64  Günther Metz: Hindemiths Lied Stillung Mariä mit dem Aufer­standenen, 75. 65  Theodor W. Adorno: Ad vocem Hindemith, 236. 66  Rudolf Stephan rügt ihren »Puccini«-Ton – was damals etwas ganz Verwerfliches gewesen sein muß. Ganz anders David Neumeyer: The music of Paul Hindemith,143: »[…] in my opinion, the most successful of the three versions«. 67  Hans Werner Henze: Das neue »Marienleben«, 75. 68  Rudolf Stephan: Hindemiths Marienleben (1922 · 1948): Ein kritischer Vergleich der beiden Fassungen. 69  Glenn Gould: Zwei Marienleben, 224 70  Vgl. etwa Leslie Helen Yaeger Boucher: Paul Hindemith‹s »Das Marienleben«. Zu einfach scheint mir hier die vorausgesetzte Annäherung von »Gebrauchsmusik« und »idealer Musik« (vgl. 188). Daß Hindemith kompliziert­er denkt, zeigt etwa sein Vortrag »Hören und Verstehen unbekannter Musik«; zu einfach ist wohl auch Bouchers Gegenüberstellung der beiden Fassungen als »intuitive, expressive« gegen »intellectual, philosophical« (187). – Vgl. ferner Wilhelm Sinkovicz: Paul Hindemiths Liederzyklus »Marienleben« und seine beiden Fas­sungen als Beispiel für den Stilwandel der Musik in der ersten Hälfte 52 

Rainer Maria Rilke – Paul Hindemith: Das Marien-Leben  |  337

des 20. Jahrhunderts. Der Untertitel zeigt das Ziel – mit wesentlich größerer Toleranz gegenüber dem Stilwandel als die Prot­agonisten der »Gegen­ richtung« nach dem Zweiten Weltkrieg. 71  Siglind Bruhn: Musical Ekphrasis in Rilke’s Marien-Leben, 47. 72 Übrigens hat Hindemith, der etwa eine Neuaufführung des »alten« Cardillac ablehnte, doch bestimmt, daß beide Marienleben in die geplante Gesamtausgabe aufzunehmen seien (vgl. Giselher Schubert: Hindemith, 120) und am Ende seines Vorwortes wohl auch die Lizenz zur Aufführung beider Fassungen gegeben. 73  27.06.1922; vgl. Giselher Schubert: Hindemith, 50. 74  Glenn Gould: Zwei Marienleben, 238.

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III. Systematische und geschichtliche Reflexionen zur Dichtung Rilkes

– Michael Neumann –

Einige Überlegungen zur Wahrheit der Dichtung Rilke hat seine Berufung zum Dichter mit höchstem Ernst gelebt. Das Spätwerk behandelt Dichten als eine Art religiösen Auftrag. Die Leser, die Rilke bis in diese anstrengenden Höhen gefolgt sind, folgten weithin auch diesem Anspruch. So wählte Martin Heidegger für seine Frage nach ›Dich­tern in dürftiger Zeit‹ den späten Rilke als Beispiel.1 Zwar endet sein Vortrag mit dem Aus­blick, daß nur die Dichtung selbst diese Frage beantworten könne. Doch vor diesem Ausklang in Selbstbegrenzung hat er ziemlich umstandslos das, was er Rilkes ›Grundworte‹ nennt, mit seinen eigenen philosophischen Termini zur Deckung gebracht. − Hans Urs von Balthasar betrachtete 1939 in seiner monumentalen Apokalypse der deutschen Seele Heidegger und Rilke als die gewichtigsten Antworten auf Nietzsches Philosophie − Rilke erschien ihm dabei als der noch radikalere: »Heidegger denkt die ›Subjektivität‹ Kierkegaards nur durch als Daseinsphänomenologie. Rilke entwickelt dieselbe Phänomenologie radikaler als Weltlichkeit, Zeitlichkeit, Vergänglichkeit und deren mögliche Verewi­gung.«2 Philosoph und Dichter treten hier Arm in Arm an gegen die Undurchdringlichkeit der Mo­derne. Neuerer Literaturwissenschaft wird dabei etwas unheimlich.3 Ulrich Fülleborn etwa erinnert daran, daß es »Rilke nicht etwa um den Entwurf irgendeiner noch nicht dagewesenen Dichtungs- oder gar Erkenntnistheorie ging« (KA 1,595 f.): »Dichten im Zeitalter nach Nietzsche bedeutet im Fall Rilkes die völlige Freisetzung der metaphysischen Tätigkeit als solcher, wir können auch sagen: der metaphysischen Phantasie, jedoch ausschließlich im Dienste von Dichtung und nicht mit dem Ziel einer neuen Metaphysik als Philosophie oder Weltanschauung.« Das Zitat spielt mit Nietzsches berühmter Formulierung von der Kunst als »der eigentlich metaphysi­schen Thätigkeit dieses Lebens«.4 Ob Nietzsches ›metaphysische Tätigkeit‹ mit Fülleborns »metaphysischer Phantasie […] im Dienste von Dichtung« brauchbar erfaßt Einige Überlegungen zur Wahrheit der Dichtung  |  341

wird, will ich lieber nicht näher untersuchen. Auf die Formulierung »im Dienste der Dichtung« komme ich später zurück. Hier habe ich das Zitat nur herangezogen, um zu zeigen, wie leicht die Rilke-Philologie selbst dort noch von Rilkes metaphysischem Pathos verhext wird, wo sie Rilkes Dichtung von philosophischen Zielsetzungen abgrenzen will. Und sie kann sich dabei ganz ohne Zweifel auf Rilke selbst berufen. Ich möchte hier zunächst daran erinnern, wie wenig selbstverständlich dieser Anspruch für einen Dichter eigentlich ist. Rilkes Dichtung hat verführerische Kräfte. Sie läßt allzu leicht vergessen, was die Mittel und die Sprache von Dichtung eigentlich ausmacht. Rilke kommt dabei zu Hilfe, daß er sich in eine alte, bis in die Antike zurückreichende Tradition stellen kann. Schon die griechischen Tragiker maßen mit den Mitteln der Dichtung das Spannungsfeld aus zwischen den Menschen und dem Göttlichen. Vergil trat mit seiner 4. Ekloge sogar als ein poeta vates auf und verkündigte die Heraufkunft eines neuen Weltalters. Aber sie alle taten das innerhalb eines religiösen Rahmens, der die Dichter und ihr Publikum gemeinsam trug. Man kann trefflich darüber streiten, wie verbindlich Intellektuelle im kaiserzeitlichen Rom einzelne Elemente dieses Rahmens genommen haben mögen − aber dieser gemeinsame Rahmen war jedenfalls vorhanden. Ähnlich stand es um die Dichter des christlichen Zeitalters. Zwischen dem Evangelienbuch des Otfrid von Weißenburg aus dem 9. Jahrhundert und Dantes Jenseitsfahrt aus dem 14. Jahrhundert liegen Welten, was die Eigenständigkeit des Dichters angeht. Aber alle beide mußten für die Wirklichkeit dessen, wovon sie da schrieben, nicht individuell einstehen. Sie partizipierten an einem christlichen Rahmen, in dem sie wie ihr Publikum sich bereits vorfanden. Das gilt selbst noch für die neuzeitlichen Milton und Klopstock, auch wenn sie für ihre christlichen Epen eine poetische Autorität der theologischen Auslegung beanspruchten, die den zeitgenössischen Theologen nicht geheuer gewesen sein mag. Das Bild ändert sich etwas mit dem Beginn der Romantik. Für Novalis und Hölderlin war das christliche Weltverständnis nicht mehr fraglos gegeben. Es bedurfte der produktiven Übersetzung oder Neuformulierung kraft der idealistischen Philosophie und der romantischen Poesie. Aber zumindest Novalis und seine en342  |  michael neumann

thusiastischen Mit-Übersetzer in Jena wußten sich noch aufgehoben in jenem überindividuellen »Geist«, an dessen Produktivität teilzuhaben sie überzeugt waren. Bei Hölderlin beginnt, wenn ich recht sehe, dieses Aufgehobensein brüchig zu werden. Romantische Dichtung und philosophischer Idealismus bilden den Übergang in eine neue Epoche. Als sie verblassen, wird sichtbar, daß der gemeinsame Rahmen verschwunden ist, aus dem heraus man die großen Fragen beantworten konnte: Was ist Wahrheit? Was ist Wirklichkeit? Worum geht es mit dem Menschen? Für deren Beantwortung betreten wir nun einen Raum widerstreitender Optionen,5 in dem jene sonderbaren Menschen, die sich für solche Fragen interessieren, auf eigene Verantwortung Position beziehen müssen. Natürlich ist dieser Abriß: ›Zweieinhalb Jahrtausende Geistesgeschichte in zweieinhalb Minuten‹ unzumutbar pauschal und begrifflich unbefriedigend. Bitte stören Sie sich nicht zu sehr daran. Ich will nur zeigen, wie wenig Hilfe Rilke von der gewaltigen Tradition zu erwarten hat, in die er sich stellt: Die Voraussetzungen dieser Tradition existieren zu seiner Zeit nicht mehr. Natürlich behält die Dichtung auch weiterhin das Recht, sich jedem Thema zuzuwenden, das ihre Dichter umtreibt − also auch den vorhin genannten »großen Fragen«. Aber jeder Dichter − oder genauer müßte man jetzt formulieren: jedes Werk − hat die Antworten, die es auf diese Fragen gibt, aus seinen eigenen Kräften und Möglichkeiten heraus selbst zu entwickeln.6 Diese Kräfte und Möglichkeiten sind für die Dichtung aber grundsätzlich andere als für Philosophie oder für Theologie. − Dieser Satz gehört zu jenen sehr wenigen Sätzen, denen kaum jemand widersprechen wird. Vertrackterweise wirkt Rilkes Spätwerk auf den Interpreten aber oft wie Lethe: Er vergißt den Satz, sobald er von den Duineser Elegien oder den Sonetten an Orpheus trinkt, und beginnt, in subtilen Begriffen Rilkes Philosophie oder gar Theologie zu explizieren. Wie kann man diese Werke in Nüchternheit zu sich zu nehmen? Wohl am ehesten, indem man bei ihrer poetischen Faktur ansetzt. Ich halte mich im Folgenden an ein, zwei Gedichte und konzentriere mich − sozusagen ganz schlicht und »schulmäßig« − darauf, auf welchen Wegen diese Gedichte sich als Werk konstituieren und Einige Überlegungen zur Wahrheit der Dichtung  |  343

was dabei in der Interaktion mit dem Leser erzeugt wird. Sehen wir zu, was das für die Kategorie der ›Bedeutung‹ für Folgen hat. Am Anfang der Sonette an Orpheus stand die Entscheidung für eine Form. Für die Duineser Elegien hatte Rilke die Lizenzen einer vergleichsweise freien Form genutzt. Nun, ausgerechnet für das, was er später immer wieder als »Diktat« eines »inneren Andrangs« beschrieben hat,7 wählte er jene Form, die traditionell als besonders streng eingeschätzt, ja manchmal sogar als verkünstelt verworfen worden war. Er hatte sich mit dieser Form von langer Hand vertraut gemacht. Schon die Neuen Gedichte enthielten viele Sonette. Als Übersetzer tauchte er ein in die große Tradition dieser Form: von den französischen Sonetten der Louïse Labé (1524–66; übers. 1913) bis zu den englischen der Elizabeth Barrett-Brown­ing (1806–61; übers. 1907). Seine Übertragungen zweier Sonette Petrarcas bezeichnete Friedhelm Kemp als singuläre »Glücksfälle« in der ansonsten ziemlich trüben Geschichte deutscher Nachbildungen Petrarcas.8 Der Zyklus an Orpheus nun unterstellt sich streng und ausnahmslos dieser Form. Zwar behandelt Rilke das Metrum und die Reimordnung mit großer Freiheit. Aber die Architektonik der zwei Quartette plus zwei Terzette hält er konsequent ein. Sie eröffnet ihm ein Feld, daß zwar zwischen Entwicklung, Wechsel und Widerspruch reiche Möglichkeiten einräumt, aber doch auch sehr klare Grenzen festlegt. Gegenüber den Duineser Elegien rückt diese Wahl deutlicher vor Augen, daß all der metaphysische Ernst mit den Mitteln der Poesie agiert wird. Betrachten wir nun genauer das 26. Sonett, das den ersten Teil des Zyklus beschließt. XXVI Du aber, Göttlicher, du, bis zuletzt noch Ertöner, da ihn der Schwarm der verschmähten Mänaden befiel, hast ihr Geschrei übertönt mit Ordnung, du Schöner, aus den Zerstörenden stieg dein erbauendes Spiel.

1

Keine war da, daß sie Haupt dir und Leier zerstör. Wie sie auch rangen und rasten, und alle die scharfen Steine, die sie nach deinem Herzen warfen, wurden zu Sanftem an dir und begabt mit Gehör.

5

344  |  michael neumann

Schließlich zerschlugen sie dich, von der Rache gehetzt, während dein Klang noch in Löwen und Felsen verweilte und in den Bäumen und Vögeln. Dort singst du noch jetzt.

9

O du verlorener Gott! Du unendliche Spur! Nur weil dich reißend zuletzt die Feindschaft verteilte, sind wir die Hörenden jetzt und ein Mund der Natur.

12

Schon das erste Wort, die erste Silbe kennzeichnet die Haltung des Gedichtes: Es ist als Apostrophe geschrieben. Orpheus wird angeredet. Durch das zweite »du«, das − zwischen zwei Zäsuren − ganz für sich gestellt ist, wird diese Anrede ungemein dringlich, beschwörend. Das »aber« bringt das Gedicht in Gegensatz zu dem vorangegangenen 25. Sonett; dort war von dem Tod der jungen Wera Ouckama Knoop die Rede gewesen, der Rilke die Sonette an Orpheus gewidmet hat. Dagegen wird nun der Tod des Orpheus gehalten: der Tod eines »Göttlichen«. Genau genommen geht es aber nicht um den Tod des Orpheus, sondern um den Unterschied, der diesen Tod vom Tod eines Menschen trennt. Das menschliche Mädchen verschwand durch »das trostlos offene Tor« (1–XXV, Vers 14). Orpheus ist »bis zuletzt noch Ertöner« (Vers 1 − der unmittelbar anschließende Vers!). Schon der erste Vers schlägt also das Thema dieses Gedichts an. Orpheus ist im Sterben nicht entschwunden, wie das den Menschen geschieht, sondern hat sich auf eine Weise verwandelt, die alle Wirklichkeit seither in den Stand setzt, zu klingen: »Dort singst du noch jetzt.« In diesem Ertönen liegt des Orpheus Göttlichkeit. Die beiden Worte werden durch die Assonanz ihrer betonten Vokale verbunden − ein Beispiel für die erstaunliche Fähigkeit des späten Rilke, die zahlreichen Klangspiele seiner Verse mit semantischen Bezügen zur Deckung zu bringen.9 Diese Assonanzen auf ö greifen hinüber in den dritten Vers: »übertönt« und »du Schöner«. Sie eröffnen so ein Klangfeld, das die orpheische Ordnung durch Gesang markiert. Dem konfrontiert der zweite Vers mit Assonanzen auf a eine feindliche Gegenwelt: »da ihn der Schwarm der verschmähten Mänaden befiel«. Dieses Klangfeld wird dann das zweite Quartett dominieren. Zwar gehört der erste Vers der orpheischen, der zweite Vers der mänadischen Sphäre an, aber diese beiden Sphären stehen in keinem ebenbürtigen Gegensatz. Syntaktisch bilden die vier Verse der erEinige Überlegungen zur Wahrheit der Dichtung  |  345

sten Strophe einen Satz. Doch dieser Satz kommt erst mit dem dritten Vers in Bewegung: Erst hier beginnt mit dem Hilfsverb »hast« das Prädikat. Die ganze erste Hälfte der Strophe bildet ein mächtiges Hyperbaton aus sich steigernden Parenthesen: Schon das Epitheton »Göttlicher« steht in Parenthese; dann folgt die schon umfangreichere Parenthese »bis zuletzt noch Ertöner«; dann wird diese zweite Parenthese noch durch einen ganzen langen Nebensatz genauer erläutert: »da ihn der Schwarm der verschmähten Mänaden befiel«. Parenthesen sind Satzteile, die nicht in den umgebenden Satz integriert, sondern unverbunden dazwischengeschoben werden. ›Hyperbaton‹ bezeichnet das Verfahren, einzelne Elemente eines Satzes gegenüber der normalen Satzstellung nach vorne zu ziehen, um ihr Gewicht zu verstärken. Was hier derart hervorgehoben wird, sind drei Momente: 1. das Thema des Gedichtes: des Orpheus »Ertönen« noch über den Tod hinaus; 2. die Auszeichnung dieses Tönens als »göttlich«; 3. die Antithese des Schwarms der Mänaden, die Orpheus nicht einfach »überfallen«, sondern die ihn »befallen«, wie man das sonst von einer Krankheit sagt. Doch wie gesagt: Die Mänaden bilden keine gleichwertige Antithese. Syntaktisch fungieren sie nur als nachgeschobene Erläuterung zu »Ertöner«. Daß aber Orpheus sogar »zuletzt« noch »Ertöner« blieb, zeigt, daß die Mänaden auch inhaltlich ihr Ziel nicht erreichen konnten: ihn zu zerstören. Die Syntax der Gesamtstrophe bildet diese Sinnordnung nach. Der Satz, zu dem die erste Strophenhälfte nur parenthetisch unverbundene Stücke geliefert hat, wird in der zweiten Strophenhälfte zu schöner Fügung geordnet. Der dritte Vers wiederholt sowohl die Antithese: Geschrei gegen Ordnung, als auch die Hierarchie: »hast ihr Geschrei übertönt«. Das Wort »übertönt« ist wohl aus dem Klang heraus gewonnen: »übertönen« steigert das »Ertöner« zu siegreichem Überbieten. Aber semantisch geht es nun gerade nicht darum, daß das Geschrei der Mänaden überschrieen würde − das wäre ja der Sieg des Lärms, der Unordnung. Es findet vielmehr eine Metamorphose statt. Des Orpheus Gesang verwandelt noch das Geschrei der feindlichen Mänaden in schönen Klang. Am Ende des dritten Verses wird das 346  |  michael neumann

hörbar Ereignis. »Du Schöner« bezeichnet nicht nur die verwandelnde Kraft des Orpheus, sondern es realisiert sie auch: Es ist das erste Reimwort in diesem Gedicht; es läßt also die Reimordnung physisch hören, die sich von nun an durch die Strophen verbreitet. Gleichzeitig steht aber »du Schöner« noch einmal in Parenthese: einerseits das dritte Glied zu den beiden Auszeichnungen »Göttlicher« und »Ertöner«, mit denen der erste Vers Orpheus lobpreisend angeredet hatte; andrerseits ein letztes unverbundenes Satzstück, bevor sich die Syntax im vierten Vers zum ungestörten, von keiner Zäsur und keiner metrischen Verkürzung mehr getrübten schönen Fluß des metrischen Rhythmus ordnet. Das Metrum ist übrigens ein fünfhebiger Daktylus, dessen letzter Versfuß jeweils verkürzt wird. Es hält damit eine schwebende Mitte zwischen der Sonett-Tradition und einem antikischen Ton. Fünfhebig waren klassische Versmaße des Sonetts: der Endecasillabo im Italienischen und der fünfhebige Jambus im neueren Deutschen. Daktylisch geprägt ist dagegen der (allerdings sechshebige) Hexameter, der dank der Homer-Übersetzungen des Johann Heinrich Voß wie kein anderer Vers dem deutschen Ohr die Assoziation der antiken Welt nahelegt. Auch die Metamorphosen des Ovid übrigens, Rilkes wichtigste Quelle zu den Mythen um Orpheus, ist im epischen Hexameter gehalten. Er galt in der Antike als das älteste Versmaß und der Sänger Orpheus als sein Erfinder.10 Aus der Entwicklung der Strophe wird nun auch verständlich, warum sich in diesem makellosen vierten Vers die Mänaden mit »Zerstörung« jener ö-Assonanz bedienen dürfen, die doch der orpheischen Sphäre zugehört: Das mänadische Geschrei ist bereits zum Material orpheischer Schönheit geworden, ist integriert in die Ordnung, die zu bekämpfen es angetreten war. »Aus den Zerstörenden« selbst steigt des Orpheus »erbauendes Spiel«. Daß sein Saitenspiel die Gewalt hatte, Steine zu Mauern zusammenzufügen, wurde in der Antike von dem mythischen Sänger Amphion berichtet.11 Doch Macht über Steine sprachen antike Quellen auch dem Orpheus zu.12 Rilkes Sonett nimmt dieses »Erbauen« auf, faßt es aber viel weiter und grundsätzlicher: Alles Ungeordnete, ja sogar das Zerstörerische wird durch den Klang umgewandelt in Elemente einer harmonierenden Ordnung. Einige Überlegungen zur Wahrheit der Dichtung  |  347

Dieser Vers 4 verweist zurück auf den ersten Vers des ganzen Zyklus (1–I 1 f.): Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung! O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr.

Auch hier übrigens wird nicht nur das Wort »stieg« und die visuelle Vorstellung des Aufsteigens wieder aufgenommen, sondern auch das Klangmuster: »stieg ein Baum« − »stieg dein erbauendes«. − Bei Ovid bannt das Lied des Orpheus Tiere, Bäume und Felsen, so daß sie dem Sänger folgen müssen. »Da stieg ein Baum« geht übers Folgen-Müssen hinaus. Hier klingt Kosmogonisches herein. Dieser Baum taucht kraft des Liedes überhaupt erst in der Wahrnehmung auf. Und da es ein Lied ist, geht diese Wahrnehmung über das Ohr. Auch von Tieren weiß dieses erste Sonett: »Tiere aus Stille drangen« kraft des Gesangs aus dem Wald und wurden selber still »aus Hören«: Denn »Brüllen, Schrei, Geröhr | schien klein in ihren Herzen.« Schon hier also hat der Gesang des Orpheus Brüllen und Geschrei verwandelnd befriedet. Wo eben noch kaum Raum der Wahrnehmung war, »da schufst du ihnen Tempel im Gehör.« Das Singen des Orpheus erschafft einen Raum, in dem die Wesen dieser irdischen, endlichen Wirklichkeit einander begegnen können: nicht als Objekte des Begehrens wie in den Liebessonetten der Tradition (1–III), nicht als Gegenstände anderer Zwecke wie in den Ökonomien des Maschinenzeitalters (1–XVIII, XXIII u. ö.), sondern ganz als Ereignisse der Begegnung. Auch die zweite Strophe gilt dem Gegensatz zwischen dem Gesang des Orpheus und den angreifenden Mänaden, doch stehen die Mänaden jetzt im Zentrum der Aufmerksamkeit. Ihr Klangfeld auf a dominiert: da, rangen, rasten, alle, scharfen, nach, Sanftem, begabt. Mänadische Aktivität eröffnet die ersten drei Verse. Doch schon der Beginn der Strophe macht klar, daß diese Aktivität in einem seltsamen Modus gehalten wird. Die erste Strophe hat von Orpheus im Ton des ungetrübten Lobpreises geredet. Die mänadischen Aktivitäten der zweiten Strophe werden dagegen in eine eigentümliche Leere versetzt. Einerseits »rangen und rasten« die verschmähten Frauen und warfen scharfe Steine gegen Orpheus − der Reim läßt das Werfen der Frauen und die Schärfe der Steine in eins verfließen. Andrerseits bestreitet der Anfang der Strophe den 348  |  michael neumann

Rasenden geradezu die Realität: »Keine war da, daß sie Haupt dir und Leier zerstör«. Das Rätsel dieses Widerspruchs könnte darin liegen, daß erst innerhalb des orpheischen Gesangs jener Wahrnehmungsraum entsteht, von dessen Beschaffenheit der Sonett-Zyklus handelt. Als zerstörerisch Rasende bleiben die Mänaden außerhalb dieses Raumes. Eindringen können sie nur, sofern sie sich verwandeln: Wenn die scharfen, feindlich geworfenen Steine eindringen in den Raum des Gesangs, werden sie »begabt mit Gehör« und also besänftigt. Der Aufbau der Strophe vollzieht dieses Geschehen nach. Der Anfangsvers (V. 5) gibt mit einem kurzen Satz das Thema der Strophe vor. Vers 6 und 7 entfalten die feindliche Bewegung der Mänaden, die aber durch den einschränkenden Satzanfang »Wie sie auch« von vornherein im Aussichtslosen gehalten bleibt. In Vers 8 erliegt diese feindliche Bewegung dann dem Sieg des ordnenden Gesanges. Wie allerdings kommt es überhaupt zur Ermordung des Orpheus, wenn die Mänaden von seinem Gesang derart entmächtigt werden? Der Vers 9 zieht knapp zusammen, was bei Ovid detailliert beschrieben wird. Ich zitiere nach der Übersetzung von Erich Rösch: 13 eine Mänade […] wirft nach dem klangreichen Mund des Apollosohnes den Stab − der, vorne umlaubt, ein Mal, doch keine Verwundung verursacht. Dort einer andern Geschoß ist ein Stein: besiegt noch im Fluge, noch in der Luft durch die Eintracht des Leyerklangs mit der Stimme, gleichsam Verzeihung erflehend für solch ein rasend Beginnen, legt er zu Füßen sich ihm. […]

Die Kürze des Sonetts kann den Detailreichtum der epischen Schilderung nicht brauchen und konzentriert daher die Beschreibung auf den Kern des Vorgangs. Doch diese Konzentration bereitet auch die Veränderung des Mythos vor, die Rilke vornimmt. Bei Ovid wird der Gesang durch den an Lautstärke überlegenen Krach der Mänaden − den »Klang des gebogenen Horns der phrygischen Flöte, schallende Becken, der Hände Geklatsch, der Bacchantinnen Heulen« − unhörbar und damit unwirksam gemacht. So gewinnen nicht nur die mänadischen Waffen die verletzende Kraft zurück, Einige Überlegungen zur Wahrheit der Dichtung  |  349

sondern auch die soeben noch vom Gesang gebannten Tiere wenden sich nun gegen den Sänger. Orpheus wird erschlagen und zerrissen. Weit zerstreut werden seine Glieder. Sein Haupt und seine Leier allerdings, die man in den Fluß Hebrus geworfen hat, behalten, flußabwärts treibend, die Fähigkeit zu gesungener Klage. Rilke übernimmt daraus den Gesang, zu dem Haupt und Leier über die Zerreißung hinaus befähigt bleiben (Vers 5). Der Vorgang des Todes aber ändert sich. Das erste Terzett macht wieder einen Gegensatz auf: Die Mänaden werden von Rache gehetzt, während des Orpheus Klang »in Löwen und Felsen«, »in den Bäumen und Vögeln« verweilte. Des Orpheus Lied hat hier nicht magische Kraft wie in den antiken Quellen. Es zwingt die Elemente der Wirklichkeit nicht, sondern es eröffnet eine Möglichkeit: einen Raum der begegnenden Wahrnehmung, den man betreten oder auch ignorieren kann. Wer von Rache gehetzt wird, bleibt dafür blind. Orpheus kann bei Rilke also deshalb erschlagen werden, weil die Mänaden seinen Gesang gar nicht zu hören vermögen. Unbetretbar für sie entfaltet sich daneben die andere Wirklichkeit des Gesangs. Mit zwei Versen dominiert sie dieses Terzett. Während bei Ovid die Tiere, die Orpheus nicht mehr hören, sich vom Rasen der Mänaden anstecken lassen, verweilt der Klang bei Rilke auch über die Tötung hinaus noch in Löwen und Felsen und Bäumen und Vögeln. Im Mythos und − den Mythos zitierend − in Vers 5 werden des Orpheus Haupt und Leier als die beiden unzerstörbaren Quellen dieses Klangs bezeichnet. Der Körper aber wird in viele Teile zerrissen: »Membra iacent diversa locis« − weit zerstreut lagen seine Glieder (Metamorphosen XI 50). Das Zerreißen gehört dem mänadischen Rasen an. Ihm war etwa in den Bakchen des Euripides auch Pentheus erlegen. Diese Vorgabe der mythologischen Tradition arbeiten die Terzette nun um. Orpheus wird von den Mänaden nicht »erschlagen«, sondern »zerschlagen« (V. 9). Darin mag assoziativ ein konzentrierendes Kompositum stecken aus erschlagen und zerreißen. Aber als selbständiges Wort paßt »zerschlagen« nicht eigentlich auf Menschen, sondern nur auf zerbrechliche Gegenstände.14 Orpheus ist nicht nur vergöttlichter Mensch, sondern gleichzeitig auch Instrument seines Gesanges, oder genauer: Gerade indem er ganz Instrument ist, wird der menschliche Sänger vergöttlicht. 350  |  michael neumann

Und nun geschieht etwas Seltsames. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen der nur physischen Wirklichkeit und dem orpheisch geöffneten Wahrnehmungsraum, könnte man erwarten, daß die Zerreißung des Leibes rein körperlich ist, während der forttönende orpheische Klang mythologisch eben an Haupt und Leier gebunden wird. Aber so ist es nicht. Rilke führt die beiden Vorgänge in diesem Sonett streng parallel, bis sie geradezu verschmelzen. Einerseits verweilt der Klang weiter in Löwen und Felsen und Bäumen und Vögeln. Andrerseits werden die zerrissenen Glieder des Orpheus durch die Natur verteilt (V. 13 f.): Nur weil dich reißend zuletzt die Feindschaft verteilte, sind wir die Hörenden jetzt und ein Mund der Natur.

Die Zerreißung und Zerstreuung der Glieder wird mit der unzerstörbaren Fortdauer des Klanges geradezu kausal verbunden. Nun läßt sich diese Variation zunächst an ein altes und weitverbreitetes Erzählmuster anschließen: an die Geschichten von dem Erschlagenen, dessen Knochen vergraben oder ins Wasser geworfen werden; später wächst dort dann ein Gras, das die Mordgeschichte verkündet, ein Knochen des Ermordeten beginnt zu singen oder wird zur Flöte geschnitzt, die dann von dem Mord klagt. In diese Tradition gehört etwa Der singende Knochen aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Im Märchen Von dem Machandelboom, das Philipp Otto Runge aufgezeichnet hat, erhebt sich aus dem Baum, neben dem die Knochen des Ermordeten vergraben worden sind, ein Vogel, der die Mordgeschichte singt, wo immer er hinkommt. Oft werden dann die Knochen des Erschlagenen wieder aufgesammelt, so daß er wiederbelebt daraus erstehen kann.15 Letzteres weist zurück auf schamanistische Traditionen, wie sie kulturenübergreifend begegnen. In der griechischen Antike haben sich solche Geschichten vor allem an Dionysos geheftet: Aus seinen von Titanen zerrissenen Gliedern oder aus deren Asche sei der Weinstock entstanden. Nur das Herz − wohl ein Deckname für den Phallos − des Dionysos sei aufbewahrt worden und werde von seinen Priesterinnen immer wieder zum Leben erweckt.16 Hier ist die schamanistische Wiederbelebung bereits durch eine Transfiguration ersetzt: Im Rausch des Weines und der Sexualität erwacht der Gott den Menschen zu immer neu gegenwärtigem Leben. Das sind Einige Überlegungen zur Wahrheit der Dichtung  |  351

dann übrigens auch die beiden Seiten dionysischer Begehungen, die Nietzsche in der Geburt der Tragödie immer wieder hervorhebt.17 Eine solche Transformation läßt Rilke nun auch mit Orpheus geschehen. Doch wo das Überleben in zweierlei Gestalt bei Dionysos zweierlei Gaben anzeigt: den Rausch des Weines und der Sexualität, legt es in Rilkes Sonetten zweierlei Aspekte derselben Gabe auseinander: die Unsterblichkeit des Gesanges im Fortsingen von Haupt und Leier; die Allgegenwart des Gesanges im Verteilen der Glieder. In der Poesie ist des Orpheus Gesang den Menschen noch der Gegenwart erreichbar. Ähnlich vielen antiken Hymnen18 schließt das Sonett mit der erneuerten Anrufung an Orpheus: »O du verlorener Gott! Du unendliche Spur!« (Vers 12) Als der Ermordete ist Orpheus der »verlorene Gott«. Als der Zerrissene lebt er fort als »unendliche Spur«, die an der Wirklichkeit eine sonst verborgene Dimension aufschließt. So »sind wir die Hörenden jetzt und ein Mund der Natur.« Der Gesang, die Poesie begabt uns mit der Fähigkeit, den Klang zu hören, der in Löwen und Felsen und Bäumen und Vögeln weilt. So wird diese Fähigkeit zum »Mund der Natur«, die in diesem Gesang zu uns spricht. Solche Metamorphosen knüpfen die Sonette an den Tod: Nur weil dich reißend zuletzt die Feindschaft verteilte, sind wir die Hörenden jetzt und ein Mund der Natur.

Orpheus ist in der europäischen Tradition wie kein anderer der griechischen Heroen mit dem Tod verbunden. Er ist einer der nur zwei, drei Sterblichen, die in das Reich des Todes hinabsteigen und lebend wieder daraus zurückkehren konnten − auch wenn ihm das Ziel dieser Reise: die verstorbene Gattin ins Leben zurückzuholen − mißlang. Rilke nimmt diese mythologische Affinität zum Tod auf. Er läßt die berühmte Hauptgeschichte von der Hadesfahrt aber auf sich beruhen und entwickelt seine Sonette ganz aus dem eigenen Tod des Orpheus. Von diesem Tod gibt es für den Sänger keine Rückkehr unter die Lebenden mehr. Stattdessen kommt es zur Metamorphose. Aus Orpheus wird der Gesang, die Kunst der Poesie, die alle Wirklichkeit mit neuen Augen sehen, mit neuen Ohren hören läßt. Um diese eröffnende Macht des Todes kreisen viele Sonette des Zyklus. Hier wird es für die Darstellung jetzt etwas schwierig. 352  |  michael neumann

Denn einerseits haben wir einen Zyklus vor uns, der eine Fülle von Bildern und Klängen, von Dramaturgien und Architekturen zu einem großen und auf Konsistenz zielenden Zusammenhang webt. Insofern müssen wir in die anderen Gedichten sehen, um besser verstehen zu können, was der Tod für den Gesang in diesem Zyklus bedeutet. Andrerseits sind diese anderen Gedichte eben Gedichte. Wir zerstören ihre spezifische Form des Seins, wenn wir sie wie Beschreibungen behandeln, aus denen man einzelne Elemente unbeschadet heraustrennen darf. Aber man kann in den zeitlichen Grenzen eines Vortrags auch nicht die Faktur mehrerer Gedichte ausbreiten. Ich schließe daher einen Kompromiß und stelle nur ein einziges weiteres Gedicht zu knappem Vergleich daneben: das fünfte Sonett des ersten Teils. Errichtet keinen Denkstein. Laßt die Rose nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn. Denn Orpheus ists. Seine Metamorphose in dem und dem. Wir sollen uns nicht mühn

1

um andre Namen. Ein für alle Male ists Orpheus, wenn es singt. Er kommt und geht. Ists nicht schon viel, wenn er die Rosenschale um ein paar Tage manchmal übersteht?

5

O wie er schwinden muß, daß ihrs begrifft! Und wenn ihm selbst auch bangte, daß er schwände. Indem sein Wort das Hiersein übertrifft,

9

ist er schon dort, wohin ihrs nicht begleitet. Der Leier Gitter zwängt ihm nicht die Hände. Und er gehorcht, indem er überschreitet.

12

Die beiden Quartette sind diesmal konsequent im Kreuzreim gehalten. So entsteht kein Gegensatz zwischen den Strophen, wie in Sonett 26, sondern eine fortlaufende Entwicklung. Sonett 26 war im hymnischen Ton gehalten, eine lobpreisende Anrufung des Orpheus: die zwingende Gestalt jenes »Rühmens«, auf das der Rilke der Sonette die Poesie verpflichtet. Das 5. Sonett steht dagegen näher an der Reflexion. Es pflegt jenen Ton, der die Interpreten zum Philosophieren verführt. Tatsächlich gehören aber auch die reflekEinige Überlegungen zur Wahrheit der Dichtung  |  353

tierenden Momente dieses Textes zur Entfaltung seines zentralen Bildes. Die Reflexion schärft die Deutlichkeit des Bildes zu. Aber sie ersetzt es nicht. Wieder geht es um Orpheus. Wieder geht es um sein »Schwinden«. Aber diesmal ist es von Anfang an der Orpheus nach der Verwandlung: »Denn Orpheus ists. Seine Metamorphose | in dem und dem.« Hier begegnet er als das Blühen der Rose. Das ist nur ein Fall jenes Gesanges, der sich durch Felsen und Bäume und Vögel verteilt hat: »Ein für alle Male | ists Orpheus, wenn es singt. Er kommt und geht.« (V. 5 f.) Aber es ist zugleich doch einzigartig. Denn wir haben Orpheus nie anders als in solchen einzelnen, vergänglichen Begegnungen wie dem Blühen der Rose. Anders als die physische Welt unseres Alltags ist die Welt, die uns die Poesie eröffnet, fragil. Sie hat die Form der Begegnung. Orpheus »kommt und geht.« Aber gerade darin liegt ihre Kostbarkeit. In jenen Augenblicken, in jenen nachklingenden kurzen Dauern,19 in denen Orpheus aus ihr spricht − oder auch: in denen wir gleichzeitig Hörende sind »und ein Mund der Natur« (SO I 26; V.14) − liegt das Glück.20 In der Rosenschale wird die Blüte der Rose versammelt, verdichtet, in die Nähe gerückt. Rilke ist solcher Verdichtung schon in dem von Hofmannsthal bewunderten Schlußgedicht des Ersten Teils der Neuen Gedichte nachgegangen. Die Verwandlung in Verse steigert dieses Konzentrat noch um ein weiteres Mal. So gewinnt die Begegnung mit dem Blühen die äußerste Intensität. Das ist das Thema der beiden Quartette. Die beiden Terzette messen dann den Abstand aus zwischen den hörenden Menschen und dem singenden Orpheus. Dieser Abstand ist der Tod. Die hörenden Menschen leben. Orpheus ist schon gestorben. Sein Klang ist nicht nur von dieser Welt. »Ist er ein Hiesiger?« wird das folgende 6. Sonett fragen. Die Antwort lautet: »Nein, aus beiden | Reichen erwuchs seine weite Natur.« Und die Strophe fährt fort, indem sie noch einmal auf den Abstand zwischen uns und Orpheus deutet: »Kundiger böge die Zweige der Weiden, | wer die Wurzeln der Weiden erfuhr.« Das Reich der Wurzeln ist in den Sonetten gleichermaßen der Raum der begrabenen Toten und der Ursprung neuen Wachstums. Aus dem Vermodern der Toten ziehen die Lebewesen neue Kraft.21 Für die Menschen aber bleibt das »Kundiger böge« ein coniunctivus irrealis. So lange sie leben, ist das Reich des Todes ihnen verschlossen. 354  |  michael neumann

Das 5. Sonett verknüpft also des Orpheus Tod mit der Fragilität der poetischen Erfahrung (Vers 5 f.): »Ein für alle Male | ists Orpheus, wenn es singt. Er kommt und geht.« Jedes Kommen und Gehen in der Blüte wiederholt in verwandelter Form des Orpheus Gesang und seinen Tod. Das »Überschreiten« im Schlußvers meint daher sowohl die Verwandlung der Rose in eine »Figur«22 wie den Übertritt des Orpheus in das Totenreich. Wir finden in dem Zyklus mancherlei Bilder, die diesen Zusammenhang weiter entfalten: Orpheus, so das 6. Sonett, mischt die »Erscheinung« der Toten »in alles Geschaute«. Umgekehrt hält er »noch weit in die Türen der Toten | Schalen mit rühmlichen Früchten« (1–7). Das 9. Sonett bindet die Kraft der Rühmung an die Erfahrung des Todes.23 Aus Blume, Weinblatt, Frucht, so das 14. Sonett, spricht auch etwas von den Toten mit, die für die Pflanzen »die Erde stärken.« Und so weiter. Die Sonette an Orpheus verbinden die Begegnungen im fragilbeglückenden Raum, den die Poesie erschafft, mit jener Öffnung der Grenze zum Tod, zu der nur Orpheus fähig ist. Diese Verbindung ist offensichtlich zentral, unabdingbar für das Bild der Poesie, das der Zyklus entwirft. Aber sie muß sich uns aus der poetischen Faktur der Gedichte erschließen. Die Lektüre zieht uns in eine spezifische Erfahrung hinein, die alle unsere Vermögen anspannt, reizt und ins Wechselspiel bringt. Es geht dabei nicht um eine Reduktion auf bloßes Fühlen. Denken, Einbildungskraft und Gefühl müssen zusammenfinden, um aus Erinnerung und aus genauer, sich korrigierender, allmählich fortschreitender Wahrnehmung des Gedichtes in jenen Tanz der Konstellationen hineinzukommen, der das Nacherschaffen des Gedichtes ausmacht. Was wir in dieser Erfahrung an Kunst und Wahrnehmung erleben, kann uns überzeugen oder auch nicht; kann uns in den Tanz der Konstellationen hineinziehen oder auch nicht. Wenn es uns überzeugt, haben wir eine neue Erfahrung gewonnen. Daraus eine Theorie der Wahrnehmung oder eine Theorie der Kunst oder eine Theorie der Endlichkeit zu ziehen, würde das Gedicht zerbrechen. Die Warnung, welche erste und zweite Strophe des 5. Sonetts verbindet, möchte ich auch darauf beziehen: »Wir sollen uns nicht mühn | um andre Namen.« Ich habe versucht, das, was ich die »poetische Faktur« dieser Sonette nenne, wenigstens andeutungsweise konkret zu demonstrieren. Das ist in dreierlei Zugriffen geschehen. Einige Überlegungen zur Wahrheit der Dichtung  |  355

– Zunächst bin ich an dem 26. Sonett − und hier vor allem an dessen erster Strophe − dem nachgegangen, was man im weitesten Sinne die Form des Gedichtes nennt: die Konfrontation der Bilder und Gedanken, das Spiel der Klänge und Rhythmen, die Interaktion zwischen Dramaturgie und Architektur der Strophen. – Dann sollten einige Bilder und Formulierungen dieses 26. Sonetts durch Vergleiche mit anderen Sonetten des Zyklus erhellt werden. – Dazwischen habe ich einen Blick auf die mythologischen Quellen geworfen, aus denen und zum Teil auch gegen die Rilke seine Figur des Orpheus profiliert hat. Rilke war auch diese Dimension wichtig. 1923 schrieb er an Leopold von Schlözer: »alle Liebe zum Nicht-Erwiesenen, Nicht-Greifbaren, aller Glaube an den Wert und die Wirklichkeit dessen, was unser Gemüt durch die Jahrhunderte aus sich erschaffen und erhoben hat, mag darin [in den Sonetten an Orpheus] gerühmt sein.« Den Wert der Figur des Orpheus beschädigt es nicht, daß sie für den modernen Dichter nur als Fiktion Wirklichkeit hat. Aus der Form der Gedichte also, aus ihren Spiegelungen innerhalb des Zyklus und aus der Auseinandersetzung mit der mythopoetischen Tradition entsteht jene poetische Faktur, die uns eine spezifische, nur durch die Dichtung mögliche Erfahrung eröffnen kann. Diese Erfahrung allerdings ist, so meine ich, nicht selbstgenügsam.24 Rilke zielt hinaus über die symbolistische Selbstabschließung des Gedichtes. Das führt mich zu einer letzten, abschließenden Überlegung. In einem kürzlich gehaltenen Vortrag25 betont Christoph König sehr energisch den spezifisch poetischen Charakter des Rilkeschen Zyklus: Eine in sich geschlossene sprachliche Welt entsteht, in der Orpheus möglich ist. Diese Welt zu schaffen, ist der Sinn der Sonette. Es gelten nur der in ihnen erzeugte Raum und die Zeit des Zyklus. Wörter, Begriffe und zugrundeliegende Konzepte sind das Spielmaterial der Gedichte; […] Die Wörter verändern ihren Bezug und damit ihre Bedeutung. Es ist immer weniger die Referenz, die man im Lexikon nachschlagen kann, und immer mehr die Welt, die im Zyklus geschaffen wird. Die Rosen Rilkes blühen nicht im Garten. […] die ge356  |  michael neumann

dankliche Arbeit in den Gedichten führt zuletzt zu einer Poetik des Hörens, die besagt, daß Hören und Schaffen identisch sind. Hören und Horchen werden aktiv als ›Erhören‹ ausgelegt: Man schafft (›erhört‹), was man hört und wovon man dann erhört wird. »Sehet, wir dürfen / jenen erhorchen, der uns am Ende erhört.« (II.24, V. 7 f.)

Daß König hier so entschieden auf dem unreduzierbaren Eigencharakter des poetischen Sprechens besteht, ist ganz im Sinne meines Plädoyers. Aber daß er die Ambivalenz des »Erhörens«, in dem bei Rilke doch immer auch noch die Rezeptivität des »Hörens« mitklingt, einseitig im schaffenden Hören verschwinden läßt, geht mir zu weit. Unser postmodernes Geschlecht ist von einer ähnlichen Krankheit befallen wie der mythologische König Midas: Was immer unser Gedanke ergreift, wird ihm zu unserer eigenen Konstruktion, und das heißt in der Regel: zu nichts als Konstruktion. Das aber verfehlt eine Dimension des Rilkeschen Dichtens. Zu dem Gedicht Die Rosenschale aus den Neuen Gedichten hat Rilke selbst den Anstoß überliefert: Auf einem Platz in Neapel war er entsetzter Zeuge einer Messerstecherei geworden. Er flüchtete nach Hause. »Dort fiel mein Blick auf eine Schale mit herrlichen Rosen, die auf meinem Tisch standen«.26 Aus der Kontrasterfahrung entsprang das Gedicht. Nun muß man grundsätzlich nicht allzu viel Gewicht auf die biographischen Anlässe von Gedichten geben. Aber wir sollten doch nicht vergessen, daß alles Dichten über Rosen nur möglich ist, da Dichter und Leser eine Erfahrung davon haben, was Rosen sind. Gut, Rilkes Rosen blühen nicht im Garten. Aber sie werden in der Poesie auch nicht verschlossen und versiegelt. Wir können Rilkes Gedicht nur verstehen, weil wir schon einmal im Garten gestanden haben. Die Referenz auf die Rose in der Welt wird mit den Mitteln der Poesie im Gedicht dann angereichert, vervielfältigt, kondensiert. Sie wird in einen zweckfreien Raum der Rühmung gestellt, wird »verwandelt«, wird »Figur«. Aber über all dem verschwindet die Referenz auf die Rose in der Welt doch nicht. Das widerspräche jenem nachsymbolistischen Imperativ der Gegenständlichkeit, den Rilke in den Neuen Gedichten entwickelt27 und den er im Konzept der Rühmung dann fortentwickelt hat. Was wäre eine Rühmung, der das Gerühmte ins Nichts verrauchte? Einige Überlegungen zur Wahrheit der Dichtung  |  357

Und da so auch die Referenz auf die Rose in der Welt in die Verwandlung durch die Kunst eingeht, ist die Erfahrung der Kunst nicht selbstgenügsam, nicht narzißtisch, sondern welteröffnend. Wer in den Garten zurückkehrt, wird nicht einfach vergessen, daß er Rilkes Rose begegnet ist. Das befreit uns nicht davon, mit der Wirklichkeit so umzugehen, wie es der Alltag verlangt. Aber wir wissen, wir sehen und hören, daß diese Wirklichkeit − und zwar die konkrete, vielfältige, vergängliche Wirklichkeit in ihrer ganze Breite − auch einer anderen Wahrnehmungs-Perspektive offen steht.

Anmerkungen

Wozu Dichter? Vortrag am 29.12.1946, dem 20. Todestag von R.M. Rilke. In: Holzwege (jetzt GA 5), bes. 269.  2  Hans Urs v. Balthasar: Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von den letzten Haltungen, 3 Bde., hier Band II,196.  3  Mit großer Verve verwehrt sich derzeit besonders Manfred Engel gegen die philosophische Ausmünzung Rilkescher Gedichte; vgl. RHB, 411 u. ö.  4  Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, Vorwort an Richard Wagner (KSA 1,24).  5  Vgl. Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter.  6  Mit den Worten eines anderen, sehr gelehrten Dichters (Michael Hamburger: An Unofficial Rilke. Poems 1912–1926: Introduction, 16): Dies erklärt die Erbitterung der Exegeten, »who have tried to make sense of the cosmology, ontology or theology that Rilke thought he had enunciated once and for all in the Elegies and Sonnets, when any statement made in them is a poetic statement valid only within the confines and context of the poetry itself.«  7  Freie Behandlung der Form: Brief vom 25.2.1922 vgl. R.M. Rilke und Marie von Thurn und Taxis: Briefwechsel, 2. Bd., 700 f.: »Diktat dieses inneren Andrangs«: Brief vom 12.4.1923 an Gräfin Sizzo (Briefe, 829); das »rätselhafteste Diktat«. Brief vom 20.4.1923 an Xaver von Moos,829; ebd., 833); ähnlich im Brief vom 23.4.1923 an Clara Rilke (ebd., 835).  8  Friedhelm Kemp: Das europäische Sonett. Band II,45.  9  In diesem Punkt widerspricht meine Lektüre entschieden der »phonozentrischen« von Paul de Man: Allegorien des Lesens, vgl. 52–90. 10  Der kleine Pauly IV,353. 11 Homer: Odyssee XI; 262–265 (Homeri Odyssea, 202), Apollonius Rhodios: Argonautica I 740 f.; Ovid (Publius Ovidius Naso): Metamorphosen VI 178; u. ö.  1 

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Iphigenie in Aulis, Vers 1211 f.; Apollonius Rhodios: Argonautica I 26 f.; Ovid: Metamorphosen XI 1 f. 13 Ovid: Metamorphosen XI 7–13. 14  Vgl. SO II 13, V. 8: »sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.« 15  Vgl. Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen: Der singende Knochen: Nr. 28, Von dem Machandelboom: Nr. 47 der Kinder- und Hausmärchen; dazu Walter Scherf: Das Märchen Lexikon,1118–1121; ferner Walter Burkert: Vom Nachtigallenmythos zum »Machandelboom«, 113–125 u. 196 f. 16  Vgl. Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen, 1. Bd.: Die Götter-. und Menschheitsgeschichten, 245–248. 17  Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, Vorwort an Richard Wagner; KSA 1,28 f., 32 u. ö. 18  Die Nähe zur antiken Hymne konstatiert auch Alfred Behrmann: Der Tod des Orpheus in zwei modernen Gedichten, 84 f. Daß »die Form des Sonetts« hier aber »lediglich ›zitiert‹« werde, geht zu weit. 19  Vgl. SO I 11; V.13 f. 20  Für dieses Glück vgl. etwa SO I 13 und 14. 21  Vgl. SO I 14 17 und 21. 22  Zu diesem Zentralbegriff von Rilkes Spätwerk vgl. Beda Allemann: Zeit und Figur beim späten Rilke. Ein Beitrag zur Poetik des modernen Gedichtes. 23  SO I 9: »Nur wer die Leier schon hob / auch unter Schatten, / darf das unendliche Lob / ahnend erstatten. // Nur wer mit Toten vom Mohn / aß, von dem ihren, / wird nicht den leisesten Ton / wieder verlieren.« 24  Noch einmal Michael Hamburger (s. oben Anm. 7, S. 11): »Rilke cared as little about aspirations to the autonomy of art as about notions of the impersonality of the artist. [… All his] achievements had been due to an unquestioned faith not in art for art’s sake but rather in art for life’s sake and − as far as Rilke’s person was concerned − in life for art’s sake.« 25  Das Schicksal der Poesie. Zu Rilkes Sonett Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?, Vortrag IKGF Erlangen, 5. Juni 2012, S. 3; derzeit im Internet zugänglich: http://www.ikgf.uni-erlangen.de/content/articles/Christoph_Koenig_-_Das_Schicksal_der_Poesie.pdf (letztmals aufgerufen 3.3.2013). 26  KA 1,956. 27  Vgl. die Balance in seinen Briefen über Cézanne: Am 21.10.1907 schreibt er an Clara Rilke, »daß es noch niemals so aufgezeigt worden ist, wie sehr das Malen unter den Farben vor sich geht, wie man sie ganz alleine lassen muß, damit sie sich gegenseitig auseinandersetzen. Ihr Verkehr untereinander: das ist die ganze Malerei.« Am folgenden Tag ergänzt er: »und doch hat die Farbe kein Übergewicht über den Gegenstand, der so vollkommen in seine malerischen Äquivalente übersetzt erscheint, daß, so sehr er erreicht und gegeben ist, doch andererseits auch wieder seine bürgerliche Realität an ein endgültiges Bild-Dasein alle Schwere verliert.« Vgl. KA 4,627 f. u. 630 f. 12 Euripides:

Einige Überlegungen zur Wahrheit der Dichtung  |  359

– Georg Steer –

Rainer Maria Rilke als Leser Meister Eckharts Martina Wagner-Egelhaaf geht von der unbewiesenen Annahme aus, daß Rilke »kein Mystiker im Sinne eines Meister Eckhart oder eines Seuse war«.1 Insbesondere werde »bei Rilke das personale Gottesbild des mittelalterlichen Mystikers« vermißt.2 Die neuere Forschung habe »bisher fast ausschließlich den mystischen Elementen in Rilkes Lyrik nachgespürt« (ebd. 63), habe aber eine vergleichbare Forschungsbemühung um Die Aufzeichnungen des Malte Lau­rids Brigge vernachlässigt. Martina Wagner-Egelhaaf will in Kapitel III ihrer Arbeit Mystik der Moderne mit dem Titel Ekstatisches Schreiben: Rainer Maria Rilke, ›Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹ (63–107) eine solche gezielte Forschung vornehmen, allerdings eingeengt auf den Gesichts­punkt, »wie das mystische Paradigma bei Rilke im thematischen und funktio­nalen Kontext der Kunst- und Textproduktion reflektiert wird« (ebd. 63). Nun gibt es freilich ein untrügliches Zeugnis von Rilke selbst, dem wir entnehmen können, welche persönliche und existentielle Bedeutung er seinen ›Malte-Aufzeichnungen‹ zugestand. Er schreibt 1910, unmittelbar nach Fertigstellung des Malte, an Marie von Thurn und Taxis: »Da fühl ich mich nun recht aus meiner Arbeit schwerem Paradies ausgetrieben, seit ich von Paris fort bin und nicht weiß wohin […]. Als ich mitten in den ›Aufzeichnungen‹ stand, dachte ich oft, daß ich hernach keine Bücher mehr machen würde, sondern ich würde etwas Ein­faches und Gleichmäßiges thun und mich im Übrigen nach innen ziehen.«3 Bereits Judith Ryan hat gesehen, daß das »Verhältnis eines Autors zu seinem Werk […] kaum problema­tischer sein [kann] als Rilkes zu Malte Laurids Brigge, [dem] alter ego des Au­tors«.4 Weil auch Veronika Merz behauptet, der Fokus des Malte liege im Religiösen, fühlt sich Wagner-Egelhaaf zu einer »Gegenthese« gereizt (ebd. 74): »Religiöse Problematik und Kunst­problematik lassen sich bei Rilke nicht voneinander trennen; der Akzent liegt allerdings auf dem   |  361

Kunstproblem als dem Rilke unmittelbareren, das aber dezidiert religiöse Dimensionen an­nimmt. Säkularisierungs- und Sakralisierungsbewegung überkreuzen sich«. Bei dieser Forschungskontroverse ist es nicht ganz unwichtig wahrzunehmen, welchen Stellen­wert Rilke Meister Eckhart innerhalb der großen Zahl jener mystischen Texte, die er in seinen Schriften heranzieht, zugestanden hat. Schon 1903 mag Rilke auf die kleine Anthologie von Gustav Landauer mit dem Titel: Meister Eckhart. Mystische Schriften gestoßen sein.5 Sicher kennen­gelernt hat er die mystischen Schriften Eckharts in der popularisierenden Textausgabe von Hermann Büttner.6 Der Briefsammlung Rilkes von 1904–1907 läßt sich entnehmen, daß Rilke von der Büttnerschen Übersetzung, der ersten neuhochdeutschen Textausgabe der Schrif­ ten Eckharts, sehr angetan war. Daß Rilke Eckhart eine uneingeschränkte Begeisterung entgegen­brachte, zeigt der Brief an Gräfin Luise Schwerin, den er am 5. Juni 1905 an sie richtete. Dort heißt es: […] daß der Meister [Eckhart] mir von Ihnen gezeigt wurde und daß es gerade in diesem Augenblick meiner Entwicklung geschah, da ich seiner Sanction und Segnung in vielem bedurfte […]. Sie werden, liebe verehrte Schwestern, eines Tages sehen, wie sehr ich, ohne von ihm zu wissen, schon seit Jahren dieses Meisters Schüler und Verkünder war. Irgend­wo (ich fühls in aller Demut) wuchs ich über ihn hinaus: an den Stellen, wo ich feststellte, stehen blieb, endgültig formte; wo er aber floß, wo er rauschte, in großen Gefällen zu Gott niederfiel, da bin ich nur ein kleines Stück, mitgerissen von ihm, dem Strom, der dem breiten Delta der Dreieinigkeit in die Ewigkeit ausgeht.7

Rilke wußte nicht nur als Schüler Eckharts zu wirken, er wußte auch, wie er wirken und wie er vor allem mit seiner Stimme die Herzen der Frauen erreichen konnte. Magda von Hattingberg berichtet: Niemand kann so lesen wie Rainer. Seine Stimme ist leise und hat zuweilen einen leicht singenden Ton, besonders wenn er französisch spricht. Man kann nicht sagen, daß er schön liest, es ist mehr als schön, es ist i nte ns iv ste r Aus d r u ck höhe re n S e ins . Ich glaube Fra Angelico müßte so gelesen haben, oder der Meister Eckhart.8 362  |  georg steer 

In welcher Sprache hat Rilke seinen Eckhart gelesen? In der originalen mittelhochdeutschen Sprache, wie sie ihm in der Ausgabe von Franz Pfeiffer9 aus dem Jahre 1857 hätte zugänglich sein können? Wohl kaum, denn er vertraut sich unbekümmert der Übersetzung von Hermann Büttner aus dem Jahr 1903 an. Diese aber ist von einer solch bodenlosen philologischen Unvollkommenheit, daß sich Josef Quint noch vor 1963 zu einer neuen Übersetzung ent­schloß,10 die auf der neu geschaffenen textkritischen Edition des KohlhammerVerlags Stuttgart basierte. Quint war mit der Übersetzung Büttners deswegen nicht zufrieden, weil diese zwar »die genia­lischste und schwungvollste«, die »souveränste«, aber auch die »willkürlichste und unver­läßlichste« ist, und vor allem, weil sie die »stärkst subjektiv interpretierende Über­setzung ist«.11 Quint bleibt den Nachweis, daß die Büttnersche Übersetzung katastrophal schlecht ist, nicht schuldig. Er sam­melt eine Liste von Beispielen, die Büttner als Nicht-Germa­nisten bloßstellen: Büttner S. 81: fände eher nicht Wonne statt Pf. S. 26,25: erwünde niemer = würde nie ablassen S. 252: Gott sehend in dessen eigenem Sinn statt Pf. S. 50,38: got sehende in sînesheit = Gott sehend in seiner Seinsheit S. 254: schon in diesem Leibe statt Pf. S. 52,22: in disem lîbe = in diesem Leben S. 255: die ewige Zugehörigkeit statt Pf. S. 52,38: die êwige selde = die ewige Seligkeit S. 176: Gott selber blickt in ihn statt Pf. S. 548,37: in ime blicket got = in ihm glänzt Gott S. 186: die hat er nicht wieder losgelassen, er wirkte große Dinge mit ihnen statt Pf. S. 558,38 f.: die erliez er nie, er worhte grôziu dinc mit in = bei denen unterließ er es nie (denen ersparte er es nie), große Dinge mit ihnen zu wirken S. 182: so hätten wir diese Welt geschaffen, nicht er (!!) statt Pf. S. 555,18: sô hête wir elliu dinc getân, unde niht êr = dann erst hätten wir alles getan und nicht eher.

Nur einen ganz geringen Teil an übersetzerischen Fehlleistungen bietet Quint. Hat sich Rilke von den »genialischen« Zerrinterpretationen Büttners mitreißen lassen? Wenn nicht, dann hätte er das sinnRainer Maria Rilke als Leser Meister Eckharts  |  363

falsche Übersetzungsangebot Büttners durchschaut und sich ganz auf sich selbst verlassen und wäre zu einer bisher nicht gekannten Selbst-Erkenntnis vorgedrungen, in einem Seh-Vorgang, den Eckhart mit dem Ausdruck durchbrechen beschreibt. Doch es ist nicht eine neue Selbsterkenntnis Rilkes, es ist die Entdeckung von Rilkes eigenem Inneren. Und von diesem offensichtlich existent iel len Ereig nis spricht er gleich zu Beginn seines Romans ganz programmatisch (KA 3,456 [Sperrungen – auch in Zitaten – von G. St.]): Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein In nere s, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.

Wenige Zeilen später wieder­holt er zur Bekräftigung, daß ihn dieses tiefere Sehen in sein Inneres bereits eingenommen habe (KA 3,457): »Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht nicht schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen«. Was sieht Rilke in seinem Inneren? Sieht er die Außenwelt in Bildern? Rilke erfaßt Wirklichkeit über das gespie­gelte Gegenständliche im rein Geistigen, so etwa das Heilige. Nach den Fresken im Pantheon beschreibt er eine Heilige, von der er sagt, er habe sie gesehen (KA 3,504): weil ich die Heilige gesehen habe im Pantheon, die einsame, heilige Frau und das Dach und die Tür und drin die Lampe mit dem bescheidenen Lichtkreis und drüben die schlafende Stadt und den Fluß und die Ferne im Mondschein. Die Heilige wacht über der schlafenden Stadt.

Die über der schlafenden Stadt wachende Heilige ist Rilke ein geistiges Bild, in dem er Wirklich­keit in seinem tiefen Inneren zu sehen vermag: liebende Frauen vor allem, die, Heiligen gleich, als Gestalten vollendeter Liebe gezeichnet werden (KA 3,628 f.): Manchmal früher fragte ich mich, warum Abelone die Kalorien ihres großartigen Gefühls nicht an Gott wandte. Ich weiß, sie scheu­te sich, ihrer Liebe alles Transitive zu nehmen, aber konnte ihr wahrhaftiges Herz sich darüber täuschen, daß Gott nur eine Richtung der Liebe ist, kein Liebesgegenstand? Wußte sie nicht, daß keine Gegenliebe von ihm zu fürchten war? Konnte sie nicht die Zurückhaltung 364  |  georg steer 

dieses überlegenen Geliebten, der die Lust ruhig hinausschiebt, um uns, Langsame, unser ganzes Herzleisten zu lassen. Oder wollte sie Christus vermeiden? Fürchtete sie, halben Wegs von ihm aufgehalten, an ihm zur Geliebten zu werden? Dachte sie deshalb ungern an Julie Reventlow? //Fast glaube ich es, wenn ich bedenke, wie an dieser Erleichterung Gottes eine so einfältige Liebende wie Mechthild, eine so hin­reißende wie Therese von Avila, eine so wunde wie die Selige Rose von Lima, hinstürzen konnte, nachgiebig, doch geliebt. Ach, der für die Schwachen ein Helfer war, ist diesen Starken ein Unrecht; wo sie schon nichts mehr erwarteten, als den unendlichen Weg, da tritt sie noch einmal im spannenden Vorhimmel ein Gestalteter an und verwöhnt sie mit Unterkunft und verwirrt sie mit Mannheit. Seines stark­brechenden Herzens Linse nimmt noch einmal ihre schon parallelen Herzstrahlen zusammen, und sie, die die Engel schon ganz für Gott zu erhalten hofften, flammen auf in der Dürre ihrer Sehnsucht.// Im Manu­skript an den Rand geschrieben: *(Geliebtsein heißt aufbrennen. Lieben ist: Leuchten mit un­ erschöpflichem Öle. Geliebtwerden ist vergehen, Lieben ist dauern.)

In der Stille und Einsamkeit läßt sich für Rilke eine Welt erfahren, die nur erfahren werden kann, wenn die Welt der Oberflächlichkeit überschritten wird: So »konnte es geschehen, daß man diese vereinbarte, im ganzen harmlose Welt unversehens überschritt und unter Verhältnisse geriet, die völlig verschieden waren und gar nicht abzusehen« (KA 3,525). Beim Eindringen in sein Inneres eröffnet sich Rilke vor allem das Reich des Denkens. Rilke läßt Malte räsonieren (KA 3,466–68): Ich glaube, ich müßte anfangen, etwas zu arbeiten, jetzt da ich sehen lerne. Ich bin achtund­zwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen […] Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muß die Tiere kennen, man muß fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen. Man muß zu r ückden ken können an Wege in unbekannten Gegenden […] Und es genügt auch noch nicht, daß man Erinnerungen hat […]. Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, name n l os u nd n i cht meh r zu u nte r­s che id en Rainer Maria Rilke als Leser Meister Eckharts  |  365

von u ns s elbst , erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht […] Es ist lächerlich. Ich sitze hier in meiner kleinen Stube, ich, Brigge, der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist und von dem niemand weiß. Ich sitze hier und bin nichts. Und dennoch, dieses N i c h t s fängt an zu denken und denkt, fünf Treppen hoch an einem grauen Pariser Nachmittag diesen Gedanken.

Ein erstaunliches Stück Text ist im Anschluß in einer programmatischen Szene komponiert: ein Traktat mit dialogischem Charakter; ein Traktat über das ganze Welt- und Wirklichkeits­geschehen, über das ganze Sein. Dieser zweite programmatische Abschnitt ist in sieben Prosa­strophen präsentiert (KA 3,468–470; Unterstreichungen und Sperrungen von G. St.): (Ia)

Ist es möglich, denkt es, daß man noch nichts Wirkliches und Wichtiges ge s ehe n , e rk an nt u nd ge s ag t hat?

(Ib)

Ist es möglich, daß man Jahrtausende Zeit gehabt hat, z u s chau en , nach z u ­d e n ken und au f z u z ei ch ne n und daß man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schul­ pause, in der man sein Butter­brot ißt und einen Apfel? I Ja, es ist möglich. (IIa)

Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist?

(IIb)

Ist es möglich, daß man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich lang­ weiligen Stoff überzogen hat, so daß sie aussieht wie die Salonmöbel in den Sommer­ferien? II  Ja, es ist möglich. (IIIa)

Ist es möglich, daß die ganze Weltgeschichte mißverstanden wor­den ist

(IIIb)

Ist es möglich, daß die Vergangenheit falsch ist, weil man immer von ihren Mas­sen gesproch­en hat, gerade, als ob man von einem Zusammen­lauf vie­ler Men­schen er­zähl­te, statt von dem

366  |  georg steer 

E i ne n zu sagen, um den sie herumstanden, weil er f re md war und st ark ? III Ja, es ist möglich. (IVa)

Ist es möglich, daß man glaubte, nachholen zu müssen, was sich ereignet hat, ehe man geb oren w ar?

(IVb)

Ist es möglich, daß man jeden einzelnen erinnern mußte, er sei ja aus allen Früheren ent­standen, wüßte es also und sollte sich nichts ein­reden lassen von an­de­ren, die and­eres wüß­ten? IV Ja, es ist möglich. (Va)

Ist es möglich, daß alle diese Menschen eine Vergangenheit, die nie gewesen ist, ganz genau kennen?

(Vb)

Ist es möglich, daß alle Wirklichkeiten nichts sind für sie, daß ihr Leben abläuft, mit nichts ver­knüpft, wie eine Uhr in einem leeren Zim­mer –? V Ja, es ist möglich. (VIa)

Ist es möglich, daß man von den Mädchen nichts weiß, die doch leben?

(VIb)

Ist es möglich, daß man ›die Frauen‹ sagt, ›die Kinder‹, ›die Knaben‹, und nicht ahnt (bei aller Bildung nicht ahnt), daß diese Worte längst keine Mehr­zahl mehr ha­ben, son­dern nur un­zählige Einzahlen? VI  Ja, es ist möglich. (VIIa) Ist es möglich, daß es Leute gibt, welche › G ott ‹ sagen und meinen, das wäre etwas G e m e i ns am e s ? – Und sieh nur zwei Schulkinder: es kauft sich der eine ein Messer und sein Nachbar kauft sich ein ganz gleiches am selben Tag. Und sie zeigen einander nach einer Weile die beiden Messer, und es ergibt sich, daß sie sich nur noch ganz entfernt ähnlich sehen, – so verschieden haben sie sich in verschiedenen Händen entwickelt. (Ja, sagt des einen Mutter dazu: wenn ihr auch gleich immer alles abnutzen müßt.–) (VIIb) Ach so: Ist es möglich, zu glauben, man könne einen G ott hab e n , ohne ihn zu gebrau­chen? VII    Ja, es ist möglich. Rainer Maria Rilke als Leser Meister Eckharts  |  367

Maltes wie Rilkes Dasein haben ein Ziel, ein Ende. Arb eit bringt ihn dort hin. Von seinem Nichts geht er aus, bei Gott kommt er an, dem Einen, sofern dieser will (KA 3,635). Doch seine Arb eit kennt noch eine weitere Ausrichtung, die ihn noch weiter in sein Inneres führt: er muß auch ›die Arb eit der Liebe lernen‹ (KA 3,550). Am Ende des Malte-Romans gibt Rilke über diese Lebensphase Rechenschaft (KA 3,633 f.; Gliederung und Hervorhebungen von G.St.): Ich seh mehr als ihn, ich sehe sein Dasein, das damals die lange Liebe zu Gott begann, die stille, ziellose Ar b eit. (1) Denn über ihn, der sich für immer hatte verhalten wollen, kam noch einmal das anwachsen­de Nichtanderskönnen seines Herzens. Und diesmal hoffte er auf E r­h ör u ng . (2) Sein ganzes, im langen A l l ei ns e i n ahnend und unbeirrbar gewordenes Wesen ver­sprach ihm, daß jener, den er jetzt meinte, zu lieben verstünde mit durch­dringender, strahlender Liebe. (3) Aber während er sich sehnte, endlich so meisterhaft geliebt zu sein, begriff sein an Fernen gewohntes Gefühl Gottes äußersten Abstand. (4) Nächte kamen, da er meinte, sich auf ihn zu werfen in den Raum; Stunden voller Ent­deckung, in denen er sich stark genug fühlte, nach der Erde zu tauchen, um sie hinauf­zureißen auf der Sturmflut seines Herzens. Er war wie einer, der eine her rl iche Sprache hört und fiebernd sich vornimmt, in ihr zu dichten. (5) Noch stand ihm die Bestürzung bevor, zu erfahren, wie schwer diese Sprache sei; er wollte es nicht glauben zuerst, daß ein langes Leben darüber hingehen könne, die ersten, kurzen Schein­sätze zu bilden, die ohne Sinn sind. (6) Er stürzte sich ins Erlernen wie ein Läufer in die Wette; aber die Dichte dessen, was zu überwinden war, verlangsamte ihn. Es war nichts auszudenken, was demütigender sein konnte als diese Anfängerschaft. (7) Er hatte den Stein der Weisen gefunden, und nun zwang man ihn, das rasch gemachte Gold seines Glücks unaufhörlich zu verwandeln in das klumpige Blei der Geduld. (8) Er, der sich dem Raum angepaßt hatte, zog wie ein Wurm krumme Gänge ohne Aus­gang und Richtung. (9) Nun, da er so mühsam und kummervoll lieben lernte, wurde ihm 368  |  georg steer 

gezeigt, wie nach­lässig und gering bisher alle Liebe gewesen war, die er zu leisten vermeinte. Wie aus keiner etwas hatte werden können, weil er nicht begonnen hatte, an ihr Arbeit zu tun und sie zu verwirklichen. In diesen Jahren gingen in ihm die großen Veränderungen vor. Er vergaß Gott beinah über der harten Arbeit, sich ihm zu nähern, und alles, was er mit der Zeit vielleicht bei ihm zu erreichen hoffte, war »sa patience de supporter une âme«.

Die ›Aufzeichnungen‹ kennen noch einen letzten, programmatischen Abschnitt: er ist der kürzeste, und der führt Malte/Ril­ke vor die Tür, die der Eine genannt wird. Hatte die zweite Phase dem Lernen der Liebe ge­golten, so bleibt zuletzt noch zu sehen jene Liebe, die Gott genannt wird (KA 3,635): »Was wußten sie, wer er war. Er war jetzt furchtbar schwer zu lieben, er fühlte, daß nur Einer dazu imstande sei. Der aber wollte noch nicht.« Die ›Malte-Aufzeichnungen‹ durchzieht von Anfang bis zum Schluß eine große inhaltliche Aus­sage. Sie ist poeto­logisch greifbar in den drei Lehrstücken, die wie eigenständige Mosaikstücke inhaltlich auf­einander bezogen sind. Der erste Abschnitt sehen lernen offenbart eine Gliederung, die der Siebenzahl verpflichtet ist. Der Gedanke der heiligen Zahl ist unabweisbar, auch die Zahl Drei. Der zweite Abschnitt lieben lernen ist in dreimal drei selbständigen Aussageeinheiten vorgeführt. Der dritte gesteigerte und den Höhepunkt anzeigende Endabsatz des Romans (Die Liebe. Mein Gott: die Liebe) führt wieder zur Siebenzahl zurück. Ein treppenhafter Aufstiegsweg in sieben Stufen wird imaginiert. Fünf Treppen sind zunächst zu besteigen (KA 3,468: »Und dennoch, dieses Nichts fängt an zu denken und denkt, fünf Treppen hoch, an einem grauen Pariser Nachmittag diesen Gedanken«), um sehen zu lernen. Auf der sechsten Treppe werden die Mühseligkeiten des Lieben-Lernens vor­geführt. Auf der letzten und siebenten Stufe will Malte Gott dem Einen begegnen. Malte selbst erscheint jede Eigen-Arbeit genommen. Die ganze Arbeit macht Gott. Gott aber ist es selbst, der bestimmt, wann er für das Eins-Sein bereit sein will. Äußerste Demut ist die Leistung Maltes. Über diese Schau des Lebens schreibt Rilke: »Der arme Malte fängt so tief im Elend an [G. St.: man erinnere sich: er versteht sich Rainer Maria Rilke als Leser Meister Eckharts  |  369

als Nichts] und reicht, wenn mans genau nimmt, bis an [!] die ewige Seligkeit; er ist ein Herz, das eine ganze Oktave greift: nach ihm sind nun nahezu alle Lieder möglich«.12 Jetzt ist Malte/Ril­ke Dichter, jetzt kann er dichten. Von ihm heißt es (KA 3,633): »Er war wie einer, der eine herr­liche Sprache hört und fiebernd sich vornimmt, in ihr zu dichten.« Er kann jetzt dichten, weil er das Stadium der Anfänger­schaft schon durchlebt hat (ebd.). Rilke kennt Meister Eckhart. Er liest ihn in der Büttnerschen Übersetzung. Welche Inhalte, Bilder und Begriffe entnimmt er Eckhart? Er wird mit Bestimmtheit die ersten vier Predigten, die in der Pfeifferschen Ausgabe die Nummern I–IV tragen, studiert haben. Darin konnte er die Vorstellung vom Inneren finden und auch die Vorstellung vom Sehen-Lernen. Es genügt allein schon, die Predigt I Dum medium silentium tenerent omnia zu lesen, über die Nähe Rilkes zu dieser Predigt, in der sich die intensive Auf­ forderung, sich nach innen zu kehren, findet: So auch sollte der Mensch allen Sinnen entweichen und all seine Kräfte nach i n ne n kehren und in ein Vergessen aller Dinge und seiner selbst gelangen.«13 Weiterhin: »Es war ihm [scil. Pau­lus] so tief in ne n i n s e i ne m Gr u nd e, wohin seine Vernunft nicht hineinzukommen vermochte. Es war ihm verdeckt. Daher mußte er ihm nachlaufen und es erreichen i n sich , nicht außer sich. Es ist ganz und gar i n ne n , nicht außen, vielmehr: ganz in nen. Und da er dies genau wußte, darum sprach er: ›Ich bin sicher, daß weder Tod noch irgendeine Mühsal mich von dem zu scheiden vermag, was ich in mir ge s ehe n hab e‹ [vgl. Röm. 8,28].14

Bereits in der Einleitungs­passage klingt der Grundgedanke des Nach-Innen-Sehens an: »Darum muß sich die Seele, in der diese Geburt geschehen soll, sehr rein halten und sehr edel leben und sehr gesammelt und sehr i nne rl ich , n icht auslaufen durch die fünf Sinne [vgl.: fünf Treppen] in die Mannigfaltigkeit der Kreaturen, vielmehr ganz in nen s ein und e ins s ei n«.15

Nicht entgangen sein kann Rilke auch die Predigt Vom edlen Menschen (DW V, 119,2–7; Über­setzung Quints, 504):

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Wer ist denn nun edler, als der einerseits vom Höchsten und Besten, was die Kreatur besitzt, geboren ist und zum andern aus dem innersten Grunde göttlicher Natur und dessen Einöde? ›Ich‹, spricht unser Herr im Propheten Osee, ›will die edle Seele führen in eine Einöde, und ich will dort sprechen in ihr Herz‹ [Os. 2,14]. Eines mit Einem, Eines von Einem, Eines in Einem und in Einem Eines ewig­lich. Amen.

Der zweite Abschnitt erschließt sich dem Verständnis am ehesten, wenn er mit der Predigt Beati pauperes spiritu verglichen wird (Predigt 52; DW II, 486–506). Allein schon der Satz (KA 3,469): »Ist es möglich, daß man glaubte, nachholen zu müssen, was sich ereignet hat, ehe man geboren war?«, lenkt auf die Armuts­predigt hin (Gnädinger, a. a.O. 232–235): Darum denn bin ich meinem S ei n nach , das ewig ist, die Ursache meiner selbst, jedoch nicht me i ne m We rd en nach, das zeitlich ist. Und darum bin ich u nge­b ore n, und gemäß der Weise meiner Ungeb oren heit vermag ich niemals zu sterben. Der Weise meiner Ungeborenheit entsprechend bin ich e w i g l i ch ge ­w es en und bi n i ch nu n und werde ich e w i g l i ch bl e ib e n . Was ich der Geborenheit nach bin, dies wird sterben und zunichte werden, denn es ist sterblich; darum muß es mit der Zeit zugrunde gehen. […] Ich bin, was ich war und was ich bleiben werde nun und immerdar. Da empfange ich eine (Ein)prägung, die mich über alle Engel hinaus bringen wird. […] Denn bei diesem D u rch­b re che n empfange ich, daß ich u nd G ott e i ns sind. […] Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz deswegen nicht. Denn solange der Mensch nicht dieser Wahrheit gleich ist, so lange wird er diese Rede nicht verstehen.16

Es überrascht, mit welcher Eindringlichkeit vom Sterben einzelner Individuen, von Familien, Mädchen, Kindern, Adeligen, Fürsten, Menschen ganz allgemein gesprochen wird. Was der Dichter (Malte/Rilke) als erstes s i eht , ist der Tod (KA 3,458): »Aber ich habe auch offene Drosch­ken ankommen sehen, Zeitdroschken mit aufgeklapptem Verdeck, die nach der üblichen Taxe fahren: zwei Francs für die Sterbestunde.« Weiter (KA 3,459 f.): »Meinem Großvater noch, dem alten Kammer­herrn Brigge, sah man es an, daß er einen Tod in sich trug.« Rainer Maria Rilke als Leser Meister Eckharts  |  371

Es wäre nun weiterhin verwun­derlich, wenn Rilke nicht die berühmte Predigt In occisione gladii mortui sunt (Man liest von den Märtyrern, daß sie gestorben sind unter dem Schwerte) gekannt hätte. In ihr sagt Eckhart (Predigt 8; DW I, 128): »Und es ist eine gute Lehre, daß der Mensch sich ver­halten soll in dieser Welt, als ob er tot sei. Sankt Gregorius sagt, niemand könne Gott in reichem Maße besitzen als wer für diese Welt bis auf den Grund tot sei.« Eine vierte Lehre schließt Eckhart an; er nennt sie die ›allerbeste‹ (DW I, 129–132): »Die Märtyrer sind tot und haben ein Leben verloren, haben aber ein Sein empfangen […] Sie haben ein Leben verloren und haben ein Sein gefunden […] Soweit unser Leben ein Sein ist, soweit ist es in Gott.« Es blitzt gelegent­lich der Begriff des Seins auf: »Es war seine [Bau­delaires] Aufga­be, […] das Seiende zu sehen, das unter allem Seienden gilt« (KA 3,505). »Gott, dem stirbt nichts; alle Dinge leben in ihm«, schreibt Eckhart (DW I, 135). In den Malte-Aufzeichnungen ist der Todesgedanke allgegen­ wärtig. Es müßte des weiteren ver­wundern, wenn Rilke nicht auf die Textausgabe Meister Eckhart und seine Jünger von Franz Jostes vom Jahre 1895 aufmerk­sam gemacht worden wäre. Darin findet sich die oft zitierte Predigt Vom Reich Gottes mit der Kurz­charakterisierung von Jostes: »Man könnte das interes­sante Stücke wohl eine summa mystica nennen. Es umfaßt die Hauptgedanken der Mystik«.17 Darin auffällig ist die Lehre vom dreifachen Tod. Rilke mag aber auch auf eine der Vorlagen der Reich Gottes-Predigt gestoßen sein, die erst kürzlich als eine echte Predigt Eckharts entdeckt wurde, die in DW VI veröf­fentlicht werden wird. Die Predigt Rogo pater ut sint unum (auf Joh. 17,21) konzentriert sich auf den Begriff des Einen und auf den Begriff des Sterbens: Der Tod bedeute Preisgabe aller Eigenschaft, damit erreiche die Kreatur das wahre Leben in der Einheit, das ungeschaffen weselich (Rilke: wirklich) leben. Das Ab­sterben voll­ziehe sich gradweise; es vollziehe sich auswendig und inwendig. Alois Maria Haas ist es zu danken,18 auf einen weiteren Text, in dem die Todeslehre der Reich Gottes-Predigt gegenwärtig ist, auf­merksam gemacht zu haben, auf den Traktat Pfeiffer XV: Die drîe persône geschuofen di crêatûre von nihte (536,26–537,28): Wenn es ein Tod ist, der die Seele von Gott scheidet, so ist es ebenfalls ein Tod, wenn sie aus Gott fließt, denn alle Beweglichkeit ist 372  |  georg steer 

Sterben. Deswegen sterben wir von einem Zeitpunkt zum andern, und die Seele st i rbt völlig im Wu nd e r d e r G ott he it , weil sie die gött liche Natur nicht b eg reifen kann. Im Nichts stürzt sie hinüber und wird zu­nichte. In diesem Nichts-Sein ist sie b eg rab en, und im Nichterkennen wird sie vereinigt in den Unbekannten, und mit Nichtdenken wird sie vereinigt in den Ungedachten, und mit Nicht­liebe wird sie vereinigt in den nicht Geliebten. Was der Tod ergreift, das kann ihm niemand nehmen. Er scheidet das Leben von dem Körper und scheidet die Seele von Gott und w i r f t sie i n die G ott heit und begräbt sie in ihr, so daß sie allen Kreaturen unbekannt ist. Da ve rg i ßt man sie wie eine im Grabe Verwandelte, und sie wird u nb e g re i f l i ch für alles Begreifen. Wie Gott unbegreiflich ist, so wird sie unbegreiflich. So wenig man die Toten begreifen kann, die hier dem Leben absterben, so wenig kann man die Toten begreifen, die in der Gottheit tot sind. Diesen Tod sucht die Seele ewiglich. Wenn die Seele getöte t wird i n den d rei Pers onen , da verliert sie ihr Nichts und wird i n d ie G ott he it ge ­w or fen . Da f i nd e t sie das Antlitz ihres Nichts […] Diese Überfahrt (lat. transitus) ist man­chen Philo­sophen ve r ­b orgen .

Angesichts der Quellenfülle, die Rilke für seinen Malte-Roman zur Verfügung gestanden sein konnte, scheint eine Quellensuche, auch wenn sie sich auf Meister Eckhart allein beschränken wollte, nicht sehr erfolgreich zu sein. Es bleibt offensichtlich für die moderne Mystik-Forschung nur der Ausweg, sich auf den Begriff Mystik allgemein und was man dafür halten will, zu beziehen. In diesem Dilemma kommt ihr Eckhart selbst zur Hilfe. Er präzisiert in der Predigt Quint  40, was er unter Einheit zwischen Gott und der menschlichen Seele versteht: Die Einheit des Menschen und Gottes sei nach der Gleichheit des Bildes zu erfassen. Wie Rilke in dem vorgestellten Abschnitt Ist es möglich, so erklärt sich auch Eckhart in erkennbar hoher Ratio­nalität und darstellerischer sprachlicher Virtuosität (Gnädinger 187–189): Das vierte ist: daß Gott allezeit in einem solchen Menschen geboren wird. Wie wird Gott in einem solchen Menschen geboren? Dies merkt euch! Wenn der Mensch das göttliche Bild, das Gott in ihm natürlicherweise geschaffen hat, enthüllt und abdeckt, dann wird Rainer Maria Rilke als Leser Meister Eckharts  |  373

G otte s Bi ld in ihm offenbar. Denn beim Gebären – dabei ist auf die Offenbarung Gottes zu achten. Denn daß der Sohn vom Vater geboren heißt, dies kommt daher, daß ihm der Vater in väterlicher Weise sein Verborgenes offenbart. Und darum: Wenn der Mensch i m mer meh r und i m mer k l arer Gottes Bild in sich entblößt, um so klarer wird Gott in ihm geboren. Und so ist das Gebären Gottes allezeit demnach zu erfassen, daß der Vater das Bild unverhüllt aufdeckt und in ihm aufleuchtet. Das fünfte ist: daß der Mensch a lle z eit in Gott geboren wird. Wie wird der Mensch allezeit in Gott geboren? Dies merkt euch! Durch die Enthüllung des Bildes Gottes im Menschen gleicht sich der Mensch Gott an; denn durch das Bild ist der Mensch Gottes Bild gleich, das Gott rein seiner Wesenheit nach ist. Und wenn sich der Mensch immer mehr entblößt, dann wird er Gott immer mehr gleich, und wenn er Gott immer mehr gleich wird, um so mehr wird er mit ihm vereint. Und so auch ist das Gebären des Menschen in Gott allzeit demnach zu erfassen, daß der Mensch mit seinem Bild leuchtend wird in Gottes Bild, das Gott seiner Wesenheit nach rein ist und mit dem der Mensch eins ist. Und s o ist d i e E i n he it d e s Me ns che n u nd G otte s na ch d e r G l e i ch ­h e it d e s Bi l d e s z u e r f a ss e n ; denn der Mensch ist Gott dem Bilde nach gleich. Und darum: Wenn man sagt, daß der Mensch mit Gott eins sei und dieser Einheit gemäß Gott sei, dann begreift man ihn gemäß dem Anteil des Bildes, insofern er Gott gleich ist und nicht insofern als er geschaffen ist. Denn wenn man ihn [den Menschen] als Gott erfaßt, dann begreift man ihn nicht gemäß seiner Kreatürlichkeit. Wenn man ihn als Gott erfaßt, dann verleugnet man die Kreatürlichkeit nicht, so daß die Leugnung in dem Sinne zu verstehen wäre, daß die Kreatür­lichkeit zunichte würde. Sie ist vielmehr zu verstehen im Sinne einer Bejahung Gottes insofern, als man jene [die Kreatür­lichkeit] Gott abspricht. Denn Christus, der Gott und Mensch ist, erfaßt man ihn seiner Mensch­ heit nach, dann sieht man, indem man ihn so auffaßt, von seiner Gottheit ab. Nicht daß man ihm die Gottheit abspräche, man sieht von ihr vielmehr nur dem Erfassen entsprechend ab. Und so denn ist das Wort des Augustinus zu verstehen, wenn er sagt: ›Was der Mensch liebt, das ist der Mensch. Liebt er einen Stein, ist er ein Stein; liebt er einen Menschen, ist er ein Mensch; liebt er Gott – nun, ich wage nicht weiterzusprechen. Denn sagte ich, daß er dann 374  |  georg steer 

Gott wäre, ihr möchtet mich steinigen. Aber ich verweise euch auf die Schrift.‹ Und darum: Wenn sich der Mensch aus Liebe entblößt zu Gott fügt, dann wird er entbildet und hineingebildet und über­ bildet in die göttliche Einförmigkeit, in welcher er mit Gott eins ist. Dies alles hat der Mensch im Innebleiben. Nun achtet auf die Frucht, die der Mensch darin bringt. Das ist so: Wenn er mit Gott eins ist, dann bringt er mit Gott alle Kreaturen hervor, und er bringt für alle Kreaturen Seligkeit hervor, dementsprechend er mit ihm eins ist.

Wer Rilke als Eckhart-Adept ausschließen, wer die Inhaltsseite des Romans beiseite schie­ben, und nur der »Gegenthese« recht geben will, sollte sich von Helmut Naumann anregen lassen und das Folgende bedenken: Was ist es, das den moder­nen Leser dazu führt, diese ›Aufzeichnungen‹ immer wieder zu studieren? Was läßt noch kein Ende der Bemü­hungen absehen? Da darf er als erstes anführen, daß dieses Buch für jeden Leser ein Rätsel von der höheren Art darstellt, das seine Verstehens­fähigkeit immer wieder auf die Bewährungsprobe stellt. Wenn er dazu dann noch einiges von dem heranzieht, was andere, durchaus kluge Leute über Maltes Aufzeichnungen geschrieben haben, und dabei den Eindruck nicht los wird, daß es sich in mehr als einem Falle um Miß­verständnisse handelt, dann muß sich der redliche Leser aufgefordert fühlen, zur Lösung des Unaufgeklärten beizutragen – umso mehr, als dies sich zu lohnen verspricht. Im Laufe des Umgangs mit diesem Buch verstärkt sich in ihm nämlich die Überzeugung, daß es solche Mühe verdiene und daß das dabei Gefundene Einsichten erlaube, die uns in der Gegenwart förderlich sein können. Ja, der Gedanke festigt sich in ihm, daß die Entstehung dieses Buches in den Jahren von 1904 bis 1910 als ein heraus­ r agende s ge ist i ges E rei g n is zu begreifen sei, daß in ihm zahlreiche Dinge zum ersten Mal ge ­s e h e n u n d au s ge s pro ch e n sind, deren Tragweite erst wir heute recht abzu­schätzen vermögen.19

Die höchste Form der Sinngestaltung im Geiste Meister Eckharts erreicht Rilke in der Neu­fassung der biblischen Geschichte vom Verlorenen Sohn (KA 3,629): »Man wird mich schwer davon über­zeugen, daß die Geschichte des verlorenen Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt werden wollte.« Sie wird erRainer Maria Rilke als Leser Meister Eckharts  |  375

zählt als die Geschichte des Heimkehrers, des Verlo­renen Sohnes, in der sich sowohl Malte als auch der Autor Rilke erkennen konnte (KA 3,629 f.): »Das Geheimnis seines noch nie gewesenen Lebens breitete sich vor ihm aus […]. Mein Gott, was war da alles abzulegen und zu vergessen; denn richtig vergessen, das war nötig«. Und später (KA 3, 631): »Viel später erst wird ihm klar werden, wie sehr er sich damals vornahm, niemals zu lieben, um keinen in die entsetzliche Lage zu bringen, geliebt zu sein. Jahre hernach fällt ihm ein, und, wie andere Vorsätze, so ist auch dieser unmöglich gewesen […]. Langsam hat er gelernt, den geliebten Gegenstand mit den Strahlen seines Gefühls zu durchscheinen, statt ihn darin zu verzehren.« – »Wie konnte er dann nächtelang weinen vor Sehnsucht, selbst so durch­leuchtet zu sein.« – (KA 3,631 f.): »Alles erworbene und vermehrte Geld gab er dafür hin, dies nicht noch zu erfahren .« (KA 3,632): »Denn er hatte die Hoffnung nicht mehr, die Liebende zu erleben, die ihn durch­ br a ch. « – (KA 3,632): »Wer beschreibt, was ihm damals geschah? … Das war die Zeit, die damit begann, daß er sich all­gemein und anonym fühlte wie ein zögernd Genesender. Er liebte nicht, es sei denn, daß er es liebte, zu s e i n . « Weiter (KA 3,633): »Gleichviel. Ich seh mehr als ihn, ich sehe sein Dasein, das damals die lange Liebe zu Gott begann, die stille, ziellose Arbeit. […] Und diesmal hoffte er auf E r­h ör u ng . Sein ganzes, im langen Alleinsein ahnend und unbeirrbar gewordenes Wesen versprach ihm, daß jener, den er jetzt meinte, zu lieben verstünde mit durchdringender, strahlen­der Liebe.« – (KA 3,634): »In diesen Jahren gingen in ihm die großen Veränderungen vor. Er vergaß Gott beinah über der harten Arbeit, sich ihm zu nähern […] Dies alles noch einmal und nun wirklich auf sich zu nehmen, war der Grund, weshalb d e r E nt f re md e te he im kehr te.«

Was hat Rilke zur Neudeutung der Geschichte vom verlorenen Sohn veranlaßt? Wir wissen es nicht. Wir wissen aber, daß er sich 1900 in St. Petersburg aufgehalten hat. Er hat dort »in Bibliotheken und Museen«20 gearbeitet. Und es erscheint unvorstellbar, daß er nicht die Eremi­tage aufgesucht hätte, die Rembrandts Bild vom Verlorenen Sohn beherbergt. Rembrandts Bild muß ihn beeindruckt haben. Er sah einen Vater, einen Gott-Vater, der mit beiden Händen 376  |  georg steer 

seinen Sohn bergend in Empfang nimmt, mit Händen, die sich unterscheiden. Die rechte Hand ist als weibliche, die linke als männliche zu erkennen. Meister Eckhart hat in der Predigt Blîbet in mir (Quint 40) einen Gott gezeichnet (vgl. DW II,272–281), dem sowohl weibliche wie männliche Züge eigen sind (Gnädinger 189 f.): ›Selig ist der Mann, der da wohnt in der Weisheit‹ […] Weisheit ist eine mütterliche Bezeichnung, denn der mütterliche Name bedeutet das Zueigenhaben des Erleidens; in Gott ist denn Wirken und Erleiden festzustellen. Der Vater nämlich ist wirkend, der Sohn jedoch ist erleidend, und dies kommt von der Eigentümlichkeit des Geborenseins. Da denn der Sohn die ewiglich geborene Weisheit ist, in der alle Dinge in Unterschiedenheit bestehen, darum spricht er: ›Selig ist der Mann, der da wohnt in der Weisheit‹.

Rembrandt, »Die Rückkehr des verlorenen Sohnes«

Es mutet so an, als wollte Rilke mit seiner Deutung der Heimkehr des Verlorenen Sohnes ein Bekenntnis zum christlichen Glauben abgeben; dem ist nicht so. Die ›Malte-Aufzeichnungen‹ sind und Rainer Maria Rilke als Leser Meister Eckharts  |  377

bleiben ein literarisches Kunstwerk mit erkennbaren Nähen zu Meister Eckhart. So ist es wahrscheinlich, daß die ganze HeimkehrGeschichte von der Martha-Maria-Predigt Intravit Iesus in quoddam castellum (Quint 86; DW III,481–492) inspiriert ist. Gegen den Sinn der bibli­schen Er­zählung wird die Position der beiden Frauen Martha (›vita activa‹) und Maria (›vita contem­plativa‹) um­gedreht (DW III,492): Maria saß zu Füßen unseres Herrn und hörte auf seine Worte‹ und lernte, denn sie war vorerst in die Schule genommen und lernte leben. Aber späterhin, als sie gelernt hatte und Christus gen Himmel aufgefahren war und sie den Heiligen Geist empfangen hatte, da erst fing sie an zu dienen und fuhr übers Meer und predigte und lehrte und ward eine Dienerin und Wäscherin der Jünger.

Es ist auch nicht so, als wollte Rilke das Problem der Mystik, die Einheit des Menschen mit Gott, einer Lösung mit poetischen Mitteln zuführen. Es erweist sich als notwendig, zwischen einem wissenschaftlichen Verstehen und einem existentiellen Verstehen zu unterscheiden. Die Wissenschaft muß vor dem individuellen Glauben Halt machen, wie Sören Kierkegaard sagt: Ehre sei der Gelehrsamkeit und Ehre sei dem, der die gelehrte Frage nach der Unsterblichkeit gelehrt behandeln kann. Aber die Frage nach der Unsterblichkeit ist keine gelehrte Frage. Sie ist eine Frage der inneren Existenz, eine Frage, welcher der einzelne sich stellen muß, indem er Einkehr hält bei sich selbst.21

Die ›Malte-Aufzeichnungen‹ verlangen existentielle Leser.

378  |  georg steer 

Anmerkungen

Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, 63.  2  Ebd. 63 und 249, Anm. 6.  3  Rainer Maria Rilke und Marie von Thurn und Taxis: Briefwechsel (Ernst Zinn), Bd. 1, 20.  4  Judith Ryan: Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910), 63–77, hier 64.  5  Meister Eckhart: Mystische Schriften (Gustav Landauer).  6  Meister Eckeharts Schriften und Predigten (Hermann Büttner), 1. Bd. Leipzig 1903 (LVIII und 241  Seiten), 2. Bd. Leipzig 1909 (X und 234  Seiten), Volksausgabe 1934; Neue gekürzte Ausgabe 1959.  7  Rainer Maria Rilke: Briefe aus den Jahren 1904 bis 1907, 72 ff.  8  Magda von Hattingberg: Rilke und Benvenuta: Ein Buch des Dankes, 123.  9  Franz Pfeiffer (Hg.): Meister Eckhart. Erste Abtheilung (Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, Bd. 2). 10  Meister Eckehart: Deutsche Predigten und Traktate, hg. von Josef Quint. Jetzt aufgenommen in: MEW. 11  Meister Eckehart: Deutsche Predigten und Traktate, hg. von Josef Quint, 535. 12  Zitiert nach Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 107. 13  Meister Eckhart: Deutsche Predigten. Vierzig der schönsten deutschen Predigten (hg. von Louise Gnädinger: Predigt XL), 412. 14  Vgl. Gnädinger, a. a.O., 415. 15  Vgl. Gnä­d inger, a. a.O., 404. 16  Mhd. Text: DW II, 502,9–503,5; 504, 8–505,2; 4 f., 506,1 f.: verbesserte Neuedition von Georg Steer in: Lectura Eckhardi I, 168–180, hier 178,5–10; 22 f.; 25 f.; 180, 6 f.: »Her umbe sô bin ich mîn selbes sache nâch mînem wesene, daz êwic ist, und niht nâch mînem gewerdenne, daz zîtlich ist. Her umbe sô bin ich geborn, und nâch mîner gebornen wîse sô bin ich sterblich. Nâch mîner ungebornen wîse sô bin ich êwiclîche gewesen und bin nû und sol êwiclîche blîben. Daz ich bin nâch gebornheit, daz sol sterben und ze nihte werden, wan ez ist zîtlich; her unbe sô muoz ez mit der zît verderben […] ich bin, daz ich was und daz ich blîben sol nû und iemermê. Dâ enpfâhe ich einen îndruk, der mich bringet über alle engel […] wan ich enpfâhe in disem durchbrechenne, daz got und ich ein sîn […] Der diz niht enverstât, der enbekümber sîn herze niht dâ mite. Wan alsô lange der mensche niht glîch enist dirre wârheit, sô lange ensol er dise rede niht verstân.« 17  Franz Jostes: Einleitung. In: Meister Eckhart und seine Jünger, XI. 18  Vgl. Alois Maria Haas: Wind des Absoluten. Mystische Weisheit oder Postmoderne?, vgl. 53–55, hier 54 f.  1 

Rainer Maria Rilke als Leser Meister Eckharts  |  379

Vgl. Helmut Naumann: Gesammelte Malte-Studien. Zu Rilkes ›Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹. Zweiter Teil: Neue Malte-Studien, 1 f. 20  Helmut Naumann: Neue Malte-Studien, 80: »Am 26. Juli traf er zusammen mit Lou Andreas-Salomé in Petersburg ein; am folgenden Tag reiste Lou allein nach Rongas in Finnland weiter, um dort ihren Bruder und dessen Familie auf seinem Landsitz zu besuchen. Sie traf erst am 22. August zur gemeinsamen Rückkehr nach Deutschland wieder in Petersburg ein; so lange blieb Rilke dort allein und arbeitete in Bibliotheken und Museen«. 21  Sören Kierkegaard: Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, 163 f.; dänischer Urtext: Sören Kierkegaard: Samlede Vaerker VII, 143 f. 19 

380  |  georg steer 

– Daniel Joseph Polikoff –

Die unerhörte Mitte Rilkes Gottesvorstellung aus der Perspektive von Joseph Campbells vergleichender Mythologie Keine gründliche Untersuchung von Rilkes Leben und Werk kann die lebenslange Beschäfti­gung des Dichters mit seinem religiösen Erbe außer Acht lassen. Die tiefe Frömmigkeit seiner Mutter hüllte das kindliche Bewußtsein des kleinen René ein – und der unvergängliche Einfluß dieser frühen katholischen Jahre zeigt sich in wichtigen Werken wie in den Christus-Visionen und im StundenBuch. Dennoch kann die reifere Geistigkeit Rilkes letztendlich keiner der traditionellen Glaubensvorstellungen vollständig zugeordnet werden. Eine solche Auffassung würde die entschiedene Hingabe an die Dichtkunst, die den Kern von Rilkes Wesen ausmachte, ganz und gar außer Kraft setzen. Wenn es aber nicht möglich ist, Rilkes eigene Weltanschauung vollständig mit der der etablierten Religionen in Einklang zu bringen, wie können wir dann die geistige Welt, die er in seiner Kunst (und durch sie) erforschte, angemessen begreifen? Wie kann man die Aufgabe der Gottsuche in der Dichtung Rainer Maria Rilkes dann verstehen? In meinem neuesten Buch In the Image of Orpheus: Rilke – A Soul History1 analysiere ich das Leben und Werk Rilkes unter dem Aspekt der vielschichtigen Vorstellung von Seele in der modernen Tiefenpsychologie. In diesem Beitrag möchte ich nun einen ähnlichen und dennoch neuen Weg beschreiten. Angesichts der Erwähnung von Rilkes ausdauernder Arbeit am Mythos durch August Stahl, werde ich das geistige Fundament des Dichters mit Hilfe der vergleichenden Mythologie Joseph Campbells zum Thema machen. Für Leser, die Campbell bisher wenig kennen, seien kurze Hinweise zur Einführung gegeben: Der amerikanische Wissenschaftler Joseph Campbell war einer der Wegbereiter für den Bereich der komparativen Mythologie in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhun  |  381

derts. Obwohl ebenfalls Autor von The Masks of God,2 einem umfassenden Werk in vier Bänden, ist Campbell am besten durch seinen Bestseller The Hero With a Thousand Faces bekannt (1949=The Hero). Heutzutage gibt es Arbeitsgruppen zu Joseph Campbell in vielen Ländern, auch in Deutschland. Man sollte vielleicht von Anfang an betonen, daß Campbell das Thema ›Mythos‹ nicht als irgendein Randgebiet von halb-fantastischen Geschichten verstand, ganz im Gegenteil. Für ihn beschrieb ›Mythos‹ die Grundlage und den Ursprung aller Formen menschlicher Kultur. Dort schreibt er (vgl. The Hero, 3): Es wäre nicht übertrieben zu sagen daß […] Mythos die geheime Öffnung ist, durch die die unerschöpfliche Energie des Kosmos in Manifestationen menschlicher Kultur fließen würde. Religionen, philosophische Strömungen, Kunst, soziale Formen frühzeitlicher und historischer Menschen, die wichtigsten Entdeckungen in Wissenschaft und Technologie, all die Träume, die den Schlaf stören, sprudeln aus dem grundlegenden, magischen Ring des Mythos hervor.

Campbells Untersuchung des Sinnes von ›Mythos‹ berücksichtigt Osten und Westen, primitive und archaische wie auch moderne Kulturen. Die vier Bände seines The Masks of God – nämlich: Primitive Mythology, Oriental Mythology, Occidental Mythology und Creative Mythology – lassen die gröbsten Unterteilungen seiner weitreichenden Forschungsarbeit erkennen. Die Spannweite von Campbells Forschungen ruft einen weitreichenden Blick auf menschliche Spiritualität hervor. Am hervorstechendsten für unsere Thematik ist die Tatsache, daß er dem jüdischchristlichen Gott keinen besonderen Wert im geistigen Bereich zugesteht. Campbell macht geltend, daß vergleichende Mythologie nur dann zur Reife gelangen kann, »wenn Gott zu den Göttern gezählt wird«, betont aber, daß der bloße Gebrauch des Begriffs ›Gott‹ und das daraus folgende Ins-Spiel-Bringen der unzähligen, mit diesem Begriff verknüpften Assoziationen eine Einschränkung und Verwirrung spirituellen Verständnisses bedeuten kann. Er fragt: Wie ist es möglich, Worte oder mythische Formen zu neuem Leben zu erwecken, die in ihrem alltäglichen Gebrauch fest mit unerwünschten Assoziationen verschmolzen sind? Betrachten wir zum 382  |  daniel joseph polikoff 

Beispiel das Wort ›Gott‹. Normalerweise denken wir bei diesem monosyllabischen Wort auf die eine oder andere Weise an die Idee vom ›Gott‹ der Bibel. Benutzt man dieses Wort in Indien würde es jedoch nicht diese Assoziation hervorrufen. Wir benutzen dasselbe Wort für einen griechischen Gott, einen Gott der Babylonier oder der Navajos, die aber tatsächlich sehr verschieden von einander sind, so daß dieses Wort bei einem solch provisorischen Gebrauch keinerlei Bedeutung an sich hat. Eine Bedeutung muß man ihm jedes Mal neu verleihen, wenn man es benutzt.3

»Ist es möglich« überlegt Malte Laurids Brigge (vgl. KA 3,469), »daß es Leute giebt, welche ›Gott‹ sagen und meinen, daß wäre etwas Gemeinsames?« Campbell fährt damit fort, die verschiedenen Gottesvorstellungen zu erläutern, die in der indischen, griechischen und biblischen Handhabung eines einzigen mythologischen Motivs eine Rolle spielen (a. a.O., 189 f.): Offenbar ist das Wort Gott nicht wirklich dazu geeignet, ohne Erklärung verwendet zu werden, wenn Gott als eine Bezeichnung für die mythischen Wesen aller drei Traditionen herhalten soll. Dies vor allen Dingen, da Gott im biblischen Sinn auf eine bestimmte Art und Weise als ein tatsächliches Wesen, eine Art übernatürliche Tatsache angesehen wird, während in den griechischen und indischen Darstellungen des Mythos die Personen und Episoden weder als historisch oder proto-historisch angesehen oder weitergegeben werden, sondern als ein Symbol: Sie verweisen nicht auf reale Ereignisse, die einmal stattgefunden haben sollen, sondern auf metaphysische oder psychologische Mysterien, d. h. auf eine nach innen gerichtete Dimension von uns selbst, hier und jetzt.

Dieser Abschnitt wirft verschiedene provokante Fragen in Zusammenhang mit unserem Thema auf. Rilke begann zwar seine spirituelle Suche sicherlich anhand des Katholizismus seiner Mutter und las sein ganzes Leben lang in der Bibel; dennoch müssen wir uns aber fragen: Wie können wir am besten die Richtung oder das Ziel dieser spirituellen Reise Rilkes charakterisieren und wo führt dieser Weg tatsächlich hin? Genauer gefragt: Wenn im Orient (wie Campbell erklärt) ›der Gott eines Menschen nur seine eigene Konzeptualisierung des Grundes seiner Selbst ist‹, ist dann solch eine VorstelDie unerhörte Mitte  |  383

lung nicht mindestens genauso relevant für ein echtes Verstehen des Gottes des Stunden-Buchs wie die biblische Vorstellung von Gott als einem ›tatsächlichen Wesen‹ oder »einer Art übernatürlicher Tatsache«? Mehr noch: Campbell spricht von einer »historischen (oder proto-historischen) Person« auf der einen Seite und, auf der anderen, von »metaphysischen oder psychologischen Mysterien, … von einer nach innen gerichteten Dimension von uns selbst, hier und jetzt.« Welche dieser Beschreibungen findet den meisten Widerhall in Rilkes Darstellung von Orpheus, dem Gott der Sonette? Sollten wir denn vor diesem Hintergrund nicht die Frage stellen: in welchem Ausmaß und auf welche Art kann Rilkes reifere Geistigkeit als eine Erweiterung seines biblischen Erbes verstanden werden? Bis zu welchem Grad kann man seine Spiritualität im Gegenteil vielmehr als eine Reaktion gegen dieses Erbe und als eine Assimilierung mythischer Strömungen verstehen, als Strömungen, die diesem Erbe fremd und sogar antithetisch dazu sind? Um diese Frage genauer zu untersuchen, werde ich auf einige der Ideen in Campbells The Masks of God zurückgreifen, die dieser in seinen späteren Aufsätzen noch weiter vertieft hat. Beginnen wir also von vorne: d. h. folgen wir den Spuren von Campbells Mutmaßungen über den wesentlichen metaphysischen Inhalt der ältesten Mythologien der Welt. Im Aufsatz The Occult in Myth and Literature beschreibt Campbell, daß die ältesten Mythologien der Welt auf einer unsichtbaren Ordnung basieren, die hinter dem Schleier der fragmentarischen Erfahrung der Menschen innerhalb der Welt von Zeit und Raum fortbesteht (205): Diesem Bereich der Vielfalt zugrunde liegend ist das Mysterium. Und dies ist das Mysteriums unseres Seins, das Mysterium des Vorhandenseins des Universums, das Mysterium des Seins aller Dinge. Es ist verborgen. Und der Begriff für ›verborgen‹ ist okkult. Alle Erfahrungen des Okkulten … scheinen anzudeuten … daß hinter dem Schleier dieses unseres zeitlich-räumlichen Erfahrungsbereichs ein tieferer, wahrerer Bereich existiert, der sich uns ab und zu enthüllt oder in den wir eventuell fallen; und in einem solchen Moment der Hingabe fühlt man sich vielleicht von einem Impuls, der aus dem eigenen tiefsten Inneren stammt, überwältigt … 384  |  daniel joseph polikoff 

Dem ist diese äußerst wichtige Aussage angefügt (ebd.): Die alten Mythologien der ersten Stufe menschlicher Entwicklung betrachten diese ›versteckte‹ Tiefe oder Kraft als immanent, als tatsächlich anzusiedeln innerhalb des Bereichs der phänomenalen Erfahrung.

Campbell erläutert im folgenden, wie die Dimensionen dieser Immanenz im Laufe der Geschichte vervielfältigt und vertieft wurden. Das Aufkommen der ersten Stadtstaaten in Mesopotamien bedingte die Entwicklung einer differenzierten sozialen Ordnung, durch die Spezialisierung von Fähigkeiten möglich war. Die Konsequenzen waren tiefgreifend: Schreiben, Mathematik, Priesterweihen, Königtum, Steuern und monumentale symbolische Bauten entstanden alle in diesem einen historischen Moment in Mesopotamien um ungefähr 3200 vor Christus, von wo aus sich die Idee nach Ägypten ausbreitete …

… und nachfolgend auch nach Kreta, ins Tal des Indus, nach China und Mexiko. Campbell schreibt weiter (a. a.O., 207 f.): Die Grundlage all dieser Erscheinungen war dieselbe fundamentale Vorstellung, die zuerst in den Köpfen der Priester, die den Himmel in Mesopotamien beobachteten, auftauchte. Als sie die Planeten beobachteten … bemerkten diese ersten systematisch arbeitenden Astronomen, daß die Planeten sich durch die festgelegten Konstellationen in mathematisch berechenbaren Geschwindigkeiten bewegen. Und damit kam das Konzept – das es nie zuvor auf der Welt gab– einer kosmischen Ordnung auf, das mathematisch überprüft und kontrolliert werden kann.

Nach einer kurzen Überlegung, wie der menschliche Körper selbst – vor allem der Rhythmus des Herzschlags – dieselbe kosmische Ordnung widerspiegelt, bringt Campbell folgendes vor (a. a.O., 210): Und die letzte Lehre … aus allen großen Mythologien des Bronzezeitalters – ist, daß der Organismus der Menschen und der Organismus des Universums jeweils die kleinen und großen Träger ein und derselben rhythmischen Ordnung sind und daß wir in unserer Artikulation des Jahres, der Zählung der einzelnen Monate und Die unerhörte Mitte  |  385

Tage … ein formales Prinzip erfassen, welches der Kern sowohl des Universums als auch von uns selbst ist … Das ist das Versteckte, das Geheimnisvolle des Universums, der Gesellschaft, von uns selbst und allen Dingen.

Campbell fügt hinzu, daß diese grundlegende Vision eine neue Ausprägung in Indien erfahren hat (ebd.): … zur Zeit der Upanishads, als allgemein anerkannt wurde, daß alle Gottheiten und Dämonen visionäre Projektionen dessen sind, was sich im menschlichen Herzen selbst befindet. Aus diesem Grund sind sie Manifestationen der psychologischen Möglichkeiten der Menschheit, Manifestationen dessen, was in uns selbst verborgen ist. So können wir für diese versteckten Dinge entweder innerlich oder äußerlich suchen und gelangen so, egal auf welchem Weg, zum selben Ort.

Campbell schließt (a. a.O., 211): Und diese Art und Weise, das Okkulte als in sich selbst und allen Dingen immanent zu interpretieren und zu verstehen, ist die Art und Weise dessen, was ich gerne die »primären« Mythologien der Welt nennen möchte, seien sie primitiv, archaisch oder orientalisch.

Nachdem er so den Impetus, der den ›primären‹ Mythologien der Welt zugrunde liegt, beschrieben hat, richtet Campbell seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Er sagt, daß »[i]n unserer westlichen Welt andererseits, bereits in der Levante und im Nahen Osten beginnend, eine radikal andere Denkweise die Oberhand gewonnen hat« (ebd.). Insbesondere »fanden zwei wichtige Neuerungen statt, die die Mythologien der Levante veränderten, was dann auch bald Europa betraf.« Die erste dieser Neuerungen, so Campbell, kam zusammen mit dem Zoroastris­mus auf: Hierin »sind die Prinzipien von Licht und Dunkelheit vollkommen von einander getrennt und die Vorstellung von zwei miteinander rivalisierenden SchöpferGotthei­ten, die eine gut, die andere böse, ausgeprägt.« Solch ein kosmologischer und moralischer Dualismus kann laut Campbells Darstellung in früheren Traditionen nicht gefunden werden, bildet aber eine entscheidende Grundlage für das westliche Gedankengut. So wichtig wie diese Entwick­lung auch gewesen sein mag, die zweite 386  |  daniel joseph polikoff 

dieser Neuerungen stellt sich als noch wichti­ger heraus. Campbell sagt (a. a.O.,212): Die zweite wichtige, alles verändernde Neuerung war diejenige, die mit dem histori­schen Aufstieg an die Macht der semitischen Völker und deren spezieller Vorstellung von Gottheit zusammenhing. In allen anderen Traditionen des Orients und in all unseren früheren indo-europäischen Traditionen wurden die Hauptgottheiten als visionäre Personifikationen der Naturgewalten verstanden, die in diesem Universum und dem Antrieb unser aller Leben das Okkulte repräsentierten. Die verschiedenen örtlichen Stammesgottheiten der »Ahnen« in solchen Systemen haben eine sekundäre, untergeordnete Rolle im Hinblick auf die primären Naturgottheiten … In vielen der wichtigsten semitischen Mythologien, jedoch … ist der Hauptgott die Stammesgottheit.

Campbell erklärt im folgenden, daß Naturgötter oft als größtenteils austauschbar angesehen werden, da der Gott als Personifikation einer allgemein anerkannten Macht angesehen wird. »Wenn Eure Götter Naturgottheiten sind, kann man von einem Ort zum anderen gehen und sagen, ›Den, den Ihr Indra nennt, kennen wir als Zeus.«‹ Campbell findet solch synkretistisches Denken auf der ganzen Welt verbreitet; es entspreche jedoch nicht semitischer Mythologie: Stellen Sie sich einen Hebräer vor, der sagt: »Er, den wir Jahwe nennen, nennt Ihr Indra.« Das wird es nicht geben! Dieser ist der unsrige und etwas Spezielles und Sein Gesetz ist das gesellschaftli­che Gesetz unserer Gruppe, das Gesetz Gottes, welches man uns in der Schule beibringt und Er darf auf keinerlei Art und Weise mit etwas, wie zum Beispiel eure Naturgotthei­ten, verglichen werden. Mehr noch: Er ist der Eine Gott, der wirklich GOTT ist.

Damit korrelierend (ebd.): In dieser Art und Weise erkennt man eine radikale Trennung zwischen dem, was als der Vollendete Gott, einer übernatürlichen und von der Natur getrennten Gottheit, und den Kräften angesehen wird, durch die diese Welt der Natur bewegt wird.

Die unerhörte Mitte  |  387

Laut Campbell verändert diese bedeutende Entwicklung die historische Beziehung zwischen den Menschen und »dem Okkulten« drastisch. Er erläutert (ebd.): Und so haben wir nun mit diesem allem einen vollkommen neuen Typus des Okkulten, eine Art wechselseitiges Okkultes: auf der einen Seite das allgemein anerkannte Okkulte, d. h. die Verehrung unserer eigenen Stammesgottheit, die übernatürlich und die Natur überragend ist, die gut ist und nicht durch das Studium der Natur erkannt werden kann, sondern nur durch »Offenbarung«. Auf der anderen Seite und ganz im Gegensatz dazu steht das diabolische Okkulte der Mächte der Naturreligionen … In diesem mythologischen Zusammenhang wird die Idee des Okkulten als eine Art schwarze Magie in Verbindung gebracht mit den ganzen religiösen Künsten der traditionellen, heidnischen Welt.

All dies spitzt sich gewissermaßen zu, wenn Campbell unsere Aufmerksamkeit auf einen großen Riß in der mythologischen Basis lenkt, die der modernen westlichen Zivilisation zugrunde liegt (a. a.O., 213): Was wir hier zu bemerken haben, ist daher die Tatsache, daß in unserem europäischen christlichen Erbe zwei vollkommen gegensätzliche Mythologien des Okkulten vereint sind: die der Semiten, der Levante von einem übernatürlichen Gott, der in vollkommener Opposition zu den heidnischen Mächten der Natur steht, und dann, dem entgegengesetzt, die von den Griechen und Römern geerbte Vorstellung von Dionysius, diese Vorahnung des Teufels selbst, als eine Gottheit, die irgendwie mit dem Gott des Lichts der klassischen Apollinischen Welt in ein Gleichgewicht und eine Übereinstimmung gebracht werden muß.

Ich gebe zu, daß Campbell die Leser seines Textes nicht gut auf dieses abrupte Auftauchen von Dionysius – und Apollo – vorbereitet. In Zusammenhang mit unserem The­ma – Rilkes Gottsuche – kann man dieses Auftauchen sogar folgenschwer nennen. Ich werde sogleich genauer darauf eingehen; zunächst möchte ich jedoch Campbells eigene Untersuchung des »Okkulten« noch einen Schritt weiterverfolgen. Diese Vorgehensweise wird uns in Sichtweite des 388  |  daniel joseph polikoff 

historischen Horizonts der Moderne bringen, und damit auch zur Schwelle von Rilkes eigener Welt. Wenn am Ende des Mittelalters »die alte Idee der Immanenz des Okkulten« zugunsten der Verehrung des einzig wahren und alles überragenden Gottes einerseits und die Diffamierung jeglicher heidnischer Überzeugungen andererseits aufgegeben wurde, veränderte die wissenschaftliche Revolution und später dann die Aufklärung und der Darwinismus diesen Rahmen nochmals radikal. »Gott« selbst verlor an Autorität – und die Welt (die im Übrigen schon lange desakralisiert und »entzaubert« worden war) wurde nach und nach als ein Zwischenspiel von seelenloser Materie, die von rein physikalischen Gesetzmäßigkeiten reguliert werden, angesehen. Wissenschaft und Säkularismus widerlegten die bloße Idee des Okkulten und lehnten die Vorstellung von jeder wesentlichen unsichtbaren oder spirituellen Wirklichkeit ab, die sich hinter dem Schleier der phänomenalen Welt verbergen könnte. Wir alle kennen die Umrisse dieser verarmten Wirklichkeit, dieses Ödland, in dem jede mögliche Erneuerung »das Züchten von Flieder auf totem Boden« erfordert, da es – im Morgengrauen der Moderne an die Vormacht gelangend – der Horizont unserer eigenen intellektuellen Geschichte bleibt, genauso wie der Rilkes. Selbst (oder gerade) wenn Campbell Anzeichen einer geistlichen Erneuerung beobachtet, einer Verjüngung, die nicht zurückgeht auf die Abrahamitischen Religionen, sondern auf die mythischen Ursprünge des Menschen (a. a.O., 215: »Die Realisierung des Bronzezeitalters einer mikro-makrokosmischen Einheit kehrt zurück«), erklärt und beobachtet er korrelierend dazu »eine langsam erwachende Erkenntnis der Immanenz des Okkulten«. In diesem Zusammenhang erwähnt er zahlreiche kulturelle Phänomene, darunter die Psychologie Jungs und die tiefe mythopoetische Vorstellungskraft moderner Schriftsteller wie Joyce, Mann und T.S. Eliot – die allesamt Meilensteine der Literatur (Ulysses, Der Zauberberg, The Wasteland) in den frühen 1920er Jahren veröffentlicht haben. Nicht erwähnt er Rainer Maria Rilke – dessen Duineser Elegien und Sonette an Orpheus erscheinen im selben kulturellen Moment –, hätte es aber können, da Rilke nur allzu gut als eine dieser avantgardistischen Persönlichkeiten verstanden werden kann, die lebendige Inspiration aus antiken mythologischen Quellen beziehen. Die unerhörte Mitte  |  389

In seinem Aufsatz Über den jungen Dichter verbürgt Rilke sich selbst für diese Theorie. Bei dem Versuch »dieses ungeheuere und kindliche Wesen« des Dichters zu beschreiben, stellt Rilke eine sehr wichtige Verbindung zwischen der schöpferischen Energie her, die die Jugend eines künstlerisch begabten Mensch belebt, und der Energie, die das frühste Zeitalter der Mensch­heit durchdrang (SW VI, 1946 f.): Wäre es noch an dem, daß [die dichterische Natur] nicht mehr vorkäme, daß wir es absehen dürften an den Gedichten Homers … denn was anderes als Vorzeit bricht aus in den mit solchen Gewalten bestürzten Herzen? Hier unter uns, in dieser vielfältig heutigen Stadt … unter dem Lärm der Fahrzeuge und Fabriken und während die Zeitungen ausgerufen werden … ist plötzlich … alle Kraft überwogen durch den Auftritt der Titanen in einem unmündigen Innern.

Nehmen wir einfach unser Stichwort aus Rilkes Erwähnung von Homer und den Titanen und wenden wir unsere Aufmerksamkeit nun endlich der zweiten Hauptströmung der abendländischen Mythologie zu: dem Erbe, welches uns von der bemerkenswerten Genialität des antiken Griechenlands überliefert ist. In seinem Aufsatz The Historical Development of Mythology beginnt Campbell seine Diskussion dieses Erbes mit der Wiedergabe der Mythen, die sich um die Geburt des Dionysius ranken: wie Zeus das Kind mit seiner eigenen Tochter Persephone in einer Höhle nahe der Quelle der Kyane zeugte; wie zwei Titanen (angestiftet von der eifersüchtigen Hera) die Höhle betraten und das Kind in sieben Stücke rissen, alle bis auf das Herz (welches von der Göttin Athene gerettet wurde) rösteten und aßen; wie Zeus die Titanen tötete und das Herz seines Sohnes verschlang und die anschließende Wiedergeburt oder Auferstehung des Dionysius. Campbell bemerkt die extrem primitiven Elemente des Mythos, unterstreicht aber die späteren Veränderungen des mythischen Materials in Orphischen Konventikeln und, in Folge, den prägenden Einfluß der orphischen Schulen auf griechische Philosophen (darunter auch Pythagoras und Platon), und die neoplatonische Strömung, die sich während des gesamten Mittelalters und der Renaissance ausbreitet. Campbell beobachtet, daß der Mensch selbst – in einer Version des Mythos – aus der Asche der ermordeten Titanen emporsteigt 390  |  daniel joseph polikoff 

und so eine gemischte Natur besitzt: ein göttlicher Teil stamme von Dionysius und ein böser Teil von den Titanen. Nach Campbell ähnelt diese Dualität der Zweiheit in der Grundlage des Zoroastrismus; er erklärt, daß die orphische Strömung »dieselbe Idee von der Verpflichtung des Menschen hat, an einem Kampf ethischer Bedeutung teilzunehmen, um so die göttliche Substanz aus dem Würgegriff von Dunkel- und Bosheit zu erlösen.«4 So wichtig wie dieses ethisch-religiöse Erbe auch sein mag, fährt Campbell fort (ebd.): Die orphische Veränderung der Tradition des Dionysius … war weder die einzige noch die wichtigste des griechischen Beitrags zur Entwicklung der mythologischen Gedanken im Westen. Der typischere und schwierigere Einfluß lag in der Sphäre, nicht der Religion, sondern der Kunst, und das müssen wir in Einklang mit einem ganz anderen Regelwerk, Gedanken und Betrachtungen erforschen bzw. unter einem ganz anderen Oberbegriff, nämlich dem der Poetischen Mythologie.

Nun kommen wir zu guter letzt zum mythischen Teil, der so bedeutsam für unser Thema ist. Campbell beginnt seine Erläuterung der Voraussetzungen der »poetischen Mythologie«, indem er aufzeigt, daß viele griechische Philosophen und Künstler vom siebten Jahrhundert vor Christus an »wußten, daß ihr mythologisches Erbe in der Sprache der Vergangenheit verfaßt war.« Cornford bemerkt hierzu (zitiert bei Campbell a. a.O., 18): Der Zeus des Aischylos trägt immer noch den Namen des polygamen Vaters der Götter und der Menschen, durch dessen Temperament seine Gattin zu einer Expertin in weiblicher Täuschung wurde; es ist jedoch klar, daß Aischylos nicht glaubte, daß solch eine Person die Geschicke der Welt lenkte.

Campbell argumentiert demgemäß, daß »eine wichtige Trennungslinie gezogen werden muß … zwischen den Einstellungen zu den Gottheiten durch den Priester und seine Schar auf der einen Seite und auf der anderen der des kreativen Dichters, Künstlers oder Philosophen.« Ersteres führe zu »einer positivistischen Lesart der Bildlichkeit ihres Kultes«, der übernatürlichen Wesen Glauben schenkt und zu ihren Ehrungen rituelle Akte wie zum Beispiel Gebete abDie unerhörte Mitte  |  391

hält. Letztere, »selbst ebenfalls Erfinder von Bildern und Begründer von Ideen«, haben normalerweise ein erhöhtes Bewußtsein der menschlichen Elemente, die alle Formen der Darstellung durchdringen, und halten sich oft von orthodoxen Glaubensformen und Anbetungsritualen fern. Campbell zitiert Cornford, als er die besondere Geschichte beschreibt, die Griechenlands einzigartigen Beitrag zu unserem mythologischen Erbe hervorbrachte: Die griechische Theologie wurde nicht von Priestern oder sogar Propheten formuliert, sondern von Künstlern, Dichtern und Philosophen. Die großen Zivilisationen des Ostens wurden von einer Priesterkaste dominiert, und der Tempel wurde für sie zum Zentrum des intellektuellen und ebenso religiösen Lebens. In Griechenland passierte nichts von alledem. Es gab keine Klasse von Priestern, die eine heilige, in einem heiligen Buch verewigte Tradition von erneuernden Einflüssen beschützte. Es gab keine Heiligen, die erfolgreich behaupten konnten, die Glaubensvorschriften von einer unauslöschlichen Autorität weiterzugeben. Eine Konsequenz war, daß die Vorstellung der Gottheiten vom Kult getrennt und erweitert werden konnte, um Gestalten und Dinge mit aufzunehmen, bei denen noch nie jemand daran gedacht hatte, sie mit in die Verpflichtung zur Verehrung aufzunehmen.5

Daraus folgt (ebd.): Es war das Wunder der Griechen, für schöpferische Gedanken gestanden zu haben – das heißt: für poetische Gedanken – und das in einer Welt, in der für viertausend Jahre dieselben alten Themen bearbeitet und überarbeitet worden waren … aber immer auf die Art und Weise … der Prophezeiung und Religion … Die Kategorie der Kunst – nicht als eine Form der anonymen Handwerkskunst im Dienst von Luxus oder Religion, sondern als ein Vehikel für individuelle Einblicke und Erfahrungen – schuldet die Welt … [diesem] besonderen Umstand im Wesen und der Gesellschaft der Griechen.

Campbell schätzt besonders dieses Erbe, da es als ein Medium für geistliche Erneuerung dient. Wie, so fragt Campbell, soll sich der Mensch verhalten, wenn ererbte Formen (darunter auch religiöse Formen) nicht länger eine authentische Antwort oder Reaktion hervorrufen? 392  |  daniel joseph polikoff 

Der normale Weg besteht darin, sie vorzutäuschen … zu glauben bzw. nach Glauben zu streben vorgeben … Der authentische kreative Weg auf der anderen Seiten, den ich den Weg der Kunst im Gegensatz zu Religion nennen würde, ist mehr oder weniger eine Umkehrung dieser autoritären Ordnung. Der Priester präsentiert gegen Entgelt eine Mischung aus ererbten Formen in der Erwartung …, daß man diese auf eine bestimmte Art interpretieren und erfahren soll, wohingegen der Künstler erst selbst eine Erfahrung macht, die er dann durch effektive Formen zu interpretieren und weiterzugeben versucht (a. a.O., 186).

Campbell zitiert James Joyces klassischen Bildungsroman als ein bedeutendes Beispiel dieser Dynamik und weist außerdem darauf hin, daß der individualisierende Effekt der Kunst mit der Dimension der Interiorität einhergeht, die sich in und durch die am Werk beteiligte Seelenarbeit eröffnet (a. a.O., 196 f.): In Joyces A Portrait of the Artist as a Young Man ist Szene für Szene der Prozeß eines Entkommens von einer traditionellen und dem Anfertigen eines persönlichen Mythos dargestellt, der adäquat für das Ausbilden eines individualisierten Lebens ist. Vom ersten Abschnitt an wird die Aufmerksamkeit auf Gefühle und damit assoziierten Gedanken eines aufwachsenden Jungen als Reaktion auf die Anblicke, Gefühle, Lehren, Personen und Ideale seiner irischkatholischen Umgebung gerichtet … Der Schlüssel zum Vorankommen des Romans liegt in dessen Betonung des Innenliegenden.

Gleichermaßen ist es notwendig zu erkennen, daß die dem Kunstwerk eigene Individualisierung und Interiorität es nicht von der Sphäre des allgemeinen und sogar universellen Interesses abtrennt, im Gegenteil. Campbell richtet den Blick auf das Eintauchen des Protagonisten nicht nur in die zufälligen Details eines Lebens im Dublin des neunzehnten Jahrhunderts, sondern auch auf seine tiefgehende Beschäftigung mit dem, was »schwer und konstant im menschlichen Leiden« ist, und beobachtet (a. a.O., 197), daß das nach innen gerichtete Leben und die dazu gehörige Reise auf keinen Fall ein isolierendes bzw. rein idiosynkratisches Abenteuer Die unerhörte Mitte  |  393

ist, sondern im besten Fall ein Mysteriumsflug von den kleinen Grenzen eines Menschenlebens zum großen Bereich des Universellen.

Das ›Universelle‹, von dem Campbell hier spricht, besteht aus diesen fundamentalen mythologischen Motiven, die die Grundlage aller Religionen und Künste der Welt bilden. Anderswo benennt Campbell sie, unter Berücksichtigung der Werke Carl Jungs, als Archetypen. Jung selbst versteht die Archetypen des kollektiven Unbewußten als die Ursache und die Matrix der Psyche selbst. Diese Perspektive ist hilfreich zur Erklärung, auf welche Art eine Reise ins Innere der individuellen Seele jederzeit die Grenzen der rein persönlichen Erfahrung überschreiten und die Konstanten des menschlichen Zustands erschließen kann. Kunst versus Religion, Individualisierung, der Bereich der Interiorität – solche Dinge sind grundlegend für die Betrachtung von Rilkes eigener spiritueller Reise. Bevor wir uns jedoch unserem Dichter zuwenden, müssen wir eine weitere bedeutsame Dimension zum Verständnis der Archetypen zu unseren bisherigen Erkenntnissen hinzufügen. Als Jung zum ersten Mal die Idee der Archetypen entwickelte, tat er dies im Zusammenhang mit instinktiven Verhaltensmustern wie auch den auslösenden Bildern; sozusagen mit Natur wie auch mit Psyche. Goethe entwickelte eine eng damit verwandte Idee – die der Urphänomene – in einem botanischen anstatt einem psychologischen Kontext. Diese Archetypen prägen sowohl Natur als auch Psyche, gestalten sowohl die ›äußere‹ als auch die innere Welt. In der Tat, verbinden die Archetypen – unsichtbare Saatkörner aller sichtbaren Formen und Bilder – die beiden Welten der Natur und der Seele und definieren die Sphäre ihrer spirituellen Übereinstimmung. Campbell erklärt (a. a.O., 171): … da jeder von uns … nur ein Partikel oder Teil der Natur ist, muß unsere Ausrichtung nach innen in ihrem überpersönlichen, archetypischen, allgemein menschlichen Charakter ebenfalls ein Teil der Natur sein. Wenn wir in unsere eigenen Tiefen vordringen, dringen wir in die Tiefen der Natur vor und die dort enthüllten Landschaften sind innerlich, nicht nur für uns selbst, sondern auch für alles als äußerlich angesehene. 394  |  daniel joseph polikoff 

Wie Rilke selbst es poetischer ausdrückt (SW II,93): Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still durch uns hindurch.

Vielleicht sind wir jetzt in einer Position zu verstehen, warum Campbell die Psychologie Jungs als eines der Zeichen eines Wiederauflebens der fundamentalen Lehren der alten Mythologien des Bronzezeitalters aufgelistet hat. Falls nämlich die Archetypen eine numinose Seinsordnung repräsentieren, die – auch wenn diese selbst verborgen bleibt – nichtsdestotrotz als die Ordnung aller Dinge durch die Seele – und innerhalb der Seele – selbst registriert werden kann, dann kann man diese tiefenpsychologische Vision als eine moderne, erneuerte Version der »Immanenz des Okkulten« verstehen. Die Wahrheit, daß die Archetypen gleichzeitig sowohl Natur als auch die Seele strukturieren, beinhaltet weitere, jedoch ähnliche Implikationen. So unterscheidet Campbell im Anschluß zum Beispiel zwischen zwei »ganz unterschiedlichen Arten von Mythologien«: auf der einen Seite solche, die »die soziologische Lage betonen, auf die der Mythos angewendet wird« und »besteht auf den Gesetzmäßigkeiten dieser sozialen Ordnung als die Gesetze« und, auf der anderen Seite, solche, die von in der Natur bestehenden Ordnung und Kraft stammen. Campbell bemerkt die Unmenge an Regeln und Gesetzen (von denen viele von Gott an Moses weitergegeben wurden) im Alten Testament und versteht die Bibel als ein Beispiel des ersten Typs. Andererseits betont er (a. a.O., 152): Die Regeln der Natur leben im Herzen. Die gesellschaftliche Regeln und Götter sind immer »dort draußen«. Aber die Quelle der Lyrik ist hier, im Herzen. Und das ist der Sinn der nach innen gerichteten Meditation. Hier ist der Ort, an dem sich der Gott befindet, der einem etwas vorschreibt. Hier ist der Ort, an dem die Muse lebt, im eigenen Herzen, nicht dort draußen in irgendeinem Buch.

All dieses ruft fast greifbar den Gott hervor, um den es in Rilkes Sonette an Orpheus geht, sowie die Prozesse der »nach innen gerichteten Meditation« und »Vorschriften«, die (laut dem eigenen Bericht des Dichters) diese berühmte Sonettsequenz hervorbrachDie unerhörte Mitte  |  395

ten. Ist Orpheus selbst nicht tatsächlich das archetypische Bild des eigenen Ausdrucks der Seele dieser ›Regeln‹, die der Natur Ordnung und Harmonie verleihen wie auch die Seele selbst, die in und durch Kunstwerke ihre Übereinstimmung oder Überschneidung enthüllen? Campbells weitere Erklärung der Kunst weist auf eben dieses hin. Sich auf Joyces Diskus­sion der Qualität der sich selbst genügsamen Integrität (integritas), die dem Kunstwerk eigen ist, beziehend, erklärt Campbell (a. a.O.,154), daß das Kunstwerk ein Ding ist, und was innerhalb dieses Dings wichtig ist, ist die Beziehung von Teil zu Teil und von Teil zum Ganzen, der Rhythmus, der Rhythmus der Schönheit. Und das ist der Schlüs­sel zur gesamten Kunst. Das ist der Schlüssel zur Form. Der Rhythmus schlummert im eigenen Körper … und wenn der Rhythmus richtig … getroffen wird, ist das Ergebnis ein Strahlen, ein Entzücken beim Betrachten. Warum? Weil der Rhythmus vor einem der Rhythmus der Natur ist. Es ist der Rhythmus der eigenen Natur. Cezanne sagte einmal, »Kunst ist zur Natur parallele Harmonie.« Kunst ist die Wiedergabe der Schnittstelle zwischen der eigenen Natur und der Natur dort draußen.

Wie schon angedeutet, entwickelt sich diese Schnittstelle aus der kosmischen Ordnung, die in allen Archetypen vorhanden ist, welche die gemeinsame Grundlage von Natur und Seele bilden. Folglich bringen die Kunstwerke eine Wiederbelebung der menschlichen Erfahrung von archetypischen Bildern – darunter diejenigen, welche die Religion prägen – mit sich, die möglicher­weise sonst ihre antreibende Kraft verloren hätten (a. a.O., 193): Ein archetypisches mythologisches Bild soll man nicht gemeinsam mit den archaischen Definitionen seiner Bedeutung wegwerfen. Im Gegenteil. Solche Bilder – die auf magische Art und Weise sofort Zentren des Lebens in uns berühren und erwecken – muß man erhalten, von solchen ›Bedeutungen‹ reinwaschen, sie als Kunst neu zu erfahren (und nicht neu interpretieren).

Dieser Abschnitt folgt auf Campbells Diskussion einer Gruppe verwandter archetypischer Bilder: der Bobaum, unter dem Buddha Erleuchtung fand, das Heilige Kreuz und der Baum des Ewigen Lebens 396  |  daniel joseph polikoff 

im Garten Eden. In seinem Buch The Hero with a Thousand Faces spricht Campbell von einem heiligen Ort, dem symbolischen Zentrum des Universums. « Der Baum des Lebens, d. h. das Universum selbst, wächst von diesem Punkt aus, erklärt er und fügt hinzu, daß der Baum »in der unterstützenden Dunkelheit verwurzelt ist«, selbst wenn das Licht der Sonne durch seine Wipfel scheint. Dieser ›Nabel der Welt‹ ist der Ursprung und das Ende des Universums und – da er das Geheimnis jeder spirituellen Verjüngung enthält – ist er auch das Alpha und Omega der archetypischen Reise des Helden: Der Held als die Inkarnation Gottes ist nämlich selbst der Nabel der Welt, die Nabelschnur, durch die die Energien der Ewigkeit in die Zeit einbrechen. Daher ist der Welt-Nabel das Symbol der fortlaufenden Schöpfung: das Mysterium der Aufrechterhaltung der Welt durch dieses kontinuierliche Wunder der Belebung, was in allen Dingen vorhanden ist.6

Da stieg ein Baum schrieb – oder transkribierte! – Rilke. Orpheus spielt und singt, als er sich an den Stamm lehnt (dem Ort, an dem sich Wurzel und Wipfel treffen) von diesem »hohe[n] Baum im Ohr«: Dies ist ein weiteres Bild desselben symbolischen Zentrums des Kosmos, »die unerhörte Mitte«, die auch der Schnittpunkt von Natur und Seele ist, das Verschmelzen von innerer und äußerer Welt im Tempel des Ohrs, dem unsichtbaren Universum des Tons. Das Lied des Orpheus, die lyrische Stimme, bringt im Spiel keine abgenutzten Assoziationen mit ein, sondern die allen Dingen zugrunde liegende Ordnung, die dem Kosmos innewohnende Harmonie; die archetypischen Muster, die auch den Kern der ›okkulten‹ Wirklichkeit bilden, welchen – selbst in unsichtbarer Form – in allen Phänomenen des Lebens immanent vorhanden ist und in allen Dingen als der Atem allen Lebens pulsiert. Ein Wehn in Gott schreibt Rilke, aber der Gott, der den Sonettzyklus inspiriert, welcher wiederum Rilkes Werk krönt, – dieses mythische Wesen, das die archetypische poetische Natur seiner tiefsten Seele widerspiegelt – kann nicht als eine Version irgendeines biblischen Prototyps verstanden werden. Diesen Beitrag möchte ich mit einer kurzen Zusammenfassung und einem kleinen poetischen Reisebericht beschließen. Zuerst also die Zusammenfassung. Die unerhörte Mitte  |  397

Campbell bemerkt die unterschwellige Spannung in den Differenzen zwischen den mythologischen Erbschaften der westlichen Levante und der Klassik, wobei er betont, daß letztere – weitaus mehr als die der Levante – ein mythologisches Rahmenwerk bereithält, die die eigene poetische Kreativität der menschlichen Seele als zentral zu deren spirituellem Charakter postuliert. Rilke lebte diese Spannung und versuchte – bewußt oder unbewußt – die verschiedenen Elemente seiner mythologische Abstammung miteinander zu versöhnen. Der Weg seiner poetischen Laufbahn entfaltet sich in der Folge als eine Mischung zweier verschiedener, jedoch verwandter Initiativen: auf der einen Seite immer radikalere Verwandlungen der mythologischen Strömung, die von Rilkes jüdischchristlichem Erbe ausgeht, und auf der anderen Seite eine tiefer werdende Beschäftigung mit anderen mythologischen Paradigmen. Diese letzteren verteilen sich auf zwei Kategorien: archaische Mythologien wie zum Beispiel die der Ägypter, die zu einem Sinn für die »Immanenz des Okkulten« beitragen und der den semitischen Strömungen fremd ist, und – damit verwandt – das mythologische Erbe der Griechen, was sowohl den Sinn für eine in Seele und Natur immanente Gottheit verstärkt als auch Kunst als einen Weg zum privilegierten Zugang der individuellen Seele zur archetypischen Welt, die als die unsichtbare oder ›okkulte‹ Grundlage aller Dinge gilt, ansieht. Und nun der Reisebericht: Ich habe die Wichtigkeit des religiösen Hintergrunds Rilkes erwähnt und doch betonen bereits die frühen Gedichtsammlungen Rilkes – Traumgekrönt zum Beispiel – die zunehmende Distanzierung des Dichters vom Christentum und eine Hinwendung zu einer Spiritualität, die sich auf die eigene kreative Fantasie der menschlichen Seele konzentriert. Seine bedeutsamen Christus-Visionen sind wichtig für die einfallsreiche Dekonstruktion zahlreicher Pfeiler des populären Glaubens, wohingegen seine Reise nach Italien im Jahr 1898 eine lebenslange Verbindung zu einer Renaissance-Bewegung initiierte, die – obwohl oft mit religiösen Themen beschäftigt – tiefgreifend von klassischen Idealen beeinflußt war, was sich auch nicht ändern sollte. Inspiriert von russischer Spiritualität und Lou Andreas-Salomés Arbeiten zu Psychologie und Religion, stützen sich sein StundenBuch und das Begleitwerk (Geschichten vom Lieben Gott) sehr auf 398  |  daniel joseph polikoff 

gewisse Aspekte des katholischen Hintergrunds Rilkes, unternehmen jedoch zur selben Zeit eine radikale Revision des Gottesbildes der mythologischen Strömung der Levante; Rilke erschafft also das traditionelle Bild von Gott neu, damit es so mit seinen eigenen poetischen Initiativen konform ist. Diese neue Vorstellung »eines dunklen Gottes«, der in allen Dingen immanent und von der eigenen Kreativität der Menschen abhängig ist, gliedert orientalischmetaphysische und humanistische Stränge in Rilkes einzigartige Religiosität ein. Das Stundenbuch, egal wie wenig orthodox es sein mag, bleibt tief mit dem Gott des biblischen Erbes verbunden. Nicht jedoch Rilke in Worpswede: als er den bezaubernden Künstlerkreis (darunter selbstverständlich auch Landschaftsmaler) in der norddeutschen Künstlerkolonie betritt, verschwindet ›Gott‹ für eine Zeitlang fast vollständig aus Rilkes Vokabular, während die Idee von einer Kunst im Bund mit der Natur all seine Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Das mythologische Erbe der griechischen Idee von Kunst »als einem Vehikel für individuelle Einsicht und Erfahrung« und nicht im Dienst des religiösen Glaubens treten stärker hervor. Rilkes Verbindung mit dem Strom dieses klassischen Erbes vertieft sich im Laufe seiner Zusammenarbeit mit Rodin – dessen Skulpturen sich vor allem auf klassische Skulpturen stützten – und durch Rilkes Studien griechischer Mythologie mit Professor Georg Simmel. Es stimmt, daß sich das biblische und klassische mythologische Erbe in Rilke oft fast nahtlos miteinander verknüpfen, wie zum Beispiel in einigen der Neuen Gedichte, die biblische Inhalte und klassische Formen miteinander verbinden, selbst wenn die unterschwellige Spannung zwischen diesen beiden Strömungen immer vorhanden ist. Sehen wir uns zum Beispiel Malte an: Der letzte Abschnitt und die Revision der Parabel vom verlorenen Sohn entspringt der Bibel. Ein größerer Eintrag, der kurz zuvor erscheint, schildert andererseits einen älteren Mann, der von seiner keuschen Liebe zu einem jungen Mädchen in seinem Bekanntenkreis inspiriert wird, Fragmente der Werke Sapphos zu übersetzen und so eine wunderschön bewegende Erinnerung an die gesamte Antike erschafft. Es ist ein Zeugnis von Rilkes visionärer Kraft, daß solche Abschnitte sich eher ergänzen als sie unvereinbar miteinander erscheinen lasDie unerhörte Mitte  |  399

sen; nichtsdestotrotz ist der Widerhall der eher radikalen Unterschiede zwischen den biblischen und klassischen Paradigmen, die von Campbell hervorgehoben wurden, in Rilkes Text zu spüren und trägt so zum Grad der Zusammenhanglosigkeit bei, die das Werk zugleich belebt und heimsucht. In seinen Elegien begegnet der Dichter einer phänomenalen Welt, die desakralisiert ist. Gottes Gesandter, der Engel, bleibt zwar vor Ort, das Gedicht aber zielt auf die Verjüngung einer Welt ab, die bedeutungslos geworden ist. Dies jedoch nicht durch die Neubelebung abgenutzter Glaubensvorstellungen, sondern – teilweise von ägyptischen Bildern inspiriert – durch die Wiederentdeckung einer unsichtbaren oder okkulten kosmischen Ordnung, die in allen Dingen immanent vorhanden ist; einer Art zugrunde liegenden Schönheit, die zu enthüllen die spezielle Berufung des Dichters durch seine Kunst ist. In seinen Sonetten – bedeutsamerweise eine Gedichtform aus der Renaissance – findet Rilke den ›Gott‹, der für diese göttliche Idee steht; den archetypischen Repräsentanten der »unerhörten Mitte«: das ist die schöpferische Quelle der Natur wie auch seiner eigenen poetischen Seele innewohnenden Harmonien: Da stieg ein Baum … Orpheus singt. Rilkes Suche nach ›Gott‹ war immer – wie der Dichter selbst bereits zur Zeit seiner Italienreise erklärt – eine Suche nach dem Selbst.

Anmerkungen

Daniel Joseph Polikoff: In the Image of Orpheus: Rilke – A Soul History. Joseph Campbell: The Masks of God. Vol. I: Primitive Mythology. Vol. II: Oriental Mythology; Vol. III, Occidental Mythology; Vol. IV, Creative Mythology (die im folgenden zitierten Stellen aus Arbeiten von Campbell sind von Daniel J. Polikoff ins Deutsche übersetzt). 3  Joseph Campbell: The Mythic Dimension, Selected Essays 1959–1987, 186. 4  Joseph Campbell: Mythic Dimension, 17. 5  Zitiert nach Joseph Campbell: Mythic Dimension, 19. 6  Joseph Campbell, The Hero With a Thousand Faces, 41. 1 

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– Thomas Pittrof –

Rilkes ›Gott‹ und der Polytheismus der modernen Kultur Die folgenden Überlegungen haben in thesenhafter Kürze zum Gegenstand 1. den Begriff der ›Gottesfrage‹ selbst sowie 2. Rilkes dichterisches Reden von Gott, und zwar beides aus der Perspektive eines Historikers der Religionsgeschichte um 1900, genauer: aus der Sicht eines Historikers der Kommunikation über Religion um 1900. Nur in diesem Zusammenhang kommt auch die Formel vom ›Polytheismus der modernen Kultur‹ in Betracht.1 Sie markiert ein bis heute nachwirkendes historisches Apriori des Redens über Gott, nämlich den religionsgeschichtlichen Befund, daß um 1900 in Bezug auf Religion alle Positionen zu vertreten möglich geworden ist. Es gibt nichts, was nicht gesagt, gedacht, vertreten, bekannt werden könnte: das schlichte Glaubenszeugnis, die undogmatische Jesusgläubigkeit, die bürgerliche Kirchenreligiosität vornehmlich kulturprotestantischer oder katholischer Prägung, dann alle Formen einer antibürgerlichen, kirchendistanzierten, un-, gegen- und überkonfessionell ›vagierenden‹2 Freireligiosität, es gibt den lebensphilosophischen Monismus, den ›Gott ist tot‹-Ruf und die neopagane Wiederkehr der Götter, den offensiven Atheismus ebenso wie betonte Indifferenz und Desinteresse. Vor diesem Hintergrund einer um 1900 verbreiteten und gesellschaftlich akzeptierten Pluralisierung des Diskursuniversums religiöser Rede muß sich auch die Rede von der ›Gottesfrage‹ der Frage stellen, was mit ihr eigentlich gemeint ist. M. a. W.: Die Pluralisierung des Sprechens über Gott um 1900 ist nicht nur ein historisches Apriori der Rilkeschen Gottesrede. Sie gehört m. E. auch zum Voraussetzungssystem der sog. Gottesfrage selbst. Ist damit tatsächlich so etwas wie eine universale Fragehaltung des Menschengeschlechts gemeint, die eben auch bei Rilke zur Sprachwerdung drängt, eine religionskulturelle Universalie aller Völker und Zeiten? Oder ist ganz im Gegenteil die Rede von der Gottesfrage ein religionskulturelles Spalt- und Spätprodukt,   |  401

der Versuch, ein Feld religiöser Rede semantisch und konzeptuell in den Griff zu bekommen, das auf Grund der außertheologischen Verwissenschaftlichung der Religion längst der Diskurskontrolle der Theologen und der Deutungshoheit der Amtskirchen entwachsen ist, aber auf Grund dieser Erweiterung unseres historischen Bewußtseins durch die Religionswissenschaften ins Unabsehbare gewachsen ist? Immerhin ist folgendes zu bedenken: Wenn Religion nicht mehr an Konfession gebunden ist: woran erkennt man in fortgeschrittenen, d. h. umfassend medialisierten Gesellschaften dann, was religiöses Sprechen eigentlich ist? Die Antwort lautet: Transzendenzbezug. Religiöse Rede definiert sich über ihren Transzendenzbezug. Man sieht, warum diese Antwort gern gegeben wird. ›Transzendenz‹ springt als Differenzkriterium, als spezifisches Merkmal ein, wenn ›Konfessionalität‹ nicht mehr funktioniert. Aber erstens gibt es alle möglichen Formen innerweltlicher Transzendenz, die als solche noch nicht religiös sind. Zum Beispiel ist jede Objekterkenntnis Transzendenz von Innenwelt. Indem ich urteile: Das ist ein Stuhl, gehe ich über das Subjektive von Sinnesdaten, Wahrnehmungen, Empfindungen usw. hinaus, überschreite ich Subjektivität auf Objektivität hin. Daran, an dieser Transzendenz von Innenwelt auf Außenwelt hin, die ich ständig vollziehe, ist nichts Religiöses. Zweitens ist aber auch nicht jeder Glaubensbezug und damit jede religiöse Rede Transzendenzbezug. Das zeigt ja bereits die Formel vom ›Immanenzglauben‹. Historisch bezieht sie sich auf Gestaltbildungen wie den Pantheismus, die große Intellektuellenreligion um 1800, oder den lebensphilosophischen Monismus um 1900. Beide Gestaltbildungen zielen gerade auf die Einverwandlung alles Transzendenten ins Immanente, auf die Aufhebung dieses Unterschieds. Also wir haben hier seit 1770 in einem Teilbereich eine religionsgeschichtliche Entwicklung, die das Spezifische der religiösen Orientierung nicht in der Erfüllung der Intention auf Transzendenz sucht, sondern in der Erfahrung einer umfassenden Ganzheit, in der Erfahrung nicht intendierbarer Horizonte mithin. Schließlich, drittens: Infolge der diskursiven Inflationierung des Redens über Religion sowie des Wechsels der Diskursbedingungen für das Reden über Religion funktionieren elementare Negationen und Ausschließungsmechanismen nicht mehr. Schleiermacher bringt bereits um 1800 diesen Wechsel der Diskursbedingungen auf den Punkt: Seine 402  |  thomas pittrof 

Reden über Religion richten sich an die »Gebildeten unter ihren Verächtern«. Damit wird deutlich: Das Reden über Religion läuft nicht mehr über die Glaubensbindung, sondern vielmehr über die Kritik an ihr: die dem 19. Jahrhundert gemäße Form des Redens über Religion ist die Religionskritik. Das wird bei manchen Intellektuellen geradezu zu einer Diskursbedingung. Damit wird Religionskritik aber interpretierbar als Form eines diskursiven Interesses an Religion, ja mehr noch: als Gestalt eines religiösen Interesses, das nicht anders artikuliert werden kann als über diese ständige Negation. Das Reden über Religion, das religiös imprägnierte Sprechen wird zu einer langen Folge versäumter Abschiede. Man kommt davon einfach nicht los – am wenigsten bei für die Moderne so wirkmächtigen Gestalten wie Baudelaire oder Nietzsche. Damit wird es nun aber langsam schwierig zu bestimmen, was denn nun wirklich ein religionsfreies Sprechen ist, wenn nun auch Gestaltbildungen der Negativität in das Diskursuniversum des Redens über Religion integriert werden können (Rilke: »Dir ist mein Beten keine Blasphemie« [1901. KA 1,206. Hvh.v.Vf.]), ja sogar behauptet werden kann, gerade diese Formen der Negativität, der provokativen Abwertung und Umbesetzung seien Weisen eines besonders authentischen Sprechens, eines besonders intensiven Bezugs auf Religion. – Bleibt eine vierte Antwort auf die Frage, woran sich denn nun religiöse Rede eindeutig erkennen lasse: nämlich an der Identifikation des Sprechakts, als der sie ergeht. Die der religiösen Rede ureigenste Form ist das Gebet: das Sprechen zu einem, der als Grund allen Seins doch als Du angesprochen werden darf, in der Bindung des Sprechers an das, was er von sich in dieses Gebet hineinträgt. Aber da haben wir nun das Pech oder das Problem, daß es in der Lyrik den Begriff des Rollengedichts gibt (vgl. dazu zu Rilke die Ausführungen KA 1,801). Und der ist in gewisser Weise unhintergehbar. Wir können nie sicher sein, ob da ein dichterisches Ich ›wirklich‹ betet oder in einer dichterischen Inszenierung des Gebetsakts nur die Sprecherrolle, die Haltung eines Beters fingiert wird, was für den Verpflichtungscharakter dieses Sprechens einen ziemlichen Unterschied macht.

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Wie ist nun in dieses Voraussetzungsgefüge »Rilkes Gottesfrage« einzuordnen? Ich antworte mit fünf Thesen: 1. Rilke partizipiert mit seiner Dichtung an der Inflationierung der religiösen Semantik um 1900 wie kein anderer Dichter der klassischen Moderne. Schon 1971 hat Werner Kohlschmidt vermutet, »daß eine statistische Erfassung des Wortes ›Gott‹ bei Rilke, den gesamten Briefwechsel miteinbegriffen, […] aller Wahrscheinlichkeit nach Belege in vierstelligen Zahlen ergeben würde. Mehr als bei Dichtern, die sich selber als christlich verstanden wie Gotthelf oder die Droste.«3 Wie dieser Sachverhalt aus christentumsgeschichtlicher Perspektive zu beurteilen ist, ob er, wie Kohlschmidt und andere kritisiert haben, zu einem Prägnanzverlust religiöser Gestaltbildungen und religiöser Rede geführt hat, zu einer Entkernung der religiösen Semantiken, einer Erosion, einer Diffusion, vielleicht auch Funktionalisierung christlicher Gottesrede, das lasse ich hier alles offen. Entscheidend ist jedoch: All die Probleme, die sich aus dieser christentumsgeschichtlichen Sicht, aber auch aus einer kommunikationsgeschichtlichen Perspektive mit dem Reden über Religion in der Moderne verbinden, entstehen nicht aus einer Diskursverknappung, sondern aus einer Diskursvermehrung des Sprechens über Religion. Das Feld der Akteure ist unübersehbar geworden. Jeder darf mitreden, und keinem Gesprächsbeitrag darf Erheblichkeit versagt werden. 2. Prägnanzgewinn verschafft Rilke deshalb der religiösen Rede seiner Dichtung mit einer Technik der Diskursverknappung. Prägnanzgewinn als Folge von Diskursverknappung resultiert erstens aus der Entscheidung für den Primat der Lyrik im Sprechen über Religion überhaupt, dann aber auch aus gewissen Stilzügen sowie Sprechhaltungen dieser Lyriksprache; im esoterisch anmutenden Sprechen insbesondere wird solche Diskursverknappung zum dichterischen Habitus; Esoterik ist (auch) eine Folge von Weglassen und Verschweigen (dessen nämlich, was man andernorts gelesen hat).4 Prägnanzgewinn resultiert zweitens aus der Konzentration auf das wiederholte Umkreisen zentraler Konzepte und Wortfelder wie bspw. das Schweigen oder das Hören, die durchaus auf den Formenschatz genuin religiöser und Denkfiguren theologischer Rede 404  |  thomas pittrof 

zurückgreifen. Rilkes Rede von Gott ist insofern eine Rekonfigurierung des religiösen Diskurses im Medium der Dichtung, was im übrigen keine sonderlich originelle Feststellung ist; das Besondere ist, daß sich dieses überfließende Sprechen von Gott, aufs Ganze gesehen anmutend fast wie eine Enzyklopädie der Formen religiöser Rede, daß sich dieses Sprechen gerade ins Zeichen der Verinnerlichung, des Sich-Zurücknehmens, des Abstreifens alles Bedingenden stellt und damit auf einen Prozeß der Abstraktion zuläuft, in dem Erfahrungen der ästhetischen und religiösen Moderne konvergieren. »Vor dem Betreten des Allerheiligsten mußt Du die Schuhe ausziehn, aber nicht nur die Schuhe, sondern alles, Reisekleid und Gepäck, und darunter die Nacktheit, und alles, was unter der Nacktheit ist, […] und dann den Kern und den Kern des Kerns, dann das Übrige und dann den Rest und dann noch den Schein des unvergänglichen Feuers. Erst das Feuer selbst wird vom Allerheiligsten aufgesogen und läßt sich von ihm aufsaugen, keines von beiden kann dem widerstehen.« So Kafka.5 Aber auch bei Rilke heißt es 1906 (KA 1,149): »nackt wie ein Heiliger. Hell und schlank«. Wenn man also von einem Gestaltenwandel oder Gestaltenreichtum der Religion in Rilkes Werk sprechen möchte, der in manchem die Strömungen und Tendenzen seiner religionsgeschichtlichen Umwelt spiegelt, dann ist dies ein Gestaltwandel, der sich wesentlich dem überschießenden und insofern bindungslosen, a-religiösen Entwurfscharakter dichterischer Sprache verdankt. Nicht zuletzt das symbolistische Dichtungskonzept des ›Vorwands‹ (vgl. dazu KA 1,662 f.; 4,65 f.) könnte solche Entbindung begünstigt haben. Demnach sind alle »›Inhalte‹, alle ›Stoffe‹ […] für den Künstler nur ›Vorwände‹ zum Ausdruck ›feinster Gefühlsoffenbarungen‹, ›eigener tiefster Empfindungen‹, ›tiefinnerster Sensationen‹« (KA 1,662). »Die Götter […]: schlechtes Stilprinzip, wenn man religiös wird, erweicht der Ausdruck«, schrieb bekanntlich Benn.6 Rilkes ›Gott‹ – trefflicher »Vorwand« einer symbolistischen Poetik für dichterische Freireligiosität? 3. Schwierig dürfte es auf alle Fälle sein, Rilkes dichterische Rede von Gott als persönliches Glaubenszeugnis zu interpretieren, und dies weniger ihrer »manifeste[n] Heterodoxien« halber (KA 1,736) wie der »Gleichsetzung von Gott und Sexualität […]: ›Gott, das GeRilkes ›Gott‹ und der Polytheismus der modernen Kultur  |  405

schlecht‹« (1898. KA 1,739), sondern auch aus prinzipiellen Gründen. Religiöse Prägungen in Rilkes Schulzeit sind zwar gegeben,7 und er hat später intensiv und wiederholt die Bibel gelesen. Sicher scheint mir aber zu sein, daß es im religiösen Sprechen Rilkes keine heilsgeschichtliche Dimension gibt, und sowohl Kohlschmidt wie (mit anderen Gründen) Guardini haben kritisiert, daß Rilkes Bestreben darauf gerichtet gewesen sei, aus dem Denken des religiösen Bezugs die Bindung an ein verpflichtend antwortendes Du gerade herauszuhalten,8 daß ihr also eine fundamentale Bindungsschwäche nicht bloß eingepflanzt, sondern daß sie gerade aus diesem elementaren Mangel erwachsen sei. An dieser Kritik mag etwas sein, wenn man sich verdeutlicht, daß Rilkes Idee des ›reinen Bezugs‹ eigentlich ihre sinnfälligste Realisierung in der Musik findet.9 Die Musik ruft intensiv Emotionen auf, ohne sie an Personen, an ein personales Gegenüber, zu binden; das ist ihre Schönheit wie Abständigkeit vom Leben, und genau im Blick auf diesen Reichtum wie Fehl mag man Rilkes Dichtung mit Max Webers Formulierung als »religiös musikalisch« in einem eminenten Sinn bezeichnen, ohne daß sich daraus die geringste Aussage über eine Glaubensbindung ableiten ließe. Denn: »Der Künstler ist durchaus irreligiös – daher kann er in Religion wie in Bronze arbeiten«, wie Novalis schon 1799 bemerkt,10 einer »Sattelzeit« auch in religionsgeschichtlicher Hinsicht. So weit, d. h. bis zur Behauptung der prinzipiellen Irreligiosität des Künstlers Rilke, will ich gar nicht gehen. Gleichwohl scheinen mir aber seine diesbezüglichen Gedichte doch eher Kundgaben in einem Feld des zunehmend experimentell ergriffenen Religiösen, vergleichbar den zeichnerischen Ausdrucksstudien und Gewandfiguren eines Malers, der damit zu ganz Anderem unterwegs ist. Was dieses ›ganz Andere‹ sei, hat Rilke m. E. mehrfach unmißverständlich ausgesprochen, nämlich eine Allverbundenheit, ein universaler Kommunikationszusammenhang alles Seienden, auf den sich der Dichter in besonderer Weise zu öffnen habe (1898; KA 4,65): »Kunst erscheint mir als das Bestreben eines Einzelnen, über das Enge und Dunkle hin, eine Verständigung zu finden mit allen Dingen, mit den kleinsten, wie mit den größten, und in solchen beständigen Zwiegesprächen näher zu kommen zu den letzten leisen Quellen alles Lebens.« Oder: »Sei es das Singen einer Lampe oder die Stimme des Sturms, sei es das Atmen des Abends oder das Stöhnen des Meeres, das dich 406  |  thomas pittrof 

umgiebt – immer wacht hinter dir eine breite Melodie, aus tausend Stimmen gewoben, in der nur da und dort dein Solo Raum hat.«11 Von diesem Gedanken eines Seins als vielstimmigen Kommunikationsgeschehens her läßt sich auch eine mögliche Alternative zu einer bekenntnishaften Deutung der religiösen Lyrik Rilkes formulieren: Sie ist nicht subjektive Ich-Aussprache, sondern dichterische Phänomenologie der religiösen Erfahrung eines Ichs, das gerade vieles an verstellenden Voreinstellungen12 abstreifen muß, um zum Eigentlichen des Bezugs vorzudringen, also geradezu Entsubjektivierung religiöser Rede im Dienst einer Phänomenologie der religiösen Erfahrung.13 Wie dieser hohe Anspruch mit manchem Kunstgewerblichen in dieser Lyrik zu vereinbaren ist, lasse ich allerdings gleichfalls offen. 4. Unübersehbar bei Rilke ist die Prägung seines frühen Sprechens über Religion durch Heimatkunst und Neuromantik. Man sollte aber auch bemerken, was ihn von der Religiosität des nachfolgenden expressionistischen Jahrzehnts unterscheidet. Das ist das weitgehende Fehlen einer messianischen, gar chiliastisch erregten Religiosität. Der bedeutende Religionshistoriker Ernst Benz hat die »Akzeleration der Zeit als geschichtliches und heilsgeschichtliches Problem« thematisiert.14 Es gibt dieses Problem bei Rilke nicht, soweit ich sehe. Der ganze Komplex von Heilsgeschichte, Geschichtstheologie und Prophetentum, einem kommenden Gott und einer zukünftigen Kirche fällt weitgehend aus.15 Ein einziges Mal läßt sich Rilke auf den Gott der geschichtlichen Weltzeit ein. Das sind die bekannt problematischen fünf Gesänge vom August 1914 mit ihrer Feststellung »Endlich ein Gott« (KA 2,106–111; dazu der Kommentar der Hg.). 5. »Ich habe kein Vaterhaus […] Und bin doch manch eines Erbe.« (Der Letzte. KA 1,279) Diese durchaus aus dem Zusammenhang gerissenen Verse Rilkes aus dem Jahr 1900 beschreiben genau die religionsgeschichtliche Situation ihres Verfassers. Rilke ist der religiösen Herkunftswelt des Christentums innerlich entwachsen, vielleicht auch schon frühzeitig entfremdet, insofern ohne »Vaterhaus«, aber zugleich der Erbe einer reichen Kulturgeschichte und Geschichtskultur, mithin Träger eines historischen Bewußtseins. Rilkes ›Gott‹ und der Polytheismus der modernen Kultur  |  407

Daraus erklärt sich, daß es in Rilkes religiöser Lyrik nicht nur die Sprachfiguren einer ins Zeichen der Unmittelbarkeit gestellten Gotteserfahrung stark existenziellen Gepräges gibt. Rilkes Lyrik kennt und benennt auch die kulturgeschichtlichen Prozesse der Vermittlung des Göttlichen. Rilkes Sprechen von Gott (und mehr noch von den Göttern) ist mithin ein kultur- und religionsgeschichtlich informiertes Sprechen. Rilke selbst ist, wie er das Dichter-Ich des Buches Vom mönchischen Leben sagen läßt, bei den »Mythenmeldern« (1899. KA 1,192) in die Schule gegangen. Und so, wie es bei Rilke eine Enzyklopädie der Formen religiöser Rede gibt, gibt es bei ihm auch eine historische Phänomenologie religionsgeschichtlicher Prozesse. Zu diesen Prozessen gehören insbesondere die Translation, die Mediatisierung,16 die Depotenzierung und das Ende einer religionsgeschichtlichen Formation, seit Schillers Die Götter Griechenlands (1788/1800) bekanntlich ein großes Thema der deutschen Lyrik um 1800. Und es scheint mir nun abschließend höchst interessant, wie Rilke einerseits sich als Exponent dieser religionsgeschichtlichen Bewußtseinsbildung reflektiert, um andererseits deren spezifische Gefährdung abzuwehren, nämlich die Auflösung alles Wirklichen in einer umfassenden Historisierung, das Sichverlieren in einem umfassenden Geltungsverlust. In einem späten Gedicht vom 16./17. Februar 1922 heißt es diesbezüglich (KA 2,280 f.): »Keiner der Götter vergeh. Wir brauchen sie alle und je­den,/jedes gelte uns noch, jedes gestaltete Bild./Laßt euch, was ruhig geruht, nicht in den Herzen zerreden./Sind wir auch anders, als die, denen noch Feste gelangen,/dieser leistende Strahl, der uns als Stärke entquillt,/ist über große, zu uns, Aquädukte gegangen.« Rilke spricht es deutlich aus: Wir haben zwar noch, diesem Gedicht zufolge, den Anschluß an den großen Kraftstrom der Antike (»dieser leistende Strahl, der uns als Stärke entquillt«). Wir stehen aber nicht mehr in einem Verhältnis der Unmittelbarkeit zu ihm. Erstens ist er uns zugeflossen über »große […] Aquädukte«, lange geschichtliche Vermittlungswege. Und zweitens sind wir durch diese historische Distanz nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich, von unserem Lebensgefühl her weit von jener Epoche geschieden; wir sind nämlich, wie Rilke betont sagt, »anders, als die, denen noch Feste gelangen« (Hvh.v.Vf.). Trotzdem sollen wir aber das, was einst »ruhig geruht«, uns »nicht in den Herzen zerreden«, d. h. der ›zersetzenden‹ Intellektuellen408  |  thomas pittrof 

und Reflexionskultur des modernen historischen Bewußtseins opfern und gleichsam im Säurebad dieses Bewußtseins aufgehen lassen. Vielmehr gelte: »Keiner der Götter vergeh. Wir brauchen sie alle und jeden,/jedes gelte uns noch, jedes gestaltete Bild.« Und das ist nichts anderes als die Versetzung der Götter ins zeitenthobene Simultaneum der Kunst. Nur als »gestaltete[s] Bild« (Hvh.v.Vf.) ja können wir die Götter noch brauchen, dann und allerdings aber »alle und jeden«. Das ist eine Position, die der Schillers17 doch recht nahe kommt und von der man sich überlegen könnte, wie weit Rilke diese klassizistische Ausgabe seiner antihistoristischen Poetik ihrerseits als historisch dadurch markiert, daß er sie im Rückgriff auf ein antikes Versmaß (den sechshebigen Pentameter) und nicht etwa freirhythmisch artikuliert. Wie aber auch immer: Deutlich wird, daß wir hier am Ende einer Figur begegnen, die für die Historismusproblematik der Zeit um 1900 ganz typisch ist, nämlich dem Umschlag von Historisierung in Enthistorisierung. Die philosophische Antwort auf dieses Historismusproblem bei Husserl lautete ja bekanntlich: Phänomenologie. Ist das Phänomenologischwerden der Rede von Gott bei Rilke ebenso wie die Entrückung ins Esoterische ihrer Abstraktionsbildungen letztlich abkünftig vom Historismusproblem, eine ihm entwundene Sekundärbildung mit der Anmutung einer primären Erfahrung? Rilke sagt 1914 (KA 2,113. Hvh.v.Vf.): »Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen,/aus jeder Wendung weht es her: Gedenk! […]//Wer trennt/ uns von den alten, den vergangnen Jahren?« So getan, als hätte er’s getan, hat Rilke jedenfalls. Hat er es wirklich? Oder ist sein Sprechen von Gott eine ›Anders-Rede‹ in einem sehr speziellen Sinn: die Ausfaltung eines großen kulturkritischen und lebensreformatorischen Grundimpulses der Jahrhundertwende auf der Grundlage eines gesättigten historischen Bewußtseins? »Rainer Maria Rilke ist ein später Mensch.« So jedenfalls hat ihn Guardini beschrieben.18

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Anmerkungen 1  Entlehnt

der bekannten Formel Max Webers vom »Polytheismus der Werte« in der modernen Kultur. Weber greift damit, um die Lebensführung in der Moderne zu charakterisieren, auf den Polytheismus der antiken Welt zurück: »Es ist wie in der alten, noch nicht von ihren Göttern und Dämonen entzauberten Welt, nur in einem anderen Sinne; wie der Hellene einmal der Aphrodite opferte und dann dem Apollon und vor allem jeder den Göttern seiner Stadt, so ist es, entzaubert und entkleidet der mythischen, aber innerlich wahren Plastik jenes Verhaltens, noch heute.« Vgl. MWG I/17; WL, 604. Zit. nach Burkhard Gladigow: Polytheismus. In: Max Webers ›Religionssoziologie‹, 144. Zu Webers Beschäftigung mit der Pluralität und Antinomie der Werte in der Moderne vgl. auch Hartmut Tyrell: ›Kampf der Götter‹ – ›Polytheismus der Werte‹: Variationen zu einem Thema von Max Weber. Im übrigen wurde auf weitere Literaturnachweise zugunsten der Thesenhaftigkeit des Textes verzichtet, die Vortragsform selbst beibehalten. 2  Eine inzwischen geläufige, durch Thomas Nipperdey eingeführte Bezeichnung; vgl. ders.: Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918, 143. 3  Werner Kohlschmidt: Die große Säkularisierung. Zu Rilkes Umgang mit dem Wort »Gott«, 336. 4  Das habe ich zu zeigen versucht am Beispiel von Stefan Georges »Lobgesang«. 5  Oktavheft G, Herbst 1917/Frühjahr 1918. In Franz Kafka: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 6: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß, 198. 6  Doppelleben [1949]. In Gottfried Benn: Gesammelte Werke. Bd. 2: Prosa und Autobiographie, 373. 7  Auf der Militärunterrealschule St. Pölten erhielt Rilke im Fach Religion die Note »vorzüglich«; vgl. Ingeborg Schnack: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes 1875–1926. Erweiterte Neuausgabe hg. von Renate Scharffenberg, 24; zu seinem Religionslehrer Horaček vgl. ebd., 26. In der St. Pöltener Zeit schrieb Rilke »geistliche Lieder, die dank der Vorsehung alle verloren gegangen sind«, ebd. 39. 8  Guardini weniger massiv als Kohlschmidt, aber an einer Stelle mit Bezug auf die Neunte Elegie doch deutlich: »Der Raum der Innig-Werdung steht in einem engen Verhältnis zum ›andern Bezug‹. Da bereitet sich vor, was einst fähig sein wird, in diesen ›hinübergenommen‹ zu werden. Damit ist ein christliches Daseinselement ins Welthafte geholt […] Zunächst anscheinend ein Gewinn. Die christliche Offenbarung ist weggetan, doch so, daß die Welt eine Dimension hinzugenommen hat, die sie in der Antike nicht besitzt, die der Innigkeit. Aber man kann nicht den Strahl haben und das Gestirn wegtun,

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das ihn sendet. Man kann nicht die Güte haben, ohne das Herz, das aus ihr kommt. Eine Zeit lang schimmert das Licht, schwingt die innere Wärme nach; ist aber die Verbindung zu den Ausgängen wirklich zerschnitten, dann verschwindet auch das Ausgegangene.« Vgl. Romano Guardini: Zu Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins, 103 f.  9 KA 2,553 f.; vgl. Thomas Pittrof: Vom Hörbaren lesen. Phänomenologie der Literatur und Kulturpoetik der Moderne: Rainer Maria Rilke, bes. 167 ff. 10  Novalis: Schriften. 2. Bd.: Das philosophisch-theoretische Werk,722. 11  KA 4,106; daß Rilke »an der vital gegründeten Einheit des Weltganzen […] bis zu seinem Lebensende festhalten« wird, behauptet KA 1,767, m. E. zurecht – nur deswegen kann er den Schmerz als ›Letzten‹ ›anerkennen‹ (vgl. KA 2,412). 12  Zu denen auch so etwas wie Religionsunterricht gehört; vgl. 1905. KA 4,586 sowie 582 zur Konsequenz seiner Abschaffung (Hvh.v.Vf.): »Da müßten alle Fächer vom Leben handeln, als von dem einen Gegenstand, der mit allen anderen gemeint ist. Dann würden sie auch immer wieder mit ihrem Äußersten an die großen Zusammenhänge reichen, aus denen unerschöpflich Religion entsteht.« 13  Als Hinweis auf diese phänomenologische Orientierung seiner dichterischen Rede vom Religiösen ist auch folgende Äußerung Rilkes im Brief an Reinhard Johannes Sorge vom 2.12.1913 zu lesen: »Ich will ihnen nicht verbergen, daß ich in dem Standpunkt des Gläubigen eine Gefahr sehe für die Genauigkeit des Empfindens, an der uns doch sonst so entscheidend viel gelegen ist … Heute mit der Kirche in Berührung zu kommen, heißt nachgiebig werden gegen das Unkönnen, gegen die süße Phrase, gegen die ganze immense Ausdruckslosigkeit ihrer Bilder, Gebete, Predigten …«. Zit. nach dem Kommentar des Hg. zu: B II, 556. 14  Ernst Benz: Akzeleration der Zeit als geschichtliches und heilsgeschichtliches Problem. 15  »Alles wird wieder groß sein und gewaltig […]//Und keine Kirchen, welche Gott umklammern […]//Kein Jenseitswarten und kein Schaun nach drüben,/nur Sehnsucht, auch den Tod nicht zu entweihn/und dienend sich am Irdischen zu üben,/um seinen Händen nicht mehr neu zu sein« (KA 1,221): solche Verse einer Geschichtsprophetie der Heraufkunft eines anderen Zeitalters bilden eine deutliche Ausnahme wie auch die Erwägung, daß »wir unerschöpfliche Möglichkeiten neuer Götter sind« (1898. KA 4,138). 16  Die mediatisierten Götter: das sind die »Götter von Alleen und Altanen,/niemals ganzgeglaubte Götter, […] höchstens angelächelte Dianen […] Elegante/Pseudonyme, […] leichtgeneigte, lächelnd angewandte/Götter, die noch manchmal dann und wann/Das gewähren, was sie einst gewährten, […] und Versprechen um Versprechen geben,/alle unbegrenzt und unbestimmt.« KA 1,554. Rilkes ›Gott‹ und der Polytheismus der modernen Kultur  |  411

17 »Was

unsterblich im Gesang soll leben/Muß im Leben untergehn«. Schlußverse der 2. Fassung [1800] der Götter Griechenlands. 18  Romano Guardini: Zu Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins, 25. Hvh.v.Vf.

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– Peter Por –

­Rilkes anagogische Gottesvorstellung In einer oft zitierten Briefpassage hat Rilke jegliche christliche Prägung der Engel der Elegien vehement abgestritten,1 gewiß zu Unrecht, wenn man die stete Anwesenheit des Motivs von den anfänglichen Gedichten an in seinem Werk betrachtet, und gewiß nicht zu Unrecht, wenn man seine zunehmend starke Bestrebung zu seiner Defiguration und eigentlich zu seiner Defunktionalisation betrachtet. Indessen mag sein christlicher Ursprung das Motiv bleibender und tiefer geprägt haben, als Rilke es wahrhaben oder anerkennen wollte. Es ist aber nicht im Sinne einer vorherbestimmten harmonischen Heilsbedeutung geprägt, sondern im Gegenteil, im Sinne der Antinomie, die jeder mystischen Darstellung der Welt inhärent ist und im europäischen Kulturraum überwiegend durch die christliche Kunst wahrgenommen wurde. Aus religiöser Sicht könnte man es mit der These resümieren, daß Gott, sein Wesen und seine Anwesenheit durch keinen menschlichen Begriff und kein menschliches Bild erfaßt oder vergegenwärtigt werden kann, daß jede Art von menschlicher Konstellation den transzendent Bezeichneten verfehlen, mit einem von Rilkes Paronyma gesagt, ihn verraten (mitgemeint ist: ver-raten, irrtümlich leiten) wird. Aus künstlerischer Sicht könnte man es mit der These resümieren, daß jede dieser Vorstellungen einen anagogischen Aspekt hat, in dem Maße, als sie ihre Bedeutung nicht nur bezeichnen, sondern diese Bedeutung auch verdecken. Die Erkenntnis von der Unzulänglichkeit und dem Verfehlen jeder wort-bildlichen Darstellung war in seinem Lebenswerk an sich nicht neu. Sie stellt bereits eine der ziemlich deutlich artikulierten Grundthesen im Florenzer Tagebuch dar;2 und später prägt sie viele Gedichte, die aufgrund dieser, mal eher sanft, mal tragisch oder grotesk wirkenden Erkenntnis zu ihrer jeweiligen vollkommenen Gestalt kommen sollen (und ganz besonders den Malte-Roman). Im Anschluß an diese eigene Tradition hat Rilke bereits in den außerzyklischen, dann in dem Sonetten-Zyklus und erst recht in   |  413

den nachzyklischen Gedichten zunehmendermaßen anagogische Effekte gelten lassen – als kontrastierte Zeichen, viel genauer: als wären sie Zeichen (so, hypothetisch, als Bestimmung der OrpheusPerson; SO II 11) für eine transzendente Daseins-Bedeutung, die durch jede bildliche Erscheinung letzten Endes nur hypothetisch entdeckt wie auch verdeckt werden kann. In die Erklärung dieser Gedichte bezieht man zumeist zwei spezielle lyrische Schöpfungsprinzipien mit ein. Das erste kommt von der Lyrik des Ostens: es soll von einer (für den europäischen Geist) sonderbaren semiotischen Annahme inspiriert sein, nämlich von einer vor-reflexiven Einheit von Selbstbedeutung und ZeichenBedeutung im Dasein jedes Ding-Bildes und somit im universellen Dasein selbst. Das zweite kommt von der Lyrik der christlichen Mystik, die von einer zunächst konträren, letztlich aber übereinstimmenden semiotischen Grundannahme inspiriert ist: nach dieser (zumindest für den modernen Geist) sonderbaren Annahme wird jedes (Ding-Bild-)Zeichen in einer Zweiheit von Bedeutendem und Bedeutetem begriffen, wobei gerade durch diese vorbestimmte Zweiheit die Einheit von Gottes-Universum erscheinen und vielmehr nicht erscheinen soll. Tatsächlich hat Rilke selbst wiederholt seinen späten Werken ein östliches Ideal vorangesetzt und ihre östliche Bestimmung bestätigt. Bekanntlich war seit ungefähr drei Jahrzehnten der Osten in Mode, (selbst Mallarmé hat an einer Stelle sein Interesse geäußert), es gab viele exotisch angehauchte Romane und Gedichte, wovon er, Bewunderer des Korans und des Buddhismus, einiges gelesen haben mußte. Sein eigenes östlich geprägtes Ideal hat Rilke aufgrund der Erfahrung verfaßt, die er in der ägyptischen Kunst gesucht hatte (»ich war innerlich so genau vorbereitet auf diese inkommensurablen Dinge«)3 und die ihm wirklich zuteil wurde. Allerdings hat er dieses Ideal nicht an Ort und Stelle seiner Begeisterung, auch nicht für die etwaigen geistigen Weggefährten seiner Reise, sondern erst ungefähr drei Jahre später für die Pianistin-Geliebte verfaßt, dann aber programmatisch und konzis – wohl, als er es für seine Lyrik voll gelten lassen wollte: Meine Freundin, sehen Sie, in Berlin, den Kopf Amenophis des Vierten […] fühlen Sie an diesem Gesicht, was es heißt, der unend414  |  peter por 

lichen Welt gegenüber zu sein und in so beschränkter Fläche, durch die gesteigerte Ordnung einiger Züge, ein Gleichgewicht auszubilden zur ganzen Erscheinung.4

Die Formel mit den Zügen, die ein kosmisch-gewichtiges Gesicht bezeichnen, damit dieses Gesicht zu einer einzigen allgültigen »Erscheinung« des »Gleichgewichts« (soz. der gleichen »Schwere«) wird, könnte gar nicht vollkommener, aber auch nicht spekulativer lauten (nicht visuelle Züge werden dabei miteinander verglichen, sondern sie sollen als Ordnungswerte begriffen werden, damit sie als Bezugs-Züge des Gleichgewichts in einem einheitlichen Kosmos erscheinen können). Ob diese mehrfach übertragene und abstrahierte Formel nicht, wie oft bei mystischen Visionen, auch ihre eigene Einmaligkeit und noch mehr, ihre Anagogik, mit einer Wortbildung im Geist Rilkes gesagt, die verzogene Erscheinung des Kosmos ausdrückt? Am Ende desselben Briefes hat sich Rilke in der Tat seine eigene (musikalische Orpheus-) Person in einer unbegreiflichen Antinomie vorgestellt, sich selbst und die Welt »kühn« durch die quasi-mystische und eher über-mystische Erfahrung einer Bezugs-Einheit des Seherischen und des Erblindeten gebildet: Sehen Sie, ich mußte mich so von innen heraus bilden, dem innerlich Blinden nachgebend […]5

Licht und Dunkel bedeuten einander gegenseitig, was auch so viel heißt, wie daß sie sich gegenseitig verdecken; und die Schöpfung (metonymisch: sein »Herz«) sollte im Sinne dieses Prinzips sterben und »wieder hervorgehe[n]«. (Ein paar Zeilen später folgt das für Rilke seltene Substantiv: »Gewalt« und weitere paar Zeilen später der pseudo-biblische Ausdruck »Macht […] über die Mächte«.) Vier Tage danach hat Rilke in einem Brief, in den er das Wort »Unbegreifliches« hineingeschrieben hat, dasselbe Prinzip als die Antinomie von dem »begeisterte[n] Sturm« und der »göttliche[n] Stille« herzählt (sic); in dieser Antinomie sollte sich die Geliebte die »Schöp­fung« der »unendlichen Leyer« des Orpheus vorstellen.6 Die Referenz der zwei Texte ist eindeutig: Rilke hat seine mystische Schöpfungserfahrung auf die Gestalt des Halbgottes übertragen. Dennoch kann man nicht verkennen, daß die Erfahrung selbst und erst recht ihre Abstrahierung nicht mehr rein östlich-altertümlich Rilkes anagogische Gottesvorstellung  |  415

sind, vielmehr könnten sie unverändert auf eine lyrische Schöpfung über die christliche Welt und ihre Orpheus-Jesus Gestalt übertragen werden. Nicht von ungefähr erinnert das ägyptisch erdachte enigmatische Syntagma von dem »innerlich[en] Blinden« an das altchristliche Zitat-Motto des Zyklus Das Marien-Leben: »Einen Sturm im Innern hebend« (KA 2,21). Gewiß hat Rilke sein Prinzip beim Anblick und durch die Erkenntnis eines kardinalen ägyptischen Emblems entwickelt; wie er auch nach dem Abschluß des Sonetten-Zyklus wiederholt den »orienta­lische[n]« bzw. »östliche[n]«7 Charakter seiner Inspiration hervorgehoben hat, in einem Brief sogar behauptet, daß er im Zyklus »sehr weit Herstammendes […] Wesentliches aus dem ägyptischen Erlebnis […]« »geformt« hatte,8 während er eine christliche Inspiration selbst für das Sonett, oder wie er es haben wollte, für das »Da-Sein des Gedichts«9 verleugnete, wo sie jedoch ikonographisch offensichtlich ist (SO II 4). Die Verleugnung hat ihre Kohärenz, zumal Rilke sein Unglaube gegenüber dem Christentum seit langem wichtig war und den christlichen Mythos jeweils bis zur Blasphemie freizügig bedichtete. Das Werk weist aber auch eine andere Kohärenz auf, selbst wenn Rilke sie nicht zugeben wollte (er hat sie aber auch nicht besonders getarnt): die Kohärenz einer steten Inspiration durch die christliche Mythologie. Immerhin hat er sie von der Prager Periode an mindestens bis zum Jahr 1912 stets zum Thema (sei es auch als »Vorwand«) genommen; auch danach sind noch Gedichte mit demselben Thema entstanden, beispielsweise im Jahr 1913 das überaus original erdachte Christi Höllenfahrt (KA 2,57) und eines der größten Gedichte des Lebenswerks, Die Worte des Herrn an Johannes auf Patmos (KA 2,143 f.) im Jahr 1915; und immerhin lassen sich auch in den zyklischen wie in den außerzyklischen Gedichten immer wieder christliche Motive erkennen, beispielsweise, wie soeben angeführt, im Sonett mit dem »Einhorn« (SO II 4). Selbst in seinen nur teils systematisch verfolgten Lektüren10 beziehungsweise in seinen unruhigen biographischen Wanderungen läßt sich eine gewisse, christlich geprägte Kontinuität erkennen, von der Entdeckung des Heiligen Franziskus im Jahr 1903 an (die Stadt hat er aber erst im Jahr 1914 besucht und enttäuscht verlassen)11 bis zur Übersetzung aus den Bekenntnissen des Heiligen Augustinus aus dem Jahr 1911 beziehungsweise bis zur Reise im darauf folgenden Jahr in 416  |  peter por 

die Greco-Stadt Toledo, die doch der hohe Ort des spanischen Katholizismus und seiner Malerei ist. Gewiß hat ihn nicht der alltägliche Glaube und auch nicht der alltägliche Unglaube interessiert, zumal er auch ganz andere religiöse Texte vertieft gelesen hat: bekanntlich vieles über den Islam (dank seiner Bekanntschaft mit Andreas, Lou Salomés Mann, dem großen orientalischen Gelehrten), aber auch über das jüdische Denken (bekanntlich teils durch Bubers Vermittlung) und auch buddhistische Legenden. Die zerstreuten Lektüren schwächen sich aber keineswegs gegenseitig ab, vielmehr verstärken sie sich gegenseitig, allerdings nicht im Sinne irgendeiner theologischen Lehre (für jegliche philosophische Lehre war er ohnehin wenig empfindsam): sondern er hat durch diese Lektüren, und mit privilegierter Gewichtung durch die Lektüre der christlichen Geschichten und Schriften, die Versionen und den allgemeinen Charakter einer mystisch-poetischen Darstellung der Welt für sich erarbeitet. Wenn in seinem Spätwerk die beiden Inspirationen, die östliche und altchristliche Inspiration übereinstimmen, so überwiegend gemäß dem Prinzip einer Anagogik. Zunächst führen wir zwei Zitate unter unendlich vielen an, um die Übereinstimmung in der Semiotik der beiden Traditionen in Erinnerung zu bringen. Im Evangelium vom Heiligen Thomas, das als das älteste gilt, liest man die Strophe: Jesus sagte: die Bilder offenbaren sich dem Menschen / und das Licht in ihnen bleibt verborgen. / In der Ikone des Lichts des Vaters / wird sich das Licht offenbaren / und die Ikone wird durch das Licht verschleiert sein.12

So lautet die Grundformel für die Welt und aller ihrer Konstellationen, in denen das reine Licht und die reine Erscheinung sich jeweils gegenseitig offenbaren wie auch verdecken. In meinem Handinneren ist nichts Blitze in der Nacht.13

So lautet in einem japanischen Haï-kaï die »nichts«-Vergegenwärtigung des sommerlichen Nachthimmels. Rilke muß in der christlichen beziehungsweise in der östlichen Kunst Versionen einer Darstellungs­weise entdeckt haben, die gänzlich außerhalb der neuzeitlichen europäischen Tradition der bedeuRilkes anagogische Gottesvorstellung  |  417

tenden und besonders der sichtbar bedeutenden Zeichen-Vorstellung verfährt. Bezeichnendes und Bezeichnetes schließen sich nicht durch die ikonische Ähnlichkeit aneinander (zumal der PseudoDionysos »Gott« sowohl als »Ähnlicher« wie auch »Unähnlicher« bestimmt hat14 und die östliche Tradition sich a limine darüber hinwegsetzt);15 sondern ein dargestelltes Ding weicht entweder völlig von der a limine undarstellbaren, ja auch unvorstellbaren Erscheinung des Bedeuteten ab (weil es sie nur durch diese phantasmagorische Abweichung überhaupt (un-)bezeichnen kann), oder dieses Ding bezeichnet ganz und unmittelbar seine eigene Bedeutung (nur hat diese Bedeutung weder mit der Substanz noch mit der Erscheinung des Bedeuteten etwas Gemeinsames). Rilkes zwei überaus bemerkenswerte Ausdrücke, zum einen »unvordenklich« und zum anderen das Syntagma »vorbildlose Erinnerung« und als dritter der Schlüsselterminus vom »[I]ma­ginäre[n]«16 (den er ebenso als Adjektiv wie auch als Substantiv immer wieder verwendete) treffen am genausten auf diesen Aspekt seiner Schöpfung zu. Was sollten die Züge eines Kopfes einer Pharaonen-Mumie mit der »Erscheinung« (und offensichtlich mit der Un-Erscheinung) der »unendlichen Welt«17 Gemeinsames haben, wenn nicht, daß es »ganz« diese (Un-)Erscheinung ist? Oder um zwei Beispiele aus der Zehnten Elegie anzuführen, die zumeist nicht in diesem Zusammenhang erörtert wird: Wie sollte eine lügnerische Bierreklame auf einer schäbigen Planke die Grenze zum Jenseits verkünden, und wie die Morphologie der Hasel-Pflanze die glückliche Erfüllung des kosmischen Zeugungszustands verbildlichen, wenn nicht dadurch, daß sie sich von dem Bedeuteten substantiell unterscheiden, recte: daß sie es »offen« nicht und gerade deshalb »geheim« (das Adjektivpaar hat Rilke in einem Brief geschrieben, dann in mehreren Versionen wiederholt)18 gänzlich bedeuten? Lesen wir aus dieser Perspektive heraus erneut die legendäre Grabschrift Rose, oh reiner Widerspruch (KA 2,394), die bekanntlich ein Hai-ku ist: In ihr sollen die »Rose[n]«-»Lider« (mitzulesen ist: ›Eros‹-›Lieder‹) den Dichter, der in einem »Niemande[s]« Nicht-Dasein verschwunden ist, nicht etwa durch irgendeine Art der Abbildung zur Erscheinung bringen, sondern vielmehr sie selbst sollen er, der tote Dichter im Nicht-Dasein (mitzuverstehen: die Dichtung im Nicht-Dasein), »sein«. 418  |  peter por 

Rilke ist beinahe von Anfang an einem Ideal eines Werks gefolgt, das im klassischen Maß als kunstreligiös gelten und dennoch zunehmendermaßen als Verleugnung jeglicher Harmonie in dieser Welt und ihrer Traditionen erschaffen werden sollte. Spätestens aber von den Bänden Das Stunden-Buch und Das Buch der Bilder an läßt sich nicht verkennen, daß Rilke sich seine Katachresen zunehmend eigenwillig vorgestellt hat. In den Jahren des Stunden-Buchs hat auch er manche Bilder mit den christlich belegten Motiven des Ringes und des Kreises komponiert, besonders im ersten Teil, wo das Soliloquium zwischen dem KünstlerGott und dem Gott-Künstler noch am ehesten ein abgeschlossenes Universum heraufbeschwört. »Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen […] // Ich kreise um Gott, um den uralten Turm« (KA 1,157), so heißt es gleich in einem der einführenden Gedichte des Bandes; ein paar Gedichte später folgt eine Gegenüberstellung von der begrenzenden »Flamme« und dem »Welt«-»Kreis« der geliebten »Dunkelheit« (KA 1,151 f.); und unweit danach folgt die Bestimmung und Selbstbestimmung der zwei-einen personalita poetica durch die zwei-eine Geometrie ihres Seins: »Du bist der zweite seiner Einsamkeit, / die ruhige Mitte seiner Monologen; / und jeder Kreis, um dich gezogen, / spannt ihm den Zirkel aus der Zeit« (KA 1,165). Topik und Gestaltung verweisen ungetarnt auf die Vorlage der christlichen Allegorik zurück, die selbst in ihrem banalen Ausdruck immer die Möglichkeit einer anagogischen Verdunkelung oder Verwickelung in sich hat. Die eigene Art der katachristischen Einbildung ist für den Band Neue Gedichte bereits sehr signifikativ, wie dies gleich aus der Pointe des ersten Gedichts des ersten Teiles zu vernehmen ist: »als würde ihm sein Singen eingeflößt« (Früher Apollo) (KA 1,449). Zwei besonders offen(un)sichtliche Beispiele: »und halsend durch die immer schwächre Hand«, so für die Verwandlung des Zeus in einen Schwan, »Ich bin die Laute«, so für die Verwandlung eines Mannes in ein gespanntes Liebesinstrument (Leda; Die Laute) (KA 1,514; 559). Im Prinzip »muß« (im Sinne der Gesetz-Zeile »Du mußt dein Leben ändern«) (Archaischer Torso Apollos) (KA 1,513) in jedem einzelnen Gedicht eine bis zum Unmöglichen hin eigenmächtige Verwandlung ver(un)anschau­licht werden, damit das Gedicht als Figur vollbracht werden kann, tödlich trifft (nach dem ersten Apollo-Gedicht), Rilkes anagogische Gottesvorstellung  |  419

hält und glänzt (nach dem zweiten Apollo-Gedicht). Jede Katchrese »muß« sich, nach der sonderbaren Teleologie dieser Schöpfung, in das universalgültige Werkganze einfügen, auch noch sonderbarer: das absolute Werkganze »muß« gerade durch die Katachresen (etwa durch den Torso) erschaffen werden. »Einen Engel will / ich daraus bilden ohne hinzusehn / und will ich ihn werfen in die erste Reihe / schreiender Engel, welche Gott erinnern« (Requiem für eine Freundin) (KA 1,419). Die Formel ist nur ein paar Monate nach dem Abschluß des Doppelbandes Neue Gedichte mit all seinen selbst-zentrierten, selbst-harmonisierenden Figuren entstanden. Selbst der »Engel« fügt sich, um eine seiner Versionen anzuführen, durch die lächelnde Einheit von »Stein« und »Sein« in seiner statuenhaften Verkörperung in eine Weltschöpfung ein, in der jedes »Modell« aus einer inneren Perspektive heraus begriffen und zu seinem vollkommenen eigenen Wesen verwandelt wird, so beispielsweise zu einem »Engel«, der die Tages-Zeit innerhalb des geschlossenen Universums ebenso gültig mißt wie die Nacht-Zeit (L’Ange du Méridien) (KA 1,462 f.). Den beiden KlageTexten hingegen wird ein Engel vorangestellt, der sich außerhalb der Geschehnisse befindet und diese aus einer äußeren Perspektive heraus betrachten oder beklagen läßt. Ein paar Monate später, in einem (im übrigen ziemlich problematischen) Entwurf-Gedicht, hat Rilke bereits mit einer substantiellen Defiguration derselben Tradition experimentiert und der Welt einen untradierten und unver­ nehmbaren Gott vorangestellt: »Was machst du nicht die Dringendsten zu Fastern / und schleuderst ihnen erst den Engel zu / wenn sie sich winden unter ihrem Blut?« (Ach in der Kindheit, Gott) (KA 1,436). In den drei Zeilen beschwört und vermengt er die Motive zu einer grotesken (Un-)Ordnung, sie sollen nicht mehr »Gott erinnern«, sondern einen Gott (un-)verzeichnen (ihn »winden«, wo das hapaxartig eingesetzte Wort die dreifache offene Bedeutung von ›Wind‹, ›verschwinden‹ und ›wenden‹ tragen mag), den man höchstens immer weiter und immer verwirrter fragen kann. Ungefähr gleichzeitig hat er den Roman fertiggeschrieben mit seinen immer mehr arg-verwirrten Bildern, die letztlich zu einem unvorstellbaren Nichts führen. In diesem Text hat er auch ein Parabel-Beispiel, in technischen Termini gesagt: das absolute metasemiotische Beispiel für die anagogische Bezeichnung, das heißt Nicht-Bezeichnung 420  |  peter por 

Gottes komponiert, das heißt dekomponiert: der Graf spricht das Wort aus, das das absolute Zeichen Gottes metasemiotisch bezeichnen soll, Abelone versteht aber die Bedeutung des Wortes »Stigmata« nicht und in arger Konsequenz, als der Graf versucht, ihr mit seinen Fingern die Zeichen-Konstellation einzuschlagen (nach dem Titel des Romans gesagt: sie ihr aufzuzeichnen), verschwindet auch diese Konstellation im Nichts (KA 3,563). Wie oben bereits angedeutet wurde, hat Rilke nach dem Zyklus Das Marien-Leben viel seltener auf den christlichen Mythos zurückgegriffen; dann aber (beinahe) immer mit außergewöhnlicher, und zunehmend deutlich (das heißt undeutlich) anagogischer Bedeutung. Beschränken wir hier uns auf die Erwähnung von zwei außergewöhnlichen Gedichten. »[O]hne Atem, / stand, ohne Geländer, Eigentümer der Schmerzen. Schwieg.« (Christi Höllenfahrt) (KA 2,57): Das »Wesen« des Erlösers, der sich gemäß der Tradition angeschickt haben soll, das ewige Wort zu sprechen wie auch zu erfüllen und durch seinen »Sturz« wie auch durch seinen Aufstieg (»höher, höher«) die Leidenden aus dem Reich der »Finsternis« in das unbegrenzte Reich des ewigen Lebens und der ewigen Seligkeit zu führen, endet im Dasein (im »Dastehn«) der absoluten (Selbst-)Beraubung jeglichen Lebens, Reichs, Glücks und Worts. »Da Wir uns so große Kleider machten, / kommt das Unbekleidetsein zuletzt. // ------- / -------« (Die Worte des Herrn an Johannes auf Patmos) (KA 2,144): Die Wiederherstellung des Textes, in dem Gott, der über allen Zeiten, Räumen und Gestalten steht, durch die Hand-Schrift seines erwählten Menschen die Worte über die Vernichtung seiner Kosmos-Kreation verkünden soll, endet mit einer Nicht-Aussage, in der Gott sich selbst und damit jedes Wort entblößt, soz. es unbekleidet (zu verstehen ist: Gott jedes Wort enthüllt, jedes Wort apokalyptisch vernichtet), um nur vollkommen entblößte Striche als Zeichen dieser (Selbst-)Apokalypse gelten zu lassen. Den beiden Abschlüssen gemeinsam ist ihre negative Aussage. Jeder (un)bezeichnet die radikale (Un-)Gestalt des eigenen Versagens, sie sollen als mythische Exempla dafür gelten, daß kein Zeichen Gottes Schöpfung zu bezeichnen vermag beziehungsweise, daß jedes Zeichen sie nur in dem Maße zu bezeichnen vermag, indem es sie nicht bezeichnet, sondern sie verdeckt (sie ver-zeichnet, sie verRilkes anagogische Gottesvorstellung  |  421

sagt). Dies ist das Prinzip der christlichen Anagogik, wenngleich in einer zum Negativen hin ausgelegten Version: Im Schweigen Christi soll ebenso das Geschrei-Reich der Hölle (nicht) erscheinen wie beispielsweise, laut dem legendären Abschluß der Göttlichen Komödie in der Erblindung Dantes das Licht-Reich Gottes (nicht) erscheinen soll. Das Geschrei-Reich soll ebenso die Erlöser-Worte zum Schweigen bringen (verdecken), wie das Licht-Reich des Dichters Sehen zur Erblindung bringen (verdecken) soll. An dieser Stelle sei wieder ein altchristlicher Autor angeführt. »Aeternae mentis oculo / dum pater in se flectitur, / in lucis suae speculo / imago par exprimitur«,19 (»Wenn im Auge des zeitlosen Geistes / Des Vaters Auge sich abwendete,/ Im Spiegel seines Lichts, ein ähnliches Bild hat sich gezeigt«), so lautet eine Beschreibung des Reiches der heiligen Dreifaltigkeit aus dem 13. Jahrhundert. Der Licht-Spiegel soll der Objekt-Ort sein, wo der unsichtbare Gott das Bild seiner selbst beziehungsweise seines Gleichen sieht und sehen läßt, in theologische Termini gefaßt: Der Licht-Spiegel ist der Objekt-Ort des unzeitigen Augen-Geistes, in welchem Gott-Vater durch seine Abwendung das Bild seines eigenen beziehungsweise seines mit ihm identischen Sohnes (mitgemeint ist: die unbegreifbare Idee der heiligen Dreifaltigkeit) ausdrückt; ungeachtet allen Rühmens und Strahlens bleibt die Vorstellung letzten Endes undurchsichtig und unbegreiflich – und der »Spiegel« steht da, um dieses (theologisch vorherbestimmte) Un-Bild im physischen wie auch im metaphysischen Sinne des Verbs auszudrücken (»exprimitur«). Ich will weder bestreiten, daß Rilkes steter und überbetonter »Spiegel«-Topos auf die damals herrschende symbolistische Motivik zurückgeht (»fleuve, pauvre et triste miroir«, ja auch »Simoïs menteur« hat schon Baudelaire geschrieben, das letzte Syntagma allerdings, bemerkbar genug, in Rückweis auf Virgil), noch daß er ihm eine durch den Narziß-Mythos inspirierte und allerdings zunehmend defigurierte Bedeutung gegeben hat. Ich will aber behaupten, daß die stete Wiederkehr dieses überaus prägenden Topos sich auch in der Tradition der christlich-mystischen Einbildungskraft einfügen läßt, und je kühner, ja je mehr phantasmagorisch er seine beliebten Topoi behandelte, desto deutlicher (das heißt: undeutlicher) nimmt man durch ihn diese andere Tradition wahr: der Spiegel, und gerade der Spiegel soll den absoluten Ding-Ort für 422  |  peter por 

die Erscheinung / Nicht-Erscheinung Gottes und seiner Schöpfung bezeichnen wie nicht bezeichnen. Zur Erinnerung seien vier Zitate aus der frühen und der mittleren Periode angeführt: »Er hat die Augen weit offen und Etwas spiegelt sich drin; kein Himmel.« (Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke) (KA 1,147); »so spiegelt sich ein großes Gartenfest / mit vielen Lichtern im erstaunten Teich« (Der Sänger singt vor einem Fürstenkind; KA 1,316); »Ihre Gebärde geht durch das Haus / als wenn überall Spiegel hingen« (Aus einer Sturmnacht 7; KA 1,336), »Dort knieen sie, verdeckt mit reinen Leinen / so gleich, als wäre nur das Bild der einen / tausendmal im Choral, der tief und klar / zu Spiegeln wird an den verteilten Pfeilern;« (Béguinage; KA 1,494). In allen vier Zitaten beschreibt Rilke eine Art spiegelischen Bildes, allerdings verleugnet Rilke bereits da ausdrücklich die einfache visuelle Widerspiegelung. Im ersten Requiem kommt auch der Spiegel-Topos vor, aber bereits mit defigurierter Funktion, die schwangere »Frau« liegt im »Kindbett« vor dem »Spiegel«, dort erblickt sie ihren tot zu gebärenden Sohn (vgl. KA 1,418 f.). Die arge Katachrese geht auf eine bereits an sich katachrestische Vorstellung aus der Ikonographie der heiligen Jungfrau zurück, die im Spiegel ihr eigenes Emblem-Bild, das Einhorn erblickt. Indem Rilke diese heilig-selige Katachrese weiter defiguriert, verwirrt er ebenso die elementarsten Instinkte wie auch die elementarste geistige Erfahrung von der zeitlichen Anordnung in der Welt. Das zwölfzeilige Bild ist eine »Täu­schung«, ein Un-Bild, in ihm wird nichts anderes als das »Dunkel« in die Welt hineingeboren, nichts anderes als das »Dunkel« widergespiegelt. Bald darauf hat er auch den Roman abge­schlossen, in ihm steht die »Aufzeichnung« über die Episode als Malte, zur beinahe tödlichen Verwirrung, in seinem eigenen Spiegelbild sich selbst, sein maskiertes Ich, nicht erkennt. Bereits im Jahr 1908, zu dem Zeitpunkt, als Rilke eine dunkle Defiguration dieser christlichen Tradition und eigens des SpiegelTopos souverän erarbeitet hatte, hat er gleichzeitig nach dem Prinzip einer leuchtenden Defiguration derselben Tradition gesucht – und, paradox genug, bei dieser Suche ist er zu besonders radikalen Gestalten gekommen. In einem Brief, den er ein paar Monate früher geschrieben hatte als den Text der beiden Requien, hat er Rilkes anagogische Gottesvorstellung  |  423

seine eigene Formel für diese Art Spiegel-Schöpfung hervorgebracht: Orte, Landschaften, Thiere, Dinge: alles das weiß ja in Wirklichkeit nicht von uns: wir gehen durch wie ein Bild durch den Spiegel geht. […] weil wir nichts von alledem mitreißen können in unser Ungewisses, in unsere Gefahr, in unser dunkles, unaufgeklärtes Herz; darum hilft uns das alles. Und ist Ihnen nie aufgefallen, daß dies der Zauber aller Kunst ist, ihre ungeheuere und heroische Kraft: daß sie uns mit diesem Fremdesten verwechselt, es in uns und uns in es verwandelt, unser Leid in die Dinge legt und das Unbewußte und Unbefangene der Dinge in uns hineinwirft aus rasch gewendeten Spiegeln-?20

In der Briefstelle hat sich Rilke eine bildnerisch-spekulative und eigentlich (nicht)-spekulum­artige Schöpfung vorgestellt. Aus der Vorstellung der »rasch gewendeten Spiegel« soll kein eigenes Bild, aber auch kein katachrestisches Bild, sondern die unbegreifliche Idee des »Unbe­wußte[n]) hervorkommen, die ebenso prinzipiell die Bildlichkeit ausschließt wie die christ­liche Mystik. Es wird nicht mehr, wie durch die Katachresen, die Bildlichkeit des Spiegels, die Bildlichkeit schlechthin zum Verwirrten defiguriert; sondern sein Wesen wird zu seinem thetischen Konträren, oder wie Rilke es sagt, zu seinem »Fremdesten verwechselt«, der Spiegel wird (recte die pluralen Spiegel werden) als ikonischer Ur-Topos selbst für die a limine unmögliche Bildlichkeit genannt. Im Sinne seiner Devise aus den frühen Jahren, »Gott ist das älteste Kunstwerk«,21 an die sich Rilke immer gehalten hat und den er bzw. das er in immer stärkerem Maße zerstört oder phantasmagorisch defiguriert hat, muß man es noch allgemeiner fassen : das Speculum wird zum Ur-Topos für die a limine zur »Fremdesten verwechselt[en]« göttlich-bildlichen Schöpfung. Im Gedicht Die Geschwister (KA 2,78 f.) aus dem Jahr 1913 hat Rilke selbst sein Prinzip ausdrücklich in dieser Dimension gedeutet. Das Motiv selbst geht auf das neue Gedicht Die Schwestern (KA 1,567) zurück, mit der bizarren Vereinheitlichung der Diversen durch ihre doch gemeinsame Figur: »die Allee entlang […] führen:/ Ach, sie haben nicht denselben Gang.« In dem späteren Gedicht hingegen benützt er sein Motiv als Emblem für nichts minderes als für die heilige Absurdität der Schöpfung. Nach einer leicht 424  |  peter por 

gefühlsseligen Beschreibung ihrer zwei-einen Gestalten mit ihren »Wimpern« und ihren beweinten »Nächt[e]« setzt er sie urplötzlich in die Geschehnisse der Auferstehung und des Jüngsten Gerichts. Durch den christlichen Mythos erfaßt er die stupendste Vorstellung von einem innerlichen Schisma, das genetisch jegliches Verständnis seiner selbst und damit der ganzen Erlösungswelt verunmöglicht: »Wenn die Menge einst der Aufersteher / uns entschwistert […]«. Im Gedicht bzw. in der ganzen eher experimentellen Reihe Gedichte an die Nacht hat Rilke ein poetisches Verfahren erarbeitet, wo der Ausdruck seine eigene Bedeutung verdunkelt und verdeckt, und diese Verdeckung, die Entschwisterung ist ihre letzte (Nicht-)Bedeutung; wieder mit Rilkes sehr eigenem Terminus gesagt: wo der poetische Ausdruck auf seine Bedeutung verzichtet – wobei dieses Wort auch etymologisch, im Sinne des transitiven Ver-zeichnens zu verstehen ist. Bald hat er auch die Bestimmungsformel für diesen Ansatz in seiner Lyrik verfaßt: […] Schon wähltest du und winktest: dieses nicht. Und dein Besitz ward sichtbar am Verzicht. (Vor Weihnachten 1914) (3/95)

Wie so oft bei Rilke, wirkt die Formel zunächst überpoetisiert (»geheim«), um sich dann als unersetzlich (»offen«) zu erweisen: In ihr wird ein elementarer zeichnerischer Akt bestimmt, der bei seinem jeweiligen Zustandekommen den »Verzicht« auf sein Bezeichnetes verkündet, sozusagen verwinkt. Das »Dasein« wird durch ein und denselben Akt bezeichnet wie auch als unbezeichenbar verzeichnetverzichtet – dies ist die semiotische oder metasemiotische Grundformel einer anagogischen Schöpfung. Leider kann ich nicht auf die ungeheuere frühere und erst recht spätere Bedeutung dieses Terminus »Verzicht« eingehen, obwohl sie nicht unabhängig vom Problem der anagogisch bestimmten Schöpfung ist; ich erinnere nur daran, daß es das letzte Zeichen-Wort sein sollte, das Rilke in seinem Lebenswerk setzte. Ein wenig detaillierter verweise ich auf die kleine Sammlung, die Rilke unter dem Titel Das Testament22 für sich selbst aufgezeichnet (so, im Sinne des Malte-Romans möchte ich es verstehen: aufgezeichnet) hat. Es ist ein offensichtliches, wieder mit einem selbstbe­stimmenden TermiRilkes anagogische Gottesvorstellung  |  425

nus über den Roman gesagt, ein mosaikhaftes Krisen-Werk, und in ihm hat Rilke »seine eigene schöpferische »Lage« (7) bzw. seine eigene schöpferische Person jedes Mal durch eine of­fen(un)sichtliche anagogische Konstellation sich (nicht) vorstellen beziehungsweise (nicht) begreifen lassen. Er verfaßte zunächst eine Reflexion über die Möglichkeit, der künst­lerischen Persönlichkeit ihre schöpferische Autonomie zu rauben, sie als eine weder geistig noch bildlich vernehmbare oder empfangbare Flug- und Wurffigur zwischen Handeln und Leiden darzustellen (22): So arbeitend bist du der meisterhaft geworfene Speer: Gesetze empfangen dich aus der Hand der Werferin und stürzen mit dir ins Ziel –. Was wäre gesicherter als dein Flug?

Daraufhin hat er unter dem Vorwand der Bestimmung des »Heiligen«, ja wieder unter der Bestimmung eines Gottes-Wesens ein Schulbeispiel für das anagogische Dasein komponiert, wo jedes Substantiv und jedes Verb, ja selbst jeder Punkt ins Negative gewendet ist, damit sie alle die Konstellation des Nicht-Wesens, des Nicht-Reichs und des Nicht-Punktes zeichnen (26): [I]n dem Durchschnittspunkt seiner Entsagungen gewahrt er jenen Gott des Gegensatzes, den Gott des Unsichtbaren, der noch nicht geschaffen hat.

Ganz lakonisch gefragt: Ob sich nicht etwa das Gedicht Solang du Selbstgeworfnes fängst (KA 2,195) mit seiner Vorstellung von einer doppelten noch-nicht-Schöpfung, von den zwei-einen ageome­ trischen Räumen der absoluten »Mitte« bzw. des unendlich Offenen nicht aus demselben Ansatz heraus, mit dem Text selbst gesagt: nicht etwa als »Wagnis«, als »Gottes […] [selbstverständlich: nicht daseiender] Brücken-Bau« erklären ließe? Ein paar Wochen nach diesem als letztes zitierten Gedicht hat Rilke zu seiner elegischen Inspiration wiedergefunden. In den Elegien kommen anagogische Effekte nur spärlich vor, da solche Effekte dem elegischen Schöpfungsprinzip fremd sind. Nach diesem Prinzip sollen alle bildlichen wie begrifflichen Vorstellungen die Konstruktion des Kosmos durch eine stete Ausrichtung zwischen Engel und Dichter, bzw. zwischen Dasein und Wort in seiner ganzen offenen, werbend-zustim­menderen Antinomik zur Erscheinung brin426  |  peter por 

gen. Die einigen Ausnahmen verstärken in der Tat diese prinzipielle Feststellung. Als erste fiele die Beschreibung der Engel-Wesen in der (bekanntlich noch im Jahr 1912 entstandenen) Zweiten Elegie ein – sie ist aber im Rückverweis auf die neuplatonische Tradition verfaßt, der Rest des Textes, selbst die weit abstrahierten Bilder, beispielsweise von einem konkav-konvexen Berühren der Lippen der Liebenden am (körperlich-geistigen) »Getränk« oder von der ewigen Suche zwischen dem (christlich-ägyptischen) »Strom« und »Gestein« haben einen anderen Charakter. Bezeichnender sind die Ausnahmen, die in den beiden Elegien stehen, die chronologisch gesehen als letzte verfaßt wurden. Die beiden anagogischen Konstellationen aus der Zehnten Elegie sind bereits eingangs erwähnt worden (in dieser Elegie wird aber die elegische Weltschöpfung zu ihrer jubelnd-glücklichen Zustimmung geführt, die zweite Hälfte des Textes läßt zugleich einen Ansatz zu einer metaelegischen Schöpfung vernehmen, dem eine deutliche östliche Nuance anhaftet und in der abschließenden Konstellation nimmt Rilke die Poetik der Sonette bereits vorweg); und in der Fünften Elegie kommen mehrere Bilder vor, die besonders in ihrer Folge bereits anagogisch wirken: der Mann, der in seinem Nacken sein eigenes, bereits vergrabtes zweites Körper-Ego zu enthalten scheint, die (nicht deutlich entzifferbare) Schrift, die nichts anderes als »das Lächeln« sein (wohl: nicht sein) soll, der marktschreierische Tand als Verkörperung des Schicksals, die billige und stets einstürzende Artistenkonstruktion als Parabel des Daseins – wie auch letztlich der ganze Text selbst. (In dieser Elegie hat aber Rilke das zum schlecht-inauthen­tischen depravierte künstlerische Dasein, seine sinnlos gebaut-gestürzten Konstruktionen an einem armseligen Weltort und damit die Depravierung der elegischen Schöpfung schlechthin zur [Nicht-] Erscheinung gebracht.) So weit über die Elegien. Gleichzeitig mit ihnen hat aber Rilke auch die Sonette an Orpheus verfaßt (zur Erinnerung: er hat sehr oft in synchron-alternativen poetischen Systemen gedichtet); und in diesem zweiten Zyklus stehen bereits Bilder, besser: Nicht-Bilder, die an keiner Stelle des elegischen Zyklus stehen könnten. Zunächst führe ich das Beispiel des Sonetts an, in dem Rilke sein beliebtes Motiv des Spiegels, das heißt der falsch-richtigen Selbstwiderspiegelung wieder aufgenommen hat, um nun seine selige Rilkes anagogische Gottesvorstellung  |  427

Version zu bedichten – allerdings durch eine zum Anagogischen defigurierte Bedichtung (SO II 4). Im Sonett kommen die Jungfrau und das Einhorn zu einer übersinnlichen Einheit im Zeichen ihres gemeinsamen »reine[n]« Nicht-Daseins (»es nicht gibt«, »war es nicht«) zusammen, und das so vollkommen, was auch so viel heißt wie vollkommen unmöglich, daß die Jungfrau es nicht nur »im Silber-Spiegel« erblickt, sondern sie es »bis in des stillen Blickes Licht – geliebt« hat, ja auch noch mehr, daß das Einhorn auch »in ihr« »war«. Das Sonett mag als Parabel für eine Schöpfung gelten, die zugleich »rein« heilig und absurd ist – und damit für den anagogischen Aspekt des Zyklus steht. So gleich im ersten Sonett der » hohe Baum im Ohr«, der den Gesang des Orpheus (SO I 1) verzeichnet und nicht verzeichnet, nach Rilkes schärferer Deutung: der der Gesang des Orpheus ist und nicht ist. Nach demselben Muster wird der Bezug errichtet zwischen den tanzenden Mädchen und der Orange (SO I 15), sogar semantisch als seiend / nicht-seiender errichtet: »Tanzt die Orange«; oder der Bezug zwischen einem »Sechzehn-Ender«-»Lüster« und der »Unbetretbarkeit« (SO II 3) oder, noch komplexer, zwischen einerseits »Tisch und Weide« (die an sich schon voneinander getrennt sind) und andererseits der »sternische[n] Verbindung«, die aber »trügt« (SO I 11); und in einer weiteren Version des Motivs aus dem ersten Sonett des Doppelzyklus soll »das Ohr« diesmal nicht die Stimme aus der Tiefe der Erde hören, sondern einen »Sagenkreis« auf dem Himmel wahrnehmen lassen, den es nie und erst recht nie hörbar gab, damit durch die a-sinnliche Konstellation mit »Rußland«, »Schimmel«, »Quelle« und »Weite« usw. gerade nicht das »Bild«, sondern das »Erinnern« selbst, und auch noch mehr, der »Herr« des »Erinnern[s]« geweiht, sein a-sinnlicher »Sagenkreis« gezeichnet wird. Dann folgt das Sonett, das der Beschreibung des Wesens der »Kindheit« gewidmet ist (SO II 8). Es wirkt merklich düster und dies in einem Zyklus, wo selbst der qualvolle Tod des Orpheus (SO I 26) und der frühe Tod des Mädchens (SO II 13) in »hohem« »Klang« gesungen und gezeigt werden. Das Kindheitssonett wird hingegen durch jeweils negative Schlüsselausdrücke geführt (»zerstreuten«, »zögernd«, »keinem gehörte es«, »zer­gings«, »Bangen«, »fremd«, »unwahr«, »keines kannte uns«), alle Sätze sind entweder ungewiß oder einschränkend 428  |  peter por 

bis verleugnend, und die wenigen deutlichen Behauptungen besagen nichts als eine gleichwie brutale Inkongruenz zwischen dem Kind (mit seinem kaum verständlichen Selbstmythos von »Gespielen«, »Gärten der Stadt«, ja auch »unwahr«) und der Welt (mit ihren »stark« geteilten Zeit- und Dingabschnitten von »Jahr[en]«, »Wagen« und »Häuser[n]«). Die dreistrophige Passage wird in der Tat mit dem Wort »Nichts« resümiert – dem gleich das elliptische Syntagma »Nur die Bälle« folgt. Es soll die vorherige »lange« »zögernd[e]« Beschreibung und ihre radikale negative Pointe viel weniger kontrastieren, als ihr vielmehr einen erklärenden Sinn, ihr eine Wahrheit geben: Durch die »Bälle«-Objekte soll man vernehmen, daß sich alle diese »zerstreuten«, immer nur befragten, vage oder auch feindlich zergehenden Elemente zwischen dem »Lamm mit dem redenden Blatt« und den »gehenden Leuten« »wirklich« aufeinander beziehen und gerade: nicht-beziehen. Holthusen stellt fest, daß »es« in den Sonetten »keinen kategorischen Unterschied zwischen Bild und Un-Bild [gibt]«;23 und ein Spezialist der östlichen Kultur geht noch weiter, er behauptet, daß die »Thematik« des Doppelzyklus nichts anderes ist, als »das negative Wort«24 selbst. In Kenntnis der letzten Gedichte könnte man es so fassen: die Worte der nachelegischen lyrischen Schöpfung ereignen sich (SO II 1) oder sind »gewagt« (Nach so langer Erfahrung) (KA 2,377) an einer chiastischen und stets weiter zum Anagogischen hin verschobenen »Kreuzung« (SO I 3) von Semantik und Metasemantik. In einem Nachklang-Gedicht zu den Sonetten, noch aus demselben Monat: Wann war ein mensch je so wach (KA 2,283) wird diese »wach[e]«, »erfreuet[e]« Anagogik noch deutlicher, was auch so viel heißt wie unbegreiflicher bedichtet, gleich­wie besungen, wobei gerade dieser liedhafte Ton die unartikulierbare »Welt« kontra-stilistisch verzeichnet oder verzichtet. Am Anfang wird noch eine über allem »erhellt[e]« Harmonie-Konstellation komponiert, universelle Landschaft und universelles Wort sind eins in der poetischen Schöpfung: »[W]ird fühlend: ist Land, / ist Antwort, ist Welt«. In den Terzinen hingegen erweist sich dieselbe Konstellation als unzeigbar und auch als unsagbar: »Aus Scharen von Licht / war ihr Dunkel gemacht, / das sich rein widerspricht.« Genesis und Versenkung, Tag und Nacht, »Licht« und »Dunkel«, jede Erscheinung ist mit der anderen identisch, aber nur indem sie der anderen und so letzten Endes auch Rilkes anagogische Gottesvorstellung  |  429

sich selbst »widerspricht«, nur indem jedes Wort eine »Antwort«, das heißt ein Ent-Wort »ist«. Ein paar Monate nach dem Inspirationsrausch der beiden Zyklen, hat Rilke in einem Brief seine Idee aus dem Testament wieder aufgenommen, und hier (in keineswegs verzweifeltem Ton) eine zum Unvorstellbaren defigurierte Lage der eigenen, das heißt uneigenen lyrischen Stimme gezeichnet: [D]as ist ja eben der feste und genaue Angriffspunkt, den Gott zu ihnen hat, daß Ihnen Klagen und Singen aus der gleichen Mitte kommt! Die Menschen, Liebe, (die meisten), bei denen das nicht der Fall ist, haben zwei Brennpunkte, und so weiß Gott nie recht in welchen sie stellen, damit ihre ausweicherische Ellipse gedeihe, Figur bleibe innerhalb der großen Geometrie!25

So lautet die Formel für die Schöpfung, deren Ort sich weder im persönlich-universellen noch im göttlich-universellen mehr festsetzen läßt: In den meditativen, gleichwohl emphatisch artikulierten Sätzen hat Rilke eine allgemeingültige Wider-Emblem-Vorstellung für das (nicht) vollbrachte Werk und auch noch allgemeiner: ein unvorstellbares Wider-Emblem für die prinzipielle Unbe­zeichenbarkeit jeglicher Schöpfungskonstellation erdacht. Bald danach hat er dieses Dasein in drei aufeinanderfolgende begriffliche Definitionen gefaßt (wie auch ungefaßt): »Ist es nicht wie Atmen, dieses stete / Wechselspiel von Zauber und Verzicht« (Ist es nicht wie Atmen; KA 2,370), so lautet die Formel für seine unendliche (Nicht-)Genesis; »vor­handener und unsichtbar«,26 so lautet die Formel für seine (A-)Semiotik; »unwirklicher Besitz und wirklicher Verzicht« (3/278), so lautet die Formel für seinen (un-) errichteten Zustand.27 Diese Selbstdefinitionen sind zwischen Juli 1924 und August 1926 entstanden. Innerhalb dieser Periode hat Rilke drei Gedichte verfaßt, die alle in sich selbst und erst recht durch ihre Triade als Musterbeispiele für die anagogische Schöpfung in seiner Lyrik gelten können: den als Grabschrift komponierten Hai-ku: Rose, oh reiner Widerspruch (KA2,394), das Gedicht Idol (KA 2,395), in dem jede Gottes(Statuen-)Vorstellung und damit jede endgültige Weltkonstellation ebenso bestätigt wie auch, sogar mit unverhörbarer parodistischer Nuance, auch verunmöglicht wird; und das Gedicht Ankunft (KA 2,404), sein Titel hätte aber auch ›Abschied‹ lauten 430  |  peter por 

können, da Rilke in ihm ein kosmisches Dasein bedichtet, das in der steten unbestimmbaren Gleich­bedeutung von den beiden steht und nicht steht, geht »verloren« und geht nicht »verloren« – in der Tat hat es sich als das letzte abgeschlossene Gedicht des Lebenswerkes erwiesen. Der Rose-Hai-ku ist im Monat Oktober 1925 entstanden, die (un)bildliche Grundidee der Komposition mag aber auf eine Liebesbriefstelle aus vier Jahre früher zurückgehen: Oh ich erleb es, als läg ich mit geschlossenen Augen an Dich gepreßt und Du wärest unser Sehen und Wissen und verwandeltest alles draußen in ein seeliges Innensein und flößtest es mir als Schauen unter die Lider.28

Damals konnte er aber diese exquisite, soz. unerhörte Vorstellung noch nicht bedichten, in dem Maße nicht, daß er sich gleich im nächsten Brief über die ›Zerstörung des reinen Gehörs‹, über ›bekritzeltes und beflecktes Papier‹, und in den mehr oder weniger synchron aufgezeichneten Stellen in seinem Testament über das ›elektrische Sägewerk‹ beklagte.29 Jenseits der Zyklen aber, als er immer weitergehend die Welt in anagogisch-metasemiotischen Kompositionen zu bedichten trachtete, hat er seine ehemalige Vorstellung in einem Hai-ku verfaßt, der nach geltender europäischen Tradition übersinnlich wirken soll. Im Text sollen die ›Rose[n]‹-›Lider‹ (mitzulesen ist das angrammatische bzw. homophone Syntagma: ›Eros‹-›Lieder‹) den Dichter, der in ›Niemande[s]‹ Nicht-Dasein verschwunden ist, nicht etwa durch eine Art der Abbildung zur Erscheinung bringen, sondern sie selbst sollen er, der tote Dichter im Nicht-Dasein (mitzuverstehen: die Dichtung im Nicht-Dasein) ›sein‹. Im weiteren, nur anagogisch erdenkbaren Sinne der Komposition soll das (›Rose‹- und ›Lider‹)-Ding und das (›Eros‹- und ›Lieder‹)-Wort bzw. Nicht-Ding und Nicht-Wort ein ›unvordenkliches‹ Dichter-Universum (nicht) bezeichnen, das durch ein und denselben Akt der Parthenogenesis und Parthenovernichtung ist und nicht ist, sich selbst widerspricht. Das Gedicht Idol ist ein paar Wochen später entstanden. Rilke hat in ihm wieder einmal Gott, aber einen überaus sonderbaren ›verlisteten Gott‹, als unmittelbares Thema gewählt. Sein Dasein ist übergeschlechtlich (nach dem Vokativ am Anfang: ›Gott oder Göttin‹) wie auch überfigürlich (zumal in seiner Sphynx-Figur keine Rilkes anagogische Gottesvorstellung  |  431

räumliche und keine zeitliche Statuenfigur, sondern die ›Krypta‹ des ›ewige[n] Licht[s]‹ (nicht-)erscheinen soll), eigentlich auch überwörtlich (zumal ausdrücklich verleugnet ist, daß irgendeines ›Schlaf-Lied‹ ihn bezeichnen-beschwören könnte). Er ist ein falschheidnischer, überpoetischer Gott, der außerhalb jeder gültigen Vorstellung und jedes gültigen Gesetzes ebenso in einem steten innerlichen Bestürzen wie auch in einem steten innerlichen Bestehen bestimmt ist. Das göttliche Dasein soll durch die zwei Schlüsselsubstantive des Textes bzw. durch den Bezug zwischen den beiden beschrieben und erklärt werden: das Substantiv ›Katzenschlaf‹, das am Anfang zumindest grammatikalisch korrekt genannt ist (aber: nur grammatikalisch, weil semantisch: wer soll doch ›Gott des Katzenschlafs‹ sein?), und das Substantiv ›Gong‹, das durch einen abrupten Bruch als kaum artikulierter Ausruf sogar verdoppelt im Text vorkommt. Die beiden Substantive sind im äußersten Maße divers beschaffen; wenn sich ein Bezug zwischen ihnen überhaupt vorstellen läßt, so daß die beiden den ›unvordenklichen‹ ›Gott‹ weder beschreiben noch erklären – und ihn so letzten Endes auf die einzig gültig anagogische Art bestimmen. Der Effekt wirkt umso stärker, da ihm eine parodistische Nuance anhaftet: Immerhin wird im Text einer offensichtlich depravierten Gottes- oder Sphynxvorstellung gehuldigt, deren Eigenmacht zunächst durch zwei diverse Äußerungen – das ritualartige Auffressen der Vögel (›Au­gen-Beeren zerdrückt‹, ›Traubensaft‹) und die Erscheinung eines überkörperlichen ›Licht‹-Wesens – wahrgenommen werden sollte, um dann als einzig mögliche Bezeichnung die a-semantische (nicht-)Bezeichnung bar jedes bildlichen oder begrifflichen Bezuges hervorzurufen: ›Gong! Gong‹. Das dichterische Wort der Huldigung wie das göttliche Dasein des Gehuldigten sollen in ihrem gemeinsamen selbstwidersprüchlichen Prinzip begriffen, wohl: ebenso gar nicht begriffen sein. Nach den jeweils unvorhersehbar bis zersetzt geführten Worten und Sätzen der Beschreibung bzw. nach dem doppelten, asyntaktisch-asemantischen Ausruf folgt auch, zum Abschluß, ein als klare Gesetzformel verfaßter Satz – wobei in ihm gerade die Anagogik, so weit: klar, im ›ewig[en]‹ (Nicht-)›Licht‹ formuliert ist. Nach dem Gesetz soll man den ›Gott‹ durch den perpetuierten Bezug-Entzug zwischen der negativ wirkenden Beschwörung und dem positiv wirkenden Entlassen begreifen. Der Text endet mit der 432  |  peter por 

Formel jeglichen (göttlichen oder poetischen) parthenogene­tischparthenovernichtenden Daseins: ›seine einwärts fallende Macht.‹ Im Sinne des Gedichts Ankunft (KA 2,404; August 1926), das sich auch biographisch als das letzte ›vollendete‹ Gedicht des Lebenswerks erwiesen hat und erst recht nach seinem Sinn als Komposition des ›Abschieds‹ gilt, könnte dies heißen, daß wir nicht wissen, daß wir uns im Infiniten befinden, im Infiniten sind, ob wir vor der Geburt oder vor dem Sterben, vor dem Leben oder vor dem Tod unseren Bezug wie Entzug zueinander errichten. Hutchinson erfaßt besonders überzeugend die agrammatikalische A-Geometrik der kosmischen ›[S]ein‹-Vorstellung des Gedichts: »Weil es das einzige kursiv gedruckte Wort im Gedicht ist [sc. ›sein‹], hat der Infinitiv eine Anziehungskraft, die sowohl typologisch als auch thematisch das Zentrum des Gedichts bildet. Sämtliche Bilder des Gedichts kreisen um diesen Mittelpunkt. Es ist allerdings ein aufgeschobenes Zentrum, ein Infinitiv, der kein Ende haben kann, weil es noch nicht angefangen hat, weil es immer in der Zukunft liegt.«30 Der Text wird äußerlich-syntaktisch linear und zielbestrebt geführt, er fängt mit einem Bild an, das durch Gegenüberstellungen, Auslegungen und Vergleiche zum Sinn seines Daseins kommt. Indessen verhehlt Rilke kaum, daß der wirkliche Ansatz, ja das Wesen seines Textes, gar nicht eine emblematische Demonstration eines (bildlichen) Daseins ist, sondern gerade die allbestimmende Anagogik des unbildlichen Daseins. Das wirkliche Thema des Gedichts ist gar nicht eine Liebeserklärung anhand ihrer bekannten Utensilien zwischen dem ersten Substantiv ›Rose‹ und dem letzten Substantiv ›Auge‹; sondern durch den (letztendlich: bestätigten) Schein der Liebeserklärung wird die anagogische Vorstellung kat0 e4xoch2n von dem (un)zeitlichen oder infiniten menschlichen Dasein in der (Un-)Einheit seines nie zukommenden, nie vollbrachten Enstehens wie auch Vergehens bedichtet. Der Text fängt mit einer ungetarnt provokativen und auch mehrfachen Katachrese an: ein Bett, das in einer Rose stehen soll, wobei diese Beschreibung auf dem Ton einer Liebeserklärung gesprochen, besser: angesprochen wird. In der Aussage wird nicht nur die (un-)bildliche Erscheinung der einzelnen Elemente durch ihren Entzug zu einem innigen Bezug geführt, sondern selbst die einzelnen Elemente an sich werden entwest, damit sie in diese Bezug-Entzug-Komposition Rilkes anagogische Gottesvorstellung  |  433

hineinkommen. Diesem Anfang zufolge werden alle Wörter, Syntagmen, Bilder und Aussagen, ja auch alle Sprachgesten in der infiniten (Un-)Ein­heit ihrer eigenen (selbst-)schöpferischen wie auch (selbst-)zerstörerischen Wesen (anscheinend: linear) nacheinander gereiht, in (anscheinend: bildlichen) Vorstellungen veranschaulicht und in (anscheinend: prädikative) Seins-Aussagen gefaßt. Ihr Wesen wird aber gerade dadurch divers-einheitlich bestimmt, daß alle im Nirgendwann, ebenso bereits in ungewissen ›Jahrtausende vor‹ zur Ankunft wie auch in ›nicht meßbar[en]‹ ›dreimal drei Monate‹ zum Abschied (oder umgekehrt, aber gleichbedeutend) entstehen und vergehen. Durch diese überzeitliche (Selbst-)be­stimmung verlieren die bekannten Unterscheidungen zwischen Bildlichem und Unbildlichem (s. die weiteren Katachresen, beispielsweise mit dem Ich-Dichter, dem die Person seiner Liebe wie einem ›Schwimmer‹, der gegen den ›Duft‹ schwimmt, entgangen sein soll,) zwischen Innerem und Äußeren, ev. zwischen Ich und Nicht-Ich (s. der Dichter, der sich das jetzt zu entstehende Geschöpf bereits vor ungewisser Zeit angeeignet hatte), letzten Endes zwischen prädikativer und verneinender Seins-Aussage (s. die letzte Zeile über die ›gegen‹ jemanden erfolgende ›Geburt‹) ihre Geltung. Kein einziges Wort besagt nur seine eigene Bedeutung, sondern damit auch seine Entwesung, kein einziger Satz folgt nur thematisch den vorherigen, sondern damit weicht er auch davon semantisch brutal ab, keine einzige Aussage behauptet nur ein Sein, sondern verneint es damit auch. Indessen ist der harmonische Schein nicht gänzlich trügerisch, ja selbst der deutlich-innige Ton der Liebeserklärung hat seine Berechtigung. Quasi-harmonisch, quasi liebeserklärungsartig wird aber das überzeitliche Dasein bedichtet, das sich in dieser wenn nicht linearen, aber konsequenten Anreihung diverser, aber jeweils parthenogenetischer-parthenovernichtender Elemente in einer Bezug-Entzug-Komposition überhaupt beschreiben und ansprechen läßt, das heißt, daß es sich nie beschreiben und ansprechen läßt. In der Tat, der zentrale Satz des Textes kann als exemplarisch gelesen sein – als exemplarische Aporie aber für die anagogische (Nicht-) Behauptung eines als überzeitlich gesetzten menschlichen Daseins: ›nach innen geschlagen, werde ich erst sein.‹ In den vier Formeln, die oben angeführt sind, und in den drei Gedichten, die in derselben Zeitspanne zwischen 1924 und 1926 ver434  |  peter por 

faßt wurden, hat Rilke dasselbe Prinzip in Worte (er wollte es so: in ›kaum noch Worte‹ gebracht): die anagogische Bestimmung des göttlich-poetischen Daseins.

Anmerkungen  1  Brief

vom 25. November 1925 an Witold Hulewicz; vgl. Rainer Maria Rilke, Briefe (RBr.) 3, 894.  2  Bereits im Florenzer Tagebuch aus dem Jahr 1898 stehen wiederholt Einträge über die Unvollkommenheit der Kunst und über die Alternative zwischen Botticelli und Savonarola, vgl. Tagebücher aus der Frühzeit, u. a. 30, 88.  3  Brief vom 6. März 1911 an Karl von der Heydt, zit. in: Alfred Grimm: Rilke und Ägypten, 28.  4  Brief vom 1. Februar 1914, Rainer Maria Rilke: Briefwechsel mit Benvenuta, 22.  5  a. a.O. 26.  6  Brief vom 5. Februar 1914, a. a.O., 31.  7  Briefe vom 15. Juli 1922 und vom 12. April 1923, Rainer Maria Rilke, Briefe an Gräfin Sizzo 1921–1926, 42, 61.  8  Brief vom 23. Februar 1922, Rainer Maria Rilke – Katharina Kippenberg: Briefwechsel,455.  9  Brief vom 1. Juni 1923, Rilke: Briefe an Gräfin Sizzo,67. 10  Tina Simon: Rilke als Leser. Untersuchungen zum Rezeptionsverhalten. Ein Beitrag zur Zeitbegegnung des Dichters während des ersten Weltkrieges. 11  In einem Brief vom 27. April 1914 beklagt er sich noch darüber, daß er nie da war, zit. bei Donald Prater: Ein klingendes Glas. Das Leben Rainer Maria Rilkes, 412. Im Monat Mai desselben Jahres hat er 14 Tage da verbracht. Seine enttäuschten Briefe sind noch unveröffentlicht; ihren Inhalt habe ich von August Stahl erfahren. 12  Ich zitiere auf Grund der französischen Übersetzung (L’Évangile, 36 f.): »Jésus disait: / Les images se manifestent à l’homme / et la lumière qui est en elles est cachée. / Dans l’icône de la lumière du Père / elle se manifestera / et l’icône sera voilée par la lumière.« 13  Auch hier zitiere ich aufgrund einer französischen Übersetzung. Der Autor des ersten Haiku ist Saitô Umeko (1929–), Haiku. Anthologie du poème court japonais, 128. 14  Die ganze Passage lautet: »Als Ähnlicher, sofern er Echo, Widerhall und Nachbilder begründet, und als Unähnlicher, sofern gerade hierbei nichts Ihm selbst jemals wirklich gleichen kann.« Zit. in: Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert,17. Rilkes anagogische Gottesvorstellung  |  435

15  »On dirait qu’une technique séculaire permet au paysage ou au spectacle de se produire dans une pure signifiance, abrupte, vide, comme une cassure.« Roland Barthes: L’empire des signes, 145. 16  Das erste Adjektiv steht im Entwurfsgedicht Nicht daß uns, da wir (plötzlich) erwachsen sind (3/444) vom Anfang des Jahres 1916, das zweite im Brief vom 8. September 1916 an Elisabeth Jacobi (RBr. 2/523). In demselben steht auch der dritte Terminus, den ich für eines der zentralen Wörter in der Interpretation von Rilkes Werk halte. Um es kurz zusammenzufassen: Rilke wendet das Adjektiv in seinem stärksten Sinne an, wo es jeweils eine Vorstellung bezeichnet, der prinzipiell keine Realität in der bekannten Welt entsprechen kann. (Vgl. die ›imaginäre Zahl‹, die Wurzel Minus 1.) Hier führe ich nur Stellen an, wo er selbst seine Bedeutung erklärt. Zunächst s. die Briefstelle an Marie von Thurn und Taxis, die in der Anm. 2. angeführt ist und wo Rilke das Wort eindeutig für die Erfahrung des Elegischen einführt. Aus einem späteren Brief vom 8. September 1916 an Elisabeth Jacobi wird klar, daß er das Adjektiv konsequent in seinem speziellen deutschen Sinne anwendet, in dem es nicht einfach eine Abrückung von der Außenwelt bedeutet, sondern (wie die imaginäre Zahl in der Mathematik) eine Vorstellung, der prinzipiell keine Wirklichkeit entsprechen kann. Die expliziteste Definition steht in dem Brief vom 11. August 1924 an Nora Purtscher-Wydenbruck: »So ausgedehnt das ›Außen‹ ist, es verträgt mit allen seinen siderischen (sic) Distanzen kaum einen Vergleich mit den Dimensionen, mit der Tiefendimension unseres Inneren, das nicht einmal die Geräumigkeit des Weltalls nötig hat, um in sich fast unabsehlich zu sein. Wenn also Tote, wenn also Künftige einen Aufenthalt nötig haben, welche Zuflucht sollte ihnen angenehmer und angebotener sein, als dieser imaginäre Raum?«, in: RBr., 3, 871. 17  Wie Anm. N°. 5. 18  Die Zusammengehörigkeit dieser beiden konträren Charakterzüge ist eine stete Idee in Rilkes späten Selbst­kommentaren. So beispielsweise über den Einfluß Schulers auf den Sonetten-Zyklus: »ob nicht manches davon, so offen und geheim zugleich auszusagen […], Brief vom 23. April 1923 an Clara Rilke, in: Rainer Maria Rilke, Briefe aus Muzot 1921 bis 1926,197. Besonders wichtig ist hier darauf hinzuweisen, daß auch dieser Gedanke ursprünglich auf eine östliche Erfahrung zurückgehen mag. »[d]ieses Bloßgelegetsein des Geheimnisses« und dann: »im Sinne des offen-Geheimen der Natur«: in diesen Formeln hat Rilke bereits im Jahr 1914 seine (im übrigen, um weitere Jahre frühere) Erfahrung von den »ägyptischen Dingen« begriffen, Brief vom 20. Februar 1914, in: Rainer Maria Rilke – Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel, 316. 19  Johannis Pechami (John Peckham), De Sanctissima Trinitate (13. Jh.), in: Babits Mihály, Amor Sanctus,126. Die geltende englische Übersetzung des Textes von A.G. Rigg (A History of Anglo-Latin Literature, 1066–1422, 225) lautet: »When in the eye of timeless mind / The Father‘s turned towards / Then in 436  |  peter por 

the mirror of his light / An equal image shows itself.«. Ich bemerke gleich hier, daß die Bedeutung des lateinischen Verbs ›exprimere‹ eine deutliche physische Nuance hat, ›hervor-pressen‹, ›hervor-prägen‹. 20  Brief vom 13. Juni 1908, Rainer Maria Rilke: Briefe an Sidonie Nádherny von Borutin, 70 f. 21 Rilke: Tagebücher, 47. 22  Rainer Maria Rilke: Das Testament. 23  Hans-Egon Holthusen: Rilkes Sonette an Orpheus,83. 24  Mun-Yeong Ahn: Die Paradoxiestruktur beim späten Rilke, 197. 25  Brief vom 21 April 1922, in: Rainer Maria Rilke, Briefe an Nanny Wunderly-Volkart,739. 26  Wie Anm. N°. 2, 899. 27  Die erste und die letzte Formel könnten an die Konzeption der Elegie an Marina Zwetajewa-Efron (KA 2,405 f.) erinnern. Der ganze Text ist auf die zweideutige Auslegung der Idee des Verzichts aufgebaut: Rilke verzeichnet (verzichtet) in ihm ein multidimensionales oder adimensionales Universum, wo alle überzähligen chtonischen wie uranischen Ausrichtungen gleichwertig sind, dementsprechend wird der Text in einer variativen, halbkreisartigenzerstreuten Bewegung geführt – insofern wird er durch die Erfahrung der mittlerweile entwickelte Erfahrung einer anagogischen Weltschöpfung mitgeprägt; indessen ist diese nachgetragene Elegie auf eine metaelegische Umdeutung von der Konzeption des ehemaligen Zyklus angesetzt, ihre grundlegende Vorstellung bleibt diesem letzten Ideal der Lyrik Rilkes fern, s. detaillierter: Peter Por: »Rilkes Zwetajewa-Elegie«. In der zweiten Formel hat Rilke seine bereits angeführte Idee Sinne der Anagogik umgeschrieben. Mit dem Syntagma ›vorhanden und unsichtbar‹ hat Rilke seine grundlegende Formel von ›offen und geheim‹ für einen Kontext wieder angewendet. 28  Brief vom 6. April 1921, in Rainer Maria Rilke et Merline: Correspondance,306. 29  Brief vom 8. April 1921, a. a.O. 311 f., und Rainer Maria Rilke: Testament,40. 30  Ben Hutchinson: »Ankunft«: Spätes Gedicht oder frühes Motiv, 117.

Rilkes anagogische Gottesvorstellung  |  437

– Ludwig Wenzler –

Rilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet Im Werk Rainer Maria Rilkes begegnet eine unglaubliche Vielfalt von Bezugnahmen auf religiöse Erfahrungen und auf Gott. Es ist erstaunlich, wie oft in den Schriften Rilkes ›Gott‹ und religiöse Themen berührt werden. Diese Äußerungen haben unterschiedliche Rezeptionen erfahren, wurden mit unterschiedlichen Interessen gedeutet: psychoanalytisch, literaturtheoretisch, als ›heterodox‹ – was immer das heißen mag –, als ›säkularisierte‹ Religiosität, als theologische Rebellion, als spirituelle Lehre, – als Sammlung von Gebeten. Relativ oft gibt es den Versuch, Rilke für eine bestimmte Sicht oder Tendenz zu vereinnahmen oder ihn von einer bestimmten konfessionell geprägten Position aus zu verurteilen. Eine Bestandsaufnahme und Diskussion solcher Interpretationen ist im vorgegebenen Rahmen jedoch nicht beabsichtigt. Vielmehr soll eine Betrachtung versucht werden, die als Grundlage für die Diskussion und Beurteilung solcher unter verschiedensten Aspekten erfolgten Auseinandersetzung mit dem Thema ›Gott‹ bei Rilke dienen kann. 1. Zwei Fragen: Was will Rilke sagen? Was bedeuten die Begriffe ›Religion‹ und ›Gott‹ generell? Jeder, der zum Thema ›Gott‹ bei Rilke spricht, sollte zwei Grundfragen beachten: Was ›will‹ Rilke – und was ›will‹ Religion? Genauer: Wieweit entspricht eine bestimmte Interpretation der Dichtung und anderer Äußerungen Rilkes der Intention Rilkes selbst? Was wollte er selbst ›eigentlich‹ sagen? Wobei von vornherein einzugestehen ist, daß dies nicht mit letzter Gültigkeit zu erheben sein wird; daß Rilke selbst manchmal – gewollt oder ungewollt – in einem noch unentschiedenen Status seines Fragens und Antwortens bleibt.   |  439

Die andere Frage lautet: Wieweit entspricht das, was Rilke zum Thema ›Gott‹ und ›Religion‹ äußert, der ›Sache‹ der Religion selbst, also dem, was das Phänomen ›Religion‹ von seinem ›Wesen‹ her ist und sein will? Wobei auch hier wieder gilt, daß dies nie abschließend gesagt werden kann, daß sich aber sehr wohl mehr oder weniger überzeugende, weil begründbare Antworten finden lassen. Wer diese beiden Fragen in seiner Beschäftigung mit den Themen ›Religion‹ und ›Gott‹ bei Rilke ernst nehmen will, der kommt nicht daran vorbei, das Thema mit dem Erkenntnisinteresse, den Kategorien und Methoden der Religionsphilosophie anzugehen. Einige Vorüberlegungen sollen deshalb darauf aufmerksam machen, worauf in der religionsphilosophischen Beschäftigung mit dem Werk Rilkes besonders zu achten sein wird. 2. Aufgabe und Methode einer Philosophie der Religion Religiöses Verhalten ist offensichtlich ein allgemein-menschliches Phänomen, es begegnet überall, in den unterschiedlichsten Ausdrucksgestalten – und immer vieldeutig. Aufgabe einer Philosophie der Religion ist es zu klären, welches die grundlegenden Erscheinungsformen, Strukturen, Erfahrungen, Begriffe, Komponenten des religiösen Verhältnisses sind. Insbesondere geht es um die Begriffe wie ›Gott‹ und göttlich, heilig, Erfahrung, Kommunikation, Vertrauen, Symbole usw. Vor allem gilt es, die Eigenart religiöser Erfahrung wie religiösen Sprechens zu erkunden. Eine besonders wichtige Aufgabe einer Philosophie der Religion ist es zu klären, worin sich verfehlte Formen des religiösen Verhältnisses von den Formen authentischen Verhaltens unterscheiden. Solche Fragen sind zu beantworten durch Urteile der Vernunft. Vernunft läßt nur das gelten, was sich selbst auf- und ausweisen kann. Dieses Sich-selbst-Zeigen gibt die Methode vor, der eine philosophische Reflexion des Phänomens ›Religion‹ zu folgen hat. Sich zeigendes Phänomen ist das, was als Inhalt des Bewußtseins gegeben ist. Was im Bewußtsein gegeben ist, ist einerseits klar und unbestreitbar, unhintergehbar, fundamentum inconcussum. Es fordert aber andererseits geradezu dazu auf, nach seiner Genese, nach 440  |  ludwig wenzler 

seinen Voraussetzungen und Implikationen, nach seinen Bedeutungen zu fragen. Die phänomenologische Beschreibung des Gegebenen ist immer schon zugleich hermeneutische Deutung, Auslegung. Beides geschieht reflektiert, argumentativ verantwortet. Reflektierende Vernunft weiß sehr wohl darum, daß zwar alles, ›was sich von sich selbst her zeigt‹, zugleich immer schon interpretiert ist. Es ist vorgeprägt oder vorinterpretiert durch Vorverständnisse, Vorurteile, ›erkenntnisleitende Interessen‹ (Habermas), Kontexte, Traditionen, sprachliche Möglichkeiten seines Ausdrucks usw. Doch eben deshalb, weil Vernunft weiß, daß jedes Phänomen zugleich Interpretation ist – die aber wiederum zum Phänomen, zur neuen Gegebenheit des Bewußtseins wird –, kann sie dies in ihrer Reflexion berücksichtigen: »Phänomene sind stets im Übergang zu anderen Phänomenen: Es gibt kein Phänomen in Isolation; jedes Phänomen weist auf andere zurück, von denen es herkommt, und es verweist auf andere weiter, die durch es mit ermöglicht werden. In jedem Phänomen konkretisiert sich eine Interpretationsgeschichte, und jedes Phänomen eröffnet neue Interpretationsgeschichten.«1 Ein Phänomen ist insofern zugleich ein Akt lebensweltlichen Verstehens. Formalisiert läßt sich das komplexe Ineinander der beiden Vollzüge so ausdrücken: Etwas erscheint als etwas für jemanden und wird »von jemanden durch etwas als etwas für jemanden interpretiert«2 – und sei es für den Interpretierenden selbst. Im Falle der Religion wird die Komplexität von Phänomen und Interpretation noch einmal gesteigert: Religion vollzieht sich gewissermaßen in zwei Dimensionen, einmal im Bereich des Sichtbaren, als religiöses Verhalten und Handeln, als Bekenntnis, Ritual, als sichtbare Institution und Tradition, zum anderen im Bereich der daraus erschlossenen inneren Religiosität eines Menschen, der seelischen, persönlichen Einstellung. Jedes religiöse Phänomen ist insofern mehrfach kodiert, das heißt, es erscheint in unterschiedlichen Deutungs- und Bedeutungsrahmen. An einem Beispiel verdeutlicht: In jeder religiösen Handlung kann Aberglaube, Berechnung, Machtinteresse, Furcht verborgen sein, und in einer scheinbar rein rituell oder mechanisch vollzogenen Handlung kann der Funke einer wirklichen religiösen Ergriffenheit, kann Andacht stecken. Wer will das wissen und entscheiden? Nur der Herzenskenner Rilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet  |  441

(kardiognosth/@) könnte das wissen. Unter diesem Vorbehalt hat auch das Urteil über Rilkes Ringen um sein Bild von Gott und um seine Wege mit ›Gott‹ zu ergehen. 3. Religion: ›Umgang mit dem Heiligen oder Göttlichen‹ In allen Formen von Religion haben Menschen es mit etwas zu tun, was mit dem Begriff ›das Heilige‹ bezeichnet wird. Eng mit dem Bedeutungsfeld des ›Heiligen‹ verbunden ist ›das Göttliche‹ oder dann die Gestalt ›Gottes‹ (des Einen) oder ›eines Gottes‹ (innerhalb einer Mehrzahl von Gottheiten). Auf die Begegnung mit dem Heiligen antwortet der Mensch mit bestimmten Haltungen, Gefühlen, wie Andacht, Verehrung, Staunen, Erschrecken, Sehnsucht, Liebe. Als Beschreibung des Phänomens ›Religion‹ kann deshalb die Aussage ›Religion ist Umgang mit dem Heiligen oder Göttlichen‹ dienen. Religion ist die gelebte Beziehung zu dem, was Menschen als heilig oder als göttlich erfahren und bezeichnen.3 Andere Kennzeichnungen des religiösen Verhältnisses könnten lauten »Leben angesichts des Unverfügbaren«4 oder »Angegangensein vom Unbedingten«. Wie schon erwähnt, vollzieht sich diese Beziehung in der Polarität von Sichtbar-Unsichtbar, als äußerer Kult wie als innere Spiritualität. Religion braucht Konkretheit, erlebbaren sinnlichen Ausdruck. Genau hier liegt aber ein entscheidender Ansatz dafür, daß das religiöse Verhältnis auch entstellt, verfehlt, mißbraucht werden kann, dann nämlich, wenn Innen und Außen nicht im richtigen Verhältnis stehen, wenn etwa das Äußere um des Glanzes oder der vermeintlichen Sicherheit willen überbetont wird. Religion kann zum ›Geschäft‹ und das Geschäftliche kann zur Ersatzreligion werden. Deshalb gehört zur Philosophie der Religion auch die Kritik der Religion, die Unterscheidung von Wesen und Unwesen. Die Gefahr der Entstellung und Verfehlung des religiösen Verhältnisses ist vor allem dann gegeben, wenn das Moment der Freiheit verlorengeht, wenn Religion nicht mehr auf der freien Entscheidung zu einem Angebot, das als Einladung oder Ruf verstanden wird, beruht, wenn religiöse Praktiken etwa nur aus Gewohnheit, aus Furcht oder Berechnung vollzogen werden. 442  |  ludwig wenzler 

4. Grundzüge des Heiligen Im religiösen Verhältnis erfährt sich der Mensch als in Kontakt mit einer geheimnisvollen Macht befindlich. Als treffendste Bezeichnung für diese Macht wird allgemein der Begriff ›das Heilige‹ anerkannt. Das Heilige begegnet in vielen Gestalten. Der Ausdruck ›Gestalt‹ kann allerdings nur in einem übertragenen, uneigentlichen Sinn angewandt werden, als Umriß eines Bedeutungsfeldes. Eigentlich hat das Heilige keine Gestalt – sondern ist eine unbestimmte, geheimnisvolle Macht, eine Art Dimension und Bereich der Wirklichkeit, eine Atmosphäre, eine Gestimmtheit. Diese geheimnisvolle Macht oder Sphäre geht den Menschen an in den Erscheinungen der Natur, in den wichtigsten Wendepunkten und Ereignissen seines Lebens, in allem, was für das Gelingen seines Lebens von entscheidender Bedeutung ist. Das Heilige zeigt sich nie unmittelbar, sondern immer im Medium einer vermittelnden Gestalt. Mircea Eliade hat dafür den Ausdruck der Hierophanie geprägt. Die Hierophanie ist gekennzeichnet durch eine merkwürdige Spannung von Anwesenheit und Sich-Entziehen. Das Heilige geht den Menschen einerseits an, es umgibt ihn, es ist eine gesteigerte Gegenwart, es wird erfahren als Macht oder Kraft. Aber es läßt sich nicht ergreifen, es läßt nicht über sich verfügen. Es geht an als etwas Heilsames, dem Menschen günstig Gestimmtes, dem Dasein Heil Versprechendes; zugleich kann es als etwas Bedrohliches erscheinen, und dies in mehrfacher Hinsicht, als eine richtende und strafende Macht, dann nämlich, wenn der Mensch dem Heiligen, das zugleich das Gute und Gütige ist, in seinem Verhalten nicht entspricht; zum anderen ist es das Unheimliche, das in seiner Unbegreifbarkeit und Unergründlichkeit ebenfalls etwas Bedrohliches hat: fascinosum et tremendum (Rudolf Otto). Die Reaktionen auf solche Manifestationen des Heiligen sind einerseits Freude, Dank, Verehrung, Andacht, Staunen, Preisen, Rühmen, Vertrauen; andererseits Furcht und Schrecken, Scham, Reue. In dieser Atmosphäre des Heiligen kann sich dann aber so etwas wie die Gestalt Gottes oder einer Gottheit erheben. Es ist hier nicht notwendig zu entscheiden, was früher in der Erfahrung, genauer: Rilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet  |  443

im religiös affizierten Bewußtsein, auftritt. Eine Gottheit bringt die Aura des Heiligen mit sich und die Sphäre des Heiligen ihrerseits ist so etwas wie die vorbereitende Offenbarung der Gottheit. Was ›Gott‹ genannt wird, das wird wiederum in unterschiedlichen Perspektiven gesehen. Man kann es »jenes höhere Wesen, das wir verehren«, nennen, so in Dr. Murkes gesammeltes Schweigen von Heinrich Böll, oder mit Martin Luther »das, woran du dein Herz hängst«.5 Man kann Gott funktional sehen als Dienst- und Bedürfnisgott, oder personal als Partner in einem gegenseitigen Geschehen der Freiheit, der Selbstbestimmung. 5. Der entscheidende Übergang: Vom Begriff zum Namen, vom ›gesagten‹ zum selbst sprechenden Gott Die erste Begegnung eines Menschen mit dem Heiligen oder Göttlichen oder Gott ist sozial vermittelt. Ein Mensch hört, in der Regel in seiner Kindheit, was andere über ›Gott‹ oder über ›Heiliges‹ sagen, exemplarisch formuliert bei Augustinus (conf. 1,14): ›Ich traf auf Menschen, die zu Dir beteten, und ich lernte von ihnen, Dich wahrnehmend, so, wie ich es konnte, daß Du ein Großer bist, der – auch unseren Sinnen nicht erscheinend – uns erhören und uns helfen kann.‹ Die große Frage ist, welche Resonanz eine solche soziale Vermittlung findet, wie sie aufgenommen wird, was sie im Empfänger, in der Regel in dem zu erziehenden Kind, bewirkt. Im günstigen Falle findet, mit dem geistigen Erwachen und Erwachsenwerden des Kindes, das, was andere über Gott mitteilen, eine Antwort in seinem Bewußtsein und ›Herzen‹ und es kommt zu einer Begegnung, zu einer lebendigen Beziehung zwischen dem Menschen und Gott selbst. Dieser Übergang kann sich langsam und unmerklich vollziehen, er kann auch mit einer gewissen Plötzlichkeit geschehen, es kann auf jeden Fall geschehen, daß ein Mensch den Eindruck bekommt, er stehe mit Gott selbst in Kontakt. Dies kann aber nicht von außen beobachtet werden. Hier gilt das Wort des Philosophen Ludwig Wittgenstein: »Gott kannst du nicht mit einem anderen reden hören, sondern nur, wenn du der Angeredete bist.«6 444  |  ludwig wenzler 

Ja, ich kann mir nicht einmal dann, wenn ich mich selbst als den Angeredeten erfahre, sicher sein, daß wirklich Gott zu mir gesprochen hat. Könnte es nicht einfach eine Illusion sein, Produkt meines Wunschdenkens? Oder eine notwendige Idee, die ich brauche, um meinem Weltbild ein vernünftiges Fundament und Ziel zu geben? Die Idee als solche sagt aber nichts darüber, ob ihr auch eine Wirklichkeit entspricht. Das ist der Punkt, an dem die Anführungszeichen ins Spiel kommen. Denn mit dem Ausdruck ›Gott‹ ist zunächst immer ›das, was ich oder andere für Gott halten‹ gemeint. Man kann nie Gott direkt, unvermittelt und unmittelbar, erfahren. Man hört nur die Worte oder Bekundungen der anderen und hört und sieht und empfindet und versteht nur das Echo oder Verständnis dieser Worte in sich selbst. Spricht hier Gott? Oder meint man nur, Gott zu hören? Wenn hier von Gott die Rede ist, kann damit immer nur gemeint sein: das, was andere von Gott sagen, oder das, was man selbst zu hören und zu verstehen meint. Deswegen die Anführungszeichen im Titel dieses Beitrags – und eigentlich sind sie in jeder Nennung des Begriffs oder Namens ›Gott‹ mitzudenken. Aber wann kann man dann ›sicher‹ sein, dem ›lebendigen Gott‹ zu begegnen? Es gibt nur die ›Sicherheit‹ des Glaubens: »Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht« (Heb 11,1). Es gibt keine zwingenden Beweise für das Dasein Gottes. Sehr wohl aber gibt es vernünftige Gründe – als Einladung an den freien Willen. Gott kann jedoch nie zur demonstrierbaren Gegenwart gebracht werden. Ob ein Mensch im Glauben Gott begegnet – dem unsichtbaren, abwesenden Gott, der dem Menschen nur nahe ist in seinem Wort der Weisung (Tora), in seinem Auftrag an den Menschen –, das entscheidet sich letzten Endes nur im Tun, im Verhalten eines Menschen, daran, ob er nach dieser Weisung handelt.7 Gerade bei Rilke lassen sich immer wieder Hinweise finden, daß das Wissen die Wirklichkeit Gottes für den Menschen verdeckt, daß es die Beziehung einer nicht wissenden Sehnsucht geben muß, um nach Gott zu suchen; daß Gott sich nicht ›beweisen‹ muß. Ob Gott wirklich spricht, das erweist sich nur und ausschließlich in der Antwort, die ein Mensch gibt, genauer: darin, ob er dem Imperativ folgt, den die Begegnung mit Gott ihm bedeutet. Erst danach kann – aber muß nicht – ihm ›Gott einfallen‹. Rilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet  |  445

Man kann dies verallgemeinern: Das Heilige, das Göttliche, Gott selbst begegnen nie rein, nie unvermittelt, sondern immer nur in einem Medium, in einem Symbol, in einem Zeichen, in einer rituellen oder ethischen Handlung, in einer Institution, in einem Denk-mal. Alle diese ›Hierophanien‹ verweisen auf das Göttliche, sind es aber nicht selbst, sondern eben nur dessen Anführungszeichen. Dabei läßt sich nicht einfach trennen zwischen dem, was Medium ist, und dem, was dessen Bedeutung, zwischen dem, was Zeugnis über Gott, und dem, was Selbstkundgabe, Selbstmitteilung Gottes ist. Es gibt das eine nur im anderen, es gibt das Sprechen Gottes nur im übersetzenden Sprechen (Verhalten) des Menschen. Wenn man von Gott spricht, spricht man immer zugleich von der ›Gestalt‹, die er in menschlicher Bezeugung oder Übersetzung bekommt. Dies ist die grundsätzliche hermeneutische Voraussetzung, unter der auch die Äußerungen Rilkes über Gott und über sein Verhältnis zu ihm zu verstehen und auszulegen sind. 6. Wie vom Nicht-Sagbaren sprechen? Kann man von diesem persönlichen Hören, das letzten Endes ›nur‹ die Übersetzung eines stummen, wortlosen Anrufs Gottes in meine Sprache, in meine Worte ist, überhaupt sprechen? Oder gilt hier der Schlußsatz Wittgensteins des Tractatus logico-philosophicus: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen«? Man kann die Konsequenz eher umgekehrt sehen: Was so groß ist, daß man nicht davon reden kann, davon darf man auf keinen Fall schweigen. Das Schweigen ist hier nicht das Ende des Diskurses, sondern gerade dessen Anfang. Man kann und muß das ›sprechende Schweigen Gottes‹ übersetzen. Leo der Große hat es so ausgedrückt: »Excedit quidem multumque supereminet humani eloquii facultatem divini operis magnitudo: et inde oritur difficultas fandi, unde adest ratio non tacendi.« – ›Die Größe des göttlichen Werkes geht weit über die Fähigkeit menschlicher Rede hinaus, doch was der Grund für die Schwierigkeit zu sprechen ist, das ist auch der Grund, nicht zu schweigen.‹8 446  |  ludwig wenzler 

Es ist dafür allerdings eine bestimmte Form des Denkens gefordert, die dem Charakter des Geheimnisses, des nicht Ergreifbaren, des sich ständig Entziehenden gerecht wird. Nikolaus von Kues hat es als Paradox ausgedrückt: »Inattingibile attingitur inattingibiliter« – ›Das Nichterreichbare wird berührt auf die Weise des Nichtberührens.‹9 In Rilkes Werk begegnen wir genau diesem Ringen, immer wieder das ›Unsägliche‹ (bei Rilke zu verstehen als ›das Unsagbare‹, ›das Nicht-Sag­bare‹) ins Wort zu bringen. Sein Dichten bliebe ›Gerede‹, ›gereimte Entzückung‹, wenn es nicht gespeist würde aus dem lebendigen Gespräch mit Gott. 7. »Wir aber, die wir uns Gott vorgenommen haben, wir können nicht fertig werden.« – Rilkes lange Wege zu Gott und mit Gott Texte, in denen Gott genannt oder thematisiert wird, finden sich zum einen in der Dichtung Rilkes, zum anderen vor allem in seinen zahlreichen Briefen, in Form von kürzeren Bemerkungen oder von längeren Abhandlungen; ebenso gibt es in seinen Prosaschriften, vor allem im Malte, aber auch in den kürzeren Essais, Überlegungen zu religiösen Themen. Rilke war ein genauer, scharfsichtiger Beobachter, aber er war kein ausgebildeter, systematischer Wissenschaftler. »Es war nicht Rilkes Art, seine Erfahrungen und Einsichten in ein philosophisches System zu spannen und, abstrahierend, aus ihnen Theorien abzuleiten. […] Theoretischen Gedankengängen war er unzugänglich. Begriffliches Denken war ihm fremd, es fehlte ihm die wissenschaftliche Schulung. Er bedurfte völliger Freiheit, um seine flutenden Kräfte strömen zu lassen. Er hat wunderbare Dinge eingesehen und ausgesagt, wie ein Sterndeuter in der Nacht, aber wenn er sie mit dem Verstand ordnen und erklären wollte, blieb er hinter dem Geschauten zurück.«10 Dieses Urteil ist in einigen Punkten zu modifizieren, trifft aber generell den Denkstil Rilkes. Insbesondere dann, wenn bestimmte Phänomene von mehreren Seiten zu betrachten gewesen wären, hat Rilke das nicht immer systematisch auseinandergehalten. Insofern ist der Leser immer wieder aufgefordert, die Aussageabsicht seiner Formulierungen zu erraten. Rilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet  |  447

Es versteht sich von selbst, daß seine Texte möglichst ohne Vorurteile, mit Offenheit, mit Einfühlung zur Kenntnis genommen werden, wohlwollend, was nicht heißt: unkritisch. Und manches wird man nicht verstehen, wenn man sich nicht bemüht, in eine ähnliche Haltung der Verehrung, des Staunens, der Andacht, der Dankbarkeit, aber auch der Klage zu kommen, in der Rilke seine Texte geschrieben hat. Im vorgegebenen Rahmen kann naturgemäß nur eine Auswahl aus den riesigen Textmassen der Dichtung und vor allem der Briefwechsel behandelt werden. Die Auswahl ist – wie nicht zu vermeiden – subjektiv und zu einem gewissen Maße zufällig. Für die Darstellung und Behandlung empfahl sich eine annähernd chronologische Abfolge. Im Zuge der Arbeit erwies die Bemerkung des Malte »Wir aber, die wir uns Gott vorgenommen haben, wir können nicht fertig werden« (KA 3,620), ihre ganz eigene Bedeutung. Und obwohl »[w]ir ahnen, daß er zu schwer ist für uns«, fühlen wir uns verpflichtet, »langsam die lange Arbeit zu tun, die uns von ihm trennt« (584).11 8. Kindheit und frühe Jugend: ein entstellendes Bild von ›Gott‹ – doch zugleich ein religiöses Grundvertrauen Bei Rilke nahm das anfängliche Bekanntwerden mit ›Gott‹ einen unglücklichen Verlauf. Wie die religiöse Sozialisation, die religiöse Gefühls– und Vorstellungswelt des dreizehnjährigen René Maria Rilke aussahen, läßt ein Abschnitt aus dem Geburtstagsgedicht an seine Mutter aus dem Jahre 1889 erahnen (SW 3,478–480, 479): Ich fleh: ›O Herr, laß lang noch glücklich sein und schenke Glück und Frieden dem vielgeliebten, teuren Mütterlein.‹ Der Himmel wird den Wunsch erhören, den fromm ein kleines Herze spricht, des Kindes Wünsche streng verwehren kann der barmherz’ge Vater nicht!

Hier spricht noch ganz ein ungebrochenes kindliches Vertrauen; vielleicht aber entspricht der Geburtstagswunsch auch nur noch der 448  |  ludwig wenzler 

Erwartung seiner Mutter. Rilke durchschaute früh die lügnerischen, bigotten Bilder von Gott und Religion und mußte sich in einem schwierigen Prozeß davon befreien, wie er in einem Brief an Ellen Key vom 3. April 1903 schreibt: In der Militärschule, nach bangen, langen Kämpfen, gab ich meine heftige katholische Kinderfrömmigkeit preis, machte mich von ihr frei, um noch mehr, noch trostloser allein zu sein; von den Dingen aber, von ihrem geduldigen Dulden und Dauern, kam mir später eine neue größere und frommere Liebe, irgendein Glaube, der keine Angst hat und keine Grenze.12

Trotzdem bleibt für Rilke die Kindheit die »Zeit des Unbewußten«, »deren bestes Merkmal ein freudiges Vertrauen ist […]. Die Kindheit ist das Reich der großen Gerechtigkeit und der tiefen Liebe.«13 Als Schüler der Militär–Unterrealschule in St. Pölten wird Rilke bekanntgemacht mit den traditionellen Gottesbeweisen, die ihm durchaus als selbstverständlich einleuchten; so erwähnt der vierzehnjährige René in einem Brief an seine Mutter vom 27. Oktober 1889 den kosmologischen und den historischen Gottesbeweis und stellt mit Entschiedenheit fest: »Die Quintessenz: Der Glaube an einen allmächtigen Gott ist unausweichlich.«14 Im selben Brief referiert er voll Überzeugung eine Lesefrucht: »[D]as erste Gesetz der neuen [französischen] Staatsverfassung hieß: il faut que chaque français pense à un Dieu qui règne [jeder Franzose muß an einen Gott denken, der regiert.]« Eine solche Aussage ist charakteristisch für die traditionelle Denkweise, der Gott als notwendige Idee erscheint. Gott ist eine notwendige Idee – man ›muß‹ sie denken! Aber Kant hat darauf aufmerksam gemacht, daß aus der Notwendigkeit der Idee ›Gott‹ noch nicht auf die Wirklichkeit Gottes geschlossen werden kann. Seine Absage an bigotte und doktrinäre Formen des Glaubens formuliert Rilke dann in Mein Glaubensbekenntnis (2. April 1893; SW 3,489–491): Ihr lippenfrommen Christen Nennt mich den Atheisten Und flieht aus meiner Näh’. Weil ich nicht wie ihr alle Rilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet  |  449

Bethöret in die Falle Des Christentumes geh.

Nach einer harten Kritik an den Lehren des Christentums schließt er mit seinem eigenen Glaubensbekenntnis (SW 3,491): […] Ich glaub an eine Lehre, Von der man sagt, sie wäre Auf Erden selbst sich Lohn. Die Lehre, die ich übe, Die Lehre heißt die Liebe, Sie ist mir Religion.

Obwohl Rilke lebenslang den konfessionell–doktrinären Formen des Katholizismus, wie er ihn erlebt hatte, ablehnend gegenüber stand, hatte er sich jedoch das tiefe Grundvertrauen des Kindes bewahrt. Am 4. September 1908 schreibt er an seine Frau Clara Rilke über »das Göttliche«, auf das er sie zugehen sieht, und er bekräftigt (Briefe. 1. Bd.: 1897 bis 1914, 247–250, 249): Und ich bin dort gewesen, immer schon, schon als Kind, und komm gehend davon her und bin ausgesandt, (nicht um zu verkünden), um unter dem Menschlichen zu sein, um alles zu sehen, um nichts abzulehnen, keine der tausend Verwandlungen, in denen das Äußerste sich verstellt und schwärzt und unkenntlich macht.

9. »Jetzt geht Dein Wachsen über mich hinaus: Du bist der Werdendste, der wird.« (1897–1900: Tagebücher – frühe Gedichte) Bereits in den Tagebüchern aus der Frühzeit finden sich – zwar eher vereinzelt, aber keinesfalls nebenbei geäußert – Zeugnisse dafür, wie Rilke sich mit dem Thema ›Gott‹ auseinandergesetzt hat. Es sind Versuche, gedanklich Klarheit zu gewinnen. Manches ist noch nicht ausgereift, eher versuchsweise notiert. Der Leser ist gelegentlich herausgefordert, Rilkes Intention zu erraten. Manches muß offen bleiben. Aber Rilke formuliert doch schon wichtige Einsichten, 450  |  ludwig wenzler 

die sich in seinem weiteren Schaffen präzisieren. So bemerkt Rilke im Florenzer Tagebuch:15 Die, welche die meiste Sehnsucht haben, wissen nicht zu sagen, wonach. Dann aber kommt der Versucher und sagt: ›Gott ist es und seine Güte, wonach euch verlangt, verleugnet euch, und ihr werdet ihn finden.‹ Da gehn sie hin und verleugnen sich. Und da haben sie keine Sehnsucht mehr.

Die Sehnsucht nach Gott kann dazu verführen, sich genauer auszumalen, wie Gott eigentlich sei; und indem die Menschen es sich vom ›Versucher‹ – der aber letztlich ihr eigenes Wunschdenken ist – sagen lassen, verlieren sie gerade ihre Sehnsucht. Das Wesen der Sehnsucht ist es jedoch, noch gar nicht zu wissen, wonach sie sich sehnt. Sehnen nach Gott geht ins Unendliche, darf sich nicht auf etwas Bestimmtes, gewissermaßen Vorentschiedenes, Vorgewußtes einlassen. Sehnsucht bleibt offen für Gott, Wissen dagegen würde genau die Göttlichkeit Gottes verdecken, auslöschen (TF 49): »Gäbe es Götter, wir könnten es nie erfahren; denn daß wir um sie wissen, genügt, sie zu vernichten.« Man kann zu Gott nicht mit den Kategorien des Wissens in Beziehung treten. Gott ist kein Gegenstand. Ein Gott, der gewußt wird, ist eben dadurch seiner Gottheit beraubt (vgl. Augustinus, sermo 117,5): »si enim comprehendis, non est deus.« Die Sehnsucht des Menschen ist gewissermaßen das Material, in das Gott sein Wort aussprechen und sein Bild eindrücken kann. Gott bildet sich im Menschen aus dessen Sehnsucht, in Rilkes Aphorismus ausgedrückt (TF 53): »Als alle Völker noch wie ein Mann waren, bildeten sie Gott aus Sehnsucht.« Weil das Bild Gottes im Menschen aus der Sehnsucht des Menschen gebildet wird, kann Rilke sagen (TF 53): Gott ist das älteste Kunstwerk. Er ist sehr schlecht erhalten, und viele Teile sind später ungefähr ergänzt. Aber es gehört natürlich zur Bildung, über ihn reden zu können und die Reste gesehen zu haben.

Die Aussage stellt zwei Sachverhalte fest; einmal: »Gott ist das älteste Kunstwerk.« Dies bedeutet: in welcher Gestalt oder Vermittlung Gott dem Menschen erscheint, zu ihm spricht, sich offenbart, ist immer vom Menschen mitgeschaffen, in Stolz und Bescheidenheit; Rilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet  |  451

der Mensch ist die innere und die äußere Form des Sprechens Gottes. Die Gestalt, in der Gott dem Menschen erscheint, ist gewissermaßen das erste vom Menschen geschaffene Kunstwerk. Die andere Feststellung ist die: Das Kunstwerk ›Gott‹ ist schlecht ausgeführt und »schlecht erhalten«. Deswegen ist dieser schlecht gestaltete Gott gestorben. Darum gehört in diesen Kontext auch der Aphorismus (TF 53): Jeder kommt in Trauerkleidern vom Sterbebette seines Kindheitsgottes; aber bis er zuversichtlich und festlich geht, geschieht in ihm die Auferstehung Gottes.

Derjenige, in dessen Werk Gott wieder auferstehen kann, ist der Künstler. Der Künstler »baut an Gott« und wirkt so an seinem Kommen mit. Was darunter zu verstehen ist, das wird im Essay Über Kunst (Sommer 1898; KA 4, 114–120, 115) ausgeführt: Die anderen haben Gott hinter sich wie eine Erinnerung. Dem Schaffenden ist Gott die letzte, tiefste Erfüllung. Und wenn die Frommen sagen: »Er ist«, und die Traurigen fühlen: »Er war«, so lächelt der Künstler: »Er wird sein«. Und sein Glauben ist mehr als Glauben; denn er selbst baut an diesem Gott.

Das könnte verstanden werden – und wird in der Tat von manchen Interpreten auch so ausgelegt –, als ›mache‹ oder ›schaffe‹ der Künstler Gott nur aus eigener Kraft. Das anzunehmen, liegt Rilke fern, es wäre vermessen und Torheit. Der Künstler, wie Rilke ihn hier versteht, erfährt sich von Gott berührt, angesprochen. Und er spürt: Er muß mit seiner Existenz, mit seiner Fähigkeit als Künstler, auf dieses Angegangensein antworten. Er baut »an Gott«. Gott will im Menschen zu Gegenwart und Gestalt gebracht werden. Im Stunden-Buch wird das Mitwirken des Menschen als so entscheidend gesehen, daß Rilke – in Aufnahme der Sprache der Mystiker – vom Geborenwerden Gottes im Menschen spricht (vgl. unten Kap. 10.). Gott begnügt sich nicht damit, daß er vom Menschen bloß geahnt wird, er will dessen aktives Mitgestalten an seinem Sich–Offenbaren. Der Künstler darf durchaus stolz sein auf seinen Anteil am Hervorbringen des Bildes Gottes. Gott schafft in der ›Werkstatt‹ des Herzens des Künstlers; dort darf ihn der Künstler als sein Mitschaffender ›überraschen‹: 452  |  ludwig wenzler 

Und dann mit dem ›Ahnen‹ überhaupt: war das nicht eine arme und verlassene Welt, welche Gott ahnte hinter den Dingen? War das nicht ein müßiger Gott, ein Gott mit den Händen im Schoß, der so genügsam war, sich ahnen zu lassen? Heißt es nicht vielmehr, ihn finden, ihn erkennen, ihn tief in sich selbst schaffend, wie mitten in der Werkstatt überraschen, um ihn zu besitzen?16

Die Ausdrücke dürfen hier nicht eng ausgelegt werden, sondern in der Breite ihrer möglichen Bedeutungen. Dies gilt besonders für den Begriff des Besitzens. Gott gibt sich dem Menschen ›zu eigen‹; entscheidend aber ist die Haltung, in der ein Mensch diese ›Mitteilung‹ annimmt. Deswegen wird Rilke später sagen: Das Verhältnis wandelt sich vom Besitz zum Bezug (vgl. unten Kap. 16.). Rilke sieht Gott nicht als passives Objekt, als ›unbewegten Beweger‹, sondern Gott will vom Menschen entdeckt werden, Gott will die Aktivität des Menschen, der Mensch soll ihn ›überraschen‹. Das Verhältnis kann sich allerdings sehr wohl auch umkehren, das Göttliche kann ebenso den Menschen überraschen, wie Rilke später im Erlebnis der schöpferischen Inspiration zu den Sonetten an Orpheus sagen wird (SW 2,291): »Da stürzte Gott aus seinem Hinterhalt.« Indem der Künstler ›baut‹ an Gott, an seiner Gestalt, wirkt er mit am Werden, am Wirklichwerden Gottes für den Menschen. Gott als der Lebendige ist ein Werdender. Das steht verbal zwar im Widerspruch zu den Eigenschaften des Ungewordenseins und der Unveränderlichkeit, wie sie Gott in der Sicht der sog. klassischen Metaphysik beigelegt werden, hat aber im Grunde damit nichts zu tun. Die Geschichte Gottes mit dem Menschen geschieht in einer anderen Dimension als der einer geschichtslosen Metaphysik mit einem ›unveränderlichen‹ Gott. Warum sollte in der Geschichte nicht vom Werden Gottes – vom Werden für den Menschen – gesprochen werden, ganz im Geiste des Alten Testaments? Daß Gott ein ›Werdender‹ ist, gehört für Rilke zu seinen tiefsten Erfahrungen Gottes, wie er dies in einem ›Gebet‹17 bezeugt: Ich sprach von Dir als von dem sehr Verwandten, zu dem mein Leben hundert Wege weiß […]. Ich nannte Dich den Nächsten meiner Nächte Rilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet  |  453

und meiner Abende Verschwiegenheit, – und Du bist der, den keiner sich erdächte, wärst Du nicht ausgedacht seit Ewigkeit. Und Du bist der, in dem ich nicht geirrt, den ich betrat wie ein gewohntes Haus. Jetzt geht Dein Wachsen über mich hinaus: Du bist der Werdendste, der wird.

Wie dieses Werden zu verstehen sei, das führt Rilke weiter aus in einem längeren Gespräch, das er in seinem Tagebuch notiert (TF 353):18 Der Mensch bedurfte seiner [Gottes] so dringend, daß er ihn gleich von Anfang als Seienden empfand und sah. Fertig brauchte ihn der Mensch, und er sagte: Gott ist. Jetzt muß er sein Werden nachholen. Und wir sind, die ihm dazu helfen. Mit uns wird er, mit unseren Freuden wächst er, und unsere Traurigkeiten begründen die Schatten in seinem Angesicht. Wir können nichts tun, was wir nicht an ihm tun, wenn wir uns erst gefunden haben.

Wenn Gott nur gebraucht wird, um der Not des Menschen abzuhelfen, dann ›ist‹ er einfach, dann ist er ›fertig‹, es kann sich nichts mehr ereignen zwischen Gott und Mensch, die Geschichte käme zum Stillstand. Gott will, daß sein Werden für den Mensch auch durch den Menschen geschieht. Das kann nur geschehen als Beziehung der Freiheit zwischen Gott und Mensch. Dazu gehört, daß Gott den Menschen nicht überwältigt durch eine Demonstration seiner Stärke. Ja, Gott hält sich so sehr zurück, daß er nicht einmal die Initiative ergreift, auf den Menschen zuzugehen, sondern dies dem Menschen überläßt (aus: Mir zur Feier, 18.5.1898 Viareggio, KA 1,111): Du darfst nicht warten, bis Gott zu dir geht und sagt: Ich bin. Ein Gott, der seine Stärke eingesteht, hat keinen Sinn. Da mußt du wissen, daß dich Gott durchweht seit Anbeginn, und wenn dein Herz dir glüht und nichts verrät, dann schafft er drin. 454  |  ludwig wenzler 

Die erste Initiative hat Gott allerdings ergriffen, als er den Menschen mit seiner Sehnsucht, mit seinem ›glühenden‹ Herzen, ins Dasein rief ›seit Anbeginn‹. Aber dieses Glühen ›verrät‹ noch nichts über Gott, Gott wirkt – ›schafft‹ – da, wo man sein Wirken gar nicht bemerkt! Bis in die feinsten Regungen hinein versteht und beschreibt Rilke die Geschichte zwischen Gott und dem Menschen, höchst sensibel gegen jede denkbare Entstellung oder Verfehlung der Beziehung; durch die bigotten Übertreibungen seiner Erziehung ist er dagegen besonders empfindlich. Bei allem Überschwang verläßt ihn nicht die Vorsicht gegenüber jeder Übertreibung. Er weiß, wie leicht die Beziehung aus dem Gleichgewicht kommen kann. So kann schon das Suchen nach Gott zur Versuchung werden: Gott möge so sein, wie ihn die Menschen sich wünschen. Und wenn sie glauben, ihn gefunden zu haben, wollen sie ihren ›Besitz‹ sichern indem sie ihn an bestimmte Rituale – ›Gebärden‹ – und Bilder binden. Diese Grundversuchung des religiösen Fundamentalismus drückt Rilke so aus (Stunden-Buch. Von der Pilgerschaft, 19.9.1901; KA 1,213): Alle, welche dich suchen, versuchen dich. Und die, so dich finden, binden dich an Bild und Gebärde.

Rilke aber will das Wirken Gottes so aufnehmen, wie es die Erde tut – sie weiß gar nicht um das Wirken Gottes, sie wächst und reift, ohne darauf zu achten. Ich aber will dich begreifen wie dich die Erde begreift; mit meinem Reifen reift: dein Reich.

Rilke will auch keine Beweise und Wunder. Das würde schon wieder die freie Zustimmung in seinem Verhältnis zu Gott beeinträchtigen, korrumpieren. Er will nur das Gesetz Gottes, das er an anderer Stelle das sanfte Gesetz nennt, und das nur das Gesetz der selbstlosen Liebe sein kann (Stunden-Buch, Von der Pilgerschaft, 19.9.1901, KA 1, 213). Rilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet  |  455

Ich will von dir keine Eitelkeit, die dich beweist. Ich weiß, daß die Zeit anders heißt als du. Tu mir kein Wunder zulieb, Gieb deinen Gesetzen recht, die von Geschlecht zu Geschlecht sichtbarer sind.

10. »Ich bin derselbe noch, der bange / dich manchmal fragte, wer du seist.« (1899–1903: Das Stunden–Buch und verwandte Gedichte) Das Stunden–Buch19 stellt vor das Dilemma, daß es im vorgegebenen Rahmen auch nicht annähernd ›behandelt‹ werden kann, daß es aber auch nicht einfach übergangen werden darf. Als Sammlung von ›Gebeten‹ enthält es die größte Fülle an Zeugnissen über Rilkes ›Wege‹ zu Gott und mit Gott. Doch über Gebete kann man eigentlich nicht diskutieren. Es bleibt als erstes nur, diese Verse, die Gebete sein wollen, selbst zu lesen und sich zu fragen, ob man eigene Erfahrungen, Gedanken, Fragen, Bitten darin findet; ob man sich den Text zu eigen machen kann, ob der Text helfen kann, die eigene Beziehung zu Gott, wie ich ihn jeweils zu verstehen glaube, auszudrücken. Da Beten das ganz persönliche Gespräch jedes einzelnen mit Gott sein soll, wird sich erweisen: »[…] jedem wird ein andrer Gott erscheinen« (KA 1,175). Es wurde die Auffassung vertreten, es handle sich bei den Gebeten des Stunden-Buchs nur um Kunstprodukte, um »gereimte Entzückungen«.20 Sicher gibt es manches, was für das Empfinden eines Lesers überschwänglich klingt, zu gefühlvoll oder zu enthusiastisch. Dennoch vermittelt das Stunden-Buch den Eindruck, daß hier ein Mensch aufrichtig und authentisch – mit einer ganz außergewöhnlichen Sprachkraft – seine Gespräche mit Gott mitteilt. Rilke bekräftigt ausdrücklich, daß er ›wahr sein will vor Gott‹ (KA 1,63):

456  |  ludwig wenzler 

Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt, […] Und ich will meinen Sinn wahr vor dir.

Allerdings bemerkt Rilke auch: »Das Stundenbuch ist übrigens keine Sammlung, aus der man eine Seite oder ein Gedicht entnehmen kann, wie man eine Blume pflückt. Mehr als jedes andere meiner Bücher ist es ein Gesang, ein einziges Gedicht, in dem keine Strophe von ihrem Platz gerückt werden kann […].«21 In der gegebenen Situation bleibt jedoch gar nichts anderes übrig, als einige wenige Stellen herausheben, die besonders aufschlußreich sind für Rilkes ›Wege‹ mit Gott und zu Gott. Nicht umsonst steht das zweite Buch unter der Überschrift Buch von der Pilgerschaft. Die Grundfrage, die in allen Fragen und Bitten mitschwingt, ist ohne Zweifel die Frage nach Gott selbst, die Frage danach, wer Gott selbst sei (KA 1,204): Ich bin derselbe noch, der bange dich manchmal fragte, wer du seist. Nach jedem Sonnenuntergange bin ich verwundet und verwaist, […] Dann brauch ich dich, du Eingeweihter, du sanfter Nachbar jeder Not, du meines Leidens leiser Zweiter, du Gott, dann brauch ich dich wie Brot.

Das Gebet bietet ein Beispiel, wie ein Begriff je nach Kontext und Situation unterschiedliche Bedeutungen bzw. Gewichtungen haben kann, hier der Begriff ›brauchen‹. Im Worpsweder Tagebuch hatte Rilke festgestellt, daß ein Gott, der einfach ›gebraucht‹ wird, ein Nutz– und Funktionsgott, zwar ›ist‹, aber ohne Kommunikation mit dem Menschen; er ist einfach da, gewissermaßen ›zuhanden‹.22 Im vorliegenden Falle jedoch ist das Brauchen nicht Grundlage der Beziehung zu Gott, sondern folgt aus dem Grundvertrauen, daß Gott ›eingeweiht‹ ist in das Schicksal des Beters, daß er Anteil nimmt an seiner Not, und dies auf diskrete Weise, ›sanft‹ und ›leise‹ – zwei Eigenschaften, die Rilke mehrfach als wesentliche Eigenschaften Gottes hervorhebt. Rilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet  |  457

Eine Antwort auf die Frage, wer Gott sei, findet Rilke – wenn auch wiederum in Form einer neuen Frage – in der gefühlten Erfahrung, daß Gott sich im Leben und als Leben mitteilt (Das Buch von der Pilgerschaft, KA 1,211): […] es ist ein großes Wunder in der Welt: ich fühle: alles Leben wird gelebt. […] Wer lebt es denn? Lebst du es, Gott, – das Leben?

Rilke spürt: Leben hat eine bestimmte Richtung, einen ›Sinn‹.23 Es ist nicht einfach Werden und Vergehen, sondern in ihm steckt eine Kraft, ein Wille. Es wird gelebt von Gott und will sich weiterleben im Menschen. Es hat die Kraft eines Bejahens und will bejaht werden. Ein Ja zum Leben ist deshalb ein Ja zu Gott, aber nicht zu dem ›gewußten‹, sondern zu dem immer neu Überraschenden, Geheimnisvollen. Gott als den immer Neuen, als Ursprung, als unerschöpfliche Quelle zu erfahren und zu thema­tisieren, ist Aufgabe des Künstlers; dazu benötigt er erfinderische Produktivität, Schaffenskraft; und dazu muß er erst verlernen, was in einem festgefahrenen Verständnis »mit dem Namen Gott gemeint ist«. So sieht es Rilke in der Rückschau, in einem Brief vom 14. Mai 1911 an die Studentin Marlise Gerding (Briefe in zwei Bänden, 1, 354–356): Aber was ist Gebet, – wissen wirs? // Denken Sie, daß mir alle Frömmigkeit unbegreiflich oder gleichgültig ist, die nicht erfindet, die nachspricht, die innerhalb des Vorhandenen sich mit Hoffnungen und Preisgaben einrichtet. Das Verhältnis zu Gott setzt, so wie ich es einsehe, Produktivität, ja irgend ein, ich möchte sagen, wenigstens privates, die anderen nicht überzeugendes Genie der Erfindung voraus, das ich mir so weit getrieben denken kann, daß man auf einmal nicht begreift, was mit dem Namen Gott gemeint ist, sich ihn wiederholen, sich ihn vorsagen läßt, zehnmal, ohne ihn zu verstehen, nur um ihn ganz neu, irgendwo an seinem Ursprung, an seiner Quelle aufzusuchen.

Rilke hält die Inspiration, die ihm im Stunden–Buch zuteil wurde, nicht für das Ende, sondern für den Auftrag zu immer neuem Suchen und Beginnen, er erkennt, daß er mit Gott immer wieder neu anfangen muß (KA 1,192):24 458  |  ludwig wenzler 

Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht, dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht. Aber die Worte, eh jeder beginnt, diese wolkigen Worte sind: Von deinen Sinnen hinausgesandt, geh bis an deiner Sehnsucht Rand; gieb mir Gewand.

11. »Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will.« (1903–1906: ›Briefe an einen jungen Dichter‹) In Briefen an den Dichter Franz Xaver Kappus, die Rilke zwischen dem 17. Februar 1903 und dem zweiten Weihnachtstage 1908 schrieb (KA 4,514–548), geht er neben Fragen der Kunst und Literatur immer wieder auch auf Fragen des Glaubens und der Beziehung zu Gott ein. Dabei entfaltet Rilke vor allem den Gedanken, daß Gott »vielleicht gerade diese Lebensangst von Ihnen [Kappus] braucht, um zu beginnen« (533), nämlich sein Geborenwerden im Menschen: Was hält Sie ab, seine Geburt hinauszuwerfen in die werdenden Zeiten und Ihr Leben zu leben wie einen schmerzhaften und schönen Tag in der Geschichte einer großen Schwangerschaft?25

In einem Brief vom 12. August 1904 (KA 4,539–545) spricht Rilke das Thema des Todes und alles dessen, was im Leben unheilvoll und unerklärbar ist, an; es kommt darauf an, genau dieses Unheilvolle und Schreckliche anzunehmen: Wir müssen unser Dasein so weit, als es irgend geht, annehmen; alles, auch das Unerhörte, muß darin möglich sein. Das ist im Grunde der einzige Mut, den man von uns verlangt: mutig zu sein zu dem Seltsamsten, Wunderlichsten und Unaufklärbarsten, das uns begegnen kann. (541 f.)

Wenn das Unheilvolle und Schreckliche und insbesondere der Tod aus dem Leben ›hinausgedrängt‹ werden, verliert das Leben seine Tiefe, ›die Beziehungen von Mensch zu Mensch‹ werden »gleichsam aus dem Flußbett unendlicher Möglichkeiten herausgehoben […] Rilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet  |  459

auf eine brache Uferstelle, der nichts geschieht« (542). Ohne den Tod und das mit ihm verbundene Schreckliche käme es im Leben auf nichts mehr an, es hätte keinen Ernst, es wäre gleichgültig. Die Gefahr der Vernichtung macht es erst möglich, das Leben zu erringen, erst die Gefahr des Verlustes macht es kostbar. Rilke fragt nicht, warum Gott solche Dinge zulasse; das ist für ihn keine Frage; der Tod und alles Schreckliche gehören zur Ganzheit des Lebens. Rilke hat keine Theorie, die die Frage nach den Abgründen beantworten könnte. Er kann mit dem ›vielleicht‹, das bei ihm charakteristisch ist für solche Vorschläge oder Vermutungen, nur eine schwache Hoffnung, aber eben doch eine Hoffnung, ausdrücken (542 f.): Wir haben keinen Grund, gegen unsere Welt Mißtrauen zu haben, denn sie ist nicht gegen uns. Hat sie Schrecken, so sind es unsere Schrecken, hat sie Abgründe, so gehören diese Abgründe uns, sind Gefahren da, so müssen wir versuchen, sie zu lieben. […] Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will.

Es geht nicht um ein harmloses Gernhaben dessen, was unser Leben gefährdet – das wäre töricht. Das, was unser Leben gefahrvoll macht, sollte geliebt werden, weil es uns antreibt, das Leben vor der Gefahr zu retten; und nur so kommt es überhaupt zu Taten. Dennoch bleibt es ein geradezu übermenschlicher Gedanke, das Schreckliche als das Hilfsbedürftige zu akzeptieren. Das Schreckliche als einen Ruf nach Hilfe, nach Rettung zu interpretieren, würde auf jeden Fall manche Situation ändern. 12. »Gott: wie warst du leicht« – »Herr, sei nicht gut« – »restlose Verwandlung ins Herrliche hinein« (1909–1919) Eigene Krisensituationen und der Blick auf das Schicksal anderer Menschen lassen die Frage entstehen, ob Gott überhaupt gut sei. Das Problem hatte sich in den Briefen an einen jungen Dichter schon angedeutet in der Frage, wie man mit der Tatsache des Schrecklichen und des Todes im Leben umgehen solle. Das Problem tritt jetzt schärfer hervor: Gibt es nicht Schicksale, die den Menschen, der sie 460  |  ludwig wenzler 

erleiden muß, geradezu zwingen, Gott für brutal und zynisch zu halten? Dem steht aber das entgegen, was Gott dem Menschen Gutes erweist: Gott kann doch nur gut sein. So ist Gott aus der Zeit der Kindheit in Erinnerung, als das Verhältnis zu ihm nicht problemgeladen, sondern ›leicht‹ und Gott jederzeit erreichbar war (Sommer 1909, KA 1, 436): Ach in der Kindheit, Gott: wie warst du leicht: du, den ich jetzt von nirgend wiederbringe. Man lächelte nach seinem Lieblingsdinge, es rollte zu: da warst du schon erreicht. Und nun mein Herr, wo reis’ ich hin zu dir?

Jetzt ist es nicht mehr so. Gott ist nicht mehr leicht erreichbar. Vielmehr müßte er eigentlich in Zorn entbrennen angesichts des Treibens der Menschen. Der Dichter fragt (436): Reizt der Geruch von allen unseren Lastern nicht deines Zornes Brunst. Was wartest Du?

Rilke fordert Gott auf, er solle die landläufige Meinung vom ›lieben Gott‹ widerlegen. Die Menschen sollen nicht meinen, Gott sei nur der Nothelfer ihrer kleinen Nöte. Gott ist auch der Krieg, der Hunger, die Gefahr (437): Herr, sei nicht gut: sei herrlich; widerleg das Hörensagen, das sie an dir rühmen: […] Denn so sind wir verkauft an kleine Nöte, daß alle meinen Jahr um Jahr wenn einer ihnen beide Hände böte so wär ein Gott. Du Notnacht voller Röte, du Feuerschein, du Krieg, du Hunger: töte: denn du bist unsere Gefahr.

So, wie die Menschen jetzt sind und sich verhalten, haben sie ein zu geringes Bild von Gott. Sie ›meinen‹, Gott sei deshalb Gott, weil er ihnen Schutz und Hilfe bietet: ›so wär ein Gott‹. Doch Gott muß tödlich sein! Nur so ist seine Macht und Unbegreiflichkeit erfahrbar. Gott ist der Herr über Leben und Tod. Und dieser Tod soll angenommen, bejaht werden. Das ist nur dann möglich, wenn Tod Rilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet  |  461

und Not nicht etwas außerhalb von Gott sind, sondern zu ihm gehören, wenn sogar der Untergang, also der Tod des Menschen, in Gott hineingehört (437): Erst wenn wir wieder unsern Untergang in dich verlegen, nicht nur die Bewahrung, wird alles dein sein: Einsamkeit und Paarung, die Niederlage und der Überschwang. Damit entstehe, was du endlich stillst, mußt du uns überfallen und zerfetzen; denn nichts vermag so völlig zu verletzen wie du uns brauchst, wenn du uns retten willst.

Wenn Gott uns Menschen brauchen würde, um uns zu retten, würde genau das den Menschen verletzen, seine Autonomie mißachten; Gott würde den Menschen verzwecken. Nie würde uns Gott so sehr verletzen, mißachten, mißbrauchen als dann, wenn er uns nur brauchen würde zu dem Zweck, ›uns zu retten‹. Das ist verständlich. Aber muß der Dichter deswegen Gott gleich auffordern, uns zu ›überfallen und [zu] zerfetzen‹? Es ist schwierig, ja, unmöglich, dieser Aufforderung des Dichters mit Zustimmung zu begegnen. In welcher Stimmung macht Rilke eine solche Äußerung? Ist es nur poetische Dramatisierung? Oder fühlt er sich – als Leser des Alten Testaments – in der Rolle des Propheten? Oder ist die Aufforderung vielleicht eher als »Herr, erweise dich nicht immer als der Gütige!« zu verstehen? Zerstört werden soll das ›Hörensagen‹, also die Vorstellung, daß Gott immer ›gut‹ sein müsse nach dem Verständnis der Menschen, daß er sich immer als der Gute und Gütige zeigen und so erfahren werden müsse. Und so ist das Gedicht am Ende vielleicht der Versuch, Vertrauen in Gott zu rechtfertigen. Man kann nur an Gott festhalten, wenn man alles das, was nicht gut ist, in Gott hinein verlegt. Erst dann, wenn der Mensch sogar seine Vernichtung, seinen Untergang, ›in Gott‹ birgt, ist alles Gottes Eigentum, von ihm ›gestillt‹, zur Ruhe gebracht. Doch eine solche Zustimmung ist nur sinnvoll und lebbar, wenn damit die Hoffnung verbunden ist, daß Gott am Ende doch noch die »restlose Verwandlung ins Herrliche hinein« geschehen läßt.26 462  |  ludwig wenzler 

Ein solches Zorngedicht ist Ausdruck einer bestimmten Situation, in der das Unheilvolle der menschlichen Existenz überdeutlich erfahren wird. Daneben und dagegen stehen jedoch auch andere Äußerungen Rilkes. So schreibt er am Karfreitag des Jahres 1913 [21.3.] an die Fürstin Marie von Thurn und Taxis (Briefe in zwei Bänden, Bd. I, 275–281, hier 280): Alle Liebe ist Anstrengung für mich, Leistung, surmenage [Überbürdung], nur Gott gegenüber hab ich einige Leichtigkeit, denn Gott lieben, heißt eintreten, gehen, stehen, ausruhen und überall in der Liebe Gottes sein.

13. »Endlich ein Gott« – Die idolische Entstellung des Gottesbildes (Fünf Gesänge. August 1914) Am 2. August 1914 bricht der Krieg aus, ein Schock, der die Welt verwandelt. Rilke ist zutiefst erschüttert. Schon in den ersten Kriegstagen verfaßt er die Fünf Gesänge (KA 2,106–112).27 In ihnen evoziert und schildert er das Auftreten des Kriegs-Gottes, mit einer sprachlichen Kraft und Genauigkeit, daß man das Drohende, Lähmende, Faszinierende dieser Gottheit geradezu körperlich zu spüren meint. Tief konnte sich Rilke einfühlen in die Begeisterung der Volksmenge, die in ihrem Verlangen nach einer greifbaren Gottheit den Kriegsgott übermächtig werden ließ. Zum erstenmal seh ich dich aufstehn, Hörengesagter, fernster, unglaublicher Kriegs–Gott. Wie so dicht zwischen die friedliche Frucht Furchtbares Handeln gesät war, plötzlich erwachsenes. Gestern war es noch klein, bedurfte der Nahrung, mannshoch Steht es schon da: morgen Überwächst es den Mann. Denn der glühende Gott Reißt mit Einem das Wachstum Aus dem wurzelnden Volk, und die Ernte beginnt. (106)

Daß so etwas geschieht, hätte man nicht für möglich gehalten. Plötzlich ist der ›unglaubliche Kriegs-Gott‹ da. Er zieht die Kraft zu seinem Wachstum aus dem Volk. Er nährt sich von seinen VerRilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet  |  463

ehrern. Dafür verspricht er ihnen einen Inhalt für ihr Dasein, ein hohes Ziel, für das er das Volk erwählt hat. Jetzt plötzlich weiß jeder, wofür er da ist. Jeder fühlt sich ausgezeichnet. Bräute gehen erwählter: als hätte nicht Einer Sich zu ihnen entschlossen, sondern das ganze Volk sie zu fühlen bestimmt. Mit langsam ermessendem Blick Umfangen die Knaben den Jüngling, der schon hineinreicht In die gewagtere Zukunft: ihn, der noch eben Hundert Stimmen vernahm, unwissend, welche im Recht sei, Wie erleichtert ihn jetzt der einige Ruf; denn was Wäre nicht Willkür neben der frohen, neben der sicheren Not? Endlich ein Gott. (106 f.)

Dann steht der Kriegs-Gott da, höher als alles, total. Er unterwirft sich alles mit Gewalt, verspricht eine neue, gesteigerte Form der Gemeinsamkeit. Doch dafür tötet er den einzelnen. Wer sich dem Kriegsgott ergibt, ist nicht mehr er selbst. Es gibt keine Freiheit des Selbstseins mehr. Und nun aufstand er: steht: höher als stehende Türme, höher als die geatmete Luft unseres sonstigen Tags. Steht. Übersteht. Und wir? Glühen in Eines zusammen, in ein neues Geschöpf, das er tödlich belebt. So auch bin ich nicht mehr; aus dem gemeinsamen Herzen schlägt das meine den Schlag, und der gemeinsame Mund bricht den meinigen auf. (108)

14. »Die Sanftheit dieses Zwanges ist so ungemein« (Briefe 1920–1921) Rilke gibt einem jungen Mädchen, das ihn nach seinem Glauben gefragt hatte, bereitwillig Auskunft (Brief an Anita Forrer, 22.–24. März 1920).28 Den Begriff des Glaubens schätzt er nicht, weil er in einem bestimmten engen konfessionellen Verständnis als etwas Mühsames, als Leistung gesehen wird.

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Die landläufige Frage, ob einer ›an Gott glaube‹, scheint mir schon […] aus der falschen Voraussetzung hervorzugehen, als ob Gott auf dem Wege menschlicher Anstrengung und Überwindung überhaupt zu erreichen sei; denn immer mehr ist dem Begriff ›Glauben‹ die Bedeutung von etwas Mühsamem zugewachsen, ja sie hat gerade innerhalb des christlichen Bekenntnisses einen Grad angenommen, der befürchten ließe, daß eine Art Unlust zu Gott der ursprüngliche Zustand der Seele sei. (42 f.)

Die Hinwendung zu Gott ist für Rilke etwas Leichtes, Lustvolles; der Mensch wird von Gott ›ergriffen‹, geradezu hingerissen, ›aber die Sanftheit dieses Zwanges ist so ungemein‹, daß die meisten gar nicht merken, wie es um ›ihr Einsamstes und Eigenthümlichstes‹ steht (vgl. 43). Ganz ähnlich schreibt Rilke am 28. Dezember 1921 an Ilse Blumenthal-Weiß (Briefe 2, 283–286, hier 284): … Glauben! – Es gibt keinen, hätte ich fast gesagt. Es gibt nur – die Liebe. Die Forcierung des Herzens, das und jenes für wahr zu halten, die man gewöhnlich Glauben nennt, hat keinen Sinn. Erst muß man Gott irgendwo finden, ihn erfahren, als so unendlich, so überaus, so ungeheuer vorhanden –, dann sei’s Furcht, sei’s Staunen, sei’s Atemlosigkeit, sei’s am Ende – Liebe, was man dann zu ihm faßt, darauf kommt es kaum noch an […].

Ein Glaube, zu dem man sich willentlich geradezu zwingt, ist keine Basis für die Beziehung zu Gott; wenn man Gott entdeckt hat, gibt es ›kein Aufhören‹ mehr für die ›Atemlosigkeit‹ der Liebe. Rilke versteht dabei den Zwang, von dem er spricht, je nach Kontext anders; im Brief an Anita Forrer sprach er von der ›Sanftheit dieses Zwanges‹ und meinte das Hingezogensein des Menschen zu Gott, das aber in keiner Weise seine Freiheit beeinträchtigt. Jetzt spricht er vom › Zwang zu Gott‹, der etwas Unfreies und Unfrohes ist (284): […] der Glaube, dieser Zwang zu Gott, hat keinen Platz, wo einer mit der Entdeckung Gottes begonnen hat, in der es dann kein Aufhören mehr gibt, mag man an welcher Stelle immer begonnen haben.

Religion soll etwas Freudiges sein, eine Öffnung, eine Befreiung (286):

Rilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet  |  465

Religion ist etwas unendlich Einfaches, Einfältiges. […] es ist keine Pflicht und kein Verzicht, es ist keine Einschränkung: Sondern in der vollkommenen Weite des Weltalls ist es: eine Richtung des Herzens.

15. »Er, der Tod […] ist der eigentliche Ja-Sager« (1923) Im Jahr 1923 schreibt Rilke eine Reihe von Briefen, in denen er – wie auch in früheren Briefen schon – sein Verständnis des Todes darlegt, so am 6.1.1923 an Gräfin Sizzo, die durch einen Todesfall einen lieben Menschen verloren hatte (Briefe in zwei Bänden 2, 263–269): […] so tief steckt der Tod im Wesen der Liebe, daß er ihr (wenn wir ihn nur mitwissen, ohne uns durch die ihm angehängten Häßlichkeiten und Verdächte beirren zu lassen) nirgends widerspricht: […] Ich werfe es allen modernen Religionen vor, daß sie ihren Gläubigen Tröstungen und Beschönigungen des Todes geliefert haben, statt ihnen Mittel ins Gemüt zu geben, sich mit ihm zu vertragen und zu verständigen. (267)

Rilke plädiert leidenschaftlich dafür, das Leben zu lieben, den Tod aber als Partner des Lebens mindestens anzunehmen : Ich will nicht sagen, daß man den Tod lieben soll; aber man soll das Leben so großmütig, so ohne Rechnen und Auswählen lieben, daß man unwillkürlich, ihn (des Lebens abgekehrte Hälfte), immerfort mit ein-bezieh­t, ihn mit-liebt, – was ja auch tatsächlich in den großen Bewegungen der Liebe, die unaufhaltsam sind und unabgrenzbar, jedesmal geschieht! (268)

Rilke will geradezu seherisch Zeugnis ablegen für die Einheit von Leben und Tod; von dieser Einsicht fühlt er sich überwältigt; er beschwört die Adressatin, den Tod als unseren tiefsten Freund anzunehmen; aber trotz seines Drängens trägt er auch der Tatsache Rechnung, daß für die meisten Menschen diese Sicht nur schwer anzunehmen ist; vermutlich deswegen flicht er immer wieder ein ›vielleicht‹ in seine Beschwörung ein – und auch, weil es hier kein Wissen, nur das Geheimnis, aber das sprechende Geheimnis, gibt (269): 466  |  ludwig wenzler 

Es wäre denkbar, daß er [der Tod] uns unendlich viel näher steht als das Leben selbst … Was wissen wir davon?! Unser effort [Bemühung] (dies ist mir immer deutlicher geworden mit den Jahren, und meine Arbeit hat vielleicht nur noch den einen Sinn und Auftrag, von dieser Einsicht, die mich so oft unerwartet überwältigt, immer unparteiischer und unabhängiger … seherischer vielleicht, wenn das nicht zu stolz klingt … Zeugnis abzulegen) … unser effort, meine ich, kann nur dahin gehen, die Einheit von Leben und Tod vorauszusetzen, damit sie sich uns nach und nach erweise. […] glauben sie nur, […] daß er ein Freund ist, unser tiefster, vielleicht der einzige durch unser Verhalten und Schwanken niemals, niemals beirrbare Freund … und das […] gerade dann, wenn wir dem Hiersein, dem Wirken, der Natur, der Liebe … am leidenschaftlichsten, am erschüttertsten zustimmen.

Dem Leben zustimmen heißt, zum Leben ja sagen. Das bedeutet aber, daß man dieses Ja zugleich zum Tod sprechen muß. Denn der eigentliche Ja–Sager ist der Tod! Das Leben sagt immer zugleich: Ja und Nein. Er, der Tod (ich beschwöre Sie, es zu glauben!) ist der eigentliche Ja-Sager. Er sagt nur: Ja. Vor der Ewigkeit.

Dies ist sicher eine der am schwersten nachvollziehbaren ›Lehren‹ Rilkes. Ist der Tod nicht der, der ein radikales Nein sagt zum Leben? Der ein unwiederbringliches Ende setzt? Aber genau dadurch macht er das Leben kostbar, lebenswert. Ein endloses Leben wäre wirklich tödlich, tödliche Langeweile.29 Indem der Tod sein Nein sagt, ruft er gerade den Widerspruch dagegen hervor. Insofern ist er in seinem Nein zum Leben im Grunde ein Ja: Er ist der Grund für jedes Ja, das gegen den Tod gesprochen wird. So kann man es vielleicht ein wenig verstehen, ohne dem Tod sein Geheimnis zu entreißen. Der Tod »sagt nur: Ja. Vor der Ewigkeit.« Er sagt also eigentlich nicht: ›das war’s‹, sondern: ›das wird es sein‹, vor der Ewigkeit und für alle Ewigkeit! In einem Brief an Gräfin Sizzo vom 12. April 1923 deutet Rilke dann auch die theologische Seite seiner Sicht des Todes an. Nur wer dem Leben im ganzen, mit dem Tod und mit dem Furchtbaren, zustimmt, stimmt Gott zu. Furchtbarkeit und Seligkeit sind »zwei Gesichter an demselben göttlichen Haupte«. Wer ja sagt zum Tod, Rilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet  |  467

sagt auch ja zum Herrn über Leben und Tod (Briefe 2, 404–411, hier 406 f.). Wer nicht der Fürchterlichkeit des Lebens irgendwann, mit einem endgültigen Entschlusse zustimmt, ja ihr zujubelt, der nimmt die unsäglichen Vollmächte unseres Daseins nie in Besitz, der geht am Rande hin, der wird, wenn einmal die Entscheidung fällt, weder ein Lebender noch ein Toter gewesen sein. Die Identität von Furchtbarkeit und Seligkeit zu erweisen, dieser zwei Gesichter an demselben göttlichen Haupte, ja dieses einzigen Gesichts, das sich nur so oder so darstellt, je nach der Entfernung aus der, oder der Verfassung, in der wir es wahrnehmen … dies ist der wesentliche Sinn und Begriff meiner beiden Bücher […].30

16. »Statt des Besitzes erlernt man den Bezug« (1923: Brief an Ilse Jahr) Am 22. Februar 1923 schreibt Rilke an Ilse Jahr (vgl. Briefe in zwei Bänden 2, 291–292). Er skizziert dabei so etwas wie eine kleine Geschichte seiner Gottesbeziehung: Ich fing mit den Dingen an, die die eigentlichen Vertrauten meiner einsamen Kindheit gewesen sind […] Dann aber tat sich mir Rußland auf und schenkte mir die Brüderlichkeit und das Dunkel Gottes, in dem allein Gemeinschaft ist.

In der Rückschau sieht Rilke die Erweckung durch das Rußlanderlebnis als ein Hereinbrechen Gottes: So nannte ich ihn damals auch, den über mich hereingebrochenen Gott, und lebte lange im Vorraum seines Namens, auf den Knieen …

Die Frucht dieses intensiven Gotteserlebnisses war das Stunden– Buch. Jetzt hat sich eine neue Beziehung ergeben, voll Diskretion, und zwar von beiden Seiten: Jetzt würdest Du mich ihn kaum je nennen hören, es ist eine unbeschreibliche Diskretion zwischen uns, und wo einmal Nähe war und Durchdringung, da spannen sich neue Fernen. 468  |  ludwig wenzler 

Das bedeutet nicht, wie es manchmal interpretiert wird, daß Rilke seine Beziehung zu Gott abgebrochen oder abgeschwächt habe. Sie hat nur eine neue Qualität bekommen. Was bisher Vertrautheit und Nähe war, vielleicht im Gefühl erlebbar, das wird überholt durch die neue Erkenntnis, wie unbegreifbar und unermeßlich Gott ist. Dafür fühlt sich Rilke ganz auf das ›Hiesige‹ verwiesen, auf die Schöpfung, auf die menschliche Existenz, mit all ihren ›Bergen‹ und Abgründen. Hier gilt es, rühmend wie klagend, den Bezug zu Gott zu leben (292): Das Faßliche entgeht, verwandelt sich, statt des Besitzes erlernt man den Bezug, und es entsteht eine Namenlosigkeit, die wieder bei Gott beginnen muß, um vollkommen und ohne Ausrede zu sein. Das Gefühlserlebnis tritt zurück hinter einer unendlichen Lust zu allem Fühlbaren …, die Eigenschaften werden Gott, dem nicht mehr Sagbaren, abgenommen, fallen zurück an die Schöpfung, an Liebe und Tod …

Bewähren muß sich die Zuwendung zur Schöpfung im Dienst an der Liebe, im Annehmen des Todes, im Aushalten. Auch die ›Brücke des Mittlers‹, also Christi, hat nur einen Sinn, wenn man mit ihr nicht die Kluft zudeckt, sondern genau den Abgrund, die nach menschlichem Ermessen unüberbrückbare Distanz zwischen Gott und dem Menschen, anerkennt und aushält, aushält im Dunkel des Nichtwissens und der Hoffnungslosigkeit; die aber kann nur ausgehalten werden, wenn der Mensch das Trostlose und Schreckliche annimmt, im Vertrauen, daß Gott es ins Herrliche verwandeln wird (292): Die starke innerlich bebende Brücke des Mittlers hat nur Sinn, wo der Abgrund zugegeben wird zwischen Gott und uns –; aber eben dieser Abgrund ist voll vom Dunkel Gottes, und wo ihn einer erfährt, so steige er hinab und heule drin (das ist nötiger, als ihn überschreiten). Erst zu dem, dem auch der Abgrund ein Wohnort war, kehren die vorausgeschickten Himmel um, und alles tief und innig Hiesige, das die Kirche ans Jenseits veruntreut hat, kommt zurück; alle Engel entschließen sich, lobsingend zur Erde!

Rilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet  |  469

17. »Komm du, du letzter, den ich anerkenne, / heilloser Schmerz im leiblichen Geweb« (1926) 1926, in seinem letzten Lebensjahr verschlechtert sich der Gesundheitszustand Rilkes; die Krankheit – eine seltene Form von Leukämie – kann nicht bzw. erst sehr spät diagnostiziert werden. Rilke hält sich mehrfach im Sanatorium auf. Zu vertrauten Freunden spricht oder schreibt er von den höllischen Qualen, die ihn entrinnungslos einschließen. Mitte Dezember 1926 formuliert er sein letztes Gedicht (KA 2,412) : Komm du, du letzter, den ich anerkenne, heilloser Schmerz im leiblichen Geweb: […]

In Rilkes letztem Gedicht gilt das Du dem Schmerz, es richtet sich nicht an Gott; der Sprachgestus kann aber so verstanden werden, als sei der Schmerz die letzte Offenbarung eines unbegreiflichen Göttlichen, das der Sterbende, wenn auch widerstrebend, anerkennt. Ob er sich als Brandopfer darbringt, darüber zu spekulieren, wäre schon zu viel theologische Vereinnahmung.31 wie ich im Geiste brannte, sieh, ich brenne in dir; das Holz hat lange widerstrebt, der Flamme, die du loderst, zuzustimmen, nun aber nähr’ ich dich und brenn in dir. Mein hiesig Mildsein wird in deinem Grimmen ein Grimm der Hölle nicht von hier. Ganz rein, ganz planlos frei von Zukunft stieg ich auf des Leidens wirren Scheiterhaufen, so sicher nirgend Künftiges zu kaufen um dieses Herz, darin der Vorrat schwieg. Bin ich es noch, der da unkenntlich brennt? Erinnerungen reiß ich nicht herein. O Leben, Leben: Draußensein. Und ich in Lohe. Niemand der mich kennt.

Es gibt gute Gründe, an dieser Stelle auf den Versuch einer Interpretation des Gedichts zu verzichten – man muß dafür zumindest sehr lange warten und nachdenken. Man sollte es einfach stehen lassen, in Hochachtung und Verehrung für den Mann, der dem unerträg470  |  ludwig wenzler 

lichsten Schmerz zugestimmt hat, so, wie er es selbst gefordert hatte: den Tod und das Schreckliche anzunehmen. Ob der Schmerz eine letzte Botschaft des dunkeln Gottes ist? Aber was sagt sie? Rilke hat auf den Trost- und Zufluchtsgott verzichtet. Er hat die Dunkelheit, die Abwesenheit Gottes ausgehalten. Er hat vielleicht die Weisung Dietrich Bonhoeffers vorweggenommen: »Wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, daß wir in dieser Welt leben müssen – ›etsi deus non daretur‹ [als ob es Gott nicht gäbe]. Der Auferstehungsglaube ist nicht die Lösung des Todesproblems.«32

Anmerkungen

U. Dalferth: Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, 128.  2 Ebd.  3  Für eine erste Information über Grundfragen und einige gegenwärtige Diskussionspunkte sei verwiesen auf Ludger Honnefelder: Religion in der Moderne.  4  Vgl. Ingolf U. Dalferth: Die Wirklichkeit des Möglichen, 83.  5  Martin Luther: Der große Katechismus, 22: »Das nun, […] woran du dein Herz hängst und worauf du dich verlässest, das ist eigentlich dein Gott.«  6  Ludwig Wittgenstein: Schriften 5, 429: Zettel 717.  7  Dieser auf den ersten Blick nicht leicht einsehbare Sachverhalt würde ausführlichere Darstellung und Erörterung erfordern. Immanuel Kant war einer derjenigen, der für diese Einsicht den Grund gelegt hat – um »für den Glauben Platz zu bekommen« (KrV B XXX). Emmanuel Levinas vor allem hat dann gezeigt, daß Gott nicht wißbare Gegenwart werden kann – und will –, sondern daß nur im Hören des Auftrags unbedingter Verantwortung »Gott einfallen«, »ins Denken kommen« kann, und zwar nur in der Weise einer beunruhigenden »Spur«. – Vgl. dazu Ludwig Wenzler: »Gott sieht das Unsichtbare und sieht, ohne gesehen zu werden« (TU 359). Die Möglichkeit, philosophisch von Gott zu reden – in der Spur eines abwesenden Gottes; sowie Ludwig Wenzler: Erfahrungen mit Gott.  8  Leo der Große: Tractatus septem et nonaginta (CPL 1657).  9  Nicolaus Cusanus: Idiota de Sapientia I,7. 10  Jean Rodolphe von Salis: Rainer Maria Rilkes Schweizer Jahre. Ein Beitrag zur Biographie von Rilkes Spätzeit, 218. 11  Die umfangreiche – und oft disparate – Literatur zur Thematik des Religiösen bei Rilke kann hier nicht notiert werden; hingewiesen sei auf einige Titel, die für diese ›lange Arbeit‹ besonders hilfreich waren: Karl-Josef Kuschel:  1 Ingolf

Rilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet  |  471

Rainer Maria Rilke und die Metamorphosen des Religiösen; Günther Schiwy: Rilke und die Religion; Otto Betz: Weiter als die letzte Ferne. Mit Rainer Maria Rilke die Welt meditieren; darin besonders »Laß dich von mir nicht trennen« – Rilkes Ringen mit Gott, 110–121; »Ach in der Kindheit, Gott: wie warst du leicht« – Vom doppelten Antlitz Gottes, 122–134; Johannes Schwanke: »Wir steigen in die wiegenden Gerüste« – Rilkes Theologie am Rande des Christentums. – Für den Malte Laurids Brigge sei auf die Arbeit von Norbert Fischer in diesem Band verwiesen, außerdem auf Veronika Merz: Die Gottesidee in Rilkes »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. 12 RMR: Briefe aus den Jahren 1892 bis 1904, 338 f.; zit. nach Heinrich Imhof: Rilkes Gott. R. M. Rilkes Gottesbild als Spiegelung des Unbewußten, 33. 13  Über Kunst (1898), hier: KA 4,116. 14  Carl Sieber: René Rilke. Die Jugend Rainer Maria Rilkes, 98–101. 15  April bis Juli 1898, oft in Aphorismenform formuliert; Tagebücher aus der Frühzeit, zitiert TF, 13–132, hier 47. 16 Vgl. Noch ein Wort über den ›Wert des Monologes‹ (September 1898, KA 4,125–127, 126). 17  Worpsweder Tagebuch, 4. Oktober 1900, TF 351 f., SW 3,701. 18  Vgl. dazu die weiteren Ausführungen in TF 352–356. 19  Für eine erste allgemeine Übersicht sei verwiesen auf Wolfgang Braungart: Das Stunden-Buch. In: RHB 216–227. Einen guten Eindruck vom Reichtum der Themen und Motive wie von der dichterischen Kraft vermittelt Dieter Koch: Ich kreise um Gott, um den uralten Turm… und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang – eine Begegnung mit Rainer Maria Rilkes Stundenbuch. – Zum Einfluß von Metaphern und Bildern aus der Mystik vgl. Judy Mendels; Linus Spuler: Zur Herkunft der Symbole für Gott und Seele in Rilkes ›Stundenbuch‹. 20  Bert Herzog: Der Gott des Jugenstils in Rilkes ›Stundenbuch‹, 389. 21  Maurice Betz: Rilke in Frankreich: Erinnerungen, Briefe, Dokumente, 211, Gesprächsnotiz, Paris 1924, zitiert nach KA 1,731 f. 22  Worpsweder Tagebuch, TF 353: »Der Mensch bedurfte seiner [Gottes] so dringend, daß er ihn gleich von Anfang als Seienden empfand und sah. Fertig brauchte ihn der Mensch, und er sagte: Gott ist.« 23  ›Sinn‹ bedeutet ursprünglich Pfad, Weg, Richtung. 24  Dazu gehören auch Gedichte, die nicht im Stunden-Buch stehen, aber im selben Zeitraum wie dieses entstanden sind, etwa SW 3,748 f.; SW 3,752; KA 1,282 f. 25  Brief vom 23. Dezember 1903, KA 4,530–533, 532. 26  Brief vom19. August 1909 an Jacob von Uexküll: Briefe 1. Bd., 262–264, 263; dort wird diese Verwandlung allerdings von der Kunst erwartet, jedoch im religiösen Kontext. – Zur Thematik des Schrecklichen und seiner Verwandlung sind noch folgende Texte wichtig: Brief vom 4. September 1908, an Clara Rilke: Briefe, 1. Bd. 247–250; Brief vom 5. Dezember 1914 an Marianne 472  |  ludwig wenzler 

von Goldschmidt–Rothschild, Briefe, 2. Bd. 15–17, 17; 5. Februar 1919, an Caroline Schenk von Stauffenberg, Briefe in zwei Bänden, 1, 703–705, 704; Brief vom 13. Februar 1919, an Inga Junghanns, ebd. 1, 705–707, besonders 706. – In das Umfeld dieser Gedankengänge gehören auch die Gedichte Schwer ist zu Gott der Abstieg (23.1.1919), KA 2,159; Gott läßt sich nicht wie leichter Morgen leben (Mitte März 1919), KA 2,160. 27  Der vorgegebene Rahmen läßt eine Darstellung und Auslegung der Fülle von Gedanken, die in diesen Fünf Gesängen enthalten sind, nicht zu. Hier können nur einige wenige ausgewählte Zitate angeführt werden. Für eine ausführliche, tiefe Einsichten eröffnende Auslegung sei verwiesen auf Bernhard Casper: Zu Rilkes ›Fünf Gesängen‹. Eine Vorbesinnung auf das Phänomen des Idolischen. 28  Rainer Maria Rilke – Anita Forrer: Briefwechsel, 40–47, 42 f. 29  Das wäre ausführlicher darzulegen. Man lese nur den Roman von Simone de Beauvoir: Alle Menschen sind sterblich. 30  Gemeint sind DE und SO. 31  Und ob Rilke dabei an das Opfer Abrahams gedacht hat (Genesis 22,1–19) oder ob es überhaupt erlaubt ist, daran zu denken, bleibe dahingestellt. 32  Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 394.

Rilkes Wege mit »Gott« – religionsphilosophisch betrachtet  |  473

– August Stahl –

Ein Wehn im Gott Der schöpferische Odem Gottes in Rilkes ›Sonetten an Orpheus‹ Wie immer man das Verhältnis zwischen den Duineser Elegien und den Sonetten an Orpheus versteht und deutet, ob man die Gemeinsamkeiten betont oder die Unterschiede hervorhebt, entstehungsgeschichtlich gehören beide Zyklen zusammen, abgesehen von allem, was sie auch noch verbindet mit dem übrigen Werk. Die Sonette wurden in der Zeit geschrieben, in der die Elegien zum Abschluß kamen – Anfang 1922. Vom Verzicht auf den Hilferuf (»Wer, wenn ich schriee«) und dem »verschluckten Schluchzen«, mit dem die Elegien anheben, bis zur Hoffnung, am Ende »Jubel und Ruhm« anstimmen zu können, sind die Elegien auf den »Preis der Welt« (9. DE) ausgerichtet, auf die beglückende Feststellung, daß »Hiersein […] herrlich« ist.1 Dieses Ziel, das in den Eingangsversen der zehnten Duineser Elegie, die ganz früh entstanden und zur gleichen Zeit wie die erste Elegie, also Anfang 1912, und die schließlich 10 Jahre später in die Endfassung aufgenommen wurden, aufgenommen werden konnten, formuliert damals schon die Erwartung, daß aus den Elegien einmal Hymnen werden könnten. Man wird viele Gründe anführen, warum es dann doch noch zehn Jahre dauerte, bis diese energisch vorgetragene Sehnsucht einmal in Erfüllung ging, oder um im Bild zu bleiben, daß das »dunkele Schluch­zen« zu einem ›blühenden Weinen‹ in einem ›glänzenden Antlitz‹ werden konnte. Ganz unabhängig von den historischen, nationalen, sozialen, ökonomischen, technischen Herausforderungen der Neuzeit, sind es im Werk Rilkes hauptsächlich die unabhängig von der ge­schichtlichen Situation existentiell bedingten Schmerzen, die durchgehend thematisiert werden. Früher (man denke an Reinhold Grimm und an sein Buch Von der Armut und vom Regen)2 wurde   |  475

Rilke diese Akzentuierung zum Vorwurf gemacht als soziale Härte, Narzißmus, als »unzeitgemäßer Autonomiewahn«.3 Ohne daß man der kritischen Sicht zustimmen muß, kann man viel aus der Polemik lernen, und wär es nur dies, daß einem bewußt wird, was ausgespart ist; und aus der Perspektive der Kritiker jedenfalls profiliert sich das eigentliche Anliegen dieses Dichters, nämlich sich einzulassen auf die ontologischen, oder sagen wir, anthropologischen Grunderfahrungen des Menschen, unabhängig von der jeweils sozialen oder historischen Situation. Ein Beispiel für die über das historisch Bedingte hinausreichende Interesse und die unabhängig vom zeitlichen Wandel bestimmte Betroffenheit wäre etwa das neunzehnte Sonett des ersten Teils der Sonette an Orpheus zu nennen: XIX Wandelt sich rasch auch die Welt wie Wolkengestalten, alles Vollendete fällt heim zum Uralten. Über dem Wandel und Gang, weiter und freier, währt noch dein Vor-Gesang, Gott mit der Leier. Nicht sind die Leiden erkannt, nicht ist die Liebe gelernt, und was im Tod uns entfernt, ist nicht entschleiert. Einzig das Lied überm Land heiligt und feiert.

Die die schmerzliche Lage des Menschen benennenden Verse sind negativ formuliert (»nicht erkannt, nicht gelernt, nicht entschleiert«), intensivierend gereiht und gerhythmet und sie sensibilisieren für Verluste und Verstörungen. Die andauernde Not des Menschen und seine Ratlosigkeit sind nicht aufgehoben. Es handelt sich bei der Trias der Leiden nicht um irgendeine Beiläufigkeit. Die Klimax, an deren Ende der Tod steht, vergegenwärtigt existentielle Fragen. 476  |  august stahl 

Die über zwei Zeilen und über die Strophengrenze hinausreichende Präsenz des ›Tötlichen‹, das, wie es heißt, ›immer mitgedichtet‹4 hat, ist das zentrale Thema dieser Dichtung. Man könnte leicht verführt sein, die Zeilen über das ungekonnte Leben zu überlesen, sie zu vergessen um der Feier willen, die man am liebsten ungestört hätte. Tatsächlich aber ist die Wahrnehmung und das Eindenken des Zerstörerischen, der Vergänglichkeit, des Todes, die Aufgabe gewesen, die Rilke immer ernst nahm. Die Verdrängung hat er immer abgelehnt und man darf an die Polemik der Zehnten Elegie erinnern, die Polemik gegen die Ausblendung der Schmerzen, gegen die »Vergeudung der Schmerzen« (Die zehnte Elegie; SW I,721): Wir, Vergeuder der Schmerzen. Wie wir sie absehn voraus, in die traurige Dauer, ob sie nicht enden vielleicht. Sie aber sind ja unser winterwähriges Laub, unser dunkeles Sinngrün, eine der Zeiten des heimlichen Jahres –, nicht nur Zeit –, sind Stelle, Siedelung, Lager, Boden, Wohnort.

Diese Verse der Zehnten Elegie sind tatsächlich sehr ernst gemeint. Nicht nur die Vergleiche mit dem »winterwährigen Laub« und dem dunklen »Sinngrün«, auch die emphatische Reihung – »Stelle, Siedelung, Lager, Boden, Wohnort« – ist eine Werbung für die Annahme des Lebens und der ihm zugeordneten Leiden und Schmerzen, des Todes. Die Elegie verweist da schon voraus auf die Botschaft der Sonette. Einwände und Ablehnung, die Auflehnung gar erscheinen da als ein falsches und unangemessenes Verhalten. Unser Dichter hat sich weit entfernt vom Pessimismus seines Schopenhauer5 und dessen Entwertung des Lebens. Schopenhauer hat in seinem »Hauptwerk«, Die Welt als Wille und Vorstellung alle denkbaren Übel zusammengetragen, um selbst den, wie er schrieb, verstocktesten Optimisten6 von seinen falschen Vorstellungen zu bekehren. Wenn man schon, so Schopenhauer, das Pech hatte, geboren zu werden, dann sollte man froh sein, so schnell wie möglich wieder zu verschwinden. Man ahnt die Distanz Rilkes zu diesem negativen Weltbild und vor allem dem daraus abgeleiteten Urteil gegen das Dasein oder Hiersein. Das Gewicht des Rilkeschen Urteils wird auch fühlbar, wenn man etwa eines der Sonette des Andreas Ein Wehn im Gott  |  477

Gryphius erinnert, ein Sonett wie Es ist alles ganz eytel oder Menschliches Elende,7 Gedichte, deren Leidkonzentration zum Motiv der Abwendung von der Welt wird und zur religiösen Umorientierung auffordert: Noch wil / was ewig ist / kein einig mensch betrachten.

Vom Pessimismus eines Arthur Schopenhauer ist der Dichter der Sonette an Orpheus ebenso weit entfernt wie vom Jenseitstrost des Andreas Gryphius, hinter dessen Vertrauen man immer Martin Luthers Werbung für die feste Burg Gottes vermuten darf. Den versöhnenden Ausgleich schafft in unserem Sonett der Gott mit der Leier. Hinter allem Wandel und über aller Not währt noch sein »Vor-Gesang«. Die Befreiung (oder wenn man das Wort verwenden darf: die Erlösung) aus der Qual des Menschlichen bringt ein Umschlag, die Wende wie man sagt, ins Reich des vom überdauernden VorGesang des göttlichen Sängers fühlbar erfüllten Raums: »das Lied überm Land«. Der im Eingang der 10. Elegie erhoffte Jubel scheint hier erreicht. Das elegische Pathos der negativ formulierten Zeilen ist aufgehoben und verklärt vom Zauber der klanglichen und rhythmischen Inszenierung, der dreigliedrigen Reihung, den Anaphern, den Assonanzen, den Alliterationen, dem daktylisch und symmetrisch geordneten Metrum. Diese Figurationen verwandeln den Mangel in eine hörbare Fülle, die Leere in einen klingenden Raum: Einzig das Lied überm Land heiligt und feiert.    X x x X x x X      X x x X x

Die ästhetische Form, das Lied, wird zur »einzig« möglichen Lösung. Das »einzig« darf man so wenig überhören wie das »heiligt«. Das Schöne wird zum Heiligen und das Mangelhafte zum Rühmlichen. Mit seinem Lied heiligt und feiert dieser »Gott mit der Leier«. Die Verben, Transitive beide, heiligen und feiern, sind absolut verwendet. Ihr Segen ist nicht beschränkt auf dieses oder jenes, er gilt ohne Grenzen wie eine Stimmung des Daseins. Unauffällig, aber in Übereinstimmung mit der rilkeschen, und nicht nur der rilkeschen, 478  |  august stahl 

Raummetaphorik (orientational metaphor) findet sich dieses erlösende Lied »überm Land«, also oben.8 Unabhängig von dieser inneren Grundhaltung, dem Preis der Welt (9. DE, SW I, 719) und der Feier der »herrlichen Überflüsse unsres Daseins« (SO II 22; SW I, 765), kann man feststellen, daß die Sonette das aufnehmen und fortsetzen, womit die Elegien enden.9 Der erste Satz der Sonette knüpft sprachlich, bildlich und in der metaphorischen Orientierung an die Schlußverse der zehnten Elegie an, und der erste Satz der Sonette liest sich geradezu wie eine verklärende Antwort auf die Vorgabe der letzten Elegien-Verse. Zunächst die Schluß-Strophe der 10. Elegie: Und wir, die an steigendes Glück denken, empfänden die Rührung, die uns beinah bestürzt, wenn ein Glückliches fällt.

Und die ersten Zeilen des ersten Sonetts: Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung! O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr!

Schon vor beinahe dreißig Jahren hat Paul Hoffmann in seinem Buch zum Symbolismus10 auf die Sequenz der vom Wortkern her zusammengehörenden Wortformen hingewiesen, das flektierte Verb »stieg« und das Verbalsubstantiv, das auch noch ein Kompositum ist: »Übersteigung«. Wenn man nur das Imperfekt und das Verbalsubstantiv zitiert, geht der lautliche Charme natürlich verloren, der auch von der Phrasierung geprägt ist, den Pausen, den Assonanzen und Alliterationen, und auch von der immer miterzeugten Raumassoziation. Bewegung, Objekt, Präposition und adjektivische Ergänzung (stieg, Baum, Über-, hoher), sie fördern die Ausrichtung nach einer vertikalen Bewegung. Diese Wirkung der ersten Verse wird verstärkt, wenn man den Elegien-Schluß mit einbezieht. Dann erscheint die kreative »Wandlung« vom finiten Verb, vom »stieg«, zum Verbalnomen, »reine Übersteigung«, erweitert oder vorbereitet durch das Partizipium Praesentis: das »steigende Glück« des Elegienschlusses. Aber es ist nicht nur die Erweiterung des einen in der ausgedehnten Variation. Der Anschluß der Eingangsstrophe der Sonette an Orpheus an die Ein Wehn im Gott  |  479

letzten Elegienverse akzentuiert zugleich die Aufwärtsbewegung, mit der die Sonette beginnen durch die Abwärtsbewegung11, mit der die Elegien enden. Das Steigen des Baumes, mit dem die Sonette einsetzen, wirkt in diesem Kontext und vor diesem Hintergrund wie die Synthese, wie eine beispielhafte Verwirklichung des in der Elegie nur Gedachten; und das »Da«, temporal12 verstanden, stellt eine Verbindung her zwischen der erst eingedachten, konjunktivisch formulierten Harmonie der Gegensätze und der erinnerten, im Mythos erreichten (bedingungslosen) Einheit, des im Eins-Sein erhaben aufgehobenen Widerspruchs: »O reine Übersteigung!« Die Jahre vorher in München (22./23. November 1915) geschriebene vierte Elegie ist in der Bildlichkeit dem Schluß der zehnten und dem Beginn der Orpheus-Sonette verwandt und es findet sich auch die Interjektion, das »o« findet sich sogar doppelt, in einer anaphorischen Wiederholung, betont also und auch in einer Frage (SW I,97): O Bäume Lebens, o wann winterlich?

Anders als im ersten Sonett hat die Interjektion in der Elegie eine klagende Bedeutung, steht für den Schmerz. Der Wechsel im Ton, vom Schmerz zum bewundernden Staunen, der Wechsel ist im Werk Rilkes eine bleibende Figur. Was in den Sonetten als ideale Haltung empfohlen ist, nämlich zu sein und zugleich um des »Nicht-Seins Bedingung zu wissen« (SO II 13), das ist in den Elegien als noch unerreichte Versöhnung der Gegensätze, ahnbar im Leben der Natur, den ›verständigten‹ Zugvögeln und den Löwen, die »solang sie herrlich sind, von keiner Ohnmacht« wissen, ist spürbar in der Klage und im Pathos des Jubels. Eines der bekanntesten Gedichte Rilkes, vielleicht sogar das bekannteste, ist das Anfang September 1902 in Paris entstandene Gedicht Herbst.13 Als Beleg für diese Bekanntheit mag man es werten, daß das Gedicht zu den am häufigsten vertonten Texten Rilkes gehört.14 Die sich darin zeigende Einschätzung entspricht durchaus der Sicht des Dichters selbst. Auf seiner Vortragsreise durch die Schweiz im Oktober / November 1919 hat er nur zwei Gedichte an allen sieben Abenden vorgelesen, Das Karussell (Paris, Juni 1906) und dieses Herbst-Gedicht von 1902.15 Die Resonanz beim Publikum und die Wahl des Dichters zeigen, daß wohl in Erfüllung ging, was Rilke in seiner Züricher Vorrede als Bitte formuliert hatte: 480  |  august stahl 

lassen Sie uns, soweit es an uns liegt, alles tun für die wirkliche redliche Gemeinsamkeit dieser Stunde!16

Rilke ging demnach von einer kreativen Beteiligung seiner Hörer aus und seine Texte ließen für die aktive Teilnahme seiner Hörer / Leser auch den Raum, der für eine »wirkliche redliche Gemeinsamkeit« nötig ist. Im Herbst-Gedicht ist diese Möglichkeit schon vom Motiv her angelegt. Der Herbst kann »in der mythisch gefärbten Reihe der Jahreszeiten …als die reichste, vollkommenste« erscheinen.17 Die Vertrautheit des Motivs wird unterstützt durch die Bildlichkeit und die sprachliche Inszenierung. Herbst Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde. Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen. Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.

Neben der lautlichen Intensität, den Alliterationen und Assonanzen, den eindringlichen Wiederholungen, dem gleichmäßigen Gang der symmetrischen Metrik, dem von den Pausen immer beruhigten Rhythmus, abgesehen von diesem figuralen Charme, ist es vor allem die intensiv gegenwärtige und unauffällig aber entschieden ins Metaphorische gleitende Bildlichkeit, die dieses Gedicht so einsehbar und wirksam macht. Von den ›Blättern, die fallen‹ über die ›Erde, die fällt‹, wechselt das Gedicht zeigend und zusammenfassend zu einem allgemein-gültigen Ergebnis: »es ist in allen.« Der Argumentationsweg vom Besonderen und Konkreten, vom Vielen zum Allgemeinen liest sich wie eine logische Beweisführung. Und die Beweisführung darf darum appellativ ausgerichtet sein und den Leser mit einbeziehen. Im »Wir« und auch im »Du« ist die gemeinEin Wehn im Gott  |  481

same Einsicht und gemeinsame Erfahrung angesprochen: »Wir alle fallen.« Der Dichter lädt den Leser / Hörer ein, das »gemeinsame Wissen um den temporalen Charakter allen Lebens«18 zu überprüfen und zu bestätigen. Das ist in diesem Falle und im Rahmen der Metapher des »Fallens« sicher leicht zu erreichen. Aber es gilt auch für das »steigende Glück«, an das wir, nach der Schlußstrophe der zehnten Elegie denken, und mit dem die Sonette an Orpheus den Leser überraschen (SO I 1): I Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung! O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr! Und alles schwieg. Doch selbst in der Verschweigung ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor. Tiere aus Stille drangen aus dem klaren gelösten Wald von Lager und Genist; und da ergab sich, daß sie nicht aus List und nicht aus Angst in sich so leise waren, sondern aus Hören. Brüllen, Schrei, Geröhr schien klein in ihren Herzen. Und wo eben kaum eine Hütte war, dies zu empfangen, ein Unterschlupf aus dunkelstem Verlangen mit einem Zugang, dessen Pfosten beben, -da schufst du ihnen Tempel im Gehör.

Der Ort der Verkündigung dieser Botschaft ist das Gedicht und das Medium ihrer Feier ist die figurierte Rede, der Klang, ist die glücklich im Gedicht selbst bewundert anwesende und verinnerlichte Welt: »O hoher Baum im Ohr!« Die staunende Bewunderung für den im Gesang des Orpheus (»O Orpheus singt!«) vollendeten Baum, ist selbst ein Hörbares, ein bezaubernder Klang, getragen von der »Verführungskraft der Syntax und der Figuration«.19 Die im Gesang des Orpheus geschaffene Welt ist nicht mehr auf Bestätigung angewiesen. Die Silben und Laute haben kaum noch einen Bezug nötig zur Steigerung ihres Jubels. Der Gesang selbst verwandelt jede Hütte in einen Tempel (SO I 1):

482  |  august stahl 

Und wo eben kaum eine Hütte war, dies zu empfangen, ein Unterschlupf aus dunkelstem Verlangen mit einem Zugang, dessen Pfosten beben, da schufst du ihnen Tempel im Gehör.

Man versteht es und fühlt es auch, man hört es sogar, daß der Abstieg von der »Hütte« zum »Unterschlupf aus dunkelstem Verlangen« nur den sprachlich inszenierten Hintergrund für die im Gesang des Orpheus zu erreichende Steigerung zum »Tempel im Gehör« vorbereiten soll. Und diese wunderbare Steigerung vom »Unterschlupf aus dunkelstem Verlangen« zum »Tempel im Gehör« ist eine Form der Verwandlung, die sich der autonomen Schöpferkraft des Dichters verdankt. Die Kraft des orphischen Gesangs ist mit der Verwandlung von niedrig in hoch, so zauberhaft-verklärend sie auch ist, keineswegs an ihrer Grenze. Für ihn gilt nicht einmal die Grenze zwischen Sein und Nichtsein. Das ist so phantastisch nicht, wie man denken könnte. Dahinter steckt auch nicht nur eine Übertreibung der Macht des Kunstwerks. Die Aufhebung der Grenze entspringt vielmehr dem Willen dieses Dichters, aus der metaphysischen Enterbung einen Gewinn für die Welt zu machen. Ein Jahr vor Vollendung der Elegien und vor der Entstehung der Sonette an Orpheus schrieb Rilke die Petite Préface, das Vorwort zu Balthazar Klossowskis Katzenbuch.20 Balthazar Klossowski verarbeitet darin seine Trauer um eine verloren gegangene Katze. Rilke argumentiert in seiner Préface: Wer nicht erkennt, daß in den Tränen um den Verlust das Verlorene als ein Vergängliches anwesend ist, die entlaufene Katze in den Tränen des verlassenen Balthuz, dem entgeht mit der angemessenen Bewertung des Schmerzes auch das unausweichliche Wesen der Welt. Was man nicht verlieren kann, das kann man auch nicht besitzen. Und umgekehrt: Was man nicht besitzen kann, das kann man auch nicht verlieren. Man kann nur besitzen, was man immer verliert. »Auch noch Verlieren ist unser« heißt es in einem Widmungsgedicht für Hans Carossa, eingeschrieben in eine Ausgabe der Duineser Elegien im Februar 1924 (SW II,259). Wer das nicht wahrhaben kann, dem erklärt Rilke am Schluß seines VorworEin Wehn im Gott  |  483

tes zur gemalten Katzengeschichte (Mitsou, 18 f.): »Es gibt keine Katzen.« Dieser Satz vom Oktober 1920 kann als eine Vorwegnahme des einleitenden Satzes des vierten Sonetts des zweiten Teils der Sonette an Orpheus vom Februar 1922 gelten (SW I, 753): »Oh dieses ist das Tier, das es nicht giebt.« O DIESES ist das Tier, das es nicht giebt.

Sie wußtens nicht und habens jeden Falls – sein Wandeln, seine Haltung, seinen Hals, bis in des stillen Blickes Licht – geliebt. Zwar war es nicht. Doch weil sie‹s liebten, ward ein reines Tier. Sie ließen immer Raum. Und in dem Raume, klar und ausgespart, erhob es leicht sein Haupt und brauchte kaum zu sein. Sie nährten es mit keinem Korn, nur immer mit der Möglichkeit, es sei. Und die gab solche Stärke an das Tier,

daß es aus sich ein Stirnhorn trieb. Ein Horn. Zu einer Jungfrau kam es weiß herbei – und war im Silber-Spiegel und in ihr.

Es fällt schwer, sich dem Zauber der Klänge zu entziehen, dem Gang der Argumentation und den beinahe entschuldigenden Erklärungen. Sie haben nicht gewußt, daß es das Tier nicht gibt, aber sie haben es geliebt, sie haben nur Raum gelassen, und es brauchte auch kaum zu sein und dann hat das Tier auch noch von sich aus sich so geformt, wie es ist. Hinzu kommt die beinahe unwiderlegbare Vertrautheit des Mythos. Wer kennt nicht dieses »Tier, das es nicht giebt«, aus Sagen, Erzählungen, Bildern, heidnischen und christlichen, frommen, kirchlichen. Rilke sowieso kannte das Tier von Bildern, den Teppichen der Dame à la Licorne im Musée de Cluny von Paris, eingebunden in die Aufzeichnungen des Malte Laurid Brigge21, oder die Darstellung in Flauberts Versuchung des heiligen Antonius (dem ägyptischen Asketen), wieder zu finden in dem Neuen Gedicht Das Einhorn.22 Der Leser, den Rilke einbezieht und fordert und einbindet, läßt sich bereitwillig erinnern, und entdeckt in seinem kulturellen 484  |  august stahl 

Wissen oder seiner Einbildungskraft, die Konturen des Beschworenen. Schließlich der Umschlag vom Mangel in die Fülle. Was »es nicht giebt«, ist am Ende doppelt da. Nachdem im letzten Terzett über die Entstehung der Name des Tieres erscheint, wechselt die Argumentation in die Beschreibung, die erklärende Genese wechselt in die Erzählung über. Ruhig und im Tone des wirklichkeitssetzenden epischen Imperfekts widerlegen die abschließenden Verse ganz nach den Regeln des Sonetts alle Zweifel, sie widerlegen sie weniger, sie wissen nichts mehr von einem Zweifel: in der gesteigerten Anwesenheit ist aller Mangel vergessen: Zu einer Jungfrau kam es weiß herbei – und war im Silber-Spiegel und in ihr.

Es ist das doppelte »und«, das im Sinne eines Polysyndetons den Eindruck der Fülle hervorruft, verstärkt durch die im Gedankenstrich angedeutete Pause Was man lernt: Die Poesie verführt gegen alles Wissen. »Lerne vergessen!«, heißt es im Sonett I 3: »In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch. / Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind.« Dieser »andre Hauch« weht auch in diesem Gedicht und reißt mit, ohne daß man es merkt. Schon in den Zeilen zwei und drei verbinden Konsonantenfolge und Reime Unvereinbares: wußtens, habens, Falls, Hals. Das »s« hat immer eine andere Provenienz, ist pronominales Objekt für das Faktum (nicht giebt), pronominales Objekt für ein Objekt (das Tier), ist Kasuszeichen (Genitiv) und schließlich nur Teil des Wortes. Eingebunden sind diese Konsonanten in die virtuos gehandhabten und eingesetzten Assonanzen, Reihungen, Wiederholungen. Ich verweise nur auf den Wechsel des vorherrschenden Vokals zwischen der dritten und der vierten Zeile des ersten Quartetts: – sein Wandeln, seine Haltung, seinen Hals, bis in den stillen Blickes Licht – geliebt.

Dabei erschöpft sich die lautliche Figuration nicht nur im Spiel und Wechsel der Vokale, zwischen dem vorherrschenden »a« zuerst und dem nachfolgenden »i«. Wirkungsvoll in diesem Klangkonzert sind auch die »l«-Kombinationen (sieben an der Zahl), die asyndetische Ein Wehn im Gott  |  485

Reihung und die im modus per incrementum geordnete Wiederholung des Possessivpronomens: »sein, seine, seinen« (nicht zu übersetzen!). Da fällt es kaum auf, daß die dritte Zeile eine akkusativische Detaillierung (des »es« in habens), diatyposis in descriptio, bringt und die vierte Zeile, davon abgelöst auf einer anderen Ebene, ein präpositionales Objekt bietet, das den Anschluß sucht zurück, über die dritte Zeile hinweg, nach und in dem pronominalen »es« und dem Hilfsverb in der zweiten (haben es – geliebt). Das über alle diese verführerischen Einzelheiten (im Sinne eines Hyperbatons) hinübergehobene Partizipium Perfecti ist eben dadurch verständlich und zugleich betont als der Kern und Grund der Existenz, der Anwesenheit des Abwesenden. Die Musikalität dieser Verse bestätigt die These Paul de Mans, daß die »Fertigkeit des Gedichts […] in der Beherrschung der Lautdimensionen« besteht23 und daß im Gedicht die »semantische Sprachfunktion der phonischen untergeordnet« sei.24 Alles wovon die Rede ist, den Bewegungen (»sein Wandeln«), der Anatomie (»seine Haltung, seinen Hals«), der sympathischen Physiognomie (»des stillen Blickes Licht«), alles das ist, unabhängig von aller konkreten Umsetzbarkeit ins Sichtbare, gewinnend hörbar vermittelt in dem rhythmischen und wohl abgestimmten Spiel der Vokale und Konsonanten. Folgt man dem klanglichen Zauber des Einhornsonetts des zweiten Teils der Sonette an Orpheus, dann ist man gerne bereit, den Unterschied zwischen dem Tier das »ist« und dem Tier, das es »nicht giebt« zu vergessen, und die Liebe, die schafft höher einzuschätzen als die Liebe, die sich mit Vorhandenem begnügt. Das Einhorn, das seine Existenz der Einbildungskraft des Menschen verdankt, steht in Rilkes Dichtung für die im schönen Schein mögliche Gegenwärtigkeit des Abwesenden und die der Liebe aufgegebene Verwandlung des Mangels in Fülle. Beides ist der Auftrag des Dichters und steht in seinem Vermögen, sichtbar im immer ›mündigeren und königlicheren Zug‹ des Schwans wie in »des stillen Blickes Licht« des Einhorns. Den »aus dem fertig-vollen Garten Eden« geflohenen Adam schreckt als den »Ackerbauer, der begann« (wie den »Schöpfer Himmels und der Erden«25) keine Wüste und keine Leere. Und wie der »Geist Gottes … auf dem Wasser schwebte26 und sprechend zum 486  |  august stahl 

Schöpfer wurde, so ist es in den Sonetten an Orpheus der dichtende Sänger, dessen »Lied überm Land heiligt und feiert«. Es ist die Kraft des um die verlorene Geliebte, die »So-Geliebte«, trauernden Sängers, daß in seiner Klage eine Welt entsteht, in der alles noch einmal da ist: »Wald und Tal und Weg und Ortschaft, Feld und Fluß und Tier«.27 Die Klage wird zur Form der Rettung des Vergänglichen. Orpheus wird zum schöpferischen Sänger, weil er ein zutiefst Leiderfahrener ist und weil er die Leier schon »unter Schatten« gehoben hat.28

Anmerkungen

Die neunte Duineser Elegie: »Preise dem Engel die Welt«. – Die siebente Duineser Elegie: »Hiersein ist herrlich.« Jean Rodolphe von Salis berichtet (Rainer Maria Rilkes Schweizer Jahre. Ein Beitrag zur Biographie von Rilkes Spätzeit, 229 und 238), Rilke habe es zu seiner »fürsorglichen Freundin« gesagt: »Vergessen Sie nie, Liebe, das Leben ist eine Herrlichkeit!« Die sich um ihn kümmerte bis zuletzt, war Frau Nanny Wunderly-Volkart. 2  Reinhold Grimm: Von der Armut und vom Regen. Rilkes Antwort auf die soziale Frage. 3  Andreas Freisfeld: Das Leiden an der Stadt. Spuren der Verstädterung in deutschen Romanen des 20. Jahrhunderts. 4  Briefwechsel mit Erika Mitterer, Elfte Antwort, II, vom 27. Oktober 1925, SW II,315: »Wir sind ja auch in das, was schreckt und stört, / von Anfang an so grenzenlos verpflichtet. / Das Tötliche hat immer mitgedichtet: / nur darum war der Sang so unerhört.« 5  Vgl. das frühe Gedicht Trotzdem (SW I, S. 35( ): »Manchmal vom Regal der Wand / hol ich meinen Schopenhauer, / einen >Kerker voller Trauer< / hat er dieses Sein genannt.« 6  Schopenhauer wird zitiert nach der Ausgabe der Sämtlichen Werke, Band I,383: »und wenn man den vertocktesten Optimisten durch die Krankenhospitäler, Lazarethe und chirurgische Marterkammern, durch Gefängnisse, Folterkammern und Sklavenställe, über Schlachtfelder und Gerichtsstätten führen, dann alle die finsteren Behausungen des Elends, wo er sich vor den Blicken kalter Neugier verkriecht, ihm öffnen und zum Schluß ihn in den Hunterthurm des Ugolino blicken lassen wollte; so würde sicherlich auch er zuletzt einsehn, welcher Art dieser meilleur des mondes possibles ist.« 7  Andreas Gryphius: Gesamtausgabe, Bd. I: Sonette, 7 (VANITAS VANITATUM, ET OMNIA VANITAS) und 9. 1 

Ein Wehn im Gott  |  487

Verwiesen sei auf George Lakoff and Mark Johnson: Metaphors We Live By, 14: »Orientational metaphors give a concept a spational orientation; for example, HAPPY IS UP.«  9 Man darf sich an Katharina Kippenbergs Worte erinnern: »Was dort Frage war, wird hier beantwortet, was dort noch zögernde Einsichten sind hier zur Klarheit durchbrochen, mühsam errungene Lebensfreude in eine bewußte und unbeschränkte Zustimmung zur Erde verwandelt.« So in: K. Kippenberg, Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien und Sonette an Orpheus, 113. S. a. Brief an Witold Hulewicz vom 13. November 1925, Briefe aus Muzot, 333: »Es nimmt mich wunder, daß Ihnen die »Sonette an Orpheus, die mindestens ebenso »schwer« sind, von der gleichen Essenz erfüllt, nicht hilfreicher sind zum Verständnis der »Elegien«. 10  Paul Hoffmann: Symbolismus, 200: »Der erste Eindruck ist, daß ein Wort das folgende hervorbringt: ›stieg‹ wird zu ›Übersteigung‹.« 11  Zum »fällt« und seiner Stellung und Betonung vgl. Roger Paulin, in: Rilke‹s Duino Elegies, 189 f. 12  Vgl. dagegen Manfred Engel im Rilke-Handbuch, 408: »Schon die Verbindung des deiktischen ›da‹ mit einem Verb in der Vergangenheitsform ist ja ungewohnt«. 13  Das Buch der Bilder, 11. September 1902, SW I,400. 14  Siehe die Bibliographien der Vertonungen von Fritz Kunle (Bibliographie der Vertonungen von Texten Rainer Maria Rilkes) und Jessica Riemer (Rilkes Frühwerk in der Musik. Rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen zur Todesthematik. 15  Vgl. Hg. von Rätus Luck: Rainer Maria Rilke. Schweizer Vortragsreise 1919, 45 und 63 f. 16  ›Vorrede zu einer Vorlesung aus eigenen Werken‹ / ›Lesezirkel Hottingen, Zürich‹, SW VI,1098. Dazu Otto Lorenz: Schweigen in der Dichtung: Hölderlin – Rilke – Celan. Studien zur Poetik deiktisch-elliptischer Schreibweisen, 130 f.: »stimmliche Verlautbarung«; Beda Allemann: Zeit und Figur beim späten Rilke, 237 und Rainer Maria Rilke: Die Briefe an Gräfin Sizzo, 1921–1926, hg. von Ingeborg Schnack, 59. 17  Peter Por: Rilkes ›Herbsttag‹. Die Aneignung der Tradition. 18  Otto Lorenz: Schweigen in der Dichtung: Hölderlin – Rilke – Celan. Studien zur Poetik deiktisch-elliptischer Schreibweisen,133. 19  Paul de Man: Allegorien des Lesens,84. 20  Balthus / Rilke: Mitsou. Vierzig Bilder mit einem Vorwort von Rainer Maria Rilke, vgl. dort 5–19. Vgl. auch Rätus Luck: Rainer Maria Rilke, Mitsou, der Kater und der »King of Cats«, 221–235. 21  SW VI,826–833 (38. und 39. Aufzeichnung). 22  Neue Gedichte, SW I,506 f. 23  Paul de Man: Allegorien des Lesens, 63. 24  Paul de Man: Allegorien des Lesens, 64.  8 

488  |  august stahl 

25 

Erster Artikel des Glaubensbekenntnisses: »Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erden«. 26  Genesis 1, 2: »Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.« 27  Zitat aus Orpheus. Eurydike. Hermes, NG I, SW I, 542–545; hier 544. 28  SO I 9; SW I,736:«Nur wer die Leier schon hob / auch unter Schatten, / darf das unendliche Lob / ahnend erstatten.«

Ein Wehn im Gott  |  489

Auswahlbibliographie Rilke, Religion und Christentum

In chronologischer Folge erstellt von August Stahl Ellen Key: Ein Gottsucher (Rainer Maria Rilke). In: E. K., Seelen und Werke, Berlin 1911, S. 223–232. S. auch Anhang VI und Anhang VII in: Rainer Maria Rilke, Briefwechsel mit Ellen Key, hg. von Theodore Fiedler, Insel Verlag, Frankfurt a. M. und Leipzig 1993, S. 287–297. August Faust: Der dichterische Ausdruck mystischer Religiosität bei Rainer Maria Rilke. In: Logos, Band 11, Tübingen 1922, S. 224–255. Fritz Dehn: Rainer Maria Rilke und sein Werk. Eine Deutung. Leipzig 1934. Darin besonders: Der verlorene Sohn, S. 183–202 und: Der Engel, S. 203–222. Joachim Müller: Rilkes Frömmigkeit. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1934/35 (1936), S. 321–366. Gertrud Bäumer: »Ich kreise um Gott«. Der Beter Rainer Maria Rilke, Berlin 1935. Hans-Rudolf Müller: Rainer Maria Rilke als Mystiker. Bekenntnis und Lebensdeutung in Rilkes Dichtungen. Furche-Verlag, Berlin 1935. Martin Kaubisch: Rainer Maria Rilke. Mystik und Künstlertum, Dresden 1936. Ruth Mövius: Rainer Maria Rilkes Stunden-Buch. Entstehung und Gehalt. Im Insel-Verlag zu Leipzig 1937. Wolfram K. Legner: The Religion of Rainer Maria Rilke before his Visits to Russia. In: Monatshefte 30 (1938), S. 440–453. Albert Schäfer: Die Gottesanschauung Rainer Maria Rilkes. Versuch einer Entwicklungsgeschichte, Würzburg 1938. Franz Koch: Rilkes Stunden-Buch – ein Akt deutschen Glaubens. Verlag der Akademie der Wissenschaften, Berlin 1943. Eudo C. Mason: Lebenshaltung und Symbolik bei Rainer Maria Rilke. Weimar 1934, 2. Auflage: Oxford 1964. Besonders das Vorwort (über das Verhältnis von Genie und Heiliger). Hermann Kunisch: Die Religiosität Rainer Maria Rilkes. In: Die Kirche in der Welt 1 (1948), S. 457–468. Eva C. Wunderlich: Rainer Maria Rilkes relgiöse Ideen. In: The German Quaterly 21 (1948), S. 185–195.   |  491

Jakob Amstutz: Die Seelsorge Rilkes. In: Religiöse Gegenwartsfragen, hg. von Josef Böni und Kurt Guggisberg, Heft 16/17, Bern 1948, (62 Seiten). Liselotte Corbach: Rainer Maria Rilke und das Christentum, Lüneburg 1949 (48 Seiten). Franz Josef Brecht: Schicksal und Auftrag des Menschen. Philosophische Interpretationen zu Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien, München 1949. Walter Warnach: Rilke und das Christentum. In: Hochland 42 (1949/50), S. 417–439. Werner Kohlschmidt: Rilkes Religiosität. In: W.K.: Entzweite Welt, Gladbeck 1953, S. 77–87. Liselotte Richter: Rainer Maria Rilkes Gottesbild. In: L. R.: Schöpferischer Glaube im Zeitalter der Angst, Wiesbaden 1954, S. 142–149. Kurt Leese: Rainer Maria Rilke als religiöser Dichter und Denker. In: K.L.: Ethische und religiöse Grundfragen im Denken der Gegenwart, Stuttgart und Düsseldorf 1956, S. 120–205. Bert Herzog: Über Rilkes Antichristlichkeit. In: Stimmen der Zeit 159 (1956), S. 40–46. Ingeborg Doll: Rilke in religionsgeschichtlicher Betrachtung. Diss. Heidelberg 1957. Nobert Müller: Die Religiosität des Dichters Rainer Maria Rilke. Ein Beitrag zur theologischen Literaturbetrachtung, Diss. Halle 1964. Werner Kohlschmidt: Die große Säkularisierung. Zu Rilkes Umgang mit dem Worte »Gott«. In: Sprache und Bekenntnis. Hermann Kunisch zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Wolfgang Frühwald und Günter Niggl, Berlin 1971, S. 335–347. Heinrich Imhof: R.M.Rilke und die Zerstörung der Vaterwelt. In: BlRG 2/1973, S. 3–25 (Kap. I, 2: Irdischer und himmlischer Vater, Kap. II: Der neue »Gott«) Erich Heller: Nirgends wird Welt sein als innen. Versuche über Rilke, Frankfurt a. M. 1975. Gertrud Höhler: Rilkes ›Gott‹. In: G. H., Niemandes Sohn. Zur Poetologie Rainer Maria Rilkes. Wilhelm Fink Verlag, München 1979, S. 123–143. Veronika Merz: Die Gottesidee in Rilkes ›Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹. In: Jahrbuch der Schillergesellschaft 26 (1982), S. 262–295. Heinrich Imhof: Rilkes »Gott«. R. M. Rilkes Gottesbild als Spiegelung des Unbewussten. Lothar Stiehm Verlag, Heidelberg 1983. Kathleen L. Komar: Transcending Angels. Rainer Maria Rilke‘s Duino Elegies. University of Nebraska Press, Lincoln and London 1987. Manfred Frank: Rilkes Orpheus. In: M.F.: Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie. edition suhrkamp, Neue Folge, Band 506, Frankfurt a.M. 1988, S. 180–211. Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Metzlersche Verlagsbuchhand492  |  Auswahlbibliographie 

lung, Stuttgart 1989 (zu Rilkes ›Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹ S. 62–107). Ian R. Leslie: Betrachtungen über Religion und Kunst in den Schriften von R.M.Rilke und D.H.Lawrence, FU, Diss., 1990. Jinhyung Park: Rainer Maria Rilkes Selbstwerdung in buddhistischer Sicht. Ein literatur- und religionsgeschichtlicher Beitrag zu einem neuen RilkeVerständnis, Frankfurt a.M., New York, Paris, 1990. Karl-Josef Kuschel: Rainer Maria Rilke und die Metamorphosen des Religiösen. In: K.-J. K., »Vielleicht hält Gott sich einige Dichter …«, MatthiasGrünewald-Verlag, Mainz 1991, S. 97–163. Adriana Cid: Mythos und Religiosität im Spätwerk Rilkes, Frankfurt a. M. 1992. August Stahl: Die Folgen mütterlicher Eitelkeit. Zu Rilkes Gedicht Von der Hochzeit zu Kana. In: Reiner Marx und Christoph Weiß (Hgg.), Wir wissen ja nicht was gilt. Interpretationen zur deutschsprachigen Lyrik des 20. Jahrhunderts. St. Ingbert 1993, S. 37–53. Bernhard Arnold Kruse: Auf dem extremen Pol der Subjektivität. Zu Rilkes ›Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹, Wiesbaden 1994 (Deutscher Universitätsverlag = DUV); hier vor allem: S. 257–267 und S. 296–303. Gerhard Ammelburger: Bejahungen. Zur Rhetorik des Rühmens bei Rainer Maria Rilke. Würzburg: Königshausen und Neumann 1995 (Rilkes ›Brief des jungen Arbeiters‹, S. 75–85). Paul Claes: Raadsels van Rilke, Amsterdam 1996 (De Bezige Bij). Interpretationen der NG: Gott im Mittelalter, Der Stifter, Der Engel, Aus dem Leben eines Heiligen. Ferdinand van Ingen: Rebellische Mystik. Anmerkungen zu Rilkes Blasphemien. In: Brücken schlagen …»Weit draußen auf eigenen Füßen«. Festschrift für Fernand Hoffmann. Hrsg. von Joseph Kohnen, Hans-Joachim Solms, Klaus-Peter Wegera, Frankfurt a. M. 1994, S. 99–111. Joachim W. Storck: Judentum und Islam in der Sicht Rainer Maria Rilkes. In: Rilke heute. Der Ort des Dichters in der Moderne, Frankfurt a.M. 1997, S. 37–78. Erika Greber: Ikonen, entikonisierte Zeichen. Zur Semiotik der Einbildung bei Rilke (eine intermediale und interkulturelle Studie), in: Poetica 29, 1997; 158–197: »Die vorsätzliche Evakuierung des Raumes dient einer imaginativen Fülle, einer Zunahme möglicher Bedeutungsproduktion. Der leere Ort, künstlerisch als Ort sinnintensiver Negativität erfasst, wird zum Emblem einer asketischen negativen Ästhetik.« (183 f.) Manfred Windfuhr: »Religiöse Produktivität« – die biblisch-jüdischen Motive in Rilkes Neuen Gedichten. In: Traditionen der Lyrik. Festschrift für HansHenrik Krummacher, hrsg. von Wolfgang Düsing in Verbindung mit HansJürgen Schings, Stefan Trappen und Gottfried Willems, Tübingen 1997, S. 137–150. Uwe Spörl: Rainer Maria Rilke als Dichter von Alleinheit und neomythischem Auswahlbibliographie  |  493

Erleben. In: Uwe Spörl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende. Paderborn: Schöningh 1997, S. 310–327. Ulrich Fülleborn: Rilkes Gebrauch der Bibel. In: Manfred Engel und Dieter Lamping (Hg.), Rilke und die Weltliteratur. Artemis und Winkler, Düsseldorf/Zürich 1999, S. 19–38. Richard Exner: Rainer Maria Rilke. Das Marien-Leben. Insel Verlag, Frankfurt a. M. und Leipzig 1999. August Stahl: Franz von Assisi. Rilkes unvergleichlicher Heiliger. Eine Interpretation des Gedichtes Die Heiligen. In: Rudi Schweikert (Hg.), Korrespondenzen. Festschrift für Professor Joachim W. Storck aus Anlass seines 75. Geburtstages. St. Ingbert 1999, S. 455–471. Zoltán Szendi: Der Geist der Verneinung. Zu den biblischen Motiven in der Lyrik Rilkes. In: Ders.: Durchbruch der Modernität. Studien zur österreichischen Literatur. Wien 2000, S. 101–115. Anika Davidson: Advocata Aesthetica. Studien zum Marienmotiv in der modernen Literatur am Beispiel von Rainer Maria Rilke und Günter Grass. Würzburg 2001. Alberto Destro: Rilke. Il dio oscuro di un giovane poeta. Padova 2003. Katja Brunkhorst: Bibel / Mittelalter. In: Rilke-Handbuch, Leben-WerkWirkung. Hg. von Manfred Engel, Metzler, Stuttgart / Weimar 2004, S. 37–43/44–49. Sascha Löwenstein: Rainer Maria Rilkes Stunden-Buch. Theologie und Ästhetik. Wissenschaftlicher Verlag, Berlin 2005. Katja Brunkhorst: ›Verwandt-Verwandelt‹. Nietzsche’s Presence in Rilke. Iudicium Verlag, München 2006 (bes. 113–191, »Nietzsche, Rilke and religion« und »The void created by the death of God«). Günther Schiwy: Rilke und die Religion. Insel Verlag, Frankfurt a.M. und Leipzig 2006. – Wolfgang Braungart: Der Maler ist ein Schreiber. Zur TheoPoetik von Rilkes Stunden-Buch. In: BlRG 27/28 (2006/2007), S. 49–75. Martina King: Pilger und Prophet. Heilige Autorschaft bei Rainer Maria Rilke. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009. Perdita Rösch: Die Hermeneutik des Boten. Der Engel als Denkfigur bei Paul Klee und Rainer Maria Rilke. München: Wilhelm Fink 2009. Norbert Stapper: Rainer Maria Rilkes Christus-Visionen. Poetische Bedeutungen und christopoetische Perspektiven. Ostfildern: Matthias Grünewald – Schwabenverlag 2010. Daniel Joseph Polikoff: In the Image of Orpheus. RILKE – A Soul History. Brooklyn 2011 (bes. Chapter 18, Pure Transcendence, S. 584–624). Roland Ruffini: Vier Gestalten der Bibel in Rilkes Neuen Gedichten. Der andere Verlag, Uelvesüll 2013. Johannes Schwanke: »Wir steigen in die wiegenden Gerüste« – Rilkes Theologie am Rande des Christentums. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie, Jg. 55, 2013 (Walter de Gruyter), 511–525. 494  |  Auswahlbibliographie 

Siglenverzeichnis AK Rainer Maria Rilke: Briefwechsel mit Anton Kippenberg an. quant. Augustinus: De animae quantitate AZ Augustinus: Was ist Zeit? Confessiones XI / Bekenntnisse 11 civ. Augustinus: De civitate dei / Der Gottesstaat conf. Confessiones / Bekenntnisse CV Rainer Maria Rilke: Christus-Visionen DE Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien DH (Denzinger-Hünermann): Heinrich Denzinger: Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum DW Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Abt. I: Die deutschen Werke. Hg. von Josef Quint. Stuttgart: Kohlhammer 1936 ff. FW Friedrich Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft (KSA 3,343–651) GA Martin Heidegger Gesamtausgabe GMS Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Gn. litt. Augustinus: De Genesi ad litteram HA Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. KA Rainer Maria Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe KLL Kindlers Neues Literatur Lexikon. Hg. von Walter Jens. München: Kindler 1988. KpV Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft KrV Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft KSA Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Banden. KU Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft lib. arb. Augustinus: De libero arbitrio LP Wilhelm Kamlah / Paul Lorenzen: Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens MEW Meister Eckhart: Werke I und II. MLB Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge MTT Rainer Maria Rilke und Marie von Thurn und Taxis. Briefwechsel MWG Max Weber Gesamtausgabe NG Rainer Maria Rilke: Neue Gedichte NWV Nanny Wunderly-Volkart ord. Augustinus: De ordine   |  495

Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft RHB Manfred Engel (Hg.): Rilke Handbuch RMR Rainer Maria Rilke S.th. Thomas von Aquin: Summa theologiae SO Rainer Maria Rilke: Sonette an Orpheus sol. Augustinus: Soliloquia StB Rainer Maria Rilke: Das Stunden-Buch SuZ Martin Heidegger: Sein und Zeit SW Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke SwL Augustinus: Suche nach dem wahren Leben. Confessiones X / Bekenntnisse 10 TF Rainer Maria Rilke: Florenzer Tagebuch WD Martin Heidegger: Wozu Dichter? RC RGV

496  |  Siglenverzeichnis 

Zitierte Quellen I. Rainer Maria Rilke: Werkausgaben und Briefsammlungen

1. Zitierte Ausgaben der Werke von Rainer Maria Rilke (zu weiteren Ausgaben vgl. RHB 543 f.) Sämtliche Werke [SW I–VI]. 6 Bände. Hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn. Wiesbaden: Insel 1955 ff. Sämtliche Werke in 12 Bänden; text- und seitenidentisch mit SW; mit einem neuen ›editorischen Anhang‹ von Ernst Zinn. Frankfurt am Main: Insel 1976. Sämtliche Werke. Siebenter Band (SW VII): Übertragungen. Hg. vom Rilke-Archiv. In Verbindung mit Hella Sieber-Rilke. Besorgt durch Walter Simon, Karin Wais und Ernst Zinn †. Frankfurt am Main: Insel 1997. Werke. Kommentierte Ausgabe [KA 1–4]. Hg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, August Stahl und Horst Nalewski. Frankfurt u. a.: Insel 1996. Supplementband: Gedichte in französischer Sprache [KA 5]. Mit deutschen Prosafassungen. Hg. von Manfred Engel und Dorothea Lauterbach. Übertragungen von Rätus Luck. Frankfurt am Main: Insel 2003. Rainer Maria Rilke:  Tagebücher aus der Frühzeit. Hg. von Ruth Sieber-Rilke. Leipzig: Insel 1942. Rainer Maria Rilke:  Die Gedichte. Frankfurt am Main: Insel 1986.

2. Briefsammlungen Die Ausgaben von Rilkes Briefen sind ausführlich im Rilke-Handbuch genannt (RHB 538–541): Briefausgaben, Erinnerungsbücher, Kataloge, Bildbände. Im vorliegenden Band werden zitiert: Rainer Maria Rilke: Briefe aus den Jahren 1892 bis 1904. Hg. von Ruth SieberRilke und Carl Sieber. Leipzig: Insel 1939. Rainer Maria Rilke: Briefe. Hg. vom Rilke-Archiv in Weimar in Verbind. mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Karl Altheim. 1. Bd.: 1897 bis 1914.; 2. Bd.: 1914 bis 1926. Wiesbaden: Insel 1950. Rainer Maria Rilke: Briefe aus den Jahren 1904–1907. Hg. von Ruth SieberRilke und Carl Sieber. Leipzig: Insel 1939.   |  497

Rainer Maria Rilke: Briefe aus den Jahren 1907 bis 1914. Hg. von Ruth SieberRilke und Carl Sieber. Leipzig: Insel 1939. Rainer Maria Rilke: Briefe aus den Jahren 1914–1921. Hg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber. Leipzig: Insel 1937. Rainer Maria Rilke: Briefe aus Muzot 1921–1926. Hg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber. Leipzig: Insel 1936. Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel (Erstausgabe 1928), neu hg. von Ernst Pfeiffer. Frankfurt am Main: Insel 1988. Rainer Maria Rilke und Marie von Thurn und Taxis: Briefwechsel (1909–1926). Zwei Bände. Besorgt durch Ernst Zinn. Zürich: Rokitansky-Verlag und Insel-Verlag 1951. Rainer Maria Rilke (Erstausgabe 1929): Briefe an einen jungen Dichter. Jetzt in: KA 4,514–548. Paula Modersohn-Becker: Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke. Hg. von Rainer Stamm. Frank­f urt am Main: Insel 2003. Rainer Maria Rilke: »Sieh dir die Liebenden an« / Briefe an Valerie von David-Rhonfeld. Hg. von Renate Scharffenberg. Frankfurt am Main: Insel 2003. Rainer Maria Rilke: Briefe an Karl und Elisabeth von der Heydt (1905–1922). Hg. von Ingeborg Schnack. Frankfurt am Main: Insel 1986. Rainer Maria Rilke: Lettres à une amie vénitienne [Mimi Romanelli]. Verona: Bodoni 1941 // Briefe an eine venezianische Freundin. Briefe aus den Jahren 1907–1913. Aus dem Französischen von Margret Millischer. Leipzig: Leipziger Literaturverlag 2011. Rainer Maria Rilke: Briefwechsel mit den Brüdern Reinhart 1919–1926. Hg. von Rätus Luck. Frankfurt am Main: Insel 1988. Rainer Maria Rilke: Briefe an Nanny Wunderly-Volkart (1919–1926). Zwei Bände. Im Auftrag der Schweizerischen Landesbibliothek und unter Mitarbeit von Niklaus Bigler besorgt durch Rätus Luck. Frankfurt am Main: Insel 1977. Rainer Maria Rilke: Brief an eine junge Frau (Lisa Heise). Leipzig: Insel ca. 1940. Rainer Maria Rilke: Briefe in zwei Bänden, hg. von Horst Nalewski. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel 1991. Rainer Maria Rilke und Katharina Kippenberg: Briefwechsel. Hg. von Bettina von Bomhardt. Wiesbaden: Insel 1954. Rainer Maria Rilke: Briefwechsel mit Anton Kippenberg (1934;1949). Zwei Bände. Hg. von Ingeborg Schnack und Renate Scharffenberg. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel 1995. Rainer Maria Rilke – Anita Forrer: Briefwechsel. Hg. von Magda Kerényi. Frankfurt am Main: Insel ²1982. Rilke et Merline: Correspondance. Hg. von Dieter Bassermann. Zürich: Éditions M. Niehans 1954. 498  |  Zitierte Quellen 

Rainer Maria Rilke: Briefe an Sidonie Nádherny von Borutin. Hg. von Bernhard Blume. Frankfurt am Main: Insel 1973. Rainer Maria Rilke – Sidonie Nádherný von Borutin: Briefwechsel 1906–1926. Hg. von Joachim W. Storck. Göttingen: Wallstein 2007. Rainer Maria Rilke: Die Briefe an Gräfin Sizzo 1921–1926. Hg. von Ingeborg Schnack und Renate Scharffenberg. Frankfurt am Main: Insel 1977. Rainer Maria Rilke: Briefwechsel mit Magda von Hattingberg (»Benvenuta«). Hg. von Ingeborg Schnack und Renate Scharffenberg. Frankfurt am Main u. a.: Insel 2000. Rainer Maria Rilke: Briefwechsel mit Erika Mitterer 1924/26. SW II,279–319.

3. Besondere Ausgaben, die im vorliegenden Buch zitiert sind: Rainer Maria Rilke:  Gedichte aus den Jahren 1902 bis 1917. Faksimile der Handschrift. Taschenbuchausgabe der 1931 als Privatdruck erschienenen Edition der Handschrift Rainer Maria Rilkes. Illustrationen von Max Slevogt (1975). Frank­f urt am Main: Insel 1983. Balthus / Rilke:  Mitsou. Vierzig Bilder mit einem Vorwort von Rainer Maria Rilke. Hg. und aus dem Französischen übersetzt von August Stahl. Vorwort 5–19. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel 1995. Rainer Maria Rilke:  Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Das Manuskript des ›Berner Taschenbuchs‹. Band 1: Textgenetische Edition und Band 2: Faksimile. Göttingen: Wallstein 2012. Thurn und Taxis, Marie von:  Erinnerungen an Rainer Maria Rilke. München u. a.: Oldenbourg 1932. Frankfurt am Main: Insel 1988.

II. Weitere Quellen

1. Ausgaben biblischer Schriften: Biblia das ist die gantze Heilige Schrifft Deudsch. D. Mar. Luth. Gedrueckt zu Wittenberg durch Hans Lufft. A.D. XXXIII. Luther-Bibel von 1534. Vollständiger Nachdruck. Köln u. a.: 2002 Taschen (nach der deutschen Übersetzung von D. Martin Luther). Martin Luther: Das Neue Testament in der Fassung des Bibeldrucks von 1545. Bd. 1: Text. Stuttgart: Reclam 1989. L’Évangile de Thomas. Présentation, traduction et commentaires de Émile Gillabert, Pierre Bourgeois, Yves Haas. Paris: Éd. Dervy, 2009.

Zitierte Quellen  |  499

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Thomas von Aquin (1224/25–1274):  Summa theologiae. Cura fratrum eiusdem ordinis / Sancti Thomae Aquinatis. BAC: Madrid 1962–1978. Meister Eckhart (ca. 1260–1328):  Die deutschen Werke. Hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft von Josef Quint; Kurt Ruh, Georg Steer. Stuttgart: Kohl­hammer 1936 ff. Meister Eckhart:  Werke I und II. Hg. und kommentiert von Niklaus Largier. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker-Verlag 1993. Nicolaus Cusanus (1401–1464):  Idiota de Sapientia. Auf der Grundlage des Textes der kritischen Ausgabe neu übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen hg. von Renate Steiger (lat.-dt.). Hamburg: Meiner 1988.

3. Zitierte Quellen aus der Neuzeit in chronologischer Ordnung: Luther, Martin (1483–1544):  Der große Katechismus. München/Hamburg: Siebenstern Taschenbuchverlag 1964. Ribadeneyra, Pedro de (1527–1611): Die Triumphierende Tugend / Das ist: Die außerleßneste Leben der Heiligen Gottes. Bd. 1. 4. Druck. Augsburg und Dillingen: Johann Casper Bencards Seel. Wittib und Erben, 1734. Gryphius, Andreas (1616–1664): Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Band I: Sonette. Hg. von Marian Szyrocki und Hugh Powell. Berlin: de Gruyter 1963. La Fontaine, Jean de (1621–1695):  Fables. Hg. von Philippe Mignon. Paris: Nathan 2007. Pascal, Blaise (1623–1662):  L’Œuvre de Pascal. Texte établi et annoté par Jacques Chevalier. Paris: Gallimard 1940. Pascal, Blaise:  Pensées. Édition de Philippe Sellier. Paris: Bordas 1991. Kant, Immanuel (1724–1804):  Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Wies­baden: Insel (1960); überprüfte Ausgabe. Darmstadt: WBG, 51983. Lessing, Gotthold Ephraim (1729–1781):  Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen. Frank­furt am Main: Klassiker-Verlag 1985 ff. Goethe, Johann Wolfgang (1749–1832):  Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. München: C.H. Beck 1981. Schiller, Friedrich (1759–1805):  Die Götter Griechenlands [2. Fassung, 1800.] In Ders.: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Auf der Grund­lage der Textedition von Herbert G. Göpfert hg. von Peter-André Alt, Albert Meier und Wolf­gang Riedel. Bd. 1. München: dtv 2004, 69–173. Schwedler, Johann Friedrich (†1814):  Grundriß der allgemeinen Religionslehre, / als Vorbereitung / zu dem ausführlichern Unterricht / in den / Lehren des Christenthums / für die obern / Klassen gelehrter Schulen / entworfen von Johann Friedrich Schwedler, D. d. Ph. und Lehrer am luther. Gymn. zu Halle /1801. Zitierte Quellen  |  501

Schleiermacher, Friedrich (1768–1834):  Einleitung in: Platons Werke (1804 ²1817). Jetzt in: Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis. Hg. von Konrad Gaiser. Hil­desheim: Olms 1969,1–32. Hölderlin, Friedrich (1770–1843):  Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt am Main: Deutscher KlassikerVerlag1992. Novalis (1773–1801): Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-kritische Ausgabe in vier Bänden. Begründet von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart: Kohlhammer 1960 ff. Novalis:  Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. 3 Bde. Bd. 2: Das philosophischtheoretische Werk. Hg. von Hans-Joachim Mähl. Darmstadt: WBG 1999. Runge, Philipp Otto (1777–1810):  Von dem Machandel­boom. Mit einer Nacherzählung und einem Nachwort von Wolfgang Koeppen; mit zwei Bildern von Anita Albus. Frankfurt am Main: Insel 1987. Grimm, Jacob (1785– 1863)/ Grimm, Wilhelm (1786–1859):  Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Aus­gabe letzter Hand. Hg. von Heinz Rölleke. 3 Bände. Stuttgart 1984. Schopenhauer, Arthur (1788–1860):  Sämtliche Werke. hg. von Athur Hübscher. 7 Bände. Wies­baden: F. A. Brockhaus 31971. Feuerbach, Ludwig (1804–1872):   Das Wesen des Christentums (1841). In: Gesammelte Werke, Band 5. Hg. von Werner Schuffenhauer mit einer Vorbemerkung von W. Schuffenhauer und W. Harich. Berlin: Akademie-Verlag, 21984. Sören Kierkegaard (1813–1855):  Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. In: Gesammelte Werke. Düsseldorf: Diederichs; dänischer Urtext: Sören Kierke­gaard: Samlede Vaerker VII. Copenhagen 1963. Büchner, Georg (1813–1837):  Woyzeck. Studienausgabe. Nach der Edition von Thomas Michael Mayer hg. von Burghard Dedner. Stuttgart: Reclam 2008. Büchner, Georg:  Dantons Tod. Hg. von Josef Jansen. Stuttgart: Reclam 1982. Marx, Karl (1818–1883):  Marx’ Brief an seinen Vater vom 10. November 1837. In: Die Frühschriften. Hg. von Siegfried Landshut, Stuttgart: Kröner, 1971, 1–11. Marx, Karl:  Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: Die Frühschriften. Hg. von Siegfried Landshut. Stuttgart: Kröner 1971, 207–224. Baudelaire, Charles (1821–1867):  Les Fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen. Französisch / Deutsch. Über­setzung von Monika Fahrenbach-Wachendorff. Anmerkungen von Horst Hina. Nachwort und Zeittafel von Kurt Kloocke. Stuttgart: Reclam 2011. Ibsen, Henrik (1828–1906):   Nora (Ein Puppenheim). Übersetzt von Richard Linder. Stuttgart: Reclam 2012. 502  |  Zitierte Quellen 

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Zitierte Literatur  |  521

Namenregister Abraham 473 Adam  56 ff., 60 f. 67, 201, 214 f., 486 Adorno, Theodor W.  285, 291, 320 f., 323, 327, 330, 335–337 Agamben, Giorgio  294 Ahn, Mun-Yeong   437 Ali, Monica  67 Allemann, Beda  359, 488 Andreas, Friedrich Carl  417 Andreas-Salomé, Lou  15, 112, 156, 162, 164, 170 f., 173 f., 306, 380, 398, 436 Angelus Silesius (Johannes Scheffler) 290 Anscombe, Gertrude E. M.  296 Anselm von Canterbury  103 Apel, Friedmar  294 Apollonius Rhodios  358 Aristoteles  250, 252 Attems-Heiligenkreuz, Maria Viktoria Josepha Mathilde Jacqueline Reichsgräfin von  334 Augustinus   10 f., 20–23, 27, 40, 71, 73 f., 76 f., 79–82, 84–86, 92, 96, 98–102, 119, 130, 226, 228, 232–235, 237 f., 241, 249–253, 255, 258, 293, 312, 325, 333, 374, 416, 444, 451 Azadovskij, Konstantin  272 ff. Bach, Johann Sebastian  12, 46 f., 336 Bachmann, Ingeborg  295 Baer, Ulrich  157 Bagno, Vsevolod  173 Bahr, Hermann  165, 174

Balthasar, Hans Urs von  132, 315 ff., 334, 341, 358 Balthus 488 Balzac, Honoré de  142 Bang, Hermann  250 Baring, Maurice  164, 173 Barrett-Browning, Elizabeth  344 Barth, Karl  272 Barthes, Roland  436 Baudelaire, Charles  129, 280, 295, 403, 422 Beauvoir, Simone de  473 Beethoven, Ludwig van  230, 334 Behrmann, Alfred  359 Belobratow, Alexander  28 Benedikt XVI. (Papst)  265 Benjamin, Walter  267, 270, 294 Benn, Gottfried  319, 405, 410 Benveniste, Emile  205, 221 Benz, Ernst  407, 411 Berger, Erna  331 Bernard, Émile  45 Bettina von Arnim  252 Betz, Maurice  472 Betz, Otto  472 Biber, Heinrich Ignaz Franz von 324 Blume, Bernhard  221 Blumenberg, Hans  65, 67 Blumenthal-Weiß, Ilse  465 Blümle, Claudia  310 Bodmer, Johann Jakob  261 Boethius 321 Böll, Heinrich  444 Bonhoeffer, Dietrich  471, 473   |  523

Boog, Maya  331 Bornefeld, Helmut  336 Bornkamm, Heinrich  54, 66 f. Bornscheuer, Lothar  296 Borsche, Tilman  95 Böschenstein, Bernhard  183, 198 Botticelli, Sandro  435 Boucher, Leslie Helen Yaeger   338 Bradley, Brigitte L.  67, 204, 221 Brahe, Mathilde  41 Braungart, Wolfgang  30, 78, 96, 97 f., 121, 131, 169, 173 f., 292–296, 472 Brecht, Bertolt  280, 294 Breitinger, Johann Jakob  261 Brod, Max  108 f. Brodsky, Patricia P.  173 Broucek, Peter  130 Bruhn, Siglind  320, 329, 332, 336, 338 Buber, Martin  417 Büchner, Georg  293 Büchner, Ludwig  102 Buddha 396 Burckhardt, Jacob  58 ff., 67 Burdorf, Dieter  294 Burkert, Walter  293, 295, 395 Burrow, Mark S.  104 Busoni, Ferrucio  319 Büttner, Hermann  362f., 364, 379 Campbell, Joseph  33 f., 381–398, 400 Caravaggio, Michelangelo  305 Carossa, Hans  483 Casper, Bernhard  99, 473 Catling, Jo  198 f. Čechov, Anton  28, 165 Celan, Paul  295, 488 Černý, Václav  109, 130 Cézanne, Paul  45–48, 53, 120, 359, 396 Chadwick, Henry  254  524  |  Personenregister 

Christus (Jesus von Nazareth)  27, 31, 47, 61, 96, 111 f., 116 ff., 118 f., 131 f., 136, 141 ff., 147, 149–152, 154–156, 159, 201 f., 204–208, 210, 221, 240, 243 f., 246–249, 255, 290, 293, 298–300, 302–309, 313, 317, 324, 326, 333, 365, 374, 378, 385, 391, 417, 435 Cicero  46, 64 Claudel, Paul  319 Comenius, Johann Amos  110, Cornford, Francis Macdonald  391 f. Cushman, Jenifer  335 f. Dalferth, Ingolf U.  471 Dante, Alighieri  342, 422 David-Rhonfeld, Valerie von  64, 109 Davidson, Anika  311–314, 316, 332, 335 Dehmel, Richard  150 Demetz, Peter  108 ff., 129 f., 158, 168, 174 Di Franco, Manuela  293 Dionysios (von Phurnâ)  333, 337 Dionysos  351 f., 418 Dobržensky, Mary  64 Doering, Sabine  295 Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch 142 Droste-Hülshoff, Anette von  404 Drožžin, Spiridon  166 Du Prel, Karl  156 Ebneter, Curdin  65 Eckel, Winfried  158, 181 f., 187 f., 196, 198 f. Egenhoff, Manfred  221 Ehrenberg, Alain  263, 293 Eichstaedt, Rudolf  32, 306–310 Eisler, Rudolf  295 Eisner, Kurt  109 Eisner, Pavel  130

El Greco  305 Eliade, Mircea  443 Eliot, Thomas Stearns  389 Engel, Manfred  62, 78, 84, 87 f., 98 ff., 102, 104, 156 f., 252, 292, 306, 322, 333 f., 358, 488 Euripides  350, 358 Exner, Richard  312–15, 317, 332 ff. Faehndrich, Alice (Baronin Nordeck von Rabenau)  176 f. Feuerbach, Ludwig  70, 74, 95, 243 Filippo Tarchiani  305 Fischer, Norbert  26, 30, 95–99, 101–105, 249–255, 292 f., 333, 472 Flaubert, Gustave  484 Forrer, Anita  66, 171, 174, 464 f., 473 Forschner, Maximilian  99 Frank, Manfred  296 Franz von Assisi / Franziskus  50, 58 f., 60, 66 f., 113, 119 f., 123, 131, 293, 416 Freedman, Ralph  197 f. Freisfeld, Andreas  67, 487 Freud, Siegmund  144 Freydank, Dietrich  333 Fülleborn, Ulrich  62 ff., 80, 89 f., 101, 114, 130 f., 156 ff., 178, 180 ff., 196–199, 221, 225, 292, 306, 341 Gadamer, Hans-Georg  272, 294 ff., 317, 334 Garben, Cord  331 George, Stefan  198, 224, 250, 275 f., 280, 295, 310, 410 Gerding, Marlise  131, 458 Giotto di Bondone  66 Gladigow, Burkhard  410 Glaise-Horstenau, Edmund zu  113 Gnädinger, Louise  371, 373, 377, 379 Goer, Charis  292 Goethe, Johann Wolfgang  69 ff., 95, 100, 394

Goldschmidt-Rothschild, Marianne von 473 Goldsmith, Ulrich K.  337 Gorki, Maxim  177 Gotthelf, Jeremias  404 Gottsched, Johann Christoph  261 Goubault, Christian  335 f. Gould, Glenn  32, 326, 328 f., 331, 337 f. Gozzoli, Benozzo  60 Graf, Oskar Maria  48, 65 Greber, Erika  169, 172, 174 Gregor der Große / Gregorius Magnus 372 Grimm, Alfred  435 Grimm, Jacob und Wilhelm (Brüder Grimm)  351, 359, Grimm, Reinhold  487 Gryphius, Andreas  478, 487 Guardini, Romano  78, 98 ff., 132, 317, 406, 409–412 Haas, Alois Maria  372, 379 Habermas, Jürgen  441 Hamburger, Käte  292 Hamburger, Michael  358 f. Hartmann, Gerda  331 Hattingberg, Magda von  362, 379 Hauptmann, Gerhart  147, 154, 158 Heidegger, Martin  19, 65, 76, 91, 98 f., 101 f., 104, 123, 223, 233, 234, 247, 249, 251f, 254, 297, 302, 310, 318, 334, 341 Heimer, Ann-Katrin  319 f., 336 Heine, Heinrich  97 Heinz, Jutta  156 f. Heise, Lisa  47 Henze, Hans Werner  327, 337 Hepner, Lotte  132 Herrmann, Elisabeth von  310 Herrmann, Friedrich-Wilhelm von 31, 99, 310 Herzog, Bert  472 Personenregister  |  525

Hesse, Hermann  59, Hindemith, Paul  12, 32, 311, 318– 321, 323 f., 326–332, 335–338 Hiob 277 Hoffmann, Maria Norberta  250 Hoffmann, Nina  173 Hoffmann, Paul  479, 488 Hofmannsthal, Hugo von  281, 354 Höhler, Gertrud  130, 157 Hölderlin, Friedrich  44, 101, 274 ff., 278 f., 293 ff., 315, 342 f., 488 Holthusen, Hans Egon  130, 162, 173, 313, 323, 333, 337, 429, 437 Homer  358, 390 Honnefelder, Ludger  471 Honneth, Axel  296 Horaček, Franz  105, 111, 113, 410 Horch, Hans Otto  293 Hornig, Johannes  312 Hübner, Kurt  284 Huléwicz, Witold  86, 95, 105, 132, 161, 172, 254, 435, 488 Hus, Jan  64, 109 ff. Hutchinson, Ben  433, 437 Ibsen, Henrik  293 Imhof, Heinrich  472 Jacob, Joachim  292 Jacobi, Elisabeth  436 Jacobsen, Jens Peter  63, 131, 250 Jacobson, Roman  277 Jacopo Bassano  305 Jahr, Ilse  80, 86, 114, 122, 130 f., 468 James, William  271 Jan des Tournes  63 Jean Paul  118, 221, 274 Jeremia (Prophet)  201, 207–210, 212 f., 222 Jesus (Christus)  27, 31 f., 47, 61, 96, 100 ff., 116–119, 131 f., 136, 141 ff., 147, 149–152, 154 ff., 159, 201 f., 204–208, 210, 221, 240, 243 f., 526  |  Personenregister 

246, 248 f., 255, 290, 293, 298 ff., 302–309, 313, 317, 324, 326, 333, 365, 374, 378, 385, 391, 417, 435 Joas, Hans  265, 294 Johnson, Mark  488 Jostes, Franz  372, 379 Josua (Prophet)  201, 212 f., 222 Joyce, James  389, 393, 396, Jung, Carl Gustav  389, 394 f. Junghanns, Albert  334 Junghanns, Inga  473 Kächler, Uwe  157 Kafka, Franz  108, 111, 130, 292, 405, 410 Kalász, Claudia  295 Kalckreuth, Wolf Graf von   45 Kamlah, Wilhelm  250 Kant, Immanuel  9, 12, 16, 19 f., 24, 62, 74 ff., 81, 88 f., 94, 97–102, 104, 226, 237 f., 242, 246 f., 250, 252–255, 265, 272, 277, 285, 290, 449, 471 Kany, Roland  98 Kappus, Franz Xaver  63, 113, 131, 459 Karlach, Hanuš  129 Kasper, Kateryna  331 Kemp, Friedhelm  344, 358 Kepler, Johannes  321 Keppler, Stefan  113, 130 Kerényi, Karl  359 Key, Ellen  332, 449 Kierkegaard, Sören  250, 280, 295, 341, 378, 380 King, Martina  172 Kippenberg, Anton  39, 41 f., 49, 65 Kippenberg, Katharina  66, 179, 435, 488 Kisch, Egon Erwin  108 Kleist, Heinrich von  260 Kleophas  298, 301, 308 f. Klimova, Svetlana  164, 173

Klopstock, Friedrich Gottlieb  31, 304 f., 310, 342 Klossowski, Balthazar  483 Knoop, Wera Ouckama   21, 86, 345 Koch, Dieter  472 Koch, Manfred  157, 257, 292, 295 Kohlschmidt, Werner  404, 406, 410 König, Christoph  356 f. Konstantinos und Methodius / Kyrill und Methodios  110 Kopernikus, Nikolaus  113 Kornfeld, Paul  108 Krämer, Sybille  268, 294 Krebs, Engelbert  76, 334 Křenek, Ernst  319, 334 Krummacher, Friedrich Wilhelm 69 ff. Krummacher, Theodor  307 Krumme, Peter  292 Kühlmann, Richard von  212 Kühnlein, Michael  292 Kunle, Fritz  334, 488 Kurdi, Imre  66 Kusch, Horst  98 Kuschel, Karl-Josef  79, 100, 129, 132, 251, 316 f., 334, 337, 471 Kuster, Niklaus  66 La Fontaine, Jean de  64 Laak, Lothar van  292 Labé, Louïse  344 Lakner, Michael  331 Lakoff, George  488 Landauer, Gustav  362, 379 Langenhorst, Georg  158 Ledebuhr, Dorothea Freifrau von 66 Lehmann, Jürgen  161, 163, 172 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm  113 Leishman, James Blair  197 Leo der Große  446, 471 Leppin, Paul  108 f. Leskov, Nikolaj  29, 174

Lessing, Gotthold Ephraim  260– 265, 270, 280 Levinas, Emmanuel  19, 471 Lindner, Adalbert  335 Löffler, Jörg  292 Lorenz, Otto  488 Lorenzen, Paul  250 Lothar, Mark  336 Löwenstein, Sascha  197 Luck, Rätus  488 Lucques, Claire  65 Lukas (Evangelist)  204, 210 f., 298 f., 301, 303 f., 310 Lurker, Manfred  293 Luther, Martin  46, 54, 64, 66 f., 74, 211, 221 f., 310, 444, 471, 478 Lutz-Bachmann, Matthias  292 Luyken, Reiner  67 Lvovic, Jiří Karásekze  109 Mágr, Clara  109, 130, 334 f. Mahler, Gustav  331 Mallarmé, Stéphane  44, 414 Malsch, Katja  296 Man, Paul de  358, 486, 488 Mandel, Siegfried  156 Mann, Thomas  198, 389 Maria (Mutter Jesu von Nazareth) 47, 58, 111, 119, 136, 202, 210 ff., 214, 313, 315 ff., 320, 322, 325 f., 332–337, 378 Markus (Evangelist)  206, 310 Martus, Steffen  295 Marx, Karl  70, 74, 95 Mason, Eudo C.  66, 156 f., 198 Matthäus (Evangelist)  206 Mechthild von Magdeburg  240, 254, 365 Meister Eckhart  33, 81, 96 f., 121 f., 361–364, 370, 372 f., 375, 377 ff. Mendels, Judy  472 Merline / Baladine Klossowska  437, 492 Personenregister  |  527

Merz, Veronika  361, 250, 472 Metz, Günther  326, 337 Michael III. (Kaiser)  110 Michailow, Alexander  167 Mihály, Babits  436 Milton, John  342 Mitterer, Erika  487 Modersohn-Becker, Paula  45, 64, 332 Moos, Xaver von  358 Mörike, Eduard  100 Moritz, Karl Philipp  265 Moses  209, 395 Mövius, Ruth  156 Möwes, Sylvie  310 Mukařovský, Jan  277 Munthe, Axel  177 Nádherný von Borutin, Sidonie  221, 437 Nalewski, Horst  63 Natorp, Paul  98 Naumann, Helmut  375, 380 Neugebauer-Wölk, Monika  293 f. Neumann, Michael  33 Neumeyer, David  324, 337 Newman, John Henry  294 Nietzsche, Friedrich  9, 19, 30, 70, 72, 74 f., 79, 84, 87, 94 f., 98, 100, 102, 121, 123, 163, 173, 224, 296, 341, 352, 358 f., 403 Nikolaus von Kues / Nicolaus Cusanus  95, 121 f., 132, 253, 447, 471 Nipperdey, Thomas  410 Nordeck zur Rabenau, Freifrau Julie von (Frau ›Nonna‹)  176 f. Nostiz, Helene von  333 Novalis (Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg)  31, 292, 296, 342, 406, 411 Oberman, Heiko Augustinus  64 Obstfelder, Sigbjörn  250 528  |  Personenregister 

Orosz, Magdolna  29 Orpheus  21, 25 f., 33 ff., 72, 86 f., 96, 101, 120, 123, 125, 131, 135 f., 156, 174, 180, 214, 233, 239, 289, 313, 343–356, 359, 381, 384, 389, 395 ff., 400, 415, 427 f., 437, 453, 475 f., 478 ff., 482 ff., 487 ff. Ort, Claus-Michael  294 Otfrid von Weißenburg  342 Otto, Rudolf  443 Ovid  317, 347–350, 358 Pahmeier, Markus  292 Panizza, Oskar  144 Pascal, Blaise  46, 64, 241, 253 f., 296 Paulin, Roger  488 Pavlova, Nina  172 Peckham, John  436 Perlwitz, Roland  337 Peters, Christina  292 Petrarca 344 Pfeiffer, Ernst  15, 156 Pfeiffer, Franz  363, 372, 379 Philoktet  277, 293 Pittrof, Thomas  34, 411 Platon  9 f., 16, 21, 25 f., 74, 81 f., 90, 95, 97 ff., 100, 102, 104f, 226, 232 ff., 237 f., 243, 246 f., 253 f., 390 Polikoff, Daniel Joseph  33, 96, 156, 174, 400 Pong, Hermann  332 Por, Peter  34, 292, 294, 437, 488 Prater, Donald A.  65, 156, 435 Preisner, Rio  132 Puchelt, Gerhart  331 Purtscher-Wydenbruck, Nora  436 Pythagoras 390 Quint, Josef  363, 370, 373, 377 ff. Quintilian  65, 208, 222 Rabbi Löw  109, 141, 149 Raffelt, Albert  12, 32, 65, 254

Rahner, Karl  103, 250, 315, 317 f., 334 Rastislav (Fürst)  110 Ratzinger, Joseph  99, 313, 333 Reger, Max  335 Reinalter, Helmut  294 Reinhart, Werner  65 Remarque, Erich Maria  48, 65 Rembrandt (van Rijn)  31 f., 304 ff., 376 f. Reventlow, Julie  240, 365 Ribadeneyra, Pedro de (SJ) / Ribadaneira  40, 63, 312, 315, 323, 325, 332 f., 337 Riedel, Wolfgang  295 Riehl, Wilhelm Heinrich  163 Riemer, Jessica  334, 488 Rilke, Clara  64, 158, 177, 183, 193, 197, 199, 358 f., 436, 450, 472 Rilke, Phia  47, 111 Rilke, René (Rainer Maria)  45, 47, 65, 107, 111, 130, 158, 168, 174, 381, 448 f., 472 Rode, Bernhard  305 Rodin, Auguste  64, 120, 124, 144, 399 Rokyta, Hugo  129 Rösch, Erich  349 Roslak, Roxalana  331 Rousseau, Jean-Jacques  97 Rudolf II.  109 Runge, Philipp Otto  351 Rütti, Carl  336 Ryan, Judith  184 f., 198 f., 361, 379 Sabatier, Paul  58 f., 67 Saitô Umeko  435 Salis, Jean Rodolphe von  15, 63, 471, 487 Saloustios 24 Salus, Hugo  109, 332 Sappho 399 Savonarola, Girolamo  435 Schaer, Alfred  162

Schäfer, Godehard  333 Schardt, Michael M.  129 Scharffenberg, Renate   410 Scheier, Claus Artur  294 Schenk von Stauffenberg, Caroline 473 Schenk zu Schweinsberg, Elisabeth  177 Scherf, Walter  359 Schill, Sophie  166 Schiller, Friedrich  276, 291, 408 f., Schilling, Hans Ludwig  336 Schimmel, Annemarie  293, 295 Schiwy, Günther  79 f., 97, 100 f., 157, 251, 472 Schlatter, Adolf  301, 310 Schleiermacher, Friedrich  98, 270, 272, 291, 296, 402 Schlich, Jutta  295 Schlözer, Leopold von  356 Schmidt-Ihms, Maria  253 Schnack, Ingeborg  55, 64, 66, 99, 310, 410, 488 Schneider, Lothar  293 Scholz, Wilhelm von  162 Schönberg, Arnold  330 Schopenhauer, Arthur  61, 67, 281, 477 f., 487 Schrimpf, Hans Joachim  69, 95 Schubert, Franz   331, 335 Schubert, Giselher  329, 336 Schuler, Alfred  95, 436 Schulz, Georg-Michael  293 Schwanke, Johannes   472 Schwedler, Johann Friedrich  39 f., 63 Schwerin, Graf Eberhard von  176 Schwerin, Gräfin Luise   362 Sellier, Philippe  253 f. Sépibus-de-Preux, Jeanne de  48 Seuse, Heinrich  361 Sieber, Carl  65, 111, 130, 472 Sieber-Rilke, Ruth  102 Personenregister  |  529

Sievers, Marianne  157, 221 f. Siewert, Gustav  132 Simeon  301, 308 f. Simmel, Georg  399 Simon, Tina  435 Simon, Walter  63 Singer, Herbert  295 Sinkovicz, Wilhelm  338 Sirovátka, Jakub  27 Sizzo, Margot (Gräfin Sizzo-NorisCrouy, Margot)  131, 332 f., 358, 435, 466 f., 488 Solbrig, Ingeborg  158 Solms-Laubach, Manon zu (Gräfin) 63, 176, 198, 333 Sorge, Reinhard Johannes  49, 65, 411 Spoerl, Uwe  294 f. Sprengel, Peter  184, 198 Spuler, Linus  472 Stadler, Arnold  295 Stahl, August  26, 35, 66 f., 96, 101, 105, 130 f., 156, 197, 225, 250 f., 253, 292 f., 314, 325, 333, 335, 381, 435 Stahl, Karl-Heinz  393 Stapper, Norbert  27, 96, 103, 136, 147, 151, 153, 156–159, 294 Steer, Georg  33, 96 f., 379 Steiner, George / Georg  155, 159 Steiner, Herbert  64 Steiner, Jacob  113, 132, 292 Stephan, Rudolph  327 f., 337 Stephens, Anthony  158, 198, 272, 292, 294, 296 Stoedtner, Hellmuth Freiherr Lucius von 90 Storck, Joachim W.  70 f., 158, 250 Strauß, Botho  268 Sturm, Gottfried  333 Sudhoff, Dieter  129 Suworin, Alexej  172 Taylor, Charles  266, 272, 292, 294 f., 358 530  |  Personenregister 

Therese (Theresia) von Avila  240, 254, 365 Thode, Henry  58 f., 67 Thomas von Aquin  22 f., 105, 255 Thomas von Celano  66 Thums, Barbara  296 Thurn und Taxis-Hohenlohe, Marie von   37, 42, 62 f., 96, 131 f., 358, 361, 379, 436 Tintoretto 52 Tolstoi, Leo / Tolstoj, Leo / Tolstoj, Lev  28, 163, 165, 174, 243, 247, 251 Tömmel, Tatjana Noemi  102, 252 Trakl, Georg  295, 319 Tyrell, Hartmut  410 Uexküll, Jakob von  99, 183, 472 Uhde, Fritz von  144 Urzidil, Johannes  108 f. Vellusig, Robert  296 Vergil / Virgil  342, 422 Verhaeren, Emile  304 Vladislav, Jan  129 Vogeler, Heinrich  311 Vogüé, Melchior de  163, 173 von der Heydt, Elisabeth  66 von der Heydt, Karl  197 f., 225, 435 Voß, Johann Heinrich  347 Voßkamp, Friederike  310 Vrchlický, Jaroslav  109 Wagner-Egelhaaf, Martina  295, 361, 379, 435 Wais, Karin  64 Walisch, Raoul  292 Waters, William  29, 222 Weber, Max  406, 410 Wehmeyer, Grete  335 Weindel, Martina  334 Wenzler, Ludwig  35, 471 Werfel, Franz  108, 111 Wesche, Jörg  293

Wesenberg, Angelika  310 Westhoff, Clara  120 Whitelaw, John  331 Wiebe, Christian   295 Wilder, Thornton   319 Windfuhr, Manfred  221 Wittgenstein, Ludwig  444, 446, 471 Wodtke, Friedrich Wilhelm  31 f., 304 f., 309 f. Woldan, Alois  164 f., 174 Wolf, Hugo  331

Woronina, Ekaterina  168 Wunderly-Volkart, Nanny  46, 51, 54, 65 f., 126, 169, 174, 251, 437, 487 Zermatten, Maurice  65 Zeyer, Julius  150 Ziesak, Ruth  331 Zimmermann, Rudolf  118, 120, 131 Zinn, Ernst  15 f., 63, 135 f., 141, 143, 212, 335, 379 Zwetajewa-Efron, Marina  437

Personenregister  |  531

Norbert Fischer / Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.)

Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers Die Gottesfrage hat im Denken Martin Heideggers von seinen Anfängen bis zu seinem Ende eine treibende Rolle gespielt. Nach den Vorüberlegungen Norbert Fischers, die das Vorfeld der geschichtlichen Situation umreißen, in der Heidegger die Gottesfrage bedenkt, gibt Friedrich-Wilhelm v. Herrmann einen grundlegenden Überblick über die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Schrifttum Heideggers: 1. Zur hermeneutischen Analytik des faktischen Lebens und der wahrhaften Idee der christlichen Philosophie, 2. Zur hermeneutischen Daseinsanalytik in der theologischen »Epoché«, 3. Zum ereignisgeschichtlichen Da-Sein im Bezug zum »letzten Gott«. Die Betrachtung der einzelnen Stationen beginnt mit einem Beitrag von Costantino Esposito zum frühen Heidegger, der bekanntlich wichtige Impulse von der Theologie und der faktischen Religion erhalten hat. Günther Pöltner bezieht sich auf das Verhältnis von Phänomenologie und Theologie und stellt Heideggers Auffassung der Philosophie als ›Korrektion‹ der Theologie dar. Die Neuansätze Heideggers zum »letzten Gott« in den »Beiträgen zur Philosophie«, die zum dritten Wegabschnitt gehören, kommen bei Paola-Ludovika Coriando einführend zur Sprache. In den nachfolgenden Arbeiten werden Einzelaspekte untersucht: Johannes Brachtendorf wendet sich Heideggers Abhandlung Nietzsches »Wort ›Gott ist tot‹« zu, Klaus Düsing betrachtet Heideggers HölderlinAuslegung und Heideggers Seinsgeschichte, Norbert Fischer macht die Rilke-Interpretation Heideggers zum Thema, und Rainer Thurnher bringt Heideggers Distanzierung von der metaphysisch geprägten Theologie und Gottesvorstellung in den Blick. Die Wirkung Heideggers auf die christliche Theologie, insbesondere auf die katholische Rezeption, stellt Albert Raffelt dar. Blaue Reihe 2011. 239 Seiten. 978-3-7873-2191-9. Kartoniert 978-3-7873-2186-5. eBook

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Norbert Fischer / Jakub Sirovátka (Hg.)

Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas Die Frage nach Gott war seit Platon – und verstärkt im Denken Augustins – ein Hauptpunkt des philosophischen Fragens überhaupt. Noch Kant zählte sie zu den »Kardinalsätzen der reinen Vernunft«, zu den Fragen, an denen »die Vernunft ihr größtes Interesse hat«. Martin Heidegger, dessen Denken weithin von der Gottesfrage angeregt ist und um sie kreist, hat dagegen erwogen, »von Gott im Bereich des Denkens zu schweigen« – nicht weil er diese Frage für belanglos hielt, sondern weil das Denken sich für diese Frage erst neu öffnen und vorbereiten müsse. In die von Kant und Heidegger bestimmte Situation hinein hat Emmanuel Levinas ein Denken entfaltet, das – im Wissen um die Schwierigkeiten – einen neuen Zugang zur Gottes- frage eröffnet. Der aus einem Symposion entstandene Band enthält Beiträge von Levinas-Interpreten der ›ersten Stunde‹ (Bernhard Casper, Jean Greisch und Ludwig Wenzler), aber auch Beiträge, die Levinas in Verbindung mit Autoren der abendländischen Philosophie sehen (Johannes Brachtendorf, Norbert Fischer und Eduard Zwierlein), und schließlich Beiträge, die sich der immanenten Auslegung von Aspekten seines Werks zuwenden (Sarah Allen, Reinhold Esterbauer, Branko Klun und Jakub Sirovátka). Blaue Reihe 2013. 295 Seiten. 978-3-7873-2412-5. Kartoniert 978-3-7873-2417-0. eBook

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