Gott: Implizite Voraussetzungen christlicher Theologie 9783666567070, 9783525567074

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Gott: Implizite Voraussetzungen christlicher Theologie
 9783666567070, 9783525567074

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Studium Systematische Theologie

Band 4

Vandenhoeck & Ruprecht

Gunther Wenz

Gott Implizite Voraussetzungen christlicher Theologie

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56707-4

© 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Text & Form, Garbsen Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort ...................................................................................................

7

Der trinitarische Grund evangelischen Glaubens: Gott, Christus, Geist ...............................................................................

18

Einleitung ................................................................................................

46

1. Jerusalem und Athen ........................................................................

52

2. Die Mosaische Unterscheidung: Prolegomena zur Geschichte Israels ..................................................

69

3. Polytheismus und Jahwemonolatrie im vorexilischen Israel ..............

86

4. Exilskrise Israels und jüdischer Monotheismus .................................

103

5. Die Tora als innere Mitte der Hl. Schriften des Judentums ...............

125

6. Gottes Gerechtigkeit und menschliches Tun und Ergehen ................

142

7. Von Antiochus IV. Epiphanes zu Titus: jüdische Geschichte im Horizont endzeitlicher Apokalyptik .............................................

160

8. Judentum in jesuanischer Zeit ..........................................................

180

9. Aspekte hellenistisch-römischer Religionskultur in der Umwelt des Urchristentums ...................................................

195

10. Die sokratische Wende .....................................................................

211

11. Die Vorsokratik ................................................................................

225

12. Sokrates und Platon ..........................................................................

240

13. Platon und Aristoteles .......................................................................

257

6

Inhalt

14. Der Stoizismus und sein Verhältnis zur epikureischen Philosophie ................................................................

277

15. Eklektizismus und Neuplatonismus ..................................................

293

Register ....................................................................................................

313

Vorwort

Nach drei Teilbänden mit Prolegomenafunktion zu den Themen Religion, Offenbarung und Kirche wird die Reihe „Studium Systematische Theologie“ mit Beiträgen zu den impliziten Voraussetzungen christlicher Theologie fortgesetzt. Der vierte Band entwickelt Grundzüge einer allgemeinen Gotteslehre nicht in der üblichen, sondern in gleichsam historisierter Form. Geboten wird erstens eine Skizze der Religionsgeschichte Israels sowie der theologischen Gehalte von Teilen der hebräischen Bibel und der Septuaginta, zweitens eine Kurzdarstellung der Geschichte griechischer Philosophie von den vorsokratischen Anfängen bis zum Neuplatonismus Plotins und seiner Schule. Der differenzierte Zusammenhang Jerusalems und Athens, wie er in hellenistischen Zeiten da und dort historische Wirklichkeit wurde, stellt eine der theologischen Grundvoraussetzungen des Christentums dar, dessen durch den auferstandenen Gekreuzigten in der Kraft des Geistes erschlossenes Gottesverständnis im trinitarischen Dogma der Alten Kirche klassischen Ausdruck gefunden hat. Davon wird im sechsten Band (Geist) zu handeln sein, nachdem im fünften (Christus) Jesu Leben, Tod und Auferstehung und die Anfänge christlicher Theologie erörtert worden sind. Für die Erstellung des Typoskripts danke ich Frau Barbara Rappenglück, für die Registerarbeiten und Korrekturhilfen der wissenschaftlichen Assistentin an meinem Lehrstuhl, Frau Dr. Miriam Rose, sowie Frau Kathrin Hager, Herrn Florian Amberg und Herrn Markus Göring. Gewidmet sei der Band meiner Mutter zum 82. Geburtstag. München, 16. April 2007

Gunther Wenz *

Religion ist ein anthropologisches Universale. Religion als anthropoloMit diesem Grundsatz schließt das Vorwort zu gisches Universale den Traktaten Gott, Christus und Geist an die 2005 publizierte Trilogie zur Thematik Religion, Offenbarung und Kirche an, als deren programmatisches Nachwort es zu lesen ist (vgl. G. Wenz, Religion. Aspekte ihres Begriffs und ihrer Theorie in der Neuzeit, Göttingen 2005. – Ders., Offenbarung. Problemhorizonte moderner evangelischer Theologie, Göttingen 2005. –

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Vorwort

Ders., Kirche. Perspektiven reformatorischer Ekklesiologie in ökumenischer Absicht, Göttingen 2005). Religion gehört unveräußerlich zum Menschsein des Menschen. Denn kein Mensch kommt umhin, sich zu dem zu verhalten, was nicht nur faktisch, sondern prinzipiell nicht zu seiner Disposition steht. Prinzipiell indisponibel sind für den Menschen sowohl der Grund von Selbst und Welt als auch die Totalität und Sinnganzheit, auf die Selbst und Welt hinzielen. Doch liegt es in der Natur des Menschen als eines selbsttranszendenten und weltoffenen Wesens, sich zur Unverfügbarkeit von Ursprung und Ziel seines Daseins in der Welt verhalten zu müssen. Dies wird durch die radikalen Weisen neuzeitlicher Religionskritik nicht widerlegt, sondern bestätigt, sofern sie konsequent betrieben selbst religiöse Form annehmen. Die Aufklärungsresistenz der Religion darf daher als erwiesen gelten. Religion ist auch unter modernen Bedingungen nicht bzw. nur durch Religion substituierbar. Die Unersetzbarkeit des religiösen Verhältnisses lässt sich an ihrer individuellen und sozialen Funktion insofern plausibilisieren, als die Transformation unbestimmter in bestimmbare Kontingenz die Bedingung der Möglichkeit aller individuellen und sozialen Bezüge praktischer und theoretischer Vernunft darstellen. Dies ist der harte Kern einer funktionalen Theorie der Religion, von der die religionstheoretischen Studien dieser Traktatenreihe im Kontext einer Analyse zur religiösen Lage der Gegenwart ihren Ausgang nahmen. Indem sie sich auf den Grund und das Insgesamt dessen bezieht, was allen zweckorientierten Sinnvollzügen indisponibel vorangeht, unterscheidet sich Religion kategorial von Handlungszweckrealisationen sittlichen Tuns. Aber auch in reine Denkvollzüge lässt sich das religiöse Verhältnis nicht überführen, sofern der Seinsgrund des Denkens selbst unvordenklich ist. Soll Denken sich nicht in bloßer Selbstbezüglichkeit erschöpfen, sondern aufgeschlossen sein für das, was es nicht unmittelbar selbst ist, wird es im Verein mit der Anerkennung der Faktizität, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts, auch die Unvordenklichkeit seines eigenen Sichgegebenseins anzuerkennen haben. Unbeschadet ihrer Nichtsubstituierbarkeit durch Vollzüge praktischer und theoretischer Vernunft ist Religion auf Moral und Metaphysik konstitutiv hingeordnet. In Bezug auf die Moral versteht sich dies von selbst. Ohne sittliche Realisation verkommt Religion und wird zwangsläufig inhuman. Nicht dies ist an Kant theologisch zu kritisieren, dass er die Religion in eine unveräußerliche Beziehung zu sittlicher Vernunftpraxis gesetzt hat. Zu kritisieren ist allenfalls die Tendenz zu einer einseitigen moralischen Funktionalisierung der Religion und ihrer Herabsetzung zu einem bloßen Vehikel der Moral. Denn dadurch droht die Transmoralität der Religion verkannt zu werden. In theoretischer Hinsicht deutet sich diese Gefahr in dem Bestreben an, die menschliche Vernunft der für sie selbst und ihre Funktionen grundlegenden religiösen Bezüge zu entledigen und den Gottesgedanken zu einem Grenzbegriff der theoretischen Vernunft zu erklären, der für das menschliche Bewusstsein in seinem Selbstverhältnis und in seinem Verhältnis zur Welt nicht mehr oder eben nur noch als Grenzgedanke grundlegend ist. Dass da-

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mit die Grenze selbst unbedacht bleibt und das zur Basis des Erfahrungsbewusstseins erklärte Ich tendenziell verabsolutiert und um den Begriff seiner selbst als einer relativen Größe gebracht wird, hat Hegel zu Recht moniert. Um den Status des sich wissenden Ichs und seiner selbstbewussten Tätigkeit in Theorie und Praxis recht zu erfassen, muss der Ichgedanke auf einen höheren Wirk- und Erkenntnisgrund bezogen werden, wie er sich in der Idee des Unendlichen als der absoluten Voraussetzung sowohl der Erfahrung jedes endlichen Inhalts als auch der Selbsterkenntnis des das Erfahrungsbewusstsein vereinenden Ichs erschließt. Während Schleiermacher wie auf seine Weise schon Descartes die Wahrnehmung der Idee des Unendlichen zu einer Intuition erklärte, beanspruchte Hegels Philosophie, sie gedanklich an sich selbst zu erfassen. Damit scheint eine Differenz markiert, die auf einen nicht behebbaren Gegensatz hinausläuft. Doch lohnt es sich nachzufragen, ob der Schleiermacher’sche Ansatz bei religiöser Gefühlsunmittelbarkeit und der Hegel’sche Anspruch spekulativer Erschließung der absoluten Idee durch gedankliche Vermittlung tatsächlich in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehen. Von der Beantwortung dieser Frage hängt wesentlich ab, welche Stellung Theologie in Bezug auf die Tradition metaphysischen Denkens einzunehmen gewillt ist. Dabei ist ein Zweifaches zu bedenken: Ohne Bezug zur Metaphysik müsste sich die theologische Selbstauslegung religiösen Glaubens in einem Subjektivismus erschöpfen, dem aufgrund des Fehlens eines gedanklich ausgewiesenen Wahrheitsbegriffs jeder Anspruch auf Allgemeingeltung und zugleich jeder verbindliche Weltbegriff abginge. Was letzteren Aspekt anbelangt, so ist die Leitwissenschaft der Moderne nicht mehr die Kosmologie, sondern die Anthropologie. Ohne subjektivitätstheoretischen Nachweis der konstitutiven Bedeutung der Religion für das Menschsein des Menschen, wie Schleiermacher ihn geleistet hat, lässt sich deren Allgemeingültigkeit daher unter neuzeitlichen Bedingungen nicht mehr begründen. Auch die christliche Religion und ihre Theologie können auf diesen Nachweis nur um den Preis des Verlusts humaner Plausibilität verzichten, seit sie infolge der abendländischen Glaubensspaltung, welche die neuzeitliche Wendung zur Anthropologie wesentlich bewirkte, ihre selbstverständliche Kulturgeltung verloren haben. So unverzichtbar der anthropologische Erweis der religiösen Wesensnatur des Menschen unter neuzeitspezifischen Bedingungen für die Plausibilisierung der christlichen Glaubensgehalte sonach ist, so reicht er dennoch nicht aus, die Wahrheit christlichen Glaubens ihres Grundes zu vergewissern. Denn dieser Grund beansprucht nicht nur, das religiöse Subjekt zu fundieren, sondern mit ihm die ganze Welt als Inbegriff der Wirklichkeit, die Gegenstand menschlicher Erfahrung wird. Das religiöse Verhältnis enthält mit dem Selbstverhältnis zugleich und auf unveräußerliche Weise ein Weltverhältnis, welche beide sich zwar unterscheiden, nicht aber trennen lassen. Kann sonach das religiöse Verhältnis, in welchem das Subjekt begriffen ist, nicht in Gefühlsunmittelbarkeit aufgehen, so muss es um seiner selbst und um des Grundes willen, auf dem es basiert, in den Vermittlungszusammenhang von Weltver-

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Vorwort

hältnissen eingestellt werden. Religionstheorie und Theologie bedürfen der Ontologie, um ihre Welthaftigkeit nicht zu verlieren. Umgekehrt gilt, dass Metaphysik nicht denkbar ist ohne fühlendes Innesein des Religiösen und ohne interessierte Wahrnehmung religiöser Überlieferungszusammenhänge, welche durch Begriffsarbeit allein weder gesetzt noch ersetzt werden können. Die Abhängigkeit metaphysischen Denkens von religiöser Tradition schließt philosophische Religionskritik zwar keineswegs aus. Es ist im Gegenteil die genuine Aufgabe der Philosophie, die religiösen Überlieferungsbestände dem von ihnen in Anspruch genommenen Wahrheitskriterium, auf Grund und Sinnziel von Selbst und Welt bezogen zu sein, zu unterstellen, um sie auf diese Weise prüfend der Selbsterfahrung und der Erfahrung der Welt auszusetzen. Gleichwohl wird die Philosophie ihrer ureigenen Aufgabe nur dann gerecht, wenn sie sich ihrerseits nicht auf die endlichen Gegenstände der Welterfahrung bzw. auf Bewusstseinsformen fixiert, die auf endliche Welterfahrungsgegenstände beschränkt sind, sondern in kritisch-konstruktiver Gedankenentwicklung der im menschlichen Wesen begründeten Nötigung zu Lebensdeutungen folgt, die das im Grundverhältnis von Ich und Welt gewonnene Erfahrungsbewusstsein transzendieren. Im Gegenzug zu einem Bewusstseinsleben, das sich – uneingedenk des zum Menschsein des Menschen gehörigen Transzendenzbezugs – im alltäglichen Umgang mit der endlichen Erfahrungswelt erschöpft, weist Philosophie, die ihren Namen verdient, bei aller gegebenen Unterschiedenheit erkenntlich Konvergenzen mit Religion und ihren theologischen Reflexionsgestalten auf. Was den verbleibenden Unterschied von Philosophie einerseits sowie Religion und Theologie andererseits betrifft, so erklärt er sich vor allem daraus, dass letztere in der Regel von offenbarer göttlicher Wirklichkeit ausgehen, um Selbst und Welt immer schon von dorther in den Blick zu nehmen, wohingegen Philosophie die Vollzüge bewussten Lebens zum Ausgang nimmt, um zu einem Verständnis dessen zu gelangen, worauf menschliche Selbst- und Welttranszendenz aus ist, wenn es die endlichen Gegenstände der Erfahrung übersteigt. Zwar kann in Form einer Metaphysik des Absoluten durchaus auch die Philosophie eine sich selbst voraussetzende Voraussetzung in Anschlag bringen, die als Bedingung alles Endlichen diesem dergestalt vorausgeht, dass das Endliche allein als Produkt der Selbstdifferenzierung des Absoluten recht gedacht zu werden vermag. Doch bleibt Philosophie ihrer Bestimmung nach auch in diesem Fall an ein methodisches Verfahren propädeutischer Hinführung zu jenem Einen gebunden, auf das hin die endliche Selbstund Welterfahrung zu transzendieren ist. Als theologische Propädeutik vermag MetaphyOffenbarung als göttliche sik das Faktum göttlicher Selbsterschließung Selbsterschließung nicht zu ersetzen, welches das religiöse Verhältnis bestimmt und für alle Formen religiösen Bewusstseins kennzeichnend ist. Formal umschrieben wird das für Religion konstitutive, durch theoretische und praktische Vernunftanstrengung nicht aufhebbare Erschließungsfaktum des Grundes von Selbst und Welt in der Regel durch den Begriff der Offenbarung. Doch ist dieser

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Begriff in hohem Maße komplex und theologischer Klärung bedürftig. Wie beim griechischen apokalypsis und beim lateinischen revelatio verweist die eigentümliche Wortbedeutung auf einen Enthüllungs- bzw. Entschleierungsvorgang, in welchem gewöhnlich Unzugängliches und Verborgenes zum Vorschein kommt. Da der Vorgang in vielfältiger Weise in Anschlag gebracht werden kann, ist die plurale Verwendung des Begriffs im Sinne von Offenbarungen terminologiegeschichtlich vorherrschend. Auch der biblische Sprachgebrauch schließt eine Pluralität von Offenbarungen nicht von vorneherein aus, lässt deren Vielheit allerdings an der Einheit Gottes das Kriterium ihrer Verlässlichkeit und Wahrheit finden. Es liegt in der Konsequenz dieser Kriteriologie, die Pluralität göttlicher Selbstbekundungen, von denen die religiöse Erfahrung zu berichten weiß, zur Einheit eines einzigen eschatologischen Geschehens zusammenzuschließen, in welchem Gott als er selbst sich endgültig offenbart, um alle seine Manifestationen zu definitiver Erfüllung zu bringen und sich als Herr aller Wirklichkeit zu erweisen. Ist die charakterisierte Entwicklung bereits für das Offenbarungsverständnis Israels bestimmend, so kennzeichnet sie umso mehr dasjenige des Neuen Testaments, welches die österliche Erscheinung Jesu Christi in der Kraft des Geistes als die eschatologische Wesenserschließung Gottes bekundet, in der alle göttlichen Seinserweise aufgehoben sind und die Geschichte Gottes mit Menschheit und Welt sich erfüllt. Damit ist nicht gesagt, dass es nichts mehr zu erwarten gäbe. Aber die christliche Erwartung ist auf die Zukunft des Gekommenen ausgerichtet. In Anbetracht dieses Befundes erscheint es als angemessen und sachgerecht, dass der Begriff der Selbstoffenbarung zum Sammelbegriff christlichen Offenbarungsdenkens in der Neuzeit und zu einem Zentralterminus moderner Theologie insgesamt geworden ist. Offenbarung im christlichen Sinne ist nicht mirakelhafte Enthüllung von diversen supranaturalen Verstandesgeheimnissen, auch nicht primär Information und Instruktion bezüglich einzelner göttlicher Wahrheiten oder Willensinhalte, sondern lebendige Selbstmitteilung Gottes. Indem Gott sich offenbart, offenbart er nicht nur etwas von sich, sondern sich selbst. Der offenbare Gott ist sonach nicht lediglich Urheber der Offenbarung, sondern zugleich deren Inhalt und Vollzugsgarant. Der Vollzug der Offenbarung ist dabei in der differenzierten Einheit von Offenbarer und Offenbartem so zu denken, dass nicht lediglich eine äußere Kundgabe erfolgt, sondern eine reale Teilhabe an der Heilswirklichkeit Gottes erschlossen wird, deren der Glaube kraft des göttlichen Geistes in unveräußerlicher Gewissheit innewird. Indes stellt sich die Gewissheit des Glaubens nicht in vermittlungsloser Unmittelbarkeit, sondern in der Weise vermittelter Glaubensunmittelbarkeit ein, wie denn die Selbstoffenbarung Gottes nach christlichem Verständnis mit der konkreten Erscheinung Jesu untrennbar verbunden ist. Durch diese Verbindung ist der Gedanke der in sich einen und einzigen Selbstoffenbarung Gottes zugleich mit der Vielfalt geschichtlicher Selbstbekundungen rückvermittelt, welche nicht unbedacht bleiben dürfen, wenn der Begriff der Selbstoffenbarung seine inhaltliche, im Namen Jesu Christi inbegriffene Bestimmtheit behalten und nicht zum formalen

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Terminus herabgesetzt werden soll. Es liegt in der Konsequenz dieser Rückvermittlung, die Wirklichkeit Gottes von Anbeginn und auf uranfängliche Weise zusammenzudenken mit der Epiphanie Jesu Christi, in welcher nach christlichem Zeugnis alle göttlichen Manifestationen aufgehoben, will heißen: ihrer isolierten Momentanität entnommen, bewahrt und zu erfüllter Vollendung gebracht sind. Das österliche Verständnis der Offenbarung entspricht diesem Zusammenhang dadurch, dass sie Gott den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden als den Vater Jesu Christi erkennt und die Schöpfungsoffenbarung nicht als eine vom österlichen Urdatum getrennte, sondern von diesem auf implizite Weise vorausgesetzte und integrierte Wirklichkeit wahrnimmt. Das gilt umso mehr für die Offenbarungsgeschichte Israels, die nach christlichem Verständnis in der Erscheinung Jesu Christi zur Vollendung gelangt. Sie ist und bleibt implizite Voraussetzung der Gottesoffenbarung in Jesus Christus. Um implizite Voraussetzungen christlicher OffenChristliche Kirche aus Juden barungstheologie handelt es sich in anderer Weise und Griechen auch bei den diversen heidnischen Gotteszeugnissen, unter denen die ontotheologischen Reflexionen antiker Metaphysik hervorragen. Ihre exemplarische Bedeutung für den Geist des Christentums, die ihrem Erbe bleibende Relevanz sichert, besteht darin, dass metaphysische Philosophie damals wie heute Kriterien zu formulieren vermag, an denen der Anspruch der Religion einschließlich der christlichen zu bemessen ist, auf Absolutes bezogen zu sein. So haben auf ihre Weise bereits die antiken Neuplatoniker gezeigt, was Hegel dann unter neuzeitlichen Bedingungen überzeugend zur Geltung brachte: Weder kann das Endliche als solches gedacht werden, ohne dass das Unendliche immer schon mitbedacht wird, noch kann das wahrhaft Unendliche durch einen unvermittelten Gegensatz zum Endlichen bestimmt sein, weil es sonst am Endlichen sein Ende hätte und – solchermaßen definiert – selbst endlich wäre. Als Absolutes kann das Eine, auf das jedes monotheistische Gottesverständnis bezogen ist, daher nur dann verstanden werden, wenn seine unendliche Einheit nicht in abstrakter Transzendenz zu allem endlich Bestimmten, sondern so gedacht wird, dass sie den Unterschied zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit umgreift und als transzendent und immanent zugleich zu gelten hat. Die monotheistische Idee des unendlich Einen erfordert es infolgedessen, gemäß dem Begriff des wahrhaft Unendlichen als Identität von Identität und Differenz gedacht zu werden. Mit dem metaphysischen Begriff des Absoluten, wie Hegels Geistphilosophie ihn in neuzeitlicher Fortführung antiker Ansätze entwickelt hat, ist ein theologisches Kriterium formuliert, das dem religiösen Gottesverständnis nicht äußerlich, sondern aus Gründen der Selbstübereinstimmung insofern intern ist, als Gott nicht als Gott gedacht werden kann, wenn er in der Logizität endlicher Gedankenbestimmungen gedacht wird. Theologie wird sonach auf kritische Prüfung religiöser Ansprüche durch philosophisches Denken nicht verzichten können. Sie wird aber zugleich alles daran setzen, den metaphysischen Gottesbegriff an die religiösen Überlieferungsgehalte rückzubinden, weil ohne solche Rückbindung Philosophie

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hinsichtlich ihrer selbst unkritisch und zum spekulativen Religionsersatz werden müsste. Ohne religiöse Form ist die Absolutheit des Absoluten nicht zu wahren. Philosophie vermag das religiöse Verhältnis kritisch zu prüfen, nicht aber zu ersetzen. Wo sie den übersteigerten Anspruch erhebt, sich in der Weise eines welt- und endlichkeitsüberhobenen Wissens vollenden zu können, sprengt sie ihre Fassungskraft und verspielt mit den kritischen auch ihre konstruktiven Potentiale. Am Schicksal metaphysischer Philosophie im nachidealistischen Zeitalter lässt sich dies im Einzelnen demonstrieren. Der fortschreitende Abschied von der Metaphysik dürfte nicht zum Geringsten durch eine im sog. absoluten Idealismus wirksame Tendenz philosophischer Selbstüberhebung bedingt sein. Wie häufig vermerkt, zeichnete sich seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts eine wachsende Skepsis gegenüber spekulativem Denken und eine Kritik an Konzepten absoluter Rationalität ab, deren kontingente Vermittlungsbedingungen vermehrte Aufmerksamkeit auf sich zogen. Weichenstellende Bedeutung kam in diesem Zusammenhang der Philosophie des späten Schelling zu. Vernunft ist nicht ohne Bezug auf dasjenige, was Vernunft nicht unmittelbar selbst ist. Vernünftiges Erkennen bedarf der Anerkenntnis des Seins in seiner unvordenklichen Faktizität. Denn ohne das schiere Dass seines Seins müsste das Denken des Grundes seines eigenen Vollzugs entbehren. Das Andere der Vernunft gehört zu ihrem ureigenen Wesen, da Vernunft ihre Bestimmung nur in Seinsbeziehungen zu realisieren vermag. Findet nach Maßgabe des späten Schelling die Vernunft am reinen Sein das Prinzip ihrer Relativierung, so wurden die Relativierungsinstanzen der Vernunft im nachidealistischen Zeitalter fortschreitend konkretisiert. Als Bezugssysteme, welche den Absolutheitsanspruch der Vernunft relativieren, kommen insbesondere Natur und Geschichte in Betracht. Vernunft, so die Grundthese, ist nicht absolut, sondern selbst von natürlichen und geschichtlichen Gegebenheiten unterschiedlichster Art abhängig. Tendenzen in dieser Richtung zeigten sich bereits in voridealistischer Zeit; doch sind sie erst im Nachidealismus zu umfassender Breitenwirksamkeit gelangt. Besonders radikal wirken bis heute naturalistische Relativierungen der Vernunft, wie sie etwa in Theoriemodellen biologischer Evolution erfolgen. Ihrem klassischen Begriff zufolge dazu bestimmt, Natur rational zu begreifen und mit theoretischem und praktischem Sinn zu versehen, wird Vernunft nun selbst zu einem Naturdatum erklärt, welches seinen Zweck darin erfüllt, natürliche Funktionen zu verrichten. Geist wird auf eine natürliche Basis reduziert, deren evolutionärer Entwicklung er sich verdankt. In der Konsequenz eines naturevolutionären Vernunftverständnisses übernimmt der Szientismus der Naturwissenschaften die traditionelle Rolle der Philosophie in der Absicht, deren metaphysischen Absolutheitsanspruch zu zersetzen. Vergleichsweise dezenter sind geschichtliche Modelle der Vernunftrelativierung angelegt. Danach sind die Gedankenbestimmungen des Denkens wie dieses selbst nicht zeitinvariant, sondern historisch bedingt mit der Folge, dass jeder Versuch, die Vernunft der Geschichte zu erheben, der Ideologiekritik verfallen muss, wenn er nicht mit der Einsicht verbunden ist, dass Vernunft

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selbst eine Geschichte hat. Geschichtsphilosophie wird so auf die Geschichte der Philosophie hin relativiert, ja die Tendenz geht dahin, Philosophie insgesamt zu historisieren, um ihr einen begrenzten Ort innerhalb der menschlichen Geistesgeschichte zuzuweisen. In den Kontext der Vergeschichtlichung der Vernunft gehören fernerhin alle Theorien, die auf deren Sprachbedingtheit und auf Abhängigkeiten von sozioökonomischen, kulturellen, gesellschaftlichen oder politischen Faktoren abheben. Dass die Sprache nicht lediglich äußeres Explikationsmedium des Denkens, sondern dessen innerer Bestimmungsgrund sei, ohne den von einer Vermittlungsleistung der Vernunft nicht die Rede sein könne, hatten bereits Hamann und Herder metakritisch gegen Kants Vernunftkritik geltend gemacht. Auf diese Metakritik konnten sich so unterschiedliche philosophische Richtungen wie die Sprachanalytik und die Ordinary-language-philosophy, die Theorie kommunikativen Handelns und hermeneutische Konzeptionen Heidegger’scher oder Gadamer’scher Provenienz beziehen. Gemeinsam ist diesen Ansätzen bei allen sonstigen Differenzen die Annahme, dass Sprache für den Vollzug des Denkens schlechterdings konstitutiv sei. In der Sprachabhängigkeit der Vernunft ist ihre Abhängigkeit von sonstigen soziokulturellen Faktoren bereits mitgesetzt. Es ist nicht nötig, diese aufzuzählen und im Einzelnen zu benennen, auf welche Instanzen Vernunft relativiert wird, um ihren Absolutheitsanspruch zu problematisieren bzw. als Ideologie und falschen Schein zu entlarven. Ob auf die Sprachlichkeit und kommunikative Bestimmtheit der Vernunft, auf ihre traditionale Prägung, auf soziokulturelle und -ökonomische Fundierungsfaktoren oder auf die Naturgründe verwiesen wird, aus deren evolutionären Folgezusammenhängen sich Vernunft entwickelt: Stets werden in mehr oder minder kritischer Weise Externfaktoren geltend gemacht, welche Vernunft auf ein Anderes hin relativieren. Scheint auf den ersten Blick das postidealistische Bestreben dahin zu gehen, die Vernunft auf äußere Bestimmungsgründe zu reduzieren und als natürlich bzw. geschichtlich gewordenes Epiphänomen zu erweisen, so zeigt sich bei näherem Zusehen, dass selbst noch im Geltendmachen ihres Anderen Vernunft hintergründig am Werke ist. Steht nicht auch die radikal naturalistische Genetisierung der Vernunft unter der Voraussetzung rekonstruktiven Vernunftvermögens, das als Möglichkeitsbedingung evolutionärer Herleitung fungiert? Und ist nicht in anderer Weise auch der Prozess geschichtlichen Werdens der Vernunft durch sein Resultat dergestalt bestimmt, dass er ohne dieses in seine Momente zerfallen und Geschichte gleich einer vernunftlosen Natur zu einer Ansammlung von Kontingenzschutt herunterkommen müsste, dessen massenhafte Ansammlung keinerlei Sinn mehr ergäbe? Kurzum: Nötigt der Verweis auf naturalistische Kontingenzmomente und geschichtliche Vermittlungsbedingungen von Rationalität tatsächlich dazu, den Vernunftbegriff zu zersetzen und ein Anderes an dessen Stelle treten zu lassen, was allemal unvernünftig wäre? Oder besteht der Sinn dieses Verweises nicht vielmehr darin, die Vernunft dem heilsamen Zwang auszusetzen, sich auf ihr Anderes nicht nur äußerlich zu beziehen, sondern dieses in den Begriff ihrer selbst

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so aufzunehmen, dass sie ihrer eigenen Endlichkeit inne wird, ohne in dieser aufzugehen? Es ist die Religion, welche die Vernunft veranlasst, ihrer Endlichkeit inne zu werden, ohne in ihr aufzugehen. Denken drängt auf Letztbegründung. Wo es konsequent vollzogen wird, stellt sich der Gedanke des Unbedingten und Absoluten folgerichtig ein. Der Idee des Unbedingten und Absoluten kam deshalb in der klassischen Philosophie eine unveräußerliche Stellung zu, sei es als fundierendes Prinzip ihrer Begründung, sei es als teleologischer Abschlussgedanke oder als beides zugleich wie in den philosophischen Konzeptionen des Deutschen Idealismus, dessen Höhepunkt das Hegel’sche System markiert. Dieses Erbe ist auch unter gegenwärtigen Bedingungen zu pflegen. Der konstruktive Sinn postidealistischer Vernunftkritik besteht nicht in abstrakter Negation der traditionellen Gestalten eines auf Letztbegründung ausgerichteten Denkens, sondern in der Abwehr von Versuchen rationaler Selbstverabsolutierung, die in Wahrheit nicht vernünftig, sondern unvernünftig sind. Rationale Vernunft hat einen Begriff eigener Endlichkeit, der sie mit allem, was endlich ist, verbindet. Sie hat sich am Seienden abzuarbeiten, ohne mit dessen Summe oder gar mit einer einzelnen Entität gleichgesetzt werden zu können. Ihr Wesen ist es, das Seiende durch Erfassung seiner Grenzen über sich hinaus und auf einen Einheits- und Zielgrund aller Mannigfaltigkeit hinzuführen, dessen die Vernunft zwar nicht mächtig, den zu denken ihr aber notwendigerweise aufgegeben ist, damit Selbst und Welt nicht ins Bodenlose fallen. Unter den bezeichneten Prämissen, die in der Trilogie über Religion, Offenbarung und Kirche Theologie und Philosophie im Einzelnen begründet wurden, findet die Reihe zum Studium Systematischer Theologie mit den Traktaten Gott, Christus und Geist ihre Fortsetzung. Was zu deren spezifischer Konzeption zu sagen ist, wird nachfolgendem Abschnitt zu entnehmen sein. Zum Schluss des Vorworts sei nur noch einmal zusammenfassend und unter besonderer Berücksichtigung der Bestimmung, die Wolfhart Pannenberg ihm gegeben hat, auf das Verhältnis von Theologie und Philosophie Bezug genommen, wie es sich aus dem bisher Gesagten ergibt und grundlegend ist für alles Weitere. Obgleich Philosophie in ihren einzelnen Disziplinen die von ihrem klassischen Begriff geforderte Aufgabe, die Schranken der gegebenen Erfahrungswelt des Menschen auf das Absolute hin zu transzendieren und das Ganze der Wirklichkeit zu bedenken, heute nur noch in Ausnahmefällen wahrnimmt, bleibt der metaphysische Bezug für die Theologie unveräußerlich. Statt sich an den Ergebnissen der Einzelwissenschaften genug sein zu lassen oder sich auf die Binnenverhältnisse des Eigenen zurückzuziehen, muss die Theologie das gegebene Defizit philosophischer Orientierung zum Anlass nehmen, sich verstärkt „mit der Geschichte der Philosophie zu beschäftigen, um zuzusehen, wie die Philosophie in früheren Zeiten die heute ungelöste Aufgabe umfassender Orientierung über die Wirklichkeit wahrgenommen hat und welches die Probleme dieser Lösungen sind“ (W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 19).

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Die durch die Geschichte altkirchlicher Theologie geforderte ausführliche Bezugnahme auf die Geschichte griechischer Philosophie im folgenden Gottestraktat hat hierin ihren prinzipiellen Grund. Sie ist von der Überzeugung bestimmt, dass die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs in den Zusammenhang frühchristlicher Theologie bei allen damit verbundenen Problemen grundsätzlich sachgerecht war. Als sachlich unangemessen muss hingegen jede prinzipielle Alternativbestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie beurteilt werden, die beider Wesen durch ihren Gegensatz bestimmt sein lässt. Denn eine solche Bestimmung müsste in letzter Konsequenz dazu führen, dass einerseits die Theologie mit der Philosophie auch den Vernunftgebrauch preisgibt, um sich eine strikt irrationale Fassung zu geben, und dass sich andererseits die Philosophie mit der Absage an die Theologie zugleich ihrer traditionellen Aufgabe entledigt, als Metaphysik den Grund und das Sinnziel des Ganzen der Wirklichkeit zu bedenken. Schätzt man dies als sachlich unhaltbar ein, dann muss die These eines schieren Gegensatzes von Theologie und Philosophie als abwegig zurückgewiesen werden. Davon wird im Folgenden ausgegangen. Angenommen wird ferner, dass das Verhältnis der theologischen und der philosophischen Wissenschaft nicht dasjenige unmittelbarer Identifikation sein kann. Zwar ist die Philosophie nicht nur ihrem historischen Ursprung, sondern ihrer ureigenen Thematik nach mit den Themenbeständen religiöser Tradition aufs Engste verbunden. Doch erfüllt sie ihre Aufgabe nicht in kritikloser Affirmation, sondern in kritischer Reflexion auf das von der religiösen Überlieferung Behauptete. Umgekehrt lässt sich der Anspruch der Theologie, wahre Philosophie zu sein, nicht unmittelbar theologisch vertreten, sondern nur in Auseinandersetzung mit der Philosophie und den von ihr entwickelten kritischen Maßstäben für den Gedanken Gottes als des Unendlichen und Absoluten, des fundierenden Grundes von Selbst und Welt, des Inbegriffs alles wahrhaft Wirklichen. „Wo Gott und die Totalität alles Wirklichen nicht in dieser ihrer Zusammengehörigkeit und wechselseitigen Verwiesenheit aufeinander gedacht sind, da bleibt das Reden von Gott ein leeres Wort oder eine sachlich unbegründete Vorstellung, die dann der Kritik verfällt, indem sie beispielsweise als anthropomorph, als Produkt religiöser Projektion gedeutet wird. Weiß man, was man sagt, wenn man von ‚Gott‘ redet, so kann man die Wirklichkeit von Welt und Mensch nicht mehr denken, ohne Gott als ihren Ursprung zu denken, und umgekehrt kann man dann Gott nur so denken, daß man zugleich die Gesamtheit alles Wirklichen als von ihm hervorgebracht denkt.“ (A.a.O., 16) Nach Maßgabe der bezeichneten Korrelation von Gottesgedanke und Welt- und Selbstbegriff lässt sich das Verhältnis von Philosophie und Theologie weder als Alternative noch als indifferente Identität bestimmen. Ersteres ist durch die gemeinsame Aufgabe, die Wirklichkeit im Ganzen zu denken, Letzteres durch die gebotene Differenzierung der Wahrnehmung dieser Aufgabe ausgeschlossen. Es gilt, was Wolfhart Pannenberg in seiner Münchener Abschiedsvorlesung so gesagt hat: „Philosophie und Theologie haben ein gemeinsames Thema im Bemühen um

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ein Verständnis der Wirklichkeit des Menschen und der Welt im ganzen. Man kann freilich sowohl Theologie als auch Philosophie betreiben in mancherlei Weisen, die hinter dieser Aufgabe zurückbleiben. Doch die Philosophie entspricht nur dann ihrer großen Tradition, wenn sie sich dieser Aufgabe stellt, und nur so nimmt sie eine Funktion wahr, in der sie von keiner der Einzelwissenschaften ersetzt werden kann. Die Theologie umgekehrt kann nur dann sachgerecht von Gott und seiner Offenbarung sprechen, wenn sie dabei von dem Schöpfer der Welt und des Menschen handelt und also ihr Reden von Gott auf ein Gesamtverständnis der Wirklichkeit des Menschen und der Welt bezieht. Dabei braucht die Theologie das Gegenüber der kritischen und orientierenden Reflexion der Philosophen, und die Philosophie kann ihrerseits nicht zu einem umfassenden Verständnis des Menschen in der Welt gelangen ohne Berücksichtigung der Religionen und ihrer Bedeutung für die Natur des Menschen und für die Konstitution der Ganzheit des Menschen und der Welt aus der göttlichen Wirklichkeit, die die Religionen thematisieren. Philosophie muß dabei nicht die Religionen ersetzen wollen durch eine rein philosophische Gotteslehre. Doch auch wenn das nicht geschieht, bleiben genügend Spannungen zwischen Theologie und Philosophie bestehen, weil die Theologie von Gott und seiner Offenbarung her das Ganze des menschlichen Daseins und der Welt zu bedenken hat, während das philosophische Denken von der Erfahrung des Menschen und der Welt her auf ihren Grund im Absoluten zurückgeht.“ (A.a.O., 367)

Der trinitarische Grund evangelischen Glaubens: Gott, Christus, Geist

Lit.: Anselm von Canterbury, Proslogion. Untersuchungen. Lateinisch-deutsche Ausgabe v. F. S. Schmitt O.S.B., Bad Cannstatt 1962. – K. Barth, Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms, München 1931. – Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 61967 (= BSLK). – D. Henrich, Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit, Tübingen 1960. – T. Rendtorff, Gott – ein Wort unserer Sprache? Ein theologischer Essay, München 1972. – J. Rohls, Die Aufhebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff. Hegels These und die Theologie der Junghegelianer, in: I.U. Dalferth/H.-P. Grosshans (Hg.), Kritik der Religion. Zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe, Tübingen 2006, 17–51. – F. D. E. Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, Berlin/New York 1980ff. (= KGA). – Ders., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aufgrund der zweiten Auflage (1830/31) hg. v. M. Redeker, 2. Bd., Berlin 1960 (= GL). – P. Tillich, Systematische Theologie. 3 Bd., Stuttgart 41973 (= Sy). – Thomas Aquinatis Summa Theologiae. Tomus I, Turin 1963.

Was heißt „Gott“? Eine produktive Möglichkeit, das Wort „Gott“ zu verwenden, gibt es nicht ohne Bewusstsein der Schwierigkeit, etwas Bestimmtes mit ihm zu verbinden. Diese Schwierigkeit ist der Rede von Gott nicht äußerlich, sondern gehört ihr wesensmäßig zu. Dem Wort „Gott“ entspricht keine unmittelbar identifizierbare Realität in der gegebenen Erfahrungswelt. Es steht vielmehr für eine Wirklichkeit, die alles Gegebene und als gegeben Wahrnehmbare transzendiert. Der Sinngehalt der Rede von Gott lässt sich weder affirmativ fixieren noch durch Bestreitung erledigen. Er ist in keinem Fall definitiv zu fassen. Was mit dem Wort „Gott“ benannt wird, entzieht sich allen Versuchen, in eine Alternative von Affirmation und Negation eingespannt zu werden. Denn es ist von einem Unaussprechlichen die Rede, das der Welt- und Selbsterfahrung nicht direkt zugänglich wird, obwohl es als unbestimmter Horizont aller Erfahrung hintergründig stets gegenwärtig ist. Das Wort „Gott“ entzieht sich der Verfügung definierenden Begreifens und ist gerade so ein Indiz des Unverfügbaren, von dem es spricht. „Über“ Gott zu reden, ist prinzipiell nicht möglich, weil dasjenige, worauf das Wort „Gott“ verweist, alles von Selbst und Welt Sagbare transzendiert. Trutz Rendtorff hat daher in seinem Was heißt „Gott“?

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Essay „Gott – ein Wort unserer Sprache?“ die verbreitete Scheu gegenüber der Verwendung des Wortes „Gott“ nicht als Defizit, sondern als einen wichtigen Fortschritt in der Religionsgeschichte neuzeitlichen Christentums gewertet. „Gott ist nicht und kann auch nicht so ohne weiteres ein Wort unserer Alltagssprache sein. Nur dort, wo es um die alle Menschen verbindende und umfassende Wirklichkeit des Lebens geht, wie sie in den Grundsätzen von Recht und Moralität und zumal eben in der Religion zum Ausdruck kommt, hat das Wort Gott seinen Ort.“ (Rendtorff, 18) Weil dem so ist, ordnet sich nach Rendtorff dem Wort Gott das Wort Glaube in entsprechender Weise zu, weil beide Wörter, deren Verbindung keineswegs äußerlich, sondern höchst sinngemäß ist, alles transzendieren, was ansonsten und anderweitig Gegenstand des Begriffs werden kann: „‚Ich glaube an Gott‘ heißt sinnvollerweise nicht, ich verwende das Wort Gott zur Unterstreichung eines bestimmten Interesses, das sich auch sonst sinnlich konkret manifestiert, oder ich verwende das Wort Gott anstelle einer Erkenntnis, deren Objekt auch sonst beschrieben und verifiziert werden kann. ‚Ich glaube an Gott‘ heißt sinnvollerweise, ich werde mir einer Erweiterung der Lebenswirklichkeit bewußt, die über die empirisch-sinnliche Objekthaftigkeit der Wirklichkeit hinaus ist, eine Erweiterung, von der her Licht fällt auf die Proportionen der sinnlich wahrnehmbaren Welt.“ (Rendtorff, 19) Kurzum: Die Wörter Gott und Glaube stehen an der Grenze des Sagbaren, weil sie das Ganze des Lebens bzw. die Unendlichkeitsdimension alles Endlichen zur Sprache zu bringen versuchen. Ihren primären Sitz im Leben haben sie daher nicht von ungefähr in Vollzügen konzentrierten Eingedenkens und in der Andacht des Gebets. Gedankliche Sammlung und andächtiges Beten sind nicht einfachhin dasselbe, aber sie ver- Gott und Glaube weisen aufeinander. In beiden geht es um das Fundament und das Sinnziel der Welt, um das Eine, was trägt in der Vielfalt mannigfacher Erfahrungen, und um dasjenige, was dem fragmentarischen menschlichen Leben zur Ganzheit verhilft. Beide sinnen nach dem, worin Selbst und Welt gründen. Beide sinnen nach Gott mit dem Unterschied freilich, dass der Beter das Wort „Gott“ eher als Eigenname verwendet, wohingegen vom Denker die begriffliche Verwendung bevorzugt wird. Doch zeigen sich auch hier Konvergenzen: Nach Maßgabe klassischer Metaphysik ist Gott seine Gottheit, ohne dass eine Differenz von Wesen und Sein begrifflich in Anschlag gebracht werden kann. Die religiöse Gebetsrede von Gott wiederum, der sich die Theologie verbunden weiß, ist auf allgemeine Verstehensbedingungen des Wortes Gott auch dort bezogen, wo sie diese in grundlegender Weise transformiert. Ohne kritische und konstruktive Wahrnehmung dieses Bezugs würde religiöse Gottesrede ihren Anspruch auf Intelligibilität generell preisgeben und sich prinzipieller Irrationalität verschreiben. Zwar lässt sich durch rationale Argumentation die Strittigkeit der Rede von Gott nicht beseitigen. Doch ist ihr konstruktiver Sinn damit keineswegs erledigt. Er besteht in dem Aufweis, dass konsequentes Denken auf ein fundierendes Prinzip

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seiner Begründung und auf einen Abschlussgedanken ausgerichtet ist, in welchem sich der Vernunft ihr eigenes Sinnziel erschließt. Kein vernünftiges Wesen kommt umhin, die Frage zu stellen: „Was heißt ‚Gott‘?“ Luthers Auslegung des Ersten Gebots im Großen Katechismus greift die Gottesfrage auf, um sie einer pointierten Antwort zuzuführen. „Was heißt ein Gott haben oder was ist Gott? Antwort: Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also daß ein Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben, wie ich oft gesagt habe, daß alleine das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide Gott und Abegott. Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch Dein Gott recht, und wiederümb, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott. Worauf Du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.“ (BSLK 560,9–24) Um den Sinn dieser vielzitierten Passage recht zu verstehen, ist es wichtig zu erkennen, dass Luther die Gottesthematik durchaus für kein Sondergut des Christentums oder bestimmter anderer positiver Religionen, sondern für ein anthropologisches Universale erachtet. „Denn es ist“, so steht zu lesen, „nie kein Volk so rauchlos gewesen, das nicht einen Gottesdienst aufgerichtet und gehalten habe.“ (BSLK 563,37–40) Für generalisierbar und allgemeingültig hält Luther ferner die Grundbestimmung, derzufolge die Stelle und Funktion Gottes jeweils durch den- oder dasjenige eingenommen wird, woran der Mensch sein Herz hängt. „Also daß eigentlich, auch nach aller Heiden Meinung, ein Gott haben heißet trauen und gläuben...“ (BSLK 564,9–11) Theologisch ernsthaft in Betracht zu ziehen ist in diesem Sinne nicht die abstrakt-atheistische These vermeintlicher Religionslosigkeit des Menschen, sondern einzig und allein die konkrete Verkehrung der Gottesthematik durch falschen Gottesglauben. Hierauf hat die Theologie primär ihre Aufmerksamkeit zu richten. Als Grundindiz von Abgötterei und verkehrtem Gottesdienst gilt Luther das Fehlen rechter Unterscheidung zwischen Gott als dem höchsten Gut und ewigem Quellgrund alles Guten einerseits (vgl. BSLK 565,40–566,2) und den kreatürlichen Gütern der Welt andererseits sowie die aus solchem Fehlen resultierende Verwechslung von Schöpfer und Geschöpf. Eine solche Verwechslung liegt immer dann vor, wenn der Mensch, statt allein auf Gott zu vertrauen, letzten Seelentrost bei den Kreaturen sucht, die doch, wie bereits Augustins Unterscheidung von „uti“ und „frui“ lehrt, lediglich zu gebrauchen sind als „Hand, Rohre und Mittel, dadurch Gott alles gibt ...“ (BSLK 566,21f.). Dass es recht eigentlich nicht Gottlosigkeit, sondern Kreaturvergötterung ist, wodurch der Gegensatz zu rechtem Gottesglauben bestimmt ist, erläutert Luther sodann an einzelnen, wie er sagt, „gemeinen Exempeln des Widerspiels“ (BSLK 561,8f ), etwa am Beispiel derer, die ihr Herz an den Mammon bzw. an andere irdische Güter hängen (vgl. BSLK 561,7– 46). Eine nicht geringere, sondern unvergleichlich abgründigere Missachtung des ersten Gebots sieht der Reformator ferner dort gegeben, wo das Gewissen „Hülfe, Trost und Seligkeit suchet in eigenen Werken“, Gott den Himmel abzuzwingen

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sich vermisst und darauf pocht, „als wolle es nichts von ihm geschenkt nehmen, sondern selbs erwerben oder überflüssig verdienen, gerade als mußte er uns zu Dienst stehen und unser Schuldner, wir aber seine Lehenherrn sein. Was ist das anders, denn aus Gott einen Götzen, ja einen Apfelgott gemachet und sich selbs fur Gott gehalten und aufgeworfen?“ (BSLK 565,2–14). Auch wenn Luther diese Argumentation für „ein wenig zu scharf“ (BSLK 565,15) und für den Katechismusunterricht ungeeignet erklärt, kann doch kein Zweifel bestehen, dass er in der Selbstvergottung des menschlichen Ich den inneren Abgrund aller weltlichen Abgötterei entdeckt. Die Grundverkehrtheit der Sünde wider das erste Gebot besteht nach reformatorischem Urteil demgemäß darin, dass der Mensch sich auf sich selbst samt den Werken seiner Selbsttätigkeit wie auf einen Gott verlässt. Mit gutem Grund hat man daher immer wieder auf den engen Zusammenhang zwischen Rechtfertigungsgedanken und Luthers Verständnis des ersten Gebots hingewiesen. Was das erste Gebot als erstes gebietet und zu erfüllen aufgibt, ist die gläubige Hingabe des Ureigensten und alles sonstigen Eigentums an Gott in der Konsequenz der Einsicht, dass weder der Welt noch auch dem Ich des Menschen als Inbegriff und Basis aller Selbst- und Weltbezüge Grund und Bestand ohne Gottes Schöpfergüte zukommt. In diesem Sinne führt das erste Gebot das Verhältnis von Gott und Mensch auf seinen Ursprung zurück, auf das Uranfängliche göttlicher creatio ex nihilo. In Bezug auf jenes Uranfängliche wird das Verhältnis Gottes und des Menschen mitsamt seiner Welt als ein absolutes wahrgenommen, in dem der schöpferischen Allmacht Gottes ursprünglich schlechterdings nichts korrespondiert und alles weitere ausschließlich dem allmächtigen Schöpfergott zu verdanken ist. Das Verhältnis Gottes und des Menschen kann sonach prinzipiell nicht als ein relatives vorgestellt werden, wie das immer dann der Fall ist, wenn Gott und Mensch nach Weise zweier gegebener Relate in Beziehung gesetzt werden. Verkehrt ist diese Vorstellung, weil sie den Menschen als gewissermaßen selbstverständliches Datum voraussetzt und damit die Einsicht gegebener Kreatürlichkeit im Sinne der Gottgegebenheit menschlichen Daseins verstellt. Demgegenüber gebietet das erste Gebot den Gehorsam gegenüber dem Schöpfer, wie er in der vorbehaltlosen Annahme der Geschöpflichkeit von Selbst und Welt und des Gottgegebenseins des Ureigensten statthat. Damit ist umschrieben, „was und wieviel dies Gepot fodert, nämlich das ganze Herz des Menschen und alle Zuversicht auf Gott allein und niemand anders“ (BSLK 562,39–563,2). Ganzheit der Hingabe und Vertrauen auf Gott allein stehen dabei in einem Korrespondenzverhältnis, wie denn auch eine Wechselbeziehung zwischen rechtem Gott und rechtem Glauben besteht. Wo die Einzigkeit Gottes nicht anerkannt wird, ist der Glaube verkehrt. Wo Gott nicht das ganze Herz und alle Zuversicht gehört, wird seine Einzigkeit missachtet. Recht ist nur der Glaube, der einzig dem einen Gott vertraut. Der rechte Gott aber wird in seiner Einheit und Einzigkeit darin erkannt, dass der Glaube mit ganzem und ungeteiltem Herzen an ihm hängen und fest auf ihn auch dann vertrauen kann, wenn Selbst und Welt zu schwinden und zunichte zu werden drohen. Damit ist bereits angezeigt, dass die Wechselbeziehung zwischen Glaube und

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Gott in Gott ihren Bestimmungsgrund hat. Hingegen wäre sie in grundverkehrter Weise verstanden, wenn Gott als einziger Grund und Inhalt des Glaubens zu dessen Produkt erklärt würde. Zwar gilt nach Luther der uneingeschränkte Grundsatz: „Nihil divinitatis, ubi non fides“; doch muss man nach seiner Auffassung den Glauben zugleich so „an ihm selbs fassen und verstehen lernen“ (BSLK 646,25f.), dass die Glaubensgewissheit dem Verdacht bloß subjektiver Projektion entnommen ist. Wohl ist die Annahme zutreffend, dass nach Auffassung Luthers eine rechte Unterscheidung zwischen Gott und Abgott nur auf der Basis des untrennbaren Zusammenhangs von Gott und Glaube möglich ist, dessen in der Absicht vermeintlich objektiverer Einsicht vorgenommene Auflösung keine theologische Wissenssteigerung, sondern den Verlust der Gottesgewissheit des Glaubens zwangsläufig mit sich brächte. Indes muss sogleich hinzugefügt werden, dass der Glaubensgewissheit ihrem Wesen als Gottesgewissheit gemäß ein Kriterium innewohnt, welches sie von allen Formen subjektiver Beliebigkeit kategorial abhebt und mit einer Objektivität verbindet, über die hinaus Objektiveres nicht gedacht werden kann. Denn die Glaubensgewissheit ist Gottes in seiner absoluten Einzigkeit dergestalt gewiss, dass sie diese Gewissheit nicht als ein Zweites neben Gott weiß, sondern als eine Gewissheit, deren Subjekt recht eigentlich Gott selbst ist, welcher sich in, mit und unter der Gewissheit des Glaubens, besser gesagt: als Gewissheit des Glaubens selbst zu Bewusstsein bringt. Nur indem der Glaube dies weiß, ist ihm Gott als Gott gewiss. Zugleich weiß der Glaube sich in solchem Wissen, das seine Gewissheit ausmacht, ganz „auf den einigen Gott gestellet, außer welchem wahrhaftig kein Gott ist in Himmel noch auf Erden“ (BSLK 564,13–15). Auch wenn der skizzierte Gedanke, um recht verstanden zu werden, einer christologisch-pneumatologisch durchgeführten, also trinitarisch entwickelten Theologie bedürfte, kann das Ganze in katechetischer Manier doch auch wieder kurz und bündig so gesagt werden: Gott kommt so zu uns, dass wir dadurch in einer Weise zu uns kommen, wie wir es aus uns selbst heraus nicht bzw. nur auf grundverkehrte Weise vermöchten. Der beständige Grund von Selbst und Welt ist uns im Blick auf uns selbst und unsere Welt verborgen, und wir sind ängstlich versucht, uns wegen dieser Verborgenheit grundlos in uns selbst zu gründen mit all den üblen Folgen, welche dieses verkehrte Bemühen hervorbringt. Erst wenn Gott sich uns erschließt, wird uns der verborgene Grund offenbar, in dem wir wahrhaft zu uns selbst kommen und unsere Bestimmung finden, um sie als endliche Wesen in der endlichen Welt nach Kräften zu realisieren. Der Glaube lebt in der Welt, aber nicht von ihr, weil er sich nicht in ihr, aber auch nicht in dem, was das Ich des Glaubenden von sich aus ist, gegründet weiß. „Frage und forsche Dein eigen Herz wohl, so wirst du wohl finden, ob es allein an Gott hange oder nicht. Hast Du ein solch Herz, das sich eitel Guts zu ihm versehen kann, sonderlich in Nöten und Mangel, dazu alles gehen und fahren lassen, was nicht Gott ist, so hast Du den einigen rechten Gott. Wiederümb hanget es auf etwas anders, dazu sich’s mehr Guts und Hülfe vertröstet denn zu Gott, und nicht zu ihm läuft, sondern fur ihm fleugt, wenn es ihm ubel gehet, so hast Du ein andern Abegott.“ (BSLK 566,47–567,8) Abgötter

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haben wir alle. Den rechten Gott aber haben wir nur, wenn er sich uns schenkt, wie er es in Jesus Christus in der Kraft des Heiligen Geistes getan hat. Dies zu explizieren, ist die vornehmste Aufgabe christlicher Theologie. Was ist der „Gegenstand“ von Theologie? Um diese Frage vorläufig zu beantworten, sei nach Ultimate concern dem Reformator exemplarisch auf einen prominenten neuzeitlichen Repräsentanten der Theologenzunft Bezug genommen, auf Paul Tillich. Nach Tillich ist der Gegenstand der Theologie formaliter dasjenige, „was uns unbedingt angeht“ (Sy I, 19f.; bei T. kursiv). Dabei verdient der Hinweis Beachtung, die Wendung „ultimate concern“ sei nichts anderes als die „abstrakte Übersetzung des großen Gebotes: ‚Der Herr, unser Gott, ist ein Gott. Und du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und von allen deinen Kräften‘.“ (Sy I, 19) Bemerkenswert ist dieser Hinweis nicht zuletzt deshalb, als er Tillichs wiederholt betonte Intention bestätigt, die Wesensbestimmung der Religion primär nicht auf anthropologisch-religionspsychologische Weise, sondern vom Gottesgedanken her zu entwickeln. In der ersten der zehn Thesen, die er für eine Disputation anlässlich seiner Promotion zum Lizenziaten der Theologie im Jahre 1912 verfasste, hat Tillich ausdrücklich betont, der Religionsbegriff müsse aus dem Gottesbegriff abgeleitet werden und nicht umgekehrt. Was dieses Diktum theologiegeschichtlich, insbesondere für Tillichs Verhältnis zur Dialektischen Theologie bedeutet, ist hier nicht zu erörtern. Festzuhalten ist nur, dass nach Tillich religiöse Ganzhingabe im Sinne von „ultimate concern“ wie bei Luther ihren letzten Grund und entscheidenden Bezugspunkt in der ungeteilten Einheit und singulären Einzigkeit Gottes hat. Tillichs Wesensbestimmung der Religion ist immer schon „monotheistisch“ verfasst. Hingegen kann die Sphäre der Mehr- und Vielzahl, die Sphäre des Geteilten und Differenten niemals Ursache unbedingten Betroffenseins und Gegenstand völliger Hingabe sein. Das Viele, dessen Inbegriff die Welt ist, kann und darf lediglich ein vorläufiges Anliegen sein und bedingtes Betroffensein hervorrufen. „Gegenstand unendlicher Leidenschaft“ (Sy I, 19) dagegen vermag nur einer und einer allein zu sein: Gott in seiner Einzigkeit. Wird dies nicht beachtet, sondern ein Bedingt-Vorläufiges aus der weltlichen Sphäre des Vielen zum Bezugspunkt gläubiger Ganzhingabe gemacht, dann handelt es sich dabei um Götzendienst. Denn Götzendienst ist nach Tillichs Definition „die Erhebung von etwas Vorläufigem zu etwas Letztem und Unbedingtem. Etwas wesensmäßig Bedingtes wird als unbedingt genommen, etwas, das seinem Wesen nach ein Teil ist, erhält den Charakter von etwas Universalem, und etwas wesenhaft Endlichem wird unendliche Bedeutung verliehen.“ (Sy I, 20f.) Traditionell formuliert heißt dies, dass immer dann, wenn zwischen Schöpfer und Geschöpf, Gott und Mensch bzw. Welt nicht recht unterschieden wird, ein Verstoß gegen das erste Gebot vorliegt, welches die Einheit des einzigen Gottes von der Vielheit von Mensch und Welt strikt unterschieden haben will. Tillich unterstreicht und bestätigt diesen Befund, wenn er das formale Grund-

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kriterium der Theologie, wonach „nur solche Sätze ... theologisch (sind), die sich mit einem Gegenstand beschäftigen, sofern er uns unbedingt angeht“ (Sy I, 20; bei T. kursiv), des Weiteren folgendermaßen näherbestimmt: „Das, was uns unbedingt angeht, ist das, was über unser Sein oder Nichtsein entscheidet. Nur solche Sätze sind theologisch, die sich mit einem Gegenstand beschäftigen, sofern er über unser Sein oder Nichtsein entscheidet.“ (Sy I, 21; bei T. kursiv) Der Sinn dieser These ist offenkundig: Theologische Sätze haben nur einen einzigen „Gegenstand“: Gott. Kein Mensch und nichts in der Welt kann über unser Sein und Nichtsein entscheiden; denn niemand und nichts, was existiert, steht jenseits der Differenz von Sein und Nichtsein, weil alles in der Welt kontingent ist und sonach ein prinzipiell instabiles Zusammenbestehen von Sein und Nichtsein darstellt. Überlegener Herr von Sein und Nichtsein ist nur derjenige, welcher deren Differenz nicht unterlegen ist: der eine Gott, der kein Seiendes neben anderem, auch kein höchstes Seiendes ist, sondern das Sein-Selbst. „Das Sein Gottes ist das Sein-Selbst.“ (Sy I, 273) Es ist hier nicht von den eigentümlichen Schwierigkeiten dieses Grundsatzes Tillich’scher Gotteslehre zu reden, etwa von der Frage, ob die analoge Anwendung des Seinsbegriffs auf Seiendes und Gott als Sein-Selbst nicht die Voraussetzung eines univoken logos analogans impliziert; an Tillichs Symboltheorie und dem Problem, ob eine nichtsymbolische Aussage über Gott möglich ist, wäre dies im Einzelnen zu erörtern (vgl. Sy I, 277ff.). Was im gegebenen Kontext interessiert, ist der offenkundige Zusammenhang zwischen der theologischen Bestimmung Gottes als Sein-Selbst und der Annahme seiner unvergleichlichen Einheit und Einzigkeit. Weil Gott im unvergleichlichen Sinne einer ist, ist er das Sein-Selbst und umgekehrt. Um die Einheit und Einzigkeit Gottes als des Sein-Selbst angemessen zur Geltung zu bringen, wendet sich Tillich nicht nur gegen eine Gleichsetzung Gottes mit einem Seienden, sondern auch gegen seine Gleichsetzung „mit der Totalität und Einheit alles Endlichen“ (Sy I, 274). Ferner wird es für falsch erklärt, von Gott zu sagen, „daß er existiere“ (Sy I, 274). Einen Gott, so Tillich mit Dietrich Bonhoeffer, den es gibt, gibt es nicht: „Es ist ebenso Atheismus, die Existenz Gottes zu behaupten, wie es Atheismus ist, sie zu leugnen. Gott ist das Sein-Selbst, nicht ein Seiendes.“ (Sy I, 275) Wo man gleichwohl versucht, von Gott als existierend zu sprechen, da ist dies nach Tillich stets mit erheblichen theologischen Schwierigkeiten und Aporien verbunden. Als Beispiel hierfür werden die traditionellen Versuche angeführt, das Dasein Gottes zu beweisen. Sowohl den Begriff der Existenz als auch die Methode des logischen Schlussverfahrens, wie sie die sogenannten Beweise vom Dasein Gottes bestimmt, hält Tillich für theologisch unangemessen und der Idee Gottes nicht entsprechend. Der Existenzbegriff widerspricht der Gottesidee, weil sie auf einen schöpferischen Grund ausgerichtet ist, welcher die Differenz von Wesen und Dasein transzendiert und nicht nur kein Seiendes, sondern auch anderes ist als die Totalität alles Seienden. Während alles Seiende durch den Unterschied zu demjenigen bestimmt ist, was es nicht ist, ist Gott der Differenz zwischen Sein und Nichtsein überlegen und mit

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dem Cusaner als das absolut Eine „non aliud“, das Nichtandere, zu nennen. Auch die in den traditionellen Gottesbeweisen geläufige Methode des logischen Schlussverfahrens kontraveniert nach Tillichs Urteil der Gottesidee. Indem man nämlich vom Gegebenen bzw. der Summe des Gegebenen auf Gott schließe, werde dieser – insofern ein Analogieschluss, um wirklich schlüssig zu sein, eine prinzipielle Vergleichbarkeit der Schlussmomente zwangsläufig voraussetzt – der Welt angeglichen und in seiner unendlichen Welttranszendenz verkannt, die nur durch freie Selbsterschließung offenbar zu werden vermöge. Trotz seiner theologischen Kritik an dem von den Gottesbeweisen in Anschlag gebrachten Die sog. Gottesbeweise Existenzbegriff und der rationalen Schlüssigkeit ihres Verfahrens will Tillich ihren Sinngehalt nicht generell in Abrede stellen. Er wertet sie aber zu einem Ausdruck der im menschlichen Weltdasein beschlossenen Frage nach dem Absoluten um, wie er denn überhaupt der sogenannten natürlichen Theologie die Funktion der Explikation menschlicher Fraglichkeit, nicht etwa die Aufgabe und das Vermögen ihrer Beantwortung zuerkennt. Materialiter unterscheidet Tillich, ohne allzu genau auf geläufige Sprachregelungen zu achten, zwischen dem ontologischen Argument, dem er die Möglichkeit, und dem kosmologischen bzw. teleologischen, dem er die Notwendigkeit der Frage nach Gott zuordnet. Den ontologischen Gottesbeweis deutet er als eine Beschreibung der Art und Weise, wie das Unendliche im Endlichen potentiell präsent ist. Das ontologische Argument zeige an, dass der mit der Möglichkeit, um sich zu wissen, ausgestattete Mensch mit seiner Endlichkeit zugleich seiner unendlichen Bestimmung gewahr werde, da er im Bewusstsein seiner Grenze diese immer schon überstiegen habe. Diese Selbsttranszendenz, die das Dasein des Menschen elementar charakterisiere und ihn vor allen anderen Kreaturen als weltoffenes Wesen auszeichne, bringt Tillich sowohl mit theoretischen als auch praktischen Selbstvollzügen des Menschen in Verbindung. Erstere sieht er auf das verum ipse, auf die alle Wahrheiten bewährende absolute Wahrheit ausgerichtet, letztere auf das bonum ipse, auf das höchste Gut, das alles Guttun intendiert und von der sich alle Güte abhängig weiß. Verum et bonum ipsum hinwiederum sind nach Tillich Momente des esse ipsum, des Seins-Selbst. Ist die Möglichkeit der Frage nach Gott durch die ontologischen Beweisformen aufgewiesen, insofern sie auf ein in der Daseinsverfassung des Menschen mitgesetztes latentes und unausdrückliches Gottesbewusstsein verweisen, so zeigen die kosmologischen und teleologischen Gottesbeweise nach Tillich die Notwendigkeit der Gottesfrage an. Indem die kosmologischen Beweisformen aus der Endlichkeit des Seienden auf ein unendliches Sein schließen, bringen sie das elementare menschliche Streben nach einer Basis für jenen Mut zum Sein zum Ausdruck, der die Angst vor dem Nichtsein, wie sie den kategorialen Strukturen der Endlichkeit (Zeit, Raum, Kausalität und Substanz) inhärent ist, auf sich zu nehmen und zu überwinden vermag. Indem die teleologischen Beweisformen von endlichen Sinnzielen der Welt auf ein absolutes telos aller Wirklichkeit zielen, belegen sie die

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Sehnsucht und das Verlangen des Menschen, der Angst der Sinnlosigkeit nicht zu erliegen. Die kosmologischen Beweise formulieren so die Frage nach dem Grund des Seins, der die Differenz von Sein und Nichtsein zu beherrschen und die mit ihrer Wahrnehmung sich einstellende menschliche Angst zu beheben vermag. Im teleologischen Beweis artikuliert sich das Streben nach einem letzten Sinnziel, ohne das alles Sinnen und Trachten eitel wäre. Nach Tillich leisten die Gottesbeweise nicht, was sie gemäß ihrem Begriff zu leisten beanspruchen. Auf der alleinigen Basis gegebener Welt- und Selbsterfahrung ist die Erkenntnis des Daseins Gottes nicht möglich, jedenfalls nicht in eindeutiger Weise. Auch methodisch geregelte philosophische Reflexion vermag die Existenz Gottes nicht unstrittig zu beweisen. Gott kann, wie Tillich in Übereinstimmung mit Karl Barth sagt, nur durch Gott selbst erkannt werden, sein Beweis nur als Selbsterweis erfolgen. Eine verfügbare Möglichkeit menschlichen Denkens und Trachtens ist weder die Erkenntnis des Daseins Gottes noch gar diejenige seines trinitarischen Wesens. Dennoch sind nach Tillich die sog. Gottesbeweise theologisch nicht ohne Bedeutung. Zwar ist ihr Name ebenso irreführend wie die Rede von einer natürlichen Theologie bzw. einer cognitio vel notitia Dei naturalis. Gleichwohl zeigt sich nach Tillich in dem menschlichen Streben, Prinzip, Fundament und Sinnziel von Selbst und Welt rational zu ergründen, wie es in der argumentativ entwickelten Gotteslehre der Philosophen methodisch geregelte Gestalt angenommen hat, ein auch theologisch unverzichtbares Wahrheitsmoment. Als denkendes Wesen ist der Mensch förmlich genötigt, sich auf einen fundierenden Grund von Selbst und Welt zu beziehen. Dieser förmliche Bezug steht für die Unersetzbarkeit des religiösen Verhältnisses, das als anthropologisches Universale zum Menschsein des Menschen gehört. Unter spezifischen Bedingungen hat er sich zu gedanklich elaborierten Theorieformen ausgebildet, wie sie in den sog. Gottesbeweisen und anderen Versuchen rationaler Theologie vorliegen. Der Wert dieser Theoriebildungen ist nach Tillich im Wesentlichen darin begründet, dass sie der Fraglichkeit menschlichen Daseins auf formal konsistente Weise Ausdruck verschaffen und sonach rational überprüfbare Formalkriterien benennen, ohne deren Kenntnisnahme und Würdigung der göttliche Selbsterweis, von dem Offenbarungstheologie ihren Ausgang nimmt, nicht als universal verstehbare Antwort auf menschliche Fraglichkeit behauptet werden könnte. Zwar haben nach Tillich auch die rationalen Formalkriterien, welche Philosophie in Gestalt einer theologia rationalis ausbildet, an der Fraglichkeit menschlichen Daseins in der Welt Anteil und bedürfen daher der Transformierung oder, wenn man so will, der Transfinalisierung durch die im Selbsterweis Gottes gegebene Antwort. Offenbarungstheologie wird daher die Formen der theologia naturalis nicht unmittelbar affirmieren, sondern auch kritisieren. Aber diese materiale Kritik hat nur dann die konkrete Gestalt bestimmter Negation, wenn sie auf die Form, in der sich das rational ausgebildete religiöse Verhältnis darbietet, Bezug nimmt, statt von ihr zu abstrahieren.

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Unter dieser Voraussetzung seien im Folgenden exemplarische Fallstudien zu den traditionellen Gottesbeweisen dargeboten. Dies kann nicht angemessen geschehen ohne Berücksichtigung der Kritik, welche diese und die sog. natürliche Theologie insgesamt in der neuzeitlichen Philosophie erfahren haben. Dass diese Kritik die Gottesfrage nicht erledigt, wird sich zeigen. Sie belegt aber die Strittigkeit, die der Gottesthematik auch nach theologischem Urteil unter den gegebenen Bedingungen von Selbst und Welt nicht grundlos zu eigen ist. Im Zusammenhang der Ausführungen zur Gottesgeschichte Israels, zur Geschichte des Lebens und Sterbens Jesu Christi sowie zur Ausbildung frühchristlicher Theologie im Lichte Osterns und Pfingstens bis hin zur Ausbildung des trinitarischen Dogmas der Alten Kirche wird dazu das Nötige gesagt werden. Erst in diesem Kontext wird die formale Gestalt, wie sie einleitenden Erwägungen gemäß ist, mit materialem Gehalt versehen werden. Fünf Wege sind es, auf denen sich gemäß der Die fünf Wege des Thomas „Summa Theologiae“ (I q.2,a.3) des Thomas von von Aquin Aquin (1225–1274) beweisen lässt, dass Gott existiert: Der erste und nach dem Urteil des „doctor angelicus“ gangbarste bzw. beweiskräftigste ist derjenige, der von der Bewegung seinen Ausgang nimmt (ex parte motus). Da nämlich alles, was innerweltlich bewegt ist, nach Maßgabe sinnlicher Gewissheit eines Bewegenden bedarf, welches Bewegende das Bewegte nicht unmittelbar selbst sein kann, und da es fernerhin unmöglich ist, in der Bewegungsreihe ins Unendliche fortzuschreiten, weil es dann wie kein anfängliches Bewegen, so überhaupt keine Bewegung gäbe, ist es notwendig, zu einem Erstbewegenden zu gelangen, das von keinem bewegt wird (necesse est devenire ad aliquod primum movens, quod a nullo movetur). Unter diesem – von keinem bewegten – Erstbewegenden wird nach Thomas allgemein Gott verstanden: „hoc omnes intelligunt Deum.“ Der dem kinesiologischen analoge zweite Beweisgang, der Kausalitätsbeweis, verläuft ex parte causae efficientis, d.h. er verfolgt den Weg von Ursache und Wirkung, deren sinnlich gegebene Reihung zum einen die Möglichkeit der Selbstverursachung nicht zulässt, zum anderen sich nicht in infinitum erstrecken kann, weil sonst von einer Verlaufsfolge von Ursache und Wirkung überhaupt nicht die Rede sein könnte; daraus ergibt sich nach Thomas notwendig die Annahme einer ersten Wirkursache (est necesse ponere aliquam causam efficientem primam). Sie wird von allen Gott genannt: „quam omnes Deum nominant.“ Vom Möglichen und Notwendigen (ex possibili et necessario) nimmt der dritte Weg, der Kontingenzbeweis, seinen Ausgang: Wäre alles, was ist, kontingent, will heißen: in dem Possibilitätsstatus, zu sein oder nicht zu sein, wäre nicht mehr verständlich, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts, da alles bloß Mögliche keinen ursprünglichen Bestand hat. Da aber sinnenfällig ist, dass etwas ist und nicht nichts, können die possibilia, welche die Notwendigkeit ihres Seins nicht unmittelbar in sich tragen, sondern anderswoher empfangen, nicht den Inbegriff des Seienden ausmachen; es ist vielmehr mit Notwendigkeit auf etwas zu schließen, das durch sich notwendig ist, ohne die Ursache der Notwendigkeit anderswoher zu

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haben, und das für anderes die Ursache der Notwendigkeit darstellt (necesse est ponere aliquid quod sit per se necessarium, non habens causam necessitatis aliunde, sed quod est causa necessitatis aliis). Dies allein durch sich selbst Notwendige nennen alle Gott: „quod omnes dicunt Deum.“ Der vierte Beweis folgt den Stufungen (ex gradibus), welche man in den Dingen entdeckt. In der approximativen Konsequenz eines Mehr oder Weniger an Güte, Wahrheit und Adel in den vorhandenen Entitäten, welches nach den Grundsätzen der klassischen Metaphysik zugleich als magis et minus an Sein zu gelten hat, gelangt der Stufenbeweis zu einem nicht mehr zu steigernden und sonach höchst vollkommenen Sein, das allem Seienden sein Sein gibt (est aliquid quod omnibus entibus est causa esse, et bonitatis, et cuiuslibet perfectionis). Dieses höchst vollkommene Sein pflegt man Gott zu nennen: „hoc dicimus Deum“. Der fünfte und letzte Gottesbeweis des Thomas ergibt sich ex gubernatione rerum, nämlich aus der Tatsache, dass natürliche Körper, die an sich selbst ohne Erkenntnis und daher zu keiner intentionalen Handlung fähig sind, um eines Zweckes willen, also zielgerichtet-final operieren, was nicht zufällig sein kann, sondern auf eine planvoll-teleologische Absicht schließen lässt; es gibt also ein Vernünftiges, von dem aus alle Naturdinge zu einem Ziel hingeordnet werden (est aliquid intelligens, a quo omnes res naturales ordinantur ad finem). Diese lenkende Vernunft nennen wir Gott: „et hoc dicimus Deum.“ Bleibt hinzuzufügen, dass „Gott“ als actus purus, ens a se bzw. ens necessarium, perfectissimum et sapientissimum mit Notwendigkeit einer ist und zwar im Sinne unzusammengesetzter Einfachheit und singulärer, jeder Zahl und Zählung überlegenen Einzigkeit, so dass es kategorisch verboten ist, das göttliche Sein und Wesen einem Allgemeinbegriff zu subsumieren: „Deus non est in genere sicut species.“ (Iq.3,a.5) Ein und demselben nach ist Gott Gott und dieser Gott (Iq.11,a.3: „Secundum igitur idem est Deus, et hic Deus“). Gott ist seine Gottheit, denn sein Sein ist sein Wesen in einfacher und einziger Einheit. Die Unmöglichkeit einer polytheistischen Theologie erklärt sich daraus unmittelbar. Zugleich widerspricht die Annahme mehrerer Götter nach Thomas der Tatsache geordneter Vielheit in der Welt, die auf eine vorgegebene einfache und einzige Einheit verweist, was jedweden Polytheismus als un-, ja widervernünftig ausschließt. Was nämlich verschieden ist, käme nicht zu einer Ordnung zusammen, wenn es nicht von Einem geordnet würde, welches in sich eins und einzig ist. Darum haben nach Thomas – sozusagen von der Wahrheit selbst gezwungen – auch die heidnischen Philosophen eine einfache und einzige Ureinheit veranschlagt, wenn sie einen gründenden Grund des Kosmos in Anschlag brachten. Einen anderen – von Thomas abgewiesenen – Die ratio Anselmi Weg, das Dasein Gottes zu erweisen, hatte Anselm von Canterbury (1033–1109) beschritten. Zwar finden sich auch bei ihm, wie seine Erstlingsschrift „Monologion“ belegt, Gottesbeweise, die von der Welterfahrung des Menschen ihren Ausgang nehmen und den späteren thomasischen und ähnlichen scholastischen Beweisformen ver-

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gleichbar sind. Doch im „Proslogion“ wählt Anselm in der Absicht, das Gefüge aposteriorischer Argumentationen auf ein Argument zu reduzieren, ein apriorisches Verfahren, um die Existenz Gottes rein begrifflich zu erweisen. In der Differenz beider Ansätze reflektiert sich der Unterschied aristotelischer bzw. neuplatonisch-augustinischer Tradition, der den Duktus der jeweiligen Überlegungen wesentlich bestimmt. Während Thomas von Aquin im Anschluss an Aristoteles grundsätzlich erfahrungsbezogen argumentiert, sucht Anselm den tiefsten Beweisgrund des Daseins Gottes im denknotwendigen Begriff des Absoluten. Er folgt dabei der Methode, die in der Wendung „fides quaerens intellectum“ programmatisch umschrieben ist. Ziel theologischer Wissenschaft ist es, den vom Glauben vorausgesetzten Grund vernünftig zu erweisen. Dieses Anliegen entspricht nach Anselm dem Glauben, der seinem Wesen nach auf Erkenntnis angelegt ist. Der Glaube scheut nicht das Licht der Vernunft, von deren Grund und Inbegriff er sich im Gegenteil im Innersten seiner selbst erleuchtet weiß. Zwar sind fides und ratio weder unmittelbar eins noch dazu bestimmt, ihren Unterschied zu negieren, um sich gegenseitig zu ersetzen. Vernunft ist das Andere des Glaubens, der Glaube das Andere der Vernunft. Das eine ist mit dem anderen nicht identisch. Und doch ist das eine nie ohne das andere. Dass Glaube und Vernunft ihrem innersten Wesen nach konvergieren und in einem kohärenten Zusammenhang stehen, wird am deutlichsten aus ihrer gemeinsamen Einsicht in das, worüber Höheres hinaus nicht gedacht werden kann. Der Glaube bekennt, dass Gott etwas ist, im Vergleich zu dem etwas Größeres zu denken unmöglich ist. Zugleich liegt es in der inneren Konsequenz des Denkens begründet, etwas zu denken, „quo nihil maius cogitari possit“ (Prosl. II). Der Gedanke dessen, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, ist denknotwendig, sofern Denken Letztbegründung erstrebt. In diesem Streben trifft das Denken auf jenen fundierenden Grund, den der Glaube als seine Voraussetzung wahrnimmt: auf dasjenige, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann und das mit Denknotwendigkeit gedacht werden muss. Die Pointe der sog. ratio Anselmi besteht in dem Schluss, dass das denknotwendig zu denkende „id quo maius cogitari nequit“ nicht nur nicht nicht gedacht, sondern auch nicht als nichtexistent gedacht werden kann. Als nichtexistent gedacht wäre das, worüber Höheres hinaus nicht gedacht werden kann, nämlich nicht als dasjenige gedacht, als das es mit Denknotwendigkeit zu denken ist. Denn das lediglich in intellectu und nicht in re, also das bloß in Gedanken gedachte, aber nicht in Wirklichkeit existierende „id quo maius cogitari non potest“, würde nach Anselm seinem Begriff nicht nur nicht entsprechen, sondern widersprechen, sofern sich in Wahrheit Höheres denken ließe, nämlich das nicht nur in intellectu, sondern zugleich in re gegebene „id quo maius nihil cogitari potest“. Wird „id quo maius cogitari non potest“ gedacht, was um der inneren Konsequenz des Denkens willen notwendig geschehen muss, dann kann es nicht als nichtexistent, sondern muss mit Denknotwendigkeit als existierend gedacht werden. Der Glaube findet in dieser rationalen Argumentation die Bestätigung dessen,

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was ihm gewiss ist: „Sic ergo vere es, Domine, Deus meus, ut nec cogitari possis non esse.“ (Prosl. III) So wahrhaft wirklich existiert Gott, der seinem Begriff nach als dasjenige zu denken ist, worüber hinaus Höheres nicht gedacht werden kann, dass seine Nichtexistenz prinzipiell nicht gedacht werden kann. Die Existenz Gottes ist ein notwendiges Implikat seines höchst vollkommenen Wesens, das gemäß seinem Begriff, den zu denken dem Denken notwendig ist, alle positiven Bestimmungen des Möglichen und des Wirklichen in sich vereint. Da Existenz als eine der Vollkommenheiten zu gelten hat, die im Begriff des vollkommensten Wesens enthalten sind, ist Gott zweifelsfrei existent. In den Kapiteln 2–4 von Anselms „Proslogion“ wird dies im Einzelnen dargelegt, wobei das theologische Gespräch stets mit zu berücksichtigen ist, das die Seele im „Monologion“ mit sich selbst über Gott und die Welt führt. Das Selbstgespräch des „Monologion“, das gemäß seinem ursprünglichen Titel ein Beipiel gibt, wie man über den Grund des Glaubens nachsinnt (exemplum meditandi de ratione fidei) wurde im Jahr 1076 vollendet, das in Form einer Anrede konzipierte „Proslogion“ wenig später, etwa um 1077/78. Das Proslogion dient ebenfalls dem Glauben, der die Einsicht sucht („fides quaerens intellectum“). Die Schrift, die nicht nur vom Dasein Gottes, sondern auch von Gottes Wesen und Eigenschaften sowie von der göttlichen Trinität handelt, ist signifikanterweise in Gebetsform gefasst. Diese Form ist dem Inhalt nicht äußerlich. Gebet und gedankliche Spekulation sind wie in den „Confessiones“ Augustins, nach dessen Vorbild das „Proslogion“ gestaltet ist, untrennbar verbunden und ineinander verwoben. Dennoch beansprucht Anselm, den Beweis des Daseins Gottes ohne vorausgesetzte Glaubensprämissen geben zu können. Er setzt das Dasein Gottes, von dem er ausgeht, nicht als offenbarungsgegebenes Faktum voraus, sondern orientiert sich an dem als denknotwendig beurteilten Gedanken dessen, über das man nichts Größeres denken kann. Aus dem reinen Begriff dessen, was der Glaube Gott nennt, soll das Dasein Gottes rational begründet werden. Anselm will also nicht nur den offenbaren Selbsterweis Gottes, auf dem der Glaube beruht, theologisch ratifizieren, sondern einen gedanklichen Erweis des Daseins Gottes geben. Wenn der Gedanke dessen, über welches hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, denknotwendig ist, wovon Anselm ausgeht, dann kann das in ihm Gedachte kein bloßer Begriff sein, dem das Dasein abgeht und keine Realität entspricht, weil dies in sich widersprüchlich wäre, da ein lediglich in Gedanken gedachtes, aber nicht in Wirklichkeit existierendes „id quo maius cogitari nequit“ nicht dasjenige wäre, über das hinaus man sich nichts Größeres denken kann. Der Begriff dessen, worüber hinaus Höheres nicht gedacht zu werden vermag, kann kein bloßer Begriff sein, sondern muss die Differenz von esse in intellectu und esse in re umfassen und in sich vereinen. „Existit ergo procul dubio aliquid quo maius cogitari non valet, et in intellectu et in re.“ (Prosl. II) Im Unterschied zur Einschätzung Karl Barths beansprucht Anselm im Proslogion durchaus, einen philosophischen Beweis des Daseins Gottes sola ratione zu geben.

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Sind die Vernunftargumente des Anselm schlüssig und die Beweisgründe, die Thomas für Kants Kritik das Dasein Gottes anführt, rational überzeugend? Spätestens seit Kant ist dies prinzipiell bestritten worden. Seine Kritik richtet sich dabei nicht nur gegen die zielführende Gangbarkeit der fünf Wege des Thomas und gegen die vernünftige Plausibliltät der ratio Anselmi, sondern gegen alle Formen von Gottesbeweisen. Kant unterteilt sie in drei Formtypen: die physikotheologische oder -teleologische, die kosmologische und die ontologische Beweisform. Der physikoteleologische Beweis schließt von einer in der natürlichen Welt zu beobachtenden Zweckordnung auf das Dasein einer Ursache, die der als zweckmäßig zu beurteilenden Einrichtung der Natur proportioniert ist. Zwar erkennt Kant den Annahmen der Physikotheologie ein relatives Recht zu, insofern sie den Forderungen der praktischen Vernunft bezüglich einer Konvergenz und letzten Koinzidenz von Sein und Sollen entgegenkommen. Doch lässt sich die tendenzielle Übereinkunft von natürlichem Sein und sittlichem Sollen nur moralisch postulieren und nicht im Sinne rationaler Naturwissenschaft belegen. Ein physikoteleologischer Gottesbeweis ist demgemäß nach Kant theoretisch nicht durchführbar. Der Schluss auf einen obersten Lenker der Natur, dessen absolute Zwecktätigkeit den Sinn des natürlichen Ganzen gewährleistet, liegt außerhalb des Vermögens vernünftigen Urteilens, weil nur endliche Bezugsgrößen Erkenntnis überhaupt erlauben, wohingegen die Wirklichkeit eines absoluten Zwecksetzers für empiriegebundene Theorie unerschwinglich ist. Nimmt der physikoteleologische Gottesbeweis von einer bestimmten Welterfahrung seinen Ausgang, um von einer natürlichen Ordnung, die als zweckmäßig erscheint, auf einen überweltlichen Verursacher, Lenker und Sinngeber zu schließen, abstrahieren die kosmologischen Beweisarten des Daseins Gottes von aller konkreten Weltwahrnehmung, um aufgrund der empirischen Tatsache, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts, zur Annahme eines transzendenten Weltgrundes zu gelangen. Ist überhaupt etwas, das existiert, so muss ein unbedingt Notwendiges existieren, weil Zufälliges nur unter der Bedingung einer Ursache existieren kann, die nicht selbst lediglich zufällig ist, sondern ohne Bedingung notwendigerweise da sein muss. Von dem Gedanken einer Existenz unbedingter Notwendigkeit schreitet das kosmotheologische Argument nach Kant sodann zu dem Begriff eines schlechthin notwendigen Wesens fort, welches den Bedingungsgrund zu allem Möglichen unbedingt in sich enthält und als ens necessarium zugleich ens realissimum ist, dessen Dasein Implikat seines Begriffs ist. Scheint der kosmologische Schluss von der Notwendigkeit eines weltbegründenden Absoluten auf das Dasein eines allerrealsten Wesens in sich stimmig zu sein, so beruht er doch nach Kants Urteil auf einer bloßen Erschleichung. Zwar sei der Begriff des ens realissimum der einzige, vermittels dessen ein ens necessarium gedacht werden kann: doch werde im vermeintlichen Beweisverfahren verkannt, dass synthetische Urteile vor aller Erfahrung nur in Beziehung auf deren Möglichkeit, nicht aber unter Absehung von dieser statthaft sind. Statt eines regulativen

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Gebrauchs, der einzig möglich ist, macht Kosmotheologie vom transzendentalen Ideal einen konstitutiven Gebrauch. Dies aber ist nach Kants Urteil ein irregulärer Vernunftgebrauch, der nur Schein erzeugt. Von diesem kritischen Einwand ist auch das sog. ontologische Argument zum Beweis des Daseins Gottes betroffen, auf das sich nach Kant im Grunde alle spekulativen Gottesbeweise zurückführen lassen. Abstrahierte der kosmologische Beweis im Unterschied zum physikoteleologischen von allen bestimmten Erfahrungen, um von der schieren Tatsache, dass es überhaupt etwas zu erfahren gibt, seinen Ausgang zu nehmen, so sieht der ontologische Gottesbeweis auch hiervon und damit von Erfahrung überhaupt ab, um rein begrifflich und gänzlich a priori die Existenz des Absoluten zu verifizieren. Das ontologische kehrt das Verfahren des kosmologischen Arguments um. Statt den aus der Erfahrung der Kontingenz von Erfahrbarem überhaupt resultierenden Gedanken schlussfolgernd mit der Existenzannahme eines ens realissimum zu verbinden, ergibt sich für den ontologischen Beweis das absolut-notwendige Dasein eines in höchstem Maße realen Wesens aus der Idee der höchsten Realität, über die hinaus eine höhere nicht gedacht werden kann. Der alle Realität in sich enthaltende und von aller Bedingung unabhängige unbedingt zureichende Grund alles Bedingten enthält, so das Argument, seinem Begriff nach die schlechterdings notwendige Existenz seiner selbst. Da aber der Begriff dessen, über das hinaus Höheres nicht gedacht werden kann, nicht nur denkbar, sondern denknotwendig ist, sei mit dem Gedanken Gottes dessen Dasein bewiesen. Kant begegnet dieser Argumentationsfolge mit dem schlichten Hinweis, dass die Behauptung der Nichtexistenz dessen, worüber Höheres hinaus nicht gedacht werden kann, keinerlei Widerspruch enthalte. Zwar sei es widersprüchlich, den Begriff des Absoluten zu setzen und dessen Existenz zu bestreiten. Doch mit der Aufhebung des Begriffs des Absoluten ist auch die Behauptung von dessen Dasein erledigt. Daraus wird nach Kant einsichtig, dass der Satz „Gott ist nicht“ logisch nicht widersprüchlich ist. Existenz nämlich ist kein reales Prädikat und kein Begriff von irgendetwas, was zu dem Begriff von irgendetwas hinzukommt. Es bezeichnet lediglich dessen gesetzte Position und sonst nichts. Mit der Begriffsposition ist mithin auch die Existenz des gesetzten Begriffs aufgehoben. In einem Existierenden ist nicht mehr gesetzt als in einem bloß Möglichen. Der Satz, dass ein allerrealstes Wesen sei, besagt nach Kant insofern nicht das mindeste mehr als der Begriff des allerrealsten Wesens selbst. Von der Idee Gottes kann die Vernunft demgemäß vernünftigerweise nur einen regulativen, nicht aber einen konstitutiven Gebrauch machen. Die vom Verstand zur durchgängigen Bestimmung seiner Begriffe vorausgesetzte Prämisse mit einem wirklichen Wesen zu assoziieren, entbehrt nach Kant jeder Vernunftgrundlage. Die Idee eines höchsten Wesens bleibt demnach für den theoretischen Vernunftgebrauch ein bloßes, wenngleich fehlerfreies Ideal, dessen Realität zwar nicht widerlegt, aber ebenso wenig bewiesen werden kann wie die auf vollkommene Realisierung der Freiheit hin angelegte Zweckmäßigkeit der natürlichen Welt oder die Unsterblichkeit und Ewigkeitsbedeutung der Menschenseele.

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Mit seiner Kritik bestritt Kant nicht nur die Vernunftschlüssigkeit der ratio Anselmi, sondern auch der Beweisform, die das sog. ontologische Argument bei Descartes und im Anschluss an diesen angenommen hat. Wollte die ratio Anselmi das Dasein des höchst vollkommenen Wesens demonstrieren, so nimmt der ontologische Beweis in seiner cartesianischen Form beim Begriff Gottes als des notwendigen Wesens seinen Ausgang. Im Unterschied zu allem Endlichen ist Gott als derjenige zu denken, der nicht hinweggedacht werden kann. Was aber mit Denknotwendigkeit nicht hinweggedacht werden kann und daher schlechterdings notwendig ist, ist notwendigerweise Grund seiner selbst. Als causa sui hinwiederum kann Gott nur gedacht werden, wenn er existiert. Stehen die ratio Anselmi und ihr Schluss von dem Begriff des vollkommensten Wesens, ohne den die eingeschränkten Grade der Vollkommenheit in der Welt nicht verständlich zu machen sind, auf die Existenz des ens perfectissimum in platonisch-augustinischer Tradition, so erinnert das ontologische Argument in seiner cartesianischen Form an den aristotelisch-thomistischen Beweis der Existenz des ersten Bewegers und Verursachers, obgleich Cartesius sein Beweisverfahren nicht a posteriori, sondern a priori, nämlich aus reinen Gedankenbestimmungen heraus führt. Wie bei Descartes ist auch bei Spinoza der Gedanke der Notwendigkeit göttlichen Wesens der Vergewisserungs- und Gewissheitsgrund des Daseins Gottes. Um den Gedanken Gottes als des notwendigen Wesens gedanklich abzusichern, fragt Leibniz eigens nach dessen Möglichkeit bzw. nach dem Possibilitätsstatus des Gedankens des ens necessarium. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass es unmöglich ist, zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit in Gott zu unterscheiden. Wenn Gott möglich ist, ist er notwendigerweise auch wirklich und der Grund dafür, dass überhaupt etwas möglich und tatsächlich ist. Wäre die Möglichkeit des in seiner Möglichkeit zugleich wirklichen göttlichen Wesens nicht gegeben, müsste die Möglichkeit von allem Möglichen bestritten und als unmöglich behauptet werden, dass überhaupt etwas möglich ist. Eine solche Behauptung aber ist in sich widersprüchlich. Es ist also ebenso unmöglich, die Möglichkeit eines notwendigen Wesens zu bestreiten, wie es vernunftnotwendig ist, dessen Wirklichkeit anzunehmen. Vor allem in dieser Form ist das ontologische Argument zur Basis rationaler Philosophie vor Kant geworden. Christian Wolffs System gibt dafür einen exemplarischen Beleg. Als klassisches Beispiel vorkantischer Metaphysik in cartesianischer Tradition erkennt es dem ontologischen Argument fundierende Bedeutung nicht nur für die Ontotheologie, sondern für den Gesamtzusammenhang rationaler Vernunfterkenntnis zu. Philosophie als Wissenschaft von den möglichen Dingen ist im Sinne Wolffs nur möglich, wenn die Möglichkeit und Wirklichkeit eines ens necessarium als erwiesen gelten darf, welches alles Mögliche ermöglicht und der Grund dafür ist, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts. Kant hat Wolffs System als Inbegriff eines rationalistischen Dogmatismus kritisiert. Indem er gegen das ontologische Argument die radikale und unaufhebbare Differenz zwischen Sein und Denken, Gegenstand und Gedanke, Dasein und Begriff geltend machte, gab er zugleich zu erkennen, dass der Begriff des notwen-

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digen bzw. allervollkommensten Wesens nach seinem Urteil realiter nicht denkbar ist. Der Gedanke absoluter Notwendigkeit und Vollkommenheit bezeichnet kein existierendes Wesen, sondern lediglich die Funktion, die der Gottesbegriff im Ganzen der Erkenntnis zu erfüllen hat. Als das Vermögen, Totalität zu erkennen, bildet die Vernunft die Idee der omnitudo realitatis mit innerer Konsequenz aus, ohne mit ihr auf vernunftbegründete Weise Realexistenz assoziieren zu können, was vielmehr unmöglich ist. Dasselbe gilt vom Begriff absoluter Notwendigkeit, welcher der Idee von einem All der Realität entspricht. Er ist bloßer Modalitätsbegriff und, weil ohne Dingbeschaffenheit, mit keiner bestimmten Entität zu verbinden. Obwohl er die Motivationsgründe ihrer Entstehung erkennt und anerkennt, hält Kant daher eine rationale Ontotheologie für prinzipiell unmöglich. Ihr Versuch, den kosmologischen Grenzbegriff des notwendigen Wesens durch ontologische Argumentation zu einem bestimmten Begriff zu machen, scheitert bzw. erzeugt nur Schein. Wäre der Begriff des notwendigen Wesens bestimmbar, dann allerdings wäre das Dasein dieses Wesens ausgemacht. Aber eben dies ist nach Kant nicht der Fall. Entsprechendes gilt seinem Urteil zufolge für den Begriff des allervollkommensten Wesens. Erheblich anders urteilt Hegel. Im Unterschied Hegels Rehabilitierung des zu Kant, für den das Dasein Gottes lediglich ethiontologischen Arguments kotheologischen Postulatscharakter hat, will Hegel an der konstitutiven Bedeutung des Gottesgedankens für die theoretische Vernunft festhalten, statt ihn zu einem bloßen Grenzbegriff herabzusetzen und das endliche Ich und seine Erfahrungswelt zur Basis der Philosophie zu erklären. Zwar revoziert Hegel die Kant’sche Kritik der rationalistischen Ontotheologie keineswegs; gleichwohl gelangt er zu einer gedanklichen Rehabilitierung der traditionellen Gottesbeweise auf neuer Basis. Das gilt insbesondere für den ontologischen Beweis, der zuvor und auch noch bei Kant selbst, der seinen üblich gewordenen Namen prägte, der cartesianische Beweis oder die ratio Anselmi genannt wurde. Hegel versucht ihm eine spekulative Fassung und einen Sinn zu geben, der mit dem Entwicklungsgang dialektischer Vernunft konform geht und nur unter Bedingungen eines Verstandesgebrauchs in Zweifel gezogen werden kann, der noch nicht zur Vernunft gekommen und zur Einsicht in sich selbst gelangt ist. Die Rehabilitierung des ontologischen Beweises geht einher mit einer im Vergleich zu Kant entscheidend veränderten Explikation des Verhältnisses von Denken und Sein, das Hegel nicht als fraglos bestehend voraussetzt, womit es nach seinem Urteil unbegriffen bliebe, sondern aus dem sich aus sich selbst heraus bestimmenden Ganzen seines Systems entwickelt. Dieses System kann in gewissem Sinne insgesamt als ontologischer Gottesbeweis verstanden werden, sofern der absolute Begriff des Begriffs aus ihm resultiert, in dessen Absolutheit der Gegensatz von Denken und Sein begriffen und aufgehoben ist. Nicht von ungefähr gilt Hegel der ontologische Gottesbeweis als der allein wahrhafte, wohingegen er in den anderen Beweisarten lediglich Vorformen erkennt, die darauf angelegt sind, in das ontologische Argument einzugehen.

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Die Differenz der vom ontologischen Argument unterscheidbaren Gottesbeweisformen bestimmt sich nach Hegel durch den jeweiligen Ausgangspunkt der Erhebung des Geistes aus dem Endlichen zu Gott. Die Kategorie der Endlichkeit, von der das kosmologische Argument anhebt, ist diejenige der Zufälligkeit der empirischen Einzeldinge und der Welt als ihrer Gänze. Der physikoteleologische Beweis hingegen nimmt seinen Ausgang bei der zweckmäßigen Beziehung, in welcher die weltlichen Dinge zu sich und untereinander stehen. Geht der erste vom kontingenten Sein aus, um auf ein wahrhaft und an und für sich seiendes Sein zu schließen, folgert der zweite aus einem nach Zweckbeziehungen bestimmten Sein auf einen weisen Urheber desselben. Dass Kant den teleologischen zum ältesten unter den Gottesbeweisen erklärt hat, hält Hegel für einen Irrtum, da die erste Bestimmung Gottes nicht diejenige der Weisheit, sondern der Macht sei. Diese theologische Primärbestimmung sei dort gegeben, wo Gott im Sinne des kosmologischen Arguments als sich selbst verursachende causa prima, als absolut notwendiges Wesen, als alles bewirkende Wirklichkeit, als das Sein in allem Dasein oder als substantia absoluta gedacht wird. Ein entwickelterer theologischer Begriff werde im Zusammenhang teleologischer Argumentation erreicht, sofern mit Gott nicht schiere Machttat, sondern ein freies Schaffen nach Zwecken mit dem Endzweck des Guten als des durch die Vernunft an und für sich Bestimmten assoziiert wird. Doch belässt es der teleologische Gottesgedanke nach Hegel bei der bloßen Forderung, dass das Gute sein soll, ohne in seiner Realität aufgewiesen werden zu können. Die Differenz von Sein und Sollen bleibt bestehen; das Dasein Gottes bleibt bloßes Postulat. Erst das ontologische Argument, in dem das kosmologische und das teleologische ihre Erfüllung finden, vermag nach Hegel einen realen Begriff Gottes zu entwickeln, indem es dazu anleitet, Gott als sich aus sich selbst heraus verwirklichenden absoluten Geist zu denken. Nehmen die kosmologischen und teleologischen Beweisformen des Daseins Gottes ihren Ausgang bei einem gegebenen, vorhandenen Endlichen, beginnt das ontologische Argument mit dem Begriff Gottes, wie er mit denkender Subjektivität gegeben und dazu bestimmt ist, deren Endlichkeit, die lediglich darin besteht, ein Subjektives zu sein, aufzuheben in das die Differenz von Subjekt und Objekt in sich begreifende und damit transzendierende Absolute des sich realisierenden Geistes. Der Beweis Gottes ergibt sich als Resultat des Gesamtsystems. Für Kant fungierte die Gottesidee als GrenzgeReligion und Gott nach danke reiner Vernunft, von der sich theoretisch Schleiermacher kein konstitutiver, sondern lediglich ein regulativer Gebrauch machen lässt, die aber als Postulat praktischer Vernunft moralisch gefordert und daher ethikotheologisch im Sinne berechtigter Hoffnungsgründe auf eine letztendliche Übereinstimmung von Sittlichkeit und Sinnlichkeit, Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit zu entwickeln ist. Hegel versuchte dagegen, den metaphysischen Gottesgedanken zu rehabilitieren und die traditionellen Gottesbeweise und insbesondere das ontologische Argument in eine spekulative Theorie des Absoluten aufzuheben. Die Theologie Schleiermachers wiederum will

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diese Alternativen dadurch hinter sich lassen, dass sie unter Gott eine implizite Voraussetzung des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit versteht. Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl, welches das Wesen der Religion ausmacht, gilt dabei als ein anthropologisches Universale, das weder etwas Zufälliges ist, noch zur Disposition persönlicher Entscheidung steht, sondern ein Element menschlichen Lebens im Allgemeinen darstellt, weil es dem Menschsein des Menschen unveräußerlich zugehört. Die Anerkennung unveräußerlicher Zugehörigkeit von Religion zur conditio humana ersetzt für Schleiermacher, wie er ausdrücklich sagt, „alle sogenannten Beweise für das Dasein Gottes“ (GL § 33. Leitsatz). Der Versuch, Gott mit Gründen theoretischer Vernunft zu beweisen oder aus Gründen praktischer Vernunft zu postulieren, widerstrebt nach seinem Urteil dem rechten Verständnis religiösen Glaubens, weil es auf eine Verwechslung von Religion mit Metaphysik oder Moral hinausläuft. Was Gott religiös bedeutet, lässt sich durch theoretische und praktische Vernunft nicht angemessen erfassen, sondern nur aus der Frömmigkeit heraus, die Gott als ihre implizite Voraussetzung wahrnimmt, ohne den Anspruch zu erheben, sein Geheimnis durch Theorie und Praxis einholen zu können. Das Wort „Gott“ ist weder ein theoretischer Begriff noch ein praktisches Postulat, sondern die äußere Umschreibung des inneren Grundes der Religion, dessen das religiöse Subjekt in der Weise unmittelbaren Selbstbewusstseins fühlend gewahr wird. Freilich kommt auch Schleiermacher nicht umhin, als Religionstheoretiker und Glaubenslehrer terminologische Anleihen aus der philosophischen Wissenschaft zu entnehmen, wenn über die implizite Voraussetzung, in der sich Religion begründet fühlt, explizite Aussagen gemacht werden sollen. Obwohl er nachdrücklich vor jeder „Verwechselung von Philosophie und Dogmatik“ (GL § 33,3) warnt, die immer dann gegeben sei, wenn Gott zum Ziel von Vernunftbeweisen gemacht werde, benötigt die Glaubenslehre Lehnsätze aus Ethik, Religionsphilosophie und Apologetik, um ihren Gegenstand bestimmen und bestimmt aussagen zu können. Ein Bezug zu Beständen des Wissens ist indes nicht nur für eine förmliche Theorie der Religion und für eine dogmatische Glaubenslehre vorauszusetzen, welche religiöse Aussagen oder in Rede gefasste fromme Gemütszustände zum höchst möglichen Grad von Bestimmtheit führen sollen und dabei bei aller Unterschiedenheit ihres Gegenstandes vom Denken eine Nähe zur Wissenschaft aufweisen. Auch die einfache Glaubensrede und der einfache verbale religiöse Ausdruck kommen ohne Wissensbezüge nicht aus, wenn Artikulation in verständlicher Rede stattfinden soll. Zwar ist dem frommen Wort, wenn es denn ein frommes Wort ist, die Uneigentlichkeit seines sprachlichen Ausdrucks bewusst. Dennoch ist der sprachliche Ausdruck von Religion aus Gründen sowohl religiöser Artikulationsfähigkeit als auch religiöser Vermittlung und Erbauung unverzichtbar. Soll von Religion inhaltlich die Rede sein, kann von Denkvollzügen und Gedanken nicht abstrahiert werden, wie denn ohne Tätigkeitsvollzüge religiöse Praxis unmöglich ist. Die von Schleiermacher dezidiert herausgestellte Unterscheidung der Religion von Denken und Handeln lässt sich sonach nur treffen, wenn zugleich die Beziehung des Unter-

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schiedenen deutlich wird. Jede Trennung müsste in leeren Abstraktionen enden. Religion würde dem indifferenten Gefühl eigener Unmittelbarkeit, das Denken sowie das Handeln dem leeren Kreisen ihrer Selbstbegründungsversuche überlassen werden. Soll dies in Theorie, Praxis und religiösem Leben vermieden werden, dann muss mit dem Unterschied der Religion von Denken und Handeln stets auch deren Zusammenhang namhaft gemacht werden. Kann Religion ohne Denken und Handeln realiter nicht bestehen, so darf andererseits die Gefahr nicht gering geschätzt werden, die von dem möglichen Streben theoretischer und praktischer Vernunft nach einer Aufhebung religiösen Lebens in Theorie und Praxis ausgeht. In einer Apologie seines in den ausschließlichen Dienst der christlichen Frömmigkeit gestellten dogmatischen Ansatzes gegen drohende metaphysische Überfremdungen hat Schleiermacher im ersten seiner Sendschreiben an Lücke unter Berufung auf Luther geltend gemacht, dass Religion nicht eine Tochter der Theologie, sondern umgekehrt die Theologie eine Tochter der Religion sei. Andernfalls müsste zwangsläufig „eine Hierarchie der intellectuellen Bildung, ein Priesterthum der Speculation entstehen ..., welches ich meines Theils nicht allzu protestantisch finden kann, und welches mir auch, wo immer ich das Geschick gehabt habe, demselben zu begegnen, niemals ohne einen gewissen papistischen Anstrich erschienen ist“ (KGA I/10, 319). Interessant ist in diesem Zusammenhang Schleiermachers Antwort auf die häufig an ihn herangetragene Frage, „wie ich eigentlich das Verhältniß – und nun sagte der eine zwischen Religion und Philosophie, der Andere zwischen Dogmatik und Philosophie, der Dritte gar zwischen dem höheren Sebstbewußtseyn, von welchem ich ausgehe, und dem ursprünglichen Gottesgedanken, den ich zuzugeben scheine, wie ich also dieses Verhältniß auffaßte“: „Ich glaube wirklich“, so Schleiermacher, „und hoffe auch immer zu glauben, und daß es auch noch lange nach mir und dann vielleicht noch mehr geglaubt werden wird, als jetzt, daß beides sehr gut in demselben Subject bestehen kann, daß die Philosophie nicht nothwendig dahin führt, sich über Christum ... zu erheben, als ob alle Frömmigkeit nur unreife Philosophie und alle Philosophie erst zum Bewußtseyn gekommene Frömmigkeit wäre; sondern daß ein wahrer Philosoph auch ein wahrer Gläubiger seyn und bleiben kann, und eben so, daß man von Herzen fromm seyn kann und doch den Muth haben und behalten, sich in die tiefsten Tiefen der Speculation hineinzugraben. Aber ich weiß freilich auch, daß eines seyn kann, ohne das andere, also auch daß in manchem die Frömmigkeit auf ihre Weise zum vollständigsten Bewußtseyn kommen kann, auch in der strengsten Form, und das ist eben die dogmatische, ohne daß je ein Körnchen Philosophie in ihn hineinkommt, und daß Mancher den Becher der Speculation ganz kann geleert haben, ohne daß er die Frömmigkeit auf dem Boden gefunden.“ (KGA I/10, 388f.) Die dezidierte Abgrenzung seines dogmatischen Ansatzes von Formen spekulativer Gnosis hat Schleiermacher nicht vor dem Vorwurf bewahrt, seine Glaubenslehre sei recht eigentlich Philosophie und ruhe auf einem spekulativen Grunde (vgl. KGA I/10, 342). Dieser Einwand ist bemerkenswert. Offenbar entstand bei

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vielen Lesern der Erstauflage der Glaubenslehre der Eindruck, das Werk enthalte seine Hauptsache bereits in der Einleitung sowie in dem entsprechenden ersten Teil, wohingegen Christologie, Ekklesiologie und die im christlichen Zentrum des Selbstbewusstseins angelegte Theologie lediglich nachträglich und mehr oder minder anhangsweise verhandelt würden. Schleiermacher hat daraufhin, wie er im zweiten Sendschreiben an Lücke zu erkennen gibt, lange geschwankt, ob er die Gesamtanlage seines Dogmatikentwurfs beibehalten und weiterhin mit der allgemeinen Entwicklung des frommen Selbstbewusstseins als einer der menschlichen Natur generell einwohnenden Größe einsetzen oder nicht besser sogleich mit der konkreten Fassung derselben in der positiven Religion des Christentums beginnen solle. Zwei Gründe waren es vor allem, die ihn nach eigener Auskunft von einer Umorganisation der Glaubenslehre abhielten und dazu veranlassten, die thematische Anordnung der Erstauflage beizubehalten: Der erste beruht, wie er sagt, auf einer „Grille“ (KGA I/10, 344), nämlich auf einer ausgeprägten Abneigung gegen die Darstellungsform der Antiklimax, wonach der Übergang von der stärkeren zur schwächeren Ausdrucksgestalt gemacht wird. Der zweite Grund ist mit der berühmten Frage umschrieben: „Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehen? das Christenthum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“ (KGA I/10, 347) Um den Anschluss von Religion und Glauben an die Wissenschaft bei aller möglichen und notwendigen kritischen Bezugnahme von beiden Seiten her nicht von vornherein preiszugeben, müsse der Rationalität im Rahmen von Religionstheorie und Glaubenslehre gebührender Platz eingeräumt werden. Nicht als ob sich Religion und Christentum in ihrer konkreten Gestalt rational deduzieren oder in spekulative Vernunft aufheben ließen: Dieses vermeintliche Kunststück vollbringen zu wollen, weist Schleiermacher ausdrücklich von sich. Ausdrücklich abgelehnt wird indes auch die Separierung des Religiösen von Wissenschaftsbezügen, weil dies auf das Eingeständnis der Unvernunft von Religion hinausliefe. Um den Vernunftanspruch der Religion geltend zu machen, bedient sich Schleiermacher der Mittel des philosophischen Begriffs, wenngleich, wie er sagt, „nur propädeutisch und exoterisch“ (KGA I/10, 373) und nicht in einer im strengen Sinne begründenden Absicht. Was damit gemeint ist, lässt sich an der theologischen Zentralfrage des Monotheismus exemplarisch verdeutlichen. Charakteristisch für die monotheistische Glaubensweise ist nach Schleiermacher, dass sie „alle frommen Erregungen auf die Abhängigkeit alles Endlichen von Einem Höchsten und Unendlichen“ (GL1 § 15 Leitsatz) zurückführt. Zu dieser Glaubensweise sich zu entwickeln seien die verschiedenen in der Geschichte hervorgetretenen Religionsgemeinschaften dem Wesen der Frömmigkeit entsprechend berufen. Denn das als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit bestimmte Wesen der Frömmigkeit erfordert es, sich samt allem Endlichen zuletzt nur von Einem abhängig zu fühlen. Dieses Eine aber ist nichts in der Welt, auch nicht die Welt als Inbegriff alles Seienden, sondern ein Welt und Selbst Transzendierendes, welches in der Regel Gott genannt wird, ohne dass es auf dieses Wort als solches ankäme. Woran Schleiermacher liegt,

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ist der Erweis, dass im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit als dem Wesen der Frömmigkeit allgemeine Endlichkeitsgewissheit und monotheistischer Glaube koinzidieren und zwar dergestalt, dass der eine Gott in seiner Unendlichkeit als Grund alles Endlichen zur Gewissheit kommt. Auf rein begriffliche Weise ist diese Gewissheit nicht herzustellen. Schleiermacher weigert sich daher, einen metaphysischen Gottesbegriff zur Grundlage seiner Argumentation zu erklären. Gleichwohl macht er Anleihen bei philosophischer Begrifflichkeit, etwa wenn er das Woher des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit das Eine, den absoluten unendlichen Grund oder „die ungetheilte absolute Einheit“ (GL1 § 36,2) nennt. Diese Begriffe klassischer Philosophie sollen zwar nicht die Basis abgeben, auf welcher die Glaubenslehre beruht, sie sind aber offenbar unverzichtbar, um dem Glauben sprachlich geregelten, verständlichen und in diesem Sinne lehrhaften Ausdruck zu verschaffen. Die Internprobleme des Schleiermacher’schen Theologiekonzepts und die Fragen, welche sich aus einem Vergleich mit den Theoriekonzeptionen Kants und Hegels ergeben, sind nach wie vor in hohem Maße aktuell und bis heute für jeden Theologieentwurf entscheidend, der sich dem Bewusstsein der Neuzeit verpflichtet weiß. Daran hat die Dialektische Theologie nichts geändert; ihre eigene Geschichte bestätigt im Gegenteil die Richtigkeit dieser Aussage. Namentlich durch Hegels These einer zu leistenden Aufhebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff und durch Schleiermachers Verhältnis zu dieser These ist ein Problemhorizont umrissen, der für alle unter neuzeitlichen Bedingungen denkbaren Theologieentwürfe bis in die Gegenwart in Kritik und Konstruktion bestimmend bleibt. Die kontroversen Debatten, die sich aus dem spannungsvollen Zusammenhang der Hegel’schen Theorie des Absoluten und der Schleiermacher’schen Religionstheologie ergaben, sind daher nicht nur von historischem Interesse, sondern auch unter systematischen Gesichtspunkten lehrreich und von exemplarischer Bedeutung. Im ausführlichen Vorwort zu der mit dem vorReligiöse Vorstellung und liegenden Band eröffneten Traktatenreihe über philosophischer Begriff Gott, Christus und Geist wurde im Anschluss an die Trilogie zur Thematik von Religion, Offenbarung und Kirche die Annahme vertreten, das religiöse Verhältnis sei nicht substituierbar und weder durch die Praxis selbsttätiger Moral noch durch philosophische Metaphysik und spekulatives Denken zu ersetzen. Zwar komme der Philosophie die unverzichtbare Aufgabe zu, die religiösen Überzeugungs- und Überlieferungsbestände offenbarer göttlicher Wirklichkeit kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Aber konstruktiv lasse sich diese Aufgabe nur wahrnehmen, wenn Philosophie das religiöse Verhältnis nicht dadurch ersetzen wolle, dass sie entweder selbst zur Religion werde oder ihre metaphysische Bestimmung preisgebe, das endliche Bewusstsein über seine eigenen Schranken aufzuklären, um es über sich selbst hinauszuführen. Was ergibt sich aus dieser doppelten Abgrenzung für das Konzept einer philosophischen Theologie, wie Hegel es beispielhaft vertreten hat? Auf diesen Problemzu-

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sammenhang soll zum Abschluss der Einleitung in den Themenkreis Gott, Christus und Geist unter Konzentration auf die Frage eingegangen werden, ob bzw. inwiefern sich der trinitarische Grund evangelischen Glaubens rein spekulativ erfassen lässt. Ist die Trinitätslehre ein Produkt vernünftiger Spekulation dergestalt, dass die geschichtliche Vermittlung durch das Sohnesverhältnis, in dem Jesus sich zu seinem göttlichen Vater wusste, allenfalls in ihren Entdeckungs-, aber nicht eigentlich in ihren Begründungszusammenhang gehört, der aus bloßer Vernunft heraus zu entwickeln ist? Oder enthält die Lehre von der göttlichen Trinität ein bleibendes Bewusstsein des geschichtlichen Grundes ihrer Genese und damit zugleich ein Bewusstsein der aus reinen Vernunftgründen nicht deduzierbaren Faktizität der Offenbarung des dreieinigen Gottes in sich, dessen Selbsterschließung ein religiöses Verhältnis begründet, das auf Denken und Handeln hingeordnet ist, ohne durch Denken und Handeln ersetzt werden zu können? Man kann auch so fragen: Ist dem Gehalt der Trinitätslehre allein die reine Form begreifenden Denkens gemäß, oder gehört zu ihrem Begriff die Erkenntnis göttlicher Unbegreiflichkeit und das Wissen darum, dass die Gottheit Gottes als Geheimnis offenbar ist, zu dem auch und gerade der konsequente Denker sich nur religiös und in der Form religiöser Vorstellung zu verhalten vermag? Die These, dass die für die Religion charakteristische Bewusstseinsform der Vorstellung in die reine Form begreifenden Denkens, welche die Philosophie kennzeichne, zu überführen sei, findet sich in Hegels Werk seit dem dritten Jenaer Systementwurf und wurde trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen im Grundsatz kontinuierlich festgehalten. Zwar sei in der Vorstellung des religiösen Bewusstseins die Unmittelbarkeit sinnlicher Anschauung bereits behoben und insofern ein Zusammenhang mit dem Denken hergestellt. Ein begreifendes Wissen ihres Gehalts werde der Religion aber durch die Form der Vorstellung verstellt. An dieser Grundannahme ändert die Versicherung Hegels nichts, dass der Inhalt von Religion und spekulativer Philosophie identisch sei. Denn just dies kann nur philosophisch gewusst werden. Nur unter der Bedingung begreifenden Wissens ist es daher möglich, die Religion als ein Entwicklungsmoment philosophischen Geistes zu erkennen, deren Wahrheit in diesem gut aufgehoben ist. Dass Wahrheit in der religiösen Vorstellung ist, vermag nur die Vernunft zu erweisen. Affirmation des Inhalts und Kritik der Form der Religion lassen sich unter Hegel’schen Bedingungen nicht trennen, was für das Verhältnis von Form und Inhalt selbst nicht belanglos ist. Einer der Religion verpflichteten Theologie muss daher Hegels Theorie als eine zweischneidige Angelegenheit erscheinen. Wenige haben dies so klar gesehen wie Schleiermacher. In der Rezeptionsgeschichte der Religionstheorie, die Hegel im Kontext seiner spekulativen Theorie des Absoluten entworfen hatte, trat deren Zweischneidigkeit bald offen zutage. Während die sog. Rechtshegelianer die These der Aufhebung der religiösen Vorstellung in den Begriff im Sinne einer affirmativen Apologie der Religion verstanden, deren Inhalte mit denjenigen philosophischer Vernunft trotz unterschiedlicher Form substanziell identisch seien, deuteten die sog. Linkshegeli-

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aner die Formdifferenz religionskritisch und bestritten, dass der vernünftige Gehalt der Philosophie in religiöser Form gegenwärtig und erfassbar sei. Die Annahme inhaltlicher Identität von Religion und Vernunft bei lediglich formaler Unterschiedenheit konnte so mit der Behauptung eines durch die Formdifferenz bestimmten inhaltlichen Gegensatzes konfrontiert werden. Für die Theologen unter den Hegelianern entstand hieraus die Nötigung, das Verhältnis von Religion und Philosophie neu zu justieren. Um das Eigenrecht der Religion gegenüber der Vernunft auch unter den Bedingungen der Hegel’schen Aufhebungsthese zu wahren, versuchte man die Geltung dieser These u.a. dadurch zu limitieren, dass man sie auf die theoriebezogenen Aspekte der Religion zu beschränken suchte, ihre nichttheoretischen hingegen dem Zugriff des Begriffs entzog. Dass Hegel selbst neben theoriebezogenen, in den Begriff aufzuhebenden Aspekten der Religion andere gekannt und akzeptiert habe, zeige beispielhaft seine nachdrückliche Würdigung der religionspraktischen Bedeutung des Kultus, der mit religiösen Vorstellungen nicht gleichzusetzen sei und daher von der Aufhebungsthese nicht direkt betroffen werde. Stelle man zusätzlich in Rechnung, dass religiöse Kultpraxis, wie sie im Gebet und anderen Formen geistlichen Lebens geübt werde, ohne inneres Fühlen nicht denkbar sei, ergebe sich ein weiterer Gesichtspunkt, der es nicht nur erlaube, sondern erforderlich mache, die Eigenständigkeit der Religion auch unter den Bedingungen der Hegel’schen These einer Aufhebung religiöser Vorstellung in den philosophischen Begriff festzuhalten. Aus Argumentationen dieser Art, wie sie sich etwa bei Wilhelm Vatke (1806– 1882) und Eduard Zeller (1814–1908) finden, wird deutlich, warum von Hegel geprägte Theologen Anschluss an Schleiermacher suchen und nach Verbindungen zwischen spekulativer Philosophie und Religionstheologie streben konnten. Auch wenn sie es zumeist ablehnten, Religion mit Gefühl gleichzusetzen, vermochten die theologischen Junghegelianer in diesem gleichwohl ein inneres Wesensmoment der Religion zu entdecken, das sich der Aufhebung in die reine Form begreifenden Denkens nicht fügt und für die Nichtsubstituierbarkeit der Religion durch spekulative Vernunft einsteht. Ergänzt man, dass die theorienahen Vorstellungsformen der Religion ebenso wenig wie Vollzüge religiöser Praxis denkbar sind ohne die Innigkeit persönlichen Fühlens, ist ein weiteres Argument möglicher Vermittlung zwischen Hegel und Schleiermacher formuliert. Bemühungen, zwischen Hegel und Schleiermacher zu vermitteln, lassen sich nachgerade in Vermittlungstheologie trinitätstheologischer Hinsicht namhaft machen, was für eine Trilogie zu den Themen Gott, Christus und Geist von besonderem Interesse ist und, wie angekündigt, zum Schluss der Einleitung in die trinitarische Traktatenfolge gebührende Berücksichtigung finden soll. Während Hegel die Trinitätslehre als vollendeten Begriff christlichen Geistes würdigte, hat Schleiermacher sie bekanntlich an den Schluss seiner Glaubenslehre verwiesen und mit der Bemerkung versehen, sie sei keine unmittelbare Aussage über christliches Selbst-

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bewusstsein. Dennoch gibt es bemerkenswerte Beispiele entschiedener trinitätstheologischer Argumentation bei grundsätzlicher Anerkennung des Schleiermacher’schen Ansatzes. Einen eindrucksvollen Beleg hierfür bietet das große „System der christlichen Lehre“ (1829; 18516) von Carl Immanuel Nitzsch (1787–1868), der neben August Twesten (1789–1876) als Hauptrepräsentant der vermittlungstheologischen Dogmatiktradition gilt. Zwar nimmt die Nitzsch’sche wie die Schleiermacher’sche Dogmatik ihren Ausgang bei dem auf Christus zentrierten Bewusstsein des christlichen Glaubens. Sie schreitet aber vom religiösen Selbstbewusstsein des Christentums, dessen Urbild Jesus Christus ist, konsequent zum Sein des dreieinigen Gottes fort, in welchem das offenbare christliche Heil seinen Grund hat. Das Bewusstsein, das der christliche Glaube von sich selbst hat, ist nicht denkbar ohne das Sein des dreieinigen Gottes, in dem es gründet. Die Trinität hat daher als principium essendi der Dogmatik zu gelten. Indes lässt sich der trinitarische Gott nach Nitzsch nicht als reine Vernunftidee verstehen oder allein aus einer logischen Gedankenentwicklung heraus begreifen. Die Trinitätslehre bedarf der Christusoffenbarung und des christlichen Bewusstseins von ihr als eines principium cognoscendi, ohne welches das Sein Gottes nicht zu erkennen ist. Statt bei der Wesenstrinität ihren unmittelbaren Ausgang zu nehmen, setzt die Trinitätslehre von Nitzsch bei der Offenbarung ein, um von den göttlichen Werken ad extra auf die opera sanctae trinitatis ad intra zu schließen. Dabei wird ein Entsprechungsverhältnis von Offenbarungs- und Wesenstrinität in Anschlag gebracht gemäß dem Grundsatz, dass Gott sich in seiner Offenbarung so offenbart, wie er ist. Weil Gott in Jesus Christus in der Kraft seines Geistes sich selbst offenbart, tritt in der Offenbarung das göttliche Wesen als es selbst in Erscheinung. Wer der Offenbarung inne wird, wird auch des Seins Gottes als ihres Wesensgrundes gewahr, ohne den sie nicht bestünde. Nitzsch hält daher die theologische Entwicklung einer Lehre von der immanenten Trinität nicht nur für möglich, sondern auch für notwendig, wenngleich er die Ergründung des trinitarischen Wesens Gottes an den geschichtlich vermittelten Glauben rückbindet und reiner Vernunftspekulation entzieht. Ohne Unterscheidungen Gottes von Gott, die der Gottheit Gottes intern sind, und ohne die Annahme wirklicher Beziehungen Gottes auf Gott, die im Inneren der Gottheit walten, kann das göttliche Offenbarungsgeschehen nicht verstanden werden. Gleichwohl bleibt die Lehre von der immanenten Trinität bei Nitzsch auf die gläubige Offenbarungsgewissheit reflexiv bezogen, von der sie ihren Ausgang nimmt. Sie wird denn auch nicht spekulativ entwickelt, sondern in ihrer Notwendigkeit und in ihrem Gehalt fast ausschließlich exegetisch begründet und belegt. Nach Nitzsch lässt sich der die Christusoffenbarung begründende dreieinige Gott unter Absehung von dem durch die geschichtliche Christusoffenbarung erschlossenen Glauben nicht erfassen, obzwar die Trinität dem christlichen Glauben und dem Geschehen seiner Erschließung notwendig vorauszusetzen ist. In dieser Rückvermittlung bleibt die Nitzsch’sche Trinitätslehre dem Schleiermacher’schen Ansatz nachgerade in dem Bemühen verbunden, ihn gegen Subjektivismusver-

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dächtigungen zu verteidigen und ihm ein objektives Ansehen zu verschaffen. Im Unterschied dazu hielten die zeitgenössischen Hegelschüler eine Begründung der immanenten Wesenstrinität aus spekulativer Vernunft für unentbehrlich, wenn der Glaube aus den Fängen leerer Selbstbezüglichkeit befreit und auf eine durch Wissen fundierte Gewissheitsbasis gestellt werden soll. Nicht weil sie implizit durch die Bibel bezeugt werde, sei die Lehre vom dreieinigen Gott vernünftig, sondern weil die Trinitätslehre an sich selbst wahr und vernünftig sei, werde sie der Sache nach in der Bibel bezeugt. Nicht weil Männer wie Athanasius, Basilius der Große oder die beiden Gregores von Nyssa und Nazianz sie historisch vertreten hätten, habe sich die Lehre vom einen Wesen Gottes in drei göttlichen Hypostasen kirchengeschichtlich durchgesetzt; vielmehr sei umgekehrt die systematisch vorausgesetzte und vorauszusetzende Wahrheit ihres Gehalts Ursache und Bedingung ihrer geschichtlichen Entstehung und Geltung. Exegetische und historische Theologien vermögen nach Urteil der spekulativen Hegelrezeption aus sich selbst heraus kein dogmatisches System zu begründen, vielmehr verleiht Exegese und Kirchengeschichte allein der aus spekulativer Einsicht gewonnene Gottesgedanke, der das Sein und Wesen Gottes an sich selbst zu denken vermag, das für ihren Theologiestatus notwendige Fundament. Wolle man Zeugnisse der Bibel und das christliche Glaubensbekenntnis nicht lediglich als Dokumente historischer Kontingenz bewerten, dann müssten ihre Gehalte im Geist und in der Wahrheit mit Mitteln spekulativer Vernunft begriffen werden. Eine nach Vorbild der Hegel’schen Theorie des Absoluten entwickelten Lehre vom dreieinigen Gott ist demzufolge die Voraussetzung und Basis aller Theologie. Scheint der unterschiedliche Theologieansatz Trinitätstheologische von Schleiermacher- und Hegelschülern bei erstem Konzeptionsprobleme Zusehen auf einen schieren Gegensatz hinauszulaufen, so lassen sich gleichwohl noch in der Alternative Momente wechselseitiger Vermittlung erkennen. Würde die spekulative Trinitätslehre eine Ausschaltung des Historischen bezwecken, wäre die Unterscheidung von Wesen und Erscheinung nicht behoben, vielmehr zugunsten eines abgehobenen Wesensbegriffs im Sinne überkommener Substanzontologie beseitigt. Umgekehrt würde das auf die historische Kontingenz seines positionellen Standpunkts festgelegte endliche Subjekt jeder Basis von allgemeinverbindlicher Objektivität entbehren, wenn seine Äußerungen als Gefühlsexpressionen ohne vernünftigen Sachgehalt gelten müssten. Methodisch ist daraus zu folgern, dass christliche Trinitätstheologie ihre Aufgabe weder auf rein apriorische Weise, noch lediglich aposteriorisch zu erfüllen vermag. Exegetische Rekonstruktion und systematische Konstruktion sind vielmehr beide für die trinitätstheologische Methodik unverzichtbar. Eine rationale Deduktion ökonomischer Verhältnisse aus einer durch apriorische Gedankenbestimmungen konstruierten immanenten Trinitätslehre muss als ebenso verfehlt gelten wie die Annahme eines direkten Abbildungsverhältnisses zwischen dem inneren Sein Gottes und aposteriorisch zugänglichen bzw. exegetisch zu erhebenden Elementen biblischer Geschichte.

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Apriorität und Aposteriorizität lassen sich trinitätstheologisch unterscheiden, nicht aber trennen. Sie bilden einen differenzierten Zusammenhang im Sinne dessen, was der späte Schelling metaphysischen Empirismus genannt hat. Rationalität und Apophase stellen in ihm keinen Gegensatz dar. Beider Alternative ist vielmehr behoben, sofern die Trinitätslehre ihrem Begriff nach Grund und Grenze des Denkens gleichermaßen zur Geltung bringt, ohne deshalb in unbegriffenen Paradoxien zu enden, deren Unumgänglichkeit vielmehr gedanklich erhellt und durchsichtig gemacht wird. Im Binnenraum der Trinitätstheologie hat sich diese Einsicht vor allem an der Verhältnisbestimmung von immanenter und ökonomischer Trinität zu bewähren. Dass zwischen offenbarungserschlossener göttlicher Ökonomie und innertrinitarischen Relationen ein Entsprechungszusammenhang vorliegt, wird man annehmen dürfen. Würde doch die Annahme, dass Gott sich in seiner Offenbarung nicht als er selbst, sondern anders offenbart, als er in sich selber ist, der christlichen Gewissheit die theologische Basis entziehen. Stünden Vater, Sohn und Geist ökonomisch in einem anderen Verhältnis zueinander als innertrinitarisch, dann könnte von einem Erschlossensein Gottes nicht wirklich die Rede sein und mit der christlichen Gewissheit würde die Erkenntnis Gottes in seiner Offenbarung insgesamt fraglich. Soll diese ruinöse Konsequenz vermieden werden, muss ein unauflösliches Verhältnis zwischen den ökonomischen Beziehungszusammenhängen und den innergöttlichen Relationen in Anschlag gebracht werden. Die Behauptung einer Identität von Wesens- und Offenbarungstrinität und einer strukturellen Einheit von immanenter und ökonomischer Trinitätslehre, wie sie die neueren Diskussionen kennzeichnet, hat hier ihren systematischen Ort. Ihre grundsätzliche, von den meisten Theologen unbestrittene Richtigkeit darf aber die Problemhaltigkeit nicht übersehen lassen, die sie in sich birgt. Differenzierungen sind unvermeidlich, wenn das trinitarische Entsprechungsmodell nicht auf eine derartige Gleichsetzung von immanenter und ökonomischer Trinität hinauslaufen soll, die dem göttlichen Außenwirken den Charakter einer die Freiheit Gottes aufhebenden Zwangsnotwendigkeit zudenkt. Die Freiheit und Unverfügbarkeit göttlicher Selbsterschließung lassen eine unmittelbare Gleichschaltung von immanenter und ökonomischer Trinitätslehre offenbar nicht zu, sondern nötigen zu Unterscheidungen auch unter der richtigen Voraussetzung, dass mit einer Entsprechung von Wesens- und Offenbarungstrinität zu rechnen ist. Diese Entsprechung darf nicht so aufgefasst werden, dass dadurch die Freiheit Gottes in seiner Selbstoffenbarung negiert wird. Umgekehrt muss vom Gedanken der Freiheit Gottes in seiner geschichtlichen Selbstoffenbarung die Vorstellung willkürlichen Beliebens ferngehalten werden, weil sonst die Offenbarungskontingenz als bloße Zufälligkeit und nicht als freie Selbsterschließung Gottes in seiner Gottheit erscheinen müsste. Die Konzeption der Trinitätslehre stellt vor systematische Probleme von hoher Komplexität, die den Gesamtzusammenhang christlicher Lehre betreffen. Man wird sie nur zu bewältigen vermögen, wenn man den trinitätstheologischen Ansatz beim Gedanken freier Selbstentsprechung Gottes in seiner Offenbarung wählt. Dieser Gedanke hat nicht den Status eines Begriffs, der durch reine Vernunftspe-

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kulation zu gewinnen ist, weil in ihm das Wissen um die Kontingenz der göttlichen Geschichtsoffenbarung und damit das Bewusstsein seiner eigenen geschichtlichen Erschließung enthalten ist. Der trinitätstheologische Begriff hat, wenn man so will, das Gefühl, nicht durch sich selbst vermittelt zu sein, nicht verloren, sondern im Wissen um sich selbst in der Weise unmittelbaren Selbstbewusstseins bewahrt. Gleichwohl belässt der trinitätstheologische Grundgedanke freier Selbstentsprechung Gottes in seiner Offenbarung die Gewissheit des Glaubens nicht im unmittelbaren Stadium bloßen Fühlens, in dem das Mysterium Gottes zwar wahrgenommen, aber unbestimmt wahrgenommen wird. Er führt sie vielmehr zur bestimmten Einsicht in das offenbare Geheimnis Gottes, insofern er Gottes Offenbarung gerade in der Kontingenz ihres Ergehens im innergöttlichen Wesen begründet weiß. Gott erschließt sich dem Glauben als offenbares Geheimnis. Die Trinitätslehre bringt dies auf den Begriff. Sie ist kein theoretisches Konstrukt, das vom religiösen Verhältnis und seiner offenbarungstheologischen Begründung abstrahiert, sondern der Begriff der im Mysterium der Offenbarung für den Glauben geschichtlich erschlossenen und zur Gewissheit gebrachten Unbegreiflichkeit Gottes als des Schöpfers, Versöhners und Vollenders von Menschheit und Welt.

Einleitung

Nach traditioneller christlicher Gotteslehre, wie sie im altkirchlichen Dogma klassisch grundgelegt ist, subsistiert das eine göttliche Wesen in drei Hypostasen bzw. Personen. Gott ist eines Wesens, aber dreipersonal, christliche Theologie mithin Trinitätslehre, Lehre vom dreieinigen Gott. Mit der hypostatischen Pluralität bzw. Personenpluralität in Gott wird ein Unterschied zwischen Vater, Sohn und Geist behauptet, der weder von akzidenteller Art sein, noch eine pluralitas essentialis begründen soll. Die Differenz in der Gottheit ist von personaler Art, jedoch so, dass mit dem Personbegriff nicht ein für sich bestehendes Subjekt bezeichnet wird, das sein Wesen für sich hat, da in der Trinität nur ein ungeteiltes Wesen ist, an dem alle drei Personen der Gottheit gleichwesentlich teilhaben. Die Eigentümlichkeiten, welche den trinitarischen Personen im Unterschied zu den anderen zukommen, begründen keine Wesensdifferenz innerhalb der Gottheit, sondern sind in ihrer Realität allein im innergöttlichen Verhältnis der göttlichen Hypostasen zueinander begründet. Der trinitarische Personbegriff ist relationsbestimmt. Die Unterscheidung der trinitarischen Personen lässt sich nur beziehungsweise treffen. Das ist durch ihre vollkommene Gleichwertigkeit und wesenhafte Gemeinschaft gefordert. Diese Forderung wiederum ist eine Konsequenz der Lehre von der göttlichen Homousie, die durch die Annahme einer trinitarischen Perichorese im Sinne eines konsubstantialen Ineinanders der göttlichen Personen ebenso unterstrichen wird wie durch die Behauptung der Identität der göttlichen opera ad extra. Doch hinderte der Grundsatz, dass die Werke der Hl. Trinität nach außen ungeteilt sind, die traditionelle Dogmatik nicht daran, den Personen der Gottheit proprietates bzw. notiones externae zuzuerkennen, welchen Handlungen entsprechen, durch die sie sich jeweils personal auf die Welt beziehen, sodass der Vater der Schöpfer sowie Erhalter und Lenker der Welt, der Sohn der Versöhner, der Hl. Geist der Heiliger und Vollender nicht nur genannt wird, sondern tatsächlich ist. Die externen Eigentümlichkeiten bzw. Kennzeichen, die das unterschiedliche Weltverhältnis der göttlichen Personen unbeschadet der im einen göttlichen Wesen begründeten Identität ihres externen Handelns bezeichnen, verweisen ihrerseits auf proprietates (notiones) internae, mit denen sie in einem differenzierten Zusammenhang stehen. Diese deuten die inneren Unterschiede an, die unter den trinitarischen Personen selbst walten, um die besondere Subsistenzweise der einzelnen Hypostasen beschreiben zu können. Während die göttlichen Werke nach Das trinitarische Dogma

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außen unbeschadet der erwähnten proprietates externae ungeteilt sind, sind die innergöttlichen Akte, welche die proprietates internae bestimmen, different insofern, als sie von einer göttlichen Person im konstitutiven Unterschied zu den anderen ihren Ausgang nehmen. Die personalen Akte der trinitarischen opera ad intra sind generatio und spiratio, wobei die Zeugung als Werk des Vaters, die Hauchung entweder als Werk des Vaters oder als Werk des Vaters und des Sohnes zu gelten hat, je nachdem ob man der ost- oder der westkirchlichen Tradition folgt. Den actus personales wiederum entsprechen kennzeichnende Eigentümlichkeiten der trinitarischen Personen, nämlich Ungezeugtsein und paternitas in patre, spiratio in patre bzw. in patre et filio, filiatio in filio und processio in spiritu. Sofern dem Vater die Zeugung des Sohnes und die Sendung des Geistes zukommt, ist er die erste göttliche Person zu nennen, die an sich selbst weder gezeugt noch hervorgegangen, sondern ungezeugt in sich selbst gründet. Den schrifttheologischen Primäranlass, die innergöttlichen Verhältnisse im Sinne von Ursprungsrelationen zu bestimmen, gab der klassischen Trinitätslehre unzweifelhaft die neutestamentlich bezeugte Vater-Sohn-Relation zwischen dem Gott Israels, dem gerechten Künder der Tora und allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde, und Jesus Christus, seinem endzeitlichen Offenbarer. Das zwischen dem göttlichen Vater und seinem Sohn in Anschlag gebrachte Hervorbringungsbzw. Abkunftsverhältnis wurde in der Folge dann auch für die kategoriale Bestimmung der innergöttlichen Seinskonstitution der Geisthypostase leitend. Doch blieben die Personalität des Geistes und die eigentümlichen Beziehungen zu Vater und Sohn nicht nur anfangs, sondern bis in die Gegenwart hinein problematisch, wie der noch heute aktuelle Filioque-Streit zwischen Ost- und Westkirche auf seine Weise belegt. Die Schwierigkeit, die hypostatische Eigenständigkeit und Eigentümlichkeit des Geistes kategorial zu bestimmen, hat vielerlei äußere Gründe. Der innere Grund aber dürfte im Wesentlichen ein einziger und selbst von dezidiert pneumatologischer Art sein. Anders formuliert: die entscheidende Ursache für die problematische Stellung des Geistes in der Trinitätslehre ist in der Eigentümlichkeit der dritten Person der Trinität zu suchen. Ist es doch nachgerade der Geist, der als Dritter im göttlichen Bunde die innergöttlichen Beziehungen nicht nur jeweils an sich selbst erschließt, sondern auch mit den ökonomischen Verhältnissen vermittelt, um so innerhalb der Gottheit für die Einheit und Differenz von immanenter und ökonomischer Trinität gleichermaßen einzustehen, ohne deren Erschließung Trinitätstheologie nicht denkbar ist und von göttlicher Selbstoffenbarung nicht die Rede sein kann. In der Person des Geistes begegnet Trinitätstheologie, wenn man so will, dem trinitarischen Bedingungsgrund ihrer eigenen Möglichkeit. Lässt sich die Gewährleistung der Einheit der verschiedenen göttlichen Hypostasen primär mit dem Vater, diejenige ihrer Differenziertheit primär mit dem Sohn assoziieren, so legt sich für den Geist die eigentümliche Assoziation einer Gewährleistung der Einigkeit von Einheit und Differenz nahe dergestalt, dass er sowohl Vater und Sohn füreinander als auch in ihrem internen Füreinander für externe

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Wahrnehmung erschließt. Das eigentümliche Personsein des Hl. Geistes würde sonach geradezu in seiner Medialität bestehen. Der Geist ist, was er ist, als Medium, nämlich als Mittler des Vater-Sohn-Verhältnisses und Vermittler dieses Internverhältnisses nach außen. Die Rolle des Geistes als trinitarischer Person bestünde sonach wesentlich darin, anderen das Andere ihrer selbst zu erschließen. Indem er anderen das Andere ihrer selbst erschließt, ist der Geist, was er ist, und identisch mit sich selbst. Erst wenn Relation pneumatologisch als eine dreistellige Kategorie gedacht wird, vermag sie das trinitarische Geheimnis kategorial angemessen und zugleich so zu bestimmen, dass es als der richtende und rettende Grund von Selbst und Welt zu Bewusstsein gebracht wird. Im Geist gibt sich Gott am Ort des Andersseins, ja in gottwidriger Ferne als derjenige zu erkennen, der als der ganz Andere seinem Wesen nach ganz für uns da sein will. Auf diese Einsicht ist die Traktatentrilogie zu Gott, Christus und Geist angelegt. Es wird Aufgabe nachfolgender Ausführungen sein, die anfängliche Abstraktheit dieser Einsicht zu beseitigen und sie jener Konkretion zuzuführen, ohne die sie keinen Bestand und ohne die sie in Wahrheit niemals bestanden hat. Zu diesem Zweck sind die impliziten Voraussetzungen christlicher Theologie zu erheben sowie deren ursprüngliche Begründung und die Folgen zu explizieren, welche in der Alten Kirche aus dem österlichen Grund des Christentums hervorgingen. Zu den impliziten Voraussetzungen christlicher Theologie sind in erster Linie die religiösen Überlieferungen Israels zu rechnen, wie sie im sog. Alten Testament kanonisch tradiert sind. Sie sind für die Vorstellungs- und Gedankenwelt des Christentums von grundlegender und unveräußerlicher Bedeutung. Das gilt zumal für das israelitisch-jüdische Gottesverständnis. Das christliche Bekenntnis zum dreieinigen Gott steht in keinem Gegensatz zum Toramonotheismus, der sich im Laufe der Religionsgeschichte Israels ausgebildet hat, sondern enthält ihn als seine implizite Prämisse. Der Gott, den Jesus Vater nennt und dessen kommendes Reich er verkündet, ist Jahwe, der Gott Israels, welchen das Alte Testament bezeugt. Auf seine Verheißungen beruft sich das neutestamentliche Zeugnis, wenn es den in der Kraft des göttlichen Geistes auferstandenen Gekreuzigten als Messias, Menschenund Gottessohn zum Heil von Menschheit und Welt verkündet. Die der ersten zwar nachgeordnete, aber zugleich vielfältig und eng verbundene zweite implizite Voraussetzung christlicher Theologie ist mit den Denktraditionen antiker Metaphysik gegeben. Schon in vorchristlicher Zeit war der jüdische Toramonotheismus mannigfache Beziehungen mit ontotheologischen Konzeptionen griechischer Provenienz eingegangen. Für das werdende Christentum sind diese Verbindungen außerordentlich relevant und fundamental bedeutsam geworden. Zwar steht dem Urchristentum der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs von Hause aus ungleich näher als der Gott der griechisch-hellenistischen Philosophie. Doch hat sich frühchristliche Theologie im Anschluss an vergleichbare Tendenzen im hellenistischen Judentum beizeiten vor allem auf die Lehre von der Einheit des göttlichen Ursprungs der Welt berufen, wie sie in der antiken Philosophie seit den Vorsokratikern vertreten wurde, um dem Allgemeingültigkeitsanspruch der Ver-

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kündigung des biblischen Gottes und Vaters Jesu Christi gedankliche Geltung und Plausibilität zu verschaffen. Dass dies nicht spannungslos und ohne Probleme vonstatten ging, steht außer Zweifel. Gleichwohl stellen Jerusalem und Athen für christliche Theologie nicht unvermittelte Gegensätze dar. Es mag auf den ersten Blick überraschen und Allgemeine Gotteslehre in vielleicht auch befremden, dass von den implizi- historischer Form ten Voraussetzungen christlicher Theologie im gegebenen Zusammenhang unter der Gesamtüberschrift „Gott“ gehandelt wird. Sind nicht Erörterungen zu den geschichtlichen Ursprungsbedingungen christlicher Theologie allein deshalb, weil es sich dabei um aufzuhebende Prämissen derselben handelt, denkbar ungeeignet, im Rahmen einer Einführung in die Dogmatik des Christentums direkt mit der Gotteslehre in Verbindung gebracht oder gar an deren Stelle gesetzt zu werden? Der Verdacht einer gründlichen Themenverfehlung scheint schwer von der Hand zu weisen zu sein. Doch wurde die Entscheidung über die Verfahrungsweise, wie sie im vierten Band der Reihe „Studium Systematische Theologie“ praktiziert wird, nicht unüberlegt, sondern mit Bedacht getroffen. Der Gott des Christentums, das ist wahr, ist der dreieinige Gott, also derjenige Gott, der sich in Jesus Christus in der Kraft seines Heiligen Geistes offenbart hat, um durch Glaube, Liebe und Hoffnung Mensch und Welt Anteil zu geben an seiner göttlichen Wirklichkeit. Christliche Gotteslehre ist trinitarische Theologie, und weil dies so ist, ergibt sich ihr Sinn erst aus dem Gesamtzusammenhang der Trilogie über Gott, Christus und Geist, die ihrerseits unveräußerlich verbunden ist mit der Thematik göttlicher Ökonomie, wie sie unter den Gesichtspunkten von Schöpfung, Versöhnung und Vollendung zu bedenken ist. Diese Feststellung schließt indes nicht aus, sondern ein, dass die christliche Trinitätslehre theologische Momente enthält, die ihr als implizite Prämissen vorausgesetzt sind. Die trinitarische Lehre von Gott, wie sie für das Christentum kennzeichnend und unaufgebbar ist, ist weder geschichtlich unvermittelt auf den Plan getreten noch mit einem Geltungsanspruch von vermittlungsloser Unmittelbarkeit versehen. Sie ist sowohl auf die allgemeinen Bedingungen menschlichen Selbst- und Weltverständnisses bezogen, als auch aufgeschlossen für die Geschichte der Religion und ihre unersetzbare Funktion und Bedeutung im konkreten Leben des Menschen in seiner Welt. Die religiösen Verhältnisse der Menschheitsgeschichte und ihre theologischen Gehalte sind im christlichen Gottesglauben je auf ihre Weise als implizite Voraussetzungen präsent, um einerseits kritisiert, andererseits aber auch konstruktiv wahrgenommen zu werden. Dies hat sich nachgerade darin unter Beweis zu stellen, dass trinitarische Theologie den religions- und geistesgeschichtlichen Prozess ihrer Genese in den Geltungsanspruch ihres Begriffs aufnimmt. Der im Geist, welcher das Christentum begründet und erhält, offenbare Gott ist nicht nur der Vater Jesu von Nazareth, der unter den Bedingungen von Raum und Zeit lebte, unter Pontius Pilatus am Kreuz starb, um österlich als der Messias Israels und der Christus der Heiden in Erscheinung zu treten und himmlisch verherrlicht zu werden; er ist zugleich der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs sowie der Grund und

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das Sinnziel jenes geistigen Strebens, das in der Denkgeschichte der griechischen Antike klassisches Format angenommen hat, aber darüber hinaus die gesamte Menschheitsgeschichte bestimmt. Wie der irdische Jesus zu den impliziten Voraussetzungen christlicher Trinitätstheologie gehört, so gilt dies auch und zwar in einer im Jesusnamen inbegriffenen Weise für die Gottesgeschichte Israels, die ontotheologische Denkgeschichte der griechisch-römischen Antike, ja die Religions- und Geistesgeschichte der Menschheit überhaupt. Wenn sie von Gott ohne spezifische Berücksichtigung von Christologie und Pneumatologie handelt, spricht die klassische Dogmatik in der Regel von der sog. allgemeinen Gotteslehre, welche im Wesentlichen von der „natürlichen“ Erkenntnis des Daseins Gottes und seiner Einheit und Einzigkeit handelt. An diesen Sachverhalt erinnert die Überschrift des vorliegenden vierten Reihenbandes. Nicht von ungefähr wurde auf die traditionellen Beweise vom Dasein Gottes einleitend ausdrücklich Bezug genommmen. Doch soll im Folgenden die Thematik der allgemeinen Gotteslehre nicht in der überkommenen Form sog. natürlicher Theologie, sondern, wenn man so will, in historisierter Gestalt wahrgenommen werden. Für diese Wahrnehmungsgestalt spricht eine Vielzahl von Gründen inhaltlicher und formaler Art. Was letztere betrifft, so muss der Hinweis genügen, dass erst die religions- und geistesgeschichtliche Form der Wahrnehmung der allgemeinen Gotteslehre dieser jene Konkretheit verleiht, die ihr unter den Bedingungen sog. natürlicher Theologie abgeht. Inhaltlich aber ist die historische Wahrnehmung der traditionellen Aufgabe der sog. natürlichen Theologie eine Forderung, die in der Geschichte des Christentums im Allgemeinen und in derjenigen neuzeitlichen Christentums im Besonderen begründet liegt, für welche die Anthropologisierung der Kosmologie und die konsequente Vergeschichtlichung des natürlichen Daseins kennzeichnend ist. Wollen die nachfolgenden Ausführungen sonach Jüdischer Monotheismus und als Substitut der traditionellen natürlichen Theogriechische Philosophie logie gelesen werden, so mag ihre Beschränkung auf das in der Religionsgeschichte ausgeprägte Gottesverständnis Israels und auf die ontotheologische Überlieferung griechischen Denkens in zweifacher Hinsicht als gerechtfertigt erscheinen. Wohl ist es wahr, dass der Allgemeinheitsanspruch der Gotteslehre natürlicher Theologie nur durch einen Ansatz ein- und abzulösen ist, der die Religions- und Geistesgeschichte der Menschheit insgesamt in Betracht zieht; doch würde eine solche universalgeschichtliche Betrachtung den ohnehin schon weit gespannten Rahmen der Untersuchungen zwangsläufig sprengen. Zum anderen aber scheint die Annahme nicht eo ipso abwegig, sondern begründbar zu sein, dass dies, was sich in der Religions- und Geistesgeschichte der jüdischen und griechisch-römischen Antike abzeichnet, von beispielhafter Bedeutung für die gesamte Menschheitsgeschichte ist. Wie die anfängliche Menschheitsgeschichte so ist auch die beginnende Geschichte Israels naturreligiös bestimmt. Der das Judentum auszeichnende Toramonotheismus, der mit der Einheit Gottes zugleich die universale Macht seiner Ge-

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rechtigkeit bekennt, gehört einer späteren Entwicklungsphase an. Prolegomena zur Geschichte Israels werden erweisen, dass die sog. Mosaische Unterscheidung recht eigentlich erst in der Exilsperiode anzusetzen ist. Unter dieser Voraussetzung wird die Entwicklung vom Polytheismus zur Jahwemonolatrie im vorexilischen Israel/Juda nachgezeichnet, parallel zu welcher der Wüsten- und Donnergott Jahwe die soziomorphe Gestalt einer Schutz- und Herrschaftsgottheit des allmählich zu spezifischer „staatlicher“ Identität gelangenden Volkes annimmt. Der Wendepunkt der Gottesgeschichte des Volkes Israel wird sodann durch die Exilskrise markiert, in deren Konsequenz sich jener Toramonotheismus ausbildete, der für die jüdische Religion basal werden sollte. Aus Gründen, die im Einzelnen zu erörtern sein werden, wird im Verein mit Allmacht Gerechtigkeit zur bestimmenden Weseneigenschaft Jahwes, dessen Gottheit als ebenso universal wie einzig erkannt wird. Das religiöse Verhältnis bemisst sich immer konsequenter an der Tora, die zur inneren Mitte der Heiligen Schriften des Judentums wird. Nach Maßgabe der Tora und dessen, was man in ihrem Kontext das Grunddogma jüdischer Religion genannt hat, ist der Zusammenhang von Tun und Ergehen im menschlichen Leben nicht schicksalhaft, sondern durch die Macht der göttlichen Gerechtigkeit gefügt. Sie ist allem fatalen Geschick überlegen und ordnet den Lauf der Welt in wohlproportionierter Weise, indem sie dem Täter des Guten Gutes zuteilt, den Übeltäter aber dem Abgrund seiner Untat verfallen lässt. Als besagtes Grunddogma angesichts natürlicher und geschichtlicher Übel in Zweifel geriet, die anscheinend ohne jedwede Gerechtigkeitsrücksicht das gottesfürchtige Volk und die Gesetzestreuen betrafen, um die Differenz von Gut und Böse erlebnismäßig zu vergleichgültigen, kam es zu einer der Exilskrise vergleichbaren zweiten Krise in der Religionsgeschichte Israels. Sie reflektiert sich in der Weisheitsliteratur ebenso wie im Psalter, und sie hat nicht zuletzt in der apokalyptischen Bewegung ihren Niederschlag gefunden, welche die jüdische Religionsgeschichte von der Zeit des Antiochos IV. Epiphanes bis zur Zerstörung des zweiten Tempels unter Titus und darüber hinaus entscheidend geprägt hat und für die jesuanische Geschichte sowie für die Geschichte des frühen Christentums höchst einflussreich wurde. Darauf wird an Ort und Stelle ebenso einzugehen sei wie auf den vorchristlichen Kultureinfluss des Hellenismus auf das Judentum, dem dieses einerseits mit gesteigerten Abgrenzungsbedürfnissen, andererseits mit bemerkenswerten Synthetisierungsversuchen begegnete. Was hinwiederum die Genese der hellenistischen Kultur und ihren zentralen Ursprung in der griechischen Philosophie betrifft, so wird der anschließende Abschnitt über Jerusalem und Athen eine kurze Entwicklungsskizze bieten, während dann im zweiten Teil des Bandes ausführlich auf die antike Philosophiegeschichte von der Vorsokratik bis zum Neuplatonismus einzugehen sein wird.

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K. Algra et al. (Hg.), The Cambridge History of Hellenistic Philosophy, Cambridge 1999. – L. Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte (1973), Darmstadt 1990. – Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Buch I-X. Aus dem Griechischen übersetzt von O. Apelt, Hamburg 21967. – J. G. Droysen, Geschichte des Hellenismus. 3 Bd. Neuausgabe hg. v. E. Bayer, Basel 1952/53. – Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1928ff. – Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971f. – D.H. Frank/O. Leaman (Hg.), History of Jewish Philosophy, London/New York 2003. – H. G. Gadamer, Die Philosophie und ihre Geschichte, Beilage zu: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begr. v. F. Ueberweg. Die Philosophie der Antike. Hg. v. H. Flashar, Basel 1998. – L. E. Goodman (Hg.), Neoplatonism and Jewish Thought, New York 1992. – J.Chr. Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, Göttingen 2006. – G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I und II, Frankfurt 1986 (auf der Grundlage der „Werke“ von 1832–1845 neu ediert). – J. Hessen, Platonismus und Prophetismus. Die antike und die biblische Geisteswelt in strukturvergleichender Betrachtung, München 1939. – V. Hösle, Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984. – O. Kaiser, Der Gott des Alten Testaments. Theologie des Alten Testaments. 3 Bd., Göttingen 1993ff. – H. Küng, Das Judentum, München/Zürich 1991. – Chr. Levin, Das Alte Testament, München 2001. – H. Liebeschütz, Das Judentum im deutschen Geschichtsbild von Hegel bis Max Weber, Tübingen 1967. – J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion. Von der Zeit Alexander des Grossen bis zur Aufklärung mit einem Ausblick auf das 19./20. Jahrhundert, Berlin/New York 1972. – Ders., Das Judentum. Von der biblischen Zeit bis zur Moderne, München 1973. – Chr. Meier, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin 2 1994. – F. Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christentum, in: Ders., Werke in zwei Bänden. Bd. II, Darmstadt 1973. – Tertullian, De praescriptione haereticorum. Hg. v. E. Preuschen, Tübingen 21910. – The Encyclopaedia of Judaism. Second Edition, Leiden/Boston 2005. – Xenophon, Erinnerungen an Sokrates. Griechisch-deutsch. Hg. v. P. Jaerisch, München/Zürich 41987.

„Quid ... Athenis et Hierosolymis? quid academiae et ecclesiae? quid haereticis et Christianis?“ „Was haben ... Athen und Jerusalem gemeinsam, was die Akademie und die Kirche, was Häretiker und Christen?“ (Tertullian, 7,9) Quintus Septimus Florens Tertullianus (geb. um 160 n.Chr.; gest. nach 220) war ein gelehrter Mann. Der Sohn eines heidnischen centurio proconsularis hatte in Karthago eine vorzügliche Ausbildung als Rhetor und Jurist erhalten, war dann in Rom als Anwalt tätig und mit den geistigen Strömungen der griechischen und lateinischen Antike

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bestens vertraut. Um das Jahr 195 n.Chr. indes nahm sein Lebensweg eine radikale Wende. Tertullian wurde Christ und wollte mit Philosophie und gnostischer Erkenntnis nichts mehr zu tun haben. Er verwarf sie als Scheinweisheiten. Geltung hatten für ihn fortan nur mehr die heiligen Überlieferungen Israels, deren Verheißungen er in der Erscheinung Jesu Christi erfüllt sah. Aus dieser Glaubensgewissheit heraus betrieb er Theologie, um das Zeugnis der Schrift mit rhetorischer Brillanz und allem juristischen Scharfsinn, der ihm zu Gebote stand, vor der heidnischen Welt zu bekennen und gegen häretische Bestreitungen zu verteidigen. Was die Irrlehre betrifft, so folgte Tertullians Argumentation konsequent aus dem Grundsatz seiner Schrift „De Praescriptione Haereticorum“, der zugleich die Antwort enthält auf die eingangs zitierte Frage: „Sollen diejenigen für sich zusehen, die ein stoisches, ein platonisches, ein ‚dialektisches‘ Christentum hervorgebracht haben! Für uns ist Wißbegierde keine Notwendigkeit seit Jesus Christus, Forschung kein Bedürfnis seit dem Evangelium. Indem wir glauben, verlangen wir nichts über den Glauben hinaus.“ (Tertullian, 7,11–13: „viderint qui Stoicum et Platonicum et dialecticum Christianismum protulerunt. nobis curiositate opus non est post Christum Iesum, nec inquisitione post evangelium. cum credimus, nihil desideramus ultra credere.“) Wahres Christentum und Häresie verhalten sich wie Kirche und Akademie, Jerusalem und Athen: Sie haben nichts miteinander zu schaffen! Gegen diese These wird im Folgenden sowohl aus historischen als auch aus systematischen Gründen die Annahme vertreten, dass Jerusalem und Athen in christlicher Perspektive zusammengehören. Dies schließt Differenzen nicht aus, sondern ein. Gleichwohl sind die vorhandenen Unterschiede nicht von der Art, dass sie die gegebene Zusammengehörigkeit auflösen, um konträre Gegensätze an ihre Stelle treten zu lassen. Das Christentum kann zwar weder in historischer noch in dogmatischer Hinsicht angemessen als einfache Synthese jüdischen und griechischen Erbes verstanden werden. Doch gänzlich verschlossen bleibt sein Verständnis, wenn eines der gewiss ungleichen Erbteile unberücksichtigt bleibt oder vorweg eine vermittlungslose Alternative beider unterstellt wird. Nachgerade das christliche Gottesverständnis erschließt sich nicht ohne Würdigung der spannungsvollen Verbindung zwischen jüdischem Monotheismus und griechischer Philosophie. Ihr soll daher im Folgenden die gebührende Aufmerksamkeit zukommen und zwar in geschichtlicher Perspektive, da strukturvergleichende Betrachtungen, wie sie neben vielen anderen etwa von Johannes Hessen in seinem Werk über „Platonismus und Prophetismus“ vorgenommen wurden, zu Abstraktionen neigen, die weder der griechischen Geisteswelt noch gar dem biblischen Denken gerecht werden. Um die erforderliche Präzision zu erreichen, ist es nötig, die beiden Überlieferungszusammenhänge, die sich in christlicher Theologie verbinden, zunächst je für sich ins Auge zu fassen. Denn offenkundig bestand die Verbindung zwischen jüdischem Monotheismus und griechischer Philosophie, sowenig sie erstmals im Christentum in Erscheinung trat, keineswegs von Anfang an. Sie resultiert vielmehr erst aus zwei über lange Zeit im Wesentlichen separat verlaufenden Entwicklungsgeschichten. Ihre Kenntnis ist nicht allein die Voraussetzung dafür, antikes

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Judentum und Griechentum bzw. Hellenismus ins rechte Verhältnis zu setzen und die Bedeutung dieses Verhältnisses für das werdende Christentum zu ermessen. Sie ermöglicht überhaupt erst ein Verständnis dessen, was mit jüdischem Monotheismus und griechischer Philosophie gemeint ist. Denn beider charakteristischer Begriff ist kein unmittelbar gegebenes Datum, sondern Resultat einer geschichtlichen Entwicklung, deren genetische Rekonstruktion es allererst ermöglicht, sie in ihrem je eigentümlichen Wesen und in ihrer Funktion als Konstitutionsgrößen des werdenden Christentums zu erfassen. Dass dabei der israelitisch-jüdischen Überlieferungsgeschichte der christliche Vorzug gebührt, ergibt sich aus vielen Gründen, deren Evidenz sich erweisen wird. Das Judentum ist die wichtigste TraditionskompoJudentum nente für die Genese des Christentums. Wie das Christentum keine Einheitsgröße darstellt, dessen Wesen sich unmittelbar erfassen ließe, so liegt auch die jüdische Identität nicht in der Weise einer substantiellen Gegebenheit vor. Sie hat sich vielmehr erst im Laufe einer jahrhundertelangen Geschichte ausgebildet, die nicht mit den Anfängen des Christentums endet, sondern bis heute fortdauert. Die Aufgabe, die Identität dessen zu erfassen, was man Judentum nennt, kann daher nicht als abgeschlossen gelten. Anderes zu behaupten, liefe auf eine Missachtung aktuellen Judentums hinaus, dessen gegenwärtigem Selbstverständnis es vorzubehalten ist, seinen Begriff und Geltungsanspruch zu definieren. Dass für den aktuellen Begriff und Geltungsanspruch des Judentums nicht nur die vor-, sondern ebenso die nachchristlichen Überlieferungen der rabbinischen Tradition, des jüdischen Mittelalters und der Moderne von konstitutiver Relevanz sind, bedarf keiner Betonung. Von ihnen abzusehen, bedeutet auch in christlicher Perspektive eine Abstraktion, die allerdings unter dem Gesichtspunkt, die impliziten Voraussetzungen christlicher Theologie zu erheben, nicht nur unvermeidbar, sondern sachlich geboten ist. Denn als implizite Voraussetzung des Christentums und christlicher Theologie kann und darf das Judentum nur in der vorchristlichen Phase seiner Entwicklung in Betracht kommen, wobei in Rechnung zu stellen ist, dass auch diese Phase sich in jüdischer Wahrnehmung anders darstellen wird als in christlicher, wenngleich identische Grundkomponenten unter beiden Aspekten erkennbar sind. Zur Zeit des werdenden Christentums wurde die jüdische Identität nicht mehr allein und auch nicht mehr in erster Linie durch ethnische, sondern durch religionskulturelle Faktoren transethnischer Art bestimmt, so wichtig der Zusammenhang von Religion und Land, Religion und Volkszugehörigkeit im Übrigen auch war. Was als Judentum zu gelten hatte, bestimmte sich wesentlich durch konstante Elemente eines gemeinsamen religiösen Erbes von durchaus universalgeschichtlichem Anspruch. An diesem Erbe hat auf seine Weise auch das Christentum Anteil, das insofern der Wirkungsgeschichte des Judentums zugehört, obgleich es sich bald schon als eine eigene, von der jüdischen spezifisch unterschiedene Religion etablierte. Die wirkungsgeschichtlichen Anteile, die das Christentum mit dem Ju-

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dentum verbinden, sind vielfältig und in Konstruktion und Kritik auf teilweise sehr differente, ja widersprüchliche Weise beschrieben worden, wobei historisches Anliegen und systematische Interessen häufig eng beieinander lagen. Es genügt, im Anschluss an Hans Liebeschütz exemplarisch die Darstellungen des Judentums in der deutschen Geschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts in den Blick zu nehmen, um sich von dieser Tatsache zu überzeugen. Das Nebeneinander von Zusammengehörigkeit und Gegensatz, welches das Verhältnis von jüdischer Synagoge und christlicher Kirche seit Paulus bestimmt hat, spiegelt sich in den wechselnden Rollen auf höchst komplexe Weise wider, die dem Judentum etwa bei Hegel, Ranke, von Treitschke, Jacob Burckhardt, Eduard Meyer oder Max Weber zugedacht wurden, wobei, wie gesagt, weltanschauliche und politische Motive die jeweilige Darstellung entscheidend mitbestimmten. Dies gilt auch für Gustav Droysen und seine Entdeckung des Hellenismus als einer Epoche der Hellenismus Kultursynthese und der Integration, die nach seinem Urteil „in der Entstehung des Christentums ihren weltgeschichtlichen Sinn erfüllt hat“ (Liebeschütz, 87), wobei seiner anfänglichen These zufolge die Religion der Griechen dem Christentum ungleich näherstand als das Judentum. Diese These ist, wie Droysen später selbst einsah, historisch und systematisch unhaltbar. Gleichwohl ist dem Geschichtsschreiber des Hellenismus in der Auffassung recht zu geben, dass die traditionelle Kontrastierung von jüdischem Monotheismus und antikem Heidentum durch die religionskulturellen Realitäten in der Zeit des werdenden Christentums nicht gedeckt ist, sofern sich in der griechischen Antike eine Denkungsart ausgebildet hat, die bei allen Differenzen konstruktive Anschlussmöglichkeiten sowohl für das Judentum als auch für das Christentum bot. Insbesondere der Neuplatonismus ist hier zu nennen, der Juden nicht weniger beeindruckte als Christen. Zwar waren keineswegs alle jüdischen Denker der Römerzeit Neuplatoniker: „But it would not be an exaggeration to say that Neoplatonism was the philosophy that was most influential upon the formation of Jewish thought …“ (Goodman, XI). Namentlich durch Plotin und Proklos hat die neuplatonische Tradition weit ins Mittelalter hinein auf jüdisches Denken eingewirkt (vgl. Frank/ Leaman, bes. 149–187). Die Philosophiegeschichte des Hellenismus einschließlich ihrer jüdischen Anteile ist in „The Cambridge History of Hellenistic Philosophy“ in thematischer Anordnung ausführlich beschrieben worden. Um den Entwicklungsprozess recht zu verstehen, der in der hellenistischen Zeit zu einer schöpferischen Begegnung von Ost und West sowie zu Kultursynthesen von bisher nicht gekanntem Umfang und Ausmaß geführt hat, genügt es jedoch nicht, sein Ergebnis lediglich zu registrieren. Aufgabe muss es vielmehr sein, die Bestimmungsmomente der gedanklichen und religionskulturellen Tradition, die in der hellenistischen Synthese integriert und aufgehoben wurden, eigens zu benennen und zu entfalten. Dass dabei in christlicher Perspektive die Aufmerksamkeit auf die jüdische Religionsgeschichte und die Überlieferungen griechischer Philosophie zu konzentrieren ist, versteht

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sich in Anbetracht der Entwicklung des frühen Christentums im Kontext der hellenistisch-römischen Antike von selbst und bedarf keiner weiteren Begründung. Zur Geschichte griechischen Denkens, dessen Denken der Griechen Entwicklungsgang in der zweiten Hälfte des vorliegenden Bandes von den vorsokratischen Anfängen bis zum Neuplatonismus der Zeit des antiken Christentums nachgezeichnet wird, sei, was den auf Einzelheiten gehenden Informationsbedarf betrifft, auf die bekannten Lehrbücher der Philosophiegeschichte, insbesondere auf die der Antike gewidmeten Bände des von Friedrich Ueberweg begründeten Grundrisses der Geschichte der Philosophie verwiesen; dort finden sich neben Bemerkungen zu Methode und Hilfsmitteln der Philosophiehistoriographie die nötigen biographischen und werkgeschichtlichen Angaben zu den einzelnen Autoren. Für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der griechischen Philosophie nach wie vor unentbehrlich ist das Standardwerk von Eduard Zeller, das 1844–1852 in drei Bänden erschienen ist und heute in sechs Bänden in verschiedenen Auflagen und Neubearbeitungen vorliegt. Sehr informativ sind ferner die umfangreichen Werke von W. K. C. Guthrie „A History of Greek Philosophy“ (Cambridge 1962ff.) und G. Reale „Storia Della Filosofia Antica“ (Milano 1976ff.). Eine brauchbare „Einführung in die Philosophie der Antike“ mit einer hilfreichen Zeittafel bietet C.-F. Geyer (Darmstadt 1978). Im Unterschied zur antiken Mythologie, der sie entwuchs, zeichnet sich die griechische Philosophie bereits in ihrer vorsokratischen Gestalt dadurch aus, dass sie sich zu ihrem Gegenstand nicht länger unmittelbar religiös, sondern in der Form denkenden Bewusstseins verhielt. Zwar teilt sie mit der heidnischen Religion und ihrer Mythologie das zentrale Interesse an der Natur als dem wesentlichen Objekt ihrer Wahrnehmung. Doch ist der Umgang mit ihr insofern ein kategorial anderer, als Naturphilosophie im Unterschied zum religiösen Mythos in bewusster Form bzw. im förmlichen Bewusstsein ihrer Bezugnahme, also reflex auf Natur bezogen ist. Der Beginn der Geschichte der Freiheit ist, mit Hegel zu reden, die Voraussetzung einer Philosophie der Natur, die ihrerseits den Anfang der Philosophiegeschichte markiert. Ist die Freiheit des Denkens die Bedingung des Beginnens der Philosophie, so ist deren Anfang gemacht, wo das natürlich Seiende und das Sein der Natur in allgemeinster Form als Sein selbst erfasst werden, wie das bei den ionischen Naturphilosophen erstmals der Fall war. Auch wenn diese nicht sogleich das Sein als solches, sondern Wasser oder Feuer zum Wesen der Dinge erklärten, so ist doch mit diesen und vergleichbaren Hinweisen nicht an einen besonderen Gegenstand oder an eine Entität spezifischer Art, sondern an das Allgemeine im Sinne des Letztbegründenden und Allumfassenden gedacht. Indem er die Natur und das natürlich Gegebene auf eine ursprüngliche Einheit hin transzendiert, tritt der Geist in einem ersten Schritt aus seiner Naturunmittelbarkeit heraus und beginnt, zu sich zu kommen. Dieser erste Schritt ist bei den alten Griechen getan. Für mögliche Strukturierungen der durch die „Entdeckung des Geistes“ (B.

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Snell) initiierten Geschichte griechischer Philosophie bietet die von Lucien Braun beschriebene Geschichte der Philosophiegeschichte vielfältige Beispiele von unterschiedlicher Qualität. Eine hervorragende, ja singuläre Stellung nimmt dabei Hegel ein, dessen Periodisierung des Entwicklungsgangs griechischer Philosophie in hohem Maße einflussreich und bedeutsam wurde und zwar auch dort, wo man ihr nicht folgte. Die Geschichte der Philosophie ist nach Hegel „selbst Philosophie, weil sie an der Bewegung teilhat, welche die Philosophie über die beständige Wiederaufnahme ihrer eigenen historischen Bestimmungen zu ihrer Selbsterkenntnis führt“ (Braun, 370). Welche Potenzen der Hegel’schen Philosophiegeschichtsschreibung gerade in Bezug auf die griechische Philosophie innewohnen, hat Vittorio Hösle bei vollem Bewusstsein nötiger Modifikationen an der Entwicklung von Parmenides zu Platon (vgl. Hösle, 171–624) überzeugend nachgewiesen. Die Gesamtentwicklung griechischer Philosophie vollzieht sich nach Hegel in drei Hauptperioden. Die erste reicht von Thales bis Aristoteles, die zweite ist durch die Systeme des Stoizismus und des Epikureismus bzw. durch den unaufgehobenen Gegensatz von Dogmatismus und Skeptizismus bestimmt, in der dritten bildet sich als Resultat des Vorhergehenden der Neuplatonismus aus, in dem Hegel die Vollendung und zugleich das Ende griechischer Philosophie gekommen sieht, was mit dem Entstehen des Christentums aufs Engste zusammenhängt. Die Periode von Thales zu Aristoteles ist ihrerseits in drei Abschnitte unterteilt: Auf der ersten Stufe griechischer Philosophie sind Geist und Natur erst ansatzweise und auf der Basis ihrer substantialen Einheit differenziert, die analog zur prinzipiellen Einheit von Denken und Sein vorausgesetzt wird. Erst allmählich wird sich im Fortgang von den frühen Ioniern über Pythagoras und die Zahlenspekulationen der Pythagoreer sowie über die eleatische Schule von Xenophanes, Parmenides, Melissos und Zenon bis zu Heraklit, Empedokles, Leukipp, Demokrit und schließlich zu Anaxagoras, mit dessen Erkenntnis des Allgemeinen als sich selbst bestimmender Tätigkeit nach Hegel ein neues Kapitel der Philosophiegeschichte aufgeschlagen wird, das Denken seiner Differenz zum Sein des Seienden bewusst. Mit der Differenz von Denken und Sein wird zu Bewusstsein gebracht, was selbstverständliche, aber noch nicht eigens thematisierte Voraussetzung schon der ionischen Naturphilosophie war: der Unterschied von Geist und Natur. In entwickelter Form tritt dieser Unterschied und mit ihm das Prinzip selbstbewusster Geistigkeit bei den Sophisten sowie bei Sokrates und den Sokratikern der megarischen, der kyrenaischen und der kynischen Schule zutage. Während die Sophisten die Differenz von Natur und Geist ausschließlich kritisch fassen, gibt Sokrates ihr in der eigentümlichen Subjektivität seines Denkens eine konstruktive Gestalt, bis Platon und Aristoteles das zu sich gekommene Denken und den naturemanzipierten Geist objektiv zu einem auf die sinnliche Welt zwar bezogenen, aber von ihr zugleich abgehobenen Wissenschaftssystem von eigener Dignität formieren. Die von Sokrates mehr erahnte als durchdachte Idee (des Guten) gestaltet sich zu einem idealen Gedankenkosmos, dessen systematische Exposition bei Platon angezeigt, bei Aristoteles konsequent durchgeführt ist.

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Das allein wesenhaft Wirkliche, sagt Platon, ist das Allgemeine, die von der Idee des Guten bestimmte Welt des Intelligiblen. Die Intellektualwelt als das in sich bestimmte Allgemeine ist das Wahre, zu dem sich das sinnlich Existierende nur wie Schein verhält. Dialektischer, wenn man so will, ist das Verhältnis von wahrhaftem Wesen und sinnlicher Erscheinung bei Aristoteles gefasst. Das allgemeine Wesen der Dinge realisiert sich in deren besonderer Erscheinung. Die Idee geht nicht wie bei Platon den sie abbildenden Dingen urbildlich voraus; sie ist als der Artbegriff eines Dinges nichts für sich, sondern das Formelement einer Entität, welches deren Bestimmung ausmacht. Kann der Verdacht einer Verdoppelung des sinnlich wahrnehmbaren Gegenstands durch die Ideen bei Aristoteles daher nicht aufkommen, so bleibt doch auch bei ihm das genaue Verhältnis von Form und Materie, begrifflicher Idealität und sinnlicher Realität ein Problem. An dem von Platon und auch von Aristoteles hinterlassenen Problem des Verhältnisses von Idealität und Realität entzündet sich nach Hegel der Streit zwischen Dogmatismus und Skeptizismus, der die zweite, bereits in die römische Welt weisende Hauptperiode griechischer Philosophie bestimmt. Der Dogmatismus wird durch die Systeme des Stoizismus und Epikureismus repräsentiert, zu denen sich die philosophische Wissenschaft nach Platon und Aristoteles hauptsächlich ausdifferenziert. Im Stoizismus entwickelt sich das reine Denken zu einer Totalität, die sich im Absehen bzw. in der Rücksichtslosigkeit gegenüber sinnlichem Existieren vollendet. Die stoische Geistesgelassenheit lässt das sinnlich Seiende nur insoweit sein, als es einen Gegensatz zur Idealität des Denkens zu bedingen nicht in der Lage ist. Im Grunde gilt dem stoischen Weisen die Realität des Sinnlichen als nichtig. Dagegen erklären die Epikureer die sinnliche Realität zwar nicht in ihrer geistlosen Äußerlichkeit, wohl aber in der Form, in welcher der Geist ihrer inne wird, nämlich in der Form des Gefühls und der Empfindung zum Wahren und Ganzen. Ist im Stoizismus das Denken bzw. das gedachte Sein das allein Wesentliche, erklärt der Epikureismus das Sein als Empfundenes und Gefühltes zur Wesenswahrheit. Aufgehoben ist dieser, auf Abstraktion vom jeweils anderen beruhende Gegensatz nach Hegel erst im Neuplatonismus, nachdem ihn zuvor der (in der Römermacht real gewordene) antidogmatische Skeptizismus in seiner Haltlosigkeit erwiesen hatte, ohne über die Kritik hinaus einen konstruktiven Beitrag zu seiner Bewältigung leisten zu können. Im Neuplatonismus erreicht die griechische Philosophie nach Hegel ihre Bestimmung, um in den Geist des Christentums überführt zu werden. Der Realität des Intelligiblen, welche die bislang unbewältigten Gegensätze von Denken und Sein zu beheben vermag, wird der neuplatonische Geist dadurch gewahr, dass er sich über alle endlichen Beschränktheiten zu Gott als dem Inbegriff des Guten erheben lässt, um bei der göttlichen Wahrheit als dem an und für sich Wahren seinen Ausgang zu nehmen. Die existierenden Dinge sind, sofern sie wahrhaft existieren, in der göttlichen Vernunft gedacht, und dieses ihr Gedachtsein durch Gott ist ihre wahrhafte Existenz. „Der Skeptizismus und Dogmatismus, als Bewußtsein, Erkennen, setzt den Gegensatz von Subjektivität und Objektivität. Plotin hat ihn

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weggeworfen, sich in die höchste Region geschwungen, in das aristotelische Denken des Denkens ...“ (Hegel II,463 [= Geschichte der griechischen Philosophie. Dritter Abschnitt. C2: Plotin]) Die Gliederung des Entwicklungsgangs griechischer Philosophie, wie Hegel sie vorgenommen hat, ist damit in Grundzügen skizziert. In einer Beilage zu dem der antiken PhilosoPhilosophie der Philosophiephie gewidmeten Teil des neuen „Ueberweg“, hat geschichte Hans-Georg Gadamer der Erneuerung apriorischer Geschichtskonstruktion eine klare Absage erteilt, die es einst erlaubt habe, „in der Geschichte der Philosophie das Innerste der Weltgeschichte zu sehen“ (Gadamer, III). Schon Eduard Zeller und seine Zeitgenossen hätten „keine aprioristische Konstruktion im Sinne Hegels mehr zu forcieren gewagt“ (Gadamer, XXII). Der Historismus habe die schon bei Zeller erkennbare Abwendung von Hegel beschleunigt fortgesetzt, am Ende aber seinerseits in Aporien geführt, die selbst ein historisch und systematisch gleichermaßen überragender Mann wie Wilhelm Dilthey nur bedingt zu beheben vermocht habe. Dem Historismusproblem durch Typologisierungen zu entgehen, ist nach Gadamer ebenso wenig erfolgversprechend wie der im Neukantianismus versuchte Ausweg der sogenannten Problemgeschichte, für die Wilhelm Windelbands „Lehrbuch der Geschichte der Philosophie“ von 1892 ein Beispiel gebe. „Wenn sie die Identität von Problemen annimmt, die als unveränderliche durch alle Systeme der Philosophie hindurchgehen, so zeigen sich diese in ihrer Identität doch nur einem Denken, das sie von seinen eigenen Fragestellungen als solche zu erkennen vermag. So ist die Problemgeschichte des Neukantianismus in Wahrheit ein Raubbau aus dem Steinbruch der grossen Hegelschen Synthese der Geschichte der Philosophie.“ (Gadamer, XXIII) In Anbetracht dieser Situation, an der sich grundsätzlich bis heute nichts geändert hat, empfiehlt es sich, genau jenen Gedanken Hegels stark zu machen, an dessen Wahrheit auch Gadamer keinen Zweifel lässt, nämlich „dass es dem Wesen des Geistes gemäss ist, dass seine Entfaltung in die Zeit fällt“ (Gadamer, III). Der Gang der Geschichte lässt sich offenbar nicht abschließend, sondern nur antizipativ, also so auf den Begriff bringen, dass die Geschichtlichkeit des Begreifens der Geschichte und dessen proleptischer Charakter bewusst bleiben. Wie jede Geistgestalt in der Welt ihre Zeit hat, so gilt dies auch für die Gestalt des Geistes, aus dem heraus Geschichtsphilosophie betrieben und die Geschichte der Philosophie als die Geschichte des in Gedanken gefassten Geistes einer Zeit geschrieben wird. Aus diesem hermeneutischen Zirkel führt nichts heraus; doch wäre er ein circulus vitiosus nur, wenn von Geschichtsphilosophie ein Religion und Theologie ersetzender Gebrauch gemacht werden sollte. Unter diesem Vorbehalt bleibt die Aufgabenbestimmung, die Hegel der philosophischen Disziplin der Philosophiegeschichte gegeben hat, nach wie vor relevant: Sie habe in der Geschichte der Philosophie nicht lediglich einen Vorrat von Meinungen zu erkennen, deren Beliebigkeit eher die Nichtigkeit als den Bestand philosophischer Erkenntnis erweise, sondern die Entwicklung des in Gedanken ge-

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fassten Geistes der Zeiten, welche sich zu vergegenwärtigen die notwendige Bedingung aktueller Geistesgegenwart ist. Soll Philosophiegeschichte philosophisch betrieben werden, wird man ihren Fortgang bei vollem Bewusstsein gegebener historischer Kontingenzbedingungen als vernunftförmig insofern zu rekonstruieren haben, als nur durch vernünftige Rekonstruktion die Vernunft im geschichtlichen Denken ihres eigenen Werdens gewahr und in die Lage versetzt wird, das Ererbte als Besitz zu erwerben. Der fällige Hinweis kann dann getrost der historischen Fachwissenschaft überlassen bleiben, dass geschichtlich alles noch weitaus komplizierter war, als man es sich ohnehin schon gedacht hatte. Aneignung der Geschichte im Allgemeinen und der Geschichte des Denkens im Besonderen ist für die aktuelle Selbstverständigung der Vernunft unentbehrlich: Denn zukunftsoffene Gegenwart des Geistes zeichnet sich dadurch aus, dass sie die vergangenen Momente ihrer Genese erinnernd bewahrt und im Gedächtnis aufhebt. Nachgerade die Anfänge der Philosophie bei den Griechen verdienen es, geistesgegenwärtig erinnert und im Gedächtnis bewahrt zu werden. Zwar ist der Beginn griechischer Philosophie seiner Anfänglichkeit wegen vergleichsweise arm und abstrakt; die chronologisch erste Philosophie mit dem prinzipiellen Anspruch einer prima philosophia dauerhaft zu verbinden, besteht kein Anlass. Doch erschöpft sich die Philosophie der Griechen keineswegs darin, die Philosophiegeschichte initiiert zu haben, sofern sie selbst über die in der ionischen Naturphilosophie gemachten Anfänge rasch und bald schon hinausschritt, um eine differenziert und reich entwickelte Gestalt anzunehmen. Ohne den Entwicklungsgang griechischer PhiloDas Lehnwort „Theologie“ sophie ist die Formierung christlicher Theologie nicht denkbar. „Theologie“ ist signifikanterweise ein Lehnwort aus dem Griechischen. Indes darf das Wort nicht problemlos und von Anfang an mit der Bedeutung versehen werden, die es im Laufe der Zeiten annahm. Für Platon, bei dem der Begriff erstmals begegnet, bedeutet Theologie mythische Sage vom Göttlichen, die einer philosophisch-wissenschaftlichen Klärung allererst zugeführt werden muss. Auch bei Aristoteles heißen Theologen in der Regel die Mythendichter. Allerdings kann er ansatzweise von theologischer Philosophie sprechen und die Metaphysik als die höchste der drei theoretischen Wissenschaften Theologik nennen. Nichtsdestoweniger bleibt in der griechischen Antike das Verständnis von Theologie als mythischer Gottesrede bestimmend. Im Neuen Testament kommt der Begriff theologia nicht vor, obwohl von theos und vom göttlichen logos bekanntermaßen häufig die Rede ist. Breitere Verwendung findet der Theologiebegriff dann in der griechischen Patristik, doch primär nicht als Bezeichnung einer wissenschaftlichen Unternehmung, sondern einer Kunde von Gott, für welche Propheten, Apostel und Evangelisten als exemplarische Theologen autoritativ einstehen. Zur Wissenschaft in einem methodisch streng geregelten Sinne wird Theologie erst in der lateinischen Hochscholastik und zwar im Zusammenhang der entstehenden abendländischen Universitätskultur. Nun bezeichnet Theologie das wissenschaftliche Durchdenken des Ganzen des christli-

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chen Glaubens, wobei die Lehre von Gott begriffsgemäß im Zentrum theologischer Aufmerksamkeit steht. Dass Theologie ihrem Begriff und Wesen nach Wissenschaft von Gott ist, gilt es auch unter modernitätsspezifischen Bedingungen zu behaupten. Gott ist und bleibt Prinzip jeder Theologie, die einen berechtigten Anspruch auf ihren Namen erhebt. Doch lässt sich dieser Grundsatz unter neuzeitlichen Voraussetzungen nicht unmittelbar und unter Absehung von den religionsgeschichtlichen Zusammenhängen geltend machen, durch welche die Gottesthematik in ihrer je eigentümlichen Bedeutung vermittelt ist. Nachgerade das christliche Verständnis des dreieinigen Gottes erschließt sich nicht ohne Wahrnehmung seiner geschichtlichen Genese und der impliziten Voraussetzungen, die es bestimmen. Der Sachgrund für die Entscheidung, die Trilogie über Gott, Christus und Geist mit Erörterungen zur jüdisch-israelitischen Religionsgeschichte und zur antiken Philosophie beginnen zu lassen, ist damit benannt. Zugleich ist eine Erklärung für die auf den ersten Blick möglicherweise seltsam anmutende Tatsache gegeben, dass der vorliegende Gottestraktat das eigentümlich christliche Gottesverständnis erst anfangs- und andeutungsweise und noch nicht so entwickelt, wie es der Christusoffenbarung und der Wirklichkeit des Geistes gemäß ist. Damit ist methodisch der Tatsache Rechnung getragen, dass sich ohne konkreten Durchgang durch Christologie und Pneumatologie in ihrer geschichtlich begründeten Verfassung der für christliche Theologie kennzeichnende trinitarische Gottesgedanke allenfalls abstrakt kennzeichnen, nicht aber angemessen erfassen lässt. Von der Trinitätstheologie als der charakteristischen Form christlicher Gotteslehre wird daher mit Bedacht erst im dritten, pneumatologischen Traktat der Trilogie gehandelt, so grundlegend und wesentlich sie für deren Gesamtzusammenhang ist. Ist damit über den Fortgang der TraktatenreiDer jüdische Toramonotheishe zu Gott, Christus und Geist methodisch noch mus als Primärvoraussetzung einmal das Nötigste gesagt, so sind zur Thema- christlicher Theologie tik der impliziten Voraussetzungen christlicher Theologie, von denen der Gottesband handelt, einige Vorbemerkungen zur israelitisch-jüdischen Religionsgeschichte anzufügen, die diejenigen zur griechischen Philosophiegeschichte ergänzen und eine vorläufige Begründung geben für die bereits angesprochene, im Fortgang der Untersuchung im Einzelnen zu erweisende These, dass das innere Zentrum israelitisch-jüdischer Theologie, wie sie in der hebräischen Bibel dokumentiert und kanonisch beurkundet ist, im Toramonotheismus begründet liegt. Drei Denkvoraussetzungen sind für das alttestamentliche Gotteszeugnis fundamental und verleihen ihm Einheit bei all seiner Unterschiedlichkeit: „Nach der ersten ist Jahwe der Gott Israels und Israel das Volk Jahwes (Gen 17,7; Dtn 26,17f.). Nach der zweiten ist es als solches zum Gehorsam gegenüber Jahwe als seinem einzigen Gott verpflichtet. Und nach der dritten wird das Verhältnis zu Jahwe positiv oder negativ durch das Maß seines Gehorsams bestimmt, so daß Gerechtigkeit und Heil oder Gottlosigkeit und Unheil einander entsprechen (Dtn 28; Lev 26; vgl. Ex 23,20–33).“ (Kaiser II, 17) Letztere „Grundgleichung“ (Kaiser

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II,18; bei K. kursiv), die ein Entsprechungsverhältnis von Gehorsam und Heil, Gerechtigkeit und Leben bzw. Ungehorsam und Unheil, Frevelhaftigkeit und Tod voraussetzt, ist in alttestamentlicher Spätzeit zwar in die Krise geraten, wovon eine Reihe von weisheitlichen und apokalyptischen Schriften zeugt, die sich nur z.T. im hebräischen Kanon finden und häufig als alttestamentliche Apokryphen und Pseudepigraphen bezeichnet werden. Dies ändert indes nichts an der Tatsache, sondern bestätigt sie in bestimmter Hinsicht, dass das Zeugnis von der Gerechtigkeit Gottes das Zentrum alttestamentlicher Theologie bildet. Nicht von ungefähr stellt die inhaltliche Mitte der hebräischen Bibel die Tora dar. Als erwähltes Eigentumsvolk ist Israel gehalten, heiliges Volk des heiligen Gottes zu sein und seiner Erwählungsliebe durch Gegenliebe in Gestalt von Gebotsgehorsam zu entsprechen. Die Ehrung des durch Mose (Ex 6,2; 3,15) offenbarten Namens Gottes, der für sein Volk beständig und gewiss da sein wird, fordert nicht nur kultisch-rituelle Reinheit, sondern sittliche Vollkommenheit im umfassenden Sinn. Der Transzendenz Gottes in seiner weltüberlegenen Einzigkeit, die sich jedweder Form von Abbildung entzieht, entspricht die Weisung, ihm allein zu dienen und seinem Gebot in allem zu entsprechen. Wo dies geschieht, schenkt der ferne Gott seine Nähe und das Heil seiner Gegenwart. Sie ist in sinnlichen Vorstellungen nicht zu fassen, weshalb Gottesbilder verboten sind. Offenbar und selbsterschlossen ist Gott in seinem gerechten Wesen durch das inspirierte und inspirierende Wort der Tora, in dem sein Geist wohnt. Aus diesem Geist heraus hat Gott Mensch und Welt erschaffen, deren Bestimmung es ist, in der Gemeinschaft Gottes und untereinander nach Maßgabe der Gerechtigkeit zu leben. Auf Dauer gestellt und erhalten wird die Schöpfung durch die Weisung des göttlichen Gebots, dessen Befolgung Wohlergehen und dessen Übertretung Übles zur Folge hat. Weil der zur Gottebenbildlichkeit geschaffene Mensch dies wahrzunehmen vermag, ist er die Krone der Weltschöpfung und zur gerechten Herrschaft über alle extrahumanen Kreaturen aufgerufen. Inbegriff und Summe des göttlichen Rechts- und Gemeinschaftswillen, wie er den Bundesschlüssen und Bundesverheißungen zugrunde liegt, ist der Dekalog als die Mitte der Tora. Obwohl es sich um eine sekundäre Komposition handelt, besitzt der Dekalog eine eindeutige Sinneinheit. Sie ist im ersten Gebot gegeben, das zugleich das Hauptgebot ist. Der in seiner Gottheit sich selbst erschließende Gott darf ungeteilte Zuwendung erwarten, aus der alles Weitere stimmig hervorgeht, so dass Selbst- und Weltverhältnis des Menschen in die rechte Ordnung gebracht werden. An der Befolgung des Gebotes aller Gebote entscheidet sich das geschichtliche Geschick Israels und der Völker sowie das individuelle Los des einzelnen Menschen, welche beide nicht fatales Naturschicksal, sondern Konsequenz des jeweiligen Verhältnisses zur Gerechtigkeit Gottes sind, der den Frommen Segen und den Frevlern Fluch zuteilt. Dass die Religionsgeschichte Israels von entscheidender Bedeutung ist für die theologische Erhebung des Geistes von den Mächten der Natur zur Einsicht in die Gerechtigkeit Gottes, hat niemand klarer gesehen als der schärfste Kritiker dieser

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Entwicklung unter den modernen Philosophen, Friedrich Nietzsche. Das 25. Kapitel seines Versuches einer Kritik des Christentums „Der Antichrist“ beginnt mit dem signifikanten Satz: „Die Geschichte Israels ist unschätzbar als typische Geschichte aller Entnatürlichung der Natur-Werte.“ (Nietzsche, 503) Dabei war sich Nietzsche der Zäsur durchaus bewusst, die das Exilsgeschick für Israels Gottesverständnis darstellte. Die hebräische Bibel mit der Tora als ihrer Mitte, so lehrte ihn Julius Wellhausen, ist wesentlich religiöse Deutung der vorangegangenen Volkskatastrophe in persisch-hellenistischer Zeit. Erst nach dem Exil wird der theologische Gedanke der Gerechtigkeit Gottes bestimmend, wohingegen vorher in Israel wie in den heidnischen Nachbarvölkern auf göttliche Natur- und Herrschermacht gesetzt wurde. Die Umwertung aller Werte erfolgte erst in nachexilischer Zeit und zwar in einer Richtung, die dem Nietzsche’schen Willen zur Macht völlig zuwider lief. Als dem Repräsentanten ungebrochenen Machtbewusstseins zollt der Philosoph dem Herrn der Heerscharen Respekt und schätzt die Naturwüchsigkeit seines kriegerischen Volkes. Doch mit dem Ende der Königszeit und dem Ruin der Staaten von Israel und Juda wurde alles anders. Des Volkes Größe verfiel und zugleich die Stärke seines Gottes. „Der alte Gott konnte nichts mehr von dem, was er ehemals konnte. Man hätte ihn fahren lassen sollen. Was geschah? Man veränderte seinen Begriff, – man entnatürlichte seinen Begriff: um diesen Preis hielt man ihn fest. – Javeh der Gott der ‚Gerechtigkeit‘, – nicht mehr eine Einheit mit Israel, ein Ausdruck des Volks-Selbstgefühls: nur noch ein Gott unter Bedingungen ...“ (Nietzsche, 504) Dass diese Bedingungen von Gott selbst gesetzt sein könnten, weil sie seinem Wesen entsprechen, kam Nietzsche nicht in den Sinn. Sein Urteil, mit dem er über Judentum und Christentum gleichermaßen richtete, stand fest: Gebührte dem vorexilischen Jahwe, solange er in Macht und Herrlichkeit stand, mitsamt seinem natürlichen Volk Achtung, so ist der nachexilische Gott der Gerechtigkeit samt seinem Anhang der Verachtung preiszugeben. Denn sein Wesen gilt Nietzsche als ebenso widernatürlich wie dasjenige seines vermeintlichen Volkes, das in seiner Kümmerexistenz aufgehört hat, ein wirkliches Volk zu sein. Mit dem Judentum und seinem Gott ist kein Staat zu machen, sondern allenfalls eine Moralanstalt zu gründen auf der Basis einer Religion der Schwäche. Nietzsches antijüdisches Verdikt steht im Zusammenhang seiner Absage an das Christentum, der es dient. Vom Christentum und von christlicher Theologie wird es daher nur im Sinne einer Bestätigung und Bestärkung ihrer unlöslichen Bindung an das Judentum gewertet werden können. Wo der jüdische Gott der Gerechtigkeit der Verachtung preisgegeben wird, fällt zugleich das Christentum dahin und der Antichrist beherrscht das Feld, um einem blinden Willen zur Macht und dem natürlichen Schicksal zu frönen. Mag es daher auf den ersten Blick auch als ungewöhnlich erscheinen, wenn weite Teile des Gottestraktats einer Anleitung zum Studium christlicher Theologie und Dogmatik der Geschichte Israels und seines Gottes gewidmet sind, so sprechen für dieses Verfahren durchaus gute Sachgründe. Vom christlichen Gottesverständnis kann ohne Kenntnis des jüdischen nicht ange-

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messen die Rede sein. Das jüdische Gottesverständnis wiederum liegt, wie Nietzsches feindseliger Blick scharfsinnig gesehen hat, nicht als von Anbeginn gegeben vor, sondern hat sich erst im Laufe der Religionsgeschichte Israels zu dem entwickelt, was es in Wahrheit ist einschließlich der offenen Probleme, die mit dieser Wahrheit verbunden sind oder sich aus ihr ergeben. In der Absicht, diese Wahrheit zu erhellen, ist der Verlauf der Religionsgeschichte Israels in Grundzügen darzustellen. Geschehen soll dies auf der Basis der biblischen Texte und in Anwendung historisch-kritischer Methodik, wie sie in der Neuzeit ausgebildet wurde. Die Historisierung des modernen Bewusstseins ist unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten irreversibel. Sie wird die akademische Bibelexegese auch fernerhin bestimmen. Ausnahmen einzelner Forscher gibt es und wird es auch künftig geben. Aber sie heben die Regel nicht auf, sondern bestätigen sie. Diese begründete Annahme darf indes nicht an der Wahrnehmung von Dilemmata hindern, die in der Konsequenz einer Historisierung der Bibel und ihres inhaltlichen Gegenstandes liegen. An der Geschichte der alttestamentlichen Wissenschaft und namentlich ihrer widerstreitenden Pentateuchtheorien ließe sich unschwer zeigen, dass das Historismusproblem nicht nur die Systematische Theologie betrifft, sondern nicht minder die historisch-kritische Exegese, deren Gegenstand in einer Unzahl von Hypothesen über ihn zu zerfallen droht. Gewiss kann man die verlorene Einheit nicht dadurch wiederherstellen, dass man sich auf eine synchrone Lektüre beschränkt und diachrone Aspekte beiseite lässt, welche die Textharmonie stören könnten. Anzustreben ist vielmehr eine Interaktion von synchroner und diachroner Exegese zum Zwecke wechselseitiger Abstraktionsvermeidung. Die diachrone Perspektive hält für die gegenwärtige Lektüre des Textes dessen Genese präsent und lässt ihn als Ergebnis eines traditionsgeschichtlichen Prozesses erscheinen. Unter synchronen Aspekten wird erkennbar, dass die prozessuale Genese des Textes dessen Geltungsanspruch nicht unterlaufen darf und das umso weniger, als die Entwicklungsstadien des Textes je für sich Geltungsansprüche erheben, die hinter dem Ursprungssinn keineswegs zwangsläufig zurückbleiben müssen. An der kanonischen Stellung und traditionsgeschichtlichen Genese der Tora als der inneren Mitte des Alten Testaments sei dies in exemplarischer Absicht illustriert, um an späterer Stelle ausführlich dargestellt zu werden. Unter den Schriften, die Christen seit dem Ende Die Heiligen Schriften Alten des 2. Jahrhunderts n.Chr. das Alte Testament Testaments nennen, kommt der Tora eine unbestreitbare Vorrangstellung zu. Im Kanon sowohl der hebräischen Bibel als auch der Septuaginta rangiert das Gesetz an erster Stelle. Bereits der Prolog zur Übersetzung des Sirachbuches, der die Sammlung der alttestamentlichen Bücher erstmals ungefähr in ihrem heutigen Umfang benennt, tut dies in der Reihenfolge von Gesetz, Propheten und anderen Büchern der Väter. Dem entspricht in der Regel der Sprachgebrauch des Neuen Testaments. Bevor er ihnen die Augen für das Verständnis des Zeugnisses der Schrift von Tod und Auferstehung des Messias öffnet, gibt der österliche Christus den Seinen zur Kenntnis: „Alles muss in Erfüllung gehen, was im

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Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich gesagt ist.“ (Lk 24,44) Die Dreiteilung von Gesetz (tora), Propheten (nebiim) und Schriften (ketubim), kurz tenak genannt, reflektiert in ihrer Reihung nicht nur eine geschichtliche oder für geschichtlich erachtete Entwicklung, sondern auch eine Rangfolge religiöser Wertung. Ohne die Prävalenz der Tora zu tangieren, weicht die in der Septuaginta gewählte Anordnung von der hebräischen Bibel darin ab, dass sie die prophetischen Bücher an ihren Schluss stellt. Das kommt der christlichen Deutung insofern entgegen, als sich das Alte Testament nun als betont zukunftsoffen darstellt und eine explizite Ausrichtung von der Protologie auf die Eschatologie hin erkennen lässt. Als die eschatologische Erfüllung prophetischer Weissagung kann Jesus Christus auf diesem Hintergrund zugleich als Vollendung und Transzendierung des Gesetzes namhaft gemacht werden. Auf die christliche Rezeption der hebräischen Bibel und der Septuaginta sowie auf die Integration des Alten Testaments in den Kanon der Kirche wird an späterer Stelle einzugehen sein. Hier genügt einstweilen die Feststellung, dass der Tora im Judentum spätestens seit der hellenistischen Epoche und in wesentlichen Ansätzen schon in persischer Zeit kanonische Dignität zukam. Dieser Sachverhalt ist das Ergebnis eines langwierigen und komplexen traditionsgeschichtlichen Prozesses. In seinem Verlauf, dessen Bestimmungsmomente in der Forschung z.T. strittig sind, haben sich Gehalt und Gestalt der Tora erst allmählich zu derjenigen Fassung ausgebildet, die im Kanon vorliegt. Dass der Pentateuch, mit dem man die Tora als Buch des Gesetzes in der Regel assoziiert, zur Gänze oder auch nur in wesentlichen Teilen von Mose stammt, wird heute kaum mehr ernsthaft vertreten, auch wenn ansonsten die Theoriebildungen vielfältig und die exegetischen Hypothesen nicht selten widersprüchlich ausfallen. Trotz der verbleibenden Unsicherheiten ist von folgenden Grunddaten auszugehen (vgl. Gertz, 205): Obgleich die klassische Urkundenhypothese mit der Annahme von vier Quellen, wie sie Wellhausen vertrat, kaum mehr erwogen wird, so erweist sich doch die Priesterschrift P als ein weitgehend konsensfähiger Faktor, auch wenn keine Einigkeit über ihren ursprünglichen literarischen Charakter besteht. Doch bleibt von der Frage, ob es sich bei P um eine Quellenschrift, eine Schicht der Bearbeitung oder um beides zugleich handelt, die grundlegende Unterscheidung zwischen priesterschriftlichen und nichtpriesterschriftlichen Textanteilen des Pentateuch unberührt. Große Verständigungsprobleme bereitet die Vorgeschichte des nichtpriesterschriftlichen Pentateuchs. Strittig ist, ob man von einer durchlaufenden und von P unabhängigen jahwistischen Redaktion auszugehen oder mit einer Ansammlung von Erzählkränzen und Überlieferungsblöcken zu rechnen hat, die keiner vorpriesterlichen Redaktion vor Einfügung in den Pentabzw. Hexateuch unterzogen wurden. Zu bedenken ist ferner, dass bei weitem nicht alle nichtpriesterschriftlichen Textbestände von vorpriesterschriftlicher Herkunft sind. Einem vergleichsweise späten Stadium der Traditionsbildung gehört wahrscheinlich die Verknüpfung der Einzelüberlieferungen zu einer durchlaufenden

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Darstellung der Frühgeschichte Israels an, ohne dass Einvernehmen in Bezug auf die literarhistorische Einordnung dieses Vorgangs bestünde. Unklar ist, wann genau man die Vereinigung von Vätergeschichte, Exodus- bzw. Exodus-LandnahmeErzählung etc. anzusetzen und wie man sich ihre Modalität zu denken hat. Davon bleibt die Tatsache unberührt, dass die mit Mose verbundene Szene vom sinaitischen Gottesberg im Laufe der literarischen Entwicklung zum Kristallisationspunkt der Sinaiperikope werden sollte. In dem von Ex 19 bis Num 10 reichenden Überlieferungsblock sind in Form göttlicher Rede an Mose die Hauptbestände des alttestamentlichen Gesetzes enthalten. Was hinwiederum die Priesterschrift anbelangt, so ist der von ihr gebotene Gesamtentwurf der Heilsgeschichte Israels dezidiert auf die Einrichtung des Jerusalemer Tempels hingeordnet. Vor Probleme und Aufgaben eigener Art stellt das Deuteronomium, das als fünftes Buch dem Pentateuch eingegliedert ist. Seine Ursprungsgestalt liegt wohl im Kern von Dt 12–26 vor und hat die Zentralisation des offiziellen Jahwekultes in Jerusalem unter König Josia im 7. Jahrhundert zum Inhalt. Im Erzählzusammenhang des Pentateuch stellt das ergänzte und zum Gottesgesetz transformierte Deuteronomium jene Rechtssatzung dar, die Mose den Israeliten im Ostjordanland unmittelbar vor dem Zug durch den Jordan verkündet hat. „Unter der Überschrift des Schema liest sich das deuteronomische Gesetz als Kompendium dessen, was es im Einzelfall bedeutet, Jahwe von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft zu lieben.“ (Levin, 71) Angemerkt sei, dass unter Bezug auf den literarischen Großkomplex Penta- bzw. Hexateuch seit Martin Noth die Existenz eines deuteronomistischen Geschichtswerks diskutiert wurde, welches das Deuteronomium und das 2. Buch der Könige umfasst haben soll. Wie immer es darum bestellt sein mag: nicht von der Hand zu weisen ist, dass sich im genannten Textbereich redaktionelle Bearbeitungen im Geistes des Deuteronomiums finden. Der Deuteronomismus, der sich, obwohl in sich vielfältig, entwicklungsgeschichtlich von der Sprach- und Gedankenwelt des Deuteronomiums herleitet, hat nicht nur in den Geschichtsbüchern Josua bis 2. Kön, im Buch Jeremia und in beinahe allen anderen Prophetenbüchern sowie im Psalter und im Tetrateuch seine charakteristischen Spuren hinterlassen, er hat auch auf die biblische Endgestalt des Deuteronomiums insofern eingewirkt, als er für Teile desselben sowie für seine Rahmung etc. verantwortlich zeichnet. Wie die deuteronomische Grundschicht genau von ihren deuteronomistischen Bearbeitungen, Ergänzungen und redaktionellen Einordnungen in größere Textzusammenhänge zu unterscheiden ist, muss im Detail ebenso unerörtert bleiben wie die alte, immer noch offene Streitfrage, ob es sich beim deuteronomischen Textbestand um ein in seinen Grundsätzen der josianischen Kultreform der ausgehenden Königszeit angehörendes Dokument oder um ein programmatisches Zeugnis der Restitution Israels für die Zeit nach dem Exil handelt. Die historisch-kritische Beurteilung des Berichts in 2 Kön 22– 23, die nach wie vor different ausfällt, gehört in diesen Zusammenhang. Wie immer der Grundbestand des deuteronomischen Gesetzes in Dtn 12–26 und sein Bezug zur Zentralisation des offiziellen Jahwekultes in Jerusalem unter Josia zu

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bestimmen ist, im vorliegenden Erzählzusammenhang stellt das zum ursprünglichen Gottesgesetz gestaltete Deuteronomium jene Rechtssatzung dar, die Mose den Israeliten im Ostjordanland unmittelbar vor dem Zug durch den Jordan verkündet hat. Dabei schärfen die Rahmenkapitel, die in mehreren Phasen entstanden sein dürften, wiederholt und mit Nachdruck ein, dass dem Gesetz, das im vorliegenden Textzusammenhang als Entfaltung des Dekalogs verstanden werden will, in dem es seine innere Mitte und sein organisatorisches Prinzip findet, wegen des Bundes Gottes mit seinem Volk unbedingt und in allen Dingen zu gehorchen sei. Liest man das Gesetzeskorpus unter den Vorzeichen, die durch Dtn 7 und insbesondere durch Dtn 6,4f. gesetzt sind, dann gibt es sich als komprimierte Zusammenfassung dessen zu erkennen, was es in den jeweiligen Lebenssituationen heißt, Gott um der Gunst seines Bundes und der Gnade seiner Bundestreue willen von ganzem Herzen zu lieben und den Nächsten wie sich selbst. Markiert das Doppelgebot der Liebe den SkoDer Dekalog als Inbegriff der pus des Deuteronomiums, insofern der Dekalog Tora zumindest für die kanonische Endgestalt des deuteronomischen Gesetzes das Prinzip seiner Strukturierung und Ordnung darstellt, so lässt sich auch der neben Dtn 5,6–21 zweiten Fassung, in welcher die sog. Zehn Gebote in Ex 20,2–17 begegnen, eine Schlüsselstellung für die alttestamentliche Tora zuweisen. Wie sich die beiden Dekalogfassungen von Ex 20 und Dtn 5 unterscheiden und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, kann offen bleiben. Gibt es im Alten Testament auch keinen einheitlichen Normtext des Dekalogs, so kann dieser doch als Inbegriff des offenbaren Willens Gottes an sein Volk gelten. Dies ist dem religiösen Bewusstsein Israels im Kontext deuteronomistischer Theologie immer deutlicher geworden, so dass schließlich die Zehn Gebote zum Zentrum der Tora und zum bündigsten Ausdruck des Bundesverhältnisses zwischen Gott und seinem Volk erklärt werden konnten. In Form eines Grundgesetzes hat man den Dekalog nicht nur dem deuteronomischen Gesetz, sondern auch dem Bundesbuch (Ex 20,22–23,33) vorangestellt. Dies hatte zur Folge, dass in der Komposition des Pentateuch die Menge der alttestamentlichen Gesetze in einem von Ex 19 bis Num 10 ausgedehnten Zusammenhang mit dem Dekalog stehen, mit welchem neben dem Bundesbuch die Heiligtums-, Priester- und Opfergesetze der Priesterschrift, die Gebotsreihen in Ex 34 sowie das Heiligkeitsgesetz von Lev 17–26 nach und nach in Verbindung gebracht wurden, um unter dem Gesichtspunkt des Bundes zwischen Gott und Israel als Jahwes Tora gelesen zu werden. Ihrem originären Gehalt nach dürften die Zehn Gebote aus prophetischen Quellen geschöpft sein. Im Zuge der religionsgeschichtlichen Entwicklung wurden prophetische Mahnreden sodann in autoritatives Gottesgesetz transformiert. Ein vergleichbarer, wenngleich im Einzelnen anders gelagerter Transformationsprozess lässt sich am Bundesbuch als der ältesten israelitischen Rechtssammlung studieren, deren Kern aus kasuistischen, am Ortsgericht beheimateten Rechtssätzen (vgl. Ex 21,1–22,16) besteht, die im Zuge der Entwicklung fortschreitend theologisiert und zur Tora Gottes umgestaltet wurden.

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Bei den Gesetzen des Bundesbuches handelt es sich ursprünglich um anfangs mündlich tradierte, dann auch schriftlich kodifizierte Regeln, die neben den Ordnungen der Natur insbesondere das menschliche Zusammenleben betreffen, welches durch sanktionsbewehrtes Recht zu strukturieren ist. Assoziationen an Weisheitsliteratur liegen ebenso nahe wie Reminiszenzen an altorientalische Gesetzestexte außerhalb Israels. Doch während diese kaum je eine kritische Distanz zum jeweiligen Herrschaftssystem aufbauten, entzog sich die alttestamentliche Rechtstradition fortschreitend dem Zugriff weltlicher Verfügungsmacht. Für den Prozess der Theologisierung des Gesetzes, wie er sich im Bundesbuch im Kontext von Kultordnung und Sakralrecht beobachten lässt, ist insbesondere der Verlust der staatlichen Existenz Israels und Judas entscheidend geworden. Im Zuge theologischer Reflexion der Katastrophenereignisse von 722 und 587 v.Chr. emanzipierte sich das Gesetz Israels von seinen herkömmlichen Grundlagen, bis sich der Theologisierungsprozess durch protologische Rückführung des Gesetzes auf die ideale Ursprungssituation des Volkes unter Mose vollendete. Das Gottesgesetz der Tora wurde zusammen mit dem Monotheismus, an dem seine Stellung hängt, zum religiösen Kennzeichen Israels als des Volkes Gottes.

2. Die Mosaische Unterscheidung: Prolegomena zur Geschichte Israels

Lit.: J. Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München/Wien 1998. – Ders., Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München/ Wien 2003. – F.W. Graf, Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze, München 2006. – A. Hilhorst/G.H. van Kooten (Hg.), The Wisdom of Egypt. Jewish, Early Christian, and Gnostic Essays in Honour of G. P. Luttikhuizen, Leiden/Boston 2005. – A. Kuenen, Volksreligion und Weltreligion. Fünf Hibbert-Vorlesungen, Berlin 1883. – R.G. Kratz, Art. Wellhausen, Julius, in: TRE 35, 527–536. – E. Otto (Hg.), Mose. Ägypten und das Alte Testament, Stuttgart 2000. – L. Perlitt, Vatke und Wellhausen. Geschichtsphilosophische Voraussetzungen und historiographische Motive für die Darstellung der Religion und Geschichte Israels durch Wilhelm Vatke und Julius Wellhausen, Berlin 1965. – R. Smend, Bibel und Wissenschaft. Historische Aufsätze, Tübingen 2004. – J. Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 61905.

Die Stadt Göttingen ist, wie wir spätestens seit Wellhausens ursprüngliche Heinrich Heines „Harzreise“ (1826) wissen, „be- Einsicht rühmt durch ihre Würste und Universität“. „Der vorbeifließende Bach“, so Heine weiter, „heißt ‚die Leine‘ und dient des Sommers zum Baden“. Von dieser Möglichkeit machte Julius Wellhausen (1844–1918) reichlichen Gebrauch, als er an der Georgia Augusta lehrte, der letzten Stätte seines akademischen Wirkens. Wellhausen war ein großer Schwimmer vor dem Herrn; er liebte das Bad, zwar nicht in der Menge, wohl aber in freien Gewässern wie eben in jener Göttinger Leine, von der zu Beginn der „Harzreise“ spöttisch gesagt wird, sie sei „an einigen Orten so breit, dass Lüder“ – ein zu seiner Zeit als Sportsmann bekannter Göttinger Student – „wirklich einen großen Anlauf nehmen musste, als er hinübersprang“. Was den gelehrten Wellhausen anbelangt, so behaupteten böse Zungen, er sei „vorzugsweise am Sonntagvormittag zum Schwimmen gegangen und habe es so eingerichtet, dass er auf dem Rückweg, das Badezeug über der Schulter, den frommen Göttingern auf ihrem Weg in die Kirche begegnete“ (Smend, 144). Dabei handelt es sich zwar um ein Gerücht, das freilich zeigt, „wie man von Wellhausens Verhältnis zur Kirche dachte und wie es nicht zum geringsten Teil auch gewesen ist“ (ebd.). Zur kritischen Distanz zwischen dem Wissenschaftler und seiner Kirche trug insbesondere die Tatsache bei, dass Wellhausen die traditionelle Lesart des Alten Testaments in grundstürzender Weise revolutionierte. „In des Alten Bundes

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Schriften / merke an der ersten Stell / Mose, Josua und Richter / Ruth und zwei von Samuel ...“ Das Sammelwerk der hebräischen Bibel, das die Christen das Alte Testament nennen, hebt an mit dem Gefüge der fünf Bücher Mose, dem Pentateuch: Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium. Dem an der kanonischen Abfolge der alttestamentlichen Bücher orientierten Leser stellt sich die biblische Geschichte als ein Entwicklungsverlauf dar, der – mit der Urgeschichte beginnend – über die Geschichte der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob durch Vermittlung Josephs nach Ägypten führt, aus dessen Knechtschaft das Volk durch Mose herausgeführt wird, um auf seinem Exodusweg die Tora zu erhalten, welche im Gelobten Land nach erfolgter Besitznahme das Leben des Volkes vor seinem Gott, der nicht nur einer allein, sondern der alleinige ist, für alle Zeiten verbindlich ordnen sollte. Kurzum: Nach kanonischer Maßgabe ist das Alte Israel „eine durch Mose begründete Theokratie oder Hierokratie, bestehend aus zwölf Stämmen, mit einem einzigen Heiligtum, dessen Personal und Bedienung aufs genaueste durch ein umfangreiches Gesetz geregelt war, das nach Mose die Propheten interpretierten und dessen Befolgung oder Nichtbefolgung die ganze Geschichte des Volkes bestimmt hat“ (Smend, 132). Dieser traditionellen und kirchlichen Sicht der Dinge bereitete Wellhausen ein wissenschaftliches Ende, indem er das Bild, welches die biblische Geschichte vom Alten Israel zeichnete, als unhistorisch erwies. Das mosaische Gesetz, wie es sich in der später so genannten Priesterschrift des Pentateuchs am reinsten ausgeprägt hat, gehört historisch nicht an den Anfang der Geschichte des Alten Israel, „sondern, ein halbes Jahrtausend später, an den Anfang der Geschichte des nachexilischen Judentums, der Gemeinde des zweiten Tempels“ (Smend, 133). Die Ordnung der Tora, welche das Leben des Volkes vor Gott genauestens regelte, ist im Wesentlichen keine mosaische Einrichtung der vordavidischen und königlichen Ära, sondern eine ins hebräische Altertum lediglich zurückprojizierte Institution aus sehr viel späterer Zeit, als Israel aufgehört hatte, ein eigenständiges Gemeinwesen zu sein und fremden Mächten untertan war. Die Tora gehört recht eigentlich nicht Israel, sondern dem Judentum an, das sich durch die historisch unzutreffende Verbindung des Gesetzes mit der gründenden Urzeit seines Volkes die geschichtliche Basis religiösen Überlebens und geistlicher Identität unter heidnischer Fremdherrschaft schuf. Ausgearbeitet hat Wellhausen seine von einzelnen Forschern vorbereitete Auffassung in drei zusammengehörigen Hauptwerken, die den wesentlichen Ertrag seiner alttestamentlichen Forschungen dokumentieren. 1. „Die Composition des Hexateuchs“, also der fünf Bücher Mose samt dem Josuabuch, von 1876/77, später komplettiert durch eine Analyse der Bücher Richter, Samuel und Könige. 2. „Geschichte Israels. In zwei Bänden. Erster Band“ von 1878, seit der zweiten Ausgabe von 1883 unter dem Titel „Prolegomena zur Geschichte Israels“ erschienen, und 3. „Israelitische und jüdische Geschichte“, Erstauflage 1894. „Die Composition legt den quellenkritischen Grund, die Prolegomena ziehen die überlieferungs- und religionsgeschichtlichen Konsequenzen, die Israelitische und jüdische Geschichte zeich-

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net auf der Grundlage der so rekonstruierten Überlieferungs- und Religionsgeschichte den Verlauf der Geschichte Israels im historischen Zusammenhang nach, von den Anfängen unter Mose bis zum zweiten jüdischen Aufstand unter Bar Kochba. Die überragende Bedeutung der Trilogie liegt darin, dass sie aus einer gut 100 Jahre währenden historisch-kritischen Beschäftigung mit der Bibel die Summe zog und der Forschung zugleich eine neue Richtung gab.“ (Kratz, 529) Der traditionellen Sicht der Dinge war damit der Abschied gegeben. Wellhausen, religiös keineswegs unmusikalisch, sondern durchaus fromm, empfand die Spannung zwischen wissenschaftlicher Freiheit und kirchlicher Bindung mehr und mehr als bedrückend. Er war daher erleichtert, als seinem Gesuch um Versetzung von der theologischen an die philosophische Fakultät stattgegeben wurde. Als 38-Jähriger wechselte er von Greifswald, wo er zehn Jahre als Alttestamentler mehr geforscht als gelehrt hatte, auf eine außerordentliche Professur für semitische Philologie nach Halle, um von dort über Marburg an die Leine zu gelangen, an deren östlichem Gestade die Georgia Augusta liegt. Von des Gelehrten Entschluss, nach Göttingen zu wechseln, ist folgende Episode überliefert: „Wellhausen wollte zunächst in Marburg bleiben, doch schließlich ließ er sich umstimmen. Den Ausschlag dafür soll ... ein Artikel in einer hannoverschen Kirchenzeitung gegeben haben, in dem es hieß, wenn Professor Wellhausen nach Göttingen komme, dann werde das Wort wahr: eine wilde Sau im Weinberg des Herrn. Darauf habe er den Ruf sogleich angenommen.“ (Smend, 148) Lediglich nebenbei sei vermerkt, dass sich Wellhausen nicht nur mit Arbeiten zum Alten, sondern auch mit Forschungen zum Neuen Testament und zur Arabistik einen bleibenden Namen gemacht hat. Er war ein Bahnbrecher nicht nur in einer, sondern in drei Disziplinen, der neben der Welt des vorjüdischen Israel auch die Welten des vorislamischen Arabien und des, wenn man so will, vorkirchlichen Evangeliums erschloss. Bereits gegen Ende der Greifswalder Zeit beschäftigte er sich mit arabischen Handschriften, wobei sein Interesse damals und später vor allem der Religionsgeschichte des vor- und frühislamischen Arabertums galt. Genannt seien als Ergebnis der Forschungen lediglich folgende Titel: Muhammed in Medina (1882), Reste arabischen Heidentumes (1887), Prolegomena zur ältesten Geschichte des Islams (1899), Das arabische Reich und sein Sturz (1902). Als Neutestamentler hinwiederum hat sich Wellhausen insbesondere in den letzten Göttinger Jahren betätigt. Spezielles Thema sind die Synoptiker, aber auch das Johannesevangelium und die Apostelgeschichte. Lautete die Grunddevise des Alttestamentlers Wellhausen „Judentum und altes Israel in ihrem Gegensatze“ (Smend, 150), so ist für seine neutestamentlichen Ergebnisse die Differenz zwischen dem historischen Jesus, der dem Judentum zugehört, und dem nachösterlichen Christentum und seinem österlichen Kerygma vom auferstandenen Gekreuzigten bestimmend. „Was im Neuen Testament der Tod Jesu, das ist im Alten das Exil, und was im Neuen Testament die Auferstehung ins christliche Evangelium, das ist im Alten die Wiederbelebung Israels in der Heilsgeschichte und im jüdischen Gesetz.“ (Kratz, 532)

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Bevor auf diese – nicht zuletzt in systematischer Hinsicht – höchst anregende These näher einzugehen ist, die auf eine Art von Entsprechungsverhältnis zwischen vorexilischem Israel und nachexilischem Judentum einerseits sowie vorösterlichem Jesus und nachösterlichem Christus andererseits hindeutet, seien Genese und Inhalt von Wellhausens Grundannahmen zum Alten Testament und zur israelitischen und jüdischen Geschichte etwas eingehender charakterisiert. Ich wähle als primären Referenztext die „Prolegomena“, mit denen Wellhausen in der alttestamentlichen Wissenschaft Epoche machte. In ihrer kritischen Wirkung wurden sie gelegentlich mit dem „Leben Jesu“ von David Friedrich Strauß verglichen. Das entscheidende Problem des Buches ist nach Angabe seines Autors „die geschichtliche Stellung des mosaischen Gesetzes. Und zwar handelt es sich darum, ob dasselbe der Ausgangspunkt sei für die Geschichte des alten Israel oder für die Geschichte des Judentums, d.h. der Religionsgemeinde, welche das von Assyrern und Chaldäern vernichtete Volk überlebte.“ (Wellhausen, 1) Während die Bücher des Alten Testaments inhaltlich in der Hauptsache von der vorexilischen Geschichte des Volkes Israel handeln, stammen sie nach Wellhausens historischem Urteil in großen Teilen erst aus der nachexilischen Periode. Das gilt auch und vor allem für die Gesetzesteile. Zwar ist die Tora beträchtlich früher kanonisiert worden als die Propheten und die sonstigen Schriften. Doch lasse sich von der Stufenfolge der Kanonisierung nicht auf das Alter der kanonisierten Schriften rückschließen. Denn anders als bei der Tora, deren gesetzlicher Charakter ihre Kanonisierung förmlich erzwungen habe, sei bei den prophetischen und sonstigen Texten der Zeitraum zwischen historischer Entstehung und kanonischer Sanktionierung durchaus lang gewesen. Im Gegensatz zu der Annahme, dass das mosaische Gesetz im vorexilischen Israel entstanden und dann erst viele Jahrhunderte später zu kanonischer Geltung gelangt sei, vertritt Wellhausen die Auffassung, „daß das Gesetz des Judentums auch das Erzeugnis des Judentums sei“ (Wellhausen, 3). Entscheidend beeinflusst wurde diese Auffassung durch Karl Heinrich Grafs (1815–1869) Werk „Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments, zwei historisch-kritische Untersuchungen“ (1866), in dem dieser den nachdeuteronomischen Ursprung der heute Priesterschrift genannten Grundschrift des Pentateuchs nachwies und das vorexilische Israel ohne das Buch der Tora verstanden wissen wollte. Graf hinwiederum war zu seiner These durch seinen Straßburger Lehrer Eduard Reuss (1804–1891) angeregt worden, der bereits 1834 in einer Vorlesung die Posteriorität von P, der sog. Priesterschrift des Pentateuchs, gegenüber den Propheten behauptet hatte. Zu einem entsprechenden Resultat war unabhängig von Reuss auch Johann Karl Wilhelm Vatke (1806–1882) gelangt, dessen Verhältnis zu Wellhausen besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. In seiner „Biblischen Theologie“ (Bd. I, 1835) hatte Vatke die erste historisch-kritische Darstellung der alttestamentlichen Theologie versucht und sich dabei in der Überzeugung, dass der historische Verlauf der Geschichte der Religion der Entwicklung ihres Begriffs Lex post prophetas

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nicht widersprechen dürfe, der systematischen Mittel der Hegel’schen Geschichtsphilosophie bedient. Neben anderweitiger Kritik zog er sich infolgedessen den Vorwurf zu, das Historische zu einer bloßen Illustration des Begrifflichen herabgesetzt zu haben. Vorhaltungen dieser Art finden sich auch bei Wellhausen, dem eine spekulative Behandlung der Geschichte eher suspekt war. Doch blieb von der Kritik an den philosophischen Prämissen Vatkes dessen literarkritische These „lex post prophetas“ unberührt. Sie wird, wie L. Perlitt im Einzelnen nachgewiesen hat, Vatke von Wellhausen als hervorragendes wissenschaftliches Verdienst angerechnet, wenngleich sich ihre Wahrheit erst im Anschluss an Graf und unter Beihilfe des Leidener Exegeten Abraham Kuenen (1828–1891) durchgesetzt habe. Was Kuenen betrifft, so teilte er mit Wellhausen nicht nur die Reuss-Graf ’sche Hypothese, sondern wirkte auf ihn auch in geschichtskonzeptioneller Hinsicht viel stärker ein als Vatke. Während für Vatke das Exil lediglich ein Entwicklungsmoment in der Geschichte Israels bezeichnet, welches deren Kontinuität nicht wesentlich tangiert, ist für Wellhausen mit der Zerstörung des Tempels und dem staatlichen Zusammenbruch eine einschneidende Zäsur gesetzt, die eine bis an die Wurzeln gehende Metamorphose Israels und den allmählichen Übergang von der israelitischen Volksreligion zur jüdischen Weltreligion zur Folge hatte. Diese Perspektive konvergiert gerade unter letzterem Aspekt mit dem Gesichtspunkt, den Kuenen in seinen 1883 in deutscher Übersetzung erschienenen fünf Hibbert-Vorlesungen unter dem Titel „Volksreligion und Weltreligion“ breit entfaltet hat. Ist das Wesen der israelitischen Religion in vorexilischer Zeit durch den Partikularismus nationaler und landgebundener Gottesverehrung bestimmt, dergemäß Jahwe „der natürliche Verteidiger, Helfer und Retter des Volkes“ (Kuenen, 114) ist, so weitet sich seine Zuständigkeit in exilischer und nachexilischer Zeit ins Universale aus. Aus der Auffassung der Propheten, die Jahwe seit alters einen sittlichen Charakter beigelegt hatten, geht ein ethischer Monotheismus hervor, der die Einzigkeit Gottes und die Allgemeinverbindlichkeit seines Gebotes bekennt. Wenngleich der Judaismus, wie er im priesterlichen Gesetz aufgerichtet wurde und im Pharisäismus zur exemplarischen Realisierung seines Begriffs kam (Kuenen, 215: „Der Pharisäismus ist einfach der Judaismus selbst, nichts weiter.“), die Religion Israels nach Kuenen erneut in einen Partikularismus hineintrieb und dessen Exklusivität ins Maßlose steigerte, so war mit dem ethischen Monotheismus doch der Grund gelegt für jene endgültige Transformation einer Volksreligion in eine Weltreligion, wie sie das Christentum im Anschluss an das Judentum schließlich vollzog. Wer Wellhausens „Israelitische und jüdische Geschichte“ und das entsprechende Schlusskapitel über „Das Evangelium“ liest, wird merken, dass dessen Sicht von der Kuenen’schen so weit nicht entfernt ist. Auch nach Wellhausens Urteil vollzog sich die Wende von einer polytheistischen Nomadenreligion sowie einer am Land und seiner politischen Verfassung orientierten partikularen Volksreligion zu einer ethisch-monotheistischen Universalreligion in der Umbruchszeit des Exils und unter Einfluss der Propheten, die bereits in vorexilischer Zeit die Gerechtigkeit Gottes verkündet hatten, der sein Volk trotz, ja gerade wegen dessen auserwählter

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Stellung bestraft, wenn es sich gegen ihn und sein Gebot wendet. Zwar sei das nachexilische Judentum fortschreitend in den Zustand einer frommen Gemeinde mit Ausschließlichkeitsanspruch regrediert, doch ein verheißungsvoller Anfang sei mit Prophetie und universalistischer Exilstheologie gemacht. Darauf wird zurückzukommen sein. Zuvor jedoch ist noch kurz des Mentors aller bisher genannten alttestamentlichen Forscher zu gedenken, nämlich Martin Leberecht de Wettes (1780–1849), dessen „Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament“ von 1806/7 die historische Kritik auf diesem Gebiete eröffnet hatten. Während de Wettes Position schwankend blieb, rechnen Vatke, Reuss, Graf und Kuenen damit, dass das Gesetz nicht Ausgangspunkt für die Geschichte des alten Israels, sondern des Judentums gewesen sei. Dieser Auffassung schloss sich Julius Wellhausen an. Der Mosaismus sei ein Produkt des nachexilischen Judentums, wohingegen das hebräische Altertum hierokratische Neigungen nicht gekannt habe. Literargeschichtlich bestätige sich dies daran, dass der Priesterkodex des Pentateuch sowie dessen Kanonisierung der nachexilischen Judenheit zuzuweisen sei: „Da haben wir das Buch als Grundlage des geistigen Lebens, ‚die Leute der Schrift‘ wie Koran sagt; da haben wir das Heiligtum, die Priester und Leviten, im Mittelpunkt und das Volk als Gemeinde darumgelagert, da haben wir den Kultus, die Brand- und Sündopfer, die Reinigungen und Enthaltungen, die Feste und Sabbate genau nach der Vorschrift des Gesetzes, als die Hauptsache des Daseins. Man nehme die Gemeinde des zweiten Tempels und vergleiche sie mit dem alten Volke Israel, so hat man auch den Abstand dieses letzteren vom sogenannten Mosaismus.“ (Wellhausen, 5f.) Was die literargeschichtliche Basis dieser historischen Annahme anbelangt, so steht an ihrem Anfang die Einsicht, dass der Pentateuch keine literarische Einheit darstellt. Zu dieser Einsicht vermag jeder unbefangene Bibelleser zu gelangen, etwa wenn er bemerkt, dass einige Passagen, wie z.B. die Geschichte von der Gefährdung der Ahnfrau in Gen 12, 20 und 26, mehrfach begegnen. Hinzu kommt, dass Parallelstücke diverse Abwandlungen aufweisen, der Gottesname wechselt, theologische Anschauungen und Sprachwendungen unterschiedlich sind. Die klassische Pentateuchforschung hat aufgrund dieser und anderer Symptome die Existenz mehrerer Quellenschichten in Anschlag gebracht. Nach Wellhausens Auffassung, die er in Studien über die Komposition des Hexateuchs (1876/77) dargelegt hat, lässt sich literarisch grob zwischen einem jehovistischen Geschichtsbuch, dem eine Elohim- und eine Jahwequelle zugrunde liegen, dem Deuteronomium und dem Priesterkodex unterscheiden: Während der Jehovist gar kein mosaisches Gesetz, sondern ein einfaches Geschichtsbuch sein will, dem freilich das sog. legislative Element nicht ganz fehlt, vermittelt das Deuteronomium zwischen Jehovist und Priesterschrift, wobei P der nachexilischen Periode zuzuweisen ist, wohingegen das jehovistische Werk seinem Grundstock nach vor die assyrische Periode fällt und das Deuteronomium an deren Schluss. Diese literargeschichtliche Sicht ist durch den weiteren Fortgang der Forschung vielfach differenziert und in nicht unwesentlichen Teilen auch revidiert worden.

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Dennoch führte der Forschungsprozess, der sich in immer mehr Facetten verbreiterte und heute in ein Stadium kaum steigerungsfähiger Unübersichtlichkeit, um nicht zu sagen: Konfusion eingetreten ist, zu keiner prinzipiellen Falsifikation der Wellhausen’schen Grundthese, derzufolge das mosaische Gesetz nicht den Ausgangspunkt der Geschichte des Alten Israel, sondern der Geschichte des nachexilischen Judentums bezeichnet. Systematisch interessanter als Debatten von Detailfragen traditions- und literargeschichtlicher Art, wie sie den aktuellen alttestamentlichen Wissenschaftsdiskurs weithin bestimmen, dürfte daher eine konsequente Konzentration auf diese, in ihrer Art bis heute alternativlose These sowie auf das Problem sein, warum sich der nach wie vor mit der mosaischen Torareligion assoziierte Monotheismus in Anknüpfung an prophetische Traditionen erst seit dem Exil voll ausgebildet hat. Dass genau dies der Fall und der Glaube an Jahwe als den einzigen Gott erst in exilischer und nachexilischer Zeit sicher bezeugt ist, wird trotz aller sonstigen Kontroversen nachgerade von der jüngeren Forschung zum Alten Testament bestätigt. Der Monotheismus Israels ist, kurz gesagt, die konstruktive Folge der Krise des Exils, dessen historische Zäsur zugleich bestimmend ist für das, was man die Mosaische Unterscheidung nennen kann. Mit dem Königtum tritt Israel ins Licht der Geschichte und erscheint als eine in groben Konturen identifizierbare Einheitsgröße, die es in vorstaatlicher Zeit weder in politischer noch in religiöser Hinsicht war. Zu jenem religiös geeinten Gemeinwesen, als das es die redaktionell zusammengefügten Großerzählungen des Alten Testaments in Bezug auf die vorstaatliche Frühzeit idealtypisch vorstellig machen, wird es hingegen erst nach dem Exil, als Königtum und staatliche Existenz mitsamt dem Tempel untergegangen waren. Gerade in religionsgeschichtlich-theologischer Hinsicht kann die Bedeutung der Exilswende kaum überschätzt werden. Es bedurfte einer grundstürzenden Krise der nationalen Kultreligion des Alten Israels, damit der Jahweglaube sich über die Grenzen Palästinas hinaus zu jenem universalen Monotheismus ausbildete, der die Einsicht in die Welttranszendenz des einen Gottes, der über alle Dinge zu fürchten und zu lieben ist, mit der Gewissheit dessen verband, was in der Welt gegenüber dem Mitmenschen und aller Kreatur der göttlichen Weisung gemäß zu tun und zu lassen geboten ist. Gottes- und Nächstenliebe sind nicht voneinander zu trennen, sondern bilden einen Zusammenhang. So bekundet es die Tora als das Gesetz, das Gott seinem Volk gegeben hat. Es wurzelt in Grundbeständen zweifellos in der Zeit vor dem Exil und hat unter den vorexilischen Propheten seit Amos vollmächtige Zeugen gefunden. Doch ist es erst nach dem Exil in der Judenheit der persischen und hellenistischen Epoche zu jener umfassenden Bedeutung gelangt, die dazu berechtigt, die Religion Israels mit Ewald und Wellhausen einen ethischen Monotheismus zu nennen. Davon wird unter Berücksichtigung historischer und religionsgeschichtlicher Details noch zu handeln sein. Zuvor jedoch ist in eine aktuelle Debatte einzutreten, die zwar thematisch anders gelagert, mit dem skizzierten Zusammenhang aber dennoch sachlich aufs Engste verbunden ist. Nach Jan Assmann, auf den die gegenwärtig übliche Rede von der „Mosaischen

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Unterscheidung“ zurückgeht, ist die Differenz zwischen dem Gottesvolk Israel, dem am Sinai das göttliche Gesetz gegeben ist, und den gesetzeslosen Heiden, die allerlei Götter angehören, paradigmatisch für eine Scheidung, die mehr Unglück als Glück über die Menschheit gebracht hat. Begründet und entfaltet hat Assmann diese Annahme in seiner Studie „Moses the Egyptian“ (1997), deren von der englischen Originalversion nicht unwesentlich abweichende deutsche Fassung im Jahr 1998 erschienen ist. „Moses“, so die Ausgangsthese, „ist eine Figur der Erinnerung, aber nicht der Geschichte“ (Assmann, Moses der Ägypter, 18). Mögen mit ihr Restbestände historischen Gedächtnisses ebenso verbunden sein wie mit dem Auszug aus Ägypten: „Der Exodus ist eine symbolische Geschichte, das Gesetz ist eine symbolische Rechtsordnung, und Moses ist eine symbolische Gestalt.“ (Assmann, Moses der Ägypter, 21) Exodus, Gesetz und Moses stehen für eine Elementarunterscheidung, die im religiösen Antagonismus von Israel und Ägypten ihr urtümliches Symbol gefunden hat. Israel und Ägypten sind, obwohl geographisch benachbarte Länder der östlichen Mittelmeerwelt, religions- und mentalitätsgeschichtlich „zwei entgegengesetzte Welten“ (Assmann, Moses der Ägypter, 24), wobei Israel seiner Binnenperspektive gemäß die helle und reine Wahrheit, Ägypten dagegen Fremdheit, heidnische Finsternis und Lüge repräsentiert. Für Israels Identität und Selbstverständnis ist daher der Auszug aus Ägypten grundlegend. Nicht umsonst fungiert der Exodus als Ursprungserzählung Israels. Israel muss Ägypten hinter sich lassen, um zu sich selbst zu gelangen. Dabei ist die Frage zweitrangig, ob bzw. inwieweit dem Exodusgeschehen eine historische Realität korrespondiert. Gedächtnisgeschichtlich jedenfalls hat das Exodusereignis enorme Wirkung erzielt, mag auch der historische Anlass, der das Gedächtnis gestiftet hat, als eher gering zu veranschlagen sein. Die Relevanz, die dem Exodusereignis zukommt, liegt weniger in einer fernen Vergangenheit begründet als vielmehr in dem fortschreitenden Prozess stetiger Vergegenwärtigung, die eine Gedächtnisgeschichte von eigener Bedeutung zur Folge hat. Wie immer es sich mit dem historischen Moses verhalten haben mag: Mnemohistorisch und dem biblischen Mosesbild entsprechend geurteilt ist er der Befreier aus Ägypten, der wie niemand sonst die Unterscheidung zwischen Rechtgläubigkeit auf der einen Seite und Despotie, Hybris, Zauberei, Tierverehrung und Idolatrie auf der anderen – ägyptischen – Seite personifiziert. Was die Mose betreffende Ausgangsthese Assmanns angeht, so wird sie von der historisch-kritisch arbeitenden alttestamentlichen Wissenschaft im Wesentlichen bestätigt. Die Differenz zwischen dem biblischen Mosebild und der hypothetischen Gestalt eines historisch rekonstruierbaren Mose könnte größer kaum sein. Über den historischen Mose wissen wir so gut wie nichts. Die Spuren seiner möglichen Existenz verlieren sich im Dunkel der Vorgeschichte Israels. Als Autor des Pentateuchs kommt er historisch ebenso wenig in Frage wie als individueller Stifter der Religion Israels. Seine Persönlichkeit ist historisch nicht fassbar, ein Leben Mose zu schreiben wissenschaftlich unmöglich. Schon Martin Noth galt die Notiz Die These Jan Assmanns

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vom unbekannten Mosegrab im transjordanischen Moab (Dtn 34,6) als die einzige wissenschaftlich verifizierbare Aussage über Moses. Mittlerweile hat sich auch die Annahme historischer Verlässlichkeit der Grabnotiz als Irrtum erwiesen. Altägyptische Quellen eröffnen historisch mögliche Assoziationen an Träger des Kurznamens Msj, ohne der biblischen Mosegestalt das Profil historischer Individualität zu geben. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich bei Mose um eine Korporativpersönlichkeit handelt, in der Erinnerungsspuren an semito-ägyptische Führungsgestalten der ramessidischen Zeit zur Einheit zusammengeschmolzen sind, bis die solchermaßen entstandene Mosefigur zum personalen Träger und Fixpunkt unterschiedlicher Traditionsgehalte der Geschichte Israels werden konnte. Geschichtswirksam geworden ist Mose nicht als historische, sondern als literarische Gestalt. Dabei ist für die Moseliteratur der erhebliche Abstand kennzeichnend, der unausdrücklich und ohne spezielle Thematisierung diejenige Zeit, von der erzählt, von derjenigen trennt, in der erzählt wird. Dieser Zeitabstand beträgt rund ein halbes Jahrtausend. Ihren Sitz im Leben haben die literarischen Zeugnisse über Moses in der ausgehenden ersten und vor allem in der zweiten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends; berichtet wird in ihnen über Ereignisse im späten zweiten vorchristlichen Jahrtausend. Diese Methode verfolgt ein Programm: Durch die Mosegeschichte wird Israel die Basis eigener Identität in der Weise gründender Urzeit vorstellig gemacht und die Möglichkeit eröffnet, erfahrene Geschichtskrisen auf religiös produktive Weise zu verarbeiten. So werden, um ein Beispiel zu geben, stillschweigende Analogien hergestellt zwischen der Wüstenzeit Israels außerhalb des verheißenen Kulturlands und der Lage der Exilsgemeinde, die der Rückkehr ins Land der Verheißung harrt. Zugleich bezog Israel aus der Mosegeschichte die Gewissheit, dass Jahwe nicht betroffen ist vom Untergang der staatlichen Existenz seines Volkes, insofern er geschichtlicher Herr der Krisenereignisse bleibt, die er kraft seiner Weisung ins Konstruktive zu wenden vermag. Vielfältig ist das Bild, das die Hebräische Bibel von Mose zeichnet. Weil die Genese von Penta- bzw. Hexateuch und damit die literaturhistorischen Voraussetzungen einer Geschichte des literarischen Mose seit geraumer Zeit notorisch strittig sind, seien lediglich einige typische Aspekte der biblischen Mosegestalt benannt. Wer oder was auch immer er historisch gewesen sein mag: Geschichtswirksam ist Mose als heldenhafter Gottesmann und charismatischer Führer des Volkes geworden, als exemplarischer Priester und paradigmatischer Prophet oder als Prototyp des Schriftgelehrten. Er fungiert als bevorzugter Gesprächspartner Gottes, als gottbeglaubigte Autorität, als authentisches Offenbarungsmedium der in ihrer Geltung unhinterfragbaren Tora sowie als Mittler des Bundes und möglicher Sühne, der selbst den priesterlichen Dienst der Versöhnung übt und die prophetische Aufgabe der Fürbitte für das Volk vor Gott übernimmt. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an wechselnde Situationen sind charakteristisch für die literarische Mosegestalt, die sich im Verlauf ihrer Überlieferungsgeschichte nicht unerheblich wandelte, um in spätvorexilischer Zeit als Antitypus zum neuassyrischen König, in

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spätbabylonischer Zeit als Kristallisationsgestalt judäischer Identität und in persischer Zeit als Vermittler von Recht, Religion und Politik aufzutreten (vgl. Otto, 11ff.). In der Erinnerungsgestalt des Mose verdichten sich diverse Traditionsgehalte der Geschichte Israels zu personaler Einheit. Geschichtswirksam geworden ist dabei, wie gesagt, nicht eine historische Figur, sondern eine Figur kulturellen Gedächtnisses, mit deren Hilfe die kollektive Identität Israels und seiner einzelnen Glieder ausgebildet und religiös gepflegt wurde. Mit der Gestalt des Mose verbindet sich schließlich auch jene Scheidung, die für das religiöse Selbstverständnis Israels von schlechterdings grundlegender Bedeutung war und in der Geschichte vom Exodus aus Ägypten paradigmatischen Ausdruck gefunden hat. Die religiöse Identität Israels ist elementar durch den Gegensatz zu Ägypten bestimmt, dessen Fleischtöpfe der Vergangenheit überlassen zu haben von permanenter Gegenwartsrelevanz ist, weil ohne beständigen Auszug aus ägyptischer Idolatrie und Götzendienerei der Jahweglaube nicht zu realisieren ist. Nun ist allerdings Mose, worauf die zitierte StuMoses der Ägypter, Moses die Jan Assmanns bereits durch ihren Titel hinder Hebräer weist, dem kulturellen Gedächtnis der Menschheit nicht nur als Hebräer gegenwärtig. In seiner Erinnerungsgestalt haben sich ägyptische Spuren erhalten, wobei kein Zweifel besteht, „daß Moses der Hebräer und Moses der Ägypter in keiner Weise ebenbürtig sind“ (Assmann, Moses der Ägypter, 30). Wie der Jude Paulus verkörpert, was Judentum und Christentum gemeinsam ist, jedoch so, dass in seiner Theologie das Judentum zu einem aufgehobenen Moment des Christentums wird, so verkörpert Moses der Ägypter dasjenige, was Israel und Ägypten gemeinsam ist, nur in der Weise dessen, was Israel hinter sich gelassen hat. Das gilt jedenfalls für Mose, wie er im kollektiven Gedächtnis Israels und der Kirche fortlebt. Als Gestalt kultureller Gedächtnisgeschichte von Judentum und Christentum ist Moses als Ägypter nur noch insofern präsent, als Ägypten die Herkunft benennt, welche in der Weise der Konversion verlassen zu haben die Bestimmung Israels ist. Ein, wenn man so will, antitypisches Vorbild findet Moses in der Gestalt des Pharao Amenophis IV., der sich Echnaton nannte. Ist Moses wesentlich eine Gestalt der Erinnerung und weniger der Realgeschichte, so Echnaton eine Figur der Geschichte und nicht der Erinnerung. Historisch steht Echnatons Name für die erste monotheistische Revolution, die nach Assmanns Urteil zugleich die radikalste und gewaltsamste war. Die Erinnerung an eine furchtbare und nicht wieder gutzumachende Versündigung gegenüber der Herkunftsreligion hat sich im kollektiven Bewusstsein Ägyptens mit seiner Person verbunden. Die Erfahrungen von Amarna waren in jeder Hinsicht traumatisch. Die Spuren der verdrängten Erinnerung an die Amarna-Zeit in der ägyptischen Tradition sind vielfältig, aber allesamt negativ besetzt. Ist Echnaton in seinem antipolytheistischen Affekt mit Moses durchaus vergleichbar, so unterscheidet er sich von ihm doch grundlegend dadurch, dass er dem Monotheismus eine konsequent kosmotheistische Gestalt gab. Insofern

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konnte er, so Assmann, als europäische Erinnerungsgestalt zum Initiator dessen werden, was man in der Frühaufklärung „religio naturalis“ nannte. Auch die Mosegestalt wurde in der Aufklärung bis hin zu Friedrich Schiller nicht selten mit einem Kosmotheismus assoziiert und zwar unter Berufung auf Apg 7,22, wo es heißt, Mose sei „in aller Weisheit der Ägypter ausgebildet“ (vgl. Hilhorst/van Kooten, 153ff.) worden. Lediglich der Akkomodation seiner Grundidee an die beschränkte Fassungskraft des Volkes Israel sei es geschuldet, dass er die ägyptische Wahrheit nicht unmittelbar offenbart, sondern in chiffrierter Form an die Öffentlichkeit gebracht habe. Auf diese Weise konnte Moses zum ägyptischen Kosmotheismus rekonvertiert und als früher Spinozist der Geistesgeschichte gehandelt werden, der gleich Echnaton der Devise folgte: Deus sive natura. Mit Jan Assmann zu reden: „Wenn wir auf die verschiedenen Stationen und Versionen der Moses-Ägypten-Debatte zurückblicken, machen wir eine überraschende Entdeckung. Alle, die an dem Kaleidoskop drehten und eine neue Variation des MosesThemas schufen, schrieben einen anderen Text, als sie angeblich schreiben wollten. Alle schrieben über den ägyptischen Kosmotheismus und seine modernen Inkarnationen in Gestalt von Spinozismus, Deismus, Pantheismus, Panentheismus, und alle wurden gelesen und rezipiert als Anhänger und Verkünder dieser ‚natürlichen Theologie‘, auch jene, die sich wie Spencer, Cudworth, Warburton und Jacobi explizit das Gegenteil vorgenommen hatten.“ (Assmann, Moses der Ägypter, 239f.) Bestimmender als Moses der Ägypter ist erinnerungsgeschichtlich zweifellos der hebräische Moses, dem der Kosmotheismus als Welt-Vergötzung und als subtile Gestalt der Idolatrie gilt. „Indem Israel aus Ägypten auszieht, zieht es aus der ‚Welt‘, einer auf äußeres Glück, säkulares Gelingen, ziviles Wohlbehagen, materielle Güter und politische Macht ausgerichteten Kultur aus. Die Idolatrie Ägyptens besteht im letzten Grunde nicht in der Anbetung von Bildern, sondern in einer allzu intensiven Beheimatung in dieser Welt, die schon im Glück und in der natürlichen Evidenz irdischer Erfüllung das Göttliche sieht und daher blind ist für die Wirklichkeit des außerweltlichen, unsichtbaren Gottes. Die Anbetung von Bildern ist lediglich Ausdruck der Verblendung einer Kultur, die ihrer Weltverstricktheit verhaftet bleibt.“ (Assmann, Moses der Ägypter, 246) Gegenüber dem Luxus Ägyptens wird die Wüste als Gegenwelt aufgerichtet, von der her sich der Begriff Israel semantisch ausgestaltet und Ägypten als das schlechthinnig Andere, als das Reich der Finsternis und Sünde in Erscheinung tritt, von dem auszuziehen die Grundbedingungen der eigenen Identität darstellt. „Der Auszug aus Ägypten ist der Gründungsakt einer Religion, die auf Weltbeheimatung verzichtet, um Gott nahe zu sein. Für sie ist der Rückfall in die Weltlichkeit das Nein zu Gott und damit die Sünde, an der sie leidet; für sie ist aber auch der Einzug in die Religion das Nein zur Welt, die darauf mit Haß und Verfolgung reagiert. Auch diese Affekte, die erst Freuds Analyse in ihrer ganzen abgründigen Tragweite ans Licht gebracht hat, bestimmen die Exodus-Erzählung als Gründungsmythos der monotheistischen Religion.“ (Assmann, Moses der Ägypter, 246f.)

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Als Erinnerungsfigur, von der sich Israel abhebt, ist Ägypten der Gründungssemantik des Monotheismus elementar eingeschrieben. „Ägypten ist der Mutterleib, aus dem das auserwählte Volk hervorging, aber die Nabelschnur ist ein für alle Male durch die Mosaische Unterscheidung durchschnitten worden.“ (Assmann, Moses der Ägypter, 247) Zwar hatte bereits der Ägypter Echnaton dem Polytheismus und seinem Bilderkult eine theoklastische Absage erteilt: Tempel wurden geschlossen, die Kulte und insbesondere die Feste eingestellt, die Bilder zerstört, Götternamen in Inschriften getilgt; aber der eine Gott Echnatons, der lebende Aton, bleibt den natürlichen Abläufen der gegebenen Welt elementar verbunden. Er ist ein Weltgott, dem Jenseitigkeit in strengem Sinn ebenso abgeht wie urteilende Gerechtigkeit. Er lässt seine Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte. Als solcher hat er in die Weisheitsliteratur Israels hineingewirkt, wie sich an Psalm 145,15f. sowie an Psalm 104,20ff. zeigen lässt. Echnatons Unterscheidung differenziert zwar zwischen Wahrheit und Unwahrheit. Es ist dies aber in bestimmter Weise eine Unterscheidung, die noch jenseits der Differenz zwischen richtig und falsch, gerecht und ungerecht steht. Insofern liegen zwischen Echnatons und Moses’ Monotheismus Welten. „Gemeinsam ist beiden, daß sie die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit eingeführt und die Unwahrheit in schärfster Weise zum Gegenstand der Ausgrenzung und Verfolgung gemacht haben. Weiterhin ist beiden gemeinsam, daß die Wahrheit in der Anerkennung des einzigen Gottes besteht. Moses’ Gott allerdings hat mit Licht und Zeit nichts zu tun. Hier geht es nicht um Physik. Moses’ Gott gibt sich auch nicht damit zufrieden, daß die Menschen dankbar für Leben, Licht und Zeit ihrer Arbeit nachgehen. Er fordert Liebe ‚mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft‘. Die Worte seines Gesetzes sollen sie sich ins Herz schreiben und ständig darüber reden und nachdenken. Moses’ Gott stiftet eine neue Gesellschaftsordnung und erwählt sich ein Volk, das nach seinen Gesetzen lebt.“ (Assmann, Moses der Ägypter, 268) Echnatons Monotheismus ist kosmotheistischer Natur, „während der biblische Monotheismus den Kosmotheismus verabscheut und ihn zur ausgegrenzten Unwahrheit, ja zur allerschlimmsten Verfehlung erklärt“ (ebd.). Insofern steht der Name des Moses für eine antiägyptische Revolution unter Einschluss des Gegensatzes zur Amarna-Religion des Echnaton. Israel contra Ägypten: Die Identität des hebräischen Monotheismus ist durch den Gegensatz zum ägyptischen Polytheismus und Kosmotheismus bestimmt, von dem das Volk Gottes zu trennen Ziel der Mosaischen Unterscheidung ist. „Aus diesem Grund hat die Bibel ein Bild Ägyptens als ihr eigenes Gegenbild bewahrt. Der zentrale Begriff für diesen Gegensatz heißt Götzendienst oder Idolatrie. Dieser Begriff wird weniger auf der lexematischen Ebene definiert als auf der textlichen Ebene entfaltet, und zwar in Gestalt einer Modellerzählung oder ‚Urszene‘. Die Urszene der Idolatrie ist die Geschichte des Goldenen Kalbes.“ (Assmann, Moses der Ägypter, 269) Idolatrie bedeutet nicht lediglich einen Polytheismus, welcher der Vielheit sinnlicher Bilder verhaftet bleibt, sondern „in letzter Instanz Kosmotheismus“ (ebd.). In diesem Sinne sind Polytheismus und Kosmotheismus dem jüdischen-christli-

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chen Bewusstsein nur mehr als Gegenstände präPolytheismus und Kosmosent, die dem kulturellen Vergessen preisgegeben theismus werden sollen. Allerdings kehrte der Kosmotheismus als das „letzte Reifestadium der verschiedenen polytheistischen Religionen, die in ihm aufgegangen sind“ (Assmann, Moses der Ägypter, 279), sowohl in der Spätantike als auch in der Aufklärungszeit als das ehemals Verdrängte in das öffentliche Bewusstsein zurück. Charakteristisch für die aufgeklärte „religio naturalis“ ist, wie Assmann eigens vermerkt, die Ausblendung der Hamartiologie. In Bezug auf sie trete zugleich der eigentliche Unterschied zwischen Mose und Echnaton in Erscheinung. Während für Echnatons Religion nichts fremder sei als die Semantik der Sünde („Das gilt nicht nur für die Amarna-Religion, sondern für die ägyptische Religion insgesamt. Sünde und Erlösung sind keine ägyptischen Themen.“ [Assmann, Moses der Ägypter, 281]), werde die urteilende Differenzierung zwischen Sündenschuld und Gerechtigkeit kennzeichnend für die mosaische Religion. „Von Ägypten aus betrachtet sieht es so aus, als sei mit der Mosaischen Unterscheidung die Sünde in die Welt gekommen. Vielleicht liegt darin das wichtigste Motiv, die Mosaische Unterscheidung in Frage zu stellen. Unsere Untersuchung hat versucht, den Charakter dieser Sünde aufzudecken. Ihre Namen sind Ägypten, Idolatrie, Kosmotheismus. Wer Gott in Ägypten entdeckt, hebt diese Unterscheidung auf.“ (Assmann, Moses der Ägypter, 282) Anders als der zustimmungswürdigen Ausgangsthese, derzufolge Mose zum geringsten eine historische, sondern im Wesentlichen eine Gestalt kulturellen Gedächtnisses ist, muss der Schlussthese Assmanns, welche die systematische Pointe seiner Studie ausmacht, mit theologischem Widerspruch begegnet werden. Zu diesem Zweck ist noch einmal auf das Verhältnis von Mose und Echnaton zu reflektieren. Nach Assmann handelt es sich bei diesem Verhältnis weder um eine Beziehung der Identität, derzufolge Mose und Echnaton im Grunde ein und dieselbe Person seien, noch um eine solche der Kausalität, wonach Echnaton direkt oder indirekt auf Mose eingewirkt und Eingang in den biblischen Monotheismus gefunden habe. Assmann rechnet vielmehr mit einer „Beziehung der Emergenz, also dass zwei kausal in keiner Weise verbundene Erinnerungsströme im Laufe der Geschichte zusammengeflossen sind und eine Beziehung gestiftet haben“ (Otto, 123). Was Echnaton und Mose gemeinsam ist und was beide in der Erinnerung des kulturellen Gedächtnisses tendenziell verschmelzen ließ, war die Gründung einer ikonoklastischen Gegenreligion, deren strikte Bilderfeindlichkeit in der Verabschiedung naturhafter Vielgötterei zugunsten der alleinigen Verehrung des einzigen Gottes gipfelt, der in seiner Einzigkeit nicht abbildbar, sondern anschauungstranszendent ist. Über dieser Gemeinsamkeit darf freilich die sachliche Differenz von Echnaton und Mose nicht übersehen werden. Der Monotheismus des Mose ist im Unterschied zu demjenigen des Echnaton kein Kosmotheismus, der Gottes Gottheit mit der unsichtbaren Einheit der Welt in der Mannigfaltigkeit ihrer unterschiedlichen Erscheinungen gleichsetzt, sondern Glaube an einen Gott, der dem Inbegriff der natürlichen Welt prinzipiell transzendent ist, weil er nicht lediglich

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die in allen Naturdingen wirksame Einheitskraft, sondern der allmächtige Herr ist, der seine Herrschaft nach der Ordnung der Gerechtigkeit ausübt, die sein Gesetz bestimmt. Dies macht auf seine Weise auch Assmann durch den Hinweis deutlich, dass die Mosaische Unterscheidung im Gegensatz zur ägyptischen Religion – diejenige Echnatons eingeschlossen – auf die Differenz von göttlicher Gerechtigkeit und menschlicher Sündenschuld angelegt ist. Genau das ist tatsächlich der Fall: Kriterium der Mosaischen Unterscheidung ist primär nicht die Differenz von Selbstheit und Andersheit bzw. von Freund und Feind, sondern die konkrete Alternative von gerecht und ungerecht sowie in Zusammenhang damit diejenige von wahr und falsch. Universal ist die Mosaische Unterscheidung dabei insofern, als sie nicht nur Ägypten und die anderen Völker, sondern auch und vor allem das Volk Israel ihrem bestimmenden Kriterium unterstellt. Vom gerechten Gericht Gottes ist das erwählte Volk nicht ausgenommen. Die Gerechtigkeit Gottes ist es denn auch, von der her sich die Politische Theologie der Moseüberlieferung erschließt, der Assmanns besondere Aufmerksamkeit gilt. Dass die Mosaische Unterscheidung nicht in der Differenzierung von Eigenem und Anderem, von Freund und Feind ihre Erfüllung findet, macht die Tatsache evident, dass sie ihre Stärke erst in der Zeit erfolgten staatlichen Untergangs und machtpolitischen Endes Israels erwies. Während Götter und Könige in der altorientalischen Welt eine untrennbare Union bilden mit der Folge, dass die Gottheiten das Schicksal der Königtümer teilen, die sie ätiologisch begründen, schützen und bewahren sollen, um mit ihnen ebenso zu erstehen wie unterzugehen, überdauert Jahwe die Katastrophe seines Volkes nicht nur, sondern erweist sich als ihr geschichtsmächtiges Subjekt, das ein Verständnis der Krise und ihre konstruktive Bewältigung ermöglicht. Auf diesen Sachverhalt wird im Folgeabschnitt Jüdischer Monotheismus und genauer eingegangen werden. Die Leitfrage lauExilskrise Israels tet, warum der von Wellhausen so genannte ethische Monotheismus Israels gerade in der Exilskrise und als konstruktive Antwort auf sie entstanden ist. Im Zuge ihrer Beantwortung wird im Einzelnen zu zeigen sein, welche theologischen Motive in der Religionsgeschichte Israels wirksam waren, um das Gottesvolk den Exodus aus dem Polytheismus antreten und über Monolatrie und Henotheismus zu einem konsequenten Monotheismus mit universalem Geltungsanspruch gelangen zu lassen. Assmann beklagt, dass mit der monotheistischen Ausgrenzung des Polytheismus, der als Götzendienst, Idolatrie und Inbegriff des Heidentums gebrandmarkt werde, die integrative Leistung gegenseitiger Übersetzbarkeit und interkultureller Transformation der Gottheiten verloren gegangen sei, welche als große kulturelle Leistung verbucht zu werden verdiene (vgl. Assmann, Moses der Ägypter, 19). Dieser Verlust trete auf, sobald als Gegenreligion des heidnischen Polytheismus der Monotheismus installiert werde, der es nicht dulde, andere Götter neben dem einen zu haben. Alle anderen Götter neben dem einen Gott werden zu unwahren Göttern und Götzen. Als Inbegriff des religiös Unwahren und Heidnischen galt Israel daher, so Assmann, der ägyptische

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Bildkult, der als furchtbarste Sünde verachtet wurde. Deshalb ist das Gebot, demzufolge man sich kein Bildnis von der Gottheit machen soll, dem ersten Gebot elementar zugeordnet. Letzteres ist zutreffend, doch kein Grund, das Lob des Polytheismus anzustimmen und den Monotheismus für Desintegration und unversöhnlichen Streit verantwortlich zu machen. Zwar ist nicht in Abrede zu stellen, dass der monotheistischen Idee Potentiale der Gewalttätigkeit inhärieren können. Sie werden manifest und realisieren sich, wenn die Einheit des einen Gottes, dem alleinige Verehrung gebührt, dem Vielen der Welt, das im Polytheismus seinen Grund findet, abstrakt entgegengesetzt wird. Die Einheit Gottes bleibt unter dieser Bedingung selbst durch den Gegensatz bestimmt, die Differenz von Einheit und Verschiedenheit unbewältigt. Aufgehoben zu werden vermag sie nur in der Gerechtigkeit desjenigen Gottes, dessen Einheit dem Vielen des Alls gegenüber aufgeschlossen ist dadurch, dass er zwischen Recht und Unrecht zu scheiden und zu richten vermag nach dem Maß einer Gerechtigkeit, welche das arbiträre Belieben der Natur grundsätzlich hinter sich lässt. Es gibt durchaus gute Gründe, nicht zu den Fleischtöpfen Ägyptens zurückzukehren. „Die Mosaische Unterscheidung“, heißt es bei Jan Assmann, „ist kein die Welt ein für allemal veränderndes historisches Ereignis, sondern eine regulative Idee, die ihre weltverändernde Wirkung über Jahrhunderte und Jahrtausende hin in Schüben entfaltet hat.“ (Assmann, Mosaische Unterscheidung, 13) Diese Beobachtung wird unabhängig von der Adäquanz ihrer terminologischen Beschreibung durch den konkreten Verlauf der Religionsgeschichte Israels bestätigt. An ihrem historischem Anfang stand kein ausgebildeter Monotheismus, sondern ein naturreligiös ausgerichteter Polytheismus, den die Stämme der vorstaatlichen Frühzeit mit ihrer Umgebung teilten. Erst allmählich bildet sich in der Zeit staatlicher Konsolidierung eine Monolatrie Jahwes als eines dynastischen Herrschergottes heraus, ohne dass damit bereits definitiver Abschied genommen worden wäre von den „kanaanäischen“ Göttinnen und Göttern in ihrer natürlichen Mächtigkeit, deren „heidnischer“ Verehrung Israel vielfältig verbunden blieb. Mit der Exilskrise erfolgt dann allerdings ein grundlegender Wandel hin zu jenem Jahwemonotheismus, der für das werdende Judentum und seine Weltmission bestimmend werden sollte. Den Kernpunkt dieser Wende, auf welche den Begriff der „Mosaischen Unterscheidung“ anzuwenden historisch am ehesten als gerechtfertigt erscheint, macht nicht allein die Differenz zwischen dem einen Gott und den vielen Göttern aus, auch nicht nur diejenige „zwischen wahr und falsch in der Religion, zwischen dem wahren Gott und den falschen Göttern, der wahren Lehre und den Irrlehren, zwischen Wissen und Unwissenheit, Glaube und Unglaube“ (Assmann, Mosaische Unterscheidung, 12f.). Entscheidend ist vielmehr die Scheidung zwischen natürlichen Schicksalsmächten sowie schierem Herrschaftswillen einerseits, für welche die überkommenen Gottheiten einstehen, und der Gerechtigkeit Jahwes andererseits, der nach Maßgabe seines göttlichen Gebots nicht nur die Völker, sondern auch sein erwähltes Eigentumsvolk richtet, um die Allgemeinverbindlichkeit und

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universale Geltung seiner Tora unter Beweis zu stellen. Das Kriterium, nach dem die Mosaische Unterscheidung getroffen wird, ist weder natürliche Macht noch herrschaftliche Stärke, sondern das Gesetz, nach dessen Grundsätzen über Recht und Unrecht geurteilt wird in einer Weise, die dem Volk Gottes nicht äußerlich bleibt, sondern die es im Innersten betrifft. Die Mosaische Unterscheidung geht, wenn man so will, mitten durch Israel hindurch. Sie ist reflexiver Natur und lässt sich durch einfache Gegensätze nicht fassen. Israel muss von sich selbst und seiner natürlichen Herkunftsgeschichte unterschieden, ja zur Selbstunterscheidung befähigt werden, um seiner göttlichen Bestimmung zu entsprechen. In der Unterscheidung zwischen dem in der Exilskatastrophe vergehenden Israel und dem erstehenden Judentum dokumentiert sich dieser religiöse Sachverhalt historisch. Ägyptologisch, also von Ägypten aus betrachtet, mag es so aussehen, als sei mit der Mosaischen Unterscheidung die Sünde allererst in die Welt gekommen. Doch ist diese Annahme ein falscher Schein, der durch den Traum natürlicher Unschuld polytheistischen Heidentums erzeugt wird. Richtig hingegen ist, dass die Mosaische Unterscheidung der Welt einen Begriff göttlicher Gerechtigkeit und entsprechend auch menschlicher Sündenschuld vermittelt hat. Nicht die schiere Faktizität der Sünde, die auch ohne explizites Bewusstsein von ihr Tatsache ist, wohl aber die Erkenntnis der Sünde als Schuld ist mit dem Toramonotheismus an der Exilswende Israels weltgeschichtliches Ereignis geworden. Dabei handelt es sich um eine religiös-zivilisatorische Errungenschaft ersten Ranges, die allenfalls vergleichbar ist mit den Entdeckungen erster Philosophie im antiken Griechenland – mit dem Unterschied freilich, dass Israels nachexilischer Monotheismus weniger aus distanzierter Weltbetrachtung, sondern aus schmerzlicher, das Ureigene betreffender Geschichtserfahrung hervorgegangen ist. Der Monotheismus, welchen das Alte Testament bezeugt, ist wie dieses aus einer elementaren Krise aller denkbaren Formen natürlicher Selbstbehauptung entsprungen und bezieht gerade daraus seine Kraft transzendenter Weltüberlegenheit. Der biblische Monotheismus, darin hat Assmann Recht, ist nicht lediglich gegen den Polytheismus gerichtet, sondern zugleich Antikosmotheismus: „In letzter Instanz bedeutet die Mosaische Unterscheidung die Unterscheidung zwischen Gott und Welt und fundiert damit auch die Unterscheidung zwischen Mensch und Welt.“ (Assmann, Mosaische Unterscheidung, 63) Differenzierte Unterscheidungen dieser Art lassen sich in einfachen Gegensätzen ebenso wenig fassen, wie sie auf unvermittelte Alternativen zwischen dem einen und dem anderen, dem Eigenen und dem Fremden aus sind. Dass solche Alternativen die israelitisch-jüdische Religionsgeschichte realiter vielfach geprägt haben, widerlegt die Annahme nicht, dass ihr entscheidender Bestimmungsgrund über sie hinausweist. Es ist die Erkenntnis der Gerechtigkeit des in seiner Einzigkeit schlechterdings welttranszendenten Gottes, welche Israel über die Beschränktheiten des Eigenen hinausgeführt und den biblischen Glauben über die Antagonismen der Weltmächte erhoben hat. Nicht nur in seiner Gestalt als Politische Theologie ist der Monotheismus israelitisch-jüdischer Überlieferung durch die ethischen Prinzipien von Gerechtigkeit

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und Freiheit charakterisiert: „Das Instrument der Befreiung von der ägyptischen und jeder anderen Das Exodusgeschehen Sklaverei ist das Gesetz“ (Assmann, Mosaische Unterscheidung, 67), das als Gottesrecht eine Verbindlichkeit begründet, die alle Welt- und Selbstbindungen transzendiert. Der „scriptural turn“ hin zum kodifizierten, allgemeinverbindlichen Buch Heiliger Schrift gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie die Differenzierung zwischen äußerem Kult und einer Religiosität, die im Innersten verpflichtet. Indem Assmann seinen Kritikern insoweit Recht gibt (vgl. Assmann, Mosaische Unterscheidung, 67; vgl. 191–286), ist die Diskussion seiner im Rahmen einer Theorie des kulturellen Gedächtnisses und der Gedächtnisgeschichte entwickelten Monotheismusstudien auf eine neue Basis gestellt. Das gilt umso mehr, als Assmann seine anfängliche und missverständnisträchtige These, durch die Mosaische Unterscheidung sei die Sünde allererst in die Welt gekommen, differenziert und zu der Auffassung fortentwickelt hat, durch die bewusstseinsgeschichtliche Wende, für die idealtypisch der Auszug Israels aus Ägypten, realhistorisch die Exilskrise steht, sei der Begriff der Sünde als Schuld etabliert worden. In der Tat, so ist es: Der Exilsexodus ist nicht für den Fall der Sünde verantwortlich, als hätte er diesen hervorgerufen, sondern er markiert den Beginn des Bewusstseins menschlicher Sündenschuld als einer Verfehlung gegen Gottes Gerechtigkeit, deren Ordnung die mosaischen Gebote vorschreiben. Moses Vermächtnis, wie es in den Zehn Geboten bündig formuliert und im Doppelgebot der Liebe zusammengefasst ist, intendiert fundamentale Unterscheidungen. Dies hat Jan Assmann mit Recht herausgestellt. Problematisch sind die Implikationen und die Konsequenzen seiner Zentralthese, nicht diese selbst. „In Assmanns ‚Gedächtnisgeschichte‘“, schreibt Friedrich Wilhelm Graf, „wird der Gesetzbringer Mose ob des Exklusivitätsgebots des eifernden Jahwe ... zum Erzvater religiöser Intoleranz und der radikale ethische Monotheismus der Israeliten zum Modell eines Trennungsdenkens, das im Namen des einen Gottes die diesem Gott sich verweigernden anderen, die Heiden, immer nur herabwürdigen und bekämpfen könne.“ (Graf, 48f.) Wäre dem so bzw. bliebe es bei dieser These, dann müsste in der Tat fortgefahren und kritisch hinzugefügt werden: „Mit seiner Monotheismus-Kritik und dem Polytheismus-Lob knüpft Assmann an den postmodernen Allerweltsglauben an, dass ‚Mono‘ bunte Vielfalt ausschließe und um Multikulti-Fröhlichkeit willen vielstimmige Lobgesänge auf Poly-Götter anzustimmen seien.“ (Graf, 49) Doch wird man aus Gerechtigkeitsgründen anzuerkennen haben, dass Assmanns kulturelle Gedächtnisgeschichte des Monotheismus auch andere Töne enthält und differenziertere Stimmen zu Wort kommen lässt, wie etwa diejenige von Thomas Mann, dessen Joseph-Roman zum Schluss eines Kapitels über die psychohistorischen Konsequenzen des Monotheismus mit den Worten zitiert wird: „zum Sündigen gehört Geist; ja, recht betrachtet, ist aller Geist nichts anderes als Sinn für die Sünde.“ (Assmann, Mosaische Unterscheidung, 160) Ob dieses Zitat den Ernst des Problems bereits hinreichend ermisst, der durch die Religionsgeschichte Israels gestellt ist, wird sich zeigen müssen.

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Lit.: S. Bock, Kleine Geschichte des Volkes Israel. Von den Anfängen bis in die Zeit des Neuen Testamentes, Freiburg/Basel/Wien 1989. – H. Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen. Teil 1: Von den Anfängen bis zur Staatenbildung, Göttingen 1984. Teil 2: Von der Königszeit bis Alexander dem Großen. Mit einem Ausblick auf die Geschichte des Judentums bis Bar Kochba, Göttingen 1986. – Chr. Frevel, Aschera und der Ausschließlichkeitsanspruch YHWHs. Beiträge zu literarischen, religionsgeschichtlichen und ikonographischen Aspekten der Ascheradiskussion. 2 Bd., Weinheim 1995. – V. Fritz, Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v.Chr., Stuttgart 1996. – O. Kaiser, Der Gott des Alten Testaments. Theologie des Alten Testaments, 3 Bd., Göttingen 1993ff. – O. Keel/Chr. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen, Freiburg/Basel/Wien 31995. – G. Lehmann/H.M. Niemann, Klanstruktur und charismatische Herrschaft: Juda und Jerusalem 1200–900 v.Chr., in: ThQ 186 (2006), 134–159. – H. Spieckermann, Juda unter Assur in der Sargonidenzeit, Göttingen 1982. – St. Timm, Die Dynastie Omri. Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Israels im 9. Jahrhundert vor Christus, Göttingen 1982. – J. Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin/Leipzig 81921.

Wie der Beginn eines jeden Menschenlebens, bevor es zum ausgeprägten Bewusstsein seiner selbst kommt, so liegen auch die Anfänge der Menschheitsgeschichte naturgemäß im Dunkeln. Bezüglich der Geschichte der Völker verhält es sich vielfach nicht anders. Im Falle Israels tritt die Volksidentität erst allmählich in Erscheinung, um im Zeitalter der Staatenbildung konturierte Gestalt anzunehmen. Was vorherging, ist zum geringeren Teil der Früh-, zum größeren Teil der Vorgeschichte Israels zuzuweisen, in deren Verlauf der Gegenstand dessen, was Geschichte Israels heißt, erst im Werden begriffen und noch nicht als entwickelte und klar identifizierbare Größe gegeben ist. Es gilt die Devise Wellhausens: „Die Geschichte eines Volkes läßt sich nicht über das Volk selber hinausführen, in eine Zeit, wo dasselbe noch gar nicht vorhanden war.“ (Wellhausen, 10) Bemerkenswerter als die zitierte Feststellung, die im Grunde für jede Volksgeschichte zutrifft, ist die Tatsache, dass das Bewusstsein des Werdens des Eigenen explizit in die Traditionsgeschichte Israels eingegangen ist und in ihr stets erhalten blieb. Israel war nicht nur nicht immer eine seinem territorialen Begriff entsprechende Die Anfänge der Geschichte Israels

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Größe; es hat dies auch gewusst und im Laufe seiner Geschichte niemals vergessen, obzwar man später Sachverhalte in die Anfänge zurückprojizierte, die damals historisch noch nicht gegeben waren. Im Unterschied etwa zu Ägypten wird der Anfang der Geschichte des Volks als einer territorial verorteten Größe in Israel „nicht in die Urzeit zurückdatiert, erst recht nicht in die mythische Göttergeschichte“ (Donner I, 24); das förmliche Bewusstsein, das Israel von seinem Beginnen hat, ist kein mythisches, sondern ein geschichtliches insofern, als es durch das Wissen des Gewordenseins im Laufe der Zeiten bestimmt ist. Indem der Anfang der eigenen Geschichte als Anfang gewusst wird, tritt an die Stelle des Mythos gründender Urzeit die Sage, die von geschichtlichem Werden zu reden vermag, auch wenn sie keine Historie im modernitätsspezifischen Sinne des Begriffs bietet. Als Quellen einer mit Mitteln moderner historisch-kritischer Methode zu rekonstruierenden Anfangsgeschichte Israels kommen ikonographische Materialien und andere archäologische Funde nichtliterarischer Art sowie schriftliche Zeugnisse wie Inschriften, Dokumente, Briefe oder sonstige diverse Texte in Frage; auch die Namens- und Ortsnamenskunde ist von Belang. Für die wichtigsten religionsgeschichtlichen Dokumente der Umwelt des Alten Testaments seit der Mitte des zweiten Jahrtausends vor Christus sei neben den von Hugo Greßmann edierten „Altorientalischen Texten und Bildern zum Alten Testament“ (21926) und J. B. Pritchards „Ancient Near Eastern Texts Relating to the Old Testament“ (31969) insbesondere auf die seit 1982 in unregelmäßigen Abständen erfolgten Lieferungen des von O. Kaiser herausgegebenen Sammelwerkes „Texte aus der Umwelt des Alten Testaments“ verwiesen. In der Neuen Folge der Textsammlung, für die seit 2004 B. Janowski und G. Wilhelm verantwortlich zeichnen, ist an die Stelle der früheren Aufteilung in Einzellieferungen die Veröffentlichung in gebundenen Bänden getreten. Einen detaillierten Überblick über die territorialhistorischen Rahmenbedingungen der Geschichte Israels seit frühesten Zeiten bietet „The Cambridge Ancient History“ in zwölf Bänden (31970ff.). Im gegebenen Zusammenhang sei vor allem auf Vol II, Part 1 (History of the Middle East and the Aegean Region c. 1800–1380 B.C.) und Part 2 (History of the Middle East and the Aegean Region c. 1380–1000 B.C.) verwiesen; es folgen Bände über das assyrische und persische Reich. Die bei weitem wichtigste Quelle für die Frühgeschichte Israels ist und bleibt die Bibel: Auch wenn ihre Schilderungen der Anfänge Israels von den historischen Gegebenheiten nicht unerheblich abweichen, weil sie, wie gesagt, vielfach auf Rückprojektionen aus sehr viel späterer Zeit beruhen, enthält sie doch eine Fülle von Erzählgut und sonstigen Traditionsbeständen, deren historischer Informationswert bedeutsam ist. Lokaler Handlungsraum der während der zweiten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends beginnenden Vorgeschichte Israels ist die Völker- und Staatenwelt des Alten Orients, näherhin der Südteil der syropalästinischen Landbrücke zwischen den alten Macht- und Kulturzentren in Ägypten einerseits sowie im Zweistromland und in Kleinasien andererseits. Als Durchgangsgebiet für Handel und Verkehr war Syrien-Palästina ein kulturgeschichtlich

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ebenso zentraler wie politisch umkämpfter Standort, um den sich die jeweils herrschenden auswärtigen Großmächte der Sicherung und Förderung ihres Einflusses wegen stritten. Nur in Zeiten hegemonialer Schwäche konnte der Landstrich ein gewisses Maß an politischem Eigengewicht erlangen. War die Geschichte der syropalästinischen Territorialbrücke seit Mitte des zweiten Jahrtausends vor Christus durch das imperiale Ringen der Großmächte Ägypten, Mitanni, Assyrien, Babylonien und des kleinasiatischen Hethiterreichs um Oberhoheit bzw. um Stabilisierung des Gleichgewichts der Kräfte bestimmt, so entstand gegen Ende des zwölften vorchristlichen Jahrhunderts infolge von Krisen und einer Schwächung der Blöcke ein Machtvakuum, und neue Akteure konnten neben den angestammten die Szene betreten. Seevölker fielen ein und eroberten die im Küstengebiet liegenden Städte, während von Nordosten, Osten und Süden her aus Steppen- und Wüstenregionen nomadisierende Stämme vordrangen, um Nutzgebiete für sich zu erschließen. Sie bilden neben den Bewohnern der überkommenen kanaanäischen Stadtstaaten und der Seevölkergruppe der Philister, die dem Land Palästina seinen Namen gab, ein neues Bevölkerungselement im Westjordanland sowie in ostjordanischen Gebieten. Aus ihren Gruppierungen ging zumindest in Teilen das Volk Israel hervor. Indes haben für seine Genese nicht nur Infiltrationen und Zuwanderungen aus der syrisch-arabischen Wüste sowie aus Bereichen des ägyptischen Nildelta eine Rolle gespielt, sondern mehr noch Bevölkerungsumschichtungen innerhalb des Kulturlandes im südlichen, also in jenem Teil der syropalästinischen Landbrücke, dessen Gebiet in der Bibel Land Kanaan heißt. Die biblischen Berichte von der Landnahme, wie sie in Dtn 1–3 und Jos 1–12 überliefert sind, legen die Annahme nahe, Palästina sei durch das bereits als mehr oder minder geschlossene Einheit agierende Volk Israel in einer militärischen Großoffensive eingenommen worden. Diese Vorstellung ist historisch unzutreffend und wesentlich von der Absicht späterer Tradenten und Redaktoren überkommener Heldensagen bestimmt, das israelitische Selbstbewusstsein als Volk und Nation zu fördern sowie angesichts drohender und tatsächlicher Fremdherrschaft aufrechtzuerhalten und zu stärken. In Wirklichkeit hat sich die sog. Landnahme nicht in Form eines konsequenten Kriegszugs, in dem ganz Israel von ganz Palästina Besitz nahm, sondern allmählich und in der Weise vollzogen, dass einzelne Stämme sich in einzelnen Gebieten Palästinas, vorzugsweise in Gebirgsregionen ansiedelten, um im Laufe der Zeit zu einer Stämmegesellschaft zusammenzuwachsen und mehr und mehr zu einem Volk zu werden. Was die Einzelheiten der sog. Landnahme bzw. Die sog. Landnahme der Entstehung der protoisraelitischen Stämmegesellschaft angeht, so divergieren die Auffassungen in der Forschung bis heute. Nachdem sich das sog. Eroberungsmodell als historisch obsolet erwiesen hatte, waren zunächst Migrations- bzw. Penetrationstheorien vorherrschend geworden. Ihnen zufolge infiltrierten aramäischstämmige Wüstennomadengruppen im Zuge ihrer Wanderungen und jahreszeitlichen Weidewechsel

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entweder kontinuierlich oder in Wellenbewegungen das Kulturland, um auf in der Regel friedlichem Wege, gelegentlich aber auch im Zuge gewaltsamer Auseinandersetzungen zu allmählicher Sesshaftigkeit zu gelangen. Demgegenüber wird neuerdings stärker auf die Bedeutung von sozial bedingten Bevölkerungsumschichtungen innerhalb des Kulturlandes für die Vorgeschichte des Aramäervolkes Israel abgehoben. Randgruppen und deklassierte Bevölkerungsschichten seien aus dem System der kanaanäischen Stadtstaaten ausgeschert und hätten sich vor allem im mittelpalästinischen Gebirge niedergelassen, um gemeinsam in Dörfern zu wohnen und sich stammesgesellschaftlich zusammenzuschließen. Ob dies auf eher revolutionärem oder eher evolutionärem Wege geschah, ist umstritten und kann hier dahingestellt bleiben. Dass es zwischen den neu sich bildenden Verbänden der bergländischen Stämme und den alten kanaanäischen Stadtstaaten zu Spannungen und gelegentlichen militärischen Konflikten kam, wird man annehmen dürfen. Annehmen dürfen wird man fernerhin, dass die Theorie, welche die allmähliche Wandlung der Situation in Palästina im letzten Viertel des zweiten vorchristlichen Jahrtausends entscheidend auf soziale Re- bzw. Evolutionen zurückführt, keineswegs ausschließen muss, dass Migrations- und Infiltrationsbewegungen nomadischer Stämme aus den umliegenden Wüstengebieten am Prozess der Umwandlung der Verhältnisse mitwirkten. Dies ist in hohem Maße wahrscheinlich. „Denn die in der atl. Tradition festgehaltene Überzeugung, Israel sei aus der Wüste gekommen, kann nicht einfach auf Erfindung beruhen.“ (Donner I, 127) Der Prozess der sog. Landnahme, der mit der allmählichen Volkswerdung Israels koinzidiert, zieht sich über mindestens zwei Jahrhunderte hin, bis er mit der Ausbildung eines „Staates“ um das Jahr 1000 v.Chr. sein Ziel und vorläufiges Ende erreicht. Waren die Kanaanäner traditionell stadtstaatlich organisiert, so formierten sich die anfangs eher inhomogenen Bevölkerungsgruppen, aus denen das Volk Israel hervorgehen sollte, in Stämmen und Stammesverbänden, wobei neben Auseinandersetzungen mit den Philistern Spannungen zu den Kanaanäern bestimmend waren. Dass der protoisraelitische Stämmeverband „kein sakraler Bund, sondern eine politische Föderation“ (Donner I, 67) war, darf nach gegenwärtigem Forschungsstand als ausgemacht gelten. Kaum mehr vertreten wird heute die Amphiktyoniehypothese Martin Noths, derzufolge das vorstaatliche Israel ein religiös verfasstes Zwölfstämmesystem mit fest institutionalisierter Sakralordnung war, als dessen zentrales Heiligtum die Bundeslade fungierte, wo nicht nur liturgisch gehandelt, sondern auch Recht gesprochen und über Krieg und Frieden beschlossen wurde. Das seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert v.Chr. im Werden begriffene Israel war nach heutigem Erkenntnisstand noch keine religiös integrierte Einheitsgröße, sondern allenfalls eine Stammesgesellschaft ohne zentrale Führungsinstanz und ohne klar ausgebildete religiöse Identität, aber mit starken Ordnungsfaktoren genealogischer und genealogieähnlicher Art, die verhältnismäßig starke Bindungen begründeten und Frieden und Recht im Inneren ebenso ermöglichten wie konzertierte Aktionen nach außen.

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Die natürliche oder doch naturnahe Grundeinheit eines Stammes bilden Familie, Sippschaft und Klan. Entsprechend sind Stammesverbände wesentlich durch Verwandtschaftsbeziehungen oder Beziehungen verwandtschaftsähnlicher Art generiert, wobei natürliche Abstammungsverhältnisse durch genealogische Fiktionen kulturell allmählich substituiert werden können. Entsprechend wird man sich die Entwicklung des Stammesverbandes vorzustellen haben, aus dem das Volk Israel hervorging. Föderative Strukturen sind beizeiten erkennbar, aber die Bündnisse wechseln und ein stabiles Volksbewusstsein, das die Stammesdifferenzen zu einer beständigen Einheit integriert, ist keineswegs von Anfang an in Sicht. Darüber darf die Vorstellung des Systems der Zwölf-Stämme-Israels nicht hinwegtäuschen. Es setzt ein entwickeltes Volksbewusstsein als gegeben voraus. Dieses hat sich in der die Spätbronzezeit ablösenden eisenzeitlichen Kulturepoche erst allmählich entwickelt. Aus Klanstrukturen und Allianzen einzelner Verwandtschaftsgruppen und Dörfer, wie sie insbesondere in Krisenzeiten nötig waren, bildeten sich die Stämme Israels fortschreitend aus, bis es zur Etablierung erster Herrschaftsstrukturen kam, die eine gewisse Staatsähnlichkeit aufweisen. Indes darf man sich von den „staatlichen“ Verhältnissen, wie sie zu Davids Zeiten gegeben waren, keine anachronistischen Vorstellungen machen. Jerusalem war auch damals noch eine verhältnismäßig kleine Ansiedlung und Juda ein insgesamt eher dünn besiedeltes Gebiet mit nur gering entwickelter Infrastruktur. Für ein territoriales Reich mit komplexer Herrschaftsorganisation fehlte die Basis. Die Macht Davids gründete weniger auf einem urban zentrierten Staatsapparat, der die monarchische Beherrschung der Untertanen ermöglichte und sie zu einer integrierten Einheit zusammenschloss, sondern auf einem Netzwerk vorstaatlicher Beziehungen. Der Zusammenhalt war durch die Macht von Söldnertruppen und durch das persönliche Charisma ihres Führers nur notdürftig und in nur bedingt stabiler Weise gewährleistet. Herrschaftszentrierung sowie ein gemeinsames Volksbewusstsein bzw. ein die Klanund Stammesverbände umgreifendes Bewusstsein staatlicher Identität gab es erst in Ansätzen. „Kraft und Reichtum Davids und Salomos waren theologische Produkte späterer Zeiten, rückprojizierte Hoffnungen auf ein künftiges ‚goldenes Zeitalter‘.“ (G. Lehmann/H. M. Niemann, 155) Für die Ausbildung eines über genealogische Zusammenhänge hinausreichenden Gemeinschaftsbewusstseins war die Verschmelzung von unterschiedlichen familialen und stammesgeschichtlichen Überlieferungsbeständen von grundlegender Relevanz. Die Traditionen aus Israels vorgeschichtlicher Zeit sind auf drei große Themenkreise bezogen: Sie handeln von den Erzvätern, vom Auszug aus Ägypten und vom Gottesberg in der Wüste. Die Erzvätergeschichten sind in Gen 12–36 aufbewahrt, vom Aufenthalt in und vom Auszug aus Ägypten berichten Ex 1–15, wohingegen die Sinaiperikope die sehr umfangreiche Zwischenschaltung von Ex 19 bis Num 10 umfasst. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Einfügungen aus späterer Zeit, im Vergleich zu denen das ursprüngliche Traditionsgut sehr gering ausfällt. Sekundär ist bereits die Integration des ursprünglich selbständigen Überlieferungsthemas vom Gottesberg in der Wüste in den Bericht vom Wüstenzug ins

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Land Kanaan, der ein Konglomerat von Einzelsagen und sonstigen Notizen darstellt, die zunächst keine Einheit bildeten. Was die Erzvätergeschichten anbelangt, die von den Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob handeln, so enthält ihr Grundbestand Familiensagen, die in Stammesgruppen im Umlauf waren, die ins nachmalige Israel eingingen. Im Zuge dieses Prozesses wurden die Patriarchenüberlieferungen verbunden und in dem Traditionszusammenhang Gesamtisraels aufgehoben, dessen Identität und Gemeinschaftsbewusstsein sie entscheidend mitbestimmten. Als Einzelgebilde Indizien spezifischer Verhältnisse in der Vorzeit Israels und Dokumente für diverse im Alten Vorderorient und auch unter den Bewohnern Kanaans verbreitete Religionsformen werden die Vätersagen im Laufe der Genese des israelitischen Volkes Gemeingut seiner (Religions-)Geschichte. Die Patriarchen rücken in die Stellung von Ahnherren Gesamtisraels und von Trägern göttlicher Verheißungen für das gesamte Volk ein. Ein ähnlicher Transformationsprozess hat sich mit den ursprünglich selbständigen Überlieferungen vom ägyptischen Exodus und vom Gottesberg in der Wüste vollzogen. Auch sie enthalten stammesspezifische Erinnerungsbestände aus Israels Vorzeit, deren historischer Gehalt nicht in Abrede zu stellen ist, auch wenn er sich im Einzelnen kaum oder nur schwer verifizieren lässt. Wichtiger und ertragreicher als die historische Spurenlese im Dunkel der Herkunftsgeschichte Israels ist die Erkenntnis der Tatsache, dass das entwickelte Volk im Exodusereignis ein Grundparadigma für das Verhältnis seines Gottes zu ihm zu entdecken vermochte. Erst auf diese Weise wurden die überkommenen Erinnerungsreste in den Volkszusammenhang aufgehobener Einzelgruppen geschichtswirksam und theologisch fundamental. Dies gilt analog für die wohl erst sekundär mit der Exodusüberlieferung verbundene Gottesbergtradition. Auch sie enthält, woran zu zweifeln kein begründeter Anlass besteht, Restbestände historischer Erinnerung von Vorfahren nachmaliger Israeliten. Religionsgeschichtlich wird man an numinose, durch Blitz, Donnerwetter und vergleichbar erhabene Naturereignisse angeregte Erfahrungen mit einem Wüstengott zu denken haben, dessen Name sich dem Gedächtnis Israels einprägen sollte wie kein anderer. Nichtsdestoweniger begann „Jahwes Geschichte ... in großem Stile erst dann, als er der Gott Israels geworden war“; „sein ursprünglicher Charakter als Berggottheit der Wüste (hingegen) versank so sehr im Dunkel der Vorgeschichte, dass nur wenige Spuren darauf hindeuten.“ (Donner I, 101) Bevor der Aufstieg Jahwes vom Berggott einzelner Sippschaften zum Schutzund Rettergott aller Stämme in Israels vor- und frühgeschichtlicher Zeit auf dem Hintergrund sonstiger religionsgeschichtlicher Materialen skizziert werden soll, sei angemerkt, dass auch die Bücher Josua und Richter nur sehr eingeschränkten Einblick in die historischen Verhältnisse der Stammesgesellschaften im vorstaatlichen Israel geben. Die genuine Funktion der sog. großen Richter war weniger Jurisdiktion oder zentrale Herrschaftsausübung auf der Basis einer fixierten Verfassungsordnung als vielmehr diejenige charismatischen Führertums mit räumlich und zeitlich begrenztem Wirkungskreis. Auch bei Josua, auf dessen Heldengestalt die

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sagenhaften Schilderungen des gleichnamigen Buches konzentriert sind, dürfte es sich um eine solche Führer- und Retterfigur gehandelt haben, deren Wirkung ursprünglich von lokal beschränkter Reichweite war, ehe diese überlieferungsgeschichtlich auf Gesamtisrael ausgedehnt wurde. Eine dauerhafte Zentralinstanz flächendeckender Herrschaft war weder mit Josua noch mit den sog. Richtern gegeben; sie tritt nach dem missglückten Vorspiel Abimelechs erst mit dem Königtum Sauls und Davids in Erscheinung. Von nun an kann Israel mit halbwegs begründetem Recht ein „Staatsvolk“ und eine „Nation“ genannt werden, obzwar diese Charakterisierungen im Einzelnen erklärungsbedürftig sind, weil sie wie der Sachverhalt, den sie bezeichnen, konstruktiver Natur und im geschichtlichen Wandel begriffen sind. Klar jedenfalls ist, dass Israel im Verein mit Juda unter Saul und David zu einem Flächenstaat von historisch nennenswerter Bedeutung wird, wie das vorher nicht der Fall war. Über die territorialen Verhältnisse in der Zeit Sauls sowie über den Umfang des Großreiches Davids unterrichten die einschlägigen Handbücher (vgl. Donner I, 169ff. sowie 195ff.); ihnen sind auch die nötigen Hinweise auf die Stammesgeographie in vorstaatlicher Zeit zu entnehmen (vgl. Donner I, 129ff.). Tritt Israel zusammen mit Juda recht eigentlich Protoisraelitische Gotteserst mit der Königszeit ins Licht der Geschichte verehrung ein, so bleibt die vorstaatliche Periode in weiten Teilen nebulös und lässt sich aus dem Alten Testament quellenmäßig nicht eindeutig rekonstruieren, da die alttestamentliche Konzeption der Vor- und Frühgeschichte erst in sehr viel späterer Zeit und zwar in Form idealtypischer Ätiologien geschaffen wurde. So sind, um das Wichtigste zu wiederholen, die Geschichten der Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob ursprünglich Familien- und Sippensagen, die erst später in die Volksgeschichte Israels integriert und in deren Sinne modifiziert worden sind. Eine klar befristete Väterzeit hat es in der Geschichte Israels aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso wenig gegeben wie eine abgehobene Periode der Verehrung eines „Gottes der Väter“ (A. Alt). Die Gottesverehrung der Väter verweist vielmehr historisch auf naturreligiöse Praktiken, welche die Stämme des nachmaligen Israels mit ihrer Umwelt anfangs ebenso geteilt haben dürften wie andere heidnische Umgangsformen mit göttlichen Mächten, selbst wenn der Gegensatz zu Kanaan in religiöser Hinsicht bald schon Gestalt angenommen und die Jahwemonolatrie vorbereitet haben sollte. Genuiner Wohnsitz des Gottes Jahwe war nach verlässlichem Zeugnis des Alten Testaments der Berg Sinai, wobei offen bleiben kann, ob dieser ursprünglich auf der gleichnamigen Halbinsel zu lokalisieren ist, wie die spätere Überlieferung dies voraussetzt, oder etwa im edomitisch-midianitischen Grenzgebiet. Anfangs gleich dem kanaanäischen Baal als ein über den Wolken thronender und vom Himmel her waltender Wettergott verehrt, avancierte Jahwe in Israels frühgeschichtlicher Zeit zum Schutz- und Kriegsgott mehr oder minder des gesamten Stammesverbands. Doch kann von einer sinaitischen Stiftung der Religion Israels historisch ebenso wenig die Rede sein wie von einem Menschen namens Mose als ihrem Stif-

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ter. Denn abgesehen von der bereits erwähnten Tatsache, dass sich die Mosegestalt historisch kaum fassen lässt, waren am Auszug aus Ägypten durch die sinaitische Wüste hindurch keineswegs alle Israeliten in ihrer Volksganzheit beteiligt, sondern lediglich vormalige Gruppierungen sehr viel kleinerer Zahl, deren Erinnerungsspuren erst später in die Ursprungsgeschichte des Gesamtvolkes aufgehoben und zu deren religiöser Gründungsurkunde fortgeschrieben wurden. Dabei hat man die der Exodustradition erst nachträglich eingefügte Sinaiepisode mit überbordendem Material aufgefüllt, dem weit mehr über die religiös-kultischen Verhältnisse in der nachexilischen jüdischen Gemeinde als über die historische Vorgeschichte Israels zu entnehmen ist. Selbst der historische Wert der Landnahmetraditionen für die Gesamtgeschichte Israels ist eher gering, da diese an Einzelgruppen gebunden sind, die untereinander noch in keiner verfassten Gemeinschaft standen. Auf eine spezifische Verfassung Israels in vorköniglicher Zeit geben neben den Josuaüberlieferungen auch die Richterbücher keine Hinweise. Fällt der historische Befund sonach eher karg und ernüchternd aus, so droht die Ernüchterung leicht zur Enttäuschung zu werden, wenn man die religionsgeschichtliche Situation in der Vor- und Frühgeschichte Israels in Betracht zieht. In der Forschung herrscht relativ breiter Konsens, dass die Religion im vor- und frühgeschichtlichen Israel bis weit hinein in die Königszeit und darüber hinaus nicht monotheistisch, sondern polytheistisch war. Erst mit dem Exil setzt sich nach vorhergehenden monolatrisch-henotheistischen Ansätzen ein dezidierter Monotheismus auf breiterer Basis durch, um alsbald zurückgespiegelt zu werden in die israelitische Ursprungsgeschichte, die sich historisch geurteilt in religiöser Hinsicht von ihrer Umwelt kaum oder nur sehr bedingt unterschied. Die Religion Altisraels ist im Wesentlichen eine lokale Variante des vorderasiatischen Polytheismus der Zeit. Im Zentrum des religiösen Interesses stehen Naturvorgänge und ihre Regulierung sowie Ereignisse, die den Erhalt, den Schutz, die Verteidigung und Durchsetzung natürlicher Existenz betreffen. Suchte man der Natur anfänglich durch Zauber und vergleichbare Praktiken beizukommen, erflehte man des Weiteren Hilfe bei Mächten, welche die empirische Zufälligkeit der äußeren Natur transzendieren und ihre Ordnung verlässlich garantieren sollen. Diese Mächte können nach Bedarf ausdifferenziert und mit diversen Göttergestalten assoziiert werden, die untereinander in einem hierarchisch oder anderweitig gestalteten Verhältnis stehen. Das Kriterium der Zuordnung ist in der Regel natürliche Macht, deren Mangel oder Fülle über den Status einer Gottheit entscheidet. Der mächtigste Gott empfiehlt sich naturgemäß als Schutzherr und hilfreicher Streiter vor allen anderen, wohingegen sein Hilfsversagen in Not zur Abdankung führt und Zuflucht zu anderen Göttern erforderlich macht. Zu differenzieren ist dabei zwischen religiösen Anliegen, die primär in das unmittelbare Umfeld des Einzelmenschen gehören, und Angelegenheiten, welche die Sippe, den Stamm oder die Stammesgesellschaft und schließlich den staatlichen Gesamtverband angehen. In den ersten Zusammenhang gehören Götter oder gottähnliche Mächte, die für

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Gesundheit, äußeres Wohlergehen, die Fruchtbarkeit der Frauen und die Potenz der Männer, für diverse Familienbelange oder dergleichen zuständig sind. Zur Domäne der Gottheiten übergeordneter Verbände gehören insbesondere Krieg und Frieden. Der Stammes-, Landes- oder Staatsgott hat vor allem die Aufgabe, die Konsolidierung und Stärkung der jeweiligen Einheit nach innen und nach außen zu gewährleisten, und seine kultische Verehrung ist vor allem auf diesen Zweck ausgerichtet. Indes sind die Übergänge zwischen Gottheiten, die für eher allgemeine Belange, und solchen, die in erster Linie für die besonderen Bedürfnisse des Einzelnen und seiner Familie oder Sippe zuständig sind, fließend, solange die Ausdifferenzierung des Individuellen und des Sozialen einen bestimmten Grad noch nicht überschritten hat, wie das bei, wenn man so will, naturnahen Kulturen der Fall zu sein pflegt. Nachgerade wenn es um den Tag-Nacht-Wechsel, die verlässliche Abfolge der Jahreszeiten, um Wind und Wetter, Sonne und Regen und dergleichen, kurzum: um all das geht, was für die Notdurft und Nahrung des äußeren Leibes und Lebens unentbehrlich ist, koinzidieren die religiösen Anliegen des Einzelnen und des Ganzen. Erntefeste sind dafür ein paradigmatischer Beleg. Die gegebene Beschreibung, die in Einzelheiten Ikonographische Symbolfortzusetzen keine Notwendigkeit besteht, trifft systeme für die religiösen Verhältnisse in der Umwelt des Alten Israel im Großen und Ganzen ebenso zu wie für dessen eigene Religion. Dies wird durch neue Erkenntnisse der Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund ikonographischer Quellen eindeutig bestätigt. Die Untersuchungen archäologischer Materialien, die Othmar Keel und Christoph Uehlinger vorgelegt haben, reichen von der mittleren Bronzezeit bis zur babylonisch-persischen Ära und umfassen damit einen Zeitraum von mehr als tausend Jahren. Besonderes Interesse für die Vor- und Frühgeschichte Israels verdienen die Befunde der frühen Eisenzeit der Jahre von 1250 bis 1000 v.Chr. Charakteristisch für das ikonographische Symbolsystem im Siedlungsraum der israelitischen Stämme sind anfangs vor allem zwei Faktoren: Der eine ist auf „Überlegenheit und Beherrschung“ (Keel/Uehlinger, 147) ausgerichtet, der andere „äußert sich im Verlangen nach menschlicher, tierischer und agrarischer Fruchtbarkeit“ (Keel/Uehlinger, 148). Beide Faktoren sind religionsgeschichtlich bereits in der Bronzezeit wirksam, in deren später Phase ein „Überhandnehmen politischer und kämpferischer Gottheiten“ (Keel/Uehlinger, 55) zu beobachten ist, welches zugleich das Gleichgewicht männlicher und weiblicher Anteile an den Gottheiten aufzuheben droht. Doch bleibt den Fruchtbarkeits- und Muttergottheiten ihre Bedeutung längerfristig durchaus erhalten. Bemerkenswert ist die Erkenntnis, dass sich gegen Ende des 11. und im Verlauf des 10. Jahrhunderts ein generelles Zurücktreten von anthropomorphen Gottesdarstellungen und eine Substitution der Gottheiten durch Attributstiere und andere Repräsentationsgrößen abzeichnet. Diese – mit dem Aufkommen von religiösen Astralsymbolen verbundene – Entwicklung, die sich in einer Zeit erneuter Siedlungskonzentration und Reurbanisierung vollzog und auf politischer Ebene mit der Entstehung und Konsolidierung des israelitisch-jüdischen Königtums einher-

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ging, signalisiert nach Urteil von Keel und Uehlinger „einen Prozess der Entfernung bzw. ‚Auslagerung‘ der Gottheiten in die himmlische Sphäre“ (Keel/Uehlinger, 197). Die Differenz zwischen Transzendenz und Immanenz baut sich offenbar allmählich auf, und die Gottheiten entziehen sich mehr und mehr dem naturhaften Zugriff, um in der Verborgenheit des Himmels jenseitig zu walten und ihr unbegreifliches Wesen zu wahren, von dem man sich kein rechtes irdisches Bild machen kann. Israelspezifisch wird man diesen Prozess insofern nicht nennen können, als der Trend der Zeit insgesamt „von anthropomorphen Gottesdarstellungen zu Substitutionen“ (Keel/Uehlinger, 461) tendiert. Immerhin lässt sich feststellen, dass im Laufe der Königszeit anthropomorphe Gottesdarstellungen nur noch in Grenzgebieten oder außerhalb Israels und Judas aufzufinden sind. Im Übrigen ist die religiöse Ikonographie der fortschreitenden Eisenzeit durch eine Dominanz solarer Elemente und eine Tendenz zur Astralisierung der himmlischen Mächte bestimmt, bis schließlich in Israel ein striktes Bilderverbot greift und ein Monotheismus sich durchsetzt, der die Transzendenz des einen Gottes, neben dem es keine anderen gibt, nicht nur allem Irdischen, sondern auch allen Himmeln und Himmelskräften überlegen sein lässt. Die Rekonstruktion der ikonographischen Symbolsysteme im Alten Israel und in seiner vorderasiatischen und insbesondere kanaanäischen Umwelt, der es zugehört, gibt Einblicke in religionsgeschichtliche Zusammenhänge, die im Prozess der biblischen Literalisierung und Kanonisierung vielfach ausgeblendet wurden. Dabei werden in vielem die Befunde bestätigt, die sich beispielsweise aus den Texten von Ugarit erheben lassen, und das israelitisch-judäische Symbolsystem wird zum kanaanäischen hin transparent, das unter biblischen Bedingungen als heidnisch zu apostrophieren ist. Auch im Gegensatz noch, der sich in mancher Hinsicht abzeichnet, ist das Alte Israel Kanaan und mit ihm dem „Heidentum“ verbunden, von welchem sich abzusetzen seine künftige Bestimmung sein wird. Um sie zu realisieren, musste sich das Alte Israel gewissermaßen von sich selbst unterscheiden und in einer Weise neu werden, wie dies erst in der Exilszeit geschah und vorher nicht dauerhaft Ereignis wurde. Bis zur Exilskrise und dem auf sie folgenden konstruktiven Neubeginn bleibt Israel dem Heidentum als seiner eigenen Herkunft religiös verbunden. Bilder der Sexualität und der Fruchtbarkeit, des Kriegs und des Kampfes um den natürlichen Selbsterhalt als Einzelner, als Sippe, Stamm und „Nation“ prägten auch das israelitische Religionsleben entscheidend. Das zeigt die ikonographische Betrachtung in wünschenswerter Deutlichkeit. Andererseits enthält sie hilfreiche Hinweise, um allzu pauschale Polytheismusthesen zu differenzieren und auf theologische Entbildlichungstendenzen aufmerksam zu machen, welche auf die „anikonische Orthodoxie“ (Keel/Uehlinger, 467) des späteren Judentums voraus- und die Annahme als irrig erweisen, „dass der Monotheismus in der zweiten Hälfte des 6. Jhs. plötzlich wie ein deus ex machina die Bühne der Religionsgeschichte betreten habe“ (Keel/Uehlinger, 4). Wie im gesamten Alten Orient, ja in der Antike überhaupt sind die Überschneidungen zwischen Poly- und Monotheismus auch in Israel vielfältig und die Über-

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gänge von diesem zu jenem fließend und einlinig nicht zu fassen. Der alttestamentliche Monotheismus und die Mosaische Unterscheidung, die ihn von polytheistischen Gegenreligionen abhebt, haben sich nicht unmittelbar geltend gemacht, sondern sind durch eine jahrhundertelange Vorgeschichte vermittelt. Der Exodus aus dem Götzendienst Ägyptens vollzog sich allmählich – ganz abgesehen davon, dass als alttestamentliches Grundparadigma für polytheistische Idolatrie, anders als Jan Assmann dies voraussetzt, weniger ägyptische Gottheiten als vielmehr der kanaanäische Baal samt Ascheren und Astarten sowie vor allem assyrisch-babylonische Götzen fungierten. Recht eigentlich erst das Exil hat dann jenen definitiven Ausstieg Israels aus der Vielfalt der Götterwelt bewirkt, der dem ägyptischen Exodus theologische Befreiungsqualität und zugleich dem Gegensatz zu Kanaan jene Kontur verlieh, die er weder in der Vor- und Frühzeit Israels noch in der Königszeit hatte. An der theologischen Auseinandersetzung mit dem Ascherakult in der Zeit seit dem Exil lässt sich dies exemplarisch verdeutlichen, wobei zwei Tendenzen maßgeblich sind: „zum einen die Herausbildung des Monotheismus, die die völlige Trennung von YHWH und Aschera zur Folge hat, zum anderen die Aufarbeitung der Katastrophe des Untergangs, die zu einer massiven Diskreditierung Ascheras und ihres Kultes führt. Beide Punkte müssen zusammengesehen werden. Die Deuteronomisten entwickeln ein Geschichtsbild, in dem sich der Abfall von YHWH nach der entscheidenden Bindung Israels an YHWH durch dessen Setzungen der Heilsgeschichte kontinuierlich steigert und schließlich zum Untergang sowohl des Nordreiches wie des Südreiches führt. Aschera und dem Ascherakult wird dabei eine bedeutende Rolle zugeschrieben. Auf der anderen Seite bedingt die theoretische Auseinandersetzung mit der Ausschließlichkeit YHWHs die konsequente Trennung Ascheras von YHWH und letztlich deren Bedeutungslosigkeit gegenüber dem monotheistischen Bekenntnis zu YHWH.“ (Frevel II, 929) Es wäre ein Irrtum zu glauben, der Jahwemonotheismus, den die alttestamentliche Tradition auf Mose zurückführt, habe sich in Opposition zum kanaanäischen Polytheismus wenn nicht schon in den sagenhaften Zeiten der israelitischen Landnahme, so doch spätestens in der an Sauls Herrschaft anschließenden Ära des Königtums Davids und Salomons ausgebildet. Gewiss war das Zeitalter der Staatenbildungen, wie es mit der Gründung des Reiches Israel durch Saul anhob und in der Herrschaft Davids, der das Südreich Juda und das Nordreich Israel in Personalunion vereinte, seinen offenkundigen, wenngleich nur wenig dauerhaften Höhepunkt erlebte, nicht nur in politischer, sondern auch in religionsgeschichtlicher Hinsicht in hohem Maße bedeutsam. Jahwe, der vom sinaitischen Berg- und Wettergott bereits zum Schutz- und Rettergott der Stämme Israels und Judas avanciert war, wird nun zum staatstragenden Reichsgott, dessen Herrlichkeit sich weniger mächtige bzw. machtnahe Gottheiten nicht zuletzt aus Gründen der Staatsräson zu fügen haben. Ehemalige Zuständigkeitsbereiche Baals und anderer angestammter Gottheiten werden aus Gründen göttlicher Herrschaftskonsolidierung in die Reichsmacht Jahwe Zebaoths überführt, der die Nachfolge des vormalig höchsten Gottes El antritt, mit dem er weitgehend identifiziert wird.

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Mit dem Jerusalemer Tempel, den Salomon Naturreligiöser Polytheismus erbaut und in welchen das Ladeheiligtum über- und Monolatrie des Reichsführt wird, bekommt Jahwe einen Wohnsitz, der gottes für ihn und das Reich, das er als göttlicher Herr mittels eines königlichen Stellvertreters regiert, gleichermaßen repräsentativ ist. In den Höfen und Vorhöfen des ersten Tempels wurde von nun an bis zu seiner Zerstörung Jahwe als derjenige angerufen und verehrt, der die Identität und den Bestand des Volkes und seiner Glieder in politischer, ökonomischer und sonstiger Hinsicht zu gewährleisten versprach. Priester und Kultpropheten verrichteten ihren Dienst just in diesem Sinne. Das schloss den offiziellen und weniger noch den privaten Jahwedienst an anderen Orten keineswegs aus. Selbst der Dienst an Gottheiten anderen Namens wurde weiter gepflegt, was solange kein wesentliches Problem darstellte, als diese integrierte Momente des die Volksidentität garantierenden Jahwe verkörperten. Man bedenke: Jerusalem, das David zur Basis seines Staatswesens gemacht hatte, war eine typisch kanaanäische Stadt. Man wird annehmen dürfen, dass der in ihr gepflegte Jahwekult nicht durch einen alternativen Gegensatz zu sog. kanaanäischen Gottheiten bestimmt, sondern auf deren Integration und Aufhebung hin angelegt war. Nicht grundsätzlich anders dürfte sich die Lage an anderen Orten dargestellt haben. Die religiöse Konzentration auf Jahwe, wie sie nicht zuletzt aus Gründen ethnischer Identitätsbildung und staatlicher Konsolidierung erfolgte, hatte nicht den Charakter eines theoretisch gefassten Monotheismus, nicht einmal den einer strikt durchgehaltenen praktischen Monolatrie. Dabei blieb es auch in der Zeit nach dem Zerfall des davidisch-salomonischen Reiches und der Auflösung der Personalunion zwischen Juda und Israel, die beide Glieder des syrisch-palästinischen Kleinstaatensystems wurden. Nicht nur aufs Ganze der jeweiligen Bevölkerung gesehen lassen sich polytheistische Faktoren namhaft machen, auch die einzelnen Volksglieder waren kaum je strenge Monotheisten oder auch nur Monolatristen, sondern hingen je nach Bedarf unterschiedlichen Göttern an, was die Möglichkeit von deren Hierarchisierung nicht aus-, sondern einschloß. Am deutlichsten treten solche Hierarchisierungstendenzen dort zutage, wo die kollektive Identität zur Disposition stand. Dort zeichnen sich am ehesten auch strenge theologische Exklusivansprüche ab, wobei der Machtfaktor das entscheidene Kriterium bildet, den rechten und eigenen Gott von falschen und fremden Göttern zu unterscheiden. Diesen wird ihre Existenz ebenso wenig einfachhin bestritten wie sich die Existenz anderer Völker neben dem eigenen leugnen lässt. Es ist zuletzt die Frage der Macht, an der sich nicht nur politisch, sondern auch theologisch alles entscheidet; politische Herrschaftskrisen haben religiöse daher zur zwangsläufigen Folge. Mit Salomos Tod endete die staatliche Einheit von Juda-Jerusalem und Israel, so dass seit 926 v.Chr. Nord- und Südreich nebeneinander existierten. Von einer Reichsteilung kann allerdings nur bedingt die Rede sein, sofern lediglich die Personalunion nicht erneuert wurde, mittels derer David einst Norden und Süden ver-

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eint hatte, nachdem es ihm gelungen war, zuerst die Königsherrschaft über Juda, dann auch über Israel zu gewinnen und das eroberte Jerusalem zur Hauptstadt des Reiches zu machen. Die Philister, deren anhaltende Feindseligkeiten überhaupt erst zur staatlichen Konsolidierung Israels unter dem Benjaminiten Saul Ende des 11. vorchristlichen Jahrhunderts geführt hatten, wurden durch den gesamtisraelitischen Heerbann unter Beihilfe der Söldner Davids besiegt und tributpflichtig gemacht. Schon unter Salomon scheinen sie indes ihre Unabhängigkeit wiedererlangt zu haben, wie denn auch die Herrschaft über das Reich von Damaskus und andere Territorien, die David auf die eine oder andere Weise in Abhängigkeit zu seinem Königtum gebracht hatte, sich langfristig nicht aufrecht erhalten ließ. Was aber Juda und Israel betrifft, so gehen sie mit Rehabeam (926–910) und Jerobeam I. (927–907) zwar nicht in jeder Hinsicht getrennte, aber doch zum Teil sehr verschiedene Wege als selbständige politische Einheiten im Kontext der palästinischsyrischen Kleinstaatenwelt. Als Hauptquelle der Geschichte Israels und Judas für die Zeit bis zur assyrischen Ära dienen vor allem die Bücher der Könige und ihre kommentierte Aufarbeitung überlieferter Königsannalen. Dabei sind die Traditionsbestände für das Nordreich weitaus reichhaltiger als im Falle Judas. Einen Sachgrund hierfür bildet die Tatsache, dass Israel mit der Vielzahl seiner Stammesgruppen infolge seiner territorialen Lage und geographischen Formation sehr viel stärker im Strom geschichtlicher Abläufe stand als das vergleichsweise abgelegene und besser überschaubare Südreich, dem im Übrigen eine stabile dynastische Erbfolge der Davididen und ein loyaler Landadel jene innere Festigkeit verlieh, die dem Nordreich nicht selten abging. Israel war bis zu seinem von den Assyrern bereiteten Untergang im Jahre 722 v.Chr. nicht nur von außen her bedroht, sondern auch durch revolutionäre Umtriebe im Inneren stetig gefährdet. Zur Konsolidierung des israelitischen Königtums Jahwe versus Baal kam es erst mit Omri (882/78–71), zu dessen Dynastie die Könige Ahab (871–852), Ahasja (852–851) und Joram (851–845) zählen. Die Epoche, in der das Königshaus Omris über Israel herrschte, wird von den biblischen und außerbiblischen Zeugnissen sehr unterschiedlich bewertet: „für keinen anderen Abschnitt der israelitischen Geschichte gehen die Urteile so weit auseinander wie für die Zeit unter Omri und seinen Nachfolgern“ (Timm, 11). Die Religionspolitik der Omriden ist konstitutiver Bestandteil ihres Bemühens um Befestigung des anfangs äußerst labilen Staatswesens. Sie war auf Integration angelegt und folgte, wo diese zu misslingen in Gefahr stand, dem Prinzip des „divide et impera“. Nichtsdestoweniger scheint es, wie dem Sagenkreis vom Auftreten der Propheten Elia (1. Kön 17,1–19,18; 21; 2. Kön 1,2–17) und Elisa (1. Kön 19, 19–21; 2. Kön 2,1–25; 3,4–8; 13,14–21) zu entnehmen ist, zu Konflikten zwischen den Anhängern der sog. kanaanäischen Baalsreligion und jenen Kreisen gekommen zu sein, die einen Exklusivanspruch Jahwes auf Israel und sein Recht auf Alleinverehrung vertraten. Indes ist historisch schwer auszumachen, ob der damalige Gegensatz tatsächlich so massiv war, wie er

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sich einer späteren Zeit darstellte. Am ehesten wird man mit Spannungen zu rechnen haben, die in Unterschieden zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung ihren Ursprung haben, wobei Urbanität und alles dazugehörige Gebaren religiöser, ethischer und sonstiger Art mit den Kanaanänern assoziiert wurde, die einstmals die befestigten Ebenenstädte bewohnt hatten, Ländlichkeit hingegen mit den Gefolgschaften Jahwes, die anfangs vor allem in den Gebirgen hausten. Wie dem auch sei: In der später zur Stereotype verfestigten Alternative von heidnischem Kanaan einerseits und jahwetreuem Israel andererseits reflektieren sich Konflikte, die zur Zeit der Omriden bei aller Wichtigkeit der Religionskomponente gewiss nicht nur religiös, sondern auch sozial und anderweitig konnotiert waren. Ohnehin zeigt die Botschaft der frühen kanonischen Propheten, dass Religiöses und Soziales in der damaligen Zeit zwar zu unterscheiden, nicht aber zu trennen war. Wie immer der Widerspruch jahwetreuer Kreise gegen die auf Integration bzw. Konfliktvermeidung durch teilweise Separierung angelegte Religionspolitik der Omriden motiviert gewesen sein mag: Die „antikanaanäische“ Opposition, die Jahwe als wahren Gott dem falschen Götzen Baal entgegensetzte, hat mit ihrem strikten Plädoyer für Alleingeltung der Jahwereligion in Israel sicherlich stets auch das Interesse der Verteidigung, Stärkung und Durchsetzung der eigenen Machtposition im Staate verbunden. Dies beweist am eklatantesten das Beispiel Jehus, durch dessen Revolte die Dynastie Omris den Thron im Nordreich verlor. Jehu (ca. 845–818) ersetzte die auf Integration und Differenzierung angelegte (Religions-)Politik der Omriden durch einen Willen zur Gleichschaltung, der desintegrativen Faktoren mit brutaler Gewalt zu begegnen suchte, um sie möglichst durch Vernichtung zu erledigen. Es gibt wenig historischen Anlass, dem positiven theologischen Urteil der Deuteronomisten über König Jehu beizupflichten; dieses Urteil wird verständlich erst aus der Sicht einer späteren Zeit, als Israel samt Juda jede äußere Machtbasis verloren hatte und in seiner Machtlosigkeit Grund und Sinnziel seiner Existenz bei jenem Gotte suchte, der in der Allmacht seiner Gerechtigkeit allen bloßen Machtgötzen prinzipiell überlegen ist. Das Bewusstsein prinzipieller Überlegenheit Jahwes über alle Götzen der Macht verschaffte sich in Israel weder unter Jehu entsprechende Geltung noch in der von ihm begründeten Dynastie, die mit dem Tode Jerobeams II. (787–747) sich rasch ihrem Ende zuneigte. Jahwe blieb, wie auf seine Weise auch der kanaanäische Baal, dem er entgegengesetzt wurde, ein Gott partikularer Interessen politischer und sozialer Macht, die er herrschaftlich repräsentierte, ohne sie grundsätzlich zum Problem werden zu lassen. Es blieb den in den Zeiten einstweiligen Aufschwungs und Wohlstands unter dem erwähnten Jerobeam II. auftretenden israelitischen Propheten Amos und Hosea vorbehalten, im Namen der Gerechtigkeit Gottes ein entsprechendes Problembewusstsein zu schaffen und einen Neuansatz herbeizuführen, der auch im Südreich nicht folgenlos blieb, wo namentlich Jesaja und Micha mit einer prophetischen Sozial- und Staatskritik an die Öffentlichkeit traten, welche die Verbindung und tendenzielle Koinzidenz von Religion und Macht prinzipiell in Frage stellte. Davon wird an späterer Stelle noch zu reden sein. Hier

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ist zunächst von der Krise zu handeln, welche der Aufstieg des neuassyrischen Großreiches für Israel und für Juda erbrachte. Die seit den letzten beiden Jahrhunderten des Die assyrische Krise und ihre zweiten vorchristlichen Jahrtausends anhaltende theologischen Implikationen Schwächephase der Großmächte des alten Vorderorients, welche Bildung und Bestand von Kleinstaaten auf der syropalästinischen Landbrücke ermöglicht hatte, neigte sich im Laufe des 9. und 8. Jahrhunderts v.Chr. ihrem definitiven Ende zu. Die geschichtsmächtigste Bewegung ging vom Zweistromland aus, zwar (noch) nicht vom alten Kulturland Babylonien, wohl aber von Assyrien, auf beiden Seiten des oberen Tigris gelegen. Mit Tiglatpilesar III. (745–727) vollendete sich Assyriens seit langem in Gang befindlicher Aufstieg zur Großmacht. Er und seine Nachfolger Salmanassar V. (727–722), Sargon II. (722–705) und Sanherib (705–681) entwickelten und verfolgten „ein System der stufenweisen Vernichtung der Selbständigkeit der Kleinstaaten mit dem Ziel ihrer Einverleibung in das Gefüge der assyrischen Provinzen“ (Donner II, 297). Israel und Juda wurden Opfer dieser Politik: Das Nordreich ging nach dem Fall Samarias 722 unter, das Königreich Juda wurde assyrischer Vasall. Vorangegangen war der israelitischen Katastrophe der sog. syrisch-ephraimitische Krieg (734–732), über den neben 2. Kön 15,29f. 37; 16,5–9 die Prophetensprüche Jes 7,1–17; 8,1–15; 10,27b–34; 17,1–11 sowie Hos 5,1f; 5,8–6,6 und 8,7–10 unterrichten. Der Krieg entwickelte sich aus dem vergeblichen Versuch König Rezins von Damaskus und König Pekachs von Israel, den judäischen Davididen Ahas zu einer antiassyrischen Koalition zu bewegen. Als dieser sich dem Vorhaben widersetzte, rückten alliierte Streitkräfte gegen Jerusalem vor, um Ahas abzusetzen. In seiner Bedrängnis wandte sich dieser gegen den dringlichen Rat des Propheten Jesaja mit der Bitte um Schutz an Tiglatpilesar und trat so nolens volens in ein Vasallenverhältnis zu den Assyrern ein. Zur politischen Totalkatastrophe kam es im Nordreich. Von dem erwähnten Tiglatpilesar bereits 732 erobert und territorial erheblich beschnitten wurde Israel von Salmanassar V. ein definitives politisches Ende bereitet, nachdem der im Rumpfstaat Ephraim zum König eingesetzte Hosea in völliger Fehleinschätzung der politisch-militärischen Lage anlässlich des Wechsels auf dem assyrischen Thron die Vasallentreue aufgekündigt und die Tributleistungen eingestellt hatte. Nach dreijähriger Belagerung fiel Samaria 722; die israelitische Oberschicht wurde ausgemerzt bzw. durch Deportation ihrer Funktionen enthoben und durch landesfremde Eliten ersetzt. Nicht nur unter politischen, auch unter Gesichtspunkten religiöser Identität waren die Folgen dieser Unternehmung verheerend. Die entstehende Mischkultur, innerhalb derer der traditionelle Jahwekult nur eine Religionsmöglichkeit darstellte, dürfte die Verhältnisse, wie sie zur Zeit der Omriden herrschten, an unübersichtlicher Komplexität bei weitem übertroffen und im Übrigen erheblich zu einer wachsenden Entfremdung des israelitischen Nordens vom judäischen Süden beigetragen haben, wie sie spätestens im sog. samaritanischen Schisma offen zutage trat und bis in die irdischen Lebtage Jesu fortwirkte.

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Die assyrische Krise der israelitischen Religion (vgl. Donner II, 329) betraf indes nicht nur den Norden, sondern auch Juda, das als eigener Staat unter der Oberhoheit der Assyrer fortexistierte. Nachdem ein antiassyrischer Aufstandsversuch des Ahasnachfolgers Hiskia trotz unterbliebener Einnahme Jerusalems mehr oder minder desaströs geendet hatte, blieb Manasse in seiner über ein halbes Jahrhundert währenden Regierungszeit (696–642) nichts anderes übrig, als sich in politischer und religionspolitischer Hinsicht als treuer Vasall seiner obersten Dienstherrn zu erweisen. Was 2. Kön 21 über ihn und die kurze Regierungszeit seines Nachfolgers Ammon berichtet, enthält gewiss einen Kernbestand historischer Wahrheit, obzwar das Primärinteresse der Darstellung die durch Motive einer späteren Zeit bestimmte Kontrastierung der Politik Manasses zur Reformpolitik Josias bildet. Dass unter ersterem im Zeichen des Baals und der Aschera der Reichsgott Assur und die assyrische Himmelskönigin samt dem ganzen sonstigen Himmelsheer zweistromländischer Astralgottheiten Einzug im Jerusalemer Tempel hielten, wird man ebenso voraussetzen dürfen wie die Verbreitung assyrischer Sitten und Gebräuche namentlich in den judäischen Oberschichten. Vor größere Probleme als diese Annahme, die als historisch gesichert gelten darf, stellt die Frage ihrer theologischen Beurteilung. Dass diese unter deuteronomistischen Bedingungen radikal negativ ausfallen musste, ist offenkundig und nicht weiter erklärungsbedürftig. „Weil Manasse mit dem Maßstab Josias gemessen wird, weil das helle Licht, das auf diesen fällt, jenen zwangsläufig in den dunkelsten Schatten rückt, ist es nicht widersinnig, Manasse, den Vorgänger des Reformators Josia, einen Gegenreformator zu nennen.“ (Spieckermann, 161) Aber dieses Urteil ist in der Perspektive einer späteren Zeit getroffen und Erfahrungen geschuldet, die erst gemacht werden mussten, um kriteriologisch plausibel zu sein. Wie aber ist die assyrische Krise der israelitischen Religion unter den Bedingungen ihrer eigenen Zeit zu beurteilen? Handelt es sich bei ihr tatsächlich um eine Religionskrise, die mehr und anderes ist als eine Krise politischer Macht? Anders und schärfer formuliert: Ist die Jahwereligion im assyrischen Zeitalter bereits grundsätzlich aus einem religionsgeschichtlichen Stadium herausgetreten, in welchem die Göttlichkeit Gottes und der Götter primär über das Medium von Macht definiert wird? Der naturreligiöse Standpunkt, der die Gottheiten mit waltenden Naturmächten identifiziert und umgekehrt, scheint im Wesentlichen verlassen. Insoweit ist der Kampf mit den kanaanäischen Baalim und Astarten ausgefochten, deren Namen für Israel Momente der eigenen religionsgeschichtlichen Herkunft markieren. In der Königszeit erschöpft sich Jahwe, wie man annehmen darf, nicht mehr in seiner ursprünglichen Funktion als Wettergott und als Garant natürlicher Geschehensabläufe und Förderer der Fruchtbarkeit der Erde und der sie bewohnenden Kreaturen. Er ist in die Geschichte eingetreten und aus einer, wenn man so will, kosmomorphen zu einer soziomorphen Größe geworden. Indes kann man fragen, ob die Spannungen zwischen Jahwetreuen und sog. Kanaanäern etwa zu Ahabs Zeiten mit diesem Hinweis historisch angemessen erfasst sind. Denn es spricht viel dafür, dass Grund und Ursache der Spannungen haupt-

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sächlich in sozialen Konflikten und nicht etwa in einem Streit um das Recht bzw. Unrecht naturreligiöser Kulte bestanden haben. Den Kern der religionspolitischen Auseinandersetzungen im Inneren Israels bildete, wie es scheint, der Kampf um politisch-soziale Macht und Anerkennung, als dessen Funktion Religion im Wesentlichen in Erscheinung tritt und zwar auf beiden Seiten. Auch für das offizielle Verhältnis, in das sich die Religionspolitik Judas zu Assur und seinen Göttern setzte, dürfte der Faktor Macht entscheidend gewesen sein. Dass, wie Herbert Donner vermutet, „die Naturbezogenheit der fremden Gottheiten den Ausschlag ihrer Rezeption gegeben“ (Donner II, 338) haben, ist höchst unwahrscheinlich. Zwar ist die Assoziation einer großen inneren Nähe der Gottheiten des assyrisch-babylonischen Pantheons zu den kanaanäischen Natur- und Vegetationsgottheiten durch die „interpretatio canaanaica“ (ebd; bei D. kursiv) nahegelegt, die den assyrischen Göttern in den Königsbüchern zuteil wird, welche sie, wie erwähnt, mit Baal und Aschera gleichsetzen. Aber wie Baal und Aschera schon zu Ahabs Zeiten primär nicht mehr göttliche Naturmächte waren, so traten auch die mit ihnen identifizierten Reichsgötter Assyriens für Israel und Juda in erster Linie nicht als naturhafte Größen, sondern als himmlische Repräsentanten politischer und sozialer Macht in Erscheinung. Mag auch die kriegerische Gewalt, die in ihrem Namen geübt wurde, wie ein fatales Naturgeschick auf die Opfer gewirkt haben, so waren die Götter Assurs doch Repräsentanten nicht einer Natur-, sondern einer geschichtlichen Macht. Als solche begegneten sie Israel-Juda, und als solche wurden sie gleich Okkupanten im Jerusalemer Tempel platziert und entsprechend verehrt. Unter König Josia, dessen Regierung den „großen Auftakt zur letzten Phase“ (Donner II, 329) der staatlichen Existenz Judas bildet, wurde diesem Treiben ein Ende gesetzt: Josia befiehlt den Zuständigen, „alle Gegenstände aus dem Tempel Jahwes hinauszuschaffen, die für den Baal, die Aschera und das ganze Heer des Himmels angefertigt worden waren“ (1. Kön 23,4). Anschließend werden die jahwefeindlichen Fremdgötter bei den Terrassen des Kitrontales eingeäschert. Wie hat man diese Aktion und im Zusammenhang damit das josianische Reformwerk insgesamt in religionsgeschichtlicher und theologischer Hinsicht zu beurteilen? Mit dieser Frage sei ein neues Kapitel eröffnet, das Anlass geben wird, auf sie zurückzukommen.

4. Exilskrise Israels und jüdischer Monotheismus

Lit.: R. Albertz, Die Exilszeit. 6. Jahrhundert v.Chr., Stuttgart/Berlin/Köln 2001. – K. Baltzer, Die Biographie der Propheten, Neukirchen 1975. – H. Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen. Teil 2: Von der Königszeit bis zu Alexander dem Großen. Mit einem Ausblick auf die Geschichte des Judentums bis Bar Kochba, Göttingen (1986; 21995) 32001. – G. Fohrer, Bemerkungen zum neueren Verständnis der Propheten, in: P. H. A. Neumann (Hg.), Das Prophetenverständnis in der deutschsprachigen Forschung seit Heinrich Ewald, Darmstadt 1979, 475–492. – K. Grünwaldt, Exil und Identität. Beschneidung, Passa und Sabbat in der Priesterschrift, Frankfurt a.M.1992. – K. Koch, Die Profeten. 2 Bd., 31995/21988. – R. G. Kratz, Die Propheten Israels, München 2003. – M. Noth, Geschichte Israels, Göttingen (1950) 91981. – Ders., Israel als Staat und als Volk, in: ZThK 97 (2000), 1–17. – R. Schmid, Art. Exil I. Altes und Neues Testament, in: TRE 10, 707–710. – H. Vorländer, Der Monotheismus Israels als Antwort auf die Krise des Exils, in: B. Lang, Der einzige Gott. Die Geburt des biblischen Monotheismus, München 1981, 84– 113. – J. Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 61905. – Ders., Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin/Leipzig 81921. – H. Wildberger, Der Monotheismus Deuterojesajas, in: ders., Jahwe und sein Volk. Gesammelte Aufsätze zum Alten Testament, München 1979, 249–273. – H. W. Wolff, Studien zur Prophetie. Probleme und Erträge. Mit einer Werkbibliographie, München 1987. – W. Zimmerli, Das Gesetz und die Propheten. Zum Verständnis des Alten Testaments, Göttingen 1963.

Der „Nullpunkt“ in der Geschichte Israels von seinen vorstaatlichen Anfängen bis zur Zeit Jesu Juli 587 v. Chr. lässt sich präzise datieren: im Juli des Jahres 587 v.Chr. nahmen neubabylonische Truppen nach anderthalbjähriger Belagerung in Abwesenheit ihres Oberbefehlshabers Jerusalem ein und ergriffen im Jordangraben den judäischen König nach vergeblicher Flucht, um ihn vor Nebukadnezar II. zu führen, der grausames Gericht über den abtrünnigen Vasallen hielt. Zedekia wurde geblendet und in Ketten nach Babylon verschleppt, nachdem er zuvor der Abschlachtung seiner Söhne als möglicher Aspiranten auf den Davidsthron hatte zusehen müssen. Etwa einen Monat später wurde das von den Siegern ausgeplünderte Jerusalem samt Salomonischem Tempel und Königspalast in Brand gesetzt und eingeäschert, die Stadtmauern geschleift. Die Oberschicht des Landes aber ließ Nebukadnezar ins babylonische Exil wegführen, wie er das gut zehn Jahre zuvor schon einmal getan hatte, als Jojachin samt Familie und Hofgefolge sowie einer großen Schar von Waffentüchtigen gefangen ins Zweistromland geführt wurden.

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Schon damals, im Jahre 598 oder 597 v.Chr., war Jerusalem eingenommen und geplündert worden. Gleichwohl hatten die Ereignisse von 587 v.Chr. ungleich einschneidendere Folgen: das Zentralheiligtum war vollständig ruiniert, das Ende der judäischen Eigenstaatlichkeit definitiv, der Sturz der davidischen Dynastie endgültig. Zwar stellte das Königtum in der Nachfolge Davids und Salomons von Anfang an eine weltgeschichtliche Randerscheinung und auch in lokalgeschichtlicher Hinsicht eine Einrichtung von durchaus ambivalenter Bedeutung dar, deren Niedergang sich schon beizeiten abzeichnete: als unabhängige Institution in den beiden Staaten Israel und Juda existierte es nicht länger als zweieinhalb Jahrhunderte, um dann nur noch im Südreich für weitere anderthalb Jahrhunderte in Form eines Vasallenkönigtums sein randständiges Dasein zu fristen. Doch verbanden sich mit dem Königtum trotz, ja in gewisser Weise wegen seines faktischen Zustands, der nicht selten eher betrüblich war, seit den kurzen, zumindest halbwegs glänzenden Zeiten Davids und Salomons hochfliegende Erwartungen und Hoffnungen politischer und religiöser Natur. All dies war nun dahin und gründlich erledigt. Nicht minder schwer wog der Verlust des gelobten Heimatlandes für die Exilierten und der Ruin der Jerusalemer Kultstätte. Das Gottesvolk war am Ende. Dieses Ende hatte sich schon seit geraumer Zeit abgezeichnet und lässt sich zurückverfolgen in die Zeit, als der davidisch-salomonische Großstaat zerfiel, kaum dass er entstanden war. Seither waren Juda und Israel auf den Status von Kleinmächten innerhalb der Staatenwelt des Vorderen Orients herabgedrückt, die sich im Kampf mit feindlichen Nachbarn mehr oder minder erfolgreich zu behaupten suchten. Zeiten des Niedergangs und des Wiederauflebens wechselten sich ab, bis die neuassyrischen Großkönige Tiglatpileser III. und Salmanassar V. 733 bzw. 722 v.Chr. das Königreich Israel zugrunderichteten, die Oberschicht verschleppten und Juda nur mehr als abhängigen Vasallenstaat bestehen ließen. Das Ende des neuassyrischen Großreichs, das unter dem Ansturm von Babyloniern, Medern und anderen Kräften in den letzten Jahrzehnten des 7. Jahrhunderts v.Chr. erstaunlich rasch zusammenbrach, ermöglichte dann allerdings einen kurzfristigen Aufschwung in Juda, der im Reformwerk des Josia (639/8–609 v.Chr.) und seinem Versuch, das davidisch-salomonische Doppelkönigtum zu restaurieren, seinen Höhepunkt erlangte. Noch einmal schien sich das Staatswesen unter dem letzten bedeutenden Vertreter der davidischen Dynastie zu ehemaliger Größe zu erheben. Als Achtjähriger auf den Davidsthron gelangt, schickte sich der jugendliche König an, nicht lange nachdem er mündig geworden war, in konsequenten Schritten das Vasallitätsverhältnis gegenüber Assur aufzulösen und die nationale Unabhängigkeit auf der Basis der theologischen Ideen der Einzigkeit Jahwes und der Einheit seiner Kultstätte wiederherzustellen. Doch dem Aufstieg folgte bald schon der Fall, der in den Abgrund der Vernichtung des Südreichs durch die Neubabylonier führte. Noch bevor er seine weitreichenden Pläne mehr als ansatzweise realisieren konnte, fiel Josia im Jahr 609 v.Chr. bei Meggido im Kampf gegen den Pharao Necho, um ägyptischer Herrschaft Platz zu machen, die allerdings nicht lange währte, sondern bereits nach wenigen Jahren

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durch die neubabylonische ersetzt wurde mit den bekannten verheerenden Konsequenzen für Jerusalem und Juda. In der Folge der Katastrophe wird Josia, wenn man so will, ganz in die Wirkungsgeschichte seines Werkes aufgehoben, dessen Bedeutung diejenige seiner historischen Existenz geschichtlich in den Schatten stellt, so bedeutsam gewiss auch diese war. Es ist die Nachhaltigkeit seiner Folgewirkung, die dem äußerlich nur kurzfristig erfolgreichen Werk des Josia einen hervorragenden Stellenwert in der Geschichte Israels gab. Dies ist Anlass genug, bei den faktischen Tatsachen seines historischen Handelns trotz reichlich gegebener Unsicherheiten länger als einen Augenblick zu verweilen, um dann erst der Katastrophe freien Lauf zu lassen. Genese und ursprüngliche Zielbestimmung des josianischen Reformwerks werden in der For- Das josianische Reformwerk schung im Einzelnen sehr kontrovers beurteilt. Dies ist wesentlich durch die Eigentümlichkeiten des einschlägigen Quellentextes 2. Kön 22–23 bedingt, der seinerseits die Grundlage der Darstellung in 2. Chr 34– 35 bildet. Nicht unerhebliche Probleme bereitet schon der möglicherweise vorexilische Bericht über das „Gesetzesbuch“ in 2. Kön 22,3–13*, dessen Auffindung das josianische Reformwerk veranlasst haben soll. Handelt es sich dabei um eine Urform des Deuteronomiums und, falls dies bejaht wird, wie hat man sich diese Urform genauer vorzustellen? Klar immerhin ist, dass die in 2. Kön 23,4–15* geschilderten Reformmaßnahmen kultpolitisch die Beseitigung alles Jahwe nicht gemäßen Religionswesens im Tempel und darüber hinaus in ganz Jerusalem und seinem Umland sowie in den Städten Judas anstrebten. Ziel des Bemühens um Kultreinheit und Zerstörung aller nichtisraelitischen Fremdgötter und ihrer Heiligtümer war zweifellos die Emanzipation von der assyrischen Oberhoheit. Verbunden war diese Emanzipationspolitik gegenüber der im Verfall begriffenen Herrschaft Assurs mit dem Bemühen, über die Grenzen des Territoriums von Jerusalem und Juda hinaus im ehemaligen Nordreich Einfluss zu nehmen. Josia nützte das Machtvakuum in der assyrischen Provinz Samarina zu Maßnahmen, die auf Annexion und eine schrittweise Wiederherstellung der Verhältnisse unter David und Salomon angelegt waren, welche Süd- und Nordreich einst unter einer Herrschaft verbanden. Josia „schickte sich an, das zur Erfüllung zu bringen, was der Prophet Jesaja hundert Jahre früher verkündet hatte: die Wiedervereinigung des israelitischen Nordens mit dem judäischen Süden (Jes 8,23b–9,6)“ (Donner II, 380). Von dem politischen Ziel der Restauration des Davidreichs dürfte nicht zuletzt das josianische Bemühen um Kultzentralisation in Jerusalem bestimmt gewesen sein. Bekanntlich strebte der König nicht nur Kultreinheit (vgl. 2 Kön 23,4–15*), sondern Kulteinheit (vgl. Dtn 12,13–19*) an. Josia begnügte sich nicht damit, die Jahwereligion von theologischer Fremdbestimmung zu befreien, sondern griff massiv in deren eigene Geschichte ein, indem er die regionalen Kulte aufzuheben und auf Jerusalem zu beschränken suchte. Welche Rolle in diesem Zusammenhang die Weisungen des den Angaben zufolge im Tempel aufgefundenen Buches des

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Gesetzes gespielt haben, ist schwer zu entscheiden, da eine präzise Identifikation des Textkorpus vor erhebliche Probleme stellt. Für die seit Martin Leberecht de Wette wissenschaftlich vertretene Annahme, dass es sich bei dem Gesetzesbuch um die Urgestalt des Deuteronomiums handelt, sprechen zwar gute Gründe; mehr als ein Indizienbeweis mit verbleibenden Restunsicherheiten ist aber nicht zu führen. Es kann nicht definitiv ausgeschlossen werden, dass die deuteronomische Forderung der Kulteinheit weniger als Prämisse denn als programmatische Implikation und Folge der josianischen Reform formuliert wurde. Wie immer die Beziehungszusammenhänge im Einzelnen beurteilt werden mögen: Faktum ist, dass die von Josia betriebene Kultzentralisation einen Vorgang von enormer wirkungsgeschichtlicher Bedeutung darstellt. Mag das Ursprungsmotiv primär herrschaftlicher Natur gewesen sein: die Wirkung des josianischen Reformwerkes endete, wie gesagt, keineswegs mit dem machtpolitischen Scheitern seines Urhebers. Zu einem zentralen Ereignis der Religionsgeschichte Israels ist die Reform des Josia im Gegenteil erst nach dessen Tod und nach dem baldigen Untergang seines Reiches geworden. Nun erst tritt der religiöse Sinn der Erhebung Jerusalems zum Zentralheiligtum und damit auch der innere Gehalt deuteronomischer Theologie offen zutage. Das Deuteronomium wird als heiliges Buch zum Nukleus der Sammlung heiliger Schriften der nachexilischen Judenheit. Mit der Erinnerung an das von Josia kurz vor dem staatlichen Ende noch einmal beispielhaft verkörperte davidische Königtum aber verbinden sich künftige Erwartungen, die über alles hinausreichen, was politische Vernunft auszudenken und königliche Macht zu realisieren vermag. Von der Dramatik der Ereignisse, die nach Josias Der „Nullpunkt“ der Tod verhältnismäßig bald schon über Jerusalem Geschichte Israels und Juda hereinbrachen, wurde bereits berichtet: 598 v.Chr. wird die Davidsstadt erstmals eingenommen, der Tempel geplündert und König Jojachin mit Teilen der Bevölkerung ins babylonische Exil deportiert. Nachdem Zedekia gegen eindringliche Warnungen des Propheten Jeremia und in irrwitziger Überschätzung seiner Macht und Möglichkeiten Nebukadnezar die Vasallentreue aufgekündigt hatte, wiederholte sich das Drama nach kaum mehr als einem Jahrzehnt in gesteigerter Form: die Nachkommen Davids ermordet und blindem Verderben ausgeliefert, die Herrlichkeit der exilierten Oberen dahin, der Tempel in Schutt und Asche, Jerusalem ruiniert und schutzlos seinen Feinden ausgeliefert, Juda gänzlich unterworfen! Im Jahr 587 v.Chr. „steht Israel am Nullpunkt: Ohne König und Land sind dem Volk die Grundlagen entzogen; ohne Tempel fehlt das Zentrum der gelebten Verkündigung. Gott scheint abwesend (Psalm 79,10), unerreichbar (Ps 137). Das Volk fühlt sich von Gott verlassen (Jes 49,14) und steht in Gefahr, sich für offenbar überlegene Gottheiten zu entscheiden (vgl. Ez 20,32). Den völligen Zusammenbruch stellt Ez 37 treffend dar mit den in die Ebene verstreuten Knochen.“ (Schmid, 708) Ist es übertrieben, in der Differenz einer vorexilischen und einer nachexilischen Historie Israels einen Vorschein der Unterscheidung von Kreuz und Auferstehung

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Jesu bzw. zwischen vorösterlicher und nachösterlicher Zeit wahrzunehmen, wie er für das christliche Geschichtsverständnis kennzeichnend ist? Die Wende aus dem Nichts zu einem Neuanfang hin erschien für Israel in Gestalt des Perserkönigs Kyros. Von Deuterojesaja als ein Werkzeug Gottes zum Sturze Babels und zur Errettung des erwählten Volkes begrüßt (vgl. Jes 44,28; 45,1; 47), setzte er nach dem Tod Nebukadnezars im Jahr 562 v.Chr. dem neubabylonischen Reich ein rasches Ende. 539 v.Chr. griff Kyros Nebukadnezars Nachfolger Nabonid an und hielt nach errungenem Sieg in der Feldschlacht glänzenden Einzug in Babylon. Nach weiteren Kriegserfolgen und territorialen Zugewinnen war Mitte der 20er Jahre des 6. vorchristlichen Jahrhunderts das ganze Gebiet des Alten Orients unter seinem Sohn und Nachfolger Kambyses im persischen Großreich vereint, das an Umfang selbst noch das neuassyrische Reich übertraf. Anders als die assyrischen und babylonischen Potentaten waren die Perserkönige willens und bereit, die spezifischen Traditionen und kultischen Eigenarten ihrer Untertanenvölker innerhalb der Grenzen der Staatsräson zu achten und zu fördern. Für Israel bedeutete dies einen nach Tempelzerstörung und Exilskatastrophe nur noch von wenigen für möglich gehaltenen religiösen Neubeginn. Bereits unter Kyros, und zwar unmittelbar nach Babylons Fall, soll es zu dem Erlass gekommen sein, den Jerusalemer Tempel aus öffentlichen Mitteln wieder aufzubauen und die entwendeten Kultgeräte zurückzugeben. Damit war für Israel die Chance einer Kulterneuerung am zentralen Heiligtum gegeben. Bezog sich das Kyrosedikt, dessen Wortlaut in reichsaramäischer Amtssprache in Esr 6,3–5 vielleicht sogar erhalten ist, allein auf den Wiederaufbau des Tempels, so war an eine schnelle Rückkehr der Deportierten aus der babylonischen Gefangenschaft jedenfalls in großem Stil vorerst nicht zu denken, da die Infrastruktur und die wirtschaftlichen Verhältnisse in und um Jerusalem desolat waren. Aus diesem Grund geriet auch das Tempelbauwerk ins Stocken, kaum dass die Fundamente gelegt waren. Es dauerte Jahre, bis der Kyroserlass von 538 v.Chr. realisiert war. Motiviert durch die Propheten Haggai und Sacharja und möglicherweise auch durch die Vorgänge um den Davididen Zerubbabel, mit dem sich messianische Erwartungen verbunden hatten, kam es unter Darius zu einer Wiederaufnahme der Tempelarbeiten und zur Vollendung des Werks: im Frühjahr des Jahres 515 v.Chr. wurde das aus den Ruinen des alten Tempels neu erstandene Heiligtum feierlich eingeweiht. Das schreckliche Ende am Beginn des 6. Jahrhunderts v.Chr. war gegen Ende des Säkulums hin in einen Neuanfang gewandelt worden. Es gibt – keine Frage – ein Israel nach der Tempelzerstörung durch Nebukadnezar und nach Ende und Neubeginn dem babylonischen Exil; doch haben sich seine Form und Gestalt grundlegend verändert: Israels Identität war nicht mehr durch Eigenstaatlichkeit und ein selbständiges Königtum garantiert, auch nicht mehr primär durch Landbezug und territoriale Präsenz oder Weisen organischer Volkszugehörigkeit gewährleistet. Sie gründete vielmehr in der Gemeinschaft des Kults und in der Zugehörigkeit zur Ordnung eines religiösen Lebens, deren Struktur in

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der persischen Zeit immer profilierter wurde. In den zweihundert Jahren, in denen Israel mit der gesamten vorderorientalischen Welt unter persischer Herrschaft stand, haben nicht nur der Jerusalemer Kult und die gottesdienstliche Kultgemeinde diejenige Verfassung gewonnen, die bis zur erneuten Zerstörung des Tempels bestimmend bleiben sollte; auch die Ordnung des sonstigen religiösen Lebens formierte sich in bisher nicht gekannter Weise, wofür die Anfänge der Kanonisierung der alttestamentlichen Literatur wichtige Belege geben. Was den Kult am zentralen Heiligtum betrifft, so wurde er nach vorgeschriebener Ordnung von einer dem Alten Israel so nicht bekannten Hierarchie von Priestern geregelt, die sich von dem zadokidischen Priestergeschlecht der Davidszeit herleiteten und ihre Ursprünge auf den Mosebruder Aaron zurückführten. An ihrer Spitze stand der sog. Hohepriester. Unterstützt wurden sie durch die Kultdienerschaft der Leviten. Im Zentrum des Kultvollzugs hinwiederum standen Opfer, deren Funktion wesentlich in Sühnung und Reinigung von Schuld und sündhaften Verfehlungen bestand. Besonders signifikant ist das Ritual des Großen Versöhnungstages (Lev 16). Im Verein mit dem Kult, den es regelte, gewann die Tora, zu der sich das komplexe Überlieferungsgut des Pentateuch in persischer Zeit formierte, bestimmende Bedeutung für das Leben aller, die Israel angehörten, sei es als in der alten Heimat Verbliebene oder in sie Zurückgekehrte, sei es als Gesetzesfromme in der Diaspora Babylons, Ägyptens oder an anderen Orten. Entsprechendes gilt für die gebotene Einhaltung der Sabbatruhe und das Zeichen der Beschneidung, die zu religiösen Identitätsmerkmalen der ihres Landes und ihrer Kultstätte beraubten Exilierten wurden. Schriftgelehrsamkeit und synagogaler Gottesdienst gewinnen ansatzweise an Bedeutung, obzwar sie sich erst in hellenistischer Zeit historisch exakt identifizieren lassen. Wie auch immer: die Zugehörigkeit zu Israel ist neben und im Verein mit dem Jerusalemer Tempelkult durch die Observanz des Gesetzes bestimmt, welches das religiöse Leben normiert und in abgestufter Weise zusammen mit dem aufgezeichneten Traditionsgut der Propheten und anderen Überlieferungen kanonische Bedeutung gewinnt. Dies alles geschah in persischer Zeit, die im Übrigen auch in politischer Hinsicht für Israel eine Neuordnung brachte. Erinnert sei nur an die Mission Nehemias, der Mitte des 5. Jahrhunderts v.Chr. in amtlichem Auftrag der persischen Regierung nach Jerusalem kam und als Statthalter der Provinz Juda nicht nur für den Neubau der Mauern seiner Provinzhauptstadt sorgte (vgl. Neh 6,15), sondern durch Wiederansiedlungsmaßnahmen und soziale Reformen auch sonst viel für die Stabilisierung Jerusalems und seines Umlandes tat. War es Nehemia im Wesentlichen um politische Reorganisation zu tun, so verbindet sich der Name Esra vor allem mit den angesprochenen religiösen Ordnungsmaßnahmen. Deren Realisierung ist im Einzelnen nicht zu verfolgen, zumal da sich mit der Esratradition im Allgemeinen und dem mit Esra verbundenen „Gesetz des Himmelsgottes“ manche historische Unsicherheiten verbinden. Es genügt festzuhalten, dass die persische Zeit „eine in vieler Hinsicht für den weiteren Verlauf der israelitischen Geschichte und des israelitischen Lebens entscheidende Zeit (darstellt). Nach dem Verfall und

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Untergang des Alten in den geschichtlichen Ereignissen der assyrischen und neubabylonischen Zeit kam es in dieser Zeit zu einem Neuanfang und einer Neuordnung im Rahmen der Jerusalemer Kultgemeinde im Anschluß an die von Kyros sogleich in seinem ersten Jahre gegebene Anordnung des Wiederaufbaus des Jerusalemer Heiligtums und unter wiederholter Inanspruchnahme der persischen Staatsautorität seitens der babylonischen Deportiertengruppe, die in dieser Zeit offenbar eine nicht unwichtige Rolle für das Ganze gespielt hat. Was in dieser Zeit sich gestaltete und anbahnte, ist für den ganzen weiteren Verlauf der Geschichte Israels bis zu ihrem Ende von Bedeutung geblieben.“ (Noth, 309f.) Die epochale Bedeutung, die der Wende von Die Exilswende und ihre der vorexilischen zur nachexilischen Zeit der Ge- epochale Bedeutung schichte Israels zukommt, lässt sich an dem Begriff exemplifizieren, der ihren Gegenstand identifiziert. Der Name „Israel“, der im Alten Testament über zweieinhalbtausendmal begegnet, ist in seiner etymologischen Herkunft nicht restlos geklärt und in seiner Verwendungsweise vielfältig. Als Personenname vergleichsweise selten umschreibt der Israelbegriff nach alttestamentlichem Sprachgebrauch in nicht immer klar abgrenzbarer Weise eine ethnisch-geographische Größe, einen politisch-sozialen Verband sowie eine Gemeinschaft, für die in erster Linie religiös-theologische Bezüge konstitutiv sind. In der Königszeit wesentlich mit dem vom Südreich Juda zu unterscheidenden Nordreich verbunden kann der Terminus ebenso die im gemeinsamen Gottesbezug fundierte Einheit des Gottesvolkes insgesamt bezeichnen. So wichtig territoriale und geopolitische Konnotationen zweifellos sind: die Identität des Israelbegriffs ist keineswegs ausschließlich durch sie bestimmt. Das wird durch die Tatsache belegt, dass seine Verwendung unbeschadet verbleibender Bedeutungselemente, die Land, Generationenfolge und Herrschaftsformationen betreffen, in nachexilischer Zeit häufig fast ausschließlich auf den religiösen Gebrauch konzentriert ist. Tendenziell wird Israel so zum Würdetitel der werdenden Judenheit, die ihre Identität nicht mehr unmittelbar von Gegebenheiten politischer Souveränität und territorialer Geschlossenheit abhängig weiß. Wie immer man die Terminologiegeschichte des Israelbegriffs im Einzelnen zu beurteilen hat: in ihrem Verlauf reflektiert sich der geschichtliche Wandel der Größe, die Israel bezeichnet. Der Exilswende kommt dabei epochale Bedeutung insofern zu, als sie den Übergang von den Phasen vorstaatlicher Stammesformationen und eines monarchisch organisierten Gemeinwesens in die Phase einer religiös verfassten Gemeinschaft markiert, für die zwar territoriale, politische und insbesondere ethnische Bezüge nach wie vor bedeutsam sind, deren Identität in diesen Bezügen aber nicht aufgeht. Was Israel seiner eigentümlichen, vom heidnischen Umfeld signifikant unterschiedenen, spezifisch religiösen Bedeutung nach ist, steht nicht bereits am Anfang seiner Geschichte fest, sondern hat sich erst in deren Verlauf erschlossen. Am Anfang der Geschichte, die seinen Begriff bestimmte, ist Israel noch nicht die integrierte Gemeinschaft eines religiös geeinten Zwölfstämmebundes, wie Martin Noths Amphiktyoniehypothese dies annahm. Profilierte Form nimmt der Israel-

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begriff zunächst als Bezeichnung des territorial und politisch definierten und vom Südreich Juda unterschiedenen Nordreiches an, dessen Name wahrscheinlich von der dominierenden Bevölkerungsgruppe einer im Übrigen eher inhomogenen Ethnie herrührt. Eine die territoriale und politische Einheit des Nordreichs transzendierende, Juda umgreifende Größe war Israel damals noch nicht. Auch der Gott Israels stellte während der Königszeit eher einen territorial und politisch begrenzten Reichsgott, als eine grenzübergreifende, Juda umfassende oder gar universale Größe dar. Die Identität Israels wie die seines Gottes war damals primär „staatlich“ begründet. Erst die Krise des „Staates“ und der Zerfall des Königreiches im Norden Palästinas führte die Selbsttranszendierung Israels und eine Ausweitung seines Begriffs herbei, der nun auch Juda umfassen konnte und primär keine territoriale und politische, sondern eine religiöse Bedeutung hatte. Dabei war es gerade die Negation seiner ursprünglichen Identität, die Israel seiner religiösen Bestimmung zuführte und seinen Namen auch für Juda bestimmend werden ließ, das sich spätestens nach Eintritt seines staatlichen Endes mit Israel eins wusste. Dabei war das Einheitsbewusstsein, das sich aus dem gemeinsamen Ende politischer Selbstständigkeit ergab, von entschieden religiöser Natur. Israel ist, was es ist, als Volk Gottes, und seine Identität wird in erster Linie von Gottes Herrsein und Herrschaft und erst in zweiter Hinsicht durch ethnische Merkmale bestimmt. Der theologische Bundesgedanke gehört in diesen Zusammenhang. Der Bundesgedanke hat trotz seiner zentralen StelAltes Israel und Judentum lung in der alttestamentlichen Tradition keineswegs von Anfang an und auch nicht exklusiv als Deutekategorie des Verhältnisses Jahwes zu seinem Volke gedient. Älter ist etwa das Deutungsmuster der Ehe bzw. eines eheähnlichen Verhältnisses zwischen Jahwe und dem Gottesvolk, das erstmals bei Hosea belegt ist (vgl. Hos 2,4–15*; 3,1–4). Der alttestamentliche Bundesgedanke nimmt seine charakteristische Form erst in der Reflexion der Krise der, wenn man so will, urtümlichen Gottesbeziehung in „staatlicher“ Zeit an. Damals war das Verhältnis Jahwes und seines Volkes wenn auch nicht mehr unmittelbar naturhaft, so doch im Wesentlichen reichsideologisch bestimmt, so dass Jahwe gleichsam als „Nationalgott“ gelten konnte. Erst nach dem Untergang des Reichs des Nordens zunächst und dann auch des Südens trat der aus dem völkerrechtlichen Vertragsdenken übernommene Bundesgedanke in jenen Verstehenshorizont ein, in welchem er sich zu seiner für das Alte Testament spezifischen, in der deuteronomistischen Bundestheologie klassisch repräsentierten Gestalt formierte. Das Bundesverhältnis zwischen Gott und seinem Volk ist danach nicht, jedenfalls nicht primär naturhaft-ethnisch oder politischterritorial bestimmt; es ist vielmehr in freier göttlicher Wahl begründet, und insofern kein Bündnis im Sinne einer wechselseitigen Vereinbarung auf Vertragsbasis, sondern ein von der Souveränität Gottes bestimmter Beziehungszusammenhang. Gott gewährt seinen Bund, und er tut dies in der unbedingten Freiheit seines wählenden Willens. Grund der Erwählung des Volkes ist allein die freie göttliche Wahl. Indes ist die göttliche Freiheit von arbiträrer Willkür und einem reinen Be-

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lieben, das tut und lässt, was immer gefällt, so weit entfernt wie der Himmel von der Erde. Gottes Freiheit ist die Freiheit der Gerechtigkeit, wie sie im Gesetz offenbar ist. So wahr sich Gott in souveräner Freiheit an die Tora bindet und von ihr gebunden weiß, so sehr ist sein Bundesverhältnis zu seinem erwählten Volk torabestimmt. Wie Gottes Wahl nicht in arbiträrer Unmittelbarkeit, sondern auf toravermittelte Weise erfolgt, so ist das erwählte Volk Volk Gottes primär nicht wegen ethnischer, territorialer, staatsideologischer oder wie auch immer zu fassender Vorzüge, an denen Gott besonderes Gefallen gefunden hätte; das Volk Jahwes ist, was es ist, allein als Volk der Tora, die in der Einheit und Einzigkeit Gottes gründet. Die Erwählung des Volkes erfolgt im Medium der Tora, an die Gott sich in göttlicher Freiheit gebunden hat und der er sich mit der Notwendigkeit, die in seinem göttlichen Wesen liegt, verpflichtet weiß. Weil Gott selbst sich seiner Tora, mittels derer er den Bund mit seinem Volk geschlossen hat, verpflichtet weiß, nimmt er in seinem Gesetzesbund und durch ihn auch diejenigen in Pflicht, die er erwählt hat. Das Volk und alle seine Glieder sind durch den Bund der Erwählung Gottes zur Gesetzestreue verpflichtet. In dieser Bindung besteht ihre Bestimmung, die sich auf naturhaft-ethnische oder vergleichbare Weise nicht fassen lässt. Der göttlichen Gabe des Bundes an das erwählte Bundesvolk korrespondiert die Aufgabe, ihm durch Gesetzestreue zu entsprechen. Volk der Gerechtigkeit zu sein ist die Bestimmung, die Gott seinem erwählten Israel zuerkennt. Es bedurfte grundstürzender Krisen, bis sich diese Einsicht erschloss. Israel musste sich gewissermaßen von sich selbst unterscheiden, um durch schmerzliche Erkenntnis der Verworfenheit seiner vormaligen Existenz hindurch zur befreienden Wahrnehmung seiner göttlichen Erwählung und zu derjenigen Bestimmung zu gelangen, die den Grund seiner unvergleichlichen religionsgeschichtlichen Sendung ausmacht: Volk der Tora, Volk der offenbaren göttlichen Gerechtigkeit zu sein. Die Ausbildung des neuen Israelbewusstseins Das Bundesvolk als Volk der hat das Ende des alten zur Voraussetzung. Dieses Tora kündigte sich in der unbedingten Gerichtsansage der Propheten an und wurde im Nordreich mit dem Fall Samarias 722 v.Chr. und im Südreich, in das nicht wenige Israeliten aus dem Norden geflüchtet oder eingewandert waren, in der endgültigen Katastrophe von 587/86 v.Chr. manifest. Wie der Niedergang des alten sich zwar höchst dramatisch, aber dennoch nicht einfachhin abrupt und ohne jede Vorbereitung vollzog, so stellte sich auch das neue Bewusstsein, das sich im gewandelten Israelbegriff reflektiert, nicht auf einen Schlag, sondern allmählich und im Zuge fortgesetzter theologischer Gedankenarbeit ein. Dies gilt analog auch für die Gottesthematik selbst, so einschneidend gerade hier der Zusammenbruch in den Jahren 598/97 bzw. 587/86 v.Chr. gewirkt hat. Nach nicht nur verbreiteter, sondern fast allgemeiner Forschungsmeinung „bedarf es heute keines Nachweises mehr, dass nicht das Besondere des alttestamentlichen Gottesglaubens, die Ausschließlichkeit und die Einzigkeit Jhwhs, das Erste Gebot und der Monotheismus, sondern das Normale, der – woher immer stammende –

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Wettergott Jhwh an der Spitze des Reiches und das Götterpaar Jhwh und seine Aschera auf der Ebene der Orts- und Familienreligion, am Anfang stand. Das belegen die archäologischen, ikonographischen und epigraphischen Zeugnisse aus vorexilischer Zeit, die ‚external evidence‘ also, ebenso wie die literaturhistorischen Befunde, gewissermaßen die ‚internal evidence‘.“ (Kratz, Israel 1f.) Der israelitische Toramonotheismus steht ebensowenig wie der religiöse Begriff Israels von Anfang an fest, sondern hat sich erst im Laufe der Zeit ausgebildet, wobei der Exilswende entscheidende Bedeutung zukam. Nirgendwo tritt die Transformation Israels, die sich in der Exilswende vollzog, deutlicher zutage als in der Gottesfrage. „Nie zuvor ist der Gott Israels in der gewaltigen Spannweite seines Handelns und der Abgründigkeit seines Wesens tiefer erfahren, schmerzlicher erlitten und begeisterter gefeiert worden wie in den 77 langen Jahren der Exilszeit (597–520 v.Chr.): zerstörerisch in seinem Zorn und aufbauend in seinem Erbarmen, ein gerechter Richter, der planvolle Lenker der Geschichte, der Herr über alle Völker und ihre Götter, der Schöpfer der Welt, ja, der einzige Gott überhaupt ... Ohne die Exilserfahrung hätte es in Israel nie die Entdeckung des Monotheismus im strengen Sinne des Wortes gegeben, ohne sie wäre von Israel nie die Grenze der Nationalreligion überschritten und ohne sie wäre aus seiner Mitte nie die Idee einer weltweiten Mission geboren worden.“ (Albertz, 324) Tatsache ist, dass der Glaube an Jahwe als den einzigen Gott – nicht nur Israels, sondern aller Völker mitsamt der Welt – erst seit dem Exil sicher bezeugt ist. Zwar hatten sich in der vorexilischen Zeit nach naturreligiös-polytheistischen Anfängen bereits Henotheismus und Monolatrie ausgebildet. Die kultisch-religiöse Verehrung wurde mehr oder minder auf Jahwe konzentriert, ohne dass deshalb die Existenz anderer Gottheiten grundsätzlich infrage gestellt oder geleugnet worden wäre. Solche Konzentration kam den königlichen Herrschaftsbelangen insofern entgegen, als sie der staatlichen Einheit und der Befestigung der Identität des Gemeinwesens diente. Die vielfältigen Formen imperialer Königstheologie geben dafür evidente Belege. Gleichwohl blieb der Herrschaftsanspruch Jahwes partikular auch dort, wo er über die Grenzen Israels hinaus ausgeweitet wurde, weil er spezifisch verortet und mit dem eigenen politischen Bestreben weitgehend identifiziert wurde. Zur Einsicht in einen universalen Monotheismus, demzufolge Jahwe in seiner göttlichen Einzigkeit alle Grenzen des Raumes und alle Schranken der Zeit transzendiert, kam Israel erst, als ihm die Basis seiner staatlichen Existenz und alle äußere Macht entzogen waren. Insofern ist die politisch-religiöse Katastrophe die Bedingung und Voraussetzung für Israels universalen Monotheismus, der als konstruktive Folge der Exilskrise zu gelten hat. Für die konstruktive Bewältigung der Krise der Exilszeit im Sinne eines universalen Monotheismus kam den Kreisen der Exulanten, die 598/97 und schließlich 587/86 v.Chr. nach Babylon deportiert worden waren, eine eminente Bedeutung zu. Zwar waren die in Palästina Verbliebenen quantitativ bei weitem in der Mehrzahl. Doch die qualitative Elite des Volkes war weggeführt, und im Wesentlichen ihr war es vorbehalten, jene theologischen Konsequenzen aus der Katastrophe zu

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ziehen, die in der Folgegeschichte grundlegend für die religiöse Identität der Judenheit werden sollten. Nicht zum Geringsten die Propheten Ezechiel und Deuterojesaja haben den religiösen Führungsanspruch der babylonischen Gola fundiert und bestärkt. Sie und andere zeitgenössische Gotteszeugen verbanden das Ende Israels, das von Jahwe endgültig verlassen zu sein schien, mit einem theologischen Neubeginn, insofern sie die Gründe für Jahwes Abkehr benannten und die Gottesentfremdung dem Volk und seinen Oberen als Schuld zurechneten. Seine Sünden haben Israel zugrunde gerichtet und Jahwes Zorn gegen das Volk hervorgerufen. Nicht Macht nämlich ist das entscheidende Richtmaß, an dem Gott sich selbst und sein Volk bemisst, sondern Gerechtigkeit, welche die gottlose Herrschaft derer, die allein auf äußere Stärke setzen, stürzt und den Ohnmächtigen zu ihrem Recht verhilft. Das theologische Kriterium, die Krise recht zu beurteilen, kann nicht länger in äußeren Sachverhalten natürlicher Bestandssicherung und sozialer Durchsetzungskraft gesucht werden, denn es ist von anderer Art und nur in Gott selbst zu finden, dessen Wesen Gerechtigkeit ist, die er mit Macht zur Durchsetzung bringt. Mit dieser Botschaft konnte die exilische und nachexilische Prophetie an die Verkündigung einzelner Propheten anknüpfen, die bereits in vorexilischer Zeit ihre Stimme gegen das gottlose Vertrauen auf eigene Stärke erhoben hatten. Zu denken ist dabei nicht an die Scharen von Sehern und Wahrsagern, von Magiern und Mantikern oder an jene ekstatischen Prophetengilden, deren Wirken in die Vor- und Frühzeit Israels zurückreicht und sich von Praktiken nur bedingt unterschied, wie sie in der vorderorientalischen Umwelt der damaligen Zeit allgemein geübt wurden. Gemeint ist ebenso wenig die Gruppe der zahlreichen, zum Jerusalemer Tempelpersonal gehörenden Kultpropheten, deren wesentliche Aufgabe darin bestand, dem Königshaus und der von ihm repräsentierten Herrschaft Heil und göttlichen Beistand zu versichern. Im Unterschied zu diesen und anderen Erscheinungsformen vorexilischer Prophetie waren es einzelne sog. Unheilspropheten wie Amos und Hosea, Jesaja, Micha und namentlich Jeremia, an deren im Namen Jahwes erfolgte Gerichtsrede man sich nach der Zerstörung des Nord- und zumal nach dem Untergang des Südreiches mit geschärfter Aufmerksamkeit erinnerte. Mit ihrer Botschaft ließ sich die erfolgte Katastrophe nicht etwa als Schwäche Jahwes, sondern als Konsequenz seines gerechten Gerichts über die Sünden des Volkes und seiner Herrschaften deuten, die sich gottwidrigen Gottesdienstes und asozialer Menschenverachtung schuldig gemacht hatten. Während die vorexilische Heilsprophetien, von den eingetretenen Ereignissen falsifiziert, der Vergessenheit anheimgegeben und die in der vorstaatlichen Zeit wurzelnden mantischen oder sonstigen Traditionen, soweit sie überliefert waren, radikal transformiert und umgestaltet wurden, gehörte die nachexilische Zukunft dem lebendigen Gedächtnis der sog. Unheilspropheten, wie sie seit dem 8. Jahrhundert v.Chr. in Israel begegnet sind. Ihre Worte wurden aktualisiert, mündlich und schriftlich fortentwickelt und in einem langwährenden Prozess zusammen mit dem Zeugnis Späterer gesammelt und zu Büchern zusammengestellt, um schließlich kanonischen Rang zu erlangen. Das wesentliche Motiv für diese Entwicklung

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bot dabei die theologische Auseinandersetzung mit dem Exilsgeschick, die nicht nur hinsichtlich der Prophetie, sondern auch im Blick auf die Tora und die sonstigen Traditionen zum entscheidenden Beweggrund für die Formation der hebräischen Bibel wurde, deren Gehalt seit dem Exil seine für sie charakteristische Gestalt annahm, wobei es nicht nur zu qualitativen Veränderungen, sondern auch zu erheblichen Zuwächsen kam, welche die alttestamentlichen Bestände aus vorexilischer Zeit quantitativ bei weitem übertreffen. In Bezug auf das, was man die klassische Prophetie nennt, soll darauf zum Schluss des Abschnitts noch einmal eigens und ausführlich eingegangen werden. Wie für die alttestamentliche Tradition insgeExilsmonotheismus samt, so ist die Exilswende, um es zu wiederholen, auch für das alttestamentliche Gottesverständnis epochal geworden. Sie bewirkte nicht weniger als Israels theologische Bekehrung zu jenem Gott, der zwar, wie das Alte Testament es explizit bezeugt, von Anbeginn als der Gott Israels waltete, der aber noch nicht wirklich als derjenige erkannt war, der er in Wahrheit ist, nämlich der universale Herr von Menschheit und Welt, der sein Volk zum Boten göttlicher Gerechtigkeit erwählt hat, die alle Grenzen des Raumes und alle Schranken der Zeit übersteigt und unvergleichlich höher ist als alle Macht der Natur und der politischen Herrschaft. „Bringt das Volk her, das blind ist, obwohl es Augen hat, und taub, obwohl es Ohren hat. Alle Völker sollen sich versammeln, die Nationen sollen zusammenkommen. Wer von ihnen kündigt dies an, und wer kann uns sagen, was früher war? Sie sollen ihre Zeugen stellen, damit sie recht bekommen, damit man (die Zeugen) hört und sagt: Es ist wahr. Ihr seid meine Zeugen – Spruch des Herrn – und auch mein Knecht, den ich erwählte, damit ihr erkennt und mir glaubt und einseht, dass ich es bin. Vor mir wurde kein Gott erschaffen, und auch nach mir wird es keinen geben. Ich bin Jahwe, ich, und außer mir gibt es keinen Retter. Ich habe es selbst angekündigt und euch gerettet, ich habe es euch zu Gehör gebracht. Kein fremder (Gott) ist bei euch gewesen. Ihr seid meine Zeugen – Spruch des Herrn. Ich allein bin Gott. Auch künftig werde ich es sein. Niemand kann mir etwas entreißen. Ich handle. Wer kann es rückgängig machen?“ (Jes 43,8–13) Vom Exilspropheten, Deuterojesaja genannt, ist die Einzigkeit Gottes mit nie dagewesener Klarheit und in grundsätzlicher Absicht ausgesprochen worden. Zwar ist der zweite Jesaja nicht der erste Zeuge des Monotheismus im AT. Aber in keiner anderen Schrift spielen monotheistische Aussagen eine auch nur annähernd ähnliche Rolle wie bei ihm. Und nur bei ihm ist der Monotheismus in seiner Relevanz erkannt und in seinen Konsequenzen überdacht.“ (Wildberger, 265f.) Jahwe ist alleiniger Gott. Alle anderen Götter sind in Wahrheit Götzen, ja inexistente Nichtse. Jahwe allein lenkt sowohl die Geschichte Israels, als auch die Geschichte aller Völkerschaften auf Erden, und er tut dies, wie es immer wieder heißt, nach Maßgabe seiner Gerechtigkeit, welche die Sünde straft und die Ungerechtigkeit richtet. Ihm und seiner gerechten Herrschaft ist die ganze Welt untertan, deren Urheber und Schöpfer er ist. In der deuternomistischen Schule, welche

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die seit langem in Gang befindliche Theologisierung des Rechts fortsetzte, wurde diese Botschaft fortgeschrieben und mit der inneren Mitte dessen verbunden, was als Tora zur Gründungsurkunde der Judenheit werden sollte. Die Priesterschrift wiederum setzt den Monotheismus bereits als selbstverständlich voraus, wenn sie in Gen 1 Jahwe als den einigen Herrn aller Kreaturen proklamiert, dem allein kultische Verehrung gebührt nach Auftrag seines Gebotes. Weitere Beispiele ließen sich unschwer beibringen. Während der Monotheismus im Alten Israel theoretisch unbekannt und für die religiöse Praxis trotz monolatrischer Entwicklungstendenzen nicht vorauszusetzen war, wird er seit dem Exil religiös und ethisch bestimmend und zur Grundlage der weltgeschichtlichen Bedeutung des Judentums und seiner Sendung für die Völkergemeinschaft. Diese Annahme schließt nicht aus, dass sich monotheistische Bewegungen auch in anderen örtlichen und zeitlichen Kontexten auffinden lassen. Die Religionsgeschichte Israels ist weder in theologischer noch in sonstiger Hinsicht dergestalt singulär, dass sie nicht in mannigfachen Beziehungen stünde zur Geistesgeschichte der übrigen Menschheit. Mit ihr teilt sie die, wenn man so will, heidnische Herkunft, wie der naturreligiöse Polytheismus der israelitischen Vor- und Frühgeschichte belegt, der weit in die Königszeit hineinwirkt. Vielen der damaligen Israeliten dürften die lokalen Baale und Astarten bis auf Weiteres um einiges näher gestanden haben als der im Jerusalemer Tempel verehrte Staats- und Dynastiegott Jahwe, der im Übrigen in der vorderasiatischen Welt seiner Zeit keine Ausnahmeerscheinung darstellte, sondern von politischen Machtgöttern anderer Herrschaftsräume mit vergleichbaren Funktionen umgeben war. Auch der seit der Exilszeit sich ausbildende Monotheismus ist ganz abgesehen davon, dass das Dasein anderer göttlicher Wesen keineswegs von allen Israeliten mit einem Schlag in Abrede gestellt wurde, kein israelitisches Sondergut, sondern von Entwicklungen im altorientalisch-persischen Raum begleitet und beeinflusst, die in eine ähnliche Richtung weisen. Hinzukommt, dass auch ganz unabhängig von der altorientalischen Religionsgeschichte monotheistische Erwägungen angestellt wurden, wie u.a. die Reflexionen der frühen ionischen Naturphilosophen über einen einheitlichen und einigen Seinsgrund aller Dinge beweisen. Nicht von ungefähr hat, worauf zurückzukommen sein wird, die frühchristliche Theologie zusammen mit dem alttestamentlichen Zeugnis vom einen Gott den Gottesbegriff der griechischen Philosophie rezipiert, die zuvor schon mit der jüdischen Tradition vielfältige Verbindungen eingegangen war. Nichtsdestoweniger bleibt der jüdische Monotheismus in seiner rechtlich-ethischen Bestimmtheit sowie in der Art, wie er Geschichtserfahrungen und Schöpfungsglauben, Konzentration auf Ureigenes und universale Ausrichtung, welttranszendente Überlegenheit und eine an Intimität nicht zu überbietende persönliche Nähe Jahwes zu den Seinen verbindet, einmalig und unvergleichlich. Einmalig und unvergleichlich ist schließlich auch die Weise der Genese des jüdischen Monotheismus, die sich von seiner inhaltlichen Verfassung nicht ablösen lässt, sondern sie dauerhaft prägt. Der all-einige Gott ist Richter und Retter in einem. Er rettet durch das Gericht, um seine Gerechtigkeit

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und Gnade zugleich zu erweisen. Als Juda und Israel am Ende all ihrer Möglichkeiten waren, erschloss Jahwe ihnen ein neues Beginnen, das alles Bisherige übertraf. „Die Sündflut, die sie zu ersäufen drohte, ist ihnen ein Bad der Wiedergeburt geworden.“ (Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, 141) Aus dem Ende der politischen Existenz des Alten Israel heraus entstand die Judenheit zu neuem Leben, um ihre religionsgeschichtliche Bestimmung in der Welt zu erfüllen. Die ebenso grundstürzende wie erhebende Neugestaltung des Jahweglaubens, wie sie mit der Exilszeit beginnt, setzte religiöse Aktivitäten in vielerlei Hinsicht in Gang. Aus dem Bedürfnis, Kontinuität in der Diskontinuität zu erfassen und im vorexilischen Jahwe denselben Gott zu erkennen, als der er sich in jenem Ende und Anfang zeigte, welche beide das Exil markiert, werden theologische Geschichtskonzeptionen umfänglichster Art entworfen bzw. anhand bereits bestehender Entwürfe in großem Stil weiterentwickelt. Es entstehen das deuteronomistische Geschichtswerk und die Priesterschrift, und überkommenes Traditionsgut wird in jene Fassung gebracht, die ihm biblisches Format verleiht. Darauf und auf die sonstigen literarischen Aktivitäten in nachexilischer Zeit, deren enormes Ausmaß das Alte Testament buchstäblich erst zu dem werden ließ, was es ist, wird in einem eigenen Abschnitt einzugehen sein. Hier sei, wie angekündigt, nur ins Auge gefasst, was man den klassischen Prophetismus nennt. Es wird sich zeigen, dass zwischen historischen und literarischen Propheten sorgsam zu differenzieren ist. Die klassische Prophetie in Israel wird von der ForHistorische und literarische schung in der Regel auf einen historischen ZeitProphetie raum begrenzt, der von der Mitte bzw. der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts bis ins fünfte Jahrhundert v.Chr. reicht. Gelegentlich hat man nur die Propheten des achten Jahrhunderts, die in der Zeit der Expansion des neuassyrischen Reiches tätig waren, klassisch genannt. Im Nordreich waren dies um 750 v.Chr. Amos und Hosea, danach im Südreich Jesaja und Micha. Nach erfolgter Unterwerfung Israels unter das Assyrerreich im Jahre 722 v.Chr. vergingen Jahrzehnte, bis eine zweite Epoche jener prophetischen Bewegung begann, aus der die spätere kanonische Schriftprophetie hervorging. Als sich die Ablösung der neuassyrischen durch die babylonische Herrschaft abzeichnete, traten während der zweiten Hälfte des siebten Jahrhunderts Nahum, Habakuk, Zephanja und vor allem Jeremia hervor, der noch bis zum Ende des Reiches Juda im Jahre 587 wirkte, das für die prophetische Überlieferung von entscheidender Bedeutung wurde. Kurz nach der Katastrophe folgte Obadja in Jerusalem seiner prophetischen Berufung, während die Mission Ezechiels vor allem den Deportierten im babylonischen Exil galt. Eine dritte Welle klassischer Prophetie hob mit der Heraufkunft der persischen Oberhoheit an. Deuterojesaja gehört hierher, sodann Haggai und Sacharja, die nach Exilsaufbruch und ersten Neuanfängen in Jerusalem den Wiederaufbau des zweiten Tempels in den Jahren 520–515 anregten, der zum religiösen und geistigen Zentrum des antiken Judentums in persischer und hellenistischer Zeit werden sollte; „die von ihm repräsentierte Epoche war die Zeit höchster literarischer Produktivität in sämtlichen Prophetenbüchern“ (Kratz,

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Propheten, 52). Binnenkrisen der nachexilischen Gemeinde kommentierte Maleachi, wohingegen die Anhänge im Sacharjabuch schon in eine Zeit gehören, „in der die Prophetie keinen legitimen Platz mehr hat (Sach 13,2–6)“ (Wolff, 10). Mit fortschreitender Konsolidierung der achämenidischen Herrschaft verebbte die Bewegung der klassischen Prophetie mehr und mehr, um schließlich zu enden bzw. prophetischer Schriftgelehrsamkeit das Feld zu überlassen. Mit der wachsenden Einsicht in die Notwendigkeit einer – im Vergleich zur bereits bisher geübten – gesteigerten Differenzierung zwischen historischen Propheten einerseits und literarischen Überlieferungen der kanonischen Schriftprophetie andererseits ist die Annahme eines zwischen dem 8. und 5. vorchristlichen Jahrhundert anzusetzenden, in seinen Gestalten und wesentlichen Gehalten klar identifizierbaren klassischen Prophetismus neuerdings in die Krise geraten; davon wird noch zu reden sein. Aber auch unter den Bedingungen der traditionellen Verwendung des Begriffs der klassischen Prophetie war deren Verständnis in der alttestamentlichen Wissenschaft keineswegs einheitlich und unumstritten. Über die Jahrhunderte hinweg galten die Propheten als von Gott bestellte vollmächtige Sachwalter des mosaischen Gesetzes und als inspirierte Künder eines kommenden messianischen Reiches, in dem Gottes gerechte Herrschaft sich vollenden und endgültig über Sünde und Übel obsiegen wird. Eine Wende erbrachte die historischkritische Forschung des 19. Jahrhunderts insbesondere mit der Einsicht, dass sich die prophetische Botschaft nicht von einer festgefügten Tora her verstehen lasse, da diese in wesentlichen Teilen erst nach dem Zeitalter der klassischen Prophetie entstanden sei. Diese von Wellhausen exemplarisch vertretene Auffassung findet sich erstmals bei H. Ewald, der mit seinem 1840/41 in erster, 1867/68 in zweiter Auflage erschienenen Werk über „Die Propheten des Alten Bundes“ die Basis für eine geschichtliche Betrachtung des Prophetismus gelegt hat. An die Stelle der kanonischen Reihung Gesetz und Propheten tritt diejenige von Prophetismus und Tora. Damit war unter historischen Gesichtspunkten nicht in Abrede gestellt, dass die prophetische Botschaft von Recht und Gerechtigkeit Gottes handelt und ihre innere Mitte darin findet, was Wellhausen ethischen Monotheismus genannt hat. Der Prophetismus transzendiert, so die Zentralthese, den Naturalismus der vorprophetischen Religion Israels, um sie in die Sphäre von gottgegründeter Sittlichkeit und Moral zu erheben. Doch ist er weit davon entfernt, eine Gesetzesreligion zu repräsentieren, wie sie erst für das nachprophetische Judentum der persisch-hellenistischen Zeit kennzeichnend wurde. In B. Duhms „Theologie der Propheten als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion“ von 1875, dem weitere einschlägige Werke, u.a. ein umfangreicher Jesajakommentar sowie die Gesamtdarstellung „Israels Propheten“ (21922) folgten, sind diese Grundannahmen im Einzelnen ausgearbeitet worden. Dabei führte Duhm die ursprünglichen Einsichten und Gewissheiten der Propheten auf individuelle Visionen, Auditionen und ekstatische Wahrnehmungen göttlicher Offenbarungen nach Art eines transrationalen, nur gefühlsmäßig erfassbaren Erschließungsgeschehens zurück. Daran konnte G. Hölscher mit seiner 1914

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erschienenen Monographie „Die Profeten. Untersuchungen zur Religionsgeschichte Israels“ anschließen; er versuchte, das prophetische Urerlebnis unter Zuhilfenahme psychologischer Kategorien namentlich Wundt’scher Provenienz zu rekonstruieren und zu plausibilisieren, um auf dieser Grundlage, wie zuvor schon Duhm, Parallelen aufzuweisen zum Nabitum der altisraelitischen Zeit und zum Prophetismus der altorientalischen Umwelt Israels. Dass in Kulturen des Altertums und insbesondeNaturreligiöse Mantik re in Kanaan, im mesopotamischen Raum und in Ägypten Phänomene begegnen, die der altisraelitischen Prophetie vergleichbar sind, duldet keinen Zweifel. Mantik, Orakelwesen, Wahrsagerei und Vollzüge von Abwehrzauber, wie sie im Alten Orient in vielfältigen Formen und auf mehr oder minder ekstatisch-charismatische Weise geübt wurden, gehören eindeutig in die Vor- und Ursprungsgeschichte israelitischer Prophetie in ihrer, wenn man so will, vorklassischen Zeit. Das reiche Material religionswissenschaftlicher Komparatistik, wie es etwa in den Maribriefen vorliegt, muss hier nicht ausgebreitet werden, um die Richtigkeit dieser Annahme zu belegen. Obzwar das deuteronomistische Geschichtswerk die überkommenen Traditionsstoffe von charismatischen Gottesmännern und ekstatischen Nebiim, wie sie seit dem Auftreten Samuels immer wieder begegnen und in Elia und Elisa ihre herausragenden Repräsentanten gefunden haben, massiv und nachhaltig redigiert und im Sinne eines theologischen Verständnisses der Propheten als Mahner zur Umkehr und zu Toragehorsam umgestaltet hat, lassen sich gleichwohl noch Spuren eines ganz anders gearteten, nach deuteronomistischem Urteil heidnischen Prophetentums im verarbeiteten Überlieferungsgut erkennen. Die Anfänge der Prophetie in Israels unterscheiden sich von prophetischen Erscheinungen in der altorientalischen Umwelt evidentermaßen nur bedingt. Nicht minder offenkundig ist, dass zur anfänglichen, vorklassischen Prophetenbewegung in Israel eine Vielzahl von Figuren zu rechnen ist, denen man in späterer Zeit den Anspruch auf rechten Prophetismus bestritt und deren Gedächtnis man aus theologischen Gründen nach Vermögen auszutilgen bestrebt war. Zu denken gibt in diesem Zusammenhang u.a. die Tatsache, dass das deuteronomistische Geschichtswerk sogar eine Reihe derjenigen Prophetennamen verschweigt, die man dem klassischen Prophetismus zuzuordnen gewohnt ist. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass den deuteronomistischen Redaktoren als theologisch suspekt erschien, was zu ihren Zeiten von einem Micha, Zephanja oder Jeremia historisch bekannt war. Wie immer es sich damit verhalten mag: klar ist, dass in Israel und in Juda für längere Zeit Propheten aufgetreten sind, denen in der kanonischen Perspektive des Alten Testaments ihr Anspruch, rechte Propheten des wahren Gottes zu sein, theologisch dezidiert bestritten werden muss. Um unnötige Missverständnisse zu vermeiden, wird man daher den Begriff „Prophet“ nicht undifferenziert generalisieren dürfen und bereits in terminologisch-formaler Hinsicht inhaltliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben, wie das im Sprachgebrauch sowohl der Septuaginta, auf die das deutsche Lehnwort Prophet zurückgeht, als

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auch in der hebräischen Bibel der Fall ist, wenn von „nabi“ als einem echten Künder des Gotteswortes die Rede ist. Des Weiteren ist zu bedenken, dass sich vor Jeremia kein einziger Schriftprophet als „nabi“ bezeichnet hat. Von der Notwendigkeit einer formalen und sachlichen Differenzierung des Prophetenbegriffs ist Hof- und Kultprophetie das in der Forschung vielfach umstrittene Problem einer Kult- und Hofprophetie im Alten Israel mitbetroffen. Auch wenn im Alten Testament vom Wirken von Kultnebiim kaum je direkt die Rede ist, setzten die vorexilischen Jerusalemer Schriftpropheten deren Existenz doch eindeutig voraus. Tatsächlich dürfte vor dem Exil Kultprophetie eine feste Einrichtung im Jerusalemer Tempel und an sonstigen Heiligtümern gewesen sein. In Gruppen organisierte Prophetengilden gehörten, ohne eigentlich priesterliche Funktionen zu verrichten, zum Kultpersonal. Kraft ihres Berufs, den sie offiziell ausübten, waren sie vornehmlich dazu bestimmt, Heilsorakel auszustellen und den Einzelnen und das Volk des Heiles und des Beistandes Gottes zu versichern, auch wenn vereinzelte Mahnungen nicht gefehlt haben werden. Insbesondere dem König als dem obersten Repräsentanten des Gemeinwesens galt der kultprophetische Zuspruch; mit einer engen Verbindung von Kult- und Hofprophetie ist mithin zu rechnen. Obwohl einige der sog. klassischen Propheten wie Habakuk, Haggai oder Sacharja erkennbare Beziehungen zur Kultprophetie aufweisen, sind Stellung und Botschaft der Genannten doch von durchaus anderer Art und mit dem institutionalisierten Prophetentum am Heiligtum und am Hof kaum zu vergleichen. Zwar sprechen viele Gründe gegen die pauschale Annahme, derzufolge Kultprophetie stets und eo ipso falsche Prophetie sei. Doch ändert dies nichts an den gravierenden Unterschieden zwischen der einen grundsätzlichen Heilszustand voraussetzenden und amtlich organisierten Kult- und Hofprophetie und der Botschaft der fast ausschließlich als charismatische Einzelne auftretenden klassischen Schriftpropheten, deren Botschaft im Wesentlichen Ansage des Unheils und des Untergangs nicht nur für einzelne Personen oder Gruppen des Volkes, sondern für die zivile und religiöse Volksgemeinschaft im Ganzen war. Dass die Propheten, die später kanonisch und klassisch werden sollten, zu ihrer Zeit auf wenig Verständnis und Gegenliebe stießen, kann unter diesen Voraussetzungen nicht verwundern. Im Unterschied zu den Kult- bzw. Hofpropheten, deren Stand geachtet war und deren Heilszusagen sich allgemeiner Beliebtheit erfreuten, wurden sie von ihren Zeitgenossen mehrheitlich als „meschugge“, als verrückt, ja als gotteslästerlich abgelehnt. Erst mit der nationalen und religiösen Katastrophe von 587/86 v.Chr. änderte sich die theologische Einschätzung, und die einstmals als Verrückte und Gotteslästerer Verschrieenen avancierten im religiösen Bewusstsein des nachexilischen Judentums zu geachteten und verehrten Gottesmännern, deren Boschaft sorgsam zu bewahren und zu tradieren sei. Durch die Kanonisierung der mit ihren Namen verbundenen Bücher wurden die Propheten zu dem, was sie seither sind: Klassiker des Prophetismus, die ihrem Begriff nicht nur exemplarisch entsprechen, sondern ihn überhaupt erst ausgeprägt haben.

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Anders als ihre üblich gewordene Bezeichnung vermuten lässt, waren die sog. Schriftpropheten ursprünglich keine Schreiber, sondern Redner, die ihre Botschaft mündlich vortrugen. Zwar haben sie ihren mündlichen Vortrag poetisch und nach bestimmten Formen gestaltet; doch schriftstellerische Ambitionen dürften ihnen ursprünglich ferngelegen haben. Die Verschriftung der prophetischen Botschaft ist in jedem Fall ein sekundärer Vorgang und zudem ein Prozess, der keineswegs zu Lebzeiten der historischen Propheten zum Abschluss kam, sondern sich über Jahrhunderte hinzog und zu zahlreichen Überarbeitungen, Fortschreibungen und Umstrukturierungen führte. Die ipsissima vox der einzelnen historischen Prophetengestalt und den genuinen Gehalt ihrer Botschaft zu identifizieren, ist daher mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Einen bemerkenswerten Versuch, diese Schwierigkeiten zu beheben, stellt die Erforschung der Grundformen prophetischer Rede dar, wenngleich auch sie nur bedingt in die Lage versetzt, die historische Rückfrage nach dem jeweiligen Propheten plausibel zu beantworten. Das Problem der rechten Verhältnisbestimmung zwischen dem historischen und dem biblischen – also dem in Form des seinem Namen zugeschriebenen kanonischen Buches wirksamen – Propheten bleibt auch unter gattungsgeschichtlichen Bedingungen erhalten. Die Lage der alttestamentlichen Forschung unterscheidet sich hierin nicht grundsätzlich von Entwicklungen innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft, wie sie in der Frage nach dem historischen Jesus und seinem Verhältnis zum kerygmatischen Christus besonders virulent geworden sind. Erstmals wissenschaftlich und mit entsprechender Akribie bestimmt wurden die Gattungen prophetischer Rede in Hermann Gunkels Untersuchung „Die Propheten“ von 1917. Dabei wurde in formaler Hinsicht die Priorität des mündlichen Vortrags bestätigt und inhaltlich die Vorrangstellung der sog. prophetischen Gerichtsrede hervorgehoben, die in der weiteren Forschung besondere Aufmerksamkeit auf sich zog. Erwähnt sei lediglich die Studie von C. Westermann über „Grundformen prophetischer Rede“ von 1960, die nach einem Abriss der Forschungsgeschichte das prophetische Gerichtswort an Einzelne und seine Teile sowie die Gerichtsankündigung gegen Gesamtisrael analysiert, wobei neben Scheltrede und Drohwort als zentralen Bestimmungsmomenten des Unheilsspruches auch Weherufe und sog. geliehene Redeformen, die das Prophetenwort einkleiden, in Betracht gezogen wurden. Eine Vielzahl monographischer Untersuchungen liegt ferner zu den Berufungsberichten, den Visionsschilderungen, den Prosaerzählungen über prophetische Symbolhandlungen oder zu Klagen und Fürbitten der Gerichtspropheten sowie zu prophetischen Liturgien vor. Einen Sonderbereich stellen die Gerichtsankündigungen an Israels Feinde, die Fremdvölkerorakel und schließlich die deuterojesajanischen Erhörungs- und Heilsorakel dar. Diese Formen zeigen an, dass die Verkündigung der klassischen Propheten nicht, wie es anfänglich scheinen mochte, darin aufging, Unheil und die restlose Vernichtung des Volkes nach Maßgabe des Tun-Ergehen-Grundsatzes und des Prinzips der VerDie sog. klassischen Propheten und die Grundformen ihrer Rede

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geltung anzusagen, sondern neben der grundstürzenden theologischen Kritik an den sozialen und religiösen Verhältnissen, die sie übte, auch konstruktive Aussichten auf eine künftige Erneuerung Israels erschloss, sei es durch Erwartung eines kommenden Davididen, eines zweiten Exodus oder neuen Bundes, sei es in der Hoffnung einer Wiederherstellung Zions und souveränen Thronbesteigung Jahwes, einer Sammlung von Israels Rest bis hin zu einer Schicksalswende der Völkerwelt und einer wunderhaften Verwandlung der Natur im Sinne eines umfassenden Schalom. Nach Einsicht der für die moderne Prophetenforschung besonders relevanten Formkritik ist die prophetische Rede, deren primäre Gestalt, wie gesagt, der mündliche Vortrag ist, als Schelt-, Droh-, Mahn- und Heilswort etc. gemäß festen poetischen Gesetzen vielfältig geformt, wobei die prophetische Legitimation in der Botenformel signifikanten Ausdruck findet: „So spricht Jahwe“. Von den Vertretern einer kerygmatischen Wort-Gottes-Theologie unter den Alttestamentlern wurde dies gelegentlich als Beleg dafür gewertet, dass Propheten weniger geniale Individuen und religiöse Subjekte von singulärer Art als vielmehr Medien einer objektiven Botschaft seien, zu deren Ausrichtung sie von Gott beauftragt und bevollmächtigt wurden. Das Amt des Propheten sei, wie dies u.a. an literarischen Idealbiographien ersichtlich werde, Dienst eines „Vezier Gottes“ (Baltzer, 148). Als förmlich eingesetzter und autorisierter Sachwalter seines Gottes sei der Prophet befähigt und befugt, dessen Wort allen Menschen – auch Königen und Priestern gegenüber – auszurichten, wobei die Eigentümlichkeit seiner Individualität ganz hinter den öffentlichen Dienstauftrag zurücktrete, den er zu erfüllen habe. Zwar trete der Prophet als radikal Vereinzelter auf und seine prophetische Sendung bringe persönliche Anfechtung, Verwirrung und Leiden fast zwangsläufig mit sich. Aber sowenig er seine Mission im Bewusstsein einer Gruppe oder einer vorgegebenen institutionellen Verpflichtung begründet wisse, ebensowenig führe der Prophet sie auf eigenen Antrieb zurück: zu dem, was er ist, machen den Propheten allein Jahwes „Berufung und Sendung“ (Wolff, 12), wobei das Eigentliche der Botschaft der klassischen Propheten nicht in der Mitteilung einer allgemeinen Wahrheit, auch nicht im Umkehrruf oder in der Ansage des Geschichtsumbruchs als solchen, sondern in der unausweichlichen Konfrontation mit der Gottheit Gottes bestehen soll (vgl. Wolff, 39–49). Das in eigentümlicher Verbindung formgeschichtlicher und kerygmatheologischer Einsichten entwickelte Prophetenverständnis blieb nicht unwidersprochen. Beizeiten meldeten sich Kritiker zu Wort, wie etwa Georg Fohrer, der in seinen 1961 in englischer, 1967 in deutscher Sprache erschienenen „Bemerkungen zum neueren Verständnis der Propheten“ mit Nachdruck darauf hinwies, dass weder die Gattung der prophetischen Gerichtsrede noch die Botenformel als ursprüngliche prophetische Redeform gelten könne, da die Struktur von ersterer derjenigen des üblichen Rechtsverfahrens nachgebildet, letztere dem Autorisierungsverfahren und Sendezeremoniell königlicher Beauftragter entnommen sei. Ebensowenig wie der Verweis auf Kultus und Ritual, Institutionen und Ämter das Genuine der pro-

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phetischen Mission und Verkündigung zu erschließen vermöge, sei deren spezifische Eigenart von den israelitischen Geschichts- und Erwählungstraditionen her zu begreifen, die in vorexilischer Zeit erst ansatzweise und bruchstückhaft vorhanden gewesen seien und deren Eschatologisierung in Einzelfällen frühestens in der nachexilischen Epoche, in größerem Umfang erst in der Apokalyptik als einer mit der klassischen Prophetie in Teilen zwar verbundenen, aber von ihr zugleich charakteristisch unterschiedenen Bewegung stattgefunden habe. Die These einer Eschatologisierung des hebräischen Geschichtsdenkens durch die Propheten, wie Gerhard von Rad sie 1960 im zweiten Band seiner „Theologie des Alten Testaments“ theologiegeschichtlich folgenreich vertrat, verfehle daher die genuine Eigenart der klassischen Prophetie Israels. Diese erschließe sich nur, wenn der theologische Primat des Ethischen begriffen und eingesehen werde, dass sich die prophetische Interpretation des Willens Gottes, weit davon entfernt „gesetzlich“ zu sein, ganz auf die göttliche Grundintention, das Gute zu wirken und wirksam zu befördern, konzentriere, um von dorther den Abgrund der Sündenschuld zu ermessen sowie dem sündigen Volk durch radikale Umkehr den Weg zum Heil zu bereiten. In der prophetischen Verkündigung wurde, so Fohrer, nicht mit kasuistischen Wenn-Dann-Anordnungen operiert; die Botschaft der Propheten konfrontiere apodiktisch mit einem göttlichen Entweder-Oder: „Entweder geschehen Recht und Gerechtigkeit, denen Heil folgen wird, oder sie geschehen nicht, so daß sich Unheil ergibt.“ (Fohrer, 491) Die Forderungen des Gesetzes sind kategorisch und erlauben keine hypothetischen Urteile. Formulierungen wie diese erinnern nicht nur an Prophetismus und Tora A. Alts berühmte, in dem Aufsatz über die „Ursprünge des israelitischen Rechts“ von 1934 entwickelte These, wonach im apodiktischen Recht das genuine Recht Israels zu sehen sei, sie nötigen zugleich dazu, das Problem von Gesetz und Propheten erneut in den Blick zu nehmen, weil ansonsten die prophetische Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes nicht angemessen erfasst werden kann. Nach Wellhausen folgt das Gesetz auf die Propheten. Diese revolutionäre Einsicht, die bei allen nötigen Modifikationen „die große gültige Leistung Wellhausens“ (Zimmerli, 41) bleibt, hat ihre Richtigkeit insofern, als Priesterschrift und Deuteronomium und mit ihnen die große Masse der sog. mosaischen Gebote hinter die Propheten gehören. Das schließt freilich nicht aus, dass die Bewegung der klassischen Prophetie an Traditionen des Rechts und der Sitte anknüpfen konnte, die ihrer Sendung entgegenkamen, um des Weiteren durch sie ausgebildet zu werden und jenes eigentümliche Profil zu erhalten, das ihre enorme Wirkungsgeschichte hin zur kanonischen Tora allererst ermöglichte. Namentlich in Bezug auf die Bestände des Dekalogs von Ex 20, auf welche die Bestimmungen von Dtn 5 teilweise rückbezogen sind, sowie des sog. Bundesbuches ließe sich dies belegen. Die Propheten setzen den Maßstab der Weisung, die ihnen aufgetragen ist, als bereits gegeben voraus, so sehr sie durch ihre Botschaft selbst maßstabbildend geworden sind. Das Gottesrecht, das er verkündet, ist nicht Schöpfung des Prophetismus, wenngleich es ohne ihn nicht zu der

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Wirkung gekommen wäre, wie sie für die jüdische Religion, zu der die Religionsgeschichte Israels hinführt, kennzeichnend ist. Um der Botschaft der Propheten und dem Gesetz göttlicher Gerechtigkeit, welche nicht nur höher ist als alle Naturmächte, sondern in ihrer Geltung auch jeden ethnisch-nationalen Herrschaftsanspruch transzendiert, allgemeines Gehör in Israel zu verschaffen, bedurfte es der zivilen und religiösen Katastrophe, wie sie mit dem Ende zunächst des Nordreiches im Jahr 722 v.Chr. und dann des Südreichs im Jahr 587 v.Chr. eintrat. Erst in der Folge des Unterganges und in der Konsequenz der theologischen Reflexion seiner Gründe gewann der Prophetismus jene Bedeutung für das religiöse Allgemeinbewusstsein Israels, die ihn klassisch und kanonisch werden ließ. Zu ihrer Zeit, wie gesagt, und in der Religionsgeschichte des Alten Israel stellten die Propheten, die sich sowohl von Vertretern einer naturreligiösen Mantik als auch von Kult- und Hofpropheten charakteristisch unterschieden, eine verschwindende Minorität dar, die von der Mehrheit des Volkes und den obersten Repräsentanten seiner Religion und seines Gemeinwesens gerade unter theologischen Gesichtspunkten abgelehnt wurden. Dies änderte sich erst infolge von Tempelzerstörung und definitivem Verlust eigenstaatlicher Identität, was zu Überlegungen Anlass gab, welche zu einem grundstürzenden Wandel der Theologie führten und dem Prophetismus fortschreitend zu jenem Ansehen verhalfen, das ihm schließlich kanonische Autorität verlieh. „Viele Jahre“, heißt es Neh 9,30 (vgl. ferner Sach 1,4–6), „hast du (sc. Gott) mit ihnen (sc. den Kindern des Volkes Israel) Geduld gehabt, hast sie gewarnt durch deinen Geist, durch deine Propheten; doch sie hörten nicht. Da gabst du sie in die Gewalt der benachbarten Völker.“ Damit ist in nachexilischer Perspektive auf den Punkt gebracht, worin die zu beständiger Erinnerung verpflichtende theologische Bedeutung der Propheten begründet ist. Ihre Unheilsverkündigung wurde durch die Schreckensereignisse verifiziert, die sich bei rechter – prophetischer – Betrachtung als eine gerechte, von Gott gefügte Folge der Sünde zu erkennen geben. Dass der nach Maßgabe seiner Gerechtigkeit richtende Gott sein Volk gleichwohl errettet hat, ist allein seiner grundlosen Gnade und Barmherzigkeit zuzuschreiben. So steht es im nächsten Vers, Neh 9,31, geschrieben. Zu theologischen Klassikern, die ihrer KanoDie kanonischen Prophetennisierung entgegengehen, wurden die Propheten bücher in der Tradition des werdenden Judentums der nachexilischen Zeit. Um 200 v.Chr. ist mit einem ausgebildeten Prophetenkanon, also einer Sammlung prophetischer Bücher zu rechnen, die neben dem Pentateuch zu den heiligen Schriften des Judentums gehören, wobei in der hebräischen Bibel die – nach vorderen (Josua, Ri, 1–2. Sam./1–2 Kön) und hinteren (Jes – Mal) differenzierten – Nebiim unmittelbar auf die Tora folgen, wohingegen der Septuagintakanon mit dem corpus propheticum schließt, dem nur die erwähnten hinteren Propheten zugeordnet werden. Dadurch wird der durch die apokalyptische Rezeption nahegelegte Eindruck verstärkt, wonach die prophetische Verkündigung einen endzeitlichen Erwartungshorizont eröffnet. Das für das christliche Propheten-

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verständnis grundlegende Schema von Verheißung und Erfüllung, für das bereits die beiden ersten Sätze des ältesten Evangeliums ein Beispiel geben (vgl. Mk 1,1f.), konnte daran anschließen. Doch gehört dies bereits in die Auslegungsgeschichte der kanonischen Überlieferung, welche in den kanonischen Prophetenbüchern vorliegt. Was die Prophetenbücher selbst anbelangt, so darf ihr Bestand nicht unkritisch mit der Botschaft der Propheten identifiziert werden, deren Namen sie tragen. Selbst wenn man Ansätze zur Verschriftung ihrer mündlichen Verkündigung schon bei den historischen Propheten selbst zu finden meint, so sind die Bücher, die der Überlieferung prophetischer Tradition dienen, doch nicht von diesen selbst geschrieben, sondern erst in einem lange andauernden Prozess und unter Mitwirkung vieler Tradenten und Redaktoren entstanden, die sich die Aktualisierung und Anverwandlung des prophetischen Erbes angelegen sein ließen. Entscheidend motiviert wurde dieser Vorgang durch die in exilisch-nachexilischer Zeit erfolgte „theologische Neuorientierung, die den Untergang Israels und Judas als Strafe Gottes interpretierte. An sie schlossen sich die literarische Bearbeitung und Fortschreibung an.“ (Kratz, Propheten, 47) Erst im ausgehenden dritten und beginnenden zweiten Jahrhundert v.Chr. kam dieser Gestaltungsprozess, auf den sehr viele Teile der kanonischen Prophetenbücher zurückgehen, zu einem Ende, und der bis heute andauernde Auslegungsprozess der Schriftprophetie als eines Textbestands, der selbst bereits weithin ein Auslegungsprodukt darstellt, nahm seinen Anfang. Die historischen Propheten sind nur – wenngleich grundlegende – Faktoren der Überlieferungsgeschichte, die sich mit ihrem Namen verbindet. Die alttestamentliche Schriftprophetie ist in großen Teilen weniger das Ergebnis genuinen Prophetismus als schriftgelehrter Tradentenarbeit. Das mindert keineswegs ihren Wert, hält aber dazu an, das Zeugnis der historischen Propheten des Alten Israel nicht undifferenziert mit der prophetischen Überlieferung des im Werden begriffenen Judentums gleichzusetzen, als dessen Dokument wie das Alte Testament insgesamt so auch das corpus propheticum und die einzelnen Prophetenbücher nicht nur gemäß ihrer kanonischen Gestalt, sondern auch ihrem materialen Gehalt nach hauptsächlich zu gelten haben.

5. Die Tora als innere Mitte der Hl. Schriften des Judentums

Lit.: R. Albertz, Die Exilszeit. 6. Jahrhundert v.Chr., Stuttgart/Berlin/Köln 2001. – F. Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München 1992. – W.D. Davies/L. Finkelstein (Hg.), The Cambridge History of Judaism. Bd. 1: Introduction; The Persian Period, Cambridge 1984. – H. Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen. Teil 2: Von der Königszeit bis zu Alexander dem Großen. Mit einem Ausblick auf die Geschichte des Judentums bis Bar Kochba, Göttingen (1986) 21995. – Chr. Eberhart, Studien zur Bedeutung der Opfer im Alten Testament. Die Signifikanz von Blut- und Verbrennungsriten im kultischen Rahmen, Neukirchen 2002. – K. Galling, Studien zur Geschichte Israels im persischen Zeitalter, Tübingen 1964. – J.W. Goethe, Sämtliche Werke. Bd. 3: Epen. West-östlicher Divan. Theatergedichte, Zürich 1977 (unveränderter Nachdruck der Artemis-Ausgabe). – B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen. Traditions- und religionsgeschichtliche Studien zur Sühnetheologie der Priesterschrift, Neukirchen 22000. – O. Kaiser, Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des Alten Testaments. Bd. 1: Die erzählenden Werke, Gütersloh 1992; Bd. 2: Die prophetischen Werke, Gütersloh 1994; Bd. 3: Die poetischen und weisheitlichen Werke, Gütersloh 1994. – Chr. Levin, Das Alte Testament, München 2001. – R.G. Kratz, Das Judentum im Zeitalter des Zweiten Tempels, Tübingen 2004. – Chr. Maier, Jeremia als Lehrer der Tora. Soziale Gebote des Deuteronomiums in Fortschreibungen des Jeremiabuches, Göttingen 2002. – J. Maier, Zwischen den Testamenten. Geschichte und Religion in der Zeit des zweiten Tempels, Würzburg 1990. – E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart/Berlin/Köln 1994. – R. Rendtorff, Studien zur Geschichte des Opfers im Alten Israel, Neukirchen 1967. –R. Smend, Die Entstehung des Alten Testaments, Stuttgart/Berlin/Köln (1978) 31984. – J. Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 61905. – Ders., Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin/Leipzig 81921. – H.G M. Williamson, Studies in Persian Period History and Historiography, Tübingen 2004.

Als Kyros II. am 29. Oktober 539 v.Chr. im TriDas persische und helleumphzug in Babylon einmaschierte, war das auf nistische Zeitalter den Untergang des neuassyrischen Großreichs folgende babylonische Säkulum zu Ende und der Vordere Orient einschließlich Israels und Judas in sein persisches Zeitalter eingetreten. Von der Exulantenschaft, in deren Kreisen Ezechiel und Deuterojesaja wirkten, und von den in Palästina Verbliebenen wurde diese Entwicklung einhellig begrüßt. Tatsächlich war für die untergebenen Völker im persischen Weltreich, das bald einen Umfang von in der Alten Welt nie gesehenem Ausmaß annahm, die Lage nicht zuletzt in religiöser Hinsicht ungleich günstiger als unter der babylonischen Zwangsherrschaft. In Je-

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rusalem und Juda konnte eine Restaurationsbewegung beginnen, die in der Einweihung des Zweiten Tempels 515 v.Chr. ihren ersten Höhepunkt fand und sich in der zweiten Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts vollendete. Besteht insoweit Klarheit, so ist bereits in Bezug auf die erste Restaurationsphase im Einzelnen mit vielen historischen Unsicherheiten zu rechnen. Als geschichtliche Quelle kommt neben Nachrichten über den Tempelbau bei Haggai und Protosacharja insbesondere das Esra-Nehemia-Buch in Frage. Doch ist nicht nur sein Verhältnis zum Chronistischen Geschichtswerk umstritten, auch Alter und Verlässlichkeit der Grundlagen der Tempelbauerzählung in Esra 1–6 werden in der Forschung kontrovers beurteilt. Noch schwieriger stellt sich die Quellenlage für die spätere Zeit nach erfolgtem Tempelbau und der Heimkehr der Exulanten nach Jerusalem und Juda dar. Was die Mission der beiden Männer betrifft, welche die Restauration in Jerusalem und Juda zu Ende führten, ist bereits die Reihenfolge ihres Auftretens problematisch. Während der Chronist, wenn man ihn so nennen darf, wohl aus theologischen Gründen Esra vor Nehemia tätig werden lässt, ist unter historischen Gesichtspunkten die umgekehrte Abfolge wahrscheinlicher. Ohne auf die Nehemiadenkschrift in Neh 1–7,5a und 12,27–13,31 und auf die Esraerzählung Esr 7–10 und Neh 8 sowie auf literarische Probleme und mögliche Quellengrundlagen einzugehen, sei lediglich wiederholt, dass die 445/44 v.Chr. einsetzenden Maßnahmen Nehemias wesentlich politischer Natur waren und sich auf die Stabilisierung der inneren und äußeren Zivilordnung erstreckten, wohingegen Esras Aufgabe vor allem darin bestand, der Kultgemeinde mit der Inauguration des Gesetzes des Himmelsgottes eine neue Fassung zu geben. Zu datieren ist die Esramission wohl erst in die Anfänge der Regierungszeit des Perserkönigs Artaxerxes II. Mnemon (404–359). Über Einzelheiten der Sendung lässt sich ebenso wenig letzte historische Sicherheit gewinnen wie über die Frage von Herkunft und Charakter des esranischen Gesetzes. Um einen zumindest einigermaßen geschlossenen Pentateuchbestand, wenn auch wahrscheinlich nicht um die bereits fertige Tora, wird es sich auf jeden Fall gehandelt haben. Trotz aller verbleibenden Unsicherheiten im Detail steht aufs Ganze gesehen fest, dass mit der Restaurationsepoche Nehemias und Esras das unter dem Gesetz als theokratische Gemeinde formierte Gottesvolk in das kanonische Zeitalter seiner heiligen Schriften eingetreten ist, die von nun an und fernerhin seine Identität bestimmen werden. „Das wesentliche Merkmal der Zugehörigkeit zu ‚Israel‘ war nicht mehr der Beweis oder die Behauptung der Abstammung von Menschengruppen, die das alte Israel gebildet hatten, sondern die Unterwerfung unter das ‚Gesetz‘ als Willenskundgebung Jahwes. Israel fand eine neue Ordnung als eine Gemeinschaft, für die ein bestimmtes ‚kanonisches‘ Gesetz verpflichtend war und die – jedenfalls in der Perserzeit – einen staatlich garantierten Anspruch darauf hatte, nach diesem Gesetz beurteilt und gerichtet zu werden. Dieses neue Israel kann bei aller Kontinuität mit dem vorexilischen mit alten Maßstäben nicht mehr gemessen werden. Es ist mit dem ethnischen oder staatlichen oder religiösen Israel der 1. Hälfte des 1. Jahrtausends v.Chr. nur noch bedingt vergleichbar.“ (Donner II, 465)

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Nach der Ära vollendeter Restauration unter Nehemia und Esra hebt für das Judentum eine Periode an, die von der Historiographie zum dunklen Jahrhundert erklärt wurde, weil für sie kaum auswertbare Quellen zeitgenössischer Herkunft vorliegen. Nichtsdestoweniger wird man davon auszugehen haben, dass die Zeit bis zum Eintritt in die hellenistische Epoche unter Alexander dem Großen, der in den Jahren 333 bis 331 v.Chr. die persische Hegemonie ablöste, für die jüdische Gemeinde eine Konsolidierungsphase von erheblicher Relevanz darstellte. Während sich die samaritanische Gemeinde in der Folge eines langen Entfremdungsprozesses des Nordens vom judäischen Süden ablöste, um sich auf dem Garizim bei Sichem ein eigenes Heiligtum zu errichten und als Heilige Schrift nur den Pentateuch gelten zu lassen, nahm die jüdische Tempelgemeinde von Jerusalem ihrerseits immer profiliertere Gestalt an als Theokratie unter der Regentschaft Jahwes, dessen Wille im „Gesetz“ schriftlich bekundet vorlag, wobei dem definitiven Abschluss der Tora die Formation wesentlicher Teile des sonstigen Alten Testament korrespondierte, denen auf ihre Weise ebenfalls der Status heiliger Schriften, wenngleich von geringerer kanonischer Dignität zuerkannt wurde. Ohne dass die kultische Komponente marginalisiert worden wäre, beschleunigt sich die Literalisierung der Religion und dem in rasch fortschreitender Entwicklung begriffenen Stand der Schriftgelehrten kommt wachsende religiöse Bedeutung zu. Die Synagogalversammlung bei fehlendem Opferkult, wie sie später für den jüdischen Gottesdienst nach Vorbild der babylonischen Exilsgemeinde typisch wurde, fand durch diese Tendenz zumindest eine Vorbereitung. Nichtsdestoweniger blieb der Opferkult bis zur römischen Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 n.Chr. erhalten. Ob man in ihm „das heidnische Element in der Religion Jahves“ (Wellhausen, Geschichte, 174) zu erblicken hat, wie Wellhausen meinte, der im Opferkult „eine stete Gefahr für die Moral und den Monotheismus“ (ebd.) und in seiner gesetzlichen Regelung einen Formalismus bloßer Äußerlichkeit am Werke sah, ist eine Frage, die hier nicht zu beantworten, sondern nur mit dem Hinweis zu versehen ist, dass der religiöse Umgang mit Sündenschuld und ihren Folgen, wie er im Opferkult auf rituelle Weise gepflegt wurde, dem Toramonotheismus der jüdischen Jahwereligion alles andere als äußerlich war. Diese Feststellung mag zum Anlass genommen Konsolidierung der Kultwerden, auf die Konsolidierung der Kultgemein- gemeinde de des wieder errichteten Jerusalemer Tempels und auf ihre rituelle Opferpraxis, die in Anbetracht der Entwicklung des Judentums in einer synagogalen Buchreligion theologisch häufig als marginaler Restposten bewertet wird, mit Blick auf die Priesterschrift und ihr auf Restauration bedachtes Programm zumindest exkursartig einzugehen. Erinnert sei dabei erneut an Wellhausen und an die Darstellung, die er der Geschichte des israelitischjüdischen Kultes gegeben hat. Zwar sind Einzelheiten gewiss überholt, gleichwohl vermögen seine „Prolegomena“ nach wie vor eine wertvolle Grundorientierung zu vermitteln und zwar auch dann, wenn man die Wellhausen’schen Bewertungen nicht teilt und den Kult der jüdischen Tempelgemeinde nicht vorweg als

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einen defizienten Modus der urwüchsigen Religionspraxis des Alten Israels einschätzt. Was den Ort des Kultus betrifft, so enthalten die historischen und prophetischen Bücher nach Wellhausen keinen Hinweis auf ein ausschließlich berechtigtes Heiligtum, sondern rechnen mit einer Vielzahl von derartigen Stätten. Erst das Deuteronomium fordert lokale Kultkonzentration. Die Priesterschrift setzt die lokale Einheit des Gottesdienstes als gegeben voraus, um sie mittels der Stiftshütte in die Urzeit Israels zu transferieren. Nun erscheint es so, als sei die gesetzliche Einheit des Kultus eine geschichtliche Tatsache, die seit dem Auszug aus Ägypten in Israel immer schon bestanden habe. In Wirklichkeit gehören die Verhältnisse, um die es der Priesterschrift zu tun ist, in die nachexilische Periode der Kultusgeschichte. Ziel ist es, den geübten Kultus dadurch zu legitimieren, dass man ihn mit gründender Urzeit verbindet. Das Zentrum des Kultus ist das Opfer. Wie in allen vorderasiatischen Kulturen hat der Opferdienst in Israel seit alters große Bedeutung. Die Arten, nach denen gemäß väterlicher Sitte geopfert wurde, sind vielfältig (vgl. im Einzelnen Rendtorff; Eberhart). Charakteristisch ist, dass ursprünglich zu jedem Opfer ein Mahl gehörte. Lag der Gedanke anfangs fern, dass eine bestimmte Schuld durch ein vorgeschriebenes Opfer gesühnt werden müsse, so tritt nach durchgeführter Kultzentralisation und in nachexilischer Zeit das Sühnopfer ins Zentrum des Interesses, wobei „Sühne als Heilsgeschehen“ (Janowski) begriffen wird. Mit dieser Entwicklungstendenz ging eine „Verrechtlichung“ des gottesdienstlichen Geschehens einher, die sich von dem, wenn man will, natürlichen Mutterboden des Kults abhebt. Die strenge Ritualisierung, die sorgsam auf den gesetzlich vorgeschriebenen Vollzug achtet, ist ein weiterer Aspekt dieser Entwicklung. Die konstatierte Tendenz zu fortschreitender Verrechtlichung und Ritualisierung zeigt sich auch im Hinblick auf den Festkalender. Er wird fortschreitend entnaturalisiert. Hatten die Feste des Alten Israel ursprünglich einen rein natürlichen Anlass, haben sie in der Priesterschrift ihre Beziehung zur Ernte verloren, um sozusagen einer höheren Geisteskultur zugewiesen zu werden. War ursprünglich der Turnus dreier großer Feste vorherrschend, nämlich von Passah, an dem ursprünglich die männlichen Erstgeburten des Viehs als Opfer dargebracht wurden, sowie von Wochenfest und Laubhüttenfest, so beginnt mit dem Deuteronomium im Verein mit der allgemeinen Transformation der Religion und des Kultus auch diejenige der Feste im Speziellen, um sich in nachexilischer Zeit zu vollenden. Die Feste werden mehr und mehr von ihrem natürlichen Anlass abstrahiert. Damit verlieren sie ihre ursprünglichen Charakteristika. Exemplarisch lässt sich dies am Beispiel des Sabbats verdeutlichen. Er ist zunächst Erholungstag für Leute und Vieh, um erst in nachexilischer Zeit zu einem in strengem Ritual zu befolgenden Symbol für die göttliche Ruhe bzw. das menschliche Harren vor Gott schlechthin zu werden. Bemerkenswert ist ferner, dass in der priesterschriftlichen Tradition der Große Versöhnungstag zu den drei Festen hinzukommt. Was die Agenten betrifft, die den Opferkult zu vollziehen haben, so rechnet die

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Priesterschrift mit einem herausgehobenen und hierarchisch geordneten Klerus, wohingegen sich in der ältesten Periode der Geschichte Israels die strenge Scheidung von Klerus und Laien nicht findet; das Opfer darbringen durfte im Grundsatz jeder, Berufspriester fanden sich nur an den größeren Heiligtümern oder im Tempel des Königs, wo Priester als königliche Beamte fungierten. Im Einzelnen verläuft die Entwicklung in erkennbarer Weise parallel zur Abfolge der Schichten des Pentateuchs, wie sie sich Wellhausen darstellt: Beim Jahwisten und seiner Gesetzgebung ist von Priestern noch nirgends die Rede, im Deuteronomium nehmen sie bereits eine hervorragende Stellung ein und „bilden einen in zahlreichen Familien erblichen Klerus, dessen Privilegium nicht bestritten wird und darum auch nicht geschützt zu werden braucht. Hier nun tritt zuerst mit Regelmäßigkeit der Name Leviten für die Priester auf.“ (Wellhausen, Prolegomena 134) Die Priesterschrift schließlich teilt scharf zwischen Klerus und Laien und führt zudem eine innere Zweiteilung des Klerus ein, indem sie zwischen Aaroniten und Leviten unterscheidet, wobei recht eigentlich nur die Ersteren als Priester zu gelten haben, denen die Leviten dienend zugeordnet sind. Den Schlussstein des heiligen Gebäudes bildet der Hohepriester: „Er allein darf in das Allerheiligste eindringen und dort das Räucheropfer bringen; der sonst unnahbare Zugang (Neh. 6, 10. 11) steht ihm am großen Versöhnungstage offen. Nur in ihm berührt sich Israel unmittelbar, in einem Punkte und in einem Momente, mit Jahve, die Spitze der Pyramide ragt an den Himmel.“ (Wellhausen, Prolegomena 143) „Der Hohepriester“, so Wellhausen weiter, „erscheint auf seinem Gebiete völlig souverän. Bis auf das Exil, haben wir gesehen, war das Heiligtum Besitz des Königs und der Priester sein Diener; sogar bei Ezechiel, der im übrigen auf Emanzipation hinarbeitet, hat doch der Fürst noch eine sehr große Bedeutung für den Tempel, an ihn werden die Abgaben des Volkes entrichtet und er unterhält dafür den Opferdienst. Dagegen im Priesterkodex werden die Abgaben direkt an das Heiligtum entrichtet, der Kultus ist vollkommen autonom und gibt sich seine eigene Spitze von Gottes Gnaden. Und nicht bloß die Autonomie des Heiligen repräsentirt der Hohepriester, sondern auch die Herrschaft desselben über Israel. Das Scepter und das Schwert führt er nicht; nirgends ... wird ein Versuch gemacht, ihm weltliche Macht zu vindiciren. Aber eben nach seiner geistlichen Würde, als oberster Priester, ist er das Oberhaupt der Theokratie, und so sehr, daß ein anderes neben ihm nicht Platz hat, ein theokratischer König ihm zur Seite nicht denkbar ist (Num. 27, 21).“ (Wellhausen, Prolegomena 143f.) Wie der Tempel in nachexilischer Zeit zum ausschließlichen Mittelpunkt des Lebens wurde, so erscheint der Tempelfürst als das Haupt des geistlichen Gemeinwesens: „Es ist die Gemeinde des zweiten Tempels, es ist die jüdische Hierokratie, mit der Fremdherrschaft als Voraussetzung ihrer Möglichkeit, die uns hier entgegen tritt.“ (Wellhausen, Prolegomena 144) Wellhausens Urteil über die jüdische Hierokratie ist nicht günstig. Doch wird man bei allen verständlichen Vorbehalten gegenüber Ritualisierung, Klerikalisierung, Hierarchisierung und Verrechtlichung des religiösen Lebens den Fortschritt

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nicht verkennen dürfen, welchen die jedenfalls tendenzielle und phasenweise Befreiung des Kultes von den Zwängen politischer Herrschaftsstabilisierung darstellt. Die altorientalischen Kulte sind bei all ihren möglichen sonstigen Zwecken immer auch und vor allem auf Erhalt und Steigerung herrschaftlicher Macht abgestellt und mit Elementen imperialer Königstheologie notorisch verbunden. Dies war in Israel nicht grundsätzlich anders. Erst unter nachexilischen Bedingungen und nach Untergang nicht nur des Königreiches Israel, sondern auch desjenigen von Juda war der Kult von unmittelbaren politischen Aufgaben zumindest zeitweise entbunden und seiner religionsspezifischen Bestimmung zugeführt worden. Göttliche Herrschaft und weltliche Macht werden zunehmend unterschieden, wie sich an vielen Dokumenten exilischer und nachexilischer Theologie ablesen lässt. Diese zeugen von der Erkenntnis, dass Gottes Macht der Gerechtigkeit mit politischen Herrschaftsinteressen nicht gleichgesetzt werden darf. Eine solche Feststellung enthielt nicht weniger als eine Fundamentalkritik an der eigenen Geschichte. Denn in „der vorexilischen Zeit bildeten Tempel und Palast nicht nur eine bauliche Einheit, sondern waren durch vielfache institutionelle und verwandtschaftliche Bande miteinander verknüpft: Der Tempel von Jerusalem war zugleich davidische Kapelle und königliches Staatsheiligtum. Der König versorgte Heiligtum und Priesterschaft und nahm selbst hohe sakrale Funktionen wahr. Die Priester waren königliche Beamte und in ihren hohen Rängen mit dem Königshaus verschwägert.“ (Albertz, 330f.) Damit hatte es spätestens seit 587 v.Chr. ein Ende. Zum Staatskult bestand mangels Eigenstaatlichkeit keine Veranlassung mehr. Doch ist nachgerade diese Krise nicht ohne konstruktive Folgewirkungen geblieben, sofern, wenn man so will, es dem Kult ermöglicht wurde, auf religionsspezifische Weise geübt und wahrgenommen zu werden, ohne länger in den Dienst anderer Zwecke gestellt zu sein. Religion war zu Religion geworden und von Politik kategorial unterschieden. Politisch betrachtet verblieb die hierokratisch verfasste jüdische Gemeinde unter Alexander und den Diadochen in jenem inferioren Status, den sie bereits in der Perserzeit eingenommen hatte. Erst unter den Hasmonäern gewann sie als Königreich Juda infolge der makkabäischen Aufstände ab 129 v.Chr. faktische, ein Vierteljahrhundert später auch nominelle Unabhängigkeit, bis die Römer im Jahre 63 v.Chr. der hasmonäischen Dynastie ein Ende bereiteten und Palästina ihrer Herrschaft unterwarfen. Doch damit ist der unmittelbare historische Umkreis der hebräischen Bibel bereits verlassen, auf deren sachliches Zentrum noch einmal die Aufmerksamkeit auszurichten ist, um theologisch die religiösen Probleme zu erfassen, welche von diesem Zentrum her die spätalttestamentarischen bzw. die nach dem 3. Jh. v.Chr. entstandenen, Apokryphen genannten Schriften beschäftigten, die noch in die griechische, nicht mehr aber in die hebräische Bibel Aufnahme fanden. Die Genese des in christlicher Tradition sog. Alten Testaments und seiner Textbestände ist außerordentlich komplex und ohne verbleibende Restunsicherheiten nicht zu rekonstruieren. Nicht nur das alttestamentliche Bibelbuch insgesamt,

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auch die meisten der in ihm gesammelten SchrifDie Literalisierung der ten sind Ergebnisse eines langen traditionsge- Religion im nachexilischen schichtlichen Überlieferungsprozesses von ho- Judentum hem Differenzierungsgrad. Klar ist bei allen Unklarheiten im Einzelnen, dass sich die Literalisierung der alttestamentlichen Traditionen und ihre normative Durchgestaltung primär nicht in vorexilischer, sondern in nachexilischer Zeit vollzogen hat. Der literarische Prozess, an dessen Ende ein ausgebildeter Textkanon steht, hat im Wesentlichen in persischer und hellenistischer Zeit stattgefunden. Das Alte Testament enthält vor allem Überlieferungsliteratur der Judenheit nach dem Exil und ist als normative Schrift Resultat der nachexilischen Entwicklung. Diese Feststellung trifft sowohl für die Septuaginta als auch für die hebräische Bibel zu und bleibt daher von der Frage unberührt, ob die in der Zeit zwischen dem dritten vorchristlichen und dem ersten nachchristlichen Jahrhundert entstandenen jüdischen Schriften, die üblicherweise Apokryphen genannt werden, dem Alten Testament zuzurechnen sind oder nicht. Während sie in der Septuagingta, die als griechische Bibel der frühen Christenheit fungierte, enthalten sind, wurden sie in die hebräische Bibel nicht zuletzt aus Gründen jüdischer Abgrenzung vom Christentum nicht aufgenommen. Mit der These, der Bestand der hebräischen Bibel – um im gegebenen Zusammenhang zunächst nur von dieser zu sprechen – sei wesentlich ein Produkt der nachexilischen Judenheit, ist keineswegs in Abrede gestellt, dass sich Texte und Traditionen altisraelitischer Literatur aus vorexilischer Zeit in ihr erhalten haben. Das ist zweifellos der Fall und trifft beispielsweise für diverse Rechtssätze und Gesetzeskorpora wie das vordeuteronomistische Bundesbuch und den Kernbestand des Deuteronomiums, fernerhin für Geschichtserzählungen und die an Hof und Tempel geführten Annalen, für die sprichwörtliche Poesie der Weisheit und ihre Naturund Lebensbetrachtungen, die als Urform von Wissenschaft zu werten sind, sowie für die am Heiligtum gepflegte Kultlyrik der Hymnen, der Heilsorakel sowie der Klage-, Vertrauens- und Dankeslieder zu. Neben kultisch-priesterlichem Überlieferungsgut sind prophetische Traditionen zu erwähnen, die aus dem Alten Israel her stammen, um in nachexilischer Zeit in einem langdauernden Prozess literarischer Auslegung fortgeschrieben, angereichert und umgestaltet zu werden, bis sich die Texte langsam verfestigten und verhältnismäßig fixe Textsammlungen ausgebildet wurden. Es waren vor allem die später kanonisierten Propheten, die dem Alten Israel den Weg aus der naturreligiösen Vielgötterei und der an sie anschließenden Monolatrie des ursprünglich als Wetter-, sodann als Staats- und Dynastiegott verehrten Jahwe herauswiesen hin zu jenem Toramonotheismus, wie er für die entwickelte Religion des Judentums charakteristisch ist. Besondere Bedeutung kommt dabei neben Hosea, Amos, Jesaja und anderen Jeremia als dem letzten vorexilischen Schriftpropheten zu, dessen gesammelte Worte, Zeichenhandlungen und Visionen unter dem Eindruck der Krise von Tempelzerstörung und Exilsdeportation in wiederholter Auslegung und Fortschreibung gesetzes- und bundestheologisch interpretiert wurden.

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Was sich am Prophetenbuch Jeremia exemplarisch studieren lässt, bestätigt sich, wie im Einzelnen zu zeigen ist, auch hinsichtlich anderer alttestamentlicher Bücher und in Bezug auf die hebräische Bibel als Ganze. Die in ihr verarbeiteten Traditionen reichen z.T. fraglos in vorexilische Zeit zurück und gelegentlich weit in die Geschichte des Alten Israel hinein. Aber ihre Formierung zur schließlich kanonisch gewordenen Textgestalt haben sie erst in nachexilischer Zeit erhalten, der nicht nur in qualitativer, sondern auch in quantitativer Hinsicht der eindeutige Vorrang für die Genese des Alten Testaments und seiner Bestände zuzuerkennen ist. Insofern gilt der Grundsatz: „Das Alte Testament beginnt, wo das Alte Israel endet.“ (Levin, 21) Die Entstehung des Alten Testaments als literarisches Dokument und kanonische Urkunde wurde entscheidend veranlasst durch die von den Neubabyloniern im 6. Jahrhundert bewirkte Katastrophe. Das Alte Testament ist in seinen zentralen Beständen eine theologische Leistung der Exils- und Nachexilsgenerationen, dank derer es gelungen ist, „alle Fremdeinflüsse, die sich mit einem zum Monotheismus fortgebildeten strengen Monojahwismus nicht vertrugen, auszuscheiden“ (Kaiser I, 20) und der Judenheit angesichts der Krise des Alten Israel Identität und jenes religiöse Format zu verleihen, das für sie charakteristisch wurde. Insofern lässt sich sagen, „daß das Alte Testament das Buch der Bewältigung des Exilsgeschicks Israels ist“ (ebd.). Aus den Prophetenbüchern sowie den Psalmen und den Büchern der Weisheit ist dieser Nachweis ebenso leicht zu erbringen wie aus den Geschichtsbüchern der hebräischen Bibel, denen im Folgenden besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden soll, weil sie die Tora enthalten, der nach jüdischer Wertung Priorität unter allen Heiligen Schriften zukommt. In den Noten und Abhandlungen zu besserem Der Pentateuch und das Verständnis des „West-östlichen Divans“ findet Gesetz Jahwes sich unter der Rubrik „Alt-Testamentliches“ ein Aufsatz zu den vier letzten Büchern Moses, die Goethe, wie er schreibt, „zu pünktlichen Bemühungen“ (Goethe, 503) nötigten, da ihr „Urstoff“ (Goethe 504) nicht leicht zu entdecken, sondern „durch eine höchst traurige, unbegreifliche Redaktion“ (Goethe, 505) verdeckt sei, was die besagten Bücher – Exodus bis Deuteronomium – „ganz ungenießbar“ (ebd.) mache: „Den Gang der Geschichte sehen wir überall gehemmt durch eingeschaltete zahllose Gesetze, von deren größtem Teil man die eigentliche Ursache und Absicht nicht einsehen kann, wenigstens nicht, warum sie in dem Augenblick gegeben worden, oder, wenn sie späteren Ursprungs sind, warum sie hier angeführt und eingeschaltet werden. Man sieht nicht ein, warum bei einem so ungeheuren Feldzuge, dem ohnehin so viel im Wege stand, man sich recht absichtlich und kleinlich bemüht, das religiöse Zeremoniengepäck zu vervielfältigen, wodurch jedes Vorwärtskommen unendlich erschwert werden muss. Man begreift nicht, warum Gesetze für die Zukunft, die noch völlig im Ungewissen schwebt, zu einer Zeit ausgesprochen werden, wo es jeden Tag, jede Stunde an Rat und Tat gebricht und der Heerführer, der auf seinen Füßen stehen sollte, sich wiederholt aufs Angesicht wirft, um Gnaden und Strafen von oben zu erflehen, die beide nur verzettelt gereicht werden, so dass man mit

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dem verirrten Volke den Hauptzweck völlig aus den Augen verliert.“ (Goethe, 505f.) Goethes Lektüreeindruck, der ihn zu umfänglichen Pentateuchstudien veranlasste, kann von jedem unbefangenen Bibelleser nachvollzogen werden. Der Erzählzusammenhang, der von Genesis und Exodus über Levitikus zu Numeri und zum Deuteronomium reicht und neben der Urgeschichte (Gen 1–11) die Vätergeschichte einschließlich der Geschichte Josephs (Gen 12–50), die Geschichte von Israels Knechtschaft und Befreiung aus Ägypten (Ex 1–15), der Wüstenwanderung (Ex 16–18; Num 10,11–21,11), des Aufenthalts am Sinai (Ex 19 – Num 10,10), der Landnahme im Ostjordanland (Num 21,12–36,13) sowie Moses Abschiedsrede im Lande Moab (Dtn 1–30) und letzte Verfügungen und Worte vor seinem Tod (Dtn 31–34) enthält, ist durch mannigfache Einschübe von Gesetzen und Weisungen häufig unterbrochen, sodass eine klare narrative Linie kaum zu erkennen ist. Unter den Gebotstexten, die dem durchgängigen Erzählzusammenhang zwischengeschaltet sind und diverse Kult- und Lebensordnungen enthalten, treten einige Blöcke besonders deutlich hervor: das sog. Bundesbuch (Ex 20,22– 23,33), dem der Dekalog (Ex 20,1–7) vorgeschaltet ist, was ähnlich im Zusammenhang des Deuteronomiums (Dtn 5,6–21; Dtn 12–26) begegnet, das Privilegrecht Jahwes (Ex 34,10–26), von Goethe als kultischer Dekalog bezeichnet, sodann die Opfer- und Reinheitstora in Lev 1–7 bzw. 11–15, das an die Bestimmungen zum Großen Versöhnungstag (Lev 16) anschließende Heiligkeitsgesetz (Lev 17–27) sowie diverse Gebote und Verbote zu Schlachtung und Speise, Geburt und Beschneidung, Reinheit und Reinigung, zu Gelübden und Weihen, zu Pflichten und Rechten von Priestern und Leviten, zu Ehe, Familie und Erbschaft sowie zum Sabbat, Fasten, Brachjahr und zum Zehnten etc. Es bedarf keiner großen exegetischen Fertigkeit, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass der Pentateuch nicht aus einem Guss, sondern aus vielfältigen Komponenten zusammengesetzt ist, die je für sich und in ihrem Verhältnis zueinander einen höchst komplexen Überlieferungsprozess mündlicher und schriftlicher Art widerspiegeln, an dem nicht lediglich ein Mensch in einer bestimmten Zeit, sondern viele Menschen über Jahrhunderte hinweg gearbeitet haben. Die genuine historische Funktion des Endprodukts, das aus der differenzierten Entstehungsgeschichte schließlich hervorging, lässt sich gleichwohl verhältnismäßig eindeutig erfassen. Primäradressat des Pentateuch, der in seiner literarischen Letztgestalt Grund und Sinnzentrum der hebräischen Bibel darstellt, „ist das unter dem Exilsgeschick leidende Israel in aller Welt, das trotzdem für immer das Volk Jahwes ist und dem für immer der Besitz des Landes Kanaan zugesagt bleibt, auch wenn es ob der Schuld in Gestalt des Ungehorsams der Väter gegen die von Jahwe durch Mose am Sinai/Horeb und im Lande Moab gegebene Tora dazu verurteilt ist, unter den Völkern zu leben. So legt der Pentateuch das Exilsgeschick Israels als die Zeit der selbstverschuldeten Gottesferne zwischen seiner einstigen Erwählung und seiner künftigen Erlösung aus.“ (Kaiser I, 47) Was für das Alte Testament insgesamt zutrifft, gilt auch für den Pentateuch als seine fundierende Basis: Sein Skopus,

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auf den er hingeordnet ist, besteht in der konstruktiven Deutung und Bewältigung der Exilskrise, welche die Veranlassung gab, die Überlieferungen des Volkes theologisch zu sichten und zu bemessen, wobei unter den normierten Traditionen diejenigen als die wichtigsten erkannt wurden, aus denen durch Redaktion und Zusammenfügung vorliegender Texte die kanonische Tora hervorging. Dieser redaktionelle Prozess dürfte etwa zur Zeit der Gruppe der Schriften von Chronik, Esra und Nehemia zum Abschluss gekommen sein, die, wenn sie vom „Gesetz des Mose“ (2 Chr 23,18; Esr 3,2), vom „Buch des Mose“ (2. Chr 35,12; Neh 13,1), vom „Gesetz des Mose, das Jahwe, der Gott Israels, gegeben hat“ (Esra 7,6; vgl. Neh 8,1) oder aber vom „Gesetz(buch) Jahwes“ (1. Chr 16,40; 2. Chr 31,3f; 17,9; Neh 9,3; vgl. 2. Chr 34,14) sprechen, „mit großer Wahrscheinlichkeit den mindestens einigermaßen fertigen Pentateuch vor Augen“ (Smend, 35) haben. Die Bezeichnung des gesamten Pentateuch als Tora, die bei dem in der deuteronomistischen Schule als mosaisches Recht identifizierten Deuteronomium ihren Ausgang nahm und schließlich alle fünf Bücher Mose umfasste, findet ihre sachliche Berechtigung darin, dass die in ihm enthaltenen Erzählungen in ihrer Letztgestalt primär als Begründungsgeschichten für die Verbindlichkeit der gottgebotenen Kult- und Lebensordnungen fungieren, die zur Ehre Gottes und zum eigenen Wohl einzuhalten Israel bestimmt und beauftragt ist. Die Tora als Mitte der Schrift, die wiederum im Dekalog (Ex 20 par Dtn 5) als der Tora der Tora und der „Summe des Gotteswillens“ (Otto, 215) ihre innere Mitte hat, ist Gottes Gnadengeschenk und Weisungsgesetz zugleich. Sie ist das eine, weil sie das andere ist: aufgegebene Gabe, gegebene Aufgabe. Wozu alle Kreatur bestimmt ist, wird an Israel manifest: als erwähltes Gottesgeschöpf seinem göttlichen Schöpfer und Erwähler allein zu dienen und innerlich und äußerlich vereint zu sein zu einem Volk, dessen Glieder in Liebe zu Gott und dem Nächsten zusammenleben. Im Doppelgebot der Liebe fasst sich der Dekalog als Basisurkunde des Bundes Gottes mit den Seinen zusammen, auf dessen Wahrnehmung und Auslegung alle Einzelweisungen und Rechtsbestimmungen, ja der Pentateuch in seiner literarischen Letztgestalt insgesamt angelegt ist. Was die komplexe Entstehungsgeschichte der sog. fünf Bücher Mose angeht, so wurde seit den Anfängen der historisch-kritischen Exegese mit der Möglichkeit unterschiedlicher Quellen und literarischer Vorlagen gerechnet, die erst allmählich zusammengewachsen, ergänzt bzw. redaktionell zur Einheit gefügt worden sind. Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts lange Zeit allgemeingültige und unangefochtene Neuere Urkundenhypothese, die durch Julius Wellhausen ihre klassische Gestalt erhalten hat, rechnet mit einer älteren jahwistischen und einer jüngeren elohistischen Quelle, die auf der Basis von J redaktionell zum Jehovistischen Geschichtswerk JE vereint und sodann mit dem Deuteronomium und mit der Priesterschrift zu JEDP verbunden wurden. Mögliche Differenzierungen, wie sie bereits Wellhausen vorgesehen hatte, oder Modifikationen beispielsweise im Zusammenhang der Annahme eines von Dtn 1,1 bis 2. Kön 25,30 reichenden deuteronomistischen Geschichtswerks blieben im Rahmen der Neueren Urkundenhypothese, bis sich

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vor einem knappen halben Jahrhundert die kritischen Stimmen mehrten, die im Zuge eines traditionsgeschichtlichen Neuansatzes die Vorstellung eines fixen literarischen Grundstocks der Pentateucherzählungen mehr und mehr problematisierten, indem sie J entweder als Quelle spät datierten oder in seinem überlieferten Bestand zum Resultat eines jahrhundertelangen Werdeprozesses erklärten. Kaum mehr vertreten wird heute die einstige Auffassung, J sei als eine von Gen 2,4b – Num 24,24 zu identifizierende, in sich geschlossene und ungefähr den anderthalbfachen Umfang des Grundbestandes von P umfassende literarische Größe bereits der frühen Königszeit zuzuweisen. „Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei J um ein in Jahrhunderten entstandenes Werk, dessen Erstverschriftungen im 9. Jh. v.Chr. einsetzen und dessen Fortschreibungen erst in nachexilischer Zeit aufhören.“ (Kaiser I, 63) Wie immer man hierüber sowie über das literarische Problem der in Gen 15 bzw. 20 beginnenden, ehemals einem sog. Elohisten zugeschriebenen Textstränge, ihre genaue Abgrenzung und den Zeitpunkt ihres Entstehens sowie die Eigenart ihrer Verbindung mit der jahwistischen Redaktion urteilen mag: Struktur und Gehalt des für den Pentateuch grundlegenden Erzählzusammenhangs sind keine bereits für die Königszeit oder gar für die vorstaatliche Zeit Israels vorauszusetzenden Gegebenheiten; sie haben vielmehr erst in einem Prozess kontinuierlicher Fortschreibung und Interpretation jene Prägung erhalten, deren Kontur in exilischer und nachexilischer Zeit endgültig gestaltet worden ist. Die definitive Redaktion, die J eine abgeschlossene Form gab, wird kaum vor dem 6. oder 5. Jahrhundert v.Chr. erfolgt sein. Dass die großen Redaktionen des Überlieferungsgutes des Pentateuch ihren Sitz im Leben eher in nachstaatlicher Zeit als in der Königszeit oder in der Vor- und Frühgeschichte Israels haben, tritt offenkundiger noch als bei J im Falle der Priesterschrift zutage. Man erinnere sich an die zitierte Passage aus Goethes alttestamentlichen Studien und Notizen im Kontext des West-Östlichen Diwans. Wellhausen nahm explizit auf sie Bezug und versuchte zugleich das Problem zu lösen, welches Goethe beschäftigt hatte. Die „Sprengung der Glieder der Erzählung durch die ungeheuren Auswüchse gesetzlichen Inhalts“, so Wellhausen (Prolegomena, 341), sei nicht erst Schuld der Redaktion, sondern auf eine förmliche Quelle des Pentateuchs zurückzuführen, die im Interesse ätiologischer Legitimierung Kultideale und sonstige Normen nachexilischer Zeit in die gründende Urzeit Israels in der Wüste zurückprojiziert habe. „Der auf die Thora Moses abzielende Zusammenhang ist alles; die einzelnen Glieder bedeuten nichts mehr.“ (Wellhausen, Prolegomena, 315) Abgesehen von den Bundesschlüssen haben wir es nach Wellhausen im Wesentlichen nur mehr mit Genealogie und Chronologie zu tun: „De Wette findet das alles schön, weil symmetrisch, durchsichtig und zweckvoll konstruirt. Indessen ist das nicht jedermanns Geschmack.“ (Wellhausen, Prolegomena, 315f.). Unberührt von Geschmacksurteilen bleibt folgender sachlicher Befund: Die Priesterschrift erzählt die Geschichte Israels als Abfolge typischer Konstellationen vom Anfang der Welt bis zum Tode des Mose in der Absicht, der jüdischen Gemeinde in nachexilischer Zeit ihren religiösen Bestimmungsgrund vorstellig zu machen.

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Ein historisch verifizierbares Bild der Vor- und Frühgeschichte Israels lässt sich hieraus nicht entnehmen. Die Schilderung des durch die Wüste wandernden Gottesvolkes als einer nach Stämmen gegliederten, durch das mosaische Gesetz geordneten und von der Priesterschaft geführten Einheit zeichnet eine Idealvorstellung, die mit den historischen Realitäten im vorstaatlichen Israel nicht verwechselt werden darf. Diese Einsicht, die spätestens seit Julius Wellhausen Gemeingut alttestamentlicher Forschung geworden ist, hat ihre Gültigkeit bis heute erhalten, wenngleich sich ansonsten auch die P betreffende Lage der Dinge kompliziert hat. Während hinsichtlich der Unterscheidung zwischen priesterschriftlichen und nichtpriesterschriftlichen Textanteilen des Pentateuchs grundsätzliche Einigkeit besteht, ist z.B. strittig, ob es sich bei P, dessen Beginn mit Gen 1,1–2,3 zwar gesichert, dessen Ende und Umfang aber offen ist, um eine ehedem selbständige Quelle oder lediglich um eine Bearbeitungsschicht handelt. Strittig ist ferner, welche priesterschriftlichen Pentateuchtraditionen aus vorexilischer Zeit von P vorausgesetzt werden. Mit dieser Streitfrage war ehedem die Auseinandersetzung verbunden, ob P auf redaktionellem Weg in ein vorliegendes Geschichtswerk eingefügt wurde oder umgekehrt den Rahmen für die Einfügung nichtpriesterlicher Pentateuchquellen bot. Diese Auseinandersetzung ist in ein neues Stadium ihrer Entwicklung eingetreten, seitdem innerhalb des nichtpriesterlichen Textbestandes des Pentateuchs von vielen Forschern auf die Unterscheidung von Quellenschriften zugunsten der Annahme mehr oder minder umfangreicher Überlieferungseinheiten verzichtet wird, die je ihre eigene Traditionsgeschichte gehabt haben. Auch wenn unklar ist, in welchem Umfang dies der Fall ist, kann davon ausgegangen werden, dass solche in der Überlieferung ausgestaltete Einheitsblöcke bereits vor P vorhanden waren, wann immer sie genau endredaktionell verbunden wurden. Dies wird durch die priesterschriftliche Tendenz zu bewusster Abstraktion von der – traditionsgeschichtlich offenbar vorausgesetzten – Konkretheit heilsgeschichtlicher Ereignisse nahegelegt, die in chronologischer und genealogischer Manier reduziert und ganz und gar ausgerichtet werden auf den kultisch-priesterlichen Zweck, in dem sie ihre Erfüllung finden. Wie die äußere Weltgeschichte innerlich die Sinaigesetzgebung bezweckt, so findet diese ihr Sinnziel im priesterlichen Tempelkult und in einem gesetzlich geordneten Leben unter der Herrschaft Jahwes, dessen transzendente Herrlichkeit im Heiligtum inmitten seines Volkes wohnt und mit sonstigen Gunsterweisen auch die Gnade eines Opfers der Sühnung von Sündenschuld des Volkes sowie der einzelnen Volksglieder ermöglicht. Als welterschaffender Elohim und offenbarer El Schaddaj der Väter tut Gott gegenüber Mose seinen Jahwenamen kund, den im Kult sowie durch gesetzestreues Leben zu ehren und in keinerlei Weise zu missbrauchen Israels Bestimmung ist. Zeitlich ist P gewiss nicht vor dem Exil anzusetzen, auch wenn es ältere Traditionen und Überlieferungsstücke enthält. Ein Teil der Forscher spricht sich für eine Datierung in der Exilszeit und eine Entstehung in Kreisen der nach Babylon deportierten Jerusalemer Priesterschaft aus, die programmatisch die Wiederherstel-

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lung des Tempels und eine entsprechende Restauration des Kultes betrieben, ein anderer Teil datiert P, wie Wellhausen einst, in die nachexilische Zeit des Zweiten Tempels, die idealtypisch als Theokratie stilisiert werde. Eine im Laufe der Zeit erfolgte redaktionelle Bearbeitung und Kürzung an einigen Stellen lässt sich ebenso annehmen wie mit der Möglichkeit einer späteren Ergänzung durch Teilstücke der Sinaiperikope zu rechnen ist. Dass sich das sog. Heiligkeitsgesetz in Lev 17–26, das alte Rechtssätze und Rechtsreihen enthält, trotz priesterlicher Redaktion aus dem Gesamtzusammenhang von P als ein Gesetzeskomplex von verhältnismäßiger Eigenständigkeit abhebt, ist seit langem erkannt. Es mag mit der zusammenfassenden Feststellung sein Bewenden haben, dass die geschichtliche Konstellation, in die P und mit ihr schließlich auch das Heiligkeitsgesetz gehören, die jüdische Kultusgemeinde unter der politischen Herrschaft der Perser ist. „P liefert dieser jüd. Gemeinde mit ihrem Tempel, ihrer Hierarchie, ihren Riten und Bräuchen, darunter den vom Exil an immer wichtigeren des Sabbats und der Beschneidung, und nicht zuletzt mit den aus der Gemeinde zu erhebenden Abgaben ihre Ätiologie: sie wurde vor mehr als einem halben Jahrtausend am Sinai durch die göttlichen Anweisungen gegründet, die durch Mose und Aaron ergingen und die alles im voraus regelten, so daß der gegenwärtige Zustand höchste und endgültige, nicht mehr in Frage zu stellende Legitimität besitzt. So stellt P eine gewaltige Rückprojektion dar, in der der jetzige Zustand in das sinait. Gewand gehüllt wird – in manchem wohl auch ein gewünschter Zustand; P dürfte auch Zukunftsprogramm sein. Das erfordert natürlich mancherlei Verkleidung, die wichtigste darunter die Darstellung des Jerusalemer Tempels als transportables Wüstenheiligtum inmitten des gegliederten Lagers.“ (Smend, 57f.) Eine analoge Rückprojektion in ätiologischer Rückprojektion in ätiologiAbsicht wie in P vollzieht sich im sog. fünften scher Absicht Buch Mose, dessen Eigenständigkeit im Pentateuch spätestens seit W. M. L. de Wette erkannt ist. Das Gesetz, das in den Kapiteln 12–26 den Kern des Deuteronomiums bildet, wird zu Moses Testament stilisiert, das dieser dem Volk in göttlichem Auftrag in einer Abschiedsrede kurz vor seinem Tod am Vorabend der Landnahme in Moab verkündete. Historisch hat man es in seiner Urgestalt im Anschluss an de Wette häufig mit der josianischen Reform in Verbindung gebracht, welche die in Dtn 12 und anderen Kapiteln des Buches erhobene Forderung alleiniger Verehrung Jahwes an einer einzigen Kultstätte zu realisieren suchte. Davon wurde bereits gesprochen. Hier soll nurmehr von der Sonderstellung die Rede sein, die das Deuteronomium in der Überlieferungsgeschichte der Tora und des gesamten Alten Testamentes einnimmt, dessen Mitte es mit Recht genannt wird. Ob man das Gesetzeskorpus Dtn 12–26, welches das Bundesbuch (vgl. Ex 20,22–23,33) und andere ältere Rechtsreihen einschließlich der Grundbestände des Dekalogs voraussetzt, um sie angesichts gewandelter Verhältnisse weiterzubilden, in das Jahrhundert, das der josianischen Reform vorhergeht, in die Zeit Josias selbst oder gegebenenfalls auch erst in dessen Wirkungsgeschichte nach seinem politischen Scheitern datiert: Tatsache ist, dass dem

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Deuteronomium eine Schlüsselstellung nicht nur als Abschlusstext der ihm vorangehenden Bücher des Pentateuchs und damit für die Konstituierung der Tora zukommt, sondern darüber hinaus für die kanonische Gestaltung der Überlieferung der sog. Hinteren und Vorderen Propheten sowie einiger sonstiger alttestamentlicher Traditionen. Eigens erwähnt sei neben der deuteronomistischen und nachdeuteronomistischen Redaktion des Jeremiabuches, die den prophetischen Gerichtsverkünder als Mahner und Umkehrprediger, schließlich als „Lehrer der Tora“ (Chr. Maier) profiliert, nur das sog. deuteronomistische Geschichtswerk. Es reicht von Dtn 1 bis 2. Kön 25 und deutet Israels Geschichte von der Landnahme bis zum Ende der Königszeit nach Maßgabe des Deuteronomiums. Dies geschieht unter dem Einfluss der Katastrophe von 587, in deren Perspektive die Fülle des überkommenen Traditionsguts bearbeitet und integriert wird. Die Zerstörung Jerusalems, die Deportation ins Exil und die Zerstreuung Israels in die Diaspora ist kein fatales Geschick, sondern Endfolge einer Entwicklung, deren normativer Sinn sich aus dem klassisch zu nennenden Schema von Sünde des Volks und schuldentsprechender Strafe Gottes ergibt. Sünde, Strafe, Reue, Umkehr, Vergebungsbitte und Hoffnung auf Erneuerung der Gottesbeziehung: diese Sequenz bezeichnet den theologischen Richtungssinn der geschichtlichen Abfolge, die in Israels Katastrophe endet, welche der deuteronomistischen Geschichtsschreibung nicht länger als Verhängnis eines blinden Naturgeschicks, sondern als Konsequenz der Gerechtigkeit Gottes im Umgang mit seinem ungehorsamen und gottlosen Volk erscheint. Das Verderben ist nicht fatal, sondern Strafe Gottes über ein Volk, das zu stetigem Abfall geneigt ist und dessen Zukunft sich am Gehorsam gegenüber dem im Gesetz offenbaren Gotteswillen entscheidet. Offenkundiger noch als im deuteronomistischen Geschichtswerk, das analog zu deuteronomiumsnahen Redaktionen anderer Überlieferungsbestände die verarbeiteten Traditionen auf die zentralen Motive der Einheit und Einzigkeit Jahwes und der gebotenen ungeteilten Liebe seines Volkes zu ihm hinordnete, um den Verlauf der Ereignisse kritisch und konstruktiv an dieser Ordnungsnorm zu bemessen, ist die alte Geschichtsüberlieferung im Buch bzw. in den Büchern der Chronik nach theologischen Gesichtspunkten umgestaltet worden, die eindeutig einer späteren Zeit angehören. Das vorliegende Material aus vorexilischer Zeit, das vor allem aus dem deuteronomistischen Geschichtswerk übernommen ist, wird unter theologischen Aspekten, die der Tora und insbesondere der Priesterschrift entstammen, normativ transformiert und entsprechend fortgeschrieben. Leitend ist die Vorstellung, dass das mosaische Gesetz Ausgang, Ziel und innere Mitte der israelitischen Geschichte sei, die in schriftgelehrter Manier gleichförmig geprägt und nach festen Maßstäben beurteilt wird. Dabei bietet, wie gesagt, vor allem P die normative Regel, nach deren Muster die Geschichte des alten Israel und dessen Fortentwicklungen beschrieben werden. Zu datieren sind die Chronikbücher nicht vor der Esramission. Mit dem kurzen Hinweis auf die Chronikbücher und die Mission Esras, der im

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Auftrag des Perserkönigs als „Schreiber für das Gesetz des Himmelsgottes“ (Esr 7,12) nach Jerusalem kam, um das Volk zu verpflichten, ist der Zeitraum angegeben, in dem die Tora, wie sie im Pentateuch gegeben ist, kanonische Buchgestalt annimmt. Auch wenn offen bleiben muss, um welche Vorschriften es sich beim Esragesetz genau gehandelt hat, ob um das deuteronomische Gesetzbuch, wie bereits Spinoza vermutete, um die Priesterschrift oder um eine Vorform, wenn nicht gar um die endgültige Form des Pentateuch: dass die kanonische Endgestalt der Tora in Reichweite liegt, darf vorausgesetzt werden. Sie ist das normative Dokument der im Rahmen persischer Oberhoheit neu konstituierten jüdischen Gemeinde, die sich trotz, ja wegen ihres politisch inferioren Status religiös behauptete und die Traditionen des Alten Israel in sich aufhob, um sie fortwirken zu lassen in hellenistischer Zeit und weit darüber hinaus bis zum heutigen Tage. In Anbetracht dieses Resultats scheint es angebracht, sich noch einmal der wichtigsten Stationen seiner Entwicklung zu versichern. Nach Maßgabe des Rekonstruktionsversuches, den F. Crüsemann zur Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes vorgelegt hat, ergibt sich folgender Befund: Die tragende Grundlage der Tora, wie sie im Pentateuch vorliegt, bildet das vordeuteronomistische Bundesbuch in Ex 20,22–23,33, ihre prägende Ausgestaltung das Deuteronomium bzw. das deuteronomische Gesetz in Dtn 12–26, ihre notwendige Transformation schließlich die Priesterschrift und das sog. Heiligkeitsgesetz in Lev 17–26. Als „Basis der gesamten weiteren jüdischen Rechtsgeschichte“ (Crüsemann, 381) ist die Tora sonach selbst Ergebnis einer langen geschichtlichen Entwicklung und Integral einer Serie von Rechtskorpora, die im Pentateuch verbunden mit Erzählgut als „Teile des einen Gesetzes des Mose“ (ebd.) zu einem Ganzen gefügt sind. Was den Begriff der Tora angeht, der seit dem 2. Jahrhundert v.Chr. als Bezeichnung für den gan- Die Tora zen Pentateuch einschließlich seiner erzählenden Partien belegt ist, so bedeutet er alltagssprachlich die elterliche Kinderunterweisung, sodann die Weisung der Priester an die Laien, auch das Wort des Weisheitslehrers und Propheten, um schließlich im Deuteronomium „zum wichtigsten Begriff für den einen, umfassenden und schriftlich vorliegenden Willen Gottes“ (Crüsemann, 8) zu werden. Die erste Festschreibung des Willens Gottes hat Israel mit dem vordeuteronomistischen Bundesbuch als dem ältesten Rechtskodex des Alten Testaments unternommen. Zwei Rechtstexte bilden seine Quellen und bedingen die ihm eigentümliche Doppelstruktur: die in Ex 34,11–26 gesammelten, im Nordreich in Alternative zum Kult der Stierbilder formulierten Regeln zur Alleinverehrung Jahwes einerseits und eine Sammlung kasuistischer Rechtssätze in Ex 21,1–22,16 aus dem Umkreis des Jerusalemer Obergerichts andererseits. Indem das Bundesbuch beide Rechtstexte vereint, stellt es den Zusammenhang zwischen der Einheit des alleinzuverehrenden Jahwe und der Vielgestaltigkeit einer nach Maßgabe der Gerechtigkeit zu ordnenden Wirklichkeit her und konzipiert damit die charakteristische Struktur, welche die Tora bis zu ihrer definitiven Formfindung prägt und sie signifikant von anderen altorientalischen Rechtskodizes

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unterscheidet. Der Monotheismus, auf welchen das Gebot der Alleinverehrung Jahwes vorausweist, und die absolute Verbindlichkeit des Gerechtigkeitsprinzips bilden jene differenzierte Einheit, auf welche die mit dem Bundesbuch anhebende Genese der Tora als auf ihren Skopus hinzielt. Im Deuteronomium, an dem mehrere Generationen gearbeitet haben, nimmt diese Zielbestimmung bereits deutlichere Konturen an, sofern die Forderung nach der Einheit der Kultstätte (Dtn 12), die im Zusammenhang mit der 2. Kön 22f. dokumentierten Josianischen Reform steht, im Verein mit der theologischen Konzentration die Kohärenz des Rechts und seiner Verbindlichkeit sowie die Identität der Gerechtigkeit bekräftigt und stärkt, in der alles Recht seine Basis und den Grund seiner Einheit findet. Eine Erweiterung der Ordnungsbereiche des Rechts und eine Tendenz zur Universalisierung geht mit dieser Entwicklung konform: „die großen Felder der politischen und öffentlichen Institutionen, der Familie sowie des Umgangs mit Tieren und Umwelt“ (Crüsemann, 424) werden konsequent ins Regelwerk einbezogen, wobei sich theologische Reduktion und rechtliche Komplexitätssteigerung wechselseitig bedingen. Die priesterlichen Texte schließlich, die sich als Quellenschicht des Pentateuch mit vergleichsweise großer Sicherheit erheben lassen, sind ganz auf die rechtsgeschichtlichen Herausforderungen abgestellt, die durch das Exil entstanden waren. „Die Priesterschrift ist die Antwort der israelitischen Rechtsgeschichte auf die Infragestellung aller bisherigen Grundlagen, auf denen die Tora-Tradition aufbaute.“ (Crüsemann, 333) Sie „löst den Rechtswillen Gottes von Exodus, Landbesitz und Kult und schafft damit die Grundlage für ein Diasporaleben“ (Crüsemann, 337). Was über Todesrecht und Blutgenuss, über Bund und Beschneidung, über Endogamie, das Passa- oder Mazzotfest sowie über den ins Zentrum der Sinaigesetze und des gesamten göttlichen Schöpfungswerkes hineinführenden (vgl. etwa Gen 2,2f.) Sabbat gesagt wird, gehört in diesen Zusammenhang. „Mit rituellen Handlungen wie der Enthaltung von Blutgenuß, der Beschneidung, dem Passafest als Feier des Anbruchs der Freiheit und der Teilnahme am Sabbat wird ein Bild eines Diasporalebens geschaffen, das zwar in späteren Zeiten ergänzt wurde, aber solches Leben allererst theologisch ermöglicht und eröffnet hat.“ (Crüsemann, 349f.) Des Weiteren interpretiert die Priesterschrift „den Exodus radikal neu und ermöglicht dadurch die Grundlage für ein Recht, das nicht (allein) von landbesitzenden Freien getragen wird“ (Crüsemann, 337). Auch macht sie „Sühne und Vergebung für den Kult zentral und integriert so das Scheitern Israels an der Tora in die Tora“ (ebd.). Im Mittelpunkt der priesterlichen Gesetze steht die von Gott gewährte kultische Aufhebung von Schuld. Dieser Akzent ist in der Geschichte der Rechtstexte neu: „Er stellt eine notwendige Folge der Verarbeitung des Exils dar und der Schuld, die zu ihm führte. Die vorexilischen Gesetze waren theologisch auf die Bewahrung der Geschenke Gottes, der Freiheit und des Wohnens im Land hin ausgerichtet. Zu diesen großen von der Toratradition vorausgesetzten Gottesgaben tritt jetzt die in ihr institutionalisierte Vergebung.“ (Crüsemann, 360f.) Dabei richtet sich das Interesse vor allem auf die Entschuldung der Volksgemeinschaft;

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aber auch Sühnemöglichkeiten für den schuldigen Einzelmenschen werden dargeboten. Im Pentateuch sind Bundesbuch, Deuteronomium und Priesterschrift zu differenzierter Einheit verbunden, wobei der Dekalog (Ex 20; Dtn 5) eine kompositorische Schlüsselfunktion einnimmt. Von ihm her lässt sich das spannungsvolle Ganze der Tora am besten erschließen, insofern die Ehrung des einen Gottes in seiner Heiligkeit Grund, Mitte und Ziel eines gerechten Lebens und eines rechten Verhältnisses des Menschen zu sich, zu seinen Mitmenschen und zur Welt zu gelten hat. Wie der Dekalog als ihre innere Mitte ist die Tora insgesamt auf Vermittlung, nämlich auf die Funktion abgestellt, Medium zu sein, „in der die Einheit Gottes und die Vielfalt der Erfahrungs- und Wirklichkeitsbereiche zusammengebracht wurden“ (Crüsemann, 424) und zusammengebracht werden. Das Doppelgebot der Liebe, in dessen differenzierten Zusammenhang die ganze Tora inbegriffen ist (vgl. Lev 19,18), entspricht dem.

6. Gottes Gerechtigkeit und menschliches Tun und Ergehen

Lit.: E. Ballhorn, Zum Telos des Psalters. Der Textzusammenhang des Vierten und Fünften Psalmenbuches (Ps 90–150), Berlin/Wien 2004. – M. Bauks, Die Feinde des Psalmisten und die Freunde Ijobs. Untersuchungen zur Freund-Klage im Alten Testament am Beispiel von Ps 22, Stuttgart 2004. – H. Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen. Teil 2: Von der Königszeit bis zu Alexander dem Großen. Mit einem Ausblick auf die Geschichte des Judentums bis Bar Kochba, Göttingen (1986) 21995. – H.-J. Hermisson, Studien zur israelitischen Spruchweisheit, Neukirchen 1968. – O. Kaiser, Der Gott des Alten Testaments. Theologie des Alten Testaments. 3 Bd., Göttingen 1993ff. – Ders., Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des Alten Testaments, 3 Bd., Gütersloh 1992ff. – R. Rendtorff, Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf. Bd. 1: Kanonische Grundlegung, Neukirchen 1999. – J. Scharbert, Die Propheten Israels. I. Die Propheten Israels bis 700 v.Chr. II. Die Propheten Israels um 600 v.Chr., Köln 1965/7. – K. Seybold, Die Psalmen. Eine Einführung, Stuttgart/Berlin/ Köln 21991. – O.H. Steck, Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis, Tübingen 1996. – C. Sticher, Die Rettung der Guten durch Gott und die Selbstzerstörung der Bösen,. Ein theologisches Denkmuster im Psalter, Berlin/Wien 2002. – W. Vatke, Die biblische Theologie wissenschaftlich dargestellt. Erster Band: Die Religion des Alten Testamentes nach den kanonischen Büchern entwickelt, Berlin 1835. – Chr. de Vos, Klage als Gotteslob aus der Tiefe. Der Mensch vor Gott in den individuellen Klagepsalmen, Tübingen 2005. – M. Weippert, Synkretismus und Monotheismus. Religionsinterne Konfliktbewältigung im alten Israel, in: J. Assmann/D. Harth (Hg.), Kultur und Konflikt, Frankfurt a.M. 1990, 143–179. – J. Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin/Leipzig 81921. – H.W. Wolff, Studien zur Prophetie. Probleme und Erträge, München 1987.

So unbestreitbar die Tora die innere Mitte der Heiligen Schriften des Judentums ist, so wahr ist Jahwe der Gott der Gerechtigkeit. Nicht von Anbeginn der Geschichte seines Volkes war er freilich als solcher offenbar, um als der, welcher er in Wahrheit ist, erkannt zu werden. Den nomistisch-ethischen Monotheismus, der mit Recht zum eigentümlichen Prinzip jüdischer Theologie erklärt wurde, hat das Volk Israel zwar weder von den Ägyptern noch von irgendeinem anderen Volk seiner Umgebung entlehnt, aber er war ihm gleichwohl nicht von Anbeginn als Besitz und Eigentum gegeben, sondern musste erst auf langem und schmerzlichem Wege erworben werden. Obgleich der historische Gang der Entwicklung nicht einfachhin mit dem Verlauf übereinstimmt, den Wilhelm Vatke für die Realisierung des Begriffs alttestamentlicher Religion im Anschluss an Hegel vorsieht, so hat der spekulative Exeget doch Recht, wenn er im ersten Band Die israelitische Gottesgeschichte

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seiner wissenschaftlichen Darstellung der biblischen Theologie aus dem Jahr 1835 schreibt: „Die Alttestamentliche Religion ... muß ... Elemente enthalten, welche nicht ursprünglich durch ihren Begriff gesetzt oder offenbart sind, und sich auch von den roheren Vorstellungen innerhalb ihres eigenen Standpunktes unterscheiden. Diese Elemente haben zwar ihre ursprüngliche Bedeutung verloren, lassen sie aber noch erkennen, finden sich im Zusammenhange der Naturreligion wieder und werden zum Theil noch von der hebräischen Sage in ihrer ursprünglichen Form mit dem Jehovadienste in Verbindung gesetzt.“ (Vatke, 662) Mit dem in der Historiographenzunft weniger ideologieverdächtigen Wellhausen zu reden: „Die israelitische Religion hat sich aus dem Heidentum erst allmählich emporgearbeitet: das eben ist der Inhalt ihrer Geschichte. Sie hat nicht mit einem absolut neuen Anfange begonnen.“ (Wellhausen, 32) In ihrer Endgestalt als hebräische Bibel oder Altes Testament wollen die heiligen Schriften des Judentums unabhängig von der Frage, wie ihr Quantum jeweils kanonisch genau zu bestimmen ist, „ohne Zweifel als Zeugnis von dem einen und einzigen Gott gelesen werden, der die Welt geschaffen hat und erhält und sie ihrer endzeitlichen Bestimmung entgegenführt“ (Weippert, 143). Doch kann man zugleich sagen, „dass das Alte Testament über weite Strecken hin ein polytheistisches Buch ist“ (Weippert, 145). Namentlich die altisraelitische Literatur setzt, soweit sich ihre Spuren im AT erhalten haben, einen verbreiteten und als selbstverständlich hingenommenen Polytheismus voraus. Von einer ausschließlichen Jahweverehrung Israels kann für die Frühzeit bis hin zur Zeit des Exils nicht die Rede sein. Bedenkt man, dass sich im Alten Testament vielfach nur solche vorexilische Traditionszeugnisse erhalten haben, die ehemals der religiösen Minderheit und Opposition angehörten und erst nach dem Exil zu allgemeinerem Ansehen kamen, dann wird die Annahme eines allgemeinen Monotheismus des vorexilischen Israel noch zweifelhafter, als sie es ohnehin ist. In ihrer familialen und lokalen Gestalt war die Religion im vorexilischen Israel verbreitet polytheistisch. Die meisten Israeliten verehrten mehrere Götter, auch wenn sie einzelnen vor anderen den Vorzug gaben. „Die Familienreligion war in keiner Weise exklusiv, so dass sich die Familien, ohne mit ihrem Gott in Konflikt zu geraten, am Kult der lokalen oder regionalen Heiligtümer beteiligen konnten.“ (Weippert, 154) Mit der staatlichen Konsolidierung verstärkten sich monolatrische Tendenzen. Strikt monotheistisch war die Religion Israels und Judas in der Königszeit jedoch nicht. Jahwe war lediglich ein Volksgott unter vielen, ganz abgesehen davon, dass ihm auch innerhalb Israels und Judas wechselnde Göttinnen und andere himmlische Gestalten zur Seite standen. Zwar zeichnet sich, wie gesagt, ein Trend zur Monolatrie und eine Tendenz ab, die im ursprünglichen Polytheismus auf verschiedene Götter mehr oder minder gleichmäßig verteilten göttliche Funktionen in der Gestalt eines obersten Gottes zu bündeln. Jahwe wird so zum Haupt eines Pantheons, dessen plurale Verfassung in seine Einheit aufzuheben er sich anschickt. Aber mehr als ein von Monolatrie nur bedingt unterschiedener „‚synkretistischer‘ Monotheismus“ (Weippert, 166) ist damit nicht erreicht. Ver-

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treter einer strikt monotheistischen „‚Jahwe-allein‘-Theologie“ (Weippert, 162) gibt es in vorexilischer Zeit nur vereinzelt und in Opposition zum religionsgeschichtlichen Hauptstrom. Im Großen und Ganzen bestätigt die neuere Forschung also den bereits von Wellhausen erhobenen Befund. Nach Wellhausen ragt aus dem Dämmerlicht der Vor- und Frühgeschichte Israels anfangs der Wettergott eines Wüstenberges hervor, der allmählich zur Schutzmacht der Stämme Israels wird, ohne bereits monolatrische oder gar monotheistische Ansprüche zu erheben. „Der Monotheismus war dem alten Israel unbekannt.“ (Wellhausen, 29) Als die israelitischen Stämme sich staatlich konsolidierten und unter David und Salomo politisch zu einem Doppelreich vereint wurden, nahm Jahwe die Rolle des obersten Gottes ein, um im Tempel Wohnung zu beziehen und mittels seines Gesalbten als König des Himmels und der Erde über sein Volk zu herrschen und den einzelnen Gliedern persönlich nahe zu sein. Naturreligiöse Züge blieben in der Jahweverehrung auch unter staatlichen Bedingungen selbstverständlich erhalten; was man von Jahwe erbat, war weniger Heil des inneren Menschen als Wohlergehen im Äußeren, nicht in erster Linie Vergebung der Sünde, sondern Bewahrung vor und Erlösung von Übeln. „Die Hauptsache war, dass Jahve Regen und Sieg verlieh. Er schenkte dem Lande Fruchtbarkeit und beschützte es gegen die Feinde; dementsprechend bestand auch der Gottesdienst wesentlich in der Darbringung der Erstlinge des Landes an den Festen. Die Ernte war der Gradmesser für den Stand des religiösen Verhältnisses.“ (Wellhausen, 101) Im Laufe der Zeit trat Gottes Naturnähe allmählich zurück, und Jahwe nahm erhabenere Gestalt an, die alle Naturzusammenhänge transzendierte. Ein Denaturierungsprozess der Jahwereligion zugunsten historisch-soziomorpher Elemente gehört in diesen Zusammenhang. Jahwe erwies sich mehr und mehr als ein um seine Gottheit eifernder, Alleinverehrung beanspruchender Gott und zugleich als „Rechtswahrer der Schwachen, der den Treubruch gegen sich und gegen jene durch den Mund seiner Propheten ahndete“ (Kaiser, Gott I, 113). Amos ist der erste unter den prophetischen Zeugen jener Art. Er verkündet in ursprünglicher Weise, was Ewald und Wellhausen den ethischen Monotheismus der Propheten genannt haben: „(S)ie (sc. die Propheten) glauben an die sittliche Weltordnung, an die ausnahmslose Geltung der Gerechtigkeit als obersten Gesetzes für die ganze Welt.“ (Wellhausen, 108) Wie immer man das historische Recht dieser ein wenig anachronistisch, um nicht zu sagen kantisch anmutenden Beschreibung beurteilen mag, Faktum ist, dass man sich auf das prophetische Rechtszeugnis berufen konnte und tatsächlich berufen hat, als im Verlauf der assyrischen und babylonischen Stürme die Königreiche Israel und Juda untergegangen waren. „In diesem großen Schiffbruch wurde ... die Prophetie – nicht die landläufige, sondern die oppositionelle, wie sie zuletzt durch Jeremias vertreten war – der Rettungsbalken für die, die sich daran hielten.“ (Wellhausen, 144) Namentlich die Theologen, die beim Deuteronomium in die Schule gingen, deuteten im Verein mit priesterlichen Kreisen die vermeintliche Niederlage, die Jahwe durch die Zerstörung seines Tempels, durch die Absetzung seiner königli-

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chen Statthalter und durch die Deportation wesentlicher Teile seines Eigentumsvolkes erlitten zu haben schien, im Anschluss an die Propheten als von Gott selbst kraft seiner Gerechtigkeit geübte Strafe über den religiösen Abfall und den sittlichen Ungehorsam von Juda-Israel. Im Übrigen gaben die deuteronomistischen und priesterschriftlichen Kreise dem werdenden Judentum der persischen Zeit eine grundlegende Ordnung ihres kultisch-rituellen und zivilen Lebens, nachdem unter Ezechiel und Deuterojesaja, den Anfängern der exilischen und nachexilischen Prophetie, die prophetische Unheils- in Heilsverkündigung gewandelt worden war. Die Grundformen prophetischer Rede waren nicht mehr Droh- und Gerichtsworte, sondern Heilsankündigungen und Heilszusagen. Wie die Traditionsrepräsentanten der in Entstehung begriffenen Pentateuchtora, die das Erbe der vorexilischen Prophetie verwalteten (was sich insbesondere an der deuteronomistischen Bearbeitung der jeremianischen Überlieferung, aber auch der Traditionen Hoseas, Amos oder Michas ersehen lässt) interpretierten die exilischen und nachexilischen Propheten die Krise Israels als selbstverschuldete Gottesferne, die kommender Nähe Gottes weichen wird, wenn das Volk und die einzelnen Glieder desselben sich bekehren und sich in Gehorsam üben gegenüber Gott und seinem Gebot. Was fernerhin als Schriftprophetie gelten sollte, formierte sich unter dieser Voraussetzung und nahm literarische Gestalt an. Während die vorexilischen Heilsweissagungen beamteter Hof- und Kultpropheten mit wenigen Ausnahmen aus dem religiösen Gedächtnis des Volkes verbannt und dem historischen Vergessen anheimgestellt wurden, weil sie als durch die Ereignisse widerlegt galten, rückte die vorexilische Unheilsbotschaft „einzeln auftretende(r), vom Hofe unabhängige(r) Jahwepropheten“ (Scharbert I, 62), die „den beamteten Tempelpropheten wie den Priestern heftig entgegentraten“ (Wolff, 13), in eine normative Traditionsstellung ein, um nicht zuletzt auch den Maßstab der Transformation alter Erinnerungsspuren an Magier, Mantiker und wahrsagende Seher der Frühzeit zu bilden. Die Hinterlassenschaften der vorexilischen Propheten, deren Zeugnisse den Bestimmungen der werdenden Tora entsprachen, wurden im Sinne „prophetische(r) Prophetenauslegung“ (Steck, 203) systematisch gesammelt und zu Büchern zusammengestellt, um der nachexilischen Gemeinde in Kritik und Affirmation zu vergegenwärtigen, dass sich am Verhältnis zu Jahwe und seinem Gebot, ihn allein zu verehren und das Recht des Nächsten zu achten, die Zukunft des Volkes entscheidet, so wie dies in der Vergangenheit der Fall war. Die Abfolge der gesammelten Prophetensprüche in den einzelnen Büchern sowie die formale Komposition der Prophetenbücher insgesamt korrespondiert dabei dem wesentlichen Inhalt prophetischer Rede: Gott richtet und rettet nach dem Maß seiner Gerechtigkeit. Wie er das Volk seiner Erwählung der Sünde wegen bestraft, so wird er die Umkehr und den Gehorsam gegenüber seinem Gebot nicht unbeantwortet lassen, sondern Heil schaffen für den Frommen. Im Sinne der Botschaft, dass Schuld die Ursache des Unglücks und Wohlergehen Folge von Gebotsgehorsam ist, wurde das Zeugnis der vorexilischen Unheilsprophetie bewahrt, weiterentwickelt und in Büchern zusammengestellt. Das lässt

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sich an der proto- und deuterojesajanischen Sammlung und ihren tritojesajanischen Fortschreibungen mit dem Großjesajabuch als Ergebnis ebenso nachweisen wie an den Büchern Jeremia oder Ezechiel sowie am Dodekapropheton. Überblickt man etwa das Zwölfprophetenbuch als Ganzes und unter Beachtung der endredaktionellen Intention, lässt sich der nach dem Muster der Tora gestaltete Plan des heilsgeschichtlichen Dramas unschwer erkennen, der die Reihenfolge und Anordnung der Texte bestimmt: „Die Ankündigungen des Untergangs des Nordreiches Israel durch Hosea und Amos, aber auch die des Südreiches durch (Hosea, Amos und) Micha haben sich ebenso erfüllt wie die Gerichtsworte gegen die Nachbarvölker und Zwingherren, die Assyrer und Babylonier, von denen Amos, Joel, Obadja, Nahum, Habakuk und Zefanja kündeten. Die erfüllten Gerichtsworte dienen so als Stützen für das Vertrauen in die Erfüllung der Heilsworte für Israel, Juda und Jerusalem. Daß mit ihr trotz aller Verzögerung zu rechnen ist, zeigen die am Beginn des Tempelbaus stehenden Prophezeiungen Haggais und Sacharjas. Das Heil ist seit dem Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels auf dem Wege.“ (Kaiser, Einleitung II, 106) Dass es kommt, ist der erklärte Wille Jahwes, der sein Volk erwählt hat und der an seinem Bund festhält, sofern seine Gottheit geehrt und seine Gebote geachtet werden. Dass die Ehrfurcht des Herrn und der Gehorsam Gesetz Gottes und Weisheit gegenüber Jahwes Gebot Anfang, Ende und InIsraels begriff aller Weisheit ist, die diesen Namen verdient, belegt neben der prophetischen auch diejenige Literaturgattung, die als Weisheitsdichtung ins Alte Testament eingegangen ist und dort mit der poetischen Lied- und Psalmendichtung nicht nur äußerlich verbunden wurde. Die hebräische Bibel enthält als Weisheitsbücher die Sprüche Salomos, das Hiobbuch sowie Kohelet, auch Prediger Salomo genannt; die griechische Bibel beinhaltet darüber hinaus die Weisheit des Jesus Sirach und die Weisheit Salomos. Wie im Falle des Rechts ist auch im Falle der Weisheit der religiöse Sinngrund ihrer Bedeutung erst allmählich in Erscheinung getreten. Während die Weisheit des Alten Israel unter dem Einfluss vergleichbarer altorientalisch-ägyptischer Traditionen durch genaue Beobachtung wiederholter Vorgänge in der Natur und im Zusammenhang sozialer Gemeinschaft Regeln zu erfassen suchte, die zu befolgen im Sinne der „Ordnung der Phänomene“ (Hermisson, 188) und eines glückversprechenden Lebens in der Welt ist, vollzog sich die explizite Theologisierung der Weisheit erst im Laufe eines Prozesses, der in nachexilischer Zeit zu einer immer stärkeren Verbindung mit der Tora führte, bis es schließlich zu einer förmlichen Gleichsetzung beider kommen konnte. Die Tora Jahwes ist weise, ja die offenbare Weisheit Gottes selbst, und wer sie nicht befolgt, hat nicht nur als gottlos und ungerecht, sondern zugleich als ein Tor zu gelten. Die Weisheit reiht sich so in die kanonische Abfolge von Gesetz und Propheten ein, um als dritte im Bunde zusammen mit anderen Schriften den Schluss der dreigeteilten hebräischen Bibel zu bilden. Ein wesentliches Ergebnis der Theologisierung der israelitischen Weisheit im Zuge der Traditionsgeschichte bestand in der Einsicht, dass das Geschick des Volkes

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nicht durch natürliche Schicksalsmächte, welche blindlings walten und Glück und Unglück als Spiel des Zufalls erscheinen lassen, oder durch den Entscheid einer allmächtigen Herrschaft bestimmt ist, die zuteilt nach schierem Belieben, ohne Rücksicht zu nehmen auf den Unterschied zwischen Recht und Unrecht. Über Israels Geschick befindet weder Natur noch äußere Macht, sondern allein Jahwe, der nach Maßgabe der Gerechtigkeit herrscht, die sein Gebot gebietet. Durch Jahwes Tora ist dem Leben des Menschen die weise Ordnungsregel gegeben, die es um Gottes und eines geglückten Volkslebens willen zu befolgen gilt. Es besteht ein Zusammenhang von Tun und Ergehen, der weder durch ein blindes Schicksal ignoriert werden kann noch im Belieben schieren Machtwillens steht, weil er durch Jahwe und die Allmacht seiner Gerechtigkeit gefügt ist. Nach Maßgabe dieser Gerechtigkeit straft Gott die Gottlosen und Ungerechten, wohingegen er die Gerechten und Frommen mit seiner Gunst belohnt. Was Israel am eigenen Exilsgeschick lernte, verfestigte sich im Verlauf seiner nachexilischen Religionsgeschichte zum Dogma: „Gott hilft dem Frommen und vernichtet den Bösen, das ist der Hauptartikel des jüdischen Glaubens.“ (Wellhausen, 202) Dass der dogmatische Hauptartikel jüdischer Religion nicht unangefochten blieb und nicht unangefochten bleiben konnte, zeigen spätestens die zweifelnden Einsprüche, die bei Kohelet und vor allem im Hiobbuch begegnen. Sie sind weniger überlegener Skepsis geschuldet als aus der Anfechtung der Verzweiflung und der Gefahr religiösen Sinnverlustes geboren: „Der Widerspruch zwischen innerem Wert und äußerem Ergehn des Menschen erschüttert die Grundlage der Religion. Es ist das schwerste Ärgernis, wenn der Frevler floriert, wenn der Gerechte leidet.“ (Wellhausen, 203) Aus dem bezeichneten Problem erwuchs nach erfolgter Etablierung der Tora die entscheidende Frage der jüdischen Religion in spätnachexilischer Zeit. „Nachdem man glücklich so weit war, anzuerkennen, daß die Moral die religiöse Forderung sei, ergab sich weiter die schreckliche Aufgabe, Stellung dazu zu nehmen, daß die Moral nichts nützt.“ (Wellhausen, 205) Ihre Dringlichkeit erhielt diese Aufgabe durch eine fortschreitende Individualisierungstendenz der Zeit, aus der sich das Problem, welches gelöst werden sollte, zum nicht geringsten Teil überhaupt erst ergab. Mochte sich der Lehrsatz, dass Frevlern das Böse, welches sie tun, ebenso gewiss vergolten wird, wie die Guten den Lohn ihrer Güte erhalten werden, unter kollektiven Gesichtspunkten noch relativ unangefochten behaupten und verteidigen lassen: aus der Sicht der einzelnen Menschen musste das Prinzip eines festgefügten Entsprechungszusammenhangs zwischen Tun und Ergehen auf kurz oder lang zwangsläufig in die Erfahrungskrise geraten. Dass das geschichtliche Geschick der Völker durch ihr Verhalten erheblich mitbestimmt ist, Tun und Ergehen wird man empirisch nicht rundweg in Abrede stellen können; es sprechen im Gegenteil zumindest einige Erfahrungen dafür, dass Kollektivgrößen sich durch eigenes Vergehen nicht selten selbst zugrunde richten. Eine Geschichtskatastrophe wie Israels Fall unter den Babyloniern als Schuld des betroffenen Volkes zu deuten, muss also empirisch betrachtet nicht von vorneher-

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ein als abwegig erscheinen. Anders stellt sich der Sachverhalt im individuellen Blick auf den Einzelfall dar: Zwar kommt es nicht selten vor, dass Verfehlungen eines Menschen üble Folgen für ihn nach sich ziehen. Doch wird man hieraus nicht auf eine beständige Regel schließen können, die dem empirischen Härtetest dauerhaft standhält. „Was der Frevler befürchtet, kommt über ihn, was die Gerechten erhoffen, trifft ein“ (Spr 10,24): Der zitierte weisheitliche Sinnspruch kann sich nur sehr eingeschränkt auf Erfahrung berufen, die nicht selten einen eher gegenteiligen Eindruck hinterlässt. Unter den Bedingungen wachsender Individualisierung in nachexilischer Zeit war die jüdische Tradition daher zunehmend mit der Frage des Verhältnisses von kollektiver Schuld und individueller Verantwortung und mit dem Problem konfrontiert, das der leidende Gerecht aufgibt. Den problematischen Zusammenhang individueller und kollektiver Schuldhaftung artikuliert klassisch der paradigmatische Einspruch, wonach die Väter saure Trauben essen und die Zähne der Söhne stumpf werden. Zwar wird dem pointierten Protest gegen Kollektivhaftung in Ez 18,2f., wo er zitiert wird, mit schroffen Worten Schweigen geboten. Doch zum Verstummen bringen ließ er sich dauerhaft nicht. Als zu eklatant und unerträglich wurde die empirische Diskrepanz zwischen Tun und Ergehen im individuellen Leben empfunden. Keineswegs jeder erhält zu Lebzeiten zugeteilt, was er verdient. Dass Anderes zu behaupten falsch ist, zeigt die Erfahrung. Sie belegt zwar auch, dass Söhne oft unter der Schuld ihrer Väter (und umgekehrt) zu leiden haben, ohne allerdings die Frage nach dem Rechtsgrund dieses Zusammenhangs zu beantworten, die durch besagten Hinweis allererst gestellt ist. Darf es als gerecht gelten, wenn Nachkommen für die Sünden ihrer Vorfahren Übel erdulden müssen, wie das im Falle des seiner politischen Eigenexistenz beraubten nachexilischen Israel nach überkommener Deutung gegeben war? Gibt es vor Gott eine Solidarhaftung des Gesamtvolkes unter Einbezug aller Einzelglieder ohne abwägende Berücksichtigung individueller Schuldanteile? Hat der Einzelne nicht einen Rechtsanspruch darauf, von Gott nur für sein eigenes Fehlverhalten bestraft, nicht aber für Vergehen Anderer zur Rechenschaft gezogen zu werden? Wie es in Ez 18,20 heißt: „Die Person, die sündigt, sie soll sterben. Ein Sohn soll nicht die Schuld des Vaters noch ein Vater die Schuld des Sohnes tragen. Die Gerechtigkeit des Gerechten soll auf ihm (d.h. dem Gerechten) liegen, und die Gottlosigkeit des Gottlosen soll auf ihm (d.h. dem Gottlosen) liegen.“ Gilt dieser Grundsatz, dann ist zwar einerseits dem zu fatalem Zynismus neigenden Spott über die Gerechtigkeit Gottes im zitierten Maschal von Ez 18,2 gewehrt, andererseits aber das erfahrungsmäßig gegebene Problem des leidenden Gerechten nur um so drückender geworden. Stellungnahmen zu dem bedrängenden Problem, wie die empirische Diskrepanz zwischen Rechttun und Wohlergehen mit der Gerechtigkeit Gottes zu vereinbaren sei, finden sich vor allem in den von Luther als Lehrbücher bezeichneten Schriften, die – als „andere Bücher der Vorfahren“ dem Gesetz und den Propheten zur Seite gestellt – den Schluss der hebräischen Bibel bilden, wohingegen sie in der Septuaginta, dem Kanon der griechischen Bibel, reicher an Zahl, zumeist in der Mitte

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platziert sind. Was die Weisheitstexte des hebräischen Kanons betrifft, so teilen sie in der Regel und mit wenigen Ausnahmen nicht nur die traditionelle Überzeugung, dass zwischen Tun und Ergehen kraft göttlicher Fügung eine Entsprechung statthat, sie versuchen diesen Grundsatz, der ihre übliche Denkvoraussetzung bildet, auch dezidiert gegen skeptische Einwände zu verteidigen und sicherzustellen. Am deutlichsten und ungeniertesten sind solche Einwände vom Prediger Salomos ausgesprochen worden, der im Kanon ersichtlich eine Sonderstellung einnimmt und hinter dem sich ein hellenistisch beeinflusster jüdischer Weiser aus der Mitte des 3. Jahrhunderts v.Chr. verbirgt, dessen Denken von tiefer Skepsis durchdrungen ist. Gegen die in der Perserzeit mit dem Anspruch unbedingter Gültigkeit auftretende Lehrweis- Die Krise der Weisheit heit, derzufolge es nach Maßgabe eines verlässlichen, weil von Gott selbst proportionierten Verhältnisses dem Guten gut und dem Bösen schlecht ergehe, verweist das Buch Kohelet auf gegenteilige Erfahrungen, um so die eherne theologische Regel einer festgefügten Tun-Ergehens-Korrespondenz zu erschüttern mit dem Ergebnis, dass zuletzt und im Grunde alles eitel sei. Zwar kennt und schätzt auf seine Weise auch der Prediger das Wort, wonach es denen, die Gott fürchten, wohl, den Gesetzesübertretern aber schlecht ergehen wird, so dass sie wie Schatten weichen und nicht lange leben auf Erden. Doch trifft nach irdischer Erfahrung auch das andere zu: „Es gibt gesetzestreue Menschen, denen es so ergeht, als hätten sie wie Gesetzesbrecher gehandelt; und es gibt Gesetzesbrecher, denen es so ergeht, als hätten sie wie Gesetzestreue gehandelt.“ (Koh 8,14) Die Annahme eines wohlproportionierten Tun-Ergehens-Zusammenhangs findet an der Erfahrung keine hinreichende Bestätigung und erlaubt sonach keine verlässlichen Prognosen im Hinblick auf künftiges Geschick. Statt in Anbetracht dessen in Resignation und fatale Verzweiflung zu verfallen, rät der Prediger dem sterblichen Menschen, den vergänglichen Tag auszukosten und das endliche Dasein zu genießen, so lange es währt: „Da pries ich Freude; denn es gibt für den Menschen kein Glück unter der Sonne, es sei denn, er isst und trinkt und freut sich. Das soll ihn begleiten bei seiner Arbeit während der Lebtage, die Gott ihm unter der Sonne geschenkt hat.“ (Koh 8,15) Der Gott, der seine Sonne über Böse und Gute gleichermaßen scheinen und der regnen lässt über Gerechte und Ungerechte (vgl. Mt 5,45), begegnet auch im Weisheitsbuch Hiob, mit dem Unterschied freilich, dass Hiob die in aller irdischen Eitelkeit gelassene Daseinsfreude, zu der der Prediger ermuntert, restlos vergangen ist. In seiner Gestalt nimmt daher die Erschütterung der Gewissheit eines gottgefügten Tun-Ergehens-Waltens ungleich abgründigere Formen an als bei Kohelet. Das Dunkel, das Hiob umgibt, kann offenbar durch skeptische Aufklärung nicht mehr erhellt werden. Die Weisheit scheint an ihr Ende gelangt zu sein. Doch bedarf dieses Urteil der inhaltlichen Differenzierung, zu der nicht zuletzt die literarische Vielschichtigkeit und formale Eigenart des Hiobbuches nötigt, an dem nicht nur ein Autor, sondern Verfasser mehrerer Generationen gearbeitet haben. Statt auf die

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Genese der zentralen Dichtung in 3,1–42,6 und ihrer Rahmungen einzugehen, seien lediglich einige der zentralen Argumentationsmuster benannt, nach denen Hiobs Leiden gedeutet werden. Von der Endgestalt des Buches her geurteilt scheinen die Deutungsmuster insgesamt auf eine Apologie der Überzeugung hinauszulaufen, dass die Ordnung eines Tun-Ergehens-Zusammenhangs durch Gottes gerechte Fügung fest fundiert und von dauerhaftem Bestand ist, der durch keine Erfahrung erschüttert werden kann. Der theologische Grundsatz, dass die Zuteilung von Wohl und Übel nach gerechtem, in der Gerechtigkeit Gottes gegründetem Maß erfolge, könne empirisch nicht falsifiziert werden. Keine tatsächliche oder mögliche Erfahrung sei in der Lage, den sachlichen Zusammenhang von Guttun und Wohlergehen sowie von Schuld und Leidensübel aufzulösen. Denn dieser Zusammenhang sei von Gott selbst geordnet und von unbedingter Geltung. In den Reden von Elifas, des ältesten unter den drei Freunden Hiobs, kommt diese unerschütterliche Gewissheit bei allem Mitgefühl für den Leidenden schnell und scharf zum Ausdruck: „Bedenk doch! Wer geht ohne Schuld zugrunde? Wo werden Redliche im Stich gelassen? Wohin ich schaue: Wer Unrecht pflügt, wer Unheil sät, der erntet es auch.“ (Hiob 4,7f.) Selbst Hiobs Leiden, so Elifas, ist scheinbar nur ein Leiden des Gerechten, denn in Wahrheit sei dieser nicht ohne Sünde, von der sich zu bekehren das Sinnziel seiner Leiden sei. Der darniederliegende Freund möge daher die Übel, die ihn quälen, als eine Erziehungsmaßnahme Gottes annehmen, um Buße zu tun und sich zu bessern: „Ja, wohl dem Mann, den Gott zurechtweist. Die Zucht des Allmächtigen verschmähe nicht.“ (Hiob 5,17) Bildad und Zofar, die anderen beiden Freunde, teilen Elifas Überzeugung, dass Leid und Übel selbstverschuldet sind. Hiobs Unschuldsbewusstsein wird infolgedessen in Frage gestellt. Auch in den Elihureden in den Kapiteln 32–37 und anderwärts wird die Unschuld Hiobs bestritten, gegebenenfalls in gesteigerter und generalisierter Form: Kein Mensch sei schuldlos, mithin auch Hiob nicht. Denn keine menschliche Kreatur habe sich faktisch je ganz von Sünde rein gehalten. Es kann sonach dabei bleiben: Gott vergilt Gutes mit Gutem sowie Böses mit Übel und Leid. Neben der mehr oder minder prinzipiellen Verteidigung des Grundsatzes einer Tun-Ergehens-Korrespondenz im Interesse der Gerechtigkeit Gottes, die unbedingt gewiss und durch Erfahrung nicht zu erschüttern sei, finden sich in Teilen des Hiobbuches, die anderen literarischen Schichten angehören, auch solche Stimmen, die mit dem Insistieren des übel Zugerichteten auf eigener Unschuld einen von demjenigen der Freunde signifikant abweichenden Umgang pflegen. Dabei pflichten sie Hiobs Absage an die von Elifas, Bildad und Zofar kompromisslos verfochtene Vergeltungslehre nicht einfachhin bei und geben den Grundsatz göttlicher Gerechtigkeit nicht gänzlich einer Skepsis preis, welche die in ihm formulierte Gewissheit zersetzt und in die Behauptung göttlicher Ungerechtigkeit wendet. Mag Hiob angesichts seiner Leiden auch mit Recht der Lehre von Gottes gerechter Vergeltung entgegenhalten: „Schuldlos bin ich.“ (Hiob 9,21); bei der fatalen Konsequenz, die er zieht, kann es gleichwohl nicht sein Bewenden haben:

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„Einerlei; so sag’ ich es denn: Schuldlos wie schuldig bringt er um.“ (Hiob 9,22) Hiobs schuldloses Leiden berechtigen ihn zur Klage, zum Appell an Gott als seinen Rechtshelfer gegen die Freunde, ja in gewisser Weise sogar zu dem Begehren, sein Recht bei Gott selbst einzuklagen. Einen Anlass und eine begründete Ursache, die Gleichgültigkeit Gottes der Differenz von Gut und Böse gegenüber zu behaupten, geben ihm seine Leiden indes dennoch nicht, selbst wenn sie schuldlos sind. Denn eine solche Behauptung göttlicher Indifferenz, die faktisch auf eine Behauptung der Ungerechtigkeit Gottes hinausliefe, müsste als in sich verkehrt und sündig und damit als Widerspruch zu der von Hiob für sich in Anspruch genommenen Schuldlosigkeit gelten. In diesem Sinne muss sich Hiob von Gott fragen lassen: „Wo warst du, als ich die Erde gegründet? Sag es denn, wenn du Bescheid weißt.“ (Hiob 38,4) „Mit dem Allmächtigen will der Tadler rechten? Der Gott anklagt, antworte drauf!“ (Hiob 40,2) Hiob erkennt, so liest man, dass er erkannt und durch Gottes Anfragen im Innersten seiner Selbstgewissheit in Frage gestellt ist. Daraufhin antwortet er seinem Herrn: „Siehe ich, ich bin zu gering. Was kann ich dir erwidern? Ich lege meine Hand auf meinen Mund.“ (Hiob 40,4) Und als Gott abermals, wie es heißt, aus dem Wettersturm spricht und Hiob fragt, ob er Recht zerbrechen und ihn, Gott, schuldig sprechen wolle, damit er, Hiob, recht behalte (vgl. Hiob 40,8), da wendet sich dieser und bekennt: „So habe ich denn im Unverstand geredet über Dinge, die zu wunderbar für mich und unbegreiflich sind. Hör doch, ich will dich fragen, du belehre mich! Vom Hörensagen habe ich von dir vernommen, jetzt aber hat mein Auge dich geschaut. Darum widerrufe ich und atme auf, in Staub und Asche.“ (Hiob 42,6) Gott lässt in indirekter Rede seine Schöpfung Zeugnis ablegen vom Geheimnis ihres Grundes und Erhalts. Zwar bleibt Hiob die Ursache seines Leidens kreatürlich verborgen. Dennoch wird ihm der ordnende Lenkungswille Gottes durch dessen Rede sub contrario gewiss. Das Erschließungsgeschehen, das an ihm wirksam wird, gebietet seiner Anklage Schweigen, ohne den Klagenden einfachhin zum Verstummen zu bringen. Im Widerruf atmet Hiob auf und wird offen für eine Erkenntnis, die höher reicht als alle theoretische und praktische Vernunft. Gott vergilt nach dem Maß distributiver GeDer Grundsatz distributiver rechtigkeit, welches die Maxime seines Handelns Gerechtigkeit und seine bestimmt. So lehren es das Gesetz und die Pro- Grenze pheten samt den Schriften der Weisheit, wobei ihre Lehre sich zunehmend der Einsicht öffnet, dass der gerechte Gott individuelle Haftung des je Einzelnen für seine Taten vorsieht, um jedem das Seine rechtmäßig zuzuteilen. Im Falle Hiobs scheint Gott indes von seiner eigenen Gerechtigkeit abzuweichen und dies mit dem Hinweis auf überlegene Macht und die unergründlichen Geheimnisse seiner Schöpfung zu rechtfertigen. Die Leiden des Gerechten sind als von der Allmacht Gottes umhüllte Schöpfungsrätsel zu akzeptieren und in ihrer Unlösbarkeit anzunehmen. Ist dies die entscheidende Botschaft des Hiobbuches, dann würde zwar die göttliche Rüge verständlich, die den eifrigen Freunden

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in der an Hiob 42,6 anschließenden Überleitung zur Rahmenerzählung widerfährt: denn wie alles Verstehen stößt offenbar auch der Grundsatz gerechter Vergeltung angesichts der göttlichen Schöpferallmacht an die Grenze der Rätselhaftigkeit, die seine Allgemeingültigkeit beschränkt. Unverständlich hingegen bliebe, warum der vom Allmächtigen zur Rede gestellte Hiob sich von seinem Schöpfer im Innersten erkannt und so ergriffen weiß, dass er seine anklagende Klage nicht nur im Gestus der Unterwürfigkeit fallen lässt, sondern, wie es ausdrücklich heißt, in Staub und Asche frei aufatmet. Man kann dieses Aufatmen nur mit dem Hinweis erklären, dass die Macht Gottes, die ihn berührte, das Gesetz distributiver Gerechtigkeit nicht etwa unterbietet, sondern überbietet, um Hiob zur Gewissheit zu führen, dass sein Leiden, dessen Sinn ihm verborgen ist, in der geheimen Weisheit des gerechten Gottes Lösung und Erlösung finden wird. Hiob überlässt sich seinem Schöpfer und legt die ganze Schöpfung in die Hände Gottes zurück, dessen Werk sie ist und der allein sie trägt und erhält. Offenbar hat er seine Klage deshalb zurückgezogen, „weil er nun auch sein Geschick im Geheimnis dieses Gottes gut aufgehoben wußte“ (v. Rad, 291). Hiobs Leidensgeschichte rührte und rührt an die Grenze theologischen Verstehens und führte offenbar gerade dadurch die jüdische Theologie über Grenzen hinaus, die in ihrem traditionellen Selbstverständnis beschlossen waren. Der Grundsatz distributiver Gerechtigkeit vermag das Leiden Hiobs nicht hinreichend zu fassen und zu erklären und ist deshalb, ohne einfachhin verabschiedet zu werden, aufzuheben in eine Wahrheit, die höher ist als alle gesetzliche Vernunft. Gewiss wäre es zu wenig, in der Hiobsgeschichte nur die Erzählung einer Bewährungsprobe echter Frömmigkeit zu erblicken. Obzwar es wesentlich auch um Glaubensbewährung geht, besteht die Pointe der Botschaft doch in einer doppelten Grenzüberschreitung: Hiob wird einerseits über sich und den Begriff seiner selbst als eines unschuldig Leidenden, der einen Rechtsanspruch auf einen wohlproportionierten Tun-Ergehens-Zusammenhang hat, hinausgeführt, um zur Einsicht zu gelangen, dass sein Insistieren auf eigener Gerechtigkeit in einer Weise verfehlt ist, welche eben diese Gerechtigkeit und die Schuldlosigkeit seines Lebens und Leidens in Frage stellt. Aber es bleibt andererseits nicht bei Hiobs Infragestellung durch die Allmacht Gottes, weil der Schöpfer seinerseits eine Grenze überschreitet, um sich über das Maß göttlicher Herrschaft und Gerechtigkeit hinaus dergestalt einzulassen auf die Niedrigkeit seines Geschöpfs, dass dieses in Staub und Asche, wie es heißt, aufatmen kann und aus dem Rätsel seiner Leiden geheimnisvoll erhoben wird. Seine Klage wird so zum „Gotteslob aus der Tiefe“ (de Vos) transformiert, was an die individuellen Klagepsalmen und insbesondere an die „Freund-Klage“ (Bauks) von Psalm 22 gemahnt. Das vielschichtige Hiobbuch geht an die Grenze dessen, was unter Voraussetzung des Grundsatzes distributiver göttlicher Gerechtigkeit und eines gerecht bemessenen Tun-Ergehens-Zusammenhangs theologisch rechtens zu denken ist. Auch wenn es in der Regel und aufs Ganze gesehen innerhalb der Bedingungen verbleibt, die durch die Tradition gesetzt sind, hat es durch Berücksichtigung und

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Integration der Argumente skeptischer Bestreitung den Horizont geöffnet für religiöse Wahrnehmungen und theologische Einsichten, die den Rahmen der bisherigen Überlieferungen transzendieren. Das gilt vergleichbar auch für Weisheitsbücher, die zwar in den griechischen Kanon, im Unterschied zum Hiobbuch aber nicht mehr in die hebräische Bibel aufgenommen wurden: die Weisheit Salomos, auch bündig das Buch der Weisheit genannt, sowie die Weisheit des Jerusalemer Schriftgelehrten Jesus Sirach. Ben Siras Denkhorizont ist einerseits bleibend durch den Grundsatz eines im irdischen Leben aufweisbaren und somit empirisch verifizierbaren Zusammenhangs von Tun und Ergehen bestimmt; er deutet aber andererseits über diesen begrenzten Horizont hinaus und eröffnet Aussichten auf einen jenseitigen Ausgleich und auf ein ewiges Leben, in dem das Prinzip distributiver Gerechtigkeit zu seinem erfüllten Ende gelangt. Eine Reihe von Argumenten führt Ben Sira alias Jesus Sirach für den jüdischen Glauben an Gottes distributive Gerechtigkeit an, den er angesichts der Herausforderungen durch den Hellenismus und in Anbetracht verbreiteter Hellenisierungstendenzen in der jüdischen Oberschicht seiner Zeit zu verteidigen sucht. Die Schöpfungswerke Gottes sind „allesamt gut“ (Sir 39,33) und wohl geordnet, wohingegen das Übel nur da ist, um den Gottlosen zu strafen: „um seinetwillen ist die Sintflut gekommen“ (Sir 40,10). Das Üble ist sonach nicht im schöpferischen Ursprungswillen Gottes gegründet, sondern lediglich eine Folge göttlichen Unwillens über die Sünde, welche aus ihrer inneren Verkehrtheit heraus alle äußeren Übel erzeugt. In seiner Allwissenheit bleibt Gott nicht verborgen, was auf Erden geschieht. Auch die scheinbar unentdeckte Untat wird er dereinst an den Tag bringen und gerecht bestrafen zur rechten Zeit. Trifft aber Unglück den Frommen, dann ist dies nach Ben Sira nicht als Strafübel zu deuten, sondern als eine Prüfung, welche der Erziehung dient und die Gottgefälligkeit des Lebens durch Geduld und Hoffnung vertiefen soll. „Denn im Feuer wird Gold geprüft und gottgefällige Menschen im Ofen des Elends.“ (Sir 2,5) Wer in Krankheit und Übel geduldig und hoffnungsfroh auf Gott vertraut, wird nicht zuschanden werden. Im Übrigen habe sich der Mensch als Geschöpf in Gottes Schöpfungswerk zu fügen und der göttlichen Herrlichkeit Respekt zu zollen, die nur Demütigen ihr Geheimnis offenbart. Dies gilt nach Jesus Sirach auch in Bezug auf die Rätsel der Vergänglichkeit und des Todes: „Ein Nichts ist der Mensch nach seinem Leibe; aber des Frommen Name wird nicht ausgetilgt.“ (Sir 41,11). Gedacht ist dabei wohl zunächst nicht an eine Verewigung gelebten Lebens im Gedächtnis Gottes, sondern daran, dass der gute Name eines Menschen ungezählte Tage über den leiblichen Tod hinaus in der Erinnerung der Nachkommenschaft fortlebt. Aber durch spätere Zusätze ist Ben Siras Lebenshoffnung über den Tod hinaus ins Eschatologische ausgeweitet worden, so dass allen, die in Gerechtigkeit zur Erkenntnis der Weisheit Gottes gelangt sind, ewiges Leben verheißen wird. Auch schon im Hiobbuch lassen sich Anklänge eschatologischer Art vernehmen (vgl. etwa Hiob 19,25–27a), die sich aus der Gewissheit ergeben, dass der göttliche Rechtswalter der Unschuldigen und der Erlöser allen Übels ewig lebt. Vergleichba-

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re redaktionelle Zusätze, die ins Eschatologische weisen, finden sich auch an anderen Stellen der hebräischen Bibel, um zu bezeugen, dass der für Kohelet, aber auch noch für die Weisheit Ben Siras „maßgebliche, auf das Leben zwischen Geburt und Tod begrenzte Horizont ihres Denkens inzwischen aufgesprengt war“ (Kaiser III, 308). Zu nennen sind die Psalmstellen 22,30a; 49,16; 73,23–26, in denen die Unzerstörbarkeit der Gottesbeziehung bekannt wird, der auch der Tod nichts anzuhaben vermag. Gott wird den Schrei tödlicher Gottverlassenheit (vgl. Mk 15,34) erhören, die Seinen loskaufen aus dem Totenreich und sie aufnehmen in seine ewige Herrlichkeit: „Auch wenn mein Leib und meine Seele verschmachten, Gott ist der Fels meines Herzens und mein Anteil auf ewig.“ (Ps 73,26) Die Nähe Gottes überdauert den Tod, und der Herr wird den leiblich und seelisch Verschmachteten aus dem Abgrund irdischer Leiden entrücken (vgl. Ps 73,24) in seine himmlische Welt. Ähnliche Stimmen sind im Jesajabuch zu hören, etwa wenn es 25,8 heißt, Gott werde als König der Weltmächte zuletzt auch den Tod für immer besiegen und die Tränen abwischen von jedem Auge, oder wenn in 26,19 vom wahren Israel gesagt ist: „Deine Toten werden leben, die Leichen stehen wieder auf; wer in der Erde liegt, wird erwachen und jubeln.“ In einem Nachtrag des Ezechielbuches schließlich wird in 37,7a.8b–10a der ursprüngliche, auf die Exilssituation bezogene Text ins Eschatologische transformiert und in eine Weissagung leibhafter Totenauferstehung gewandelt, auf die sich seit dem 3. und 2. Jahrhundert v.Chr. die Hoffnung der jüdischen Frommen richtet. Besondere Erwähnung verdient schließlich noch die Stelle Daniel 12,2f., in der Totenauferstehung und Jüngstes Gericht zu einem Vorstellungskomplex verbunden sind. Nachdem der Erzengel Michael als Streiter Israels mitsamt den himmlischen Heerscharen die Mächte der Finsternis im Endkampf der letzten Tage unterworfen hat, wird Gott die Frommen des Volkes, deren Namen im Himmelsbuch verzeichnet sind, erretten über die Schranke des Todes hinaus: „Von denen, die im Erdenstaube schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu. Die Weisen aber werden strahlen wie der Glanz der Himmelsfeste und diejenigen, die viele zur Gerechtigkeit geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne leuchten.“ (Dan 12,2f.) In den erwähnten, vermutlich im Laufe des 3. und 2. vorchristlichen Jahrhunderts ausgebildeten redaktionellen Zusätzen eschatologischer Art, die sich in der hebräischen Bibel erhalten haben, bleibt die alttestamentliche Grundüberzeugung einer gerechten Fügung von Tun und Ergehen in Geltung. Aber sie greift über den Erfahrungsbereich des irdischen Lebens ins Transempirische, um von dort her und darauf hin in hoffnungsfroher Erwartung der endgültigen Verifikation der Gerechtigkeit des Gottes Israels entgegenzusehen. Deutlicher als in der hebräischen Bibel, wo sie lediglich in Spuren später Redaktion zu entdecken ist, tritt die Eschatologisierungstendenz in den deuterokanonischen Schriften der sog. Apokryphen zutage, und zwar besonders signifikant im griechischen, von einem hellenistischen Juden verfassten Buch der Weisheit (SaloEschatologisierungstendenzen

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mos), von dem als dem jüngsten Buch des Alten Testaments noch eigens die Rede sein soll. In seinen drei Teilen wird die Rolle der Weisheit im Schicksal der Menschen, ihr Ursprung und Wesen samt den Wegen, sie zu erwerben, sowie das Wirken göttlicher Weisheit in Israels Geschichte unter Konzentration auf das Exodusgeschehen thematisiert. Im gegebenen Zusammenhang verdient der erste Teil besonderes Interesse, sofern er vom Los der Gerechten und Gottlosen während des Lebens und nach dem Tode handelt. Zwar ist der Verfasser, der sich hinter König Salomo (vgl. Weish 9,7f.12) verbirgt, kein Philosoph oder Schultheologe, aber er vermag aufgrund seines Bildungsstandes die Weisheit Israels mit antiken Überlieferungen namentlich griechischer Provenienz zu verbinden. So finden sich Anspielungen auf die platonische Unterscheidung von Leib und Seele und auf die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, die der Weisheitslehrer mit der Erwartung leibhafter Auferstehung zum Ausgleich zu bringen versucht, indem er den Auferstehungsleib in vergeistigter Form vorstellig macht. Am Anfang steht die Mahnung, in allem Gott zu suchen und die Sünde zu fliehen, wobei die Verhältnisbestimmung von Sünde und Tod in hohem Maße bemerkenswert ist: „Jagt nicht dem Tod nach in den Irrungen eures Lebens, und zieht nicht durch euer Handeln das Verderben herbei! Denn Gott hat den Tod nicht geschaffen und hat keine Freude am Untergang der Lebenden.“ (Weish 11,12f.) Recht eigentlich erst die Verkehrtheit des Bösen führt die Macht des Todes herbei, der die Sünder gerade dadurch unterliegen, dass sie in der irrigen Meinung, mit dem Tod sei alles aus, Gott einen guten Mann sein lassen, seine Gebote verachten und tun, was ihnen beliebt. „So denken sie, aber sie irren sich; denn ihre Schlechtigkeit macht sie blind.“ (Weish 2,21) Die in ihrer Sünde törichten und in ihrer Torheit sündigen Frevler erkennen nicht nur nicht, sondern verkennen, dass Gott den Menschen zur Unvergänglichkeit geschaffen und zum Bilde seines eigenen Wesens gemacht hat (vgl. Weish 2,23). Dabei ist die Unsterblichkeit, zu welcher der Mensch als Gottes Ebenbild bestimmt ist, seiner Gerechtigkeit gleichzusetzen (vgl. Weish 1,15), wohingegen die Ungerechtigkeit den Tod förmlich herbeizwingt, um sich durch ihn selbst zugrundezurichten. Die Frevler, vom äußeren Augenschein der Dinge geblendet, achten weder Gott noch sein Gebot noch auch die Tatsache, kreatürlich zum göttlichen Ebenbild bestimmt zu sein. Sie verachten mithin nicht nur Gott, sondern auch sich selbst und zugleich alle Kreatur, ja letztlich die ganze Schöpfung, die ihnen als purer Zufall gilt. Ihr teuflischer Götze sind das Nichts und der Tod, deren höllischem Abgrund sie verfallen sind und daher endgültig verfallen werden, wenn sie sich nicht zum Leben, zum Guten und zu Gott bekehren. Was aber die Bekehrten und Gerechten betrifft, die ihrer gottebenbildlichen Bestimmung entsprechen, so sind sie in Gottes Hand, und weder Not noch Tod können sie von Gott trennen, obzwar ihr Heimgang in den Augen der sündigen Toren als ein gänzliches Zunichtewerden erscheint und ob ihrer Verkehrtheit auch erscheinen muss. Die gewisse Wahrheit göttlicher Verheißung bleibt davon unberührt: „Die Gerechten ... leben in Ewigkeit, der Herr belohnt sie, der Höchste sorgt für sie.“ (Weish 5,15)

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Wer sich an die Tora hält und seine Freude hat an der Weisung des Herrn, dem ist der Segen Gottes gewiss; der Frevler aber, der im Kreise der Spötter sitzt und den Irrweg der Sünde geht, richtet sich selbst zugrunde und verfällt dem Abgrund des Bösen. Die nämliche Botschaft lässt sich auch und in besonderer Intensität demjenigen Bibelbuch entnehmen, auf das im gegebenen Zusammenhang – u.a. in der Absicht einer Näherbetrachtung des sog. alttestamentlichen TunErgehens-Zusammenhangs – noch eigens und in der gebotenen Ausführlichkeit einzugehen ist: dem Psalter, dessen kanonische Endgestalt bei aller Strukturierung zwar noch deutlich den Charakter einer Sammlung von Einzeltexten erkennen lässt, der nach Maßgabe seiner Rahmung durch Ps 1 und Ps 150 aber zugleich mit einem allgemeinen Verstehenshorizont versehen ist, in dem sich Weisheits- und Torafrömmigkeit programmatisch verbinden. Ps 1 bestimmt den Psalter in didaktischer Absicht als Toralesebuch zum Zwecke der Meditation der von Jahwe gegebenen Weisung, in der alle Weisheit inbegriffen ist. Ja, man wird unter endredaktionellen Gesichtspunkten sagen dürfen, dass der Psalter in seiner kanonischen Gestalt, ohne auf eine theologische Einheitsdoktrin festgelegt zu sein, selbst als eine Tora im Sinne einer Anweisung zu einem gottgemäßen Leben verstanden werden will, worauf u.a. die dem Pentateuch entsprechende Einteilung in fünf Bücher hinweist. Ps 150 wiederum steht für das Telos des Psalters, auf das die Fülle der Einzelaussagen und die ganze Weisheit des Gesetzes hingeordnet sind: „das gemeinschaftliche, alle Menschen umfassende, universale und eschatologische Lob der Königsherrschaft Gottes.“ (Ballhorn, 382) Nicht zum Geringsten erlaubt es diese Zielbestimmung, das Alte Testament in Abwandlung eines Diktums von Martin Kähler „einen Psalter mit ausführlichen Einleitungen“ (Spieckermann, 292) zu nennen. Spätestens seit Hermann Gunkels (1862–1932) gattungsgeschichtlicher Erforschung der Psalmen ist es üblich geworden, diese als je besondere Formgestalten mit unterschiedlichen Lebenssitzen und spezifischen Entstehungskontexten zu verstehen. In seiner 1933 erschienenen, von J. Begrich vollendeten Einleitung in die Psalmen hatte Gunkel u.a. folgende Gattungen der religiösen Lyrik Israels unterschieden: Hymnen sowie Lieder von Jahwes Thronbesteigung, Klagelieder des Volkes, die am Heiligtum in Notlagen angestimmt wurden, Königspsalmen, die allerdings formal differieren und lediglich durch ihre Konzentration auf den Jerusalemer Herrscher konvergieren, Klagelieder des Einzelnen, individuelle Danklieder, daneben eine Reihe kleinerer Gattungen wie Segens- und Fluchworte oder Wallfahrts-, Sieges- und Dankeslieder. Diese Formen finden sich keineswegs nur im Psalter, sondern ebenso in Teilen der geschichtlichen und prophetischen Bücher des Alten Testaments sowie im Hiobbuch und in alttestamentlichen Apokryphen wie etwa in den pseudepigraphischen Psalmen Salomos aus der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts v.Chr. Was die Psalmen angeht, so sind ihre ursprünglichen Formen nach Gunkel gottesdienstlich geprägt und mit den priesterlichen Kultdichtungen der Babylonier und Assyrer, der Hethiter und der ÄgypDie Botschaft der Psalmen

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ter eng verwandt. Namentlich die Hymnen des Psalters haben ihren gemeinsamen Sitz im Leben im israelitischen Gottesdienst, für dessen liturgischen Gebrauch sie von Tempelsängern gedichtet wurden. Auch die anderen Psalmtexte sind zum einen Teil selbst Kultlieder, zum anderen Teil poetische Stücke, die zumeist aus einem gottesdienstlichen Zusammenhang stammen. Erst allmählich kommt es nach Gunkel in der Psalmendichtung zu einer gewissen Abkehr vom Gottesdienst und zu einer Hinkehr zum geistlichen Lied, das den ursprünglichen liturgischen Kultgesang ablöst; in den Klageliedern des Einzelnen sei diese Umbildung am deutlichsten zu beobachten. Hinzuzufügen ist, dass der Psalter als kanonische Sammlung von Psalmen seinerseits weniger als liturgisches Gesang-, denn als Lese- und Meditationsbuch Verwendung fand, das – ganz abgesehen von den älteren Zeugnissen kultfreier Psalmographie, die es enthält – charakteristische Formparallelen zur Weisheitsliteratur aufweist. Es kann hier nicht Aufgabe sein, die Geschichte der neueren Psalmenforschung auch nur in Psalter und Tora Grundzügen nachzuzeichnen. Der Ansatz Gunkels wurde weiterentwickelt, ausdifferenziert und teilweise auch modifiziert. Die Verfeinerung der formkritischen Methode führte unter Berücksichtigung von Klangform, Sprachstil und Zeilengefüge etc. (vgl. Seybold, 55ff.) zur Entdeckung einer im Vergleich zu den klassischen Gattungsbegriffen gesteigerten Vielfalt von Strukturtypen und poetischen Mustern. Ferner wurden vielfältige Versuche einer Näherbestimmung der pragmatischen Funktion der Texte in ihrem ursprünglichen Situationszusammenhang unternommen. Als Anlässe der Entstehung und genuinen Verwendung von Psalmen postulierte man zeitweilig diverse religiöse Großfeste Israels, wie etwa ein Thronbesteigungsfest Jahwes (S. Mowinckel), ein Bundesfest (A. Weiser) oder ein königliches Zionsfest (H.-J. Kraus). Doch ließen sich die Festhypothesen nicht oder nur eingeschränkt verifizieren. Nichtsdestoweniger bleibt der kultische Hintergrund religiöser Psalmenlyrik in vielen Fällen evident. Statt an einzelne wenige Großereignisse wird man hingegen primär an eine Vielzahl gottesdienstlicher Kasualien zu denken haben, die Formen kultischer Poesie hervorriefen (Königsritual; liturgischer Gottesdienst; Buß-, Klage-, Dankesund Segensfeiern; Wallfahrten und Einzugstora; Asyl- und Ordalverfahren etc.). Daneben gab es zweifellos auch nichtkultische Motive zu Psalmdichtungen in Form von Gebeten, Sprüchen, Weisheitslehren o.ä.; diese poetischen Gattungen gehören indes zumeist einer späteren Ära an, in der Regel der nachexilischen, in Teilen sogar erst der spätnachexilischen Zeit. Im Übrigen ist in Rechnung zu stellen, dass die überlieferten Psalmen sei es als Einzeltexte, sei es als Bestandteile einer Sammlung ihre spezifische Rezeptionsgeschichte nicht nur haben, sondern vielfach auch in sich dokumentieren, sofern sie in ihrer kanonischen Endgestalt Resultate eines z.T. sehr langwierigen Traditionsprozesses mit Fortschreibungen und Korrekturen etc. darstellen. Zwischen der Erstform eines Psalms und seinem biblischen Bestand liegen nicht selten Jahrhunderte. Nicht vernachlässigt werden darf des Weiteren neben der Geschichte ihrer Übersetzungen und Nachdichtungen die reiche Ausle-

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gungsgeschichte der Psalmen, die in der Qumrangemeinde und im Neuen Testament ihren Anfang nahm und bis heute fortdauert. Man denke nur an die zentrale Bedeutung, die dem Psalter in der Wittenberger und der Genfer Reformation zukam, um das weite Feld zu ermessen, das die Psalmenforschung in Betracht zu ziehen hat, wenn sie ihrem Gegenstand gerecht werden will. In der jüngsten Psalmenforschung ist neben Einzeltexten und Kontextgruppen den überlieferten Sammlungen, ihrer internen Anordnung und Reihung, der Formgeschichte der Psalmgruppen und Teilpsalter sowie den Wachstumsprozessen besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden, die schließlich zum kanonischen Psalter geführt haben, wobei der Septuaginta-Psalter noch einmal ein Kapitel für sich darstellt. Der wichtigste Hinweis für das Gesamtverständnis des in Analogie zum Torapentateuch in fünf Teile gegliederten Psalmbuches (vgl. Ps 41,4; 72,18f.; 89,53; 106,48), das in einem jahrhundertelangen Traditionsprozess entstanden und spätestens im 2. Jahrhundert v.Chr. zum Abschluss gebracht wurde, ist zweifellos in dem Segenswort für den Gesetzestreuen gegeben, mit dem es beginnt. Wer Freude hat an der Tora des Herrn und über seine Weisung nachsinnt bei Tag und Nacht, befindet sich auf dem Wege des Heils; den Toraverächter hingegen führt sein verkehrter Irrweg ins Verderben. Wahrscheinlich erst im Zuge tora- und weisheitsorientierter Endredaktion des Psalters entstanden, gibt Ps 1 mit dem Gegensatz zwischen dem Heil des Gerechten und dem Unheil des Frevlers die Prämisse vor, unter der das gesamte Psalmenbuch verstanden werden soll. Dabei fällt auf, was in dem verwandten Ps 37 und an anderen Stellen noch deutlicher zutage tritt, dass die programmatische Antithetik nicht symmetrisch, sondern asymmetrisch insofern gestaltet ist, als der „Rettung der Guten durch Gott die Selbstzerstörung des Bösen“ (vgl. Sticher) korrespondiert. Während Jahwe zugunsten der Gesetzesgehorsamen direkt und unmittelbar helfend und rettend aktiv wird, straft sich die Sünde der Toraverächter selbst, und Gott ist im Unheilszusammenhang des Verkehrten nur indirekt und mittelbar tätig, sodass zwischen göttlichem opus proprium und opus alienum differenziert werden kann und differenziert werden muss. An nicht wenigen Texten des Alten Testaments und namentlich der Psalmen ist der Erweis zu erbringen, dass „das Schicksal der Guten ausdrücklich auf ein rettendes Handeln Gottes zurückgeführt (wird), während das Schicksal der Schlechten stets mit passiven oder unpersönlichen Wendungen beschrieben wird, ohne daß sich diese Verteilung der genera verbi ... bzw. unpersönlichen Formulierungen als Stilmittel erklären ließe“ (Sticher, 8; bei St. kursiv). Diese Beobachtung nötigt zur Revision undifferenzierter Bestimmungen dessen, was in Bezug auf das Alte Testament der Tun-Ergehens-Zusammenhang genannt zu werden pflegt. Auch gibt sie Anlass zu begründeten Zweifeln, ob Vergeltung ohne weiteres zum beherrschenden Prinzip jüdischer Religion erklärt werden kann. Zwar bringt das alttestamentliche Zeugnis, wie mehrfach erwähnt, häufig ein Korrespondenzverhältnis zwischen Toragehorsam und Wohlergehen bzw. zwischen Gesetzesverachtung und Übel in Anschlag. Aber dies darf zum einen nicht in dem Sinne missverstanden werden, als sei der Zusammenhang von Tun und Erge-

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hen gleichsam naturgesetzlich geregelt und heil- bzw. unheilvolles Ergehen eine naturnotwendig-zwangsläufige Folge guter bzw. böser Tat. Die unter alttestamentlichen Exegeten verbreitete Redewendung von schicksalswirkenden Tatsphären ist daher mit Vorsicht zu genießen; sie kann keine generelle, sondern nur für die Anfangsphasen der Religionsgeschichte Israels Geltung beanspruchen. Zu vermeiden ist zum anderen aber auch das Missverständnis, als vergelte Gott einfachhin nach Maßgabe des Talions und teile dem Bösen Böses just so und auf analoge Weise zu, wie er dem Guten Gutes zuteilt. Eine solche Vorstellung wird alttestamentlichen Zentralbefunden nicht nur nicht gerecht, sondern verkennt sie. Ihnen gemäß ist der Zusammenhang von Tun und Ergehen weder ein Automatismus naturhafter Zwangsläufigkeit noch von Gott nach Maßgabe der fixen Regel geordnet, dass Gleiches mit Gleichem zu vergelten sei. Im äußeren Recht hat diese Regel zwar ihre beschränkte Gültigkeit; doch weist das göttliche Recht, wie es das Innerste der Religion bestimmt, über diese Regel zugleich hinaus, indem es der rettenden Gerechtigkeit einen kategorial anderen Stellenwert zuerkennt als der richtenden. Das theologische Verhältnis, das zwischen Untat und Übel herrscht, ist keineswegs gleichsinnig, sondern unvergleichlich anders wie dasjenige zwischen guter Tat und Wohlergehen. Die Asymmetrie beider Verhältnisse aber ist wesentlich darin begründet, dass sich Gott zum Bösen als dem ihm Widerlichen ganz anders verhält als zum Guten, das er an sich selbst ist und das er von Ewigkeit zu Ewigkeit wirkt. Gottes Gerechtigkeit, wie das Alte Testament und der Psalter in ihm sie bezeugen, kann nur mit Vorbehalt ausgleichend genannt werden, weil der Begriff ausgleichender göttlicher Gerechtigkeit die Assoziation nahe legt, wonach Gott jedem lediglich das Seine, also dasjenige zuteilt, was ihm ohnehin zu eigen ist: dem Guten das Gute und dem Bösen das Böse. Das Geschick des Guten wäre sonach demjenigen des Bösen direkt vergleichbar, obzwar nicht nach Maßgabe natürlichen Schicksals, wohl aber gemäß der Kriteriologie eines symmetrisch proportionierten Lohn-Strafe-Modells. Dem steht entgegen, dass nach Zeugnis einer Reihe von Psalmen und anderer alttestamentlicher Textstücke die heilsame Errettung des Guten durch Gott nicht etwa mit aktiver göttlicher Bestrafung des Bösen, sondern mit dessen Selbstzerstörung parallelisiert wird. Diese Asymmetrie will bedacht sein, wenn ein angemessenes Verständnis des sog. Tun-Ergehen-Zusammenhangs im Sinne des Alten Testaments ermöglicht werden soll. Dass Gott gerecht ist und gemäß seiner in der Tora erschlossenen Gerechtigkeit handelt, ist nicht nur eine, sondern die für das Alte Testament zentral bestimmende Gewissheit. Diese Gewissheit steht und fällt nicht mit der Annahme einer empirisch nachweisbaren Proportionalität von Frömmigkeit und Lohn bzw. Gottlosigkeit und Strafe im irdischen Menschenleben. Sie hatte, wenngleich unter schweren Anfechtungen, Bestand auch unter der Bedingungen erfolgten Verlustes der Evidenz dieser Annahme. Das psalmistische Lob der Tora weist über das Ausgleichsgesetz distributiver Gerechtigkeit hinaus, um sich im Preis der reinen Güte Gottes zu vollenden, die sich die Klage der Armen und Elenden gefallen lässt. Theodizeefragen sind damit nicht erledigt, aber in einen neuen Verständnishorizont eingestellt.

7. Von Antiochus IV. Epiphanes zu Titus: jüdische Geschichte im Horizont endzeitlicher Apokalyptik

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Die Texte, die man bezüglich des Alten, aber auch des Neuen Testaments unter den Begriff der Weisheit subsumiert, zeichnen sich durch eine Reihe signifikanter formaler Merkmale aus. Typisch ist die Gattung der Sinnsprüche und Sentenzen (Maschal), die mit Rätseln, Fabeln, Vergleichen, Metaphern und ausgebauten Parabeln verbunden sein kann. Auch für die in weisheitlicher Literatur dokumentierte Geistesbewegung, die neben Israel auch in Ägypten und Mesopotamien und ferner im Iran, in Indien, China und anderwärts begegnet, lassen sich spezifische Kennzeichen typologisch Die Gattungen der Weisheit und die apokalyptische Krisenliteratur

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bestimmen. Zwar ist, wie nicht nur Ps 1 zeigt, die Beziehung der Weisheit zur religiösen Überlieferung vielfach eng und der Gegensatz von weise und töricht häufig sowohl mit dem Dual von gerecht und ungerecht, als auch mit demjenigen von fromm und frevlerisch oder gottgefällig und gottwidrig verbunden. Nicht selten wird der Weisheit infolgedessen eine gottnahe Stellung zuerkannt, bis hin zu ihrer Hypostasierung als personifizierte göttliche Eigenschaft oder als eigenständige Person innerhalb des göttlichen Wesens. Doch kann sie gelegentlich auch religionskritische Züge annehmen, indem sie Erfahrungswerte und rationales Denken gegen traditionelle Religionsautorität in Stellung bringt, um so philosophischer Emanzipation und anfänglicher Ausbildung von Wissenschaftlichkeit zu dienen. Im Zuge dieser Entwicklung können die alten weisheitlichen Sinnspruchsammlungen zu umfänglichen Literaturwerken lehrhaften Zuschnitts und thematisch konzentrierter Art ausgebaut werden. Zur Weisheitsliteratur der hebräischen Bibel werden in der Regel die Bücher Proverbien, Kohelet und Hiob sowie einige Psalmen (1; 37; 39; 49; 73; 119) gerechnet. Als weisheitlich geprägt gelten ferner die Josephsnovelle (Gen 37.39–50), die Bücher Ruth, Jona und Esther sowie einzelne Textpassagen etwa bei Amos und Jesaja oder im Deuteronomium. Formal zeichnet sich innerhalb der alttestamentlichen Weisheit eine Entwicklung von der kurzen Einzelsentenz zum umfangreichen Lehrtraktat ab. Was die Inhalte betrifft, so ist für die Weisheit Israels, welche der hebräische Treminus håkmah benennt, die bis zur Identifizierung und Austauschbarkeit der Begriffe reichende Verbindung mit der Gerechtigkeit charakteristisch, wie die Tora sie zu erkennen gibt und gebietet. Gerechtigkeit ist der Inbegriff der Weisheit und die Summe allen weisen Denkens und Handelns, wobei der gerechte Zusammenhang von Tun und Ergehen als durch die Weisheit Gottes selbst geordnet und durch Erfahrung und Traditionswissen als im Wesentlichen bestätigt gilt. Erst die spätnachexilische Weisheit sah sich, wie gezeigt, herausgefordert, den von der Überlieferung generell und als selbstverständlich vorausgesetzten Konnex von Tun und Ergehen eigens zu begründen und gegen skeptische Bestreitungen zu verteidigen. Da die Zweifel aus den eigenen Reihen kamen, kann man die benannte Entwicklung auch als den Versuch der Weisheit beschreiben, ihre eigene Krise konstruktiv zu bewältigen. Kohelet und das Hiobbuch dokumentieren je auf ihre Weise exemplarisch die Problemlage, die fernerhin für die sog. apokryphe Weisheitsliteratur kennzeichnend ist, wie sich am Beispiel von Jesus Sirach und am Buch der Weisheit Salomos ersehen ließ. Während Ben Sira auf einen palästinischen Verfasser verweist, sind das Buch der Weisheit Salomos und sonstige Dokumente jüdischer Weisheitsliteratur außerhalb der hebräischen Bibel im griechischen Judentum der hellenistischen Diaspora entstanden, wo sich der Einfluss antiker Philosophie platonischer und vor allem stoischer Provenienz geltend machen konnte. Die Schriftfunde vom Toten Meer, die u.a. traditionelle und qumranspezifische Weisheitsliteratur umfassen, haben gezeigt, dass die Tradition hebräischer Weisheit in der Zeit nach Ben Sira intensiv weitergepflegt wurde bis zu

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Mischnatraktaten der rabbinischen Literatur und weit darüber hinaus. Die enge Verbindung von Tora und Weisheit bleibt erhalten und wird durch die Erwartung eines Jüngsten Gerichts verstärkt, auf welches sich jederzeit einzurichten weise ist, wohingegen der Tor in seiner Narrheit die Differenz von gut und böse durch den Tod vergleichgültigt und erledigt glaubt. In der Gewissheit, dass die Gerechtigkeit Gottes sich trotz Tod und irdischer Leiden der Frommen zuletzt durchsetzen wird, kommt die jüdische Weisheit mit der Apokalyptik überein, mit der sie in vieler Hinsicht verbunden ist, ohne dass sich die Art und Weise dieser Verbindung in jedem Fall präzise nachweisen ließe. Auf den ersten Blick erscheint die Gattungsdifferenz zwischen weisheitlichem und apokalyptischem Schrifttum unüberbrückbar zu sein. Das Zentrum der Apokalypsen bilden häufig visionäre Schauungen fantastischer Geschehnisse und Gehalte, die empirietranszendenten Gefilden entstammen und mit irdischer Erfahrung, für die sie unzugänglich sind, wenig zu tun zu haben scheinen. Von Engeln und Dämonen flankierte Himmels- und Höllenreisen sind zu bewältigen, damit das rätselhafte Geheimnis, das seit Anbeginn der Tage gehütet wird, sich lüfte, entberge und zu verstehen gebe, wozu es nicht selten eines „angelus interpres“ bedarf. Pseudonymität dient nicht nur dem Zweck, sich der Autorität bewährter Gottesmänner der Vergangenheit anzuvertrauen, sie verfolgt zugleich die Absicht, den Verfasser mit der Aura des Geheimnisvollen zu umgeben, um ihn als Offenbarungsmedium just jener Botschaft einzuführen, die den Gehalt seiner Texte ausmacht. Mit Weisheit scheinen diese Formkennzeichen kaum etwas gemein zu haben. Auch die inhaltlichen Leitideen und Motivkomplexe der Apokalypsen, in denen sich die geistig religiöse Strömung der sog. Apokalyptik dokumentiert, erinnern nur bedingt an weisheitliche Themen: Suprarational und transhistorisch begründete Sukzessionsreihen von ins Kosmische ausgreifenden Weltherrschaften, zahlenspekulativ aufbereitete Periodenlehren und dämonisch-satanische Einbrüche des Bösen prägen die apokalyptische Geschichtsschau, deren Eschatologie in eine ganz andere Richtung zu weisen scheint als diejenige, die sich aus der weisheitlichen Tradition herausgebildet hat. An einer ins Detail gehenden Enthüllung künftiger Ereignisse, wie sie beim nahen Ende der Weltzeit eintreten werden, scheint die Weisheit ihrem Wesen nach nur höchst bedingt interessiert zu sein. Auch ansonsten unterscheiden sich die apokalyptischen Geschichtssummarien erheblich von den Konzeptionen, mittels derer in Israel traditionellerweise vergangener Geschehnisse gedacht wurde. Zwar ist die Gewissheit, dass Gott den Gang der Geschichte souverän lenkt und planmäßig führt, allen Glaubenszeugnissen Israels gemeinsam. Aber ein neues Verhältnis des erwählten Volkes zu seinem Gott aus der Geschichte heraus zu begründen, sieht sich die Apokalyptik nicht mehr in der Lage, „denn das eigentliche Heilsgeschehen hat sich an die Ränder der Geschichte hinausverlagert, in die uranfängliche Erwählung und Determination und in den Anbruch des Heils am Ende“ (v. Rad, 349). Von Rad meinte diesbezüglich „von einer eigentümlichen theologischen, genauer gesagt: soteriologischen Entleerung der Geschichte“ (v. Rad, 350) reden zu müssen.

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Richtig ist, dass sich Geschichte in apokalyptischer Schau wesentlich als Unheilsgeschichte darstellt. Auch erwächst das Bemühen, alle Ereignisse des jetzigen Äons als von Gott vorherbestimmt und vorhergewusst zu erweisen, weniger dem Interesse an geschichtsimmanenter Ordnung als dem Bedürfnis, das Vertrauen zu stärken, Gott werde der ganzen Geschichte zum Heil und Trost der Frommen sowie zum Zwecke des Gerichts über die Sünder ein baldiges Ende bereiten. „Es soll die Gewißheit befestigt werden, daß Gott die Macht hat, die Geschichte aus ihrer vorletzten Stunde (in der sich die Apokalyptiker zu befinden glauben) in ihre letzte hinüberzuführen.“ (v. Rad, 354) Im Zuge dessen wird das Geschichtsdenken konsequent eschatologisiert und von Erinnerung auf Erwartung umgestellt. Der bisherige Geschichtsverlauf wird allein deshalb zum Stoff weisheitlichen Wissens, weil man sich von seinem Gedächtnis nichts mehr bzw. nur noch die rechte Bestimmung der von Gott determinierten Stunde erhofft, in der die Geschichte zu ihrem Ende gelangt und ein neuer, ganz anderer Äon beginnt. Die konsequente Interpretation der natürlich und geschichtlich gegebenen Wirklichkeit auf die radikale Neuheit des Eschatons hin scheint der weisheitlichen Suche nach verlässlichen und einsichtigen Regeln, die sich aus wiederholter Erfahrung ergeben und dazu verhelfen, „in den Realitäten des Lebens sachverständig zu werden“ (v. Rad, 394), konträr und völlig zuwider zu sein. Gleichwohl lassen sich Motive insbesondere eschatologischer Art namhaft machen, die beiden Bewegungen gemeinsam sind, wobei es vor allem die spätere Weisheit ist, die apokalyptische Anliegen integriert, um so Vorstellungen von Auferstehung und Unsterblichkeit, Weltgericht und neuem Äon in den Dienst weisheitlicher Ziele zu stellen. Worin gründet diese Affinität? Die Antwort muss lauten: Im gemeinsamen Bewusstsein eines Problems, das im spätnachexilischen Judentum zur Aporie frommer Gewissheit zu werden drohte und daher nicht ignoriert, sondern in gespannter Aufmerksamkeit wahrgenommen und behandelt werden musste. Sowohl die eschatologisch orientierte Weisheitsliteratur als auch die jüdische Apokalyptik suchen je auf ihre Weise die Theodizeefrage theologisch zu bewältigen. Ihre Verbindung ist keineswegs bloß äußerlicher Natur, sondern „beruht darauf, daß die Apokalyptik auf geschichtlich-kosmischer Ebene ein Problem behandelt, das auf dem Niveau des individuellen Erlebens eine Zentralfrage der späteren Weisheit ist: die Frage nach der Bedeutung der zeitweiligen Gefährdung und Gottverlassenheit des Frommen, d.h. der vorübergehenden Außerkraftsetzung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs.“ (Müller, 198) Die hebräische Bibel mit der Tora als ihrer sachlichen Mitte ist das konstruktive Ergebnis der Exilskrise. Um konstruktive Krisenliteratur handelt es sich ebenso bei den jüngeren Texten jüdischer Weisheit und den apokalyptischen Schriften, gleich ob diese nun als kanonisch, apokryph oder pseudepigraphisch einzustufen sind. Ihr sachliches Verhältnis zu den Zentralbeständen des Alten Testaments ist weniger durch Qualifikationen dieser Art als dadurch bestimmt, dass sie je auf ihre Weise auf eine Krise des alttestamentlichen Zentralgedankens eines durch die Gerechtigkeit Gottes und seiner Tora fest gefügten und verlässlich geordneten Zusammen-

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hangs von Tun und Ergehen reagieren. Beantwortete die hebräische Bibel die Identitätskrise der Exilskatastrophe mit der Weisung der Tora und der Botschaft von der Gerechtigkeit des die Sünde strafenden und den Gebotsgehorsam belohnenden Gottes, die ihr inneres Zentrum bildet, so reagierte die weisheitliche und apokalyptische Literatur des spätnachexilischen Judentums am Rande oder jenseits der Grenzen des hebräischen Kanons auf das als nicht minder katastrophal empfundene Problem, dass sich der Grundsatz distributiver göttlicher Gerechtigkeit erfahrungsgemäß nicht oder nur höchst eingeschränkt bewährt. Richtete sich in der späten Weisheit eines Kohelet oder Hiob das Interesse primär, wenn auch nicht ausschließlich, auf individuelle Erfahrung, so ist die apokalyptische Literatur, ohne die individuelle Komponente auszublenden, vornehmlich am kollektiven Gesichtspunkt des bis in menschheitsgeschichtliche und kosmische Dimensionen ausgreifenden Volksschicksals orientiert. Der Beweggrund, der sie veranlasst und ihre Motivik bestimmt, ist daher insbesondere in katastrophalen Geschichtsereignissen zu suchen. Darin sind die jüdischen Apokalypsen, die vom 3. Jahrhundert v.Chr. bis in die Mitte des 3. Jahrhunderts n.Chr. zahlreich erscheinen, bei allen sonstigen Unterschieden mit den Texten vergleichbar, die das Exilsgeschick Israels deuten und den Zentralbestand der alttestamentlichen Texte ausmachen. An einer bedeutenden apokalyptischen Rezeptionsgestalt der Esraüberlieferung mag dies exemplarisch verdeutlicht werden. Charakteristisch ist die eschatologische Transformation der Traditionsbestände. Sie verweist zugleich auf die Differenz der Apokalyptik zur alttestamentlichen Prophetie. Während diese die bevorstehende Zukunft in Kritik und Affirmation Israels als einen innergeschichtlichen Vorgang angekündigt hat, sagt die apokalyptische Literatur das nahe Weltende an, mit dessen Eintritt sich das Geschick des Volkes und seiner Glieder mitsamt der Menschheit eschatologisch entscheidet, wobei Israel göttliches Heil häufig nicht mehr als Gesamtgröße, sondern nur mehr in Gestalt eines Restes aufrechter Frommer zu erwarten hat. Person, Amt und Handeln des historischen Esra Die Apokalypse des vierten sind, wie erwähnt, nur schwer zu fassen; der mittBuches Esra und die Daniellere Teil des nach ihm benannten kanonischen apokalypse Buches, der von seiner Wirksamkeit in Jerusalem nach der Rückkehr der Exulanten und dem Wiederaufbau des Tempels handelt (Esr 7–10; vgl. ferner bes. Neh 8), gibt nicht nur unter Datierungsgesichtspunkten schwierige exegetische Probleme auf. Dies ändert indes nichts an Esras überragender Bedeutung in der jüdischen Tradition. In welcher Funktion der persische Bevollmächtigte (Esr 7,12ff ), Priester (Esr 7,11f.21; 10,10.16; Neh 8,2.9), Schreiber und Schriftkundige (Esr 7,6.11f.21; Neh 8,1.9.13) auch immer tätig und wie es um das ihm zugeordnete „Gesetz des Gottes des Himmels“ (Esr 7,12.21; vgl. 7,14b) im Einzelnen bestellt gewesen sein mag: seine Wirkungsgeschichte ist vom Bild des exemplarischen Gesetzeslehrers und Vorbeters der Gemeinde bestimmt, das die Überlieferung von ihm zeichnet. In ihr ist Esra zu einer Art von zweitem Mose geworden. Diese Tendenz zeichnet sich bereits im kanonischen Esrabuch ab,

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um im apokryphen Geschichtswerk des 3. Esrabuches, das Flavius Josephus im Buch X und XI seiner Antiquitates als Quelle dient, sowie in der sonstigen nachbiblischen Esratradition bis in die Zeit des frühen Christentums hinein verstärkt zu werden. Die wirkungsgeschichtliche Bedeutung der Esragestalt belegt auf ihre Weise auch die Apokalpyse in den Kapiteln 3–14 des pseudepigraphischen 4. Buches Esra. Sie ist das Werk eines Mannes, der die Zerstörung des Tempels und die Verwüstung Jerusalems durch Titus im Jahre 70 n.Chr. vor Augen hat und die damalige Katastrophe des jüdischen Volkes mit der vormaligen Not der Ereignisse des Jahres 587 v.Chr. und des babylonischen Exils vergleicht. Zu diesem Zweck begibt er sich in die Rolle des berühmten Gesetzeslehrers und „Schreibers der Wissenschaft des Höchsten“ (4. Esr 14,49), der am Schluss des Buches, nachdem er sieben Gesichte mit entsprechender Deutung empfangen und sein Amt als zweiter Mose und Weiser des Volkes vollendet hat, in Gottes Ewigkeit entrückt wird: „Im dreißigsten Jahre nach dem Untergange der Stadt verweilte ich Salathiel (der auch Esra heißt) in Babel, und als ich einmal auf dem Bette lag, geriet ich in Bestürzung, und meine Gedanken gingen mir zu Herzen, weil ich Zion verwüstet, Babels Bewohner aber im Überfluss sah. Da ward mein Gemüt heftig erregt, und in meiner Angst begann ich, zum Höchsten zu reden.“ (4. Esr 3,1b–3) Warum hat Gott, der Adam im Anfang als sein Gebilde erschuf und mit seinem lebendigen Geist erfüllte, den Fall und das beständige Anwachsen der Sünde nicht gehindert und dem Elend der Welt freien Lauf gelassen? Die göttliche Antwort lautet, dass der beschränkte Verstand des sterblichen Menschen in einem vergänglichen Äon die Wege des Herrn nicht zu erkennen vermöge. Ihr unter irdischen Bedingungen unerforschlicher Sinn wird erst offenbar werden, wenn ein neuer Äon beginnt und der alte zu Ende kommt, was nach den Zeichen der Zeit, die allesamt auf Untergang deuten, bald schon der Fall sein wird, wenn sich die Zahl der in Trauer und äußerstem Ungemach lebenden Frommen erfüllt hat. Auch die zweite Vision hebt an mit dem quäAntiochus IV. Epiphanes und lenden, nach menschlichem Ermessen unlösba- die Makkabäerbewegung ren Problem, warum Gott sein auserwähltes Volk den gottlosen Heiden preisgegeben hat, die ihre Tage trotz unermesslicher Laster im Glück zubringen, wohingegen die Frommen darben und darniederliegen. Erneut wird dem Seher die Einsicht zuteil, dass Gott die Seinen noch immer und zwar über alles Maß und selbst über die Grenze des Todes hinaus liebt, was er nach Scheidung der Äonen am eschatologischen Ende der altgewordenen Welt vollmächtig unter Beweis stellen wird: „Dann ist das Böse vertilgt, / und der Trug vernichtet; / der Glaube in Blüte, / das Verderbnis überwunden, / und die Wahrheit wird offenbar, die so lange Zeit ohne Frucht geblieben ist.“ (4. Esr 6,27f.) Dass die arge Welt der Bosheit und des Vergehens nur der notwendige Durchgang für die kommende gute ist, bestätigt sich dem spätgeborenen Esra trotz der erneuten Verwüstung Jerusalems, der Zerstörung des herodianischen Tempels, der Aufhebung des Gottesdienstes und der Zerstreuung des Volkes zum Troste der Frommen auch

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fernerhin: Gottes eschatologisches Gericht wird am baldigen Weltende definitiv zwischen Sündern und Gerechten scheiden, jene ihrem zwar traurigen, aber wohlverdienten Schicksal zuführen, das sie sich selbst bereitet haben, für diese aber die ewige Seligkeit bereiten, um sie zu vollenden in seinem Reich. Die Apokalypse des vierten Buches Esra, dessen weitere Visionen bis hin zur Restitution der Hl. Schriften im siebten Gesicht hier ebenso wenig zu analysieren sind wie einzelne Details seiner eschatologischen Schau, ist motiviert und durchgehend bestimmt von der katastrophalen Krise, welche das Jahr 70 n.Chr. für die Judenheit darstellte. Auch die syrische Baruchapokalypse, die ihre Botschaft auf den Schreiber und Gefährten des Propheten Jeremia Baruch ben Neria (vgl. Jer 32,12ff.; 36; 43; 45) zurückführt, diente als Trostbuch für die fromme Judenheit nach der zweiten Zerstörung Jerusalems und des Tempels. Das hebräische Original, auf dessen griechischer Übersetzung syrBar basiert, weist mannigfache Parallelen zu 4. Esr auf und dürfte ebenfalls am Ende des 1. Jahrhunderts n.Chr. verfasst worden sein. Ins zweite vorchristliche Jahrhundert hingegen gehört das apokalyptische Buch Daniel, das an eine fiktive, aber als historisch gezeichnete Figur gleichen Namens anknüpft, die nach der Zerstörung des ersten Tempels nach Babylon deportiert wurde. Doch sind es nicht die Geschehnisse des Jahres nach 587 v.Chr., welche den historischen Sitz im Leben der Schrift bilden. Im Hintergrund stehen, wie sich aus Dan 11,30–34 erschließen lässt, die Maßnahmen von Antiochus IV. Epiphanes, die von den Frommen Israels als ähnlich katastrophal empfunden wurden wie einst die Zerstörung des ersten und knapp vierundzwanzig Dezennien später diejenige des herodianischen Tempels. Man muss freilich hinzufügen, dass die Hellenisierungspolitik des Seleukidenherrschers keineswegs in allen jüdischen Kreisen Missfallen erregte oder gar offenen Widerstand hervorrief. Das Gegenteil ist der Fall. Die Jerusalemer Elite und die gehobenen Stände Judäas billigten und begrüßten die hellenistische Assimilation, ja betrieben sie nicht zum geringsten Teil selbst. Man wird daher annehmen müssen, dass die makkabäische Revolte sich im Grunde „mehr gegen die herrschenden Schichten (sc. des eigenen Volkes) als gegen die Zentralregierung“ (Rostovtzeff II, 556) richtete, wie denn auch die Religionsverfolgung unter Antiochus IV. Epiphanes nicht nur und nicht einmal primär von diesem, sondern von der jüdischen Partei der Hellenisten und Loyalisten initiiert worden sein dürfte. „Die makkabäische Bewegung war vor allem ein Bürgerkrieg, ein Religionskrieg zwischen Orthodoxen und Reformisten.“ (Bickermann, 137) Die seleukidische Regierung beabsichtigte ihrerseits keine generelle Judenverfolgung, sondern lediglich eine „Züchtigung der ungehorsamen Untertanen, welche sich den Verordnungen des Monarchen und des von ihm eingesetzten Hohepriesters widersetzten“ (Bickermann, 123). Antiochus IV. Epiphanes regierte elf Jahre von 175 v.Chr. bis zum seinem Tod während eines Feldzugs gegen die Parther 164 v.Chr. Seinem Vater Antiochus dem Großen war es gelungen, Palästina den Ptolemäern dauerhaft zu entreißen und seleukidischer Herrschaft zu unterstellen. War die freie Religionsausübung der

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Juden unter persischer, ptolemäischer, aber auch unter der bisherigen seleukidischen Herrschaft im Wesentlichen unbehelligt geblieben, so kam es Antiochus IV. entscheidend darauf an, die hellenistischen Kräfte zu stärken, die namentlich in den führenden Schichten der Judenheit bereits in hohem Maße wirksam waren. Er suchte aus diesem Grund und in dem Bestreben, von manifesten Schwächen seiner eigenen Herrschaft abzulenken, den gewaltsamen Konflikt mit der Jerusalemer Kultgemeinde. Äußeren Anlass boten ihm Streitigkeiten vornehmer Judäer über den Machtvorrang und die Besetzung des hohenpriesterlichen Amtes. Antiochus greift in den Streit ein, besetzt das Hohepriesteramt mit einem Kandidaten seiner Wahl und lässt, als sich Widerspruch regt und eine Opposition formiert, seine Truppen ins Land einmaschieren, Jerusalem stürmen und nach erfolgter Einnahme plündern. Der Tempel wird beraubt, das tägliche Opfer bis auf weiteres unmöglich gemacht, fremde Bevölkerung angesiedelt, eine Burg, die Akra, gebaut und mit Besatzungstruppen belegt. Doch damit nicht genug; der Despot lässt es nicht bei Besatzung der Stadt und Beraubung des Tempels bewenden: „im Taumel seiner Leidenschaft“, wie es im ersten Kapitel des ersten Buches der Geschichte des jüdischen Krieges von Flavius Josephus heißt, „zwang er die Judäer, im Widerspruch mit den heimischen Gesetzen ihre Kinder unbeschnitten zu lassen und Schweine auf dem Altar zu opfern“ (Bell. Jud. I/1,2). Die feindseligen Maßnahmen von Antiochus waren ersichtlich darauf ausgerichtet, die Jerusalemer Kultgemeinde religiös auszuschalten und das herkömmliche Opfer durch den Fremdkult des olympischen Zeus zu ersetzen (vgl. 2. Makk 6,2). Jerusalem und Juda sollten radikal hellenisiert werden. Der Tag, an dem der Tempelschänder den „unheilvollen Greuel“ (1. Makk 1,54; Dan 11,31) aufrichtete, markiert eine der schlimmsten Krisen und Katastrophenerfahrungen der nachexilischen Judenheit bis zur Zerstörung des herodianischen Tempels durch die Römer. Drei Jahre und sechs Monate hatte Antiochus IV. Epiphanes Jerusalem, den Tempel und das judäische Umland in seiner Gewalt. Dann wurde er von den Hasmonäern vertrieben. Das Fanal für den Makkabäeraufstand 167 v.Chr. setzte Mattatias, der Sohn des Hasmon, ein Priester aus dem Dorfe Modein östlich von Lydda. Er bewaffnete sich, seine fünf Söhne und sonstigen Anhang und verweigerte die Darbringung des königlich angeordneten Fremdopfers. Den Vollzugsbeamten des Königs brachte er zusammen mit einem opferwilligen Juden kurzerhand um. Dann riss er den Götzenaltar nieder: „der leidenschaftliche Eifer für das Gesetz hatte ihn gepackt“ (1. Makk 2,26). Schließlich ging Mattatias durch sein Dorf und rief mit lauter Stimme: „Wer sich für das Gesetz ereifert und zum Bund steht, der soll mir folgen.“ (1. Makk 2,27) Der Aufstand hatte begonnen. Gesetzestreue Chassidim schlossen sich der von Mattatias initiierten Bewegung an, die nach seinem baldigen Tod von seinem Sohn Judas fortgeführt wurde. Sein Beiname, der ihn als Hammer, will heißen: als schlagfertigen und schlagkräftigen Krieger Gottes kennzeichnet, wurde zum Sammelbegriff der Makkabäer. Judas glich, wie in 1. Makk 3,4–6 gesagt wird, „im Kampf einem Löwen, einem jungen Löwen, der sich brüllend auf die Beute stürzt. Er verfolgte die Sünder und spürte

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sie auf; er vertilgte alle, die sein Volk verwirrten. Aus Furcht vor ihm verloren die Sünder den Mut, alle Übeltäter vergingen vor Angst. Seiner Hand gelang die Befreiung.“ Nach siegreichen Gefechten nimmt Judas mit Ausnahme der Akra Jerusalem ein. Am 25. des Monats Kislew im Jahre 148 der seleukidischen Ära (vgl. 1. Makk 4,52), also im Dezember 165 v.Chr., fast genau drei Jahre nach der Entweihung durch Fremdopfer wird der Jerusalemer Tempel unter großen Festlichkeiten neu eingeweiht. Just in diese Zeit zwischen dem Ausbruch des Makkabäeraufstands 167 v.Chr. und der Wiedereinweihung des Tempels durch Judas Makkabäus Ende 165 v.Chr. ist das Danielbuch in seiner vorliegenden Gestalt zu datieren. Nach Wiederherstellung des Jerusalemer Heiligtums und der Torarestauration durch Judas war der erste erfolgreiche Schritt im Kampf des gesetzestreuen Israel mit der gegnerischen Macht getan, keineswegs aber das glückliche Ende des Konflikts mit der seleukidischen Oberherrschaft erreicht. Unabhängig wurde die Provinz Juda erst nach weiteren langen und schweren Kämpfen mit dem Jahr 128 v.Chr. und der Entstehung des hasmonäischen Königtums. Zwar verhalf der unerwartete Tod des Erzfeindes Antiochus IV. Epiphanes im Frühjahr 164 v.Chr. dem makkabäischen Siegeswillen zu weiterem Aufschwung. Doch formierte sich unter Antiochus V. bald schon die Gegenseite, um die Erhebung niederzuwerfen. Judas und die Seinen gerieten in äußerste Bedrängnis. Indes zogen sich die Gegner wegen Thronzwistigkeiten im eigenen Hause zurück und sicherten der Jerusalemer Kultgemeinde für den Fall ihrer Botmäßigkeit freie Ausübung ihres Gottesdienstes zu. Damit war das Problem nach außen hin einstweilen beseitigt, aber dafür umso mehr ins Innere verlagert. Die Frommen gaben sich mit der Wiederherstellung des status quo zufrieden, wie er vor dem gewaltsamen Eingreifen des Antiochus IV. bestand, weil ihre Interessen wenn nicht ausschließlich, so doch primär religiöser Natur waren. Sie hielten das Ziel des makkabäischen Aufstands für erreicht. Anders urteilten Judas und seine Getreuen, die neben religiösen dezidiert politische Absichten verfolgten. Sie misstrauten dem Frieden. Damit trat eine folgenreiche Spaltung der makkabäischen Bewegung ein, die von den Differenzen hellenismusfreundlicher und griechenfeindlicher Kräfte im Volk vielfach überlagert wurde. In den Konflikten zwischen Pharisäern und Sadduzäern, auf die noch eigens einzugehen sein wird, wirken diese Differenzen bis in die jesuanische Zeit und darüber hinaus fort. Spätestens als Judas Makkabäus im Frühjahr 161 v.Chr. in aussichtslosem Kampf gegen eine feindliche Übermacht gefallen war, musste seinen politisch ambitionierten Anhängern klar geworden sein, dass die seleukidische Herrschaft durch Gewalt allein nicht beseitigt werden konnte. Jonathan, der Bruder und Nachfolger des Judas, beschritt daher einen anderen Weg, ohne von den politischen Zielen der Makkabäer abzulassen. Er suchte weniger die direkte Auseinandersetzung, sondern war bemüht, Internprobleme des seleukidischen Reichs diplomatisch zur Stärkung der jüdischen Macht zu nutzen. Dies tat er nicht ohne Geschick und Erfolg. Als Parteigänger wechselnder seleukidischer Thronprätendenten befestigte und vermehrte er die makkabäische Macht. Mit seiner Ernen-

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nung zum Hohepriester war die Regierungsgewalt in hasmonäischer Hand, die Hellenistenpartei weitgehend ausgeschaltet. Nach der Ermordung Jonathans im Jahre 143 v.Chr. konnte sein Bruder Simon an die erzielten Erfolge anknüpfen, die Wiederherstellung des jüdischen Staates vollenden und seinen Machtbereich abrunden. Seine Regierungszeit wird im ersten Makkabäerbuch als Periode des Friedens und der Gerechtigkeit gerühmt: „Das Land Judäa hatte Ruhe, solange Simon lebte. Er sorgte für das Wohl seines Volkes. Sie freuten sich jeden Tag über seine Macht und seinen Ruhm.“ (1. Makk 14,4) In die jüdische Geschichte ging er als der vom eigenen Volk legitimierte Begründer der hohepriesterlichen und fürstlichen Dynastie der Hasmonäer ein. Unter Simons Sohn Johannes Hyrkanos I., der von 135–104 v.Chr. regierte, gelang die vollständige Befreiung von seleukidischer Oberhoheit. Der jüdische Staat wurde beträchtlich erweitert und von den Römern in seiner Unabhängigkeit anerkannt. Damit war ein Höhepunkt hasmonäischer Macht erreicht und Hyrkans ältester Sohn, Aristobulos, der sich anstelle seiner dafür vorgesehenen Mutter, die er im Gefängnis verhungern ließ, nach dem Tod seines Vaters der Herrschaft bemächtigt hatte, nahm 104 v.Chr. folgerichtig den Königstitel an. Aristobuls I. Bruder Alexander Jannai konnte Das hasmonäische Königin den 27 Jahren seiner Regierung (103–76 tum und die Herrschaft der v.Chr.) zwar einerseits an die Erfolge seiner Vor- Römer gänger anknüpfen und die Grenzen des jüdischen Staates erheblich erweitern, vertiefte aber andererseits die Kluft, die sich zwischen dem hasmonäischen Königtum und den Frommen im Lande seit Johannes Hyrkanos I. aufgetan hatte. Um den Zwist im Inneren zu befrieden, suchte seine Gemahlin Salome Alexandra, die von 76 bis 67 v.Chr. die Herrschaft innehatte, die Verbindung mit pharisäischen Kreisen, was hinwiederum den Missmut der sadduzäischen Priesterschaft hervorrief. Mit dem Bruderzwist zwischen Hyrkan II. und Aristobul II., die sich nach dem Tode ihrer Mutter um die Herrschaft zankten, nahm der Verfall des hasmonäischen Königtums seinen unaufhaltsamen Verlauf. Ein Idumäer namens Antipatros, Vater des nachmaligen Königs Herodes des Großen, beschleunigte die Entwicklung, indem er Hyrkan, nachdem dieser bereits auf seine ihm von der Erbfolge her zustehende königliche und hohepriesterliche Würde verzichtet hatte, erneut gegen Aristobul in Stellung brachte, bis eine starke und überlegene Macht dem Ränkespiel ein Ende bereitete. Gnaeus Pompeius Magnus (106–48 v.Chr.) betrat die Szene. Vom römischen Volk gegen den Widerstand der Optimaten mit außerordentlichen militärischen Vollmachten ausgestattet, erschien Pompeius in Syrien, nachdem er zuvor das Mittelmeer von Seeräubern gesäubert und Mithridates und Tigranes von Armenien besiegt hatte. 63 v.Chr. zieht er vor Jerusalem auf. Die Stadt wird ihm von den Anhängern Hyrkans II. kampflos übergeben, wohingegen sich die Gefolgschaft Aristobuls II. auf dem Tempelberg verschanzt. Nach dreimonatiger Belagerung erfolgt die Erstürmung. Stadt und Land werden tributpflichtig, das jüdische Territorium stark reduziert. Das Volk der Juden hatte seine politische Freiheit erneut eingebüßt, um von nun

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an in Abhängigkeit von den Römern zu existieren. Der traditionelle Opferkult blieb immerhin erhalten. Wenige Tage nachdem er zum Kummer und Schmerz der jüdischen Frommen das Allerheiligste betreten hatte, befahl Pompeius die Wiederaufnahme des ortsüblichen Opferkults und setzte den von den Pharisäern favorisierten Hyrkan zum Hohenpriester ein. Nicht viel mehr als ein Jahrhundert nach Beginn der makkabäischen Erhebung und noch nicht vierzig Jahre, nachdem die Hasmonäer den Königstitel förmlich angenommen hatten, war die politische Freiheit des jüdischen Volkes schon wieder verloren. Palästina war fortan Teil des Imperium Romanum und stand unter der Oberaufsicht des römischen Statthalters der Provinz Syria. Die ersten Inhaber dieses Amtes, M. Aemilius Scaurus, Lentulus Marcellinus und insbesondere A. Gabinus, gestalteten die von Pompeius geschaffene territoriale Neuordnung aus und regelten die Verhältnisse der Jerusalemer Kultgemeinde, die auf ihre Zuständigkeiten in der Zeit vor dem Hasmonäerstaat reduziert wurde. Mit den pompeianischen Ordnungsmaßnahmen war dem äußeren Augenschein nach der Grund für dauerhaften öffentlichen Frieden gelegt. Doch nahmen die Auseinandersetzungen kein Ende, sondern steigerten sich weiter. Das war wesentlich bedingt durch die politische Großwetterlage, von deren Auswirkungen Syrien-Palästina naturgemäß nie ausgenommen war. Bis zur Kaiserzeit unter Octavianus Augustus, in dessen Regierungszeit (30 v.Chr. – 14 n.Chr.) Jesus geboren wurde, hat die Provinz mehr oder minder am Schicksal derer Anteil, die in der Zeit des Untergangs der römischen Republik politisch maßgeblich waren. Auf die Jahre unter dem vorwiegenden Einfluss des Pompeius (65–48 v.Chr.) folgte zunächst die Zeit Cäsars (47–44 v.Chr.). Nach seiner Ermordung am 15. März 44 v.Chr. trat für geraume Zeit (44–42 v.Chr.) mit Cassius der neben Brutus wichtigste unter den Verschwörern als bestimmende Größe in Erscheinung, bis Marcus Antonius an die Macht gelangte (41–30 v.Chr.), dessen Herrschaft wiederum Octavian in der Schlacht bei Actium und zuletzt in Ägypten ein Ende setzte. Auf diesem Hintergrund spielten sich die turbulenten Ereignisse in der syrisch-palästinischen Provinz bis zur Etablierung der Königsherrschaft Herodes des Großen und seiner Nachkommen im Jahre 37 v.Chr. ab. Die Namen, die in diesem Zusammenhang vor allem zu nennen sind, lauten Hyrkan II. (63–40 v.Chr.), unter dessen Ethnarchie im Wesentlichen Antipatros die Regierungsgeschäfte führte und seinen Söhnen Phasael und Herodes zu wachsendem Einfluss verhalf, sowie Antigonus (40–37 v.Chr.), der mit parthischer Hilfe an die Macht kam, bis Herodes, der Günstling Roms, der hasmonäischen Herrschaft ein definitives Ende bereitete und selbst, wie vom römischen Senat feierlich beschlossen, König von Judäa wurde. Antigonus endete dem Wunsch des Herodes gemäß unter dem Beil. Die Regierungszeit Herodes des Großen (37–4 v.Chr.), als unmittelbar dem princeps, nicht dem syrischen Provinzstatthalter untergeordnetem rex socius war durch den Grundsatz bestimmt, unter allen Umständen die Freundschaft der römischen Großmacht zu erhalten. Drei Herrschaftsphasen lassen sich unterscheiden: „Die erste Periode, die etwa von 37–25 reicht, ist die Periode der Befestigung

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... (Herodes) hat noch mit mancherlei feindlichen Mächten zu kämpfen, geht aber schliesslich Herodes der Große, die Herodianer und die Zerstöaus dem Kampfe mit allen siegreich hervor. Die rung des herodianischen zweite Periode von 25–13 ist die Zeit der Blüthe. Tempels Die römische Freundschaft steht auf dem Höhepunkt. ... Herodes wird wiederholt vom Kaiser empfangen. Es ist zugleich die Zeit der grossen Bauten, überhaupt der Arbeiten des Friedens. Die dritte Periode von 13–4 ist die Zeit des häuslichen Elendes. Alles andere tritt hier zurück hinter den Wirren im eigenen Hause des Herodes.“ (Schürer I, 377) In die zweite Phase fällt der an Großartigkeit kaum zu überbietende Neubau des Tempels von Jerusalem, der freilich erst wenige Jahre vor der Zerstörung unter Titus vollendet war. Doch ließ der große Baumeister, dessen Festungen bis heute legendär sind, auch heidnische Tempel in nichtjüdischen Städten errichten. Religions- und ideologiepolitisch war er dem Hellenismus gegenüber sehr aufgeschlossen, ohne die Hellenisierung des Judentums betreiben zu wollen, was angesichts der Stärke der pharisäischen Partei als nicht ratsam erschien. Die Pharisäer konnten es sich sogar erlauben, Herodes und dem römischen Kaiser aus religiösen Gründen den förmlichen Treueeid zu verweigern. Auf die Wirren nach dem Tod des Herodes, die Quintilius Varus auf den Plan riefen, sowie auf die Reichsteilung unter seinen Söhnen Philippus (4 v.–34 n.Chr.), Herodes Antipas (4 v.–39 n.Chr.) und Archelaos (4 v.–6 n.Chr.) ist hier ebenso wenig einzugehen wie auf die Regierungszeit von Herodes Agrippa I. (37, 40, 41– 44 n.Chr.), der unter seiner Königsherrschaft noch einmal fast das ganze Herrschaftsgebiet seines Großvaters Herodes vereinigte. Dieser Geschehenszusammenhang gehört in den unmittelbaren Kontext des irdischen Lebens Jesu und wird an späterer Stelle behandelt. Hingewiesen werden soll lediglich darauf, dass das Archelaos zugeteilte Gebiet, welches neben Samaria und Idumäa das eigentliche Judäa samt Jerusalem umfasste, bereits nach einem Jahrzehnt infolge gravierender Beschwerden aus der Bevölkerung auf Befehl des Augustus in unmittelbare römische Verwaltung genommen und Prokuratoren unterstellt wurde (6–41 n.Chr.). Sie hatten außer der militärischen Befehlsgewalt über Auxiliartruppen und der Finanzverwaltung die oberste Gerichtsbarkeit inne. Gleichwohl blieben weitreichende Gesetzgebungskompetenzen und Jurisdiktionsvollmachten beim Synhedrium als dem wichtigsten jüdischen Selbstverwaltungsorgan. In Bezug auf den Prozess Jesu und seine Hinrichtung unter dem Prokurator Pontius Pilatus (26–36 n.Chr.) wird darauf näher einzugehen sein. Im Unterschied zu Archelaos, der bereits 6 n.Chr. nach Gallien verbannt wurde, konnte sich Herodes Antipas, der Galiläa und Peräa regierte, sehr viel länger an der Macht halten, obwohl schießlich auch er in die Verbannung ziehen musste. In seine Regierungszeit fällt das Auftreten Johannes des Täufers in Peräa und Jesu in Galiläa. Was schließlich Herodes Agrippa I. betrifft, so ist er der Christenheit vor allem als Verfolger der Urgemeinde und der Apostel bekannt geworden. Der Zebedaide Jakobus wurde unter ihm hingerichtet.

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Nach Agrippas I. Tod war ganz Palästina direkter römischer Verwaltung durch Prokuratoren unterstellt worden. Auch unter ihnen begegnen aus dem Neuen Testament bekannte Namen wie Antonius Felix (52–60 n.Chr.), über den P. Cornelius Tacitus urteilte: „per omnem saevitiam ac libidinem ius regium servili ingenio exercuit.“ (Historiae, Lib. V,9) Die Gefangenschaft von Paulus fällt in die letzten zwei Jahre des Felix (vgl. Apg. 23f.). „Bekanntlich hatte der Apostel auch eine persönliche Begegnung mit dem römischen Procurator und seiner Gemahlin Drusilla, wobei er nicht verfehlte, den beiden von dem zu reden, was gerade für sie besonders nöthig war: ‚von der Gerechtigkeit und von der Keuschheit und vom zukünftigen Gericht‘.“ (Schürer I, 577) Zu nennen ist ferner der Felixnachfolger Porcius Festus, der den Apostel Paulus im Anschluss an mehrfache Verhöre nach Rom schaffen ließ (Apg 25,1–27,2). Statt sich bei weiteren Prokuratoren oder einer Gestalt wie dem Herodäer Agrippa II. aufzuhalten, sei sogleich konstatiert, worauf alles weitere hinausläuft: auf den großen jüdischen Krieg gegen Rom (66–73 n.Chr.), der nach Anfangserfolgen in der totalen Katastrophe endete, die durch das Massadanachspiel nur noch schlimmer und durch das Scheitern des erneuten Aufstandes unter Hadrian (132–135 n.Chr.) endgültig wurde. Die Juden waren Fremdlinge in aller Welt einschließlich des eigenen Landes geworden. In diesen katastrophalen Zeiten nach der ZerstöEndzeitlicher Trost in historung des herodianischen Tempels haben die Apokarisch trostloser Lage lypse des vierten Buches Esra und die syrische Baruchapokalypse ihren historischen Sitz im Leben. Ihr gemeinsamer Skopus ist auf die Tröstung der Frommen angesichts der desolaten geschichtlichen Lage ausgerichtet, in der Heil nur noch von der nahe bevorstehenden Zukunft des Eschatons zu erwarten ist. Die jüdische Geschichte wird in den Horizont der Endzeit gestellt. Als Dokumente eines fortgeschrittenen Stadiums der apokalyptischen Bewegung lassen 4. Esr und syrBar die Grundtendenz einer Entwicklung klar zutage treten, die mit Teilen des 1. Henochbuches ihren Anfang nimmt und mit dem Danielbuch Eingang in den hebräischen Kanon gefunden hat. Die Henochüberlieferung, die in drei Sammlungen, nämlich im äthiopischen (äthHen, 1. Hen), im slawischen und im hebräischen Henochbuch vorliegt, weist vermutlich in ihren ältesten Stoffen, wie sie im angelologischen Teil, näherhin im sog. Buch von den Wächtern in äthHen 6–36 und dessen Quellen (nach Jub 10,13; 21,10 „Buch Noahs“) tradiert sind, zeitlich hinter das Danielbuch zurück. Zentrales Thema der anfänglichen Henochliteratur, wie sie u.a. durch in Qumran gefundene Fragmente bezeugt wird, ist der Mythos vom Engelfall, auf den die Herkunft des Bösen in Gottes guter Schöpfung mitsamt aller verheerenden Konsequenzen für Menschheit und Welt zurückgeführt wird. Das Motiv begegnet im kanonischen Zusammenhang in Gen 6,1–4, wenngleich in entmythologisierter Form: die Riesen, die nach äthHen 6 aus der unzüchtigen Verbindung von Engeln mit schönen Menschentöchtern hervorgehen, um fernerhin im Verein mit ihren gefallenen Himmelsvätern schreckliches Unheil anzurichten, bis Gott ihnen Einhalt gebietet, sind nichts weiter als urzeitliche Recken (vgl.

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Gen 6,4). Wie der kurze Genesisabschnitt sich traditionsgeschichtlich zu der sehr viel umfänglicheren pseudepigraphischen Passage verhält, ist in der Forschung umstritten; nach Mehrheitsmeinung ist die Henochüberlieferung vom Fall der Engel jedenfalls älter als die Endredaktion von Gen 6,1–4. Reichen dieser Auffassung zufolge die Anfänge apokalyptischer Literatur hinter das Danielbuch zurück, das üblicherweise als ältestes Dokument und Urtyp apokalpytischen Schrifttums galt, so relativiert sich dadurch die gängige Meinung, die apokalyptische Bewegung und ihre Texte seien eine religiöse Reaktion auf die Bedrängnisse der Frommen im Vorfeld und Fortgang der makkabäischen Erhebung. Doch selbst wenn die Anfänge der Apokalyptik nicht durch konkrete Verfolgungen veranlasst gewesen sein sollten, bleibt davon die Tatsache unberührt, dass das sie bewegende Grundmotiv in einer radikalen Krise religiösen Gerechtigkeitsempfindens bestand, das durch eine eklatante Erfahrungsdiskrepanz von frommem Verhalten und tatsächlichem Wohlergehen hervorgerufen wurde. Aus dem skizzierten Sachverhalt ergeben sich mögliche Rückschlüsse auf den sozialen Trägerkreis der apokalyptischen Bewegung. Im Anschluss an Max Webers religionssoziologische Studien zum antiken Judentum hat man in der Apokalyptik gelegentlich eine geistige Revolte von Restbeständen ekstatischer Prophetie gegen „die Polizei der Priestermacht innerhalb der jüdischen Gemeinde“ (Weber, 753 [A 602; B 397]; bei W. teilweise gesperrt) zu entdecken versucht. Zwar habe sich, wie Weber sagt, sowohl der psychische Tatbestand wie die Sinndeutung gegenüber der alten Prophetie erheblich verschoben und die schriftstellerische Kunstform über das aktuelle emotionale Erleben die Oberhand gewonnen. Gleichwohl stehe die Apokalyptik für den alten Gegensatz von Prophetie und Priestertum mit dem Unterschied freilich, dass letzteres in nachexilischer Zeit auf der Basis der Tora mehr oder minder religiöse Alleinherrschaft erlangt hatte, wohingegen der das prophetische Erbe verwaltende Betrieb apokalyptischen Sehertums zu einer „Angelegenheit von Sekten und Mysteriengemeinschaften“ (ebd.) geworden war: „Der zunehmend bürgerliche Rationalismus des in die (relativ) befriedete Welt zuerst des Perserreichs, dann des Hellenismus eingebetteten Volks hatte den Priestern diese Erstickung der Prophetie ermöglicht.“ (Weber, 756 [A 604; B 399]) So faszinierend die Weber’sche These eines Antagonismus der herrschenden priesterlichen Theokratie und des in frommen Konventikeln und Außenseiterkreisen apokalyptisch gepflegten Erbes ekstatischer Prophetie auch anmutet: starke Gründe sprechen gegen sie. Denn erstens ist von Angriffen auf die Priesterschaft im apokalyptischen Schrifttum kaum etwas zu spüren und zweitens ist die Distanz der Apokalyptik zur klassischen Prophetie und ihren Rezeptionsgestalten nicht nur unüberseh-, sondern auch unüberbrückbar. Richtete sich die prophetische Erwartung, sofern sie nicht nur Unheil, sondern Heil ansagte, auf eine Wende der Volksgeschichte im geschichtlichen Rahmen, so sehnt die Apokalyptik einen eschatologischen Umbruch herbei, der die alte in eine gänzlich neue Schöpfung überführt, was neben Israel für die Menschheitsgeschichte in all ihren Einzelgliedern, ja für den ganzen Kosmos entscheidend ist. „Und die Zuspitzung dieser Sichtweise führt

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zur Einführung von jenseitigen Größen, zur Voraussage von Auferstehung der Toten, Endgericht, ewigem Leben oder ewiger Verdammnis. Falls profetische Eschatologie im Hintergrund steht, dann in einer Art von Systematisierung, die über das von den Profeten Gewollte weit hinausführt.“ (Koch, 20) Der Distanz zur klassischen alttestamentlichen Prophetie korrespondiert im Übrigen eine auffällige Nähe zur weisheitlichen Tradition, die sich nicht nur in dem intellektuellen Interesse an allerlei Wissensansammlungen und an spekulativer Ergründung von Welträtseln bekundet, sondern auch und vor allem im erfahrungsfundierten Zweifel an der Stimmigkeit eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs zu erkennen ist, wie Gesetz und Propheten ihn vertreten. Gerät die Behauptung einer nach Maßgabe göttlicher Distributionsgerechtigkeit gefügten Wirklichkeitsordnung in Konflikt mit gegenteiliger Erfahrung, dann drängt sich als erstes die Frage auf, wie es zur Verderbnis der vorfindlichen Welt und zum Eintritt von Sünde und Übel in die göttliche Schöpfung kommen konnte. Just auf diese Frage sucht die Henochüberlieferung in ihren ältesten Traditionsstoffen mit dem Mythos vom Engelfall eine Antwort zu geben. Das Böse, wie es in der Schuld der Sünde manifest ist, um üble Folgen zu zeitigen, entstammt einem Abgrund, der nicht zu ermessen ist und ins Transzendente verweist, wenngleich auf sozusagen verkehrte Weise. Entsprechend kann die Überwindung des Bösen nur von einem überirdischen Eingriff erwartet werden, wie er aus dem Jenseits Gottes am Ende der Geschichte erfolgt, wenn der alte Äon durch eine neue Schöpfung ersetzt wird. So ist es im Buch der Wächter der Äthiopischen Henochapokalypse ausgeführt, das zusammen mit dem astronomischen Buch (Kap. 72–82) und dem lediglich aus Qumranfragmenten bekannten Buch von den Riesen zu den ältesten Traditionsbeständen apokalyptischer Literatur gehört und wohl vor 200 v.Chr. anzusetzen ist. Jüngeren Datums sind dagegen das Buch der Traumgesichte (Kap. 83–90), der Henochbrief (Kap. 81–105) sowie das Buch der Bilderreden (Kap. 37–71), das für die Messias-Menschensohn-Vorstellungen von erheblicher Bedeutung ist. Der zur Gerechtigkeit geborene Menschensohn, als der zum Schluss des messianologischen Buches der Bilderreden Henoch proklamiert wird (vgl. äthHen 71,14), begegnet bekanntlich auch im Danielbuch, wo es heißt: „und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer, der einem Menschensohn glich“ (Dan 7,13). Dass es sich bei der nicht näher identifizierten Gestalt um ein himmlisches Wesen handelt, geht aus der Art und Weise seiner Ankunft sowie aus der Tatsache hervor, dass Besagter nur wie ein Mensch aussieht, aber kein Mensch ist. Andere Vermutungen, wie sie durch die häufige Bezeichnung Ezechiels als Menschensohn im gleichnamigen Prophetenbuch nahegelegt sind, gehen in die Irre. Eine religionsgeschichtliche Präzisierung der Vorstellung ist gleichwohl sehr schwierig und hier ebensowenig zu leisten wie eine Rekonstruktion der literarischen Genese des Danielbuches. Registriert sei neben dem auffälligen Sprachwechsel vom Hebräischen ins Aramäische (Dan 2,4b–7,28) und zurück sowie den Zusätzen im griechischen Text (Gebet des Asarja; Lobgesang der drei Männer im Feuerofen; Susanna, Beel

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und der Drache) einstweilen nur, dass mit Kap. 7 der bis Kap. 12 reichende zweite Teil des Buches beginnt, der einen Bericht über von Engeln gedeutete Visionen Daniels aus der Endzeit Babylons und der Zeit des Perserkönigs Kyros enthält, dem in Dan 9,4–19 ein deuteronomistisch geprägtes Bußgebet zwischengeschaltet ist. Im ersten Teil, der sich vom zweiten nicht nur in formaler Hinsicht signifikant abhebt, wird hingegen vom Ergehen Daniels und seiner Freunde am Hofe Nebukadnezars, Belsazars, des Mederkönigs Dareios und schließlich des Kyros erzählt. Inhaltlich verklammert sind beide Teile durch die Lehre von den vier Weltzeitaltern in Kap. 2 und in Kap. 7, die seit alters besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Wie sie zu deuten ist, hängt eng mit der jeweiligen Lösung der literarischen Probleme des Danielbuches zusammen. Hält man sich an die sog. Aufstockungshypothese, derzufolge mit sukzessiven Fortschreibungen des Buches zu rechnen ist, dann muss auch mit der Möglichkeit einer späteren Ergänzung der Weltreichekonzeption gerechnet werden, die jedenfalls in vorliegender Endform auf die Abfolge des babylonischen, medischen, persischen und schließlich des griechisch-hellenistischen als des vierten und letzten Reiches vor Anbruch der Gottesherrschaft zu beziehen ist. Die genaue Datierung der Teile und mögliDie Zukunft des messianichen Unterteile des Danielbuches bereitet erheb- schen Gottesreiches liche Schwierigkeiten und ist exegetisch in hohem Maße umstritten. Fest steht, dass die Kap. 8–12 nicht vor der Makkabäerzeit mit dem Rest des Buches verbunden worden sein können, da sie die Religionsverfolgung durch Antiochus IV. Epiphanes voraussetzen (vgl. Dan 8,21ff.; 9,25f.; 11,3–39 und 12,1). Daraus ergibt sich, dass das Danielbuch in seiner vorliegenden Gestalt aus der Zeit nach der Entweihung des Jerusalemer Tempels durch den erwähnten Seleukiden im Dezember 168 v.Chr. stammt. Näherhin ist an die Jahre 167–165 v.Chr. zu denken, weil die Wiedereinweihung des Tempels noch nicht im Blick des Verfassers steht. In seiner Endgestalt ist das Danielbuch infolgedessen „das unmittelbare Erzeugnis der makkabäischen Kämpfe, mitten aus diesen heraus geboren. Noch während die Wogen des Kampfes hoch gehen, will der Verfasser seine Glaubensgenossen ermuntern und trösten durch die Verheißung baldiger Erlösung.“ (Schürer III, 263) Durch Antiochus IV. Epiphanes sind die Frevel des gottlosen Äon zum Äußersten getrieben mit der Folge, dass Gott selbst auf den Plan treten und in Kürze eingreifen wird, um dort, wo die Not am schlimmsten ist, Heil und Rettung zu schaffen. Bis dahin sollen sich die Gesetzestreuen noch gedulden und in beharrlicher Konsequenz an der Tora festhalten. Am kanonischen Danielbuch lässt sich exemplarisch studieren, was entsprechend in der außer- bzw. deuterokanonischen Apokalyptik des äthiopischen Henochbuches, des vierten Buches Esra, der Baruchapokalypse oder der nach dem Tod von Herodes dem Großen in der Anfangszeit der Regierung seiner Söhne verfassten Assumptio Mosis sowie der Testamente der Zwölf Patriarchen zu erkennen ist, welche pseudepigraphische Vermächtnisse der Söhne Jakobs an ihre Nachkommen in christlicher Überarbeitung enthalten und in der jüdischen Grundschrift

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aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert stammen: unter Inanspruchnahme der Autorität von hervorragenden Vergangenheitsgestalten aus Israels Geschichte wird den gegenwärtigen Adressaten Trost zugesprochen, um sie zum Ausharren in Gesetzestreue zu ermuntern und in der Gewissheit baldigen Kommens eines gerechten Gerichts zu bestärken. Trost, Ermahnung und Belehrung sind dabei in Inhalt und Form eng verbunden, wobei die apokalyptischen Vorstellungsgehalte teils der an konkretes geschichtliches Wissen anknüpfenden Einbildungskraft der Autoren, teils traditionellen Vorgaben entstammen, die gelegentlich Restbestände heidnischer Mythologie enthalten. Während das griechische Wort apokalypsis geneApokalyptik und Eschatorell auf die Enthüllung göttlicher Geheimnisse logie bezogen ist, beschäftigt die Apokalyptik speziell ein eschatologisches Offenbarungsgeschehen, das sich am Ende der Zeiten vollzieht. Friedrich Lücke (1787–1855), der Begründer der modernen Apokalyptikforschung, hat das apokalyptische Genre daher als „Endzeitprophetie“ bestimmt, „ein Wesenszug, der bis heute als herausragendster immer wieder genannt wird“ (Rudolph, 773). Apokalypsen handeln in der Regel von Prozessen der Verschlechterung und katastrophalen Zuspitzungen der Lage in Natur und geschichtlichem Menschenleben, von zunehmenden Drangsalen und dem Zerfall der alten Ordnungen. Heil ist nur noch durch einen revolutionären Umschwung transempirischer Art und durch einen alle bisherige Erfahrung übersteigenden Wechsel vom alten zum neuen Äon zu erwarten, mit welchem Totenauferstehung, Weltgericht und die Parusie einer übersinnlichen Heilsmacht einhergehen werden. Im Einzelnen geben sich viele Verbindungslinien zur eschatologisch fortentwickelten Weisheitsliteratur zu erkennen, die apokalyptische Ausdrucksformen motivierte. Analog zur Weisheit arbeitet sich auch die Apokalyptik an dem Problem ab, wie es mit der Kluft zwischen der Annahme einer sinnstiftenden Grundordnung und einer dieser Annahme nicht entsprechenden, ja widersprechenden Wirklichkeitserfahrung gegeben ist. Als religiöses Phänomen des antiken Judentums setzt die Apokalyptik nicht nur massive Enttäuschungserfahrungen einzelner Frommer voraus, sondern die Erfahrung von Geschichtskatastrophen, die den Eindruck kollektiver Gottverlassenheit bewirkten. Gott wird als zur gegebenen Wirklichkeit radikal distant erlebt. Ein dualistischer Gegensatz zwischen der Gottheit Gottes und der Realität der irdischen Tatsachen stellt sich ein. Die apokalyptische Theologie ist „radikale Abkehr vom irdischen und Hinwendung zum neuen, ganz anderen und jenseitigen Kosmos, sagbar nur als Offenbarung Gottes in seiner Verborgenheit“ (Beyerle, 411). Von dem Fortgang der Geschichte wird nach allen bisherigen Negativerfahrungen nichts mehr als das baldige Weltende erwartet, welches das göttliche Eschaton bereitet, um einen anderen Äon hervorzurufen, in dem das Alte vergangen und alles neu geworden sein wird. Das ist ein signifikanter Unterschied zur alttestamentlichen Prophetie, welche die Zukunft Israels in Gericht und Gnade im geschichtlichen Verlauf der Zeit erwartete und ansagte. Es ist kein Zufall, dass die masoreti-

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sche Bibel das Danielbuch nicht in den Prophetenkanon eingereiht hat. Zwar mag man sich darüber streiten, ob bei Daniel mit dem Ende des alten Äons anderes beginnt als eine neue Ära der Weltgeschichte. Doch spätestens in der eigentlichen Blütezeit apokalyptischer Literatur während der römischen Periode ist die Eschatologisierung der Zukunftserwartung vollendet und die Realisierung des Gottesreiches in ein dem Diesseits Jenseitiges verschoben. Im Übrigen kommt es weder Daniel, bei dem die Frevelhaftigkeit des Antiochus IV. Epiphanes im Brennpunkt der Darstellung steht, noch den Apokalypsen Esras und Baruchs aus der Zeit nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer darauf an, den Verlauf der Weltgeschichte in universalhistorischem Interesse zu rekonstruieren. Interesse wird an erfahrungsorientierter Geschichtsschreibung nur in der Absicht genommen, die bekannte historische Entwicklung als konsequenten Verfall zu deuten und sie dem kommenden Gottesreich zu kontrastieren. Die Weltgeschichte strebt in widriger Weise ihrem Ende zu, indem alles, was in ihr herrscht, zugrunde gehen wird. Bestand haben wird im Reiche Gottes nur die Gerechtigkeit der Frommen, welche anders als die Herren der Weltgeschichte die Tora achten. Auf ihre Errettung, der das Gericht über die Gottlosen korrespondiert, welche aller Erfahrung nach Geschichte machen, ist das Kommen der künftigen Gottesherrschaft ausgerichtet. Das „spätisraelitische Geschichtsdenken“ (vgl. Koch/Schmidt [Hg.], 276ff.) der Apokalpytik ist kein Selbstzweck, sondern steht ganz im Dienst religiöser Bewältigung der Kollektiverfahrung einer grundstürzenden Krise des Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Was unter historischen Bedingungen radikal aussteht, wird von Gott her in einer Weise realisiert, die alle geschichtlichen Erfahrungen transzendiert: die Frommen erhalten den Lohn ihrer Gerechtigkeit und an den Frevlern wird ihre Sünde bestraft. So steht es in der Henochapokalypse zu lesen (Hen 1,9), und so wird es im neutestamentlichen Brief des Judas (Jud 14f.) zitiert: „Seht, der Herr kommt mit seinen heiligen Zehntausenden, um über alle Gericht zu halten und alle Gottlosen zu bestrafen wegen all ihrer gottlosen Taten, die sie verübt haben, und wegen all der frechen Reden, die die gottlosen Sünder gegen ihn geführt haben.“ Welche Ausgestaltung die Eschatologie der jüdischen Apokalyptik erfahren hat, die im vierten Esrabuch und in der Baruchapokalypse in ihrer differenziertesten Form vorliegt, sei im gegebenen Zusammenhang nur mehr stichwortartig registriert, zumal da die apokalyptische Messianologie im Rahmen der Erörterung der christologischen Hoheitstitel noch eigens thematisiert werden wird. Typisch und in fast allen Apokalypsen begegnend ist die Annahme einer der eschatologischen Wende vorhergehenden Zeit gesteigerter Verwirrungen und Drangsale. Sie finden mit dem Erscheinen des himmlischen Messias-Menschensohn, dem durch einen Elia redivivus die Bahn bereitet wird, kein zwangsläufiges Ende, sofern mit einem letzten Aufbäumen widergöttlicher Feindesmächte zu rechnen ist, deren endgültiger Vernichtung im Strafgericht Gottes die Erneuerung Jerusalems, die Sammlung der Zerstreuten und die Errichtung des Gottesreiches folgt. Chiliastische Vorstellungen im Sinne von Apk 20,1–7 haben an der Eschatologie des apokalyptischen Ju-

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dentums insofern einen Anhalt, als ihr die Vorstellung einer befristeten Zwischenzeit zwischen dem Erscheinen des Messias und dem endgültigen Anbruch des Eschatons nicht fremd ist. Der systematische Grund für diese nicht notwendig auf eine Jahrtausendfrist festgelegte Annahme dürfte in dem Bedürfnis zu suchen sein, das eschatologische Ende der Geschichte mit deren Schlussverlauf rückzuvermitteln. Auch noch die eschatologische Negation der vorhergehenden Geschichte steht in einer Beziehung zu ihr. Anders lässt sich das Verhältnis von Alt und Neu offenbar auch unter den Bedingungen ihres Gegensatzes nicht vorstellig machen. Indes transzendiert das Gottesreich, wenn es denn schließlich in vollendeter Weise gekommen ist, alle Schranken, wie sie für den alten Äon kennzeichnend sind. Das Reich Gottes übersteigt die Grenzen verDie Realisierung der Gottesgänglicher Zeit, sofern nicht nur die lebenden, gerechtigkeit sondern auch die verstorbenen Gerechten Israels daran teilhaben sollen. Auch in räumlicher Hinsicht sind Gottes Herrschaft keine Grenzen gesetzt mit der Folge, dass Israels Bestimmung entschränkt und universalisiert wird. Alle Welt wird der Vollendung zugeführt, und die Totenauferstehung ist allgemein. Das Kriterium aber, nach dem Menschheit und Welt eschatologisch bemessen und beurteilt werden, um entweder zu ewiger Seligkeit oder zu ewiger Verdammnis zu gelangen, ist Gottes Gesetz, wie es in der Tora definitiv erschlossen ist. Ihr gemäß wird Gott endgültig richten. Auch im Kontext apokalyptischen Judentums bestätigt sich somit der Grundsatz, dass die Tora das Zentrum jüdischer Religion darstellt. Das Verhältnis Israels zu Jahwe ist gesetzlich geregelt und durch das Gesetz als Bund bestimmt. Diesbezüglich besteht etwa zwischen der kanonischen Prophetie und der apokryphen Apokalyptik keine Grundsatzdifferenz, sondern prinzipielles Einverständnis. Gemeinsam ist beiden auch die Prämisse, dass es Gottes Absicht ist, die Gottlosen zu bestrafen und diejenigen zu belohnen, die seine Gebote halten. „Eine sehr einfache Beobachtung zeigte jedoch, dass dieser Lohn in der empirischen Gegenwart weder dem Volke als ganzem noch dem Einzelnen in dem zu erwartenden Maße zuteil wurde. Je intensiver demnach jener Gedanke das Bewusstsein des Volkes wie des Einzelnen durchdrang, um so mehr mußte sich der Blick auf die Zukunft richten, und zwar dies wieder um so lebhafter, je schlimmer die Gegenwart beschaffen war.“ (Schürer II, 582) Daraus ergab sich die Eschatologisierung der jüdischen Torafrömmigkeit einschließlich der traditionellen Messianologie, wie sie nicht nur in der apokalyptischen, sondern auch in der Weisheitsliteratur zu beobachten ist. Dass über das Recht der eschatologischen Hoffnung auf Gerechtigkeit nur der gerechte Gott selbst befinden kann, wurde dabei beiderseits vorausgesetzt. Indes teilte man ebenso die gewisse Hoffnung, dass Gott den Toragehorsamen um seiner eigenen Gerechtigkeit willen am letzten Ende auch Recht verschaffen werde. Vom Erscheinen des Messias hinwiederum wurde nichts anderes als die Erfüllung just dieser Hoffnung erwartet. Der Gedanke, dass der Messias die Rechtfertigung der Sünder und Gottlosen erwirken könne und erwirken werde, lag nicht nur außerhalb der religiösen Vorstellung des Judentums zu Zeiten Jesu, sondern war ihm,

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als er denn aufkam, innerlich zuwider. Am Beispiel namentlich der Pharisäer wird zu zeigen sein, dass es dafür gute theologische Gründe gab. Was aber die jüdische Messianologie angeht, so ist von ihr als Erstes zu lernen, „daß man von dem Kommen des Königs der Heilszeit vor allem den Anbruch des Reiches der Gerechtigkeit erwartete“ (Kaiser III, 175). Zum zweiten aber ermöglicht sie es zu verstehen, „warum der Hohepriester und das Synhedrium in Jesus nicht den zu erkennen vermochten, der da kommen soll, sondern ihn wegen seiner Anziehungskraft auf das Volk dem römischen Statthalter zur Hinrichtung auslieferten und darin dem Rat des Hohenpriesters Kaiphas folgten, daß es besser sei, wenn ein Mensch statt des ganzen Volkes stürbe (Joh 11,50).“ (Ebd.)

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Zu den religionsgeschichtlich spektakulärsten Entdeckungen des vergangenen Jahrhunderts zählen die Funde jüdischer Handschriften in den Höhlen von Qumran zwischen 1947 und 1956. Für das Verständnis der Hebräischen Bibel, des antiken Judentums und des Neuen Testaments haben die Textfunde erhebliche Relevanz. Da die ältesten hebräischen Bibelhandschriften von Qumran bis ins letzte Viertel des dritten vorchristlichen Jahrhunderts zurückreichen, sind sie unter textkritischen Gesichtspunkten und unter Gesichtspunkten der Sprachentwicklung wissenschaftlich unentbehrlich geworden. Einige Funde geben darüber hinaus Aufschluss in Bezug auf die Kanongeschichte der Hebräischen Bibel, indem sie deren Dreiteilung bereits für die Mitte des zweiten vorchristliQumran

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chen Jahrhunderts dokumentieren und zeigen, dass die Literalisierung der jüdischen Religion schon verhältnismäßig zeitig zu einem vorläufigen Abschluss gekommen ist. Viele Qumrantexte gehören bereits zur Auslegungsgeschichte des Alten Testaments und belegen den Eintritt des Judentums in sein schriftexegetisches Zeitalter. Eher indirekter Natur ist die Bedeutung der Funde für die urchristliche Überlieferungsgeschichte. Weder nennt das Neue Testament die Qumrangemeinde, noch wurden in deren Hinterlassenschaften neutestamentliche Handschriften gefunden. Die Behauptung, Jesus sei Mitglied der Gemeinschaft von Qumran gewesen, ist aus wissenschaftlicher Perspektive nicht zu halten. Auch Johannes der Täufer wird ihr nicht angehört haben trotz einer nicht nur in geographischer Hinsicht bemerkenswerten Nähe seines Wirkens zu ihr. Die Johannestaufe verbindet zwar Wasserritus und Vermittlung von Sündenvergebung wie die in Qumran in Form von Selbstuntertauchungen geübte Praxis von Reinigungsbädern, sie wird im Unterschied zu diesen aber nicht wiederholt, sondern einmalig und in der Weise gespendet, dass der Täufer den Täufling untertaucht. Nichtsdestoweniger liefern die Qumranrollen für das Verständnis der Geschichte Jesu, der werdenden Urkirche und des Neuen Testaments hervorragende Beiträge, indem sie perspektivenreiche Einblicke in die religiöse Welt Judäas um die Zeitenwende geben. In seriöser Zusammenfassung ergibt sich folgendes Urteil: „Examination of the Dead Sea Scrolls shows that they never mention any Christian individuals by name and were not written by Christian authors. They do, however, throw welcome light on the Gospels by (1) providing helpful information about Jewish society, groups, practices, and beliefs at the time; (2) increasing our knowledge about early Judaism, which makes it clear that many aspects of the Gospel message are indebted to the mother religion; (3) helping us see in sharper outline some of the basic differences between the message of Jesus and that of other Jewish groups; and (4) providing new texts with wording similar to certain Gospel passages, which shows that some or much of Jesus’ teaching was anticipated in earlier texts, rather than being the product of the later church.“ (VanderKam/Flint, 321) Form- und gattungsgeschichtlich betrachtet handelt es sich bei den literarischen Funden von Qumran neben Abschriften kanonischer bzw. deuterokanonischer Texte apokrypher und pseudepigraphischer Art (vgl. VanderKam/Flint, 87–205) um Auslegungsschriften in Gestalt von Überarbeitungen und haggadischen Nacherzählungen biblischer Texte, um thematische Pescharim wie einen Eschatologiemidrasch oder um solche zu einzelnen Bibelstellen, um halachische Stücke und Regelwerke wie die sog. Tempelrolle, die Kriegsregel oder die in mehreren Rezensionen vorliegende Gemeinderegel sowie um poetische Texte überwiegend liturgischen Charakters wie die sog. Sabbatlieder (vgl. VanderKam/Flint, 209–308). Im Frühjahr des Jahres 68 n.Chr., als die Römer Jericho einnahmen und die umliegenden Siedlungen zerstörten, wurden an die tausend hebräischen, aramäischen, griechischen und nabatäischen Schriftstücke und Textrelikte in ihren Höhlenverstecken deponiert, in denen sie jahrhundertelang unentdeckt blieben. Einige Indizen

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sprechen dafür, dass die Auslagerung der Bibliothek zum Zwecke ihrer Rettung vor Feinden in großer Eile geschah. Mit den Ereignissen im Zusammenhang der röDie Essener mischen Einnahme Jerichos am 21. Juni 68 n.Chr. ist zugleich der Terminus ad quem der Qumrangemeinde bezeichnet, deren Gelände am Toten Meer zu einem römischen Militärposten umfunktioniert wurde. Weniger eindeutig als das katastrophale Ende sind die Anfänge der Gemeinde zu fassen. Als gesichert darf ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Essener gelten, über die abgesehen von denjenigen Qumrantexten, die als essenisches Selbstzeugnis gelten dürfen, Fremdberichte von Philo, dem älteren Plinius und von Josephus vorliegen. Insbesondere letzterer vermittelt im Rahmen eines für nichtjüdische Leser bestimmten Überblicks über die, wie es heißt, philosophischen Schulen („Häresien“) der Judäer wichtige Informationen zur essenischen Organisation und Lebenspraxis, Frömmigkeit und Theologie. So erfährt man aus dem achten Kapitel des zweiten Buchs der Geschichte des jüdischen Kriegs, dass die Essener sich um konsequente Askese und Reinheit bemühten, Reichtum strikt verachteten und Gütergemeinschaft pflegten, strenge Sabbatruhe einhielten, untereinander durch ein flächendeckendes Netzwerk sozialer Fürsorge verbunden waren, sich religiös durch eigentümliche Gebetspraxis, Reinigungsriten und Mahlhandlungen auszeichneten und nichts ohne ausdrücklichen Befehl ihrer Vorsteher taten. Den Eid verachteten sie, da ihnen das gegebene Wort mehr galt als dieser. Wer in die essenische Gemeinschaft aufgenommen werden wollte, musste sich einem Noviziat und entsprechenden Prüfungen seiner Reife unterziehen und schließlich verbindlich bekennen, dass er bereit sei, Gott in allem vorbehaltlos zu ehren und Gottes Gebot den Regeln der Gemeinschaft gemäß zu achten. Schwere Sünde wurde mit Ausschluss und Verstoßung geahndet. Doch seien von Ausnahmen abgesehen die Essener ihrem einmal gefassten Entschluss radikaler Toraobservanz lebenslang treu geblieben. Diese Gesinnung, so Josephus, sei vor allem im Krieg gegen die Römer manifest geworden: „Auf die Folter wurden sie gespannt, ihre Glieder gestreckt, verbrannt, gebrochen; mit allen erdenklichen Marterwerkzeugen quälte man sie, um sie zu zwingen, den Gesetzgeber zu lästern und eine ihnen verbotene Speise zu genießen – aber weder das eine noch das andere vermochte man durchzusetzen.“ (Bell. Jud. II,8,10) Verschwimmt das von Josephus gezeichnete Bild essenischer Standhaftigkeit ähnlich wie bei Philo mit Vorstellungen, die man im Hellenismus vom stoischen Weisen hegte, so ist auch die Skizze, die von der Jenseitshoffnung der Essener gegeben wird, durch Erwartungshaltungen der nichtjüdischen Adressaten überformt und auf Konvergenz mit der griechischen Philosophietradition angelegt. Die eschatologische Ausrichtung und apokalyptische Prägung essenischer Frömmigkeit wird daher weitgehend ausgeblendet. Dass sie gleichwohl neben dem auf strikte Scheidung von allem Unrechten und Unreinen bedachten Toragehorsam charakteristisches Kennzeichen der Essenergemeinschaft war, beweisen die Texte von Qumran eindeutig und zur Ge-

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nüge, so schwer es im Einzelnen fällt, ihre essenischen Anteile genau zu identifizieren. Der Name Essener leitet sich vom aramäischen Wort für rein und heilig her und verbindet die solchermaßen Bezeichneten mit der Chassidimbewegung der Makkabäerzeit, aus der auch die Pharisäer hervorgingen. Kennzeichnend für die Essener war strengste Toraobservanz, die nach ihrer Meinung nur in klosterähnlicher Abgeschiedenheit und in Separation von der Menge zu erfüllen war. Wie die jüngeren Versionen der Gemeinderegel belegen, hat sich die Tendenz zur Absonderung vom übrigen Israel immer mehr gesteigert. Auffällig ist ferner die kritische Distanz zum Opferkult des Jerusalemer Tempels, der durch eine spiritualisierte Gottesdienstpraxis und entsprechende geistliche Übungen ersetzt wurde. Diese Distanz tritt in der Qumrangemeinde im Gegensatz des „Lehrers der Gerechtigkeit“ zu seinem als „Frevelpriester“ qualifizierten Gegner spezifisch zutage. Bei letzterem ist nach Mehrheitsmeinung der Forschung an den hasmonäischen Hohenpriester Jonathan zu denken, dem als Nichtzaddokiden und Nichtaaroniten um die Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts durch einen Hoheitsakt des seleukidischen Königs das führende Amt in der Jerusalemer Kultgemeinde übertragen worden war, das bis in die Regierungszeit des Herodes hinein Hasmonäer in der Hand behalten sollten. Beim „Lehrer der Gerechtigkeit“ hinwiederum soll es sich um einen priesterlichen Angehörigen der Chassidimbewegung gehandelt haben, der von Jonathan vom Tempel vertrieben worden und nach Qumran ausgewichen sei. Auch weitergehende Vermutungen wurden angestellt: „The facts that the Teacher was a priest, that astonishing claims were made for his legal and interpretive authority, and that he drew the attention of the Wicked Priest ... have given rise to the theory that the Teacher was himself a high priest or, perhaps more plausibly, that he acted as high priest in the years 159–152 BCE when, according to the received list, there was no high priest in Jerusalem.“ (VanderKam/Flint, 284f.) Als Gründer der Qumrangemeinschaft dürfte der „Lehrer der Gerechtigkeit“ nicht fungiert haben, da sie wahrscheinlich schon vor seiner Zeit bestand. Wohl aber hat er einen Führungsanspruch in ihr erhoben, der allerdings nicht von allen Seiten anerkannt wurde und zu einer Spaltung der Gemeinde führte. Wie immer es sich im Einzelnen verhalten haben mag: Im Grundsatz bestätigen neuere Forschungen zur Geschichte der Qumrangemeinde die alte These, dass diese im Verein mit der essenischen Bewegung im Zuge religiösen Protests traditioneller Kreise gegen die zunehmende Verweltlichung der Makkabäer, ihre einseitige Fixierung auf Ziele politischer Herrschaft sowie die Usurpation altangestammter priesterlicher Vorrechte, insbesondere die Beanspruchung des Hohenpriesteramtes durch die Hasmonäer, entstanden sei und Kontur angenommen habe. Dass Qumran ins Zentrum der über ganz Palästina ausgedehnten essenischen Gemeinschaft gehörte, wird nicht nur durch eine Notiz des Plinius (Hist. Nat. V,17), sondern auch durch inhaltliche Gründe belegt. Tatsache ist, dass in der Gemeinschaft am Toten Meer Charakteristika der essenischen Bewegung insgesamt besonders signifikant zutage treten wie Waschungsrituale, Gemeinschafts-

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mahle, hierarchische Strukturierung der gemeindlichen Verfassung, Novizenprüfung, Gütergemeinschaft sowie die Geltung des Sonnenkalenders etc. Vergleicht man die etwa von der Mitte des 2. Jahrhunderts vor Christus bis zum ersten Aufstand gegen Rom bestehenden essenischen Gemeinschaften, die in Qumran ein seit ca. 100 v.Chr. breit ausgebautes Zentrum fanden, mit den beiden anderen von Josephus benannten philosophischen Schulen, besser: religiösen Gruppen im palästinischen Judentum um die Zeitenwende, so fällt im Vergleich nicht nur zu den Sadduzäern, sondern auch zu den Pharisäern eine bei den Qumranessenern ins Äußerste gesteigerte Rigorosität der Disziplin und Radikalität der Abgrenzung gegen alles Unreine und Torawidrige auf. Das essenische Weltbild war nicht nur konsequent eschatologisch verfasst, sondern auch dualistisch bestimmt. Der Endkampf, in dem die Macht Belials gebrochen werden soll, steht unmittelbar bevor, und siegreich aus ihm hervorgehen werden allein die Söhne des Lichts, die sich zum rücksichtslosen Kampf gegen die Söhne der Finsternis verschworen haben. Im Übrigen sahen sich die Essener berufen, angesichts der Missstände des Jerusalemer Tempelund Opferdienstes, den sie für entartet hielten, die altüberkommenen Priestertugenden hochzuhalten und zugleich den wahren Sinn der Heiligen Schriften Israels zu erheben und ihn in Theorie und Praxis zu pflegen und zu bewahren. Auf ihre eigentümliche Weise haben die Essener damit Anteil an der Wirksamkeit und dem Ringen zweier Kreise, die für die nachexilische Religionsgeschichte Israels gleichermaßen, wenngleich zu unterschiedlichen Zeiten in verschiedenem Grade bestimmend geworden sind, um in Sadduzäern und Pharisäern ihre typischen Vertreter zu finden. Bis in die hellenistische Periode hinein war die Priester und Schriftgelehrte einflussreichste Größe in religiösen Angelegenheiten eindeutig die Priesterschaft. Die Priester bildeten als Söhne Aarons einen privilegierten Stand mit geregelten Einkünften, der allein zum Opferdienst befugt war. Als Kultbeamte zweiten Ranges waren ihnen die Leviten zugeordnet, die auf einen der zwölf Stammväter Israels zurückgeführt wurden. Haupt der Priesterschaft war der Hohepriester. Er allein hatte die Berechtigung zur Darbringung des Opfers am Großen Versöhnungstag. Häufig repräsentierte er das Volk auch in politischen Angelegenheiten. Spätestens seit hasmonäischer, möglicherweise sogar schon in vormakkabäischer Zeit gab es ein dynastisches, auf Lebenszeit angelegtes und erbliches Priesterfürstentum. Nach dem Sturz der Hasmonäer war die hohepriesterliche Herrschaftsmacht zwar vielfach eingeschränkt, konnte sich aber in Teilen etwa in Form des Synhedriumvorsitzes erhalten, wobei es in der Regel die Kreise der traditionellen Priesteraristokratie waren, die den Obersten der Priesterschaft stellten. Was den täglichen Kultus betrifft, so wurde er von der Priesterschaft nach festen Ordnungsregeln und Dienstklassen in vorgeschriebener Amtstracht in Form von Gemeinde- und Privatopfern verrichtet, die sich jeweils in spezifische Kategorien unterteilen lassen. An diesem Brauch und seinen Regeln, wie sie in der Tora vorgegeben waren, hat das Judentum bis zur Zerstörung des herodianischen Tempels strikt festgehalten.

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Diese langfristige Treue hinderte indes nicht, dass sich im Laufe der nachexilischen Zeit neben der Priesterschaft ein zweiter Berufsstand etablierte, der spätestens seit der Hasmonäerära religiöse Führungsansprüche geltend machte: die Profession der Schriftgelehrten. Ihr Einfluss stieg analog zur fortschreitenden Literalisierung der jüdischen Religion. Auch wenn für die Verlesung des Gesetzes durch Esra und die feierliche Verpflichtung des Volkes auf seine Bestimmungen, wie sie Neh 8–10 bezeugt ist, wahrscheinlich noch nicht der definitiv zum Abschluss gebrachte Pentateuch vorausgesetzt werden darf, wird die Tora bald schon eine fixe Größe von sakrosankter und kanonischer Dignität, deren Geltung auf göttliche Eingebung zurückzuführen ist. Später wurde der Gesetzeskanon dann durch Schriften der Propheten und Geschichtswerke angereichert, ohne die singuläre Stellung der Tora je in Zweifel zu ziehen. Die Tora ist die genuine Offenbarung von Gottes originärem Willen, der in den sonstigen kanonischen Schriften unter diversen Gesichtspunkten überliefert, affirmiert und expliziert wird. Die Nebiim und Ketubim relativieren den Geltungsanspruch der Tora nicht, sondern unterstellen sich seiner Allgemeinverbindlichkeit, um sie zu bestätigen. Zentraler Gegenstand jüdischer Schriftgelehrsamkeit ist das Gesetz. War die gelehrte Gesetzesauslegung in der persischen Epoche zunächst das Geschäft der Priester, welche die Aufgabe im Verein mit ihrem Kultdienst wahrnahmen, so bildete sich allmählich ein eigener Berufsstand von Gesetzeskundigen neben den Priestern aus, wobei der Unterschied beider Professionen gelegentlich antagonistische Züge annehmen konnte. Als etwa große Teile der höheren Priesterschaft sich unter der Herrschaft der Diadochen mehr oder minder entschlossen hellenistischen Einflüssen öffneten, rückten die Schriftgelehrten schrittweise in die Rolle der eigentlichen Hüter des Gesetzes ein, bis sie schließlich nach endgültigem Untergang des Tempels zur ausschließlichen Authentizitätsinstanz jüdischer Gesetzesfrömmigkeit wurden, wohingegen sich der priesterliche Stand mit dem Verlust des Heiligtums auflöste, auf den aller Kult konzentriert war. Als professionelle Toraausleger waren die Schriftgelehrten, die vom Volk ehrfurchtsvoll Rabbi genannt wurden und vor der Tempelzerstörung wie die Priester in Jerusalem und Judäa den Hauptsitz ihrer Wirksamkeit hatten, in erster Linie Gesetzes- und Rechtskundige, also Juristen. Ihre juristische Aufgabe hatten sie in dreifacher Hinsicht wahrzunehmen: durch theoretische Explikation und immer detaillierter werdende Ausbildung des Gesetzes und seiner Vorschriften, durch Lehre der Tora und Weitergabe ihrer Kenntnisse an Schüler sowie durch praktische Rechtssprechung (vgl. Schürer II, 381ff.). Grundlage der drei Tätigkeitsweisen war stets der kanonische Schrifttext, für dessen Reinheit die Schriftgelehrten in ihrer Eigenschaft als sog. Masoreten zu sorgen hatten. Doch gelangte die masoretische Arbeit erst in einer Zeit zu ihrem Höhepunkt, als die buchstäbliche Sicherung des Textes und die Konservierung seiner Aussprache zum Problem wurden. Die schriftgelehrte Tätigkeit, die Tora genauestens festzustellen und sorgfältigst zu entwickeln, hat sich zunächst und lange beinahe ausschließlich in Form mündlicher Diskurse der Kundigen untereinander vollzogen. Schriftliche Gestalt ange-

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nommen hat die traditionelle Rechtspflege der sog. Halacha in der hebräischen Mischna als der ältesten Kodifikation rabbinischer Rechtsüberlieferung, wie sie namentlich im zweiten nachchristlichen Jahrhundert in Geltung stand. Die Mischna will ihrem Selbstverständnis nach nichts als in systematischer Ordnung vollzogene Torarezeption sein. Jünger und umfänglicher sind der Jerusalemische und der Babylonische Talmud, welche beide die im dritten und vierten Jahrhundert n.Chr. und darüber hinaus mit Eifer fortgesetzten Debatten der Gesetzeskundigen dokumentieren und systematisieren. Der Gehalt der in der Mischna und in den beiden Talmudim in einer nach Maßgabe systematischer Ordnung kodifizierten Halacha ist im Wesentlichen durch die materialen Themenfelder bestimmt, welche die Schriftgelehrten auf der Basis der Tora zu regeln hatten: näherhin handelt es sich um detaillierte Kultvorschriften, um Feiertagsordnungen, die den Sabbat oder die Jahresfeste Passa, Pfingsten, Laubhüttenfest, Versöhnungsund Neujahrstag betrafen, sowie um Gesetzgebungen zum Steuer- und Abgabenrecht. Hinzu kommen religiöse Satzungen bezüglich der Scheidung von rein und unrein, aber auch straf- und zivilrechtliche Angelegenheiten. Andere Themenbestände, als sie in Mischna und Talmud kodifiziert sind, wurden in der sog. Haggada behandelt. Sie erwuchs aus schriftgelehrter Tätigkeit, die im Unterschied zur Halacha vor allem auf nichtjuristische Sachverhalte bezogen war. Auch die Haggada wurde jahrhundertelang mündlich tradiert. Sie ist vorwiegend in Form von sog. Midraschim aufgezeichnet worden. Dabei handelt es sich um vergleichsweise unsystematische Kommentare zu Schrifttexten, wie sie gelegentlich auch im halachischen Kontext zu finden sind. Ein klassisches Beispiel für haggadische Bearbeitungen biblischer Geschichte in Midraschform liefert das sog. Buch der Jubiläen. Es bietet eine Ausgestaltung und Erweiterung der biblischen Genesisgeschichte und dürfte im hebräischen Original während der Zeit der Entweihung des Tempels durch Antiochus IV. Epiphanes, der Religionsverfolgung oder der anschließenden Makkabäerära in radikal antihellenistischen Chassidimkreisen entstanden sein. Der Titel deutet auf das intensive Interesse hin, welches das Jubiläenbuch an kalendarischen Bestimmungen, an der Einsetzung von Festen und der Jahreseinteilung nimmt. Im Unterschied zur Haggada folgt die Halacha Sadduzäer und Pharisäer einer strengen Regel und Methode. Dies schloss schriftgelehrte Kontroversen in Bezug auf Gesetzesbestimmungen nicht aus, wie der berühmte Streit zwischen der milden Richtung Hillels und der strengen Schule Schammais beweist. Darauf ist hier nicht einzugehen. Anzusprechen ist hingegen der nicht zuletzt aus dem Neuen Testament bekannte Gegensatz zwischen Pharisäern einerseits und Sadduzäern andererseits, wie er aus der gesteigerten Differenz von Priestern und Schriftgelehrten hervorging. Während sich die sadduzäische Partei vor allem aus den Kreisen der Priesteraristokratie rekrutierte, gingen die Pharisäer als die streng gesetzliche Richtung der Schriftgelehrsamkeit aus breiten Schichten des Volkes hervor. Für die Sadduzäer Halacha und Haggada

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galt nur die schriftliche Tora als verbindlich, wohingegen sie die pharisäische Tradition der Gesetzesauslegung nicht anerkannten. Ihr Adel verpflichtete sie, wenn man so will, zu einem skeptischen Konservativismus, der außer dem Althergebrachten und Festgeschriebenen alles Sonstige unter den Verdacht der Neuerungssucht stellte. Die sachlichen Gegensätze zur Partei der pharisäischen Schriftgelehrten, die im Vergleich als innovativ zu gelten hat, ergeben sich hieraus. Die Sadduzäer beharrten strikt auf der überkommenen Annahme eines gerecht geordneten Tun-Ergehens-Zusammenhangs, demzufolge jedem zu Lebzeiten nach Maßgabe seines Handelns das verdiente Geschick zugeteilt wird. Ihre äußere Stellung trug sicherlich nicht unerheblich zu der Möglichkeit bei, auf diesem Standpunkt zu insistieren. Daraus ergab sich eine weitgehende Immunisierung gegen eschatologische Strömungen, die nicht nur als religiös irreführend, sondern auch als politisch gefährlich eingestuft wurden. Die Sadduzäer standen nicht nur apokalyptischen Endzeiterwartungen und Spekulationen über jenseitige Engels- und Geisterwelten mit genereller Ablehnung gegenüber, sie leugneten im Unterschied zu den Pharisäern auch eine leibhafte Auferstehung und ein eschatologisches Weltgericht, in dem der Sünder bestraft und den Frommen ihre Gerechtigkeit jenseitig vergolten wird. Sind die aristokratischen Sadduzäer jedem Dualismus abhold, eschatologieresistent, auf religiöse Integration und politischen Ausgleich bedacht und daher offen für Kompromisse mit den Machthabern und dem herrschenden Geist der Zeit, so kennzeichnet die Pharisäer bereits ihr Name als diejenigen, die sich absondern. Der Begriff, den offenbar nicht nur andere von ihnen, sondern den sie von sich selber hatten, ist durch Gegensätze bestimmt. Entscheidend sind namentlich die Alternativen von fromm und gottlos, gerecht und ungerecht, rein und unrein. Der Pharisäer ist gegen Unreines abstinent, er hält sich vom Ungerechten fern und separiert sich von den Gottlosen. Kriterium der Scheidung ist die Tora. Sie trennt nicht nur zwischen Juden und Heiden, sondern ebenso zwischen toragehorsamen und solchen Angehörigen des Gottesvolkes, welche die Tora missachten und ihre Gebote übertreten. Hervorgegangen zu sein scheint die Laienbewegung der Pharisäer, deren „Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz“ von R. Deines detailliert beschrieben worden ist, aus der in 1. Makk 2,42 bezeugten „Sammlung der Frommen“, die sich durch die repressive Religionspolitik von Antiochus IV. Epiphanes zur Bewahrung und Verteidigung der seit Nehemias und Esras Zeiten fest geprägten jüdischen Identität herausgefordert sahen. Doch handelt es sich bei dieser Entwicklung um einen langfristigen Prozess, der, wie das Beispiel der Essener zeigt, auch anders ausgerichtete Sonderungstendenzen zeitigen konnte. Ferner setzt der Pharisäismus das aus der Verbindung von Weisheit und Tora entstandene Schriftgelehrtentum bereits als gegeben voraus. Kennzeichnend für das theologische Programm der pharisäischen Fraktion innerhalb des jüdischen Volkes ist strikte Toraobservanz, die weit über den sakralen Kultbereich hinaus für alle Lebensbereiche akribisch zu beachten ist. Angestrebt wird das

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gemeinsame Priestertum aller Gesetzestreuen. Die für den priesterlichen Tempelkult charakteristische Heiligkeit und Reinheit wird, ohne in ihrer spezifischen Besonderheit negiert zu werden, entschränkt und auf den alltäglichen Opferdienst ausgeweitet, wie er durch ein Leben der Gerechtigkeit und Reinheit zu erbringen ist. Eine Verinnerlichungstendenz religiöser Praxis, durch viele Psalmen beispielhaft belegt, geht mit dieser Entwicklung ebenso einher wie der Wunsch zur Bildung separater Zirkel, die eine fromme Avantgarde in der Volkskirche bilden. Als religiöse Partei nimmt der Pharisäismus die Gestalt einer ecclesiola in ecclesia an. In ihren ersten Anfängen der makkabäischen Erhebung aus religiösen Motiven eng verbunden geriet die Bewegung der Chassidim, welcher der Pharisäismus, aber auf seine Weise auch der Essenismus folgte, bald schon in Opposition zur Politik der Hasmonäer, deren priesterfürstliche Ansprüche als illegitim zurückgewiesen wurden. Auch später haben sich die Pharisäer ihre Reserve gegen eine politische Funktionalisierung der Religion bewahrt, so realistisch sie sich ansonsten auf gegebene Machtkonstellationen einstellten. Dass der Eifer für die Tora schließlich theokratische Revolutionsprogramme von Art des Zelotismus mit sich bringen konnte, steht auf einem anderen Blatt und ändert nichts an der Tatsache, dass der Pharisäismus in der Regel politisch gemäßigt auftrat. Der gemäßigte Pharisäismus war es denn auch, der die Katastrophe des Jahres 70 n.Chr. im Unterschied zu den jüdischen Religionsparteien der Zeloten, der Sadduzäer und Essener überlebt hat, um fernerhin im Rabbinismus fortzuwirken, in den er sich allmählich aufhob. „Der Pharisaismus bildete den Übergang zum Talmudjudentum.“ (Wellhausen, 282) Mit dem Ende des großen jüdischen Krieges geDie synagogale Gemeinde gen Rom in den Jahren seit 66 n.Chr., der nach Ausbruch und anfänglichen Erfolgen der Revolution zur Zerstörung des Tempels und zur Vernichtung der Aufständischen geführt hatte, war mit dem Synhedrium nicht nur der letzte Rest politischer Selbständigkeit des Judentums beseitigt, sondern auch dem Opferkult ein definitives Ende bereitet. Die Kriege unter Trajan und das desaströse Ergebnis der von Bar Kochba angeführten Aufstände unter Hadrian (132–135 n.Chr.) besiegelten nur noch diesen Sachverhalt. So schrecklich die Ruinierung des Tempels und seine Entweihung das zeitgenössische Judentum auch anmuten musste: ganz unvorbereitet wurde es durch den furchtbaren Schlag in religiöser Hinsicht dennoch nicht getroffen, da für die fromme Gemeinschaft in Gestalt der Synagoge längst eine Stätte opferloser praxis pietatis ausgebildet war. Unter Voraussetzung gehöriger geschichtlicher Einbildungskraft lassen sich die synagogalen Anfänge bis in die Tage des babylonischen Exils rückdatieren, als sich die Exulanten in der Gola fern von Jerusalem zum Gottesdienst ohne Opfer versammelten. Naheliegender und historisch besser fundiert ist die Annahme, dass mit dem Beginn einer dem Tempelkult beigeordneten synagogalen Institution seit den Zeiten fortschreitender Emanzipation professioneller Schriftgelehrsamkeit vom Priesterstand zu rechnen ist. Tatsächlich hat die Synagoge ihrer Ursprungsbestimmung gemäß als Lehrhaus zu gelten, in der neben

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Familie und Schule in engerem Sinne die religiöse Unterweisung des Volkes im Gesetz durch Torakundige erfolgte. Wie sich die Synagogengemeinde zur politischen verhielt, hing wesentlich von den jeweiligen Orts- und Zeitgegebenheiten ab. Konnte in selbständigen oder teilsouveränen Gemeinden mit ganz oder ausschließlich jüdischer Bevölkerung eine tendenzielle Deckungsgleichheit bestehen, so bleibt davon die Tatsache unberührt, dass die Synagogengemeinde eine im Wesentlichen religiöse, von zivilen Verbänden unterscheidbare Größe darstellte. Ihr primärer identitätsbildender und -erhaltender Zweck war die Toraunterweisung in Form ausgewählter Schriftlektionen und entsprechender Auslegungen. In welcher Weise sich hieraus die festgefügte Ordnung etwa des Sabbatgottesdienstes entwickelt hat, kann hier ebensowenig erörtert werden wie Herkunft und Stellung von Schema und Schemone esre im jüdischen Gebetsleben. Konstatiert sei lediglich, was die synagogale Gemeinde seit alters als das Wichtigste zu hören bekam und was jeder gläubige Jude als das Entscheidendste zu bekennen hatte, dass nämlich Jahwe, der Gott Israels, einzig und in seiner Einzigkeit mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft zu lieben sei (Dtn 6,4). In diesem Gebot sind alle weiteren Bestimmungen der Tora samt der sonstigen heiligen Schriften des Judentums inbegriffen. Die Forderung eines konsequenten Lebens unter dem Gesetz ergab sich aus der gebotenen Liebe des alleinigen Gottes von selbst, wobei sich der Imperativ, das Gesetz vorbehaltlos zu erfüllen, mit dem Indikativ einer göttlichen Belohnung des Gerechten verband. Erwartete man diese und die Bestrafung der Sünder in Israel ursprünglich für das irdische Leben des Volkes und seiner Glieder, so rechnen die pharisäischen Schriftgelehrten mit einem eschatologischen Endgericht und rezipieren damit eine Tradition, wie sie im weisheitlichen Kontext und in der Apokalyptik in Anbetracht erfahrungsmäßiger Unstimmigkeit des Tun-Ergehens-Zusammenhangs ausgebildet wurde. Dass die in Schule und Synagoge gepflegte Torafrömmigkeit unter pharisäischen Bedingungen zu Veräußerlichungen und zu einer Formalisierung des religiösen Lebens führen konnte und tatsächlich führte, ist unbestreitbar. Nicht nur die weitverzweigte Kasuistik der Sabbatgesetzgebung liefert hierfür ein ekklatantes Beispiel. Es gab in der pharisäischen Schriftgelehrsamkeit sicherlich, wie Paulus moniert, Eifer für Gott ohne Erkenntnis: „Da sie die Gerechtigkeit Gottes verkannten und ihre eigene aufrichten wollten, haben sie sich der Gerechtigkeit Gottes nicht unterworfen.“ (Röm 10,3) Doch sollte man weder die paulinische Kritik, welche die Auferstehung des durch das Gesetz hingerichteten Gekreuzigten zur Voraussetzung hat, noch die Weheworte Jesu gegen Schriftgelehrte und Pharisäer (vgl. Mt 23,1–39; Lk 11,37–54) zum Anlass nehmen, die von diesen eingeschärfte Toraobservanz pauschal mit dem Verdikt der Gesetzlichkeit zu belegen. Julius Wellhausen hat den Gang der israelitischen Religionsgeschichte bei grober Betrachtung gekennzeichnet als einen Weg von einer sich mühsam von den Niederungen der Naturmächte emanzipierenden nationalen Volksreligion zu den lichten Höhen eines Prophetismus universaler Sittlichkeit hinab zu einer zwar nicht von

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heute auf morgen (Wellhausen, 193: „es dauerte lange, bis der Kern hinter der Schale verholzte.“), aber allmählich in dem auf ständige Wiederholung abgestellten Regelwerk des Kults und in der Zwanghaftigkeit monokratischer Ordnungen erstarrenden Gesetzesreligion. Nur das ältere Judentum der Prophetie war nach Wellhausen anschlussfähig für das Christentum, als dessen „Vorstufe“ (ebd.) es sich betrachten lässt; für die spätere Entwicklung in hellenistischer Zeit bleiben offenbar nur Verdikte wie exklusiver Partikularismus, hierokratischer Formalismus und Heteronomie übrig. Bei genauerem Zusehen differenziert sich allerdings das Bild: Zwar beurteilt Wellhausen die jüdische Theokratie, deren Urheber Mose etwa im gleichen Sinne gewesen sei wie Petrus der Stifter des Papsttums, nicht günstig, und den Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Tora kommentiert er mit dem Bild von den ursprünglich lebendig sprudelnden Quellwassern, welche von Epigonen kanalisiert und in Zisternen gefasst worden seien. Aber zugleich konstatiert er, dass es harter Schalungen bedurft habe, um den ethischen Monotheismus in widriger Zeit zu erhalten. Muss das Verdikt der Gesetzlichkeit bereits im Hinblick auf die zu Zeiten Jesu in Palästina herrschende religiöse Lage als Pauschalurteil erscheinen, so gilt das umso mehr, wenn man die Verhältnisse in der jüdischen Diaspora ins Auge fasst und die Perspektive nicht auf den engen Rahmen Palästinas beschränkt. Jüdische Diasporagemeinden gab es, wie die assyrischen und babylonischen Deportationen zeigen, nicht erst seit hellenistisch-römischer Zeit. Doch hat ihr Umfang seit der Ära der Diadochen durch freiwillige Auswanderung und Migration von palästinischen Juden enorm zugenommen und sich weit über die Euphratländer ausgedehnt. Zahlreiche jüdische Ansiedlungen und entsprechende Bevölkerungsanteile sind vor allem in den Nachbarländern Syrien und Ägypten zu verzeichnen, in dessen äußerstem Süden es bereits im sechsten Jahrhundert v.Chr. eine jüdische Gemeinde von bleibendem Bestand gegeben hat, wie die Funde aus Elephantine gezeigt haben. In der hellenistisch-römischen Epoche gehörten die Metropolen Antiochia und Alexandrien zu den bevorzugten jüdischen Wohngebieten. Zu nennen sind fernerhin die mediterranen Hafen- und Handelsstädte vor allem an der ionischen Küste, fernerhin in der Cyrenaica und im sonstigen Nordafrika. Auch in Rom sowie in den meisten anderen großen Städten Italiens gab es zeitig jüdische Ansiedelungen, die in heidnischer Welt den Glauben der Väter pflegten wie im Heiligen Land. Aus Inschriften geht hervor, „daß die Juden in Rom eine größere Anzahl einzelner selbständig organisierter Gemeinden ... bildeten, jede mit einer eigenen Synagoge, eigener Gerusia und eigenen Gemeindebeamten.“ (Schürer III, 81; bei S. teilweise gesperrt) Staatsrechtlich hatte das Judentum im Römischen Reich die Stellung einer religio licita. Freie Religionsausübung war gesetzlich anerkannt, die Erlaubnis, sich zum Kultus zu versammeln und korporativ zu organisieren, gegeben. Neben sonstigen Privilegien wurde das Recht eigener Vermögensverwaltung und in beschränktem Maße Jurisdiktionsvollmacht bezüglich der eigenen Mitglieder eingeräumt. In welchem Umfang dazu die Strafgerichtsbarkeit gehörte, ist Palästinisches Judentum und jüdische Diaspora

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rechtsgeschichtlich umstritten; dass ihr Schranken durch die herrschende Ordnungsmacht gezogen waren, versteht sich von selbst. Das Beispiel des Paulus zeigt, dass Juden im Römischen Reich volles Bürgerrecht besitzen konnten. Die bürgerliche Gleichberechtigung blieb durch Konversion aus einer nichtjüdischen Religion zum Judentum ungefährdet. Dass seit hellenistischen Zeiten viele Proselyten gemacht wurden, steht fest. Die Missionserfolge der jüdischen Gemeinden waren beachtlich. Dadurch wurde die Zahl der Angehörigen von jüdischen Diasporagemeinden im Laufe der Zeit erheblich gesteigert. Ermöglicht wurde der Erfolg der jüdischen Religion in der griechisch-römischen Welt abgesehen von einer allgemeinen Orientneigung des Zeitgeistes durch ihren strikten Monotheismus, der von vielen als dem herrschenden Polytheismus prinzipiell überlegen erachtet wurde, durch konsequente Annahme göttlicher Transzendenz, welche die Gottheit jeder sinnlichen Anschauung und bildlichen Vorstellung entzog, sowie durch die praktische Abzweckung des religiösen Lebens auf konkrete Sittlichkeit hin, wie sie durch den Willen Gottes geboten war. Dass die Verbindlichkeit der Tora für Proselyten auf Grundsätze der Humanität und auf Maximen allgemeinverbindlichen Verhaltens reduziert wurde, ist unzutreffend. Jeder Mann, der in eine jüdische Gemeinde aufgenommen werden wollte, musste sich beschneiden lassen und einem levitischen Reinigungsbad gemäß Lev 11–15 und Num 19 unterziehen. Auch ansonsten war die Tora für Proselyten verpflichtend und zwar grundsätzlich uneingeschränkt und in ihrer Gesamtheit. Die Scheidewand, die Juden von Nichtjuden und Torafromme von Gesetzeslosen trennte, wurde durch den Proselytismus keineswegs aufgehoben. Juden und, mit Luther zu reden, Judengenossen bildeten eine geschlossene, nach außen hin klar konturierte Gemeinschaft. Im Übrigen waren die Proselyten wie alle anderen Diasporajuden gehalten, die Verbindung mit dem palästinischen Judentum zu pflegen, alljährlich die gesetzlich gebotenen Tempelabgaben zu entrichten und an Pilgerreisen nach Jerusalem teilzunehmen. Insofern dürfen die Differenzen zwischen dem Diasporajudentum und dem Judentum in Palästina nicht übertrieben werden. Was beide vereinte und von der nichtjüdischen Umwelt unterschied, bedeutete mehr als vereinzelte Differenzen. Die jüdische Religion war in griechisch-römischer Zeit eine besondere Größe mit spezifischer Identität und einer klaren Tendenz zur Besonderung. Doch zeigen sich zugleich universalistische Entwicklungen, die dem jüdischen Partikularismus nicht einfach gegenläufig waren, sondern in gewisser Weise aus dessen Besonderheit hervorgingen. Allein die Tatsache, dass Proselyten in ihren Pflichten und Rechten nach dem Urteil jüdischer Religion als den geborenen Juden gleichgestellt erachtet wurden, belegt einen universalistischen Zug, der über ethnisch motivierte Grenzen hinaus ins Menschheits- und Weltgeschichtliche verwies. Dass das spätantike Judentum spezifisch darauf angelegt war, die durch seine Eigentümlichkeit gesetzten Grenzen zu transzendieren, wird fernerhin an der Anerkennung sichtbar, die jenen zuteil wurde, die im Unterschied zu den Proselyten nicht förmlich konvertierten, aber das Sabbatgebot und die mosaischen Speisege-

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bote einzuhalten bereit waren. Ihnen wurde der Ehrentitel von „Gottesfürchtigen“ (Apg 10,2) zuerkannt. Darin deutet sich eine Offenheit an, die auch unter anderen Aspekten wahrzunehmen ist und unter Diasporaverhältnissen naturgemäß offener zutage tritt als in genuin jüdischer Umgebung. Wesentlich angebahnt wurde die Entwicklung zur Entschränkung des Eigenen auf sprachlichem Wege: der Diasporajude spricht Griechisch und zwar nicht nur um seiner Bildung willen, sondern aus Gründen der Alltagsbewältigung. Mit dem Griechischen und der ihm eigenen Begriffswelt gewinnt die hellenistische Kultur Einfluss auf das Judentum, das seinerseits zu einem wichtigen Faktor innerhalb des Hellenismus wird. Zwar bleibt es die primäre Funktion der Tora, zu urteilen und richtend zu scheiden zwischen gottgefälligem und gottwidrigem Wesen. Aber diese Scheidung betrifft nicht nur das Außenverhältnis von Judentum und Heidentum, sondern wird mehr und mehr ins Innere verlegt, so dass die Scheidelinie, welche das Gesetz zieht, gewissermaßen durch jeden Einzelnen hindurchgeht. Dieser Verinnerlichung korrespondiert das Bemühen, die Verbindlichkeit des Gesetzes nicht allein durch Verweis auf autoritative Vorschrift zu begründen, sondern mit Vernunftargumenten zu plausibilisieren. Die symbolisch-allegorische Auslegung der Tora, deren äußerer Literalsinn in eine höhere Einsicht aufzuheben sei, gehört in diesen Zusammenhang. Ohne dass man sich dadurch dem Verdacht des Antinomismus aussetzte, wurde die Allegorese im Verein mit vergleichbaren Auslegungstechniken zum hermeneutischen Schlüssel, die Tora ihres statutarischen Charakters zu entkleiden und mit der lex naturalis allgemeiner Menschenvernunft in Beziehung zu setzen. Die Ersetzung des Opferkults durch den Synagogengottesdienst, wie sie für das Diasporajudentum alternativlos war, verstärkte diese Entwicklungstendenz. Mit dem Kultischen und Zeremoniellen trat das Statutarische des Gesetzes insgesamt in den Hintergrund zugunsten der religiösen und sittlichen Idee in ihrer für alle verbindlichen Allgemeinheit. Nicht dass das Jüdische unter den Diasporajuden generell geringer geschätzt worden wäre als unter den Juden Palästinas. Davon kann nicht die Rede sein. Gleichwohl hat allein die Notwendigkeit, den hebräischen Bibeltext ins Griechische zu übersetzen und den Synagogengottesdienst unter Zugrundelegung einer griechischen Übersetzung der Bibel in griechischer Sprache zu gestalten, eine Transformation des Jüdischen bewirkt, die in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. Sie hat erheblich dazu beigetragen, den jüdischen Partikularismus zu entschränken bzw. jene universalen Züge stärker hervortreten zu lassen, die dem Toramonotheismus der Judenheit im Unterscheid zum Polytheismus und zu Formen religiöser Herrschaftsüberhöhung eigneten, wie sie im Kaiserkult geübt wurden. Gott ist einer, und der eine Gott ist gerecht: Durch die Verkündigung dieser Einsicht, die im Zentrum ihres Bekenntnisses stand, sollte das Judentum zum Licht der Heiden werden, das allgemeine Erleuchtung herbeiführt, statt die Aufklärung durch göttliche Offenbarung sich selbst vorzubehalten. In der Ökumene der hellenistischen Diaspora konnte diese universale, auf Universalisierung gerichtete TenUniversalisierungstendenzen

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denz forciert zur Geltung kommen. Zur Weltreligion ist das Judentum nicht allein und nicht erst durch das Christentum geworden, wenngleich der jüdische Universalismus in vorchristlicher Zeit in unausgeglichener Spannung zu der Annahme stand, Jahwe sei der Gott Israels, der ausschließlich dieses Volk zum Heil erwählt habe. Zur Problematisierung dieser Annahme und zur Aufhebung des jüdischen Partikularismus in den universalen Zusammenhang einer Welt- und Menschheitsreligion hat das Diasporajudentum Wesentliches beigetragen, was nur deshalb der Fall sein konnte, weil dem Judentum in seiner ethisch-monotheistischen Gestalt insgesamt eine Universalisierungstendenz eigen war, die sich auch unabhängig vom Christentum allgemeines Ansehen verschaffen konnte. Die Differenz von Judentum und Christentum ergibt sich denn auch nicht primär aus der Alternative von Partikularismus und Universalismus, sondern aus der unterschiedlichen Stellung zur Heilsbedeutung des Gesetzes gerade in seiner Allgemeinverbindlichkeit, die vom Christentum nicht bestritten, sondern unbestritten vorausgesetzt wurde. Davon wird im christologischen Kontext noch ausführlich zu handeln sein. Was das Verhältnis von palästinischem Judentum und dem Judentum der hellenistischen Diaspora angeht, so lässt es sich als differenzierte Einheit kennzeichnen, die Unterschiede, aber keine fundamentalen Gegensätze und Trennungen aufweist. Die Grenze zwischen beiden Größen ist für die Zeit und Vorzeit Jesu nicht immer konturenscharf zu ziehen. „Es hat palästinensisches Judentum auch außerhalb Palästinas gegeben, wie umgekehrt auch hellenistisches Judentum in Palästina.“ (Schürer III, 189) Doch ist der Einfluss hellenistischer Kultur in der Diaspora naturgemäß größer, wohingegen in Palästina die herkömmliche Überlieferung selbstverständlicher in Geltung stand. Ein jüdischer Gesetzeslehrer der Diaspora hatte andere Begründungspflichten als ein pharisäischer Schriftgelehrter in Palästina, der sehr viel direkter auf die vorgegebene Toratradition und die geistliche Pflicht, ihr zu gehorchen, Bezug nehmen konnte. Im Übrigen war der traditionelle Opferkult in der Diaspora von Anbeginn nicht möglich, wohingegen er in Jerusalem und Judäa erst mit der Zerstörung des herodianischen Tempels aufhörte. Unterschiede in der Gestaltung des religiösen Lebens und in der Wahrnehmung seiner Wertigkeiten ergaben sich hieraus von selbst. Auch wo die Absicht, den Opferkult programmatisch zu kritisieren, gänzlich fehlt, tritt in der jüdischen Diaspora die gesetzliche Kultvorschrift und mit ihr gelegentlich die rituelle Weise religiösen Lebens überhaupt aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit, um einem universalen Gerechtigkeitsstreben auf der Basis von Furcht und Liebe zum einen Gott in seiner Einzigkeit Platz zu machen und die Möglichkeit zu eröffnen, dem heidnischen Spott über die Enge jüdischer Gesetzlichkeit argumentativ zu begegnen. Das Interesse, die Wahrheit der jüdischen Religion nicht allein durch Berufung auf die göttliche Autorität der Tora, sondern argumentativ zu erweisen, kommt in den Schriften des hellenistischen Diasporajudentums neben apologetischen Werken namentlich in derjenigen Literaturgattung zur Geltung, die an die Weisheitstradition anschließt und sie zu wissenschaftlich-philosophischer Form fortentwickelt. Neben Jesus Sirach als einem Vertreter palästinisch-jüdischer Spruchweisheit

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wurde aus dem Bereich der jüdisch-hellenistischen Weisheitsliteratur bereits auf die „Weisheit Salomonis“ Bezug genommen, welche der alten israelitischen Spruchweisheit formal vergleichsweise nahe steht und inhaltlich manche Gemeinsamkeiten mit der hebräischen Weisheit eines Jesus Sirach aufweist, obwohl die Einflüsse griechischer Philosophie offensichtlich sind. Noch deutlicher treten diese bei einem hellenistischen Juden wie Aristobulos zutage, demzufolge die griechische Philosophie ihre Einsichten aus der Lehre des Moses gewonnen habe, oder im sog. vierten Makkabäerbuch, einer stoisch geprägten Rede zum Erweis unbedingter Herrschaftsmacht frommer Vernunft. Die engste und eindrucksvollste Verbindung sind Philo von Alexandrien hebräische Weisheit und wissenschaftliche Philosophie der Griechen bei Philo eingegangen. Der vornehme Alexandriner und Zeitgenosse Jesu, dessen Bedeutung „für die Bibelausleger in der Alten Kirche nicht hoch genug eingeschätzt werden“ (Deines/Niebuhr [Hg.], 5) kann, war wie kein anderer bemüht, die Vereinbarkeit von philosophischer Erkenntnis und Toraglauben zu erweisen. In der von ihm bevorzugten Gattung der Kommentarliteratur bediente er sich dazu allegorischer Pentateuchexegese, ohne deshalb den Literalsinn der Texte einfach preiszugeben. Im Zentrum der eklektizistischen Gedankenwelt Philos, dessen hauptsächlich auf Griechisch erhaltene Schriften nur schwer in eine inhaltliche und chronologische Ordnung zu bringen sind, steht der in seiner absoluten Einzigkeit allem Endlichen jenseitige Gott, dessen Transzendenz sich immanent durch den göttlichen Logos vermittelt, der nach Maßgabe der von Philo rezipierten stoischen Theorie die Schöpfung durchwaltet und in der mit praktischer Vernunfterkenntnis übereinkommenden Tora manifeste Gestalt annimmt. Als Manifestationsgestalt des göttlichen Schöpfungslogos ist die Tora wesensgemäß nicht nur Gottes Gebot für Israel, sondern Weltgesetz von kosmischer Bedeutung. Mose darf daher als erster Philosoph gelten, von welchem alle folgenden Weltweisen gelernt haben, Abraham als Ideal torafrommer Tugend, der für die ganze Menschheit vorbildlich ist. In Philo von Alexandrien und nicht nur in ihm verbindet sich jüdische Frömmigkeit mit Philosophie und „geht über den Begriff, den das Altertum mit Religion verband, hinaus. Die Richtung des jüdischen Geistes konvergiert mit der Richtung, die der griechische Geist etwa seit dem sechsten Jahrhundert vor Chr. genommen hat. Hier wie dort stellt sich der Gegensatz zum Ethnicismus dar; wer Pythagoras und Äschylus oder gar Sokrates und Plato Heiden nennt, verbindet mit dem Wort keinen Begriff mehr. Man verwirft das Leben in den Tag hinein, man fragt nach seinem Sinn und richtet es ein auf Grund einer persönlichen Überzeugung. Der Monotheismus selber ist in gewissem Sinne Philosophie, das Ergebnis einer gewaltigen Abstraktion des Geistes von allem Sinnenfälligen. Ein Wunder ist nur, daß den Juden ihr Gott kein Abstractum geworden, sondern die lebendigste Persönlichkeit geblieben ist. So erhielten sie sich doch ihre Religion, sie waren davon ganz anders durchdrungen und überzeugt als die Griechen von ihrer Philosophie, die gegen den Götterglauben des Volkes gewöhnlich eine merkwürdige Toleranz bewies.“ (Wellhausen, 212f.)

9. Aspekte hellenistisch-römischer Religionskultur in der Umwelt des Urchristentums

Lit.: U. Barth, Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005. – G. Boccaccini, Middle Judaism. Jewish Thought, 300 B.C.E. to 200 C.E., Minneapolis 1991. – W. Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart 1977. – J.G. Droysen, Geschichte des Hellenismus. 3 Bd. Neuausgabe hg. v. E. Bayer, Basel 1952–54. – E. Ferguson, Backgrounds of Early Christianity, Grand Rapids 21993. – M. Hengel, Die Hellenisierung des antiken Judentums als Praeparatio Evangelica, in: Ders., Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I, Tübingen 1996, 295–313. – H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist. Teil 1: Die mythologische Gnosis, Göttingen 41988. Teil 2: Von der Mythologie zur mystischen Philosophie. Erste und zweite Hälfte hg. v. K. Rudolph, Göttingen 1993. – H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums. 2 Bd., Stuttgart/Berlin/Köln 1995f. – H. Köster, Einführung in das Neue Testament im Rahmen der Religionsgeschichte und Kulturgeschichte der hellenistischen und römischen Zeit, Berlin/New York 1980. – L.H. Martin, Hellenistic Religions. An Introduction, New York/Oxford 1987. – M. P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion. Zweiter Band: Die hellenistische und römische Zeit, München 2 1961. – W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996. – B. Reicke, Neutestamentliche Zeitgeschichte. Die biblische Welt von 500 v.Chr. bis 100 n.Chr., Berlin/New York 21982. – H. Temporini/W. Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung, II.17,1–4: Religion (Heidentum: Römische Götterkulte, orientalische Kulte in der römischen Welt), Berlin/New York 1984.

Die Beziehung des Christentums zur alttestamentlichen Tradition einschließlich dessen, was Der Hellenismus man „Middle Judaism“ (G. Boccaccini) genannt hat, ist ungleich enger als zu den religiösen Überlieferungen der griechisch-römischen Welt. Gleichwohl dürfen die griechische und die römische Religionsgeschichte nicht unberücksichtigt bleiben, wenn die Anfänge der christlichen Bewegung angemessen verstanden werden sollen. Zwar ist die Urkirche aus dem jüdischen Raum Palästinas hervorgegangen und entscheidend von der alttestamentlichen Tradition geprägt. Doch hat das frühe Christentum in der griechischen und römischen Welt bald Fuß gefasst und erhebliche Missionserfolge erzielt. Dabei wurden Einflüsse der heidnischen Kultur unbeschadet aller kritischen Abgrenzungsbedürfnisse zum Teil adaptiert und nichtjüdisches Gedankengut konstruktiv aufgenommen. Das gilt umsomehr, als bereits das Judentum zur Zeit Jesu insbesondere in der Diaspora mit hellenistischen Elementen durchwirkt war.

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Aspekte hellenistisch-römischer Religionskultur

Unter Hellenismus versteht man seit Johann Gustav Droysen (1808–1884), der in seinen althistorischen Werken den Begriff prägte, die in raumgreifender Weise durch Alexander d. Gr. (356–323 v.Chr.), in Ansätzen bereits vor ihm eingeleitete Kulturepoche, in welcher das Griechentum über seine Stammlande hinaus weit in den asiatischen Raum vordrang und eine Synthese okzidentaler und orientalischer Kultur vollzog. Mag man auch das politische Ende des Hellenismus auf den Beginn der römischen Weltherrschaft in den Jahrzehnten vor der Zeitenwende datieren, so wirkt seine soziokulturelle Prägekraft weit über dieses Datum hinaus bis zum Ausgang der Antike. Zentrum hellenistischer Kultur waren die nach Muster der Poleis gestalteten Städte, unter denen neben Athen oder Pergamon Antiochia und das von Alexander Anfang 331 v.Chr. gegründete Alexandria hervorragten. Verkehrssprache des Hellenismus war die Koine. In ihr brachte sich eine aus der Gebundenheit an örtliche Vorgaben weitgehend abgelöste Zivilisation von einzigartiger Formkraft zum Ausdruck, die den Anspruch einer euroasiatischen Weltkultur erheben konnte. Was die hellenistische Staatenwelt anbelangt, so ist sie auf der Basis der bis zum Indus reichenden Staatsgründung Alexanders im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen den Diadochen und ihren Nachfolgern entstanden. Droysen hat diesen Prozess in seiner dreibändigen Geschichte des Hellenismus spannend und bei allen Korrekturnotwendigkeiten im Detail in einer nach wie vor überzeugenden Weise beschrieben: „Der Name Alexander bezeichnet das Ende einer Weltepoche, den Anfang einer neuen.“ (Droysen I,3) Im Alexanderbuch, das in der zweiten Auflage des Werkes in den Gesamttitel einbezogen wurde, wird zur Maßregel der Politik des großen Makedonen die Verschmelzung Asiens und Europas erklärt, die er „als die Folgewirkung seiner Siege, als die Bedingung der Dauer dessen, was er schaffen wollte, erkannte und in allmählicher Erweiterung durchzuführen versucht hat“ (Droysen I,307). Als wichtigstes soziokulturelles Wirkmittel dieser Verschmelzung galt ihm dabei die hellenische Bildung als „die Summe der geschichtlichen Entwicklungen der Griechenwelt“ (Droysen I,308). Sie stellte in der ihr eigenen Flexibilität und Weltoffenheit den wichtigsten Faktor der Integration und Durchformung alexandrinischer Eroberungsgebiete dar. Zwar wird man den Hellenismus nicht als Einheitskultur, sondern als ein Mischprodukt griechischer und nichtgriechischer Elemente zu charaktierisieren haben. In religionsgeschichtlicher Hinsicht spricht Droysen mit Recht von „Theokrasie“ (Droysen III,18). Gleichwohl war es die hellenische Bildung, welche die euroasiatische Gemengelage des von Alexander geprägten Zeitalters vor dem umgehenden Zerfall bewahrte und entscheidende Synthetisierungsleistungen von dauerhafter Wirkung erzeugte. So blieb der Hellenismus als Ineinsbildung morgen- und abendländischer Traditionen unter Vorrang hellenischer Bildung nach dem Untergang des Reiches von Alexander nicht nur erhalten, sondern wirkte in gesteigerter Form fort, um tendenziell unabhängig von politischen Konflikten zur geistigen Weltmacht zu werden. Mag Alexander der Anfänger einer neuen Weltepoche oder der wirkmächtige Vollstrecker ihres ihm in Grundzügen bereits vorgezeichneten Gesetzes gewesen

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sein: Tatsache ist, dass das alexandrinische Geisteserbe vom Zerfall seiner Herrschaft und der 310/09 erfolgten Ausrottung seiner Dynastie weithin unberührt blieb. Zwar stehen die Diadochenreiche einander bald politisch selbständig und in voller Souveränität gegenüber. „Der neuen Könige Recht ist nicht mehr ihr makedonischer Ursprung noch ihr einstiges Verhältnis zum Reich Alexanders; sie haben sich Reiche erobert in dem eroberten Reiche Alexanders; sie sind zu einheimischen Königen geworden in den Ländern, die sie einst mit Alexander unterworfen.“ (Droysen II,360) Dennoch kommt Droysen im Diadochenband, in dessen Erstauflage von 1836 der Epochenbegriff erstmals an zentraler Stelle im Titel erscheint, sowie im nachfolgenden sog. Epigonenband, der die Torso gebliebene Geschichte des Hellenismus abschließt, mit Recht zu dem Ergebnis, dass die hellenistische Kultursynthese unter allen Wirren des nachalexandrinischen Zeitalters, „ja eben durch sie gefördert, ... an Umfang, Begründung und Mannigfaltigkeit“ (Droysen III,23) gewonnen hat, um auch noch nach Ende des politischen Hellenismus unter römischer Herrschaft in ungebrochener Mächtigkeit fortzuwirken. Was die hellenistisch-römische ReligionskulSynkretistische Religionstur in der Umwelt des Urchristentums betrifft, so kultur war sie in hohem Maße plural und synkretistisch verfasst. Vergleiche mit multikulturellen Gesellschaften der Gegenwart liegen gerade in religiöser Hinsicht nahe. Namentlich der Volksglaube setzte sich aus unterschiedlichsten Faktoren zusammen. Magische Praktiken wurden gepflegt, um die Gottheiten und göttliche Mächte für individuelle und kollektive Ziele zu gewinnen. Auch diversen Formen der Zauberei hat man gehuldigt. Großer Beliebtheit erfreute sich des Weiteren die Astrologie. Unter Annahme einer erfahrbaren Regelbeziehung zwischen Gestirnwelt und irdischen Vorgängen wurde versucht, das menschliche Schicksal aus Himmelskonstellationen in mythisch-symbolischer Weise zu deuten und vorausschauende Horoskope zu erstellen. Obwohl Anklänge an Sterndeuterei sich bekanntlich auch in der neutestamentlichen Überlieferung finden (vgl. Mt 2,1–12), gingen die Christen zur antiken Astrologie auf Distanz. Man teilte die alttestamentliche Kritik heidnischer Astralmythologien und Gestirnreligionen, wie sie in Assyrien und Babylon erstmals systematisch ausgebildet und in hellenistischer Zeit intensiv gepflegt wurden. Auch mit Wahrsagerei und Orakelwesen wollte man in der Regel nichts zu tun haben. Ein Bewusstsein des grundlegenden Unterschieds zwischen jüdisch-christlichem Prophetismus und heidnischem Sehertum war überall gegeben. Was im delphischen Heiligtum des Gottes Apoll seine klassische Heimstatt gefunden hatte und nach dem raschen Bedeutungsverlust Delphis in hellenistisch-römischer Zeit in Pythias Nachfolge an zahlreichen anderen Orten geübt wurde, befremdete die meisten Christen und stieß sie ab. Orakelsammlungen wie die römischen Oracula Sibyllina oder ähnliches sucht man im christlichen Kanon vergeblich. Wie zu Orakelwesen, Astrologie und Magie hielt das frühe Christentum auch zu Traum- und Zeichendeuterei gebührenden Abstand. Vogel- und Eingeweideschau zum Zwecke der Omenkunde und Auspizienerhebung, wie die Römer sie mit

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Hingabe übten, oder mantische Praktiken sonstiger Art waren den Christen ein Gräuel. Auch zu Wundermännern wie Apollonius von Tyana (4–96 n.Chr.) und Konsorten hielt man Abstand. Ein Vergleich Jesu mit dem „göttlichen Menschen“ Apollonius, dessen Biographie durch Philostrat in einem Abstand von mehr als hundert Jahren romanhaft überliefert ist, verbietet sich, da die von beiden berichteten Exorzismen, Krankenheilungen und Totenerweckungen auf einen wesentlich verschiedenen Skopus hingeordnet sind. Immerhin vermag die Apolloniustradition zu zeigen, auf welchen Rezeptions- und Erwartungshorizont die Jesusverkündigung in der frühen Kaiserzeit traf (vgl. Klauck I, 146). Im Übrigen aber ist Differenzierung geboten. Mit theios-aner-Konzepten hat die neutestamentliche Christologie nur höchst bedingt etwas zu tun. Anderslautende Thesen der religionsgeschichtlichen Schule sind mittlerweile überholt und falsifiziert. Nicht haltbar ist ferner die Annahme einer direkten Analogie zwischen den hellenistisch-römischen Mysterienkulten und der liturgisch-rituellen Praxis der frühen Christenheit. Bei den in der Antike am weitesten verbreiteten Mysterien des Dionysos, des Attis und der Magna Mater Kybele, der Isis oder des Mithras, die in den eleusinischen Mysterien ihr Urbild haben, handelt es sich um Geheimkulte mit strenger Arkandisziplin. Der rituelle Ablauf der Mysterienfeier ist durchweg mythisch grundiert. Er soll den durch Initiation Eingeweihten Partizipation am ewigen Geschick der Gottheit ermöglichen, das zumeist an natürlichen Wechselfällen und den Regelvorgängen der Natur orientiert ist. Der Kreislauf der Vegetation weist den Weg vom Tod zu immer neuem Leben. Im Göttermythos ist dieser Vorgang verdichtet, um im Mysterienritual in dem Interesse nachvollzogen zu werden, Anteil am Ewigbleibenden zu geben, das auch noch im Untergang besteht. Musste bereits die angezeigte Verbindung von Ritus und Mythos jedem Christen als suspekt und mit dem gottesdienstlichen Gedächtnis Jesu Christi unverträglich erscheinen, so wurden umso mehr ausufernde Bacchanalien, wie wir sie von den Dionysoskulten kennen, als grober heidnischer Unfug verurteilt. Das gilt entsprechend für die rauen Riten des Mithraskultes, der sich unter der römischen Soldateska besonderer Beliebtheit erfreute. Damit ist historisch nicht in Abrede gestellt, dass „die Mysterienkulte ... einen untrennbaren Bestandteil des nichtjüdischen Rezeptionshorizonts für die christliche Botschaft“ (Klauck I, 128) bilden. Auch ist nicht zu leugnen, dass es im Prozess der Inkulturation des Christentums zu Interaktionen mit den Mysterienkulten kam. Von einer genetischen Ableitung der gottesdienstlich-sakramentalen Vollzüge des Christentums aus den Initiationsriten, Waschungen, heiligen Mahlzeiten oder Salbungen der Mysterienkulte kann gleichwohl nicht die Rede sein. Die Botschaft vom auferstandenen Christus ist von grundlegend anderer Herkunft und Art als der naturnahe Mythos vom Sterben und Wiederaufleben der Gottheit, den die Mysterienkulte in unterschiedlicher Weise rituell nachvollzogen, um den Praktizierenden durch Unheil hindurch zum Heil zu verhelfen. Die Mysterienkulte erlebten vom 2. bis 4. Jahrhundert n.Chr. unter verstärktem orientalischen Einfluss ihre Blütezeit, wurden aber bereits lange davor und noch

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lange danach geübt. Obwohl sie im Verborgenen und in Distanz zum öffentlichen Kult stattfanden, enthalten sie doch viele Elemente, die sie von diesem übernommen haben. Dies gilt insbesondere für das Opferwesen als dem Zentrum des antiken cultus publicus. Während die jüdische Opferpraxis auf den Jerusalemer Tempel konzentriert war, um bis zu dessen Zerstörung wahrscheinlich auch von den palästinischen Judenchristen beibehalten und geübt zu werden, begegnet sie im griechisch-römischen Bereich an vielen Stätten. Zahllose Tempel und Altäre geben davon Zeugnis. Die Formen des rituellen Opfers sind vielfältig. Der Normalfall „bildet bei Griechen und Römern das sogenannte Schlachtopfer mit anschließendem Opfermahl“ (Klauck I, 28). Dabei wird ein Tier von befugten Personen, die im Zuge fortschreitender Spezialisierung bald den Kreis der Priester bilden sollten, rituell geschlachtet, um den Göttern eine Gabe darzubringen. Die Beweggründe hierfür können unterschiedlich sein; doch überwiegt neben dem Dank das Motiv, durch die Opfergabe göttliche Gunst zu erlangen bzw. wiederzugewinnen. Geopfert wird zum Zwecke der Unheilsverhütung, der Todesbewahrung und sicherlich auch der Schuldbehebung. Der Herstellung bzw. Wiederherstellung menschlicher Gottesgemeinschaft korrespondiert die spezifische Pflege der Gemeinschaft der Menschen untereinander, wie sie in der Verbindung des Schlachtopfers mit einer nachfolgenden Mahlzeit zutage tritt. Während die Götter neben Blut und Fett zumeist nicht einmal die Haut, sondern nur die Knochen der geschlachteten Tiere als Brandopfer empfangen, gehört der ess- oder anderweitig verwertbare Rest teils den Priestern, teils den übrigen Teilnehmern des Rituals, die im gemeinsamen Verzehr des Opferfleisches die religiöse Basis ihres sozialen Zusammenlebens erleben und erneuern. Nicht von ungefähr sind Opfervollzüge mit Feiern und Volksfesten vielfach verbunden. In Anbetracht seiner antiken Verbreitung ist es mehr als erstaunlich, dass dem Opferwesen im Christentum ein definitives Ende bereitet wurde. Zwar zog man christlicherseits die Opferterminologie nicht nur zur Deutung des Todes Christi, sondern nach geraumer Zeit auch zur Interpretation des Herrenmahls heran, zu dem sich die Gemeinden regelmäßig in ihren Gottesdiensten versammelten. Doch geschah dies in der Weise der Aufhebung des ursprünglichen und überlieferten Sinnes von Opfer, dessen wiederholter Vollzug durch das Kreuz Christi als ein für allemal erledigt galt. Dementsprechend kann von einer Wiederholung, Ergänzung oder gar von einem Ersatz des Kreuzesopfers Christi abendmahlstheologisch nicht die Rede sein. Der Vollzug des Abendmahls ist durch epikletische Anamnese des auferstandenen Gekreuzigten bestimmt, der seinem Gebot und seiner Verheißung gemäß im Mahl unter Brot und Wein kraft göttlichen Geistes heilsam präsent sein will für die Seinen. Auch wo sie als wirksame Vergegenwärtigung des ein für allemal gültigen Kreuzesopfers opfertheologisch gedeutet wird, ist die christliche Herrenmahlsfeier vom antiken Opferwesen kategorial unterschieden. Das trifft entsprechend für das Verhältnis christlicher Ämter zur überkommenen Institution des Priestertums zu. Während Juden und Christen in striktem Monotheismus einen einzigen Gott

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bildlos verehren und die Verehrung weiterer Götter als Götzendienst verwerfen, ist der in der Antike ansonsten geübte Kult polytheistischer Natur. Die Götter, denen geopfert wird und deren Präsenz im Inneren des Tempels durch Kultbilder sinnenfällig zur Darstellung kommt, sind zahlreich und von anthropomorpher Gestalt. Immerhin lässt der anthropomorphe Polytheismus der Griechen und Römer Hierarchisierungen nicht nur zu, sondern setzt sie förmlich voraus. An der Spitze der Götterwelt steht Zeus-Jupiter, der Vater der Götter und Menschen, dem Hera-Juno als himmlische Gattin zur Seite gestellt ist. Trotz der umfassenden Macht, die dem blitzenden und donnernden Olympier schon zu Zeiten Homers zuerkannt wurde, war seine göttliche Stellung niemals absolut. Nicht nur musste er seine Herrschaft mit anderen Göttern teilen, insbesondere mit seinen Brüdern Poseidon und Hades, dem Herrn der Unterwelt, auch hatte er die in den Moiren personifizierte Macht des Schicksals wenn nicht über, so doch neben sich. Am Los der Welt partizipierte auf seine Weise auch er. Seine weltüberlegene Transzendenz war nicht unbedingt, sondern beschränkt. Daran änderte sich grundsätzlich nichts, als aus dem griechischen Zeus der im Mythos mit ihm fast völlig identifizierte Jupiter optimus maximus wurde, dessen Heiligtum auf dem Kapitol sich zum sakralen Mittelpunkt des Imperium Romanum entwickeln sollte. Wie Zeus war auch Jupiter, wenngleich der Höchste und Beste, keine absolute Größe, sondern in seiner Souveränität vom Fatum begrenzt und im Übrigen trotz seiner herausragenden Stellung nur ein Gott unter vielen. Am griechischen Polytheismus änderte sich unter römischen Bedingungen nichts Grundlegendes. Aus Poseidon, dem oft grollenden Herrn der Meere, wurde Neptun, wohingegen die unterirdischen Geschäfte, deren Verrichtung nach dem Titanenkampf Hades zugefallen waren, Pluto übernahm, den die Römer auch Orcus nannten. Die dem Haupt des obersten Gottes entsprungene Schutzgöttin Athens waltete in Rom unter dem Namen der altitalischen Minerva ihres Amtes. Für den Kontrast von Hell und Dunkel, Maß und Grenzenlosigkeit, verständiger Fügung und rauschhafter Leidenschaft stehen die Göttergestalten des großen Ordners Apoll einerseits und des ekstatisch-orgiastischen Dionysos andererseits, der in Bacchus fortwirkt, dem römischen Gott der Fruchtbarkeit und des Weines. Zu erwähnen sind ferner Ares-Mars, der von personifizierten Gestalten des Streits, des Schreckens und der Furcht begleitete Kriegsgott, Hephaistos-Vulcanus, der Gott des Erdfeuers und der Schutzherr der Schmiede, sowie der volkstümliche Hermes-Merkur, himmlischer Bote, Gott des gesegneten Ausgangs und Eingangs und Urbild des guten Hirten, der in der hermetischen Literatur der Spätantike als Trismegistos in Verbindung mit dem altägyptischen Gott der Schrift und der Gelehrsamkeit eine auch für das Christentum wichtige Rolle als weiser Gesetzgeber spielen sollte. Unter den weiblichen Göttergestalten ragen hervor Artemis-Diana, die Herrin der freien Natur, die Altes zur Strecke bringt und aus der Zerstörung heraus Neues erschafft, sodann Demeter-Ceres, die Göttin der Vegetation und der Fruchtbarkeit sowie – last, but not least – Aphrodite-Venus, die schaumgeborene Göttin der Anmut, Schönheit Der griechisch-römische Götterhimmel

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und Liebe. Weitere griechisch-römische Götter und Halbgöttergestalten wie Herakles-Herkules wären unschwer aufzuführen. Außer im öffentlichen Kult wurden die meisten von ihnen auch privat, im Hauskreis der Familie oder in Kultvereinen verehrt, wie sie in hellenistisch-römischer Zeit weit verbreitet waren. Eine hervorgehobene Stellung in der Religionsausübung der heidnischen Antike kommt Herrscher- und Kaiserkult den rituellen Formen des Herrscher- und Kaiserkultes zu, die daher besondere Aufmerksamkeit verdienen. Die Anfänge religiöser Verehrung politischer Führergestalten, wie sie aus einer Verschmelzung von heroisierenden Totenkulten und profaner Verherrlichung Lebender hervorging, reichen weit hinter Alexander zurück und sind in orientalischen und namentlich ägyptischen Traditionen verwurzelt. Für die Institutionalisierung des Herrscherkults in der griechisch-römischen Antike hat indes eindeutig der große Makedone den Grund gelegt. „Die Bedeutung seiner alles überragenden Taten und seines bis zum Anspruch auf die Göttlichkeit gesteigerten Selbstbewußtseins ist für die Befestigung der bisher in Keimen vorhandenen Neigung, machtvollen Persönlichkeiten göttliche Ehren zu widmen, unermeßlich gewesen.“ (Nilsson II, 150) Die kultische Verehrung Alexanders als Gott, die schon zu seinen Lebzeiten erfolgte, hat späteren Machthabern nicht nur als Vorbild der Selbstverherrlichung gedient, sondern auch Anlass geboten, Herrscherkulte auf lokaler und dynastische Kulte auf Reichsebene auszubilden, wie das bei den Ptolemäern in Ägypten und später auch bei den Seleukiden in Syrien der Fall war. Dass der Kult politischer Macht auch ohne Alleinherrscher und monarchische Dynastien möglich war, belegt das Beispiel des republikanischen Roms, dem von Untertanenvölkern durch Verehrung der Dea Roma als Personifikation des Staates gehuldigt wurde. Diese den religiösen und politischen Ursprungstraditionen Roms fremde Praxis hat dann in der Divinisierung des Caesars und im Kult der römischen Kaiser fortgewirkt, dessen Entstehung sich insbesondere Einflüssen des hellenistischen Ostens verdankt. Die Formen sakraler Überhöhung des absolutistischen Prinzipals sind im Reich nicht einheitlich und treten nicht überall in gleicher Weise in Erscheinung. Offiziell ist etwa der große Augustus erst postmortal zum Staatsgott avanciert. Eine religiöse Verehrung seiner Person mit Tempel und förmlichem Kultdienst fand in Rom zu seinen Lebzeiten nicht statt. Anderswo, insbesondere in den östlichen Teilen des Reiches war man weniger zurückhaltend, und die Apotheose des Herrschers fand bereits während seiner Regentschaft statt. Doch handelt es sich dabei um Nuancen, wie denn auch die Frage, ob wirklich dem Kaiser oder lediglich für den Kaiser geopfert wurde, nicht eindeutig zu entscheiden ist. „Im Griechischen kann in beiden Fällen der Dativ stehen, was die genaue Bestimmung erschwert.“ (Klauck II, 62) Diese Uneindeutigkeit bleibt auch im Kult der julisch-claudischen und flavischen Kaiser erhalten, für dessen Gestaltung das von Augustus gegebene Vorbild maßgeblich war. Der Ort, der den Kaisern zuerkannt wurde, ist eine Mittel-, um nicht zu sagen: Mittlerstellung zwischen Göttern und Menschen. Da ihnen diese Stellung wesentlich als Amts- und Herrscherpersonen zuerkannt wurde,

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ist es müßig zu streiten, ob sie sich selbst eher als Götter oder als Menschen fühlten oder ob ihre Vergöttlichung erst nach ihrem individuellen Ableben oder bereits vorher stattfand. Worauf es ankommt, ist die in jedem Fall unstrittige Tatsache, dass im Kult, sei es der verstorbenen, sei es der lebenden Kaiser, der römische Staat in der Gestalt seiner obersten Repräsentanten mit der Aura des Göttlichen umgeben wurde. Just dagegen war der Protest des Christentums von Anfang an gerichtet. Auch wenn die Bedeutung des Kaiserkults für die Christenverfolgungen „meist zu hoch angesetzt“ (Klauck II, 74) wird und die Annahme unzutreffend ist, „daß Christen jederzeit und überall in Gefahr gestanden hätten, zum Opfertest vor ein Kaiserbild geschleppt zu werden und bei Nichtbestehen das Martyrium erleiden zu müssen“ (ebd.): die Vergöttlichung des Imperium Romanum in Gestalt seiner Kaiser war mit dem Bekenntnis zum auferstandenen Gekreuzigten als offenbarem Kyrios und Gottessohn ebenso wenig verträglich wie der anthropomorphe Polytheismus der griechisch-römischen Religionskultur. Gott ist einer, und als der wahre Weltenheiland erscheint nicht Augustus oder ein anderer Repräsentant des römischen Staates, sondern derjenige, in dessen Ohnmacht sich die göttliche Allmacht in der Wahrheit ihres Wesens erweist. Von der lukanischen Weihnachtsgeschichte bis hin zu Apk 13 wird dies vom neutestamentlichen Zeugnis bei aller Staatstreue in kritischer Klarheit bekundet. War das Verhältnis des frühen Christentums zu Christentum und griechiHerrscherkult, antikem Opferwesen, Mysterienrelischer Geist gionen und paganem Volksglauben im Wesentlichen durch Kritik und entschiedene Ablehnung bestimmt, so lässt sich insbesondere im Hinblick auf die philosophischen Strömungen der Zeit eine Vielzahl innerer Konvergenzen konstatieren. Sie betreffen sowohl die geistesgeschichtliche Entwicklungstendenz hin zum Ein-Gott-Glauben, dem viele unter den gebildeten Zeitgenossen den Vorzug vor dem volkstümlichen Polytheismus gaben, als auch das weite Feld der Ethik. An den Tugend- und Lasterkatalogen sowie an den Haustafeln des Neuen Testaments lassen sich manche Übereinstimmungen mit der sittlichen Urteilsbildung zeitgenössischer Philosophie nachweisen, und auch in der Gotteslehre gibt es eine Reihe von Berührungspunkten zwischen christlicher Theologie und einer philosophischen Metaphysik, die Gott und die Einheit Gottes um des Denkens willen für notwendig erachtete. Im Unterschied zur subjektivitätsorientierten Metaphysik der Neuzeit, welche die Bedingung möglicher Welteinheit im erkennenden und tätigen Subjekt gegeben und die Identität von Ich und Nicht-Ich in einem subjektförmig gedachten Absoluten begründet sieht, war die antike Metaphysik in aller Regel kosmologisch ausgerichtet. Das einzelne Seiende einschließlich des Menschen hat seinen Ort im kausal verbundenen Ganzen der Welt als einer innerlich bewegten Differenzeinheit, die in der Transzendenz einer absoluten Ursache gründet. Auf diese in unterschiedlichen Varianten vertretene Grundidee antiker Metaphysik konnte sich christliche Theologie konstruktiv beziehen, wie dies vorher schon die jüdische tat. Das geschah durchaus nicht unkritisch, aber doch so, dass philosophische Metaphysik als ein internes Problem der

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Theologie wahrgenommen werden konnte, das ihr zumindest nicht in jeder Hinsicht äußerlich war. Zwar ist der in Jesus Christus geschichtlich offenbare Gott in der Kontingenz seiner Selbsterschließung mehr und Anderes als der Grund der Welt, auf dessen Erkenntnis konsequentes Denken mit innerer Notwendigkeit hingeordnet ist. Aber er ist doch nach christlichem Urteil auch dies. Verfolgt man die aus kosmologischen Reflexionen sowie aus dem Nachdenken über das Denken und seine Vollzüge hervorgegangene Gottesidee antiker Philosophie auf ihre geschichtlichen Ursprünge zurück, gelangt man ins Griechenland des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts, wo der europäische Vernunftbegriff seinen Anfang nahm und der Grundstein gelegt wurde „für eine über zweieinhalbtausend Jahre währende Geschichte der Selbstthematisierung des Denkens“ (Barth, 3). Der denkerische Ansatz der sog. Vorsokratiker beeinflusste nicht nur die griechische, sondern die ganze abendländische Philosophie. Die milesische Schule der Naturforschung und ihre Hauptrepräsentanten Thales, Anaximander und Anaximenes begannen erstmals, die mythische Welterklärung gedanklich auf einen Urgrund aller Dinge hin zu hinterfragen, der allen Wechsel ermöglicht und ihn zugleich beständig überdauert. Die Bemühungen der Milesier, einen einheitlichen Weltgrund zu bestimmen, fanden in der von Xenophanes begründeten eleatischen Schule ihre Fortsetzung und führten zu dem Theoriegegensatz, für den exemplarisch die Namen Parmenides und Heraklit stehen. Während Parmenides alles Einzelseiende in seiner Vielheit und Veränderung in der Einheit des Seins begründet sah, dessen Identität ihm als das allein Wahre galt, ließ Heraklit nur das Differenzgesetz beständigen Wechsels gelten und zersetzte so den Begriff einer allem Wandel vorausgesetzten identischen Substanz. Aus dem Bedürfnis, die konträren Positionen zu vermitteln, gingen so unterschiedliche Lehren hervor wie diejenigen des Empedokles, des Anaxagoras oder Leukipps, des Begründers der atomistischen Schule von Abdera. Eine Sonderstellung nehmen die Pythagoreer ein, die – wie ihr Schulhaupt – anfangs keine Schriften, sondern mündliches Traditionsgut hinterließen. Der Urgrund des Seienden ist ihrem Urteil zufolge nicht stofflicher Natur, sondern Form in der Gestalt von Zahl und Zahlenverhältnissen, die das Wesen der Dinge und ihre Beziehung untereinander bestimmen. Auf die von etwa 600 bis etwa 450 v.Chr. reichende kosmologische Anfangsphase der Philosophie bei den Griechen folgte in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts v.Chr. eine Periode, die weniger an naturphilosophischen Problemen als an Fragen der sittlichen Lebensgestaltung des Menschen und der politischen Praxis orientiert war. Philosophiegeschichtlich epochemachend war die Gestalt des Sokrates (470–399 v.Chr.), der durch das Beispiel seines Lebens und Sterbens den sophistischen Skeptizismus überwand und mit dem Versuch, der Sittlichkeit durch wissenschaftliche Einsicht eine prinzipielle Basis zu sichern, der ihm folgenden Philosophie die Richtung wies. Zu ihrem unübertroffenen Höhepunkt gelangte das griechische Denken sodann in den Philosophien von Platon (427–347 v.Chr.) und Aristoteles (384–322 v.Chr.), in denen die vorsokratische Entwicklung aufgehoben und zur Vollendung gebracht wurde. Bereits im platonischen Denken lassen

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sich die wesentlichen Merkmale des Philosophiebegriffs namhaft machen, die seine weitere Geschichte bestimmen. Philosophie ist kritische Selbstbesinnung in der Absicht gedanklicher Letztbegründung, sie erfolgt in der Weise systematischer Begriffsarbeit, aus der zusammen mit theoretischen auch praktische Konsequenzen für die einsichtsgeleitete Lebensführung, kommunikative Bewährung von Reflexionskompetenz und Wahrnehmung politischer Verantwortlichkeit für das Gemeinwesen hervorgehen (vgl. Barth, 39ff.). An der Idee des Guten, in der Platons Philosophie Grund und Ziel findet, lässt sich die Einheit von Theorie und Praxis, auf die sein Denken angelegt ist, prinzipiell verdeutlichen, insofern das Gute seinem Begriff nachgerade darin entspricht, dass es das Gute sowohl ist als auch wirkt. Stimmt Aristoteles mit dem Philosophieverständnis Platons insoweit überein, so geben sich andererseits nicht unerhebliche Unterschiede zwischen beiden Denkern zu erkennen. Ist Platons Philosophie darin konsequent idealistisch, dass auch der kognitive Erwerb der Ideen, die an sich selbst intelligible Entitäten nichtsinnlicher Art sind, auf rein intelligible Weise erklärt wird, so ersetzte Aristoteles die platonische Anamnesislehre durch seine Theorie der Abstraktion, derzufolge die Ideen gewissermaßen Abziehbilder verschiedener Sinneseindrücke darstellen, die zu dem Zwecke geformt wurden, das allgemeine Wesen der Sache auf einen intelligiblen Begriff zu bringen. Dieser keineswegs nur die Erkenntnistheorie betreffende Unterschied hat sich als außerordentlich wirksam erwiesen und sich in der Differenz rein rationaler und empirieorientierter Denkungsarten kontinuiert, deren teils auf Ergänzung hin angelegte, teils gegenläufige Tendenz die gesamte abendländische Philosophiegeschichte durchwirkt. Auch die Geschichte des Christentums und insbesondere der christlichen Theologie ist davon nicht unerheblich betroffen, sofern es Platon und Aristoteles waren, welche die geistige Entwicklung der Alten und mittelalterlichen Kirche bis an die Schwelle der Neuzeit entscheidend, wenngleich in jeweils unterschiedlicher Intensität mitprägten. Was das Erbe Platons betrifft, so haben es die Theologen der Alten Kirche teils in Gestalt des Mittelplatonismus wie Origenes oder sein Lehrer Clemens von Alexandrien rezipiert, teils wie Augustin in Form des namentlich von Plotin repräsentierten Neuplatonismus. Aristoteles hinwiederum ist insbesondere in der scholastischen Theologie des Mittelalters bestimmend geworden, wofür Thomas von Aquin ein hervorragendes Beispiel gibt. Darauf wird zurückzukommen sein; einstweilen Produktive Rezeption sei nur die Tendenz markiert, die für die christliche Rezeption der großen Repräsentationsgestalten griechischen Denkens in Rekonstruktion und Kritik kennzeichnend ist. Der Anfang ist aus historischen und sachlichen Gründen mit Platon zu machen. In seinem Denken kulminiert nicht nur die vorsokratische Ursprungsgeschichte abendländischer Philosophie, der Platonismus war es zugleich, der im Zusammenhang der drei Hauptphasen seiner Schulentwicklung die christliche Theologie im Zeitalter ihrer Entstehung und ersten Entwicklung so tief geprägt hat wie keine andere Philosophie der Antike. Diese Prägung ist keine unmittelbare, sondern durch ei-

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nen spannungsvollen „Vorgang produktiver Rezeption“ (Pannenberg, 37) vermittelt, der Kritik einschloß. Die christlichen Korrekturen und Überformungen platonischer Lehren betreffen vor allem die Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Welt sowie die anthropologischen Grundlagen: Die neuplatonische Vorstellung eines stufenweisen Übergangs vom ersten Prinzip zum materiellen Kosmos wird abgelehnt, das freie Gegenüber des personal gedachten Schöpfergottes zum Geschöpf ebenso betont wie das Geschaffensein der Materie. Die trinitätstheologische Kritik des Gedankens des reinen Einen sowie der Weltseelenvorstellung gehört in diesen Kontext. Anthropologisch insistiert christliche Theologie unter Bestreitung von Platons Auffassung ihrer unsterblichen Göttlichkeit auf der Geschöpflichkeit der Seele und der Zusammengehörigkeit von Seele und Leib, die sich zwar unterscheiden, nicht aber trennen lassen. Dies „hat eine andere Auffassung und Würdigung der Individualität der einzelnen Menschen in ihrer je einmaligen Lebensgeschichte zur Folge und in Verbindung damit auch eine andere Vorstellung von persönlicher Unsterblichkeit als sie im Rahmen platonischen Denkens entwickelt wurde“ (Pannenberg, 62). In der Konsequenz dessen liegt eine das Weltgeschehen insgesamt umfassende Vergeschichtlichung des Wirklichkeitsverständnisses, die in dem von der geschichtlichen Einmaligkeit der Gestalt Jesu unablösbaren Inkarnationsgedanken ihre Basis findet. Eine Transformation der Kosmologie in Heilsgeschichte bahnt sich an, „die im Denken Augustins einen Höhepunkt erreichen sollte“ (Pannenberg, 65). Weitere christliche Revisionen des Platonismus, etwa die Anamnesislehre betreffend, ließen sich anführen. Obwohl platonische Motive im christlichen Denken des abendländischen Mittelalters und darüber hinaus bis in die Neuzeit wirksam geblieben sind, wurde seit dem 13. Jahrhundert für die lateinische Christenheit Aristoteles der Philosoph schlechthin. Ohne auf das Verhältnis aristotelischer und platonischer Kerngedanken näher einzugehen, deren Differenz in der Philosophie der Spätantike und in der patristischen Theologie weniger scharf empfunden wurde als in späteren Zeiten, sei lediglich festgehalten, dass auch die christliche Aristotelesrezeption keineswegs einen unkritischen, sondern einen konstruktiven Vorgang darstellte. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei die im Wesentlichen aus Gründen individuellen Auferstehungsglaubens erfolgte christliche Revision der aristotelischen Lehre vom aktiven Intellekt, der im Gegensatz zum Philosophen zu einem Bestandteil der menschlichen Seele erklärt wird. Dieser vor allem mit dem Namen Alberts des Großen verbundene Revisionsprozess stellt einen Vorgang von größter nicht nur theologie-, sondern auch philosophiegeschichtlicher Tragweite dar. Mit der Annahme, der intellectus agens sei integraler Bestandteil der Menschenseele, wurde nämlich dem in der Neuzeit selbstverständlich gewordenen Konzept produktiver Subjektivität menschlicher Erkenntnisvollzüge, also dem Konzept einer tätigen Menschenvernunft, erstmals Bahn gebrochen. Die Folgen dieses Vorgangs lassen sich, wie namentlich Kants Lehre von den Verstandesfunktionen in der transzendentalen Analytik seiner „Kritik der reinen Vernunft“ beweist, nicht zuletzt an der neuzeitlichen Umgestaltung der aristotelischen Kategorienlehre als der

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neben der Logik bemerkenswertesten und einflussreichsten Leistung des Philosophen studieren. Greifen die Bemerkungen zur christlichen Platon- und Aristotelesrezeption bereits weit über den Kreis der geistesgeschichtlichen Umwelt des Urchristentums hinaus, so lenkt der Verweis auf die Stoa als die neben Platonismus und Aristotelismus dritte für das Christentum besonders relevante Richtung antiken Denkens wieder in dessen direkten Kontext zurück. Verwiesen sei dazu lediglich auf die Diskussion, die Paulus gemäß Apg 17,18 auf der Agora in Athen mit „epikureischen und stoischen Philosophen“ führte. Dabei ist die geistige Nähe des Apostels zu den Stoikern ungleich größer als zu den Epikureern, worauf u.a. das Zitat aus einem stoischen Lehrgedicht in seiner Areopagrede hinweist (Apg 17,28). Während die christliche Theologie mit Epikur und seiner Schule nur wenig anzufangen wusste, ist die Haltung gegenüber den stoischen Weisen und ihrer Lehre sehr viel offener. Trotz dieser Offenheit und einer teilweise gegebenen Affinität bleibt das Grundverhältnis von christlicher Theologie und Stoa durch einen fundamentalen Gegensatz bestimmt: „Er war gegeben durch die Transzendenz des biblischen Gottes gegenüber der Welt. Die Stoiker hingegen behaupteten die vollständige Immanenz des Göttlichen im Kosmos.“ (Pannenberg, 93) Ihr kosmologisches Immanenzsystem lässt sich als monistischer Pantheismus auf materialistischer Basis charakterisieren. Das als Einheit gedachte Sein durchwirkt als materielles Substrat auf stoffliche Weise alles, was ist, ohne dass mit einer idealen Welt formgebender Prinzipien oder mit einem transzendenten Schöpfergott gerechnet werden dürfte. Auch der Logos, der die Welt durchwaltet und die Gesetze der Allnatur in sich begreift, denen zu entsprechen Sinnbestimmung vernünftigen Lebens ist, stellt keine transzendente, sondern eine weltimmanente Größe dar. Trotz des Immanentismus des stoischen Gottesverständnisses und einer dem Geist des Christentums fremden Weltfrömmigkeit der Stoa hat sich die christliche Lehre stoische Vorstellungen in einer bemerkenswert großen Zahl von Einzelzügen aneignen können. Zu nennen sind neben dem Logosbegriff die Idee des schöpferischen Pneuma, der Pronoiagedanke sowie Aspekte der Erkenntnislehre, insbesondere der Lehre von der natürlichen Gotteserkenntnis, des Naturrechts- und Gewissensverständnisses sowie der allgemeinen Ethik. Doch lassen sich unter allen genannten Gesichtspunkten mehr oder weniger einschneidende Modifikationen nicht übersehen. Daran bestätigt sich ein weiteres Mal, dass sich das Verhältnis des Christentums zum antiken Denken angemessen nur als Vorgang produktiver Rezeption beschreiben lässt. „Die christliche Theologie hat philosophische Gedanken rezipiert, aber das Christentum hat auch seinerseits das philosophische Bewußtsein verändert. Das geschah dadurch, daß der christliche Glaube ein neues Verständnis der Wirklichkeit erschlossen hat, sowohl der Wirklichkeit der Welt und ihres göttlichen Ursprungs als auch der Wirklichkeit des Menschen. Bestimmte Aspekte dieses neuen Verständnisses von Mensch und Welt sind zu Themen nicht nur der christlichen Theologie, sondern auch schon der philosophischen Besinnung geworden, ohne daß man sich ihres christlichen Ursprungs immer bewußt

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geblieben wäre. Sie sind einfach Bestandteile des allgemeinen Erfahrungsbewußtseins geworden.“ (Pannenberg, 106) Man kann fragen, ob die Rezeption der Stoa, die im lateinischen Westen vor allem durch den Eklektizisten Cicero vermittelt wurde, im Vergleich zu Platonismus und Aristotelismus einen selbständigen Strang in der Entwicklungsgeschichte christlicher Theologie darstellt. Eingewirkt hat stoisches Gedankengut auf die christliche Aufnahme der antiken Philosophieüberlieferung auf jeden Fall. Das gilt auch für den Kynismus, der in der frühen Kaiserzeit eine neue Blüte erlebte und trotz mancher Berührungspunkte mit der Stoa eine Größe von eigener Bedeutung darstellt. Insbesondere die radikale Forderung der Feindesliebe, wie sie sich etwa in Epiktets Kynikerdiatribe findet, legt einen Vergleich zur Jesusbewegung nahe. Doch ist es abwegig, diese in direkte Verbindung mit kynischen Traditionen zu bringen oder sie gar aus diesen abzuleiten. Vorwiegend polemisch und auf Abgrenzung bedacht ist, wie erwähnt, das christliche Verhältnis zum Epikureismus als der neben dem Stoizismus zweiten philosophischen Hauptströmung im hellenistischrömischen Zeitalter. „Both Epicureans and Stoics sought to liberate humans from fate, to make them self-sufficient and indifferent to externals. Their major concerns – undisturbedness (ataraxia) in Epicureanism and passionlessness (apatheia) in Stoicism – were similar, but Stoicism was more stolid.“ (Ferguson, 355) Das machte trotz erheblicher Differenzen der Denkungsart und Lebenspraxis auch auf Christen Eindruck, wohingegen mit dem Epikureismus eher Leichtsinn assoziiert wurde. Das gilt aus anderen Gründen auch für den Skeptizismus, wohingen das neupythagoreische Ideal des weisen und heiligen Mannes bei Abzug magischer und okkulter Anteile dem Christentum nicht völlig fremd blieb. Wie auch immer: neben der Stoa und der periPlatonismus und Gnostizispatetischen Schule, die das Erbe des Aristoteles mus pflegte und im 1. Jh. v.Chr. einen beträchtlichen Aufschwung nahm, übte die Philosophie in der Nachfolge Platons den mit Abstand größten Einfluss auf das Denken des frühen Christentums aus, zumal da in der Phase des Mittelplatonismus, die von der Mitte des ersten vorchristlichen bis zum Beginn des dritten nachchristlichen Jahrhunderts reicht, religiöse und theologische Interessen immer mehr in den Vordergrund traten. Der griechische Religionsphilosoph Philo und christliche Apologeten wie Justin und Tatian sind ohne mittelplatonischen Hintergrund nicht denkbar. Das gilt vergleichbar auch für den Gnostizismus als einer religionskulturellen Erscheinung hellenistisch-römischer Antike im Kontext werdenden Christentums. Trotz der durch die Textfunde von Nag Hammadi erheblich verbesserten Quellenlage ist es schwer, dessen Ursprung aufzuklären und sein Verhältnis zum Christentum genau zu bestimmen. Dass man, wie von der religionsgeschichtlichen Schule vorausgesetzt, schon für die vorneutestamentliche Zeit mit einer ausgebildeten Gnosis zu rechnen hat, ist eher unwahrscheinlich. Eine sichere literarische Bezeugung setzt erst mit dem beginnenden 2. Jahrhundert n.Chr. ein. Ihren Höhepunkt erreicht die gnostische Bewegung sodann mit den Systemen von Basilides und Valentinus, um später entweder

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relativ schnell abzuebben oder in Gruppierungen wie dem Manichäismus oder der mandäischen Kultgemeinschaft fortzuwirken. Genuines Gedankengut, das von ihm selbst produktiv hervorgebracht wurde, hat der Gnostizismus nur in eingeschränktem Maße aufzuweisen. Die meisten seiner Anschauungen beruhen auf vorgefundenen Überlieferungen, die in eigentümlicher Weise transformiert und angereichert wurden. Dabei hat man weniger an Traditionen fernöstlicher Herkunft, sondern an näherliegendes Überlieferungsgut aus der griechisch-hellenistischen Geistesgeschichte zu denken. Namentlich die christliche Gnosis verdankt sich im Wesentlichen der Anwendung platonischer Interpretamente auf die Christusbotschaft. Formal besteht darin kein Unterschied zur altkirchlichen Theologie des 2. und 3. Jahrhunderts. Die Differenzen ergeben sich erst unter inhaltlichen Gesichtspunkten und unter dem Aspekt der Art und Weise der Platonrezeption. Während die Gnosis die Welt abwertend entweder im Sinne eines metaphysischen Dualismus auf einen bösen Gott oder auf eine abschüssige Entwicklung zurückführt, die sich immer weiter von ihrem guten Ursprung entfernt, um im Übel der Materie und der Leiblichkeit zu enden, hält die altkirchliche Kosmologie in Übereinstimmung mit dem alttestamentlichen Zeugnis an der Güte des Schöpfers und der von ihm geschaffenen Ordnung der kreatürlichen Welt fest. Während die christliche Anthropologie infolgedessen den Menschen als eine gottgewollte Einheit von Leib, Seele und Geist bestimmt sieht, löst der Gnostizismus diese Einheit dezidiert auf, um den Gegensatz des Sinnlich-Leibhaften und des spirituellen Wesens des Menschen herauszustellen. Die Separierung von Pneumatikern und Hylikern, die um ihren Einfluss auf die unentschiedenen Psychiker streiten, entspricht diesem Sachverhalt. Soteriologisch lehrt der Gnostizismus, dass Heil nur reinen Geistern zukommt, wohingegen die von der Alten Kirche bezeugte leibhafte Erlösung und Auferstehung abgelehnt wird. Die gnostische Christologie ist demgemäß doketisch. Der Heiland ist nicht körperlich auf die Welt gekommen, sondern nur in Gestalt eines Scheinleibs, der seine pneumatische Substanz lediglich äußerlich umhüllte, um jederzeit abgestreift werden zu können. Christus hat am Kreuz denn auch nicht wirklich, sondern nur scheinbar gelitten, wenn er nicht überhaupt das Leid einem anderen zu tragen überließ. Spätestens hier wird die Unverträglichkeit gnostischer Doktrin mit der altkirchlichen Lehre offenkundig. Vergleichbare Inkompatibilitäten ergeben sich in ekklesiologischer, eschatologischer und ethischer Hinsicht. Verstand sich die Alte Kirche als Gemeinschaft aller Gläubigen, so schied die Gnosis zwischen der Elite weniger in die wahre Erkenntnis des Göttlichen Eingeweihter und bloßen Mitläufern, deren Glauben die rechte Einsicht abgeht. Fand das Christentum sein religiöses Zentrum in der gemeinschaftlichen Feier des Gottesdienstes, ging es den Gnostikern primär um individuelle Selbsterkenntnis: „Gnostics were in principle anti-cult.“ (Martin, 142) Erhoffte die kirchliche Glaubensgemeinschaft mit dem Reich Gottes die Ankunft einer neuen, die alte in sich hineinverwandelnde Welt, so nimmt die gnostische Eschatologie von aller irdischen Leibhaftigkeit definitiven Abschied, um am Ende in das radikal entweltlich-

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te Reich des Geistes, welches am Anfang war, zurückkehren zu können. Geschichte, ja alles, was in Raum und Zeit statthat, wird dadurch konsequent marginalisiert mit der ethischen Folge, dass die Differenz zwischen irdischer Askese und Libertinismus egalisiert werden konnte. Mit Platons ursprünglicher Philosophie hat dies zugestandenermaßen nur noch bedingt etwas zu tun. Als eine spätantike Spielart des Platonismus kann die gnostische Bewegung gleichwohl bewertet werden, wobei es dem Streit der Gelehrten zu überlassen ist, ob der Gnostizismus als eine legitime Variante des Platonismus oder als dessen spätes Verfallsprodukt zu bewerten ist. Offenkundig ist eine Tendenz zur Remythologisierung des Denkens, die den Gnosisbegriff unmittelbar betrifft, sofern gilt: „Der Mythos selbst ist Gnosis.“ (Jonas II,14) Was den Hellenismus insgesamt betrifft, in dessen kulturellen Kontext zweifellos auch noch die Die Neuzeit der Antike gnostische Bewegung gehört, so hat ihn Droysen, der den Epochenbegriff prägte, mit guten Gründen gegen den pauschalen Vorwurf des Epigonenhaften verteidigt. Statt als Zeit allgemeinen Verfalls sei der Hellenismus mit weit größerem Recht als die Moderne und als die Neuzeit der Antike zu bezeichnen. „Ich darf es mir“, schreibt Droysen zu seinem Werk, „nicht verbergen, daß ich zu einer Auffassung der hellenistischen Zeit gekommen bin, welche von der herkömmlichen vollkommen abweicht. Während diese Zeit mißachtet zu werden pflegt als eine große Lücke, als ein toter Fleck in der Geschichte der Menschheit, als eine ekelhafte Ablagerung aller Entartung, Fäulnis, Erstorbenheit, erscheint sie mir als ein lebendiges Glied in der Kette menschlicher Entwicklung, als Erbin und tätige Verwalterin eines großen Vermächtnisses, als die Trägerin größerer Bestimmungen, die in ihrem Schoß heranreifen sollten.“ (Droysen III,X) Als Erbin habe die hellenistische Zeit die Überlieferung der Griechen tätig verwaltet und zu einem Weltkulturerbe geformt. Der Geist der griechischen Poleis habe damit über alle ethnischen Beschränkungen hinaus kosmopolitische Dimensionen angenommen. Auch dass der Hellenismus der sog. Theokrasie und dem Synkretismus freien Raum gegeben habe, beurteilt Droysen als modernitäts-, um nicht zu sagen: postmodernitätsspezifisch: „die Religionen der ganzen Welt, jede einst ihrem Stamm, ihrem Lande der unmittelbare und lokalste Ausdruck, erscheinen nun als Lichtbrechungen einer höheren Einheit, sie werden unter dieser begriffen; sie scheiden nicht mehr die Völker, sondern unter der höheren Einsicht, die das Griechentum erarbeitet, vereinen sie sich.“ (Droysen III,18) Kurzum: „Der Hellenismus ist die moderne Zeit des Heidentums.“ (Droysen III,XVII) In der hellenistischen Kultursynthese ist der natürliche Gegensatz der heidnischen Religionen aufgehoben und – jedenfalls unter den Vertretern der gebildeten Schichten – zu einer kosmopolitischen Einheit gestaltet, die allen Anspruch darauf hat, ernst genommen und als eine humane Leistung ersten Ranges gewürdigt zu werden. Das gilt nach Droysen umso mehr, als in der hellenistischen Kultursynthese gemäß seiner Bewertung das wissenschaftliche Erbe der Griechen und nachgerade das Erbe griechischer Philo-

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sophie, die mit Sokrates, Platon und Aristoteles in ihr weltgeschichtliches Stadium eingetreten sei, in breitenwirksamer Form zur Geltung gebracht wurde. Auch unter philosophiehistorischen Gesichtspunkten habe man den Hellenismus als die „moderne Zeit des Altertums“ (Droysen III,XXII; bei D. gesperrt) zu beurteilen, in welcher aufgehoben und lebendig vergegenwärtigt werde, was den Geist der Hellenen in seinen prominentesten Repräsentanten der Vergangenheit zierte. Über das Recht dieser Annahme werden die Folgekapitel zu befinden haben, die eine Skizze griechischer Philosophiegeschichte von den Vorsokratikern bis zum Neuplatonismus bieten. In deren Zusammenhang muss auch eine begründete Stellung zu der zweiten Grundannahme von Droysens Konzeption (vgl. Droysen III,XI; bei D. gesperrt: „Die höchste Aufgabe unserer Wissenschaft ist ja die Theodizee.“) gewonnen werden, derzufolge der Hellenismus nicht nur die Vollendung der heidnischen Welt, sondern zugleich deren Ende herbeizuführen bestimmt war. Dabei erfüllt nach Droysen der Hellenismus auch in seiner Negationsfunktion nur, was sich bei den Hellenen als geschichtliche Bestimmung der Antike abzeichnete: War es „die höchste Aufgabe der alten Welt ..., das Heidentum zu zerstören, so ist es das Griechentum, das zuerst unter den eigenen Füßen den Boden hinweggrub, auf dem es erwachsen war, um dann, zu den Barbaren übersiedelt, aufklärend, durchgärend, zersetzend dort dasselbe zu vollbringen.“ (Droysen III,18) Nachgerade im Geschäft kritischer Negation und Aufklärung ist der griechische Geist, wie er in der Philosophie zum Bewusstsein seiner selbst und im Hellenismus zu soziokultureller Breitenwirksamkeit gelangte, zu einer unveräußerlichen Voraussetzung des Christentums geworden. Ohne die ungeheure Revolution, die der griechische Geist in Form des Hellenismus über die damalige Welt verbreitet hat, ist die Christentumsgeschichte ebenso wenig zu denken wie ohne die israelitisch-jüdische Tradition, die schon seit Zeiten des babylonischen Exils und damit vorzeitiger als die griechischen Überlieferungen von der religiösen Unmittelbarkeit und den naturhaften Prägungen des Heidentums Abschied genommen hatte: „die erste granitene Schale der Menschheit in ihren starr gewaltigen Formen ist zersetzt und zerbröckelt, es beginnt sich ein Boden zu weiterer, reicherer Lebensentwicklung zu bilden. Eine völlig neue Weise des Daseins, man könnte sagen, ein neuer Aggregatzustand der Menschheit ist errungen“ (Droysen III,418); „es beginnt die letzte, die entscheidende Arbeit des sich erfüllenden Altertums; es vollendet sich, ‚als die Zeit erfüllet war‘, in der Erscheinung des menschgewordenen Gottes, in der Lehre des Neuen Bundes, in dem jener letzte und tiefste Gegensatz überwunden sein (sollte), in dem Juden und Heiden, die Völker aller Welt, in ihrer ethnischen Kraft gebrochen und auf den Tod erschöpft, endlich, wie die Propheten verhießen, die Weisen geahnt, die Sibyllen, der Völker Mund, laut und lauter gerufen, Trost und Ruhe und für die verlorene Heimat hienieden eine höhere, geistige, die in dem Reiche Gottes, finden sollten.“ (Droysen III,424) Kurzum: Der Hellenismus im Allgemeinen und die Hellenisierung des antiken Judentums im Besonderen können als „Praeparatio Evangelica“ (M. Hengel) begriffen werden.

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Lit.: Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Buch I-X. Aus dem Griechischen übersetzt von O. Apelt, Hamburg 21967. – R. Guardini, Der Tod des Sokrates. Eine Interpretation der platonischen Schriften Euthyphron, Apologie, Kriton und Phaidon, Mainz/Paderborn 51987. – M. Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Antike des 2. Jhs. v.Chr., Tübingen 31988. – M. Himmelfarb, The Torah between Athens and Jerusalem: Jewish Difference in Antiquity, in: C. Bakhos (Hg.), Ancient Judaism in its Hellenistic Context, Leiden/Boston 2005, 113–129. – W. Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin/ New York 1973 (Ungekürzter photomechanischer Nachdruck in einem Band). – S. Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates. Aus dem Dänischen übersetzt v. E. Hirsch, Düsseldorf/Köln 1961 (Gesammelte Werke. 31. Abteilung). – Chr. Meier, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin 21994. – W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen Band 1. Hg. v. I. Schudoma, Frankfurt 1978. – F.D.E. Schleiermacher. Ueber den Werth des Sokrates als Philosophen (1814/15), in: A. Patzer (Hg.), Der historische Sokrates, Darmstadt 1987, 41–58. – U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Der Glaube der Hellenen, 2 Bd., Darmstadt 21955. – Xenophon, Erinnerungen an Sokrates. Griechischdeutsch. Hg. v. P. Jaerisch, München/Zürich 41987. – W.C. van Unnik, Das Selbstverständnis der jüdischen Diaspora in der hellenistisch-römischen Zeit. Aus dem Nachlaß hg. und bearbeitet von P.W. van der Horst, Leiden/New York/Köln 1993.

Jerusalem stand dem im Entstehen begriffenen Christentum ungleich näher als Athen. Doch Jerusalem und Athen dauerte es, wie erwähnt, nicht lange, bis die christliche Theologie in Diskussionen mit „epikureischen und stoischen Philosophen“ (Apg 17,18) und anderen Repräsentanten des Geistes griechisch-hellenistischer Antike eintrat. Der Besuch des Apostels Paulus auf dem Areopag ist ein Beleg hierfür. Er gibt zugleich ein Beispiel für die christliche Mission, eine Kirche auszubilden, die unbeschadet des bleibenden Vorzugs, den die Überlieferungen Israels für das Christentum haben, die Differenz von Judentum und Heidentum in sich aufhebt, indem sie beiden das Evangelium vom auferstandenen Gekreuzigten verkündet, welches, wie Paulus im ersten Brief an die Korinther schreibt, „für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit“ (1. Kor 1,23) ist. Wie different sich Jerusalem als Zentrum der Judenheit und Athen als repräsentative Geistesstätte des antiken Heidentums in sonstiger Hinsicht zueinander verhalten mögen: unter dem Kreuz sind sie bei aller Unterschiedenheit eins und an dem Kriterium paulinischer theologia crucis gemessen als zusammengehörig erwiesen.

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Die durch das Kreuzeskerygma vermittelte Zusammengehörigkeit von Juden und Heiden ist gewiss von anderer Art als die jüdisch-hellenistischen Kultursynthesen, deren Ansätze weit in die vorchristliche Zeit zurückreichen. Doch wird man nicht leugnen können, dass die hellenistische Prägung weiter Teile der Judenheit um die Zeitenwende eine wesentliche historische Voraussetzung der Entwicklungsgeschichte des frühen Christentums und seiner Missionserfolge war. Diese Prägung lässt sich nicht nur in der jüdischen Diaspora, sondern auch im palästinischen Judentum erkennen. Mit Recht hat Martin Hengel daher die in der neutestamentlichen Wissenschaft verbreitete Differenzierung zwischen einem „palästinischen“ und einem „hellenistischen“ Judentum für problematisch erklärt, sofern auch das palästinische Judentum hellenistisch beeinflusst war (vgl. Hengel, 194f, 459 u.a.). Versuche, das Judentum völlig in der hellenistischen Zivilisation aufgehen zu lassen, reichen zurück in die Mitte des dritten Jahrhunderts und gelangten in den Jahren zwischen 175 und 163 v.Chr. zu ihrem Höhe- und vorläufigen Endpunkt. Dabei ging der Anstoß zur äußersten Eskalation nicht nur und wohl auch nicht in erster Linie von der Religionspolitik Antiochos IV. Epiphanes aus, sondern von extremen Hellenisten unter den Juden in Jerusalem selbst. Jüdische Hellenisten bzw. hellenistische Juden gab es in Palästina und in Jerusalem seit langem und zwar vor allem in den Kreisen der Priesteraristokratie und der Wirtschaftselite. Sie waren der nicht unbegründeten Überzeugung, dass sich die ökonomische und soziokulturelle Lage der palästinischen Juden nur durch allmähliche Assimilation an die nichtjüdisch-hellenistische Umwelt verbessern ließe. Damit Handelsschranken fielen, mussten langfristig auch Schranken der Zivilisation und Religionskultur abgebaut werden. Während die gräkophile Oberschicht mehr oder minder entschieden für hellenistische Reform eintrat, wurde diese von den religiös konservativen Kreisen, die vor allem in der Landbevölkerung und der städtischen Mittelund Unterschicht Anhänger fanden, vehement abgelehnt. Den Frommen im Lande, die sich der Chassidimbewegung anschlossen, galten die Assimilationsversuche als Apostasie, die hellenistischen Juden als Abtrünnige und Renegaten, deren Bestrebungen, die mosaische Tora zu relativieren oder aufzuheben, sie einen vielfach ins Radikale gesteigerten Eifer für das Gesetz entgegensetzten. Nach dem Scheitern des hellenistischen Reformversuches, den jüdischen Glauben in synkretistischer Weise der hellenistischen Umwelt anzugleichen und Jerusalem zu einer griechischen Polis umzugestalten, kam es zu einer nachhaltigen Restauration der Jahwereligion, wobei die Forderung strengster Gesetzesobservanz sich nicht selten mit der apokalyptischen Naherwartung des kommenden Gottesreiches der Gerechtigkeit verband. Die erwähnte Bewegung gesetzestreuer Chassidim gehört hierher, deren Torafrömmigkeit für Pharisäer und Essener gleichermaßen vorbildlich wurde. Indes wäre die Annahme falsch, der Antihellenismus derer, die eine Assimilation des Judentums an den herrschenden Geist strikt ablehnten, sei gegen alle hellenistischen Einflüsse immun gewesen. Diese waren im Judentum selbst dort kräftig und wirksam, wo man Überfremdungsver-

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suche entschieden abzuwehren und das eigene Profil streng zu wahren suchte, wie das in nicht wenigen Teilen der jüdischen Diaspora, aber vor allem im palästinischen Judentum der Fall war. Auch in den auf strikter Gesetzesobservanz bestehenden restaurativen Kreisen des palästinischen Judentums, deren ganzes Sinnen und Trachten der Tora und der nahen Gerechtigkeit des Gottesreiches galt, reflektiert sich auf gebrochene Weise hellenistischer Geist, zwar nicht in Form von Synkretismus oder gar Polytheismus, wohl aber darin, dass man der eigenen religiösen Einsicht universale Geltung und der Religion des Volkes, dem man angehörte, den Status einer Menschheits- und Weltreligion zu verschaffen suchte. Die rabbinische Toraontologie gibt dafür ein Beispiel, das von Weisheitsspekulationen eines hellenistischen Judentums gar nicht so weit entfernt ist, welches im Gesetz den Inbegriff des Vernünftigen zu entdecken vermochte. Das Verhältnis von Judentum und Hellenismus ist komplex: Zwar wurde spätestens durch den Sieg der makkabäischen Bewegung eine vollständige jüdische Assimiliation an die heidnische Umwelt unterbunden; die Geltung der Tora war seither in allen jüdischen Parteiungen unangefochten. Doch zeigen sich hellenistische Einflüsse selbst in jenen Gruppierungen, denen es um scharf abgegrenzte Profilierung zu tun ist, wie etwa bei den Vertretern der Apokalyptik oder den Essenern. Umgekehrt wird man davon auszugehen haben, dass auch das hellenistisch geprägte Diasporajudentum den Gesetzesgehorsam für heilsentscheidend hielt (vgl. van Unnik): „possession of the Torah permits Philo of Alexandria and Josephus to adept Greek ideas and values in the service of a new understanding of Jewish tradition, which is, nonetheless, distinctively Jewish.“ (Himmelfarb, 128) Die Komplexität des Verhältnisses von Judentum und Hellenismus steigert sich, wenn man das werdende Christentum mit in Betracht zieht. Zwar wusste sich, wie eingangs vermerkt, das im Entstehen begriffene Christentum Jerusalem ungleich näher als Athen, der klassischen Heimstatt griechischer Kultur, ohne die es den Hellenismus nicht gegeben hätte. Doch lässt sich die Entwicklung des Christentums zu einer vom Judentum unterschiedenen eigenständigen Religion historisch nur im hellenistischen Kontext plausibel machen, von dem unter dem Aspekt der religionskulturellen Umwelt des Christentums bereits ausführlich gehandelt wurde. Noch nicht thematisiert wurden hingegen die vielfältigen Einflüsse der griechischen Philosophie auf die frühchristliche Theologie und ihre Folgegeschichte. Um sie und namentlich die Konsequenzen zu erfassen, welche die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs für die christliche Theologie zeitigte, bedarf es eines Neueinsatzes bzw. einer neuen Perspektivierung, wobei das sich eröffnende Blickfeld auf Athen zu fokussieren ist, wo der die Welt bis heute bewegende griechische Geist sein ursprüngliches Zentrum gefunden hat. Der mit dem Namen Athens zu assoziierende „Neubeginn der Weltgeschichte“ (Chr. Meier) nimmt seinen Anfang im Vergleich mit den weltgeschichtlich bedeutsamen Anfängen der israelitisch-jüdischen Tradition erst verhältnismäßig spät. Bis zum siebten und sechsten Jahrhundert v.Chr. ist aus Athen noch nichts zu vermelden, was geschichtlich von universaler Relevanz wäre. Zwar entstehen um 750

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Homers „Ilias“ und „Odyssee“ sowie ungefähr ein halbes Jahrhundert später die „Theogonie“ und andere Werke Hesiods. Damit war der Beginn der griechischen Geschichte literarisch greifbar geworden und den Griechen ihr panhellenischer Götterhimmel gegeben. Politisch indes war Hellas gespalten, und auch in Athen herrschten nicht selten Uneinigkeit und bürgerkriegsähnliche Zustände. Erst Solon befestigte den inneren Frieden und schuf die Basis einer demokratischen Verfassung, derzufolge alle männlichen Bürger nach Einkommensklassen geordnet an der Regierung teilhaben sollten. Doch bedurfte es eines weiteren Jahrhunderts, bis nach der Tyrannis des Peisistratos und seiner beiden Söhne sowie der Verfassungsreform des Kleisthenes Athen zur Großmacht aufgestiegen und Griechenland in sein weltgeschichtliches Zeitalter eingetreten war. Der „griechische Sonderweg“ begann, die Polisgesellschaft bildete sich aus und die „politische Revolution der Weltgeschichte“ (Meier, 108) nahm ihren Verlauf. Nach anfänglichen Misserfolgen der Aufstandsbewegung gegen die Perser errang ein athenisches Landheer 490 bei Marathon einen spektakulären Sieg, der ein Jahrzehnt später nach der Heldentat des Spartaners Leonidas und seiner Mannen am Thermopylenpass durch die Seeschlacht bei Salamis unter athenischer Führung des Themistokles und durch den anschließenden Landsieg bei Platäa unter der Führung der Spartaner ergänzt und vervollständigt wurde. 477 erfolgte die Gründung des attisch-delischen Seebunds, der erheblich zur Steigerung von Athens Macht beitrug, aber auch den Konflikt mit Sparta heraufbeschwor, dem Zentrum des Peloponnesischen Bundes und der bis dahin führenden griechischen Landmacht. Doch gelang es 446, die militärischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden rivalisierenden griechischen Hegemonien durch einen auf dreißig Jahre angelegten Frieden zu beenden. Das perikleische Zeitalter konnte beginnen. Es währte fünfzehn Jahre und führte zu einer nie gesehenen wirtschaftlichen und kulturellen Blüte in Griechenland. Athen wurde zur Schule von Hellas, ja zur Bildungsstätte Europas. Um Perikles, der die athenische Vorherrschaft Das perikleische Zeitalter außenpolitisch auszubauen und die Demokratie im Inneren zu befestigen suchte, sammelte sich ein Kreis namhafter Wissenschaftler und Künstler. Die von den Persern zerstörte Akropolis wurde viel glänzender aufgebaut als zuvor und der Parthenontempel als dorischer Peripteros errichtet, dessen Hauptraum das von Phidias geschaffene, zwölf Meter große Gold-Elfenbein-Standbild der Stadtgöttin Athene enthielt. Die Intellektuellenszene, welche die Sophisten zu beherrschen begannen, stellte festgefügte Ordnungen und überkommene Werte infrage, um einem Geist das Feld zu bereiten, den modern zu nennen berechtigter Grund besteht. „In den erregten intellektuellen Diskussionen dieser Jahre ergab sich eine ungeheuerliche Verdichtung der Aufeinanderfolge von Fragen und Antworten. Überall wurde Neues in kürzester Zeit aufgenommen, bereichert und weitergegeben. Überall durchstieß man Grenzen der Selbstverständlichkeit, die bis dahin das Denken gehegt hatten.“ (Meier, 512)

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Auch der Mann, der dem Zeitalter den Namen gab, war in seiner Person ein Moderner bzw. das, was man unter neuzeitlichen Bedingungen ein selbsttätiges Subjekt zu nennen pflegt: „Keinerlei Vorbild kam Perikles zustatten, denn in solch eine Lage war noch nie eine Griechenstadt geraten – und auch aus einer ferneren Vergangenheit konnte man damals nichts lernen. Er war gleichsam der Erfinder einer neuen Politik.“ (Meier, 550) Dauerhaften Bestand freilich konnten die Ergebnisse der Politik des Perikles nicht erlangen. 431, zwei Jahre vor seinem Tod, beginnt der sog. Peloponnesische Krieg, der nach knapp drei Jahrzehnten 404 mit der vollständigen Niederlage Athens endete. Die Rolle, die Athen von Perikles politisch und militärisch zugemessen worden war, hatte sich als zu groß erwiesen. „Doch hat die Stadt sie so gespielt, daß sie am Ende nicht nur die ‚Schule von Griechenland‘, sondern die Europas wurde.“ (Meier, 553) Insbesondere das europäische Humanitätsideal ist eine Folge griechischer Paideia und ihres Bestrebens, den Einzelmenschen in seiner natürlichen Individualität zu einem allgemeingültigen Bild der Gattung zu formen, damit das Menschenwesen in einem Ich konkrete Gestalt annehme. In ihrem im perikleischen Zeitalter und danach ausgebildeten Ideal der Humanität kam überzeugend zur Geltung, „was die Eigenart der Griechen gegenüber dem Orient ausmacht. Ihre Entdeckung des Menschen ist nicht die Entdeckung des subjektiven Ich, sondern die Bewußtwerdung der allgemeinen Wesensgesetze des Menschen.“ (Jaeger, 13) Diese Entdeckung hat den Niedergang Athens gegen Ende des fünften Jahrhunderts nicht nur überstanden, sondern ist aus ihm erst eigentlich hervorgegangen. Dass äußere Katastrophen mit inneren Gewinnen verbunden sein können, belegt neben der Geschichte Athens auch diejenige Jerusalems, Judas und Israels; an den Ereignissen vor allem des Jahres 587 v.Chr. und ihren religionsgeschichtlichen Folgen wurde dies im Einzelnen gezeigt. Was Athen und Hellas betrifft, deren Historie im Unterschied zur Geschichte Israels für das Christentum nur bedingt relevant und daher nicht im Einzelnen zu verfolgen ist, steht für diese Tatsache exemplarisch der Tod des Sokrates, der nicht lange nach dem Ende des perikleischen Zeitalters erfolgte. Er markiert den Beginn jener Philosophie, „die, bemißt man sie nur an der fortwirkenden Kraft, doch wohl die bedeutendste Hinterlassenschaft … Athens darstellt“ (Meier, 691). Das Denken des Sokratesschülers Platon und des Aristoteles, der Platons Ansatz modifiziert fortbildete und zum wissenschaftlichen System gestaltete, sollte der attischen Stadt und Griechenland insgesamt im vierten Jahrhundert v.Chr. jene geistige Weltgeltung verschaffen, welche sie im ausgehenden fünften in politischer Hinsicht verlor. Äußerer Niedergang und innerer Aufschwung gehören zusammen. Die Erfahrungen, die Platon mit der oligarchischen Tyrannis der Dreißig und der demokratischen Restauration sowie dem Sterben seines Lehrers gemacht hatte, brachten ihn zu der Erkenntnis, dass die Wirklichkeit ganz von der Idee her zu begründen sei, weil nur der Begriff das Wesen der Dinge zu erfassen, die Äußerlichkeit ihrer sinnlichen Erscheinung hingegen nur Scheinwahrheiten zu erzeugen vermöge. Dem Geist war damit eine eigene Welt und ein Reich erschlossen, in dem er mit seinen Mitteln

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zu herrschen sich anschickte. Für die Religion der Hellenen konnte dies nicht folgenlos bleiben. Indem er sich im Sinne der philosophischen Theologie Platons vergeistigte, stand der traditionelle hellenische Glaube, dessen Frömmigkeit sich bislang am polytheistischen Götterhimmel des Olymps und seiner anthropomorphen Erscheinungsgestalten ausgerichtet hatte, am Ziel seiner Entwicklung, um sich zugleich sein Ende zu bereiten. Die vor-, alt- und panhellenischen Götter hatten unter den Gebildeten im Prinzip ausgedient. Zwar wurde ihr Kult auch fernerhin und lange noch gepflegt: aber die Macht der alten Götter über die Herzen „schwand immer mehr“ (Wilamowitz-Moellendorff II,257). An die Stelle ihrer naturgemäßen, will heißen: äußere Naturmächtigkeiten repräsentierenden Vielzahl trat die eine Idee des Guten, der allein innere Verbindlichkeit zuerkannt wurde. Mit ihrer Erkenntnis, die der Ausbildung des Monotheismus im exilisch-nachexilischen Judentum vergleichbar ist, gelangte Hellas in ein neues, universales Stadium seiner Geistesentwicklung. Waren noch im 6. Jahrhundert v.Chr. archaische Denkungsart und seit alters überkommene Einrichtungen herrschend, lässt sich das 5. Jahrhundert als ein Zeitalter des Übergangs beschreiben, bis aus Höhe und Krise des attischen Gemeinwesens jene Kräfte hervorgingen, die im Zeitalter des Hellenismus zu voller Breitenwirkung gelangen sollten. Eine Schlüsselstellung innerhalb dieses ProzesDie sokratische Wende ses, dessen religionsgeschichtlicher Verlauf in Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs Werk „Der Glaube der Hellenen“ (1931/32) eindrucksvoll geschildert ist, kommt ohne Zweifel Sokrates (470–399 v.Chr.) zu, den die wiedererstarkten athenischen Demokraten im Jahre 399 v.Chr. wegen angeblicher Jugendverführung und Gottlosigkeit hinrichten ließen. Leben, Lehre und insbesondere der Tod des Sokrates bezeichnen eine epochale Wende in der Geschichte der Religion und der Philosophie bei den Griechen. Sie ist vorbereitet durch die Sophistik und charakterisiert durch ein Reflexwerden des Denkens, das sich nicht länger nur an äußeren Gegenständen erprobt, sondern selbst Gegenstand und Inhalt seiner Gedankenoperationen wird. Im Vollzug der sokratischen Wende nimmt das Denkgeschehen der überkommenen Philosophie, die wesentlich als Naturphilosophie betrieben wurde, reflexe Gestalt an, um zum Verständnis seiner selbst zu gelangen. „Dies zum Selbstverständnis gebrachte Denken ist nun die Philosophie im eigentlichen Sinne, durch Sokrates und Platon neu begründet. In diesem strengen Sinne hat es vorher wirklich noch keine Philosophie gegeben.“ (Schadewaldt, 16) Richtig an dieser Feststellung ist, dass sich die geistesgeschichtliche Bedeutung des Sokrates nicht darin erschöpft, eine bereits vorhandene Denkweise kontinuierlich fortentwickelt zu haben. Mit seiner Lehre ist vielmehr ein neues Denkprinzip aufgerichtet worden. War das vormalige Denken mehr oder minder selbstvergessen bei der Sache und ganz auf die natürliche Welt gerichtet, von deren Erscheinungen es sich nur insofern unterschied, als es nach deren Grund und Wesen fragte, so wurde das Denken vermittelt durch die Sophistik, in der es sich selbst

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fragwürdig geworden war, von Sokrates zu einem entwickelten Bewusstsein seiner selbst gebracht mit der Folge, dass das Wissen vom Wissen und seiner Natur nunmehr den Anfang aller Wissenschaft markieren sollte. Rechte Gegenstandserkenntnis lässt sich ohne gedankliche Selbstreflexion und begriffliches Denken nicht erlangen. Denn ohne präzise Begriffsbestimmungen kann es gewisses Wissen von Gegenständen nicht geben. Selbsterkenntnis des Denkens ist so die Voraussetzung allen gegenständlichen Wissens. Es bedarf der Dialektik und der dialektischen Entwicklung der Begriffe, um recht zu begreifen und zu einer gewissen Einsicht in das Wesen der Dinge zu gelangen, die sich grundlegend vom bloßen Schein der sinnlichen Anschauung und der von ihr hervorgerufenen Vorstellungen unterscheidet. Sokratische Philosophie ist in Methode und Inhalt primär auf begriffliches, nicht auf naturhaftes Wissen ausgerichtet, und der Zweck des Denkens besteht in erster Linie nicht in der Erkenntnis der Natur, sondern in einer ihrer humanen Vernünftigkeit bewussten Praxis sittlichen Wollens. Die Wahrheit des Seins und das Wesen der Dinge kann ohne begriffliches Wissen, das vernünftige Praxis ermöglicht, nicht erfasst werden. Ziel der Philosophie ist nicht die Naturalisierung des Geistes, sondern die Vergeistigung der Natur. Deshalb fungiert bei Sokrates nicht die Kosmologie, sondern die Anthropologie als philosophische Leitwissenschaft. Eine unmittelbare Affirmation des sophistischen Grundsatzes, wonach der Mensch das Maß aller Dinge sei, bedeutete die sokratische Anthropologisierung der Kosmologie indes keineswegs. Denn das Menschsein des Menschen bemisst sich nicht an dessen jeweiligem Sein, sondern am Begriff, der seine Wesensbestimmung ausmacht. Nicht seine empirische Verfasstheit, sondern die Idee des Menschen, die es bewusst und mit Gewissensgewissheit zu erfassen gilt, bildet das Kriterium der Humanität. Da aber die Idee des Menschen nicht isoliert, sondern nur im Zusammenhang dessen erfasst werden kann, was vernünftiger Erkenntnis aufgegeben ist, bedarf es eines umfassenden wissenschaftlichen Bemühens um die Gesamtheit des Seienden. Mit einem Subjektivismus, dem die Objekte des Denkens abhanden gekommen sind, hat der sokratische Ansatz nichts zu schaffen, so grundlegend für ihn die Einsicht ist, dass von subjektloser Objektivität nicht die Rede sein kann. Selbsterkenntnis und Erkenntnis dessen, was objektiv wirklich und wahr ist, lassen sich zwar differenzieren, nicht aber trennen. Dass zwischen beiden Aspekten ein Gefälle besteht, das unterschiedlich wahrgenommen werden kann und in der Philosophiegeschichte auch höchst unterschiedlich wahrgenommen wurde, ist damit nicht geleugnet. Was Sokrates betrifft, so war für ihn zweifellos die vom delphischen Orakel geforderte Selbsterkenntnis der Schlüssel der Erkenntnis des an und für sich Wirklichen und Wahren. Aus der Innenwelt heraus erschließt sich, was es mit der Außenwelt in Wahrheit auf sich hat. Die philosophische Aufmerksamkeit gebührt daher am meisten der inneren Erkenntnis und weniger dem äußeren Wissen. Bereits an der Gestalt des Philosophen, wie sie die darstellende Kunst überliefert hat, tritt eine gewisse Sorglosigkeit hinsichtlich der äußeren Erscheinung signi-

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fikant zutage, die dem klassischen Griechentum fremd ist. Nur wer sich ins Innerste vertieft, dem geht ein Licht von oben auf, welches die Welt zum Strahlen bringt: das sokratische „daimonion“ gibt davon Kunde. Auf seine Eingebungen und nicht auf äußere Eindrücke, denen gegenüber er sich in Anbetracht ihres Scheincharakters ziemlich unempfänglich zeigt, führt Sokrates wahre Einsicht in das Wesen der Dinge zurück. Den größten Eindruck auf seine Nachwelt hat Leben und Sterben des Sokrates mit seinem Sterben gemacht. Es ist von Sokrates der Gewissheit getragen, „daß das Eigentliche der Existenz sich über Geburt und Tod hinaus ins Überzeitliche erstreckt“ (Guardini, 181). Sein Tod eröffnete Sokrates gemäß eigener Erwartung jene rein geistige Existenz, die zu irdischen Lebzeiten nur ansatzweise und nie eindeutig zu realisieren ist. In Anbetracht dessen verwundert es nicht, dass der Verewigte philosophiegeschichtlich einen unsterblichen Status zuerkannt bekam, wohingegen das Charakterbild des historischen Sokrates in der Geschichte schwankt. Die zeitgenössischen Urteile über ihn sind ambivalent und reichen von „höchstem Lob bis zu schärfster Kritik“ (Kaufmann, 8). Ein besonders unterhaltsames Beispiel der Sokrateskritik bietet der Komödiendichter Aristophanes, der in seinem Stück „Die Wolken“ den Philosophen als Witzfigur und sophistischen Spinner karikiert und dem Gespött der Menge preisgibt. Die Stellungnahmen zu Sokrates sind Legion und von sehr unterschiedlichen, zum Teil kontroversen Haltungen gekennzeichnet. Über keinen Menschen des fünften Jahrhunderts vor Christus haben sich Zeitgenossen und Spätere häufiger, ausführlicher und differenter geäußert als über ihn. Was seinen engeren Kontext anbelangt, so liegt das Problem des historischen Sokrates wesentlich in der Frage beschlossen, „ob man, was (er) gewesen, dem Platon oder dem Xenophon glauben soll“ (Schleiermacher, 46). Schleiermacher war einer der Ersten, der an der Historizität des xenophonischen Sokratesbildes Zweifel geäußert und der platonischen Überlieferung auch in historischer Hinsicht den Vorzug gegeben hat: „nicht nur kann Sokrates, sondern er muß auch mehr, und mehr muß hinter seinen Reden sein, als Xenophon uns wiedergiebt. Denn wenn die Zeitgenossen nur dergleichen von Sokrates gehört hätten, welchen Schaden hätte Platon dem Eindrukk seiner Werke bei seinem unmittelbaren Publikum gethan, welches das Wesen des Sokrates noch keineswegs vergessen hatte, wenn die Rolle, welche Sokrates dort spielt, mit dem Bilde, welches sie aus dem Leben her von ihm im Sinne hatten, in geradem Widerspruch stand? Und wenn man dem Xenophon glaubt, und dieses muß man wol dem gleichzeitigen Apologeten glauben, daß Sokrates seine ganze Zeit an öffentlichen Orten zugebracht, und man will annehmen, er habe sich immer mit Reden, seien sie auch schöner gewesen, bunter und blendender, aber immer mit Reden von diesem Gehalte sich beschäftiget, und die nur in der Sphäre sich bewegten, über welche die Denkwürdigkeiten nicht hinausgehen: so begreift man nicht, wie Sokrates in so vielen Jahren sich den Markt und die Werkstätten, die Spaziergänge und die Gymnasien entvölkert durch die Furcht seiner Gegenwart, und wie

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sich in der naiven niederländischen Manier des Xenophon die Ermüdung der Unterredner nicht noch stärker ausspricht, als hie und da wirklich geschieht.“ (Schleiermacher, 47f.) Nach Maßgabe der Regel, dass neben Xenophon auch Platon als Quelle des irdischen Lebens des Sokrates heranzuziehen sei, um in Anbetracht der Wirkungsund Rezeptionsgeschichte ein realistisches Bild seiner Existenz zu gewinnen, gelangt Schleiermacher zu dem Ergebnis, dass bereits der historische Sokrates die Idee des Wissens zu Bewusstsein gebracht und auf dialektische Weise zwischen vernunftbegründeter Erkenntnis und bloßer, lediglich auf sinnlichen Eindrücken basierender Meinung zu unterscheiden gelehrt habe. Damit sei nicht nur eine epochale Wende im Denken der Griechen vollzogen, sondern Philosophie recht eigentlich erst als eine zum Wissen des Wissens und damit zu ihrem eigentümlichen Selbstverständnis gelangte Wissenschaft initiiert worden. Sei der gedankliche Schwerpunkt bei Sokrates nach übereinstimmendem Urteil der Quellen im Bereiche von Anthropologie und Ethik zu finden, so habe Platon und nach ihm Aristoteles die sokratische Idee des Guten zu einer umfassenden Ideenlehre und zu einem Gesamtsystem der Wissenschaften entwickelt. Die ethische Begriffsphilosophie des Sokrates erfuhr so nach Schleiermacher eine nicht unerhebliche Erweiterung, ohne in ihrer Grundidee verändert zu werden. Das Handeln des Menschen, sagt Sokrates, ist gut, sofern es dem Begriff des Guten gemäß ist. Die Idee des Guten und das Wissen darum, was recht ist, sind daher Bedingungen der Möglichkeit guten und rechten Handelns. Ohne gewissensgewisses Bewusstsein des Guten kann es Tugend nicht geben, da die Unkenntnis seines Wesens zwangsläufig üble Folgen nach sich zieht und dem Bösen die Bahn bereitet. Um zu rechten Schlüssen zu gelangen, die dem Guten gemäß sind, muss dessen Idee erfasst und mit entsprechenden Wesensbestimmungen in Verbindung gebracht werden. Dies kann nicht geschehen ohne prüfende Suche nach dem Sinnganzen des Guten. Das Wissen des Guten stellt sich nicht auf unmittelbare Weise ein, sondern ist vermittelt durch das Wissen des Nichtwissens, also durch die Kritik der bloßen Meinung als der negativen Voraussetzung konstruktiver Wahrnehmung des Guten. Die Methode der Mäeutik, als deren implizites Moment die sprichwörtlich gewordene sokratische Ironie fungiert, ermöglicht diese Einsicht und entspricht ihr in der Weise ihrer Generierung. Um sinnvolles Handeln zu begründen, bedarf es nicht lediglich einer unreflektierten Meinung vom Guten, sondern wissenschaftlicher Ethik und entsprechender philosophischer Reflexion. Was lediglich gut gemeint ist, hat noch keinen Allgemeinanspruch darauf, als gut zu gelten. Der verbindliche Geltungsanspruch des Guten hängt an dessen Begriff und kann ohne ihn nicht begründet und aufrechterhalten werden. Ist die sokratische Idee des Guten insoweit konsistent und überzeugend, so liegt ihre Grenze darin begründet, dass Sokrates von ihr lediglich einen praktischen Gebrauch macht, ohne sie an sich selbst und in Bezug auf den gesamten Gedankenkosmos systematisch zu explizieren. Dies ist erst bei Platon und mit gesteigerter Konsequenz bei Aristoteles der Fall. Beide belegen, dass man Sokrates nur folgen

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kann, wenn man nicht bei ihm verharrt, und sie zeigen zugleich, was es mit der Erinnerung an die Meister philosophiegeschichtlich auf sich hat: „Wo ein philosophisches Leben in seiner Individualität nicht nachahmbar ist, aber die Späteren auf dieses Leben verpflichtet bleiben, muß die Weiterführung des Denkens mit dem Gedenken verbunden sein.“ (Figal, 130) Welche Fortführung der sokratische Ansatz im Sokratische Ironie Denken des Platon gefunden hat, wird an späterer Stelle zu erörtern sein. Dabei wird sich die Gelegenheit bieten, noch einmal und in größerer Systematik als bisher auf Sokrates zurückzukommen. Hier soll der Philosoph einstweilen nur noch unter einem für das Verhältnis von Griechentum, Judentum und Christentum prinzipiell und generell relevanten Gesichtspunkt in Betracht gezogen werden, nämlich unter demjenigen der sprichwörtlich gewordenen sokratischen Ironie. Vermag doch die sokratische Ironie ein klassisches Beispiel zu geben für die Leichtigkeit des Seins, wie sie für den griechischen Geist in seinen besten Vertretern auch noch unter äußersten Beschwernissen charakteristisch ist. Vergleichbares findet sich in der jüdischen Überlieferungsgeschichte nicht, und auch das Christentum ist wenig dazu angetan, des Daseins Schwere leicht zu nehmen. Nicht von ungefähr ist das christliche Gedächtnis des Lebens und Sterbens Jesu Christi von kategorial anderer Art als die antike Erinnerung an Sokrates. Diogenes Laertius, der vermutlich in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts nach Christus lebte, zählt zu den beliebtesten Schriftstellern der Weltliteratur. Sein zehn Bücher umfassendes Werk „Über Leben und Meinungen der berühmten Philosophen“ hat wegen seines Anekdotenreichtums stets dankbare Leser gefunden, auch wenn historische Authentizität von ihm mangels kritischer Methodik nur in beschränktem Maße erwartet werden darf. Im Rahmen seiner gesammelten Episoden aus dem Leben antiker Weisheitslehrer, die er mehr oder minder ungeprüft kompiliert, weiß Diogenes Laertius u.a. zu berichten, dass Sokrates von Aristophanes als Dampfplauderer geschmäht und von seiner Gemahlin Xanthippe mit Hohn und Spott und gelegentlich mit schmutzigem Wasser überschüttet wurde; auch ansonsten seien die Zeitgenossen mit dem in ständigen Gesprächen begriffenen Freigeist nicht zimperlich umgegangen. „Oft genug sei es vorgekommen, daß er bei seinen Unterredungen von den durch seine Nachforschungen gereizten Beteiligten unsanft angefaßt und zerzaust und meist verächtlich behandelt und verlacht wurde. Das alles aber habe er mit unerschütterlicher Langmut über sich ergehen lassen. So sei er einmal auch durch einen Fußtritt beschimpft worden und habe, als jemand seine Verwunderung darüber äußerte, daß er sich das gefallen lasse, erwidert: ‚Wie? Hätte mich ein Esel getreten, hätte ich diesen etwa gerichtlich belangt?‘“ (Diogenes Laertius II, 21) Ähnliche Anekdoten mit vergleichbarem Skopus sind bereits Xenophons Erinnerungen an Sokrates, den Memorabilien zu entnehmen. Den souveränen Umgang mit den Widrigkeiten des äußeren Daseins hat sich Sokrates, wie aus dem platonischen Phaidon zu erfahren ist, bis zu seinem Tode

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erhalten. Um den Leichenfrauen keine unnötige Mühe mit dem Waschen seiner sterblichen Überreste zu machen, nimmt er ein Bad, bevor er den Giftbecher leert. Auf die Frage Kritons, wie er bestattet zu werden wünsche, antwortet Sokrates, man möge es nach Belieben halten, wenn man ihn denn überhaupt zu fassen bekomme und er nicht vorher entwischt sei. Weitere Momente überlegenen Witzes gibt es bis zum letzten Augenblick, als der Sterbende den Seinen aufträgt, dem Asklepios ein Dankopfer für die Genesung von der Krankheit des leiblichen Lebens darzubringen. Es war kein Geringerer als Sören Kierkegaard, der in seiner philosophischen Dissertation die sokratische Manier als eine exemplarische Form persönlichkeitsbestimmender Ironie gekennzeichnet und bei aller Sympathie für den berühmtesten Eiron der Antike kritisch von der durch den Gott Israels gebotenen und auch für den christlichen Glauben verbindlichen Haltung abgehoben hat. Zwar sei Ironie, wie Sokrates sie gepflegt habe, von Heuchelei und Verstellung grundsätzlich verschieden, weil es konstitutiv zu ihrem Wesen gehöre, als Ironie verstanden zu werden. Im Übrigen habe Sokrates von der Ironie keinen zynischen Gebrauch gemacht, sie auch nicht nur als polemische Redefigur verwendet, sondern die Eigenart seines gesamten Lebens und damit sich selbst von ihr bestimmen lassen bis dahin, dass ihm sein eigenes Todesschicksal als Ironie erschien. Genau hier indes vermisst Kierkegaard jenen letzten Ernst, der nach seinem Urteil die unhintergehbare, ironisch nicht aufzuhebende Voraussetzung jüdisch-christlicher Existenz sei. Als existierender Begriff und personifiziertes Wesen der Ironie entbehrt Sokrates nach Kierkegaard zwar nicht des Ernstes, hebe dessen Differenz zum Unerst aber stetig auf, indem er bis zuletzt ernst und unernst in einem sei. Dies entspreche seiner philosophischen Grundthese, wonach der Weise sich durch die ihm eigene Gewissheit auszeichne, zugleich wissend und unwissend zu sein. Als Ironiker beziehe Sokrates seinen Standpunkt auf der Grenze zwischen ästhetischer und ethischer Existenzsphäre. Darin unterscheide er sich wesentlich von Christus, durch dessen Leben und Sterben die besagte Grenze transzendiert und ein grundsätzlich anderes Verhältnis zum höchsten Gut eröffnet worden sei als durch Sokrates. War Sokrates der Ironie dermaßen hingegeben, dass er, wie Kierkegaard sagen kann, selber zu ihrem Opfer wurde, gibt sich der gekreuzigte Christus österlich als Opfer der Sünde infolge gänzlicher und vorbehaltloser Hingabe an das Gute, besser gesagt: an die Güte Gottes zu erkennen. Entsprechend lautet die erste Dissertationsthese Kierkegaards: „Die Ähnlichkeit zwischen Christus und Sokrates ist vor allem in ihrer Unähnlichkeit gegeben.“ (Kierkegaard, 3) Ein Vergleich beider sei nur sinnvoll, wenn ihre „schlechthinnige Ungleichheit“ (Kierkegaard, 228 Anm., bei K. gesperrt) be- und geachtet werde. Ihrem von Sokrates exemplarisch repräsentierten Begriff gemäß ist die Ironie nach Kierkegaard „als die unendliche und absolute Negativität ... die leichteste und unscheinbarste Bezeichnung der Subjektivität“ (These VIII). Das ironische Dasein oszilliere zwischen Empirie und Idealität, ohne in empirischer oder idealer Weise hinreichend erfasst werden zu können. Während Sokrates bei Xenophon als „ein

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Apostel der Endlichkeit“ und „betriebsame(r) Musterreiter im Werbedienst der Mittelmäßigkeit“ (Kierkegaard, 130; bei K. teilweise gesperrt) erscheine, erhebe ihn Platon in die Sphäre reiner Idealität. Beides sei abstrakt und entspreche nicht der sokratischen Existenz, wie sie wirklich war. Denn in Wirklichkeit sei Sokrates weder empiriebefangener Sophist noch ein Philosoph im Sinne des platonischen Idealismus gewesen. Sein Standpunkt, wenn man ihn denn überhaupt so nennen will, sei zwischen Empirie und Idealität angesiedelt. „Auf der einen Seite ist gerade das Mannigfaltige der Wirklichkeit das Element des Ironikers, auf der anderen Seite aber ist sein Schreiten über die Wirklichkeit hin schwebend und ätherisch, ständig rührt er nur an den Boden; da aber das eigentliche Reich der Idealität für ihn noch fremd daliegt, ist er noch nicht dahin abgewandert, doch gleichsam in jedem Augenblick marschbereit.“ (Kierkegaard, 131) Die sokratische Existenz ist nach Kierkegaard im Übergang begriffen und in ihrem Dasein nur als im Übergang begriffen zu begreifen. Aristophanes habe dies noch am ehesten erfasst; er sei „bei der Schilderung des Sokrates der Wahrheit am nächsten gekommen“ (These VII). Ergebe der Vergleich zwischen Xenophon und Platon, dass der eine den Sokrates allzu sehr herabgedrückt, der andere ihn allzu sehr erhoben, keiner von beiden ihn aber gefunden habe (vgl. These III), treffe Aristophanes die goldene Mitte, indem er die sokratische Persönlichkeit mit Mitteln der Komödie als ironische Existenz vorstelle. Nach Kierkegaard hat sich Sokrates der Ironie nicht nur äußerlich, sondern auf reflexe Weise dergestalt bedient, dass er sich selbst ironisch wahrnahm, um nicht nur an sich, sondern auch für sich als Ironiker zu gelten. In der Selbstironie erst vollendet sich die ironische Persönlichkeit. Der Selbstironiker stellt nicht nur die substantielle Geltung alles Äußeren infrage, sondern die eigene Substanz, um gerade darin seine Lebensbefriedigung zu finden. Er hat nicht nur ein Bewusstsein der Nichtigkeit äußerer Gegebenheiten, sondern weiß um das Nichts seiner selbst und um sein eigenes Nichtwissen, dessen Affirmation ihm als alleiniger Halt dient, um im universalen Nihilismus seiner Existenz Bestand zu verleihen. Sokrates ist eine im Übergang begriffene Existenz. Dies gilt nach Kierkegaard nicht nur im historischen Sinne, wonach seine Position zwischen naturphilosophischem Substanzdenken, sophistischer Kritik und den idealen Konstruktionen des platonischen Denkens zu stehen kommt. Käme dem sokratischen Dasein nur eine Mittelstellung von philosophiegeschichtlichem Belang zu, könnte man sein Auftreten systematisch als transitorisches Moment begreifen, um rasch darüber hinweg zu schreiten, wie das gemäß Kierkegaard bei Hegel der Fall ist. Als „kommandierender General der Weltgeschichte“ (Kierkegaard, 229) übergehe dieser allzu eilig das Besondere, ohne am Individuellen, welches sich nicht ohne Weiteres der Allgemeinheit des Begriffs fügt, das nötige Interesse zu nehmen. Zwar bemerke auch er, „daß es sich bei Sokrates nicht so sehr um Philosophie handle als vielmehr um individuelles Leben“ (Kierkegaard, 228). Doch schenke Hegel dieser Wahrnehmung keine weitere Aufmerksamkeit und gehe über die individuelle Persön-

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lichkeit des Sokrates ebenso eilig hinweg wie über das Lebensphänomen der Ironie, deren Begriff ihm im Übrigen durch die zeitgenössische Romantik erheblich verdunkelt worden sei. Anders als Hegel ist Kierkegaard an der sokratischen Ironie vor allem als an einem individuel- Kierkegaards Fragmal len Lebensphänomen interessiert. Seine Promotionsthesenreihe schließt mit dem Hinweis: „Ebenso wie die Philosophie mit dem Zweifel, ebenso beginnt ein Leben, das menschenwürdig genannt werden kann, mit der Ironie.“ (These XV) Kierkegaard misst der Ironie demnach ein hohes Lebensrecht zu, das eingehende Würdigung verdient. Nichtsdestoweniger und unbeschadet dessen ist er mit Hegel der Auffassung, dass die Ironie lediglich am Anfang eines menschenwürdigen Lebens steht, ohne dessen Vollendung bewirken zu können. Sieht man näher zu, dann wird man feststellen, dass seine Kritik an Sokrates ungleich schärfer ausfällt als diejenige Hegels. Denn während dieser für Sokrates, sofern er ihm mehr gilt als ein transitorisches Durchgangsmoment der Philosophiegeschichte, bereits eine entwickelte Idee des Guten in Anspruch nimmt, wird die Möglichkeit hierzu von Kierkegaard explizit in Abrede gestellt: die sokratische Idee des Guten sei nicht etwa Fülle, sondern reine Leere, sein ironischer Standpunkt auf nichts gestellt und nichts als in sich reflektierte Negativität: „Gleich wie Charon die Leute übersetzte aus des Lebens Fülle ins unterirdische Schattenreich, gleich wie er, um seinen leichten Nachen nicht zu schwer zu belasten, die Reisenden veranlaßte, alle vielfältigen Bestimmungen des konkreten Lebens, Titel, Würden, Purpur, große Worte, Sorgen, Kümmernisse usw. von sich zu tun, so daß nichts denn rein der Mensch übrig blieb, ganz ebenso setzte auch Sokrates die Individuen von der Realität über in die Idealität, und das Unendliche der Idealität als die unendliche Negativität war das Nichts, in welchem er die ganze Mannigfaltigkeit des Wirklichen verschwinden ließ. Sofern Sokrates nun fort und fort das an und für sich Seiende zum Vorschein kommen ließ, könnte es so aussehn, als ob wenigstens damit es ihm ein Ernst gewesen wäre; eben deshalb aber, weil er bloß zu ihm hingelangte, das an und für sich Seiende bloß als das unendlich Abstrakte besaß, hatte er das Absolute unter der Form des Nichts. Die Wirklichkeit ward durch das Absolute zum Nichts, aber das Absolute war abermals ein Nichts.“ (Kierkegaard, 241f.; bei K. teilweise gesperrt). Es ist nach Kierkegaard der ironische Standpunkt des Sokrates und kennzeichnend für das individuelle Leben der Ironie überhaupt, im reinen Negationsvermögen selbstaffirmative Befriedigung zu finden, ohne sich in einer idealen Welt des Geistes realiter zu explizieren. Die ironische Subjektivität verharrt in der ewigen Unruhe ihrer selbst, um beständig das Gleiche zu wiederholen, statt objektive Geistesgestalt anzunehmen. Nicht zuletzt am Verhältnis des Meisters zu seinen Schülern wird dies nach Kierkegaard offenbar: Sokrates „half dem Individuum zu einer geistigen Entbindung, er durchschnitt die Nabelschnur der Substantialität. Als Geburtshelfer war er unübertrefflich, mehr aber war er auch nicht. Er übernahm daher auch keine eigentliche Verantwortung für das spätere Leben seiner

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Schüler, und Alkibiades gibt auch hier ein Beispiel statt aller übrigen ab.“ (Kierkegaard, 197; bei K. teilweise gesperrt) Die Sendung des Sokrates erschöpft sich nach Kierkegaard in derjenigen des Mäeutikers. Zu seiner mäeutischen Mission war er von seinem Dämon bestimmt worden: „Sokrates hat alle seine Zeitgenossen aus Substantialität gleich nackten Schiffbrüchigen verscheucht, hat die Wirklichkeit umgestürzt, die Idealität von ferne geschaut, sie berührt, aber nicht ergriffen.“ (These IX) Sein Standpunkt war nicht nur ohne Positivität, sondern positionslos in sich selbst, wie das für die Ironie insgesamt gilt, deren Begriff Hegel nach Kierkegaards Urteil durchaus zu Recht als unendliche und absolute Negativität bezeichnet habe. Dass damit auch Kierkegaards Urteil über die romantische Ironie als eine potenzierte, weil unter den Bedingungen bereits substanzemanzipierter und entwickelter Subjektivität auftretende Ironieform gesprochen ist, belegt der zweite Teil seiner Dissertation in wünschenswerter Deutlichkeit. Kierkegaards Text schließt mit dem Hinweis, dass Ironie der humoristischen Vertiefung bedürfe. „Humor enthält eine weit tiefere Skepsis als Ironie; denn hier dreht sich alles nicht um die Endlichkeit, sondern um die Sündigkeit; die Skepsis des Humors verhält sich zu der der Ironie wie Unwissenheit zu dem alten Satz: credo quia absurdum; aber der Humor enthält auch eine weit tiefere Positivität; denn er bewegt sich nicht in humanen, sondern in gottmenschlichen (theanthropischen) Bestimmungen, er findet nicht Ruhe darin, daß er den Menschen zum Menschen macht, sondern darin, daß er den Menschen zum Gottmenschen macht.“ (Kierkegaard, 334f.; bei K. teilweise gesperrt) Statt diesen kryptischen Satz jener Interpretation zuzuführen, die er durch Kierkegaards Gesamtwerk erhalten hat, soll er bis auf Weiteres unkommentiert bleiben, damit er, mit einem Wort Emanuel Hirschs zu reden, als Fragmal den geplanten Durchgang durch die griechische Philosophiegeschichte begleite.

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Lit.: A. Aall, Geschichte der Logosidee in der griechischen Philosophie, Leipzig 1896. – R. Brague, Die Weisheit der Welt. Kosmos und Welterfahrung im westlichen Denken, München 2006. – Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, Hamburg 1986. – C.J. Classen (Hg.), Sophistik, Darmstadt 1976. – F.M. Cleve, The Philosophy of Anaxagoras, The Hague 1973. – J.E. Erdmann, Grundriß der Geschichte der Philosophie. Erster Band. Philosophie des Altertums und des Mittelalters, Berlin 41896. – M. Emsbach, Sophistik als Aufklärung. Untersuchungen zu Wissenschaftsbegriff und Geschichtsauffassung bei Protagoras, Würzburg 1980. – R. Ferber, Zenons Paradoxien der Bewegung und die Struktur von Raum und Zeit, München 1981. – G. Figal, Sokrates, München 1995. – O. Gigon, Untersuchungen zu Heraklit, Leipzig 1935. – E.-M. Kaufmann, Sokrates, München 2000. – K. Held, Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung, Berlin/New York 1980. – W. Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart 21975. – H.-J. Newiger, Untersuchungen zu Gorgias’ Schrift Über das Nichtseiende, Berlin/New York 1973. – K. Reinhardt, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie, Frankfurt a.M. 21959. – B. Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen 4 1975. – S. Trépanier, Empedocles. An Interpretation, New York/London 2004. – E. Voegelin, Order and History. Bd. II. The World of the Polis, Baton Rouge/London 1957. – B.L. van der Waerden, Die Pythagoreer. Religiöse Bruderschaft und Schule der Wissenschaft, Zürich/München 1979. – E. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Erster Teil: Allgemeine Einleitung. Vorsokratische Philosophie, 2 Abteilungen, Hildesheim 71963 (Fotomechanischer Nachdruck der 6. Auflage, Leipzig 1919/ 20).

Die Vertreter der Secta Ionica, heißt es in Johann Naturphilosophische Jacob Bruckers „Historia critica philosophiae“ Anfänge (Pars II. Lib. II. Cap. I § II), haben nur Naturphilosophie betrieben, „donec Socrates ... philosophiam e coelo in terram deduceret, et de moribus philosophando novam sectam conderet, quae Socratica dicta fuit.“ Ähnliches liest man bereits in Ciceros „Tusculanes“ (V,4,10); die berühmte Textstelle enthält „die kanonische Formulierung“ (Brague, 45) für das, was man später die sokratische Revolution genannt hat. Mit der ethischen Begriffsphilosophie des Sokrates und dem Reflexwerden des Denkens, welches sich materialiter in einer Anthropologisierung der Kosmologie niederschlägt, beginnt ein neues Entwicklungsstadium in der Geschichte griechischen Denkens. Insofern hat es seine Richtigkeit, diejenige Periode griechischer Denkgeschichte, die vom sechsten vorchrist-

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lichen Jahrhundert bis zum Ende des fünften bzw. zum Anfang des vierten reicht, zusammenfassend als Vorsokratik zu bezeichnen. Vorsokratiker gehen ihrem Begriff gemäß Sokrates nicht nur zeitlich vorher, sie haben als dessen Vorläufer auch insofern zu gelten, als das vorsokratische Denken im sokratischen an die Grenze seiner selbst gelangt, um diese und mit ihr sich selbst zu transzendieren. Dennoch wäre es unbillig und nicht im sokratischen Sinne, den Vorsokratikern den Ehrentitel der Philosophie vorzuenthalten bzw. sie dem Stadium philosophischer „Unreife“ (Erdmann, 15) zuzuweisen. Zwar sind sie keine Dialektiker im sokratischen Sinne, und zu einem entwickelten Bewusstsein seiner selbst ist ihr Philosophieren noch nicht durchgedrungen. Doch zeigen sich spätestens seit Thales (ca. 650–560 v.Chr.) erkennbare Anfangstendenzen des Denkens, sich auf sich und sein Vermögen zu besinnen. Thales ist nicht der Anfänger der Philosophie, so als sei diese mit ihm auf einen Schlag in die Welt getreten. Seine sowie die vorsokratische Philosophie insgesamt ist einerseits durch Traditionen von Religion und Mythos, Sprache und Dichtung vielfach vermittelt, andererseits auf eine Folgegeschichte hin angelegt, ohne die sie nicht wäre, was sie ist: der Anfang der Philosophie bei den Griechen. Den Bruch mit dem Mythos, der seine panhellenische Form durch die Dichter erhalten hat, und den Übergang vom Mythos zur Philosophie, wie er sich in den Angriffen des Xenophanes gegen Homer und Hesiod abzeichnet, ist im zweiten Band von Eric Voegelins Werk „Order and History“ anschaulich beschrieben (Voegelin, 165– 183). Wichtige Gesichtspunkte finden sich ferner in Bruno Snells Studie zur Entwicklung des europäischen Denkens bei den Griechen „Die Entdeckung des Geistes“. Indem er den Weg „vom mythischen Vergleich und vom homerischen Gleichnis zum wissenschaftlichen und philosophischen Analogie-Schluß“ (Snell, 178) nachzeichnet, wird deutlich, wie elementar sich logisches Denken vom Mythos abzuheben bestrebt war. Zwar werden Begriff und Idee des Logos nicht sofort an sich selbst zum Thema. Doch findet sich eine ausgearbeitete Logoslehre keineswegs erst in der Stoa und bei Philo, sondern bereits bei Heraklit, dem der Logos als kosmisches Prinzip im Sinne einer alles durchwaltenden Weltvernunft gilt, welcher konform zu sein des Menschen Wesensbestimmung ist: „Es ist der Logos die intellektuelle Basis der Welt wie der Wahrheit zuverlässigstes und klarstes Ideal.“ (Aall, 55) In seiner ursprungsmythischen Neigung, den Anfang zum archaischen Prinzip zu verklären, hat Friedrich Nietzsche die Vorsokratiker zur Vollendungsgestalt griechischen Denkens stilisiert, im Vergleich zu denen alles Weitere als Verfallsgeschichte zu beurteilen sei. Diese Betrachtung ist ebenso abwegig wie die Annahme, die Anfänglichkeit vorsokratischen Denkens sei dadurch zu hintergehen, dass man sie auf außergriechische Ursprünge etwa orientalischer Provenienz reduziert. Mochten Juden wie Philo von Alexandrien, die im griechischen Denken gebildet waren, gute religiöse Gründe dafür haben, die Philosophie der Hellenen auf mosaische Wurzeln zurückzuführen: historisch verifizieren lässt sich die These nicht, dass die griechische Weisheit aus jüdischer Offenbarung hervorgegangen sei; diese

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Annahme hat im Gegenteil als falsifiziert zu gelten. Statt die vorsokratischen Anfänge griechischer Philosophie ursprungsmythisch zu verklären oder auf äußere Bestimmungsgründe zu fundieren, wird man sie daher in ihrer Anfänglichkeit zu belassen und als jenes „natürliche“ Denken zu begreifen haben, welches nicht von ungefähr in der Natur den eigentümlichen Gegenstand seiner beginnenden Tätigkeit fand. Vorsokratisches Denken ist Naturdenken und als solches der mythischen Kosmologie vielfach verbunden, als dessen älteste Urkunde Hesiods Theogonie zu gelten hat; es ist aber zugleich Denken der Natur und darin als eine Anfangsgestalt wissenschaftlicher Weltbetrachtung von kosmogonischen Mythendichtungen grundsätzlich unterschieden. Indem es die Natur natürlich zu erklären sucht, wird das Denken seiner selbst anfänglich gewahr. An der Natur der Dinge selbst soll deren Wahrheit in Erfahrung gebracht werden: damit hebt das Denken an, um sich fortschreitend als Wissenschaft zu gestalten, die ihren eigenen Erkenntnisgesetzen folgt, ohne sich länger dem Diktat fremder Autoritäten zu beugen. Die antike Überlieferung vorsokratischer Philosophie, für die der Aristotelesschüler Theophrast maßgebend war, ist hoch kompliziert; die Quellenlage stellt vor große Probleme. Die Aussagen der Vorsokratiker sind nur auf indirektem Wege zu erschließen, da sie lediglich in Form von Zitaten und freien Wiedergaben vorliegen. Grundlegend für das Studium ist bis heute Hermann Diels’ großangelegtes, von Walther Kranz fortgesetztes Werk „Die Fragmente der Vorsokratiker“, das seit 1903, dem Jahr der Erstpublikation, in vielen Neuauflagen erschienen ist. Es enthält neben den Fragmenten der Philosophen des sechsten und fünften Jahrhunderts und ihrer unmittelbaren Nachfolger kosmologische Dichtung der Frühzeit, astrologische des sechsten Jahrhunderts sowie frühe kosmologische und gnomische Prosa. Als Einführung in die vorsokratische Philosophie empfehlen sich u.a. die Standardwerke von O. Gigon „Der Ursprung der griechischen Philosophie von Hesiod bis Parmenides“ (1947) und W. Jaeger „The Theology of the Early Greek Philosophers“ (1947) sowie der von H.-G. Gadamer herausgegebene Sammelband „Um die Begriffswelt der Vorsokratiker“ (Darmstadt 1968). Aus der Fülle der Literatur jüngerer Zeit sei genannt: Th. Buchheim, Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt, München 1994; dort findet sich auch eine Fülle weiterführender Literaturangaben. Seines eigenen Wesens wird das Denken anThales von Milet und die fänglich dadurch gewahr, dass es Einsicht nimmt ionischen Physiker in die gesetzmäßige Ordnung der Natur. Genau dies ist bei den Vorsokratikern der Fall. Ihr Denken ist in einem prinzipiellen Sinn naturphilosophischer Art. Für die traditionelle Auffassung, die vorsokratische Naturphilosophie mit Thales von Milet beginnen zu lassen, spricht die Tatsache, dass er als Erster das Sein der Dinge prinzipientheoretisch durch Rekurs auf einen Urstoff zu begründen suchte, um die Vielheit physikalischer Erscheinungen auf eine natürlich zu erklärende Einheit zurückzuführen. Als dieser Urstoff wird von Thales das Wasser gesetzt. Wie die Körperlichkeit alles Natürlichen und die in den natürlichen Körpern wirkenden Kräfte ist auch der Wasserurstoff physischer Art und

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keine geistige Größe. Wie die Natur selbst und alles, was in ihr wirkt, ist auch ihr Grund, der sie konstituiert, von natürlichem Wesen. Natur ist sonach der Inbegriff alles Wirklichen. Die stoffliche Natur gründet in einem natürlichen Stoff. Alles Seiende ist von jener Natürlichkeit, in dessen unmittelbarer Erfassung sich das Denken des Thales erfüllt. Dass die Kenntnis der Natur und ihrer materialen Objekte von denkender Selbsterkenntnis und einer Begriffsreflexion abhängig sein könnte, welche auf die impliziten Bedingungen von Wissen ausgerichtet ist, kommt dem milesischen Weisen nicht in den Sinn. Sein Wissen ist ganz dem Sein hingegeben, ohne bereits ein Bewusstsein seiner selbst entwickelt zu haben. Wie ihr Stifter Thales, der das Wasser zu dem Stoff erklärte, aus welchem durch Verdünnung und Verdichtung alles entstanden ist, versuchten auch die sonstigen Vertreter der älteren ionischen Physik die Erscheinungen der Natur aus einem gemeinsamen natürlichen Grund zu erklären, der ihr einheitliches Wesen ausmacht. Anaximander (um 610–546 v.Chr.), wie Thales aus Milet stammend, bezeichnete diesen ursprünglichen Wesensgrund als das Unendliche oder Unbegrenzte. Als quantitativ und qualitativ Unbestimmtes entlässt das „Apeiron“ die Elementargegensätze von warm und kalt sowie feucht und trocken aus sich, aus denen sich die kosmischen Entitäten bilden. Mag es zunächst so erscheinen, als erhebe Anaximander ein unkörperliches Prinzip zum Urgrund der Dinge, so zeigt sich doch bei genauerer Betrachtung, dass das „Apeiron“ keine unstoffliche Größe, sondern die unendliche Materie bezeichnet, die durchaus als körperlicher Stoff und als stoffhaftes Substrat aller Dinge zu denken ist, zu welchen es sich ausdifferenziert. Was dem Kosmos zugrunde liegt, ist nach Anaximander ein Urstoff von unendlicher Masse, aus dessen interner Dynamik sich nicht nur die gegebene Welt ausgebildet hat, sondern durch Untergang und Neuerstehen der Möglichkeit nach zahllose Welten in ewigem Kreislauf sich ausbilden können. Der Hylozoismus Anaximanders wird von seinem Schüler Anaximenes in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts durch Gleichsetzung des „Apeiron“ mit der Luft fortgesetzt, durch deren Verdünnung und Verdichtung alles Werden und Vergehen bewirkt werde. Von atmosphärischen Luftgrößen ist die Urluft durch ihre Unendlichkeit unterschieden. Das ändert indes nichts an ihrer stofflichen Natur, die dem Äther des Anaximenes ebenso eignet wie dem Urwasser des Thales oder dem „Apeiron“ des Anaximander. An dem physischen Charakter des Urgrundes aller Dinge hielten im Übrigen auch die späteren Anhänger der ionischen Schule fest. Noch der weltimmanente Nus, auf den Diogenes von Apollonia die Zweckmäßigkeit des Kosmos zurückführte, weist einen stoffanalogen Charakter auf. Was den alten ionischen Physikern der Urstoff Die Arithmetik der Pythaist, das stellt den Pythagoreern die ursprüngliche goreer Zahl und den Eleaten das eine Sein dar, welches dem Seienden in seiner Vielheit zugrunde liegt. „Thales läßt alles aus dem Wasser, Anaximander aus dem unendlichen Stoff, Anaximenes aus der Luft entstanden sein und bestehen, die Pythagoreer sagen: alles ist Zahl, die Eleaten: alles ist das eine, unveränderliche Wesen.“ (Zeller I,1, 240) Gemeinsam ist allen das Bestreben,

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die Erscheinungen auf einen Urgrund der Dinge zu beziehen, dessen identisches Wesen die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen substanzhaft fundiert. Der Unterschied zwischen ionischen Naturphilosophen, Pythagoreern und Eleaten wird vor allem deutlich aus den Vorstellungen bzw. Gedankenbestimmungen, die diese jeweils mit der einen Substanz verbinden, aus denen die Dinge in ihrer Vielheit bestehen. Bestimmen die Ionier die Ursubstanz als physischen Stoff und als zwar unbegrenzte, aber doch körperhafte Urmaterie, geben ihr die Pythagoreer eine mathematische, die Eleaten schließlich eine meta-physische Fassung, indem sie das Sein als solches, das allem Seienden sein Sein gibt, als eine von allen natürlichen Bestimmtheiten abstrahierte Größe denken. Was die Anhänger des aus Samos stammenden Pythagoras (ca. 570–497/6 v.Chr.) und den von ihm gestifteten Bund anbelangt, so bildeten die Pythagoreer im 5. und 4. Jahrhundert v.Chr. in Unteritalien und Griechenland eine einflussreiche „religiöse Bruderschaft und Schule der Wissenschaft“ (van der Waerden), deren Lehre im Wesentlichen nicht schriftlich überliefert, sondern mündlich tradiert worden ist. Der Urgrund der Dinge soll nicht eigentlich stofflicher Natur, sondern von zahlenmäßiger Form sein. Zahlenverhältnisse bestimmen nach pythagoreischem Urteil das Wesen der Dinge, deren Vielzahl die Eins begründet und zur Einheit zusammenschließt. Dabei wird der Eins durchaus ein reales Substrat zugedacht, ohne sie mit eigentlich stofflichen Assoziationen zu verbinden. Angemerkt sei, dass der Pythagoreismus, der von Anfang an nicht bloß eine wissenschaftliche, sondern immer auch und vor allem eine religiös-soziale Vereinigung war, insbesondere in Alexandria, später auch anderwärts neu auflebte, um in Gestalt des Neupythagoreismus nicht nur auf den entstehenden Neuplatonismus, sondern auch auf die Umwelt des Christentums erheblich einzuwirken. Den alten Pythagoras stilisierte man zu einer Art von Heiland und Wundertäter, dem mit Apollonius von Tyana ein zweiter Heiliger und göttlicher Mann zur Seite gestellt und der religiösen Verehrung anempfohlen wurde. Der reale Gründer der altpythagoreischen Schule verschwand so mehr und mehr hinter dem Ideal, welches die neupythagoreische Frömmigkeitsbewegung von ihm zeichnete. Auch von der Lehre des vorplatonischen Pythagoreismus wurde in der neuen Schule nur noch bedingt Gebrauch gemacht, am ehesten in zahlensymbolischer Hinsicht. Die durch die Eins begründete Einheit steht nach Urteil sowohl der Neu- als auch der Altpythagoreer für Ordnung und Harmonie sowie für die verlässliche Dauer unveränderlichen Seins; die Zweiheit bildet als Inbegriff aller Differenzen nicht nur den Grund von Anderssein und Veränderung, sondern auch die Ursache aller Zwietracht. Erst in der vollkommenen Dreizahl können Einheit und Verschiedenheit zum stimmigen Ausgleich gebracht werden. Wie auch immer: In der Überzeugung, dass seinem Wesen nach alles Zahl, die Zahl mithin das Wesen aller Dinge sei, stimmen Alt- und Neupythagoreer ebenso überein wie in der Favorisierung unteilbarer Einheit als der Ursubstanz aller unterschiedenen Dinge, denen in der Gestalt der Zahlen ihre je eigene Substanz zugeteilt wird, so dass Zahl und Sache im Verhältnis von Urbild und Abbild zueinander stehen.

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Ihre arithmetische Bestimmtheit macht das Wesen der Dinge aus, und die Zahl ist die Größe, als welche eine Entität ihrer Wesensbestimmung nach existiert. Alles Weitere ergibt sich aus dem differenzierten Zusammenhang von Ungeradem und Geradem, Begrenztem und Unbegrenztem, welches die Pythagoreer zahlensystematisch zu erfassen suchten, um der Ordnung des Kosmos und jener harmonischen Musik gewahr zu werden, die in unerhörter Weise die kosmischen Sphären erfüllt. Ohne Wahrnehmung der Sphärenharmonie kann der Mensch zu innerer Ruhe niemals gelangen. Seine Seele muss solange ruhelos von einem zum anderen wandern, bis sie Zugang findet zur kosmischen Harmonie, wie sie durch das System der Zahlen strukturiert ist. In der eleatischen Philosophie vollendete sich die Das eleatische Sein mit Thales anhebende Suche nach dem allen Welterscheinungen zugrunde liegenden Ureinen, insofern dessen Einheit nun immer mehr transnatural und reiner noch als in mathematischen Formen, nämlich im Sinne einer metaphysischen Ontologie zum Ausdruck gebracht werden soll. Ob Xenophanes aus Kolophon, wie Platon meinte, als Gründer der Schule von Elea in Unteritalien gelten darf, ist umstritten. In die Geschichte eingegangen ist er vor allem als scharfer Kritiker der polytheistischen Vorstellungen der griechischen Volksreligion. Wider den überlieferten Vielgötterglauben des Volkes insistierte Xenophanes auf der Einheit und Einzigkeit Gottes, dessen Wesen, in dem das Weltganze besteht, mit nichts Endlichem und Unveränderlichem verglichen werden darf. Die Vielheit der veränderlichen Dinge wäre nicht bzw. müsste umgehend zunichte werden, würde das Mannigfaltige nicht in der Unveränderlichkeit des göttlichen Wesens gründen, welches das Weltganze, dessen Einheit es ist, konstituiert und beständig erhält. Ob man Xenophanes einen Monotheisten oder nicht besser einen Pantheisten zu nennen hat, kann ebenso dahingestellt bleiben wie die Frage, ob er im Vergleich zu Parmenides „den besseren Anspruch (hat), für den Urheber der eleatischen Seinsbestimmungen zu gelten“ (Reinhardt, 152). Tatsache ist, dass Xenophanes von einer Welttranszendenz Gottes wenig zu sagen weiß. Gott gilt ihm als die innere Einheit der Welt und als der eine Grund ihres unveränderlichen Wesens, ohne den nichts wäre, was ist. Dass alles veränderliche Einzelseiende in seiner Vielheit nur einen Modus des allein wahren Seins in seiner Einzigkeit darstellt, hat in der nötigen Klarheit als erster Parmenides (ca. 540–470 v.Chr.) ausgesprochen. Damit war der ontologische Grundsatz eleatischer Metaphysik formuliert. Das Sein als solches ist ewig und eins. Alles Veränderliche und Viele ist nur, sofern es am ewigen Sein in seiner Einheit partizipiert. An sich selbst und unabhängig vom einen Sein als solchem ist das Einzelseiende nichts. Seine Veränderlichkeit und mögliche Hinfälligkeit kann als Indiz hierfür gelten. Als Veränderliches ist das Einzelseiende in Wahrheit nicht. Es ist in Wahrheit nur, indem es am ewigen Sein teilhat. Seine Veränderlichkeit ergibt sich ebenso wie die für alles Einzelseiende kennzeichnende Vielheit aus jener Gemengelage von Sein und Nichts, die seine Existenz bestimmt. Weder die Vielheit noch die Veränderlichkeit, die am Einzelseienden auszumachen sind, haben in

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Wirklichkeit statt, da alles, was ist, in Wirklichkeit nur eines und seinem Wesen nach dasselbe ist. Was außer dem Einen zu sein scheint, scheint nur zu sein und ist nur in indifferenter Identität mit dem Sein als solchem, wohingegen es in Differenz zu ihm nichts ist als Nichts. Während das einzelne Seiende weder den Konstitutions- noch den Erhaltungsgrund seiner selbst in sich trägt und in der Nichtigkeit, die in der stetigen Veränderung seiner selbst zum Ausdruck kommt, keinen bleibenden Bestand hat, ist das Sein als solches ewig. Parmenides kann daher sagen, dass Seiendes überhaupt nur ist, sofern es mit dem Sein als solchem identisch und mit dessen Einheit eins ist. Vielheit, Veränderung, Einzelheit scheinen nur zu sein und sind in Wahrheit nichts. Alles Werden ist lediglich ein defizienter Modus des Seins, das als solches weder Anfang noch Ende, weder Vergangenheit, Gegenwart noch Zukunft kennt. Das Sein selbst war nicht und wird nicht sein, sondern ist von Ewigkeit zu Ewigkeit in ungeteilter und unverändlicher Einheit, was es ist. Das Sein als solches weiß von keinem Nichts und kann nicht nichts sein und nicht zunichte werden. Es ist, was es ist, als reines Sein, unmittelbar eins und sich selbst gleich. Sein ist Sein und sonst nichts. Auch das Denken des Seins ist, sofern es ist, nach Parmenides nichts als Sein, von dem es wie alles, was ist, sein Wesen hat. Daraus wird deutlich, dass das eleatische Sein nicht eigentlich begrifflich, sondern durchaus als seiendes Sein verstanden werden will. Das Sein als solches ist wie alles, was ist. Aber es ist im Unterschied zu allem Einzelseienden rein und ohne Beimischung von Nichts. Das Sein als solches ist seiend; aber es ist anders als das sonstige Seiende, das mit nichtigem Schein versehen ist, als reines Sein seiend. Um dessen gewahr zu werden, muss das Denken von allem, was sinnlich erscheint, absehen, um selbstvergessen einzukehren in das Sein als solches, das allem Differenten gegenüber indifferente Identität und ewig eins ist. Die eleatische Seinslehre, wie Parmenides sie entwickelt und sein Lieblingsschüler Zeno (um 490–430 v.Chr.) sie gegen kritische Einwände verteidigt hat, führt in der ihr eigenen Konsequenz an eine Grenze vorsokratischer Naturphilosophie. Indem sie den Wesensgrund aller kosmischen Erscheinungen, nach welchem die ionischen Physiker zu suchen begannen, von allen bestimmten Vorstellungen sinnlich vermittelter Art abhoben und noch abstrakter fassten, als die pythagoreische Arithmetik dies vermochte, führten die Eleaten die Naturphilosophie zur folgerichtigen Vollendung, insofern sie alles natürliche Seiende auf das reine Wesen der Natur reduzierten, als das ihnen das Sein als solches galt. Alles Natürliche ist seiner Natur nach reines Sein und sonst nichts. Seiendheit ist das Wesen alles natürlich Seienden. Seiner allgemeinsten und darin natürlichsten Bestimmung nach ist daher alles Seiende in Wahrheit eins. Wo Einsicht in die Einheit des Seins und alles Seienden genommen ist, muss die Vielheit der Dinge und ihre Veränderlichkeit als bloßer Schein erscheinen. Auf den Scheincharakter von Vielheit und Veränderung zielen daher folgerichtig alle Beweise, welche Zeno zur Apologie der Lehre seines Meisters Parmenides vom einen und unwandelbaren Sein des Seienden führt. U.a. am Wettlauf des Achill mit der

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Schildkröte soll exemplarisch aufgewiesen werden, in welche Widersprüche sich die Annahme einer Realität von Bewegung in einem differenzbestimmten Raum verstrickt. Aus dieser und vergleichbaren Aporien vermag nach Zeno nur die Einsicht zu befreien, dass es außer dem Sein des Seienden als solchem in Wahrheit nichts gibt. Alles ist in Wahrheit eins; mit dem Eleaten Melissos von Samos zu reden: gibt es Vieles, dann muss jedes dieser Vielen die Eigentümlichkeiten des Einen an sich tragen, wohingegen es ohne diese für nichts zu gelten hat. Damit ist gesagt, dass es Vieles nur als Modus des Einen und an sich selbst in Wahrheit nicht gibt. Dass sich auch andere Möglichkeiten bieten, die Zenon’schen Bewegungsparadoxien aufzulösen, wird erst dann klar, wenn man erkennt, dass sie durch eine „Konfusion der physikalisch-mathematischen mit der physikalisch-empirischen Ebene entstehen“ (Ferber, 33). Doch diese differenzierte Erkenntnis blieb der eleatischen Einheitslehre ob ihrer Indifferenz verschlossen. Mit dem eleatischen „Hen kai pan“ ist das Wesen der Natur auf einen abschließenden Begriff und die vorsokratische Naturphilosophie insofern zur Vollendung gebracht, als Höheres als das Sein als solches vom natürlich Seienden erkenntlich nicht gedacht werden kann. Gleichwohl konnte es mit der Philosophie der Eleaten nicht sein Bewenden haben und zwar aus einem doppelten Grund: Einerseits harrte ihr ontologischer Begriff des Seins als solchen darauf, als Begriff gewusst zu werden; denn wohl ist der Begriff des Seins selbst im eleatischen System vorhanden, jedoch auf eine Weise, die seinen gedanklichen Gehalt eher verdunkelt als offenbart. Das Sein als solches erscheint selbst als von naturhafter Art, ohne als Wesensbegriff der Natur erfasst zu sein. Es bedurfte der sokratisch-platonischen Begriffsphilosophie, um die eleatische Ontologie zum Bewusstsein ihrer selbst zu bringen und zugleich über den Bereich der Naturphilosophie hinauszuführen. Naturphilosophisch wiederum konnte der eleatische Einheitsgedanke allein aus dem Grunde nicht unstrittig bleiben, weil er von der Konkretheit der Naturerscheinungen derart konsequent abstrahierte, dass der natürlichen Weltanschauung ihr Gegenstand entzogen wurde. Von der Differenziertheit der Welt, deren veränderliche Vielheit zum bloßen Schein herabgesetzt wurde, blieb nichts übrig als die gänzlich indifferente Einheit des Seins als solchen, in welche Einsicht zu nehmen den Abschied von aller Anschaulichkeit bedeuten musste. Eine naturphilosophische Gegenbewegung hatte daher notwendigerweise zu erfolgen. Für sie steht, wie immer man sein historisches Verhältnis zu den Eleaten beurteilen mag, der Sache nach Heraklit mit seiner Grundthese, dass alles in Bewegung begriffen und nur als in Bewegung begriffen einheitlich zu begreifen sei. So wie der Fluss, dessen Wasser ständig wechselt, gerade im beständigen Wechsel der Wasser derselbe bleibt, so lässt sich die Seinseinheit des Seienden nur in, mit und unter ihrer veränderlichen Vielheit zur Erkenntnis bringen. Als wenig älterer Zeitgenosse des Parmenides hat der aus Ephesus stammende Heraklit (um 550–480 v.Chr.) eine naturphilosophische Wende dadurch initiiert, dass er im Unterschied und Gegenzug zu den ionischen Physikern, den Pythagoreern und insbesondere zu den Eleaten die Differenz der Welterscheinungen stark

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machte. Als mögliche Mittlerfigur bietet sich Xenophanes an: „manche seiner Lehren weisen ihn Heraklit nicht an die Spitze der Eleaten, sondern zu Heraklit als dessen Vorläufer.“ (Gigon, 159) Das Sein des Seienden ist in sich differenziert, nicht nur unterschiedlich, sondern auch gegensätzlich und zwieträchtig, aber gerade darin einheitlich. Die Harmonie des Seienden besteht im Kontrast und in der Fügung von Widersprüchlichem. Das Sein ist ein ewiges Werden. Seine Identität ist durch Verschiedenheit und Gegensätze vermittelt und hat nur in diesen und nicht abgesehen davon Bestand. Hielten die Eleaten Werden, Veränderung und Vielheit im Grunde für unmöglich und nichtig, so ist für Heraklit die Möglichkeit, der Einheit des Seins gewahr zu werden, gerade durch Differenzerfahrung erschlossen. Der Urgrund des Seins ist nicht abgesehen von der Mannigfaltigkeit der Einzeldinge zur Einsicht zu bringen, deren Veränderung das allein Beständige ist. Das Wesen der Dinge muss daher an sich selbst so beschaffen sein, dass sich aus ihm der Fluss aller Dinge und der laufende Wechsel der Erscheinungen erklären und verstehen lässt. Begreift die eleatische Ontologie das Sein des Seienden als in ewiger Ruhe begriffen, so versteht Heraklit die Einheit des Seins als beständige Veränderung. Nichts hat Bestand außer dem Wechsel der Dinge. Nicht nur das Einzelseiende ist veränderlich, das Sein selbst ist seinem Wesen nach ewige Veränderung. Sowenig indes die Eleaten den Seinsbegriff recht eigentlich begrifflich und im Reflex auf ihr Seinsbewusstsein erfassten, sowenig hat auch Heraklits Begriff des Werdens den Status einer ontologischen Idee, in welche das Wissen um den begrifflichen Charakter der Rede von der Einheit des Seins im Werden eingegangen ist. Das wird an der Tatsache erkennbar, dass das im beständigen Werden begriffene Sein realistisch mit dem Feuer assoziiert wird, welches der Urstoff aller wechselnden Dinge sein soll. Alles ist Feuer. Obzwar das Urfeuer übersinnlicher Natur ist, so bleibt es trotz seiner Transnaturalität von naturhafter Art und mit physikalischen Phänomenen vergleichbar. Die Vorstellung eines ätherischen, ja psychischen Wesens, die Heraklit gelegentlich vorzuschweben scheint, wenn er vom Urfeuer spricht, besagt nichts gegen diese Auffassung; denn auch die Seele bleibt bei ihm mit einem naturhaften Hauch versehen, und sie ist als metaphysische keine einfachhin transphysische Größe. Als kosmische Seele führt das Urfeuer durch unablässige Selbsttransformation jenen beständigen Wechsel herbei, welcher die Welt ausmacht. Das eine Gesetz, das die ganze Welt im Innersten durchwaltet und zusammenhält, ist dasjenige der Gegensatzeinheit. Ordnung gibt es nur in der Weise der Kontrastharmonie. Wie die Welt für immer und ewig im endlosen Wechsel besteht, so hat der Mensch den Wechselfällen seines Lebens dadurch zu begegnen, dass er sich in sie fügt, statt sich ihnen in sinnloser, ja sinnwidriger Weise entgegenzustemmen. Den beständigen Wechsel von Werden und Vergehen sein und sich gefallen zu lassen, ist der Weisheit letzter Schluss, den Heraklits Naturphilosophie in anthropologischer Hinsicht bereit hält. Es blieb der sophistischen Skepsis vorbehalten, die resignativen Mo-

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mente dieser Weisung zutage zu fördern, bis schließlich Sokrates dem Menschen gedanklich eine andere Stellung im Kosmos zuwies, als die Naturphilosophen es vermochten, die ihm vorausgingen. Der weitere Verlauf der vorsokratischen NaturEmpedokles und der philosophie ist wesentlich durch das Bemühen Atomismus Demokrits bestimmt, die von den Namen Parmenides einerseits und Heraklit andererseits bezeichnete Polarität aufzulösen und die Antithetik von unveränderlichem Sein und ewigem Werden zu mediatisieren. Die vor einigen Jahren durch einen spektakulären Papyrusfund (L’ Empédocle de Strasbourg) angereicherten naturphilosophischen Werke von Empedokles sowie von Demokrit und den Atomisten lassen sich bei allen gegebenen Unterschieden als solche Vermittlungsversuche verstehen. Die Lehre des Agrigenter Empedokles (490–430 v.Chr.), der sich der Legende zufolge in den Ätna gestürzt haben soll, in Wirklichkeit hingegen fern seiner sizilianischen Heimat in Griechenland gestorben ist, enthält sowohl eleatische als auch heraklitische Anteile und zeichnet sich vor allem durch die Annahme aus, dass alles durch Mischung und Entmischung der vier Elemente Feuer und Luft, Wasser und Erde seinen Bestand habe. Mit Parmenides stimmt Empedokles in der Annahme substanzieller Beharrlichkeit eines Ursprünglichen überein, welches sich jeder qualitativen Veränderung entzieht. Heraklit gesteht er zu, dass der Wechsel der Einzeldinge und ihr Werden und Vergehen nicht erklärbar sei, wenn Differenz nicht ursprünglich statthabe. Eine Lösung des Dilemmas findet Empedokles darin, dass er von Anbeginn mit einer Mehrzahl ungewordener, unvergänglicher und qualitativ unwandelbarer Urstoffe rechnet, aus deren unterschiedlicher Gemengelage sich die Mannigfaltigkeit des Seienden in seiner Differenziertheit erklärt. „Sein leitender Gesichtspunkt liegt in dem Satze, daß die Grundbestandteile der Dinge der qualitativen Veränderung so wenig als der Entstehung und des Untergangs fähig seien, daß sie dagegen in der mannigfaltigsten Weise verbunden und wieder getrennt werden können, und daß infolgedessen das aus den Grundstoffen (Z)usammengesetzte entstehe, vergehe, seine Form und seine Bestandteile ändere.“ (Zeller I,2, 1036) Aus Verbindung und Trennung der Ursubstanzen Erde, Wasser, Luft und Feuer ergibt sich Werden und Vergehen der Einzeldinge, in deren Mikrokosmos das makrokosmische Gesamtgeschehen sich abspiegelt: „In each mortal life, the whole drama and history of the cosmos is implicit.“ (Trépanier, 192) Die je in ihrer Art gleichursprünglichen vier Elemente stehen so sowohl für Identität als auch für Differenz, wie sie für das Sein des Seienden gleichermaßen wesentlich sind. Indem sie die vier Elemente auf Urbestandteile beziehen, die ihnen gemeinsam sind und ihre Einheit bilden, haben die Atomisten die Lehre des Empedokles einerseits vereinfacht, andererseits einer nicht unerheblichen Steigerung ihrer Komplexität zugeführt. Atome sind nach Maßgabe der Atomisten kleinste, ihrem Begriff zufolge nicht weiter teilbare Teile der elementaren Grundstoffe, aus denen die Welt und alles Seiende in ihr zusammengesetzt ist. Dass das Naturgeschehen zuletzt von einer Vielzahl kleinster unteilbarer Teilchen verursacht und bestimmt

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ist, hatte schon Leukippos von Milet gelehrt, von dem Demokrit von Abdera geschult wurde. Leukipp wird deshalb nicht selten als Begründer des Atomismus angeführt. Zum System entwickelt hat diesen allerdings erst Demokrit (um 460– 370 v.Chr.) auf der Basis der These, dass es in Wahrheit nichts gebe als Atome und Leeres. Das Sein alles Seienden, dasjenige von Seele und Geist eingeschlossen, besteht nach ihm aus den Atomen als den kleinsten materiellen Bestandteilen der Wirklichkeit, die mechanisch aufeinander einwirken und nicht nur die Entitäten der sinnlichen Welt, sondern ebenso Empfindung, Wahrnehmung und Denken bewirken. Der demokritische Atomismus ist sonach von durchweg materialistischer Art. Als die keiner weiteren Teilung zugänglichen materiellen Bestandteile bewegen sich die Atome in der Leere des Raums, um durch ihre verschiedenen Formationen, Lagen und Anordnungen die diversen Erscheinungen der Welt zu begründen und hervorzubringen. Nach Demokrit ist das All mit Atomkonstellationen angefüllt, wenngleich nicht gänzlich ausgefüllt, sofern mit einem verbleibenden Vakuum zu rechnen ist, welches das atomar zusammengesetzte Seiende voneinander trennt. Das Seiende ist von dem, was es nicht unmittelbar selbst ist, durch nichtseiende Leere geschieden. Ohne die Scheidung des Seienden durch das Nichtseiende könnte es Differenz und Anderssein nicht geben. Zwar ist der atomare Stoff, aus dem die raumerfüllenden Entitäten des Weltalls bestehen, seinem Wesen nach unveränderlich; gleichwohl ist die Fülle des Seins unbeschadet unteilbarer Einheit in sich differenziert, da das Sein am Nichts der Leere das Prinzip seiner Unterscheidung findet. Alles, was ist, ist eins, indem es an der Einheit unveränderlichen Seins teilhat. Aber es ist als Seiendes zugleich von allem anderen unterschieden. Der Unterscheidungsgrund, welcher das eine vom anderen abhebt, ist das Nichts der Leere. Dass Demokrit das Nichts des leeren Raumes als Vakuum bestimmt, zeigt an, dass er ihm keine rein logisch-begriffliche, sondern eine naturphilosophische Fassung zu geben gewillt ist. Das Nichts der Leere ist nicht bloße Negation, sondern ein Nichtseiendes, das als Nichtseiendes ist und als solches, obwohl unvorstellbar, zum Gegenstand der Vorstellung wird. Als Prinzip der Teilung ist die Leere nicht einfach nichts, sondern ein Nichtseiendes, das ebenso zum Bestand des Weltalls gehört wie die Atome, die den unteilbaren Grundstoff alles Seienden und ihr einheitliches Sein bilden. Alle Entitäten bestehen aus Atomen und der Leere, deren Verhältnis zueinander Einheit und Vielheit, Konstanz und Veränderung bedingt. Die Atome sind nichts als eigenschaftslose Substanzen, welche die Selbigkeit des Seienden in der Einheit des Seins begründen. Zu einer von anderem unterschiedenen eigenen Identität gelangt das Seiende erst durch Vermittlung des leeren Nichts, welches Seiendes voneinander scheidet und differenzierte Extern-, aber auch Internverhältnisse und so jene in sich differenzierte Differenz ermöglicht, welche die eine Welt ausmacht. Nach Demokrits Vorstellung ist nicht nur das eine Seiende vom anderen Seienden durch einen leeren Raum getrennt. Auch das jeweilige Einzelseiende weist leere Zwischenräume auf, die unterschiedliche Atomkonstellationen und so sowohl

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spezifische Eigentümlichkeiten als auch Veränderungen bei beibehaltener Identität ermöglichen. Das Einzelseiende ist nicht nur anders als alles andere Einzelseiende; es ist auch in der Lage, sich zu verändern. Sowohl generelles Anderssein als auch spezifisches Sichverändern ist durch das Zusammenspiel von atomarer Grundsubstanz und räumlicher Leere erschlossen. Ja, man wird sagen müssen, dass nicht erst die zwar nicht infinite, wohl aber nicht zu Ende zu zählende Vielzahl der Atomkonstellationen, sondern bereits die Tatsache, dass es überhaupt verschiedene unteilbare Atome gibt, durch das leere Nichts bedingt ist, ohne welches der Weltraum in seiner Seinsfülle nicht zu fassen ist. Alles Werden und Vergehen ergibt sich nach Maßgabe der Atomisten aus der Verbindung und Trennung ungewordener Stoffe, welche sich in der Leere des Raums ewig bewegen und unbeschadet der unteilbaren Einheit ihres Seins unterschiedliche Konstellationen und Verschiedenheiten von höchstem Steigerungsgrad ermöglichen. Zwar ist der Kosmos der Atomisten eins, und keine noch so große Verschiedenheit von Wirklichkeitswelten vermag die kosmische Einheit je grundsätzlich aufzuheben; aber die kosmische Einheit ist auf eine Weise in sich differenziert, dass ein höheres Maß an Differenz als die dem Kosmos eigene nicht vorstellbar ist. Indem er Einheit und Differenziertheit des Kosmos gleichermaßen zur Geltung zu bringen versucht, nimmt neben Empedokles auch der demokritische Atomismus eine Mittelstellung zwischen Parmenides und Heraklit ein: Er behauptet die Einheit des Seins, ohne die Vielheit der Dinge zu leugnen, und er lässt durch Entstehen und Vergehen, Veränderung und Bewegung den ewigen Bestand des substanziellen Wesens des Seienden nicht in Abrede stellen. Kann die Atomistik unter naturphilosophischen Gesichtspunkten als eindeutiger Fortschritt, ja als die entwickeltste Gestalt vorsokratischer Naturphilosophie überhaupt bewertet werden, so fällt ihre eigene Grenze mit derjenigen von dieser insgesamt zusammen. Die Grenze vorsokratischer Naturphilosophie liegt eben darin, nichts anderes zu sein als Philosophie der Natur bzw. natürliche Philosophie, die ihres eigenen Begriffs noch nicht vollständig inne geworden und noch nicht zum klaren Bewusstsein jenes Denkens gelangt ist, das ihre Untersuchungen leitet. Ein Indiz dafür ist der Materialismus der Atomistik, die nur körperliches Sein gelten lässt und keine anderen Wirkkräfte kennt als solche mechanischer Art. Für ein Verständnis naturhaften Seins mag dies durchaus hinreichend sein. Philosophie hingegen kann sich auch dort, wo die Natur ihr Thema ist, nicht im Naturhaften erschöpfen, weil der Begriff der Natur sich von dieser ebenso unterscheidet wie das Bewusstsein vom Sein. Ein reflexes Wissen ihres Bewusstseins vom Sein der Natur aber hat die demokritische Atomistik ebenso wenig entwickelt wie die vorsokratische Naturphilosophie überhaupt. Sie bleibt auch als Metaphysik im Wesentlichen Physik, und ihre Ontologie ist seinshaft verfasst, ohne sich ihres Seinsbegriffs reflexiv zu vergewissern. Ansätze, den Naturalismus vorsokratischer Naturphilosophie zu transzendieren, zeigen sich am ehesten beim Ionier Anaxagoras von Klazomenä (um 500–428 v.Chr.), einem Zeitgenossen des Empedokles und Leukipp, der jahrelang in Athen

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lehrte, die Gunst des Perikles gewann, bis er kurz vor Ausbruch des Peleponnesischen Krieges der Anaxagoras Gottlosigkeit angeklagt die Stadt verlassen musste. Naturphilosophisch ist sein Werk weniger differenziert als die atomistische Physik, deren entwickelter Systemgestalt es vorangeht. Wenn Anaxagoras der Atomistik etwas voraus hat, dann die Einsicht, dass der Geist, dessen Kraft die Natur bewegt und ordnet und der ihre gesetzmäßige Erkenntnis ermöglicht, nicht naturalistisch verfasst sein und auf stoffliche Weise erfasst werden kann, sondern bei all seiner Naturverbundenheit eine transnaturale Größe darstellt. Der Nus, der die Welt zum Kosmos ordnet und ihre Intelligibilität gewährleistet, ist kein körperlich Seiendes, sondern ein Vernunftwesen, das nicht durch sinnliche Anschauung, sondern nur denkend wahrgenommen werden kann. Man hat die These vertreten, dass mit Anaxagoras und seiner Überzeugung, die Weltordnung sei nicht auf bloß stoffliche Weise, sondern nur aus der Wirkung eines unstofflichen Nus auf den Stoff zu erklären, eine Umgestaltung der gesamten Wissenschaft im antiken Griechenland ihren Anfang genommen habe. „Ist einmal im Geist ein höheres Prinzip gefunden, durch welches die Natur selbst bedingt, ohne das ihre Bewegung und ihre zweckmäßige Einrichtung nicht zu erklären ist, so entsteht sofort die Forderung, daß dieser höhere Grund der Natur auch wirklich erkannt werde; die einseitige Naturphilosophie geht zu Ende, und die Forschung wendet sich neben und vor der Natur dem Geiste zu.“ (Zeller I,2, 1270) Richtig an dieser Feststellung ist, dass sich im Laufe des fünften vorchristlichen Jahrhunderts bei aller Blüte naturalistischer Naturphilosophie, für welche nachgerade die Atomistik anzuführen ist, Anzeichen einer Neuorientierung mehren, wie sie spätestens in der sokratischen Wende manifest wurde. Welche Anteile hieran Anaxagoras zukommen, ist eine zweitrangige Frage. Seine Stellung ist in signifikanter Weise ambivalent: Einerseits wird er von den großen Folgegestalten der sokratischen Wende, Platon und Aristoteles, wegen seiner Lehre einer Herrschaft der Vernunft über die sinnliche Welt gerühmt, andererseits wird er von eben denselben für seine mangelnde Konsequenz und die fehlende Folgerichtigkeit getadelt, das kosmisch Seiende nicht nur bezüglich seiner Verursachung, sondern hinsichtlich seines Sinnes und Zweckes zu erörtern. „Is Anaxagoras’ Nous ‚pure spirit‘?“ „Are his moiras ‚pure matter‘?“ (Cleve, 153) Wie immer der Die Sophistik philosophiegeschichtliche Status des Anaxagoras sowie das Verhältnis seiner Lehre vom Geist zu seinen eigenen physikalischen Untersuchungen und denen seiner Zeit zu beurteilen ist: ab der Mitte des fünften Jahrhunderts zeichnet sich eine Tendenz ab, die über die bisherige Naturphilosophie hinausweist und dem Denken eine andere, selbstzugewandte Richtung gibt. Der sophistischen Skepsis kommt für diese Entwicklung eine schwer zu überschätzende Mediatisierungsfunktion zu, sofern der Zweifel an der Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis nach Art der bisherigen Naturphilosophie ein nicht nur anfängliches, sondern prinzipielles Bestimmungsmoment gedanklicher Selbstre-

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flexion ist. Man ist es gewohnt, die Sophisten weniger als Philosophen denn als artifizielle Rhetoriker und verschlagene Überredungskünstler anzusehen, denen nichts heilig war und alles nur zum Mittel für ihre selbstsüchtigen Zwecke diente. Für eine solche Ansicht gibt es durchaus Indizien. Doch sind Männer wie Protagoras von Abdera (um 481–411 v.Chr.) oder Gorgias von Leontinoi in Sizilien (um 480–380 v.Chr.) trotz der Kritik, die ihnen von Seiten Platons zuteil wurde, durchaus respektable Figuren und Denker von Format, die „Sophistik als Aufklärung“ (M. Emsbach) betrieben. Gorgias hat mit seiner Lehre, dass objektives Sein nicht sei, wenn es aber wäre, nicht erkannt werden könnte und selbst bei gegebener Erkenntnismöglichkeit für inkommunikabel erachtet werden müsste, dem sophistischen Skeptizismus klassischen Ausdruck verliehen und „allem vorsokratischen Sein den Garaus“ (Newiger, 188) zu machen versucht. Von Protagoras ist mit dem Grundsatz, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei („der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind“), einer Anthropologisierung der Kosmologie das Feld bereitet worden, deren bleibende Bedeutung in der Einsicht besteht, dass die Vergeistigung der Natur und nicht die Naturalisierung des Geistes Ziel des Humanen ist. Die allgemeine Relevanz der sophistischen Bewegung, die sich bald nach dem Anfang des vierten vorchristlichen Jahrhunderts aufzulösen begann, liegt im Wesentlichen in einer im Medium des Zweifels an objektiver Erkenntnismöglichkeit vollzogenen Selbstthematisierung des Denkens, welche die weitgehende Beschränkung des philosophischen Interesses auf die Natur sowie auf die Gründe und das Wesen ihrer Erscheinungen überwand. Durch ihre theoretische Skepsis, welche die Möglichkeit einer Erkenntnis von subjektloser Objektivität fundamental bezweifelte, und durch ihre praktische Eristik, die durch Einübung in die Kunst des Streitgesprächs dialektische Fähigkeiten beförderte, haben die Sophisten einen wichtigen Teil der kritischen Arbeit geleistet, auf die Sokrates und schließlich Platon und Aristoteles konstruktiv aufbauen konnten. Das Wort „Sophist“ hatte im Griechischen lange Zeit einen sehr guten Klang. Es bezeichnete noch bis ins vierte Jahrhundert v.Chr. hinein einen klugen und kundigen Menschen, der mit willkommenem Rat zur Seite steht. Erst allmählich überwog das negative Bedeutungselement gerissener Schläue, um seit Platons harter Sophistenschelte den Sprachgebrauch immer mehr zu beherrschen. Aus dem ehemaligen Würdetitel eines Weisen wurde allmählich ein Schimpfname. Der sophistischen Bewegung und ihrem Grundanliegen wird diese Entwicklung nicht gerecht. Denn sie bringt diese in einer Weise in Verruf, welche reaktionär zu nennen aller Anlass besteht, weil sie den Fortschritt der Sophistik gegenüber der vorhergehenden Naturphilosophie verdunkelt. Auch wenn Platon in Bezug auf den sophistischen homo-mensura-Satz darin recht zu geben ist, dass Gott und nicht der Mensch das Maß aller Dinge ist, so widerspricht es doch nicht dieser Auffassung, dass der Mensch seiner wesensmäßigen Bestimmung zufolge darauf angelegt ist, die Natur einschließlich seiner eigenen zu transzendieren, um human leben zu können. Der sophistische Zweifel an allem, was mit dem unmittelbaren Anspruch

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naturhafter Gegebenheit auftritt oder versehen wird, hat hier seinen kulturellen Ort und sein – begrenztes – Recht. Die Sophisten verdienen es, aus dem Schattenreich herausgeholt zu werden, das ihnen philosophiegeschichtlich traditionell zugewiesen wurde, weil hinters Licht zu führen ihre angebliche Zentralabsicht war. In aller Regel waren sie jedoch keine Dunkelmänner, sondern viel eher Aufklärer. „Während die älteren griechischen Philosophen den Menschen dienen wollten, indem sie ihnen die Natur verständlich zu machen suchten, und Platon die menschlichen Entscheidungen erleichtern wollte, indem er sittliche Maßstäbe festlegte, diese jedoch durch theoretische Konstruktionen gewann, sind die Sophisten unmittelbar bemüht, die Kräfte der Menschen selbst zu stärken, damit jeder einzelne die ihm zufallenden Aufgaben bewältigen und sein Leben reicher ausgestalten kann.“ (Classen, 13) Dieser Einleitungssatz zu einem Sammelband zur Sophistik bleibt zwar eher an der Oberfläche der Phänomene, die er zu beschreiben sucht, hat aber darin sein Recht, dass er die Sophistik als eine Denkweise kennzeichnet, die weder auf Naturhaftes noch auf ideale Konstruktion, sondern primär auf selbsttätige Praxis ausgerichtet war. Kompetenz in der Bewältigung der Verhältnisse, die zur conditio humana gehören, nicht eigentlich deren Erkenntnis ist Sinn und Zweck sophistischen Denkens. „Avantgarde normalen Lebens“ (Th. Buchheim): mit dieser Wendung sind Bedeutung und Grenze der Sophistik zutreffend umschrieben. Der Prozess der „Selbstunterscheidung des beginnenden Denkens vom vorphilosophischen Leben“ (Held, 127), den die Vorsokratiker repräsentieren, ist mit der Sophistik in ein Stadium vorläufiger Vollendung gelangt; die Sophistik gibt auf ihre Weise die Gewähr für die Unumkehrbarkeit des Weges vom Mythos zum Logos, den der griechische Geist von Homer bis zu Sokrates genommen hat. „Auch ihr ‚Überwinder‘ Sokrates hat nicht weniges mit ihr gemein und ihr Antipode Platon wäre ohne sie nicht denkbar.“ (Nestle, V) Ohne sophistische Kritik hätte der platonische Idealismus seine konstruktive Kraft nicht freisetzen können. An den Sophisten tritt im Ergebnis offen zutrage, „wie in einer überraschend kurzen Zeitspanne, im 6. und 5. Jahrhundert v.Chr., das mythologische Denken der Griechen Schritt für Schritt durch das rationale Denken ersetzt, ein Gebiet um das andere für eine natürliche Erklärung und Erforschung erobert und daraus die Folgerungen für das praktische Leben gezogen wurden.“ (Ebd.) Diese Entwicklung geht einher mit einer fortschreitenden Zersetzung der altgriechischen Religion, unter deren Verächtern die Sophisten gewiss nicht die Ungebildetsten waren.

12. Sokrates und Platon

Lit.: M. Baltes, Die Weltentstehung des platonischen Timaios nach den antiken Interpreten. Teil 1, Leiden 1976. – H. Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1989. – M. Bordt, Platon, Freiburg/Basel/Wien 1999. – D.B. Dudley, A History of Cynicism. From Diogenes to the 6th Century A. D., London 1937. – G.W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I und II, Frankfurt 1986 (auf der Grundlage der „Werke“ von 1832–1845 neu ediert). – F. v. Kutschera, Platons Philosophie. 3 Bd., Paderborn 2002. – N. Largier, Diogenes der Kyniker. Exempel, Erzählung, Geschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen 1997. – H. Niehues-Pröbsting, Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus (1979), Frankfurt a.M. 1988. – P. Stemmer, Platons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge, Berlin/New York 1992. – A.E. Taylor, Plato. The Man and his Work, London 71963. – W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982. – U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Platon. Sein Leben und seine Werke. Bearbeitet und mit einem Nachwort versehen von B. Snell, Berlin 51959. – J. Wippern (Hg.), Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons. Beiträge zum Verständnis der platonischen Prinzipienphilosophie, Darmstadt 1972. – M. Wundt, Geschichte der griechischen Ethik. 2 Bd., Leipzig 1908/11. – E.A. Wyller, Art. Plato/Platonismus, I. Plato, in: TRE 26, 677–693. – E. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Zweiter Teil. Erste Abteilung: Sokrates und die Sokratiker. Plato und die alte Akademie, Hildesheim 61963 (Fotomechanischer Nachdruck der 5. Auflage, Leipzig 1922).

Man erinnere sich an den letzten Kinobesuch: Die Blicke der Zuschauer sind fest fixiert und folgen gebannt den Bildern, die auf die Leinwand projiziert werden. Was hinter dem Rücken vorgeht, bleibt verborgen, obwohl die vordergründigen Erscheinungen im unsichtbaren Hintergrund ihre Ursache und die Bedingung ihrer Möglichkeit haben. Ähnlich stellt sich die Szenerie in Platons Höhlengleichnis im siebten Buch der „Politeia“ (514a ff.) dar. Auch hier sitzen Menschen – nun freilich von Kindheit an wirklich gefesselt sowie ohne Möglichkeit, jemals den Kopf zum Licht der Höhlenöffnung hin zu wenden – und verfolgen das Geschehen, das sich vor ihren Augen auf der der lichten Öffnung gegenüberliegenden Höhlenwand abspielt und das ihnen als wahrhaft wirklich erscheint, obwohl es sich lediglich um Schatten von künstlichen Abbildern der ihnen unzugänglichen Realität im Sonnenlichte außerhalb ihres Kerkers handelt. Gesetzt nun, einer der Eingekerkerten würde plötzlich von seinen Banden befreit und strebte auf dem schräg abwärts gerichteten Zugang der Höhle nach oben, um nach anfänglicher Blendung und Irritation nicht nur zur Anschauung der schattenwerfenden Bildgestalten, sondern zur Einsicht in das wahrhaft Seiende, ja Das Höhlengleichnis

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zur Erleuchtung durch das Sonnenlicht selbst zu gelangen, welches über allem Sein ist: durchschaute er nicht die in der Höhle seiner Mitgefangenen herrschenden Vorstellungen als bloßen und nichtigen Schein? Wie aber, wenn er nach seinem Aufstieg (anabasis) noch einmal hinabstiege (katabasis), um den Gefangenen von seiner befreiten und befreienden Einsicht zu künden: würde man ihn nicht auslachen und sagen, er sei verblendet zurückgekehrt, und es lohne sich nicht, nach oben zu streben? Drohten ihm nicht am Ende gar Verfolgung und Tod? „Wollte er nun Hand anlegen, andere zu befreien und hinaufzuführen, würden sie dann, sofern sie sich seiner bemächtigten und ihn umbringen könnten, ihn nicht wirklich töten?“ Glaukon zögert keinen Augenblick, diese Frage zu bejahen. Jeder Leser Platons weiß, worauf dies hindeutet: „Der platonische Höhlenmythos endet mit einer Suggestivfrage des Sokrates, die im Zusammenhang der Erzählung auf die Irrealität dessen geht, was nicht geschieht, aus dem Munde des Sokrates jedoch für die Zeitgenossen und alle künftigen Platoleser das düstere Verhängnis einer Tragödie ankündigt.“ (Blumenberg, 95) Worauf die sokratische Suggestivfrage am Ende des Höhlengleichnisses in Wirklichkeit hindeutet, zeigt das Schicksal des Sokrates, des Lehrers Platons und Begründers der klassischen Epoche der griechischen Philosophie. Im Wissen um das Nichtwissen, welches das der Scheinrealität des Sichtbaren besinnungslos hingegebene Bewusstsein in Wirklichkeit ist, hatte er nach Platon seine Zuhörer einst durch ironische Mäeutik dazu geführt, des idealen Grundes der Wahrheit in der eigenen Seele gewahr zu werden, um sie auf diese Weise vom Banne der Sinnlichkeit zu rechter Sittlichkeit zu befreien. Dieses Unterfangen wurde ihm als Jugendverführung, Staatsfeindlichkeit und Gottlosigkeit ausgelegt. Mit der Gelassenheit, die seinem Tugendideal entsprach, leerte er daraufhin den Schierlingsbecher und gab ein unvergessliches Beispiel einer erhabenen Seele, die über die dunklen Schattenbilder des bloß Sinnlichen hinaus zur wahren, vom Lichte der Idee des Guten erleuchteten Erkenntnis gelangt war. Mit Sokrates, so wurde gesagt, beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte griechischer Phi- Sokrates und die Sophisten losophie. Obwohl er keine Schriften hinterlassen hat und sein Denken nur aus den Berichten seiner Schüler Xenophon und Platon bekannt ist, wurde der Eindruck, den sein Auftreten hinterließ, epochemachend. Das Wirken des Sokrates nimmt seinen Anfang in der klassischen Zeit der Hellenen. Perikles hatte 449 im Kalliasfrieden mit Persien und 446/445 im dreißigjährigen Frieden mit Sparta die Anerkennung der attischen Seeherrschaft erreicht. In der nachfolgenden Zeit stieg Athen zu einzigartiger kultureller Blüte auf und wurde zur führenden Metropole der Kunst und des wissenschaftlichen Geistes. Nicht nur die Akropolis, auch die Dramen des Herodotfreundes Sophokles etwa (496– 406 v.Chr.), der Perikles nahestand und als Tragödiendichter die goldene Mitte zwischen Aischylos (525–456 v.Chr.) einerseits und Euripides (um 480–406) andererseits repräsentiert, lassen den würdevollen Glanz und die Erhabenheit erahnen, welche das perikleische Zeitalter auszeichneten. Eine Wende zum Schlechte-

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ren hin vollzog sich sodann in den Jahren des Peloponnesischen Krieges zwischen Athen und dem von Sparta geführten Peloponnesischen Bund, dessen Ereignisse Thukydides und Xenophon schildern. Zwar blieb Athen anfangs erfolgreich, doch nach dem Tode des Perikles verschlechterte sich die Lage zusehends, bis schließlich nach jahrelangem Auf und Ab und trotz bedeutender Zwischensiege namentlich des Alkibiades die Herrschaft Athens zusammenbrach. Nicht nur die äußere, auch die geistige Lage der Zeit hatte sich mittlerweile erheblich verändert. Wesentlich verantwortlich dafür war die Aufklärungsbewegung der Sophisten. Sie trug zum Zerfall althellenischer Sitte nicht weniger bei als der Verlauf des Peloponnesischen Krieges, der Athen aus lichtesten Höhen in den Staub darniederwarf und Spartas nicht eben kulturförderliche Hegemonie heraufführte. Bei Euripides werden die sittlichen und religiösen Erschütterungen der Zeit in dramatischer Form spürbar. Aus ihnen ergaben sich die Lebensaufgabe des Sokrates und die Formation einer Philosophie, die sich signifikant von der vorhergehenden unterschied. In der kosmologischen Forschung der Vorsokratik war das Denken – auf ursprüngliche und, wenn man so will, naturwüchsige Weise – unmittelbar der Physis und den physikalischen Gegenständen hingegeben. Die Sophistik kehrte sich mehr oder minder radikal von der vorsokratischen Physik ab. Nicht mehr auf das Wissen der Natur, sondern auf die Natur des Wissens war das sophistische Interesse vorrangig gerichtet. An die Stelle der Physik traten Dialektik und Eristik als die Künste der Gesprächsführung, der theoretischen Argumentation und des Streitgesprächs sowie die Ethik. Dies blieb der Grundtendenz nach auch bei Sokrates so, wenngleich er – jedenfalls nach Platons Urteil – die sophistische Kritik in ihrer zersetzenden Einseitigkeit kritisiert und ins Konstruktive gewendet hat. Als Quellen sokratischer Philosophie stehen, da ihr Urheber, wie gesagt, keine eigenen Schriften hinterlassen hat, allein die Werke seiner Schüler Xenophon und Platon zur Verfügung. Dabei verdienen unter philosophischen Gesichtspunkten eindeutig die Dialoge aus Platons früher und mittlerer Zeit den Vorzug, in denen der Schüler vielfach den Lehrer das Wort führen lässt. Zwar enthalten die sokratischen Schriften Xenophons wichtige historische Mitteilungen; doch sind die Gründe, die in Sokrates den Anfänger eines innovativen wissenschaftlichen Verfahrens und den Gewährsmann einer neuen philosophischen Richtung erkennen lassen, im Wesentlichen dem platonischen Schrifttum zu entnehmen, obzwar mit einer Idealisierung und, wenn man so will, Platonisierung des geschichtlichen Sokrates sicherlich zu rechnen ist, die historische Vorbehalte nötig machen. Indes reflektiert sich in diesem wirkungsgeschichtlichen Befund selbst ein historisches Faktum, für das alle Wahrscheinlichkeit spricht, dass nämlich Sokrates primär als Initiator, nicht aber als systematischer Explikator der Einsichten zu gelten hat, die ihm seine philosophiegeschichtliche Stellung verschafften. Dies wird durch die Tatsache bestätigt, dass Sokrates wohl Schule gemacht und schulbildend gewirkt hat, ohne zu Lebzeiten bereits ein Schulhaupt im eigentlichen Sinne gewesen zu sein. Der Kreis, welcher sich um ihn bildete, hatte im Kern zwar Bestand, war aber

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ansonsten eher lose und nicht von der Art, dass man ihm Schulcharakter zuschreiben könnte. Sokrates lehrte auf den Straßen und Plätzen Athens und noch nicht im festen Rahmen eines akdemischen Betriebs. Das Medium seiner Lehre aber war das Gespräch und nicht etwa das Buch, wofür das Fehlen schriftlicher Hinterlassenschaften ein untrügliches Zeugnis ist. Die Gesprächsführung, die für Sokrates eigentümlich ist und das methodische Verfahren seiner Philosophie kennzeichnet, zielt auf Erkenntnis durch Selbsterkenntnis. Um diese zu erlangen, bedarf es als erstes eines Bewusstseins des Nichtwissens. Ich weiß, dass ich nichts weiß, lautet entsprechend ein vielzitierter Grundsatz sokratischer Philosophie. Die Selbstverständlichkeit, mit welcher das allgemeine Bewusstsein die Gewissheit seines Wissens namentlich in Bezug auf die Erkenntnisgegenstände sinnlicher Wahrnehmung voraussetzt, muss gründlich erschüttert werden. Auch die überkommene Sitte, die zur festen Gewohnheitsregel geworden ist, kann nach Sokrates keineswegs selbstverständliche Geltung beanspruchen; sie ist vielmehr auf ihre Gültigkeit hin zu befragen und gegebenenfalls kritisch in Frage zu stellen. Darin stimmt Sokrates mit den Sophisten überein. Ja, er ist selbst ein radikaler Sophist insofern, als er alles und jedes in Frage zu stellen und zu bezweifeln bereit und willens ist, um das Bewusstsein des Nichtwissens konsequent auszubilden. Nichtsdestoweniger erhebt der platonische Sokrates im Unterschied zu den Sophisten das Nichtwissen nicht zum Prinzip, sondern fordert auch Zweifel gegenüber einer Skepsis, die alles mit Ausnahme ihrer selbst in Frage zu stellen bereit ist. Das Verfahren sokratischer Philosophie endet daher nicht im sophistischen Skeptizismus, sosehr dieser als implizites Moment ihrer Methode vorausgesetzt ist. Zwar ist das Bewusstsein des Nichtwissens nach Sokrates eine notwendige Station auf dem Wege zur Wahrheit. Aber diese Station ist nicht dazu da, um bei ihr zu verharren, sondern um die Suche nach der Wahrheit frei von Illusionen und frei von falschen Rücksichten fortzusetzen, um zu einer Gewissheit zu gelangen, die im Gegensatz zu allem bezweifelbaren und zu bezweifelnden Wissen über jeden Zweifel erhaben ist und außer Frage steht. Diese Gewissheit hat nach Sokrates in der Idee des Guten ihren Grund. Auf ihre Erkenntnis ist seine Mäeutik unter Einschluss ihrer sprichwörtlich gewordenen ironischen Momente zuletzt ausgerichtet. Dient die sokratische Ironie dem vorläufigen Zweck, den Schein angemaßten Wissens durch Die Idee des Guten Aufweis interner Widersprüche durchsichtig zu machen und zur Auflösung zu bringen, um Begriffsklarheit und konzises Begreifen zu ermöglichen, so vollendet die philosophische Hebammenkunst ihr Werk, indem sie die Idee des Guten zutage treten lässt, in deren Erkenntnis der Eros, der alles Denken bewegt, seine letzte Erfüllung findet. Die Idee des Guten ist der Inbegriff, auf den alles Begreifen hinstrebt, und in ihrem Wissen findet das Denken jene Gewissheit, ohne die es grundlos wäre. Tugend, sagt Sokrates, besteht im Wissen des Guten. Dieser Grundsatz impliziert, dass rechtes Handeln ohne richtiges Wissen nicht möglich ist. Aus Scheinwissen kann rechte Tätigkeit nicht hervorgehen.

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Vielmehr erzeugt ein falsches Bewusstsein zwangsläufig unrechtes Tun. Zwar meint jeder, der handelt, durch sein Tun einen Zweck zu verfolgen, der sinnvoll ist. Aber diese Meinung beruht vielfach auf Scheinwissen, das in Wahrheit auf einen Irrtum hinausläuft. Auch die Begierde ist auf etwas aus, das sie für erstrebenswert und insofern für gut erachtet. Wahrhaft gut ist ihr Sinnen und Trachten nach Sokrates dennoch ebenso wenig, wie die sinnliche Vorstellung einen Anspruch darauf hat, für wahres Wissen zu gelten. Vorstellung und Begierde, die beide aus der Sinnlichkeit hervorgehen, bedürfen daher gleichermaßen der Reinigung, ja mehr noch: bestimmter Negation, damit der Mensch über seine Sinnlichkeit hinaus zu rechtem Begreifen und zur Einsicht in die wahre Idee des Guten erhoben werde. Die Idee des Guten, auf die alles wahre Wissen und rechte Begreifen hingeordnet ist, unterscheidet sich kategorial von bloß gut Gemeintem, dessen Scheinhaftigkeit nicht nur nicht ohne Falsch, sondern der Grund alles Schlechten ist. Stets treibt das Böse sein Unwesen unter dem Schein des Guten. Dieser muss deshalb durch Begriffe, die das Wesentliche zu erfassen vermögen, beseitigt werden, damit jene Idee zur Einsicht gelangt, auf welche die Vernunft bestimmungs- und damit ihrem eigenen Wesen gemäß bezogen ist: die Idee des Guten als die Idee dessen, was nicht unter dieser oder jener Bedingung, sondern unbedingt, nicht wegen dieses oder jenen Zweckes, sondern als Selbstzweck erstrebenswert ist, weil es alles, was wahr und wahrhaft wirklich ist, in sich begreift und vollendet. Tugend ist, was sie ist, durch die Idee des Guten, welche ihr Orientierung und jenes Ziel gibt, welches zu verfolgen ihren inneren Zweck ausmacht. Der Begriff der Tugend lässt sich von der Idee des Guten nicht lösen. Tugendhaft kann daher nur dasjenige genannt werden, was seinem Wesen nach durch die Idee des Guten bestimmt ist. Dieser Grundsatz gilt ausnahmslos sowohl unter individual- als auch unter sozialethischen Gesichtspunkten. Der Idee des Guten in seinem Denken und Handeln zu entsprechen, ist der Mensch nicht nur der Menschheit und dem Gemeinwesen, in dem er lebt, auch nicht nur seinem jeweiligen Nächsten, sondern vor allem sich selbst schuldig. Ist doch die Idee des Guten die Bestimmung humanen Wesens, dem zu entsprechen den Menschen erst wahrhaft frei macht. Während die an äußeren Vorstellungen haftende Meinung zu falschen Abhängigkeiten führt und die Blindheit sinnlichen Begehrens knechtet, befreit die Idee des Guten zu jener Freiheit des Geistes, welche die Bedingung der Möglichkeit bewussten Eigenlebens ebenso ist wie die Voraussetzung der Freundschaft und des geordneten Zusammenlebens in einem Staat, welcher dem Wohl des Ganzen dient. Was schließlich das Verhältnis zur Natur anbelangt, so ist auch dieses nach Maßgabe der Idee des Guten zu gestalten. Dabei nimmt Sokrates an, dass in der Natur ein teleologisches Gesetz des Strebens zum Guten hin insofern waltet, als jedes Naturwesen den inneren Zweck seines Daseins in einer Weise zu realisieren sucht, die unwillkürlich dem Weltganzen gemäß ist. Gleichwohl beansprucht er nicht, einen induktiven Beweis der Idee des Guten aus der Naturerkenntnis führen zu können. Ein solches Verfahren wird vielmehr als abwegig abgelehnt.

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Zur Einsicht in die Idee des Guten gelangt man nach sokratischem Urteil nicht durch Naturbetrachtung, sondern durch Denken, wie denn auch nur denkende Wesen zu solcher Einsicht in der Lage sind. Auch hierin bestätigt sich der Grundsatz, dass sich Natur am Geist und nicht der Geist an der Natur zu bemessen hat. Daran ändert die Tatsache nichts, dass die Natur als das dem Geist Äußerliche ihm nicht in jeder Hinsicht fremd ist, sodass dieser Spuren des Eigenen auch in ihr zu entdecken vermag. Naturphilosophie hat insofern ihre Berechtigung; aber diese kommt ihr nicht isoliert und für sich genommen zu, sondern im Zusammenhang einer Philosophie begrifflichen Denkens, deren Geist nicht in der Natur, sondern in der transnaturalen Idee des Guten seine Erfüllung findet. Die sokratische Idee des Guten ist eindeutig transnatural; dass sie zugleich von transrationaler Art ist, wird man hingegen nicht sagen können. Zwar führt Sokrates, wie erwähnt, die Einsicht in die Idee des Guten auf ein „daimonion“ zurück, womit unzweifelhaft religiöse Bezüge hergestellt sind. Auch wird man nicht in Abrede stellen können, dass für ihn die Erkenntnis der Idee des Guten und in bestimmter Weise alle Erkenntnis den Charakter erleuchtender Offenbarung hat. Aber der einleuchtende Charakter der Erkenntnis und das Licht, das von der Idee des Guten ausgeht und Einsicht in sie ermöglicht, strahlt doch nicht aus einer der Vernunft externen Quelle, sondern erleuchtet diese von innen heraus. Es bedarf deshalb auch keines separaten Gottes, um die Idee des Guten zu autorisieren, zu beglaubigen und zu authentischer Wahrnehmung zu bringen. Das Göttliche ist nach Sokrates nichts anderes als die Idee des Guten selbst, deren offenbare Manifestation in der Vernunft und auf gänzlich vernünftige Weise statthat. Unter den Schülern des Sokrates ist Platon zwar der mit Abstand bedeutendste, nicht aber Die sokratischen Schulen der einzige, der zu philosophiegeschichtlicher Wirkung gelangt ist. Außer ihm haben nicht weniger als vier Sokratiker eine eigene Schule begründet: Euklid aus Megara die megarische, Phaidon aus Elis die mit der megarischen verwandte elische, der Athener Antisthenes die kynische und Aristippos von Kyrene die kyrenaische. Ihre Bedeutung darf nicht zu gering veranschlagt werden. „Sie erst erfüllen das von Sokrates aufgerichtete Gerüst mit dem Kulturbewußtsein ihrer Zeit, das von allen Seiten auf die Befreiung des Subjekts hindrängte.“ (Wundt I, 389) Gilt dies zumindest für Kyniker und Kyrenaiker, so war es Euklid und auf seine Weise auch Phaidon vorbehalten, „in wichtigen Bestimmungen der platonischen Philosophie“ (Wundt I, 418) vorzuarbeiten. Euklid, um den sich nach dem Tode des Meisters ein nicht geringer Teil der Anhänger von Sokrates einschließlich Platon scharte, gab der sokratischen Idee des Guten eine metaphysisch-ontologische Fassung, indem er sie mit dem eleatischen Begriff unveränderlichen Seins verband. Das beständig sich selbst gleiche Gute ist das Eine, in welchem alle begrifflichen Wesenheiten und alles wahrhaft Seiende gründen, so dass ohne Teilhabe am Guten vom Sein des Seienden nicht wirklich die Rede sein kann. Ungutes und Böses beruhen auf einem Mangel an Sein, weil außer dem Guten recht eigentlich nichts ist. Das wenige, was von dem Lieblingsschüler des Sokrates

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und Namensgeber des platonischen Dialogs über die Unsterblichkeit der Seele – Phaidon – und seine, später in Eretria heimische Schule bekannt ist, weist in eine ähnliche Richtung, auch wenn die Akzente stärker auf dem Ethischen lagen. Ein Mann von ganz eigener Denkungsart ist dagegen Antisthenes, den man den Gründer der kynischen Philosophenschule genannt hat, auch wenn dies fragwürdig ist (vgl. Dudley 1ff.). Die Kyniker (von griech. kyon = Hund) erhielten ihren Namen wegen ihrer Verachtung jeder Form von Luxus und einer höchst dürftigen Lebensweise, die von vielen als hündisch verachtet wurde. Bereits Antisthenes vertrat das Ideal äußerster Bedürfnislosigkeit, auch wenn er in dessen Realisierung z. B. von Diogenes von Sinope, dem Mann in der Tonne, um einiges übertroffen wurde. Man hat Diogenes einen verrückt gewordenen Sokrates genannt. Zutreffend daran ist, dass die kynische Bewegung ihr anfänglich echt sokratisches Streben nach selbstgenügsamer Freiheit von Begierde, landläufigen Vorurteilen und konventionellen Rücksichtnahmen im Laufe ihrer Entwicklung derart übersteigerte, dass aus Weltentsagung eine Weltverachtung wurde, die zynisch zu nennen nicht gänzlich unangemessen ist; doch ist damit kein abschließendes Urteil über „Diogenes and his associates“ (vgl. Dudley, 17ff.) und noch weniger über den Kynismus insgesamt gesprochen, dessen direkte Einwirkungen bis ins sechste nachchristliche Jahrhundert reichen. Wie der moderne Zynismusbegriff in enger Verschränkung von Kontinuität und modifizierender Umdeutung aus dem antiken Begriff des Kynismus hervorging, ist von Heinrich Niehues-Pröbsting detailliert beschrieben worden. Welche Rezeption das Bild des Mannes, der ein Fass als öffentliche Wohnstatt wählte, in Mittelalter und früher Neuzeit gefunden hat, wurde von Niklaus Largier dargetan. Auf einen dem kynischen scheinbar gegenläufigen Weg führte die Entwicklung der Kyrenaiker in der Nachfolge Aristipps. Sie erklärten nicht den weltentsagenden Verzicht, sondern den Lustgewinn zu ihrem Lebensideal, um in der Welt ihr Heil zu suchen. Die entscheidende Weichenstellung hatte Aristipp durch seine These vorgenommen, wonach mit der sokratischen Idee des Guten der Inbegriff von Freude und Lust gemeint sei; „hedone“ ist der Endzweck, nach dem jeder Mensch seinem Wesen nach notwendigerweise strebt, und alles, was gut genannt zu werden verdient, ist entweder dieser Zweck selbst oder Mittel zu ihm. Doch darf man mit Aristipps Hedonismus keine ungebührlichen Assoziationen verbinden. Ein Hedoniker oder Hedonist in seinem Sinne ist zwar ein unbedingter Genießer, der das Empfinden des Angenehmen zum Selbstzweck erklärt, nicht hingegen ein Lüstling, weil dieser unter seiner Begierde, wenn auch uneingestandenermaßen, leidet, da er nicht Herr, sondern Knecht seiner Passionen ist. Wahrer Genuss und lustvolle Freude von Dauer ist nur möglich, wenn man seinen Leidenschaften nicht triebhaft folgt, sondern sie bewusst sublimiert, um einen kunstfertigen Umgang mit ihnen zu pflegen. „Hedone“, wie Aristipp sie verherrlicht, ist eine Aufgabe des Menschen und eine Gabe der Natur nur insofern, als ohne natürliches Empfinden vitaler Lust nach seinem Urteil keine Freude aufkommen kann, die ihren Namen verdient. Nicht dass Aristipp von einer möglichen Freude im Leid keine Ahnung

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hätte; aber mit Schmerz, meint er, lässt sich „hedone“ beim besten Willen nicht vereinen: denn Schmerz stehe in einem kontradiktorischen Gegensatz zur Lust. Alle Lust will Ewigkeit. Um diesen Wunsch nicht am äußeren Ablauf der Zeiten scheitern zu lassen, besteht die Kunst menschlichen Lebens, der alle Tugendweisheit zu dienen hat, nach Aristipp darin, den Augenblick des Genusses virtuell dadurch zu verewigen, dass man Vergangenes vergangen sein lässt und Künftigem in dem gelassenen Bewusstsein, dass es erst präsent werden muss, um wirklich zu sein, keine Macht über die Gegenwart einräumt. Künftiges ist als Künftiges ebenso wenig wie Gewesenes wirkliches Sein. Nur präsentes Sein ist seiend, um bewusst und auf geistesgegenwärtige Weise zum lustvollen Dasein gestaltet zu werden. Verständiger Genuss, um es zu wiederholen, bedarf nach Aristipp durchaus der Entsagung. Er entsagt der bekümmerten Rücksicht auf Gewesenes wie der besorgten Vorschau auf Künftiges und lässt sich Lust nur insofern gefallen, als diese nicht in Leidenschaft ausartet, welche die Möglichkeit der Selbstbestimmung entzieht. Wer nicht Herr der Verhältnisse und seiner selbst zu bleiben vermag, bringt sich um den Genuss des Augenblicks. Genuss ohne Reue ist sonach ohne Verzicht nicht möglich; aber auch der Verzicht steht im Dienst eines Genusses, der in individueller Heiterkeit sich erfüllt und bei Gelegenheit auch zur allgemeinen Erheiterung beizutragen geneigt ist. Als man Aristipp einst drei Hetären zur Auswahl anbot, soll er alle drei mit der Bemerkung in Empfang genommen haben, es sei Paris vormals nicht gut bekommen, einer von drei Göttinnen den Vorzug gegeben zu haben. Alsdann, so hört man, habe er das Trio mit besten Empfehlungen verabschiedet und unverrichteter Dinge ziehen lassen. Es erübrigt sich, die Überheblichkeiten des Kyrenaikers Theodor, den man den Atheisten genannt hat, in Erinnerung zu rufen, um die Distanz, die Aristipp samt den Seinen von Sokrates und seiner erhabenen Idee des Guten trennt, für bewiesen zu erachten. Immerhin lässt sich das Grundmotiv sokratischer Philosophie auch unter den abwegigen Folgerungen, die aus dieser gezogen wurden, noch ansatzweise erkennen: den Menschen innerlich über die äußeren Dinge des Daseins zu erheben. Die Kyrenaiker intendierten eine entsprechende Erhebung dadurch, dass sie alles Äußere als Mittel jenes verständigen Genusses gebrauchten, der ihnen als höchster Daseinszweck galt. Dabei war ihnen durchaus klar, dass es mit schierer Lust nicht getan ist, da unbeherrschten Leidenschaften zwangsläufig Peinlichkeiten und andere schmerzliche Auswirkungen folgten. Nicht die Lust als Lust ist das höchste Gut, sondern die unbeschwerte Heiterkeit souveränen Genusses. Drohte die Last der Erdenschwere die Leichtigkeit des Seins unmöglich zu machen, waren notfalls auch die Anhänger des Aristipp bereit und in der Lage, sich in Lustverzicht und Weltentsagung zu üben. Der Unterschied zu den Kynikern ist insofern nur ein relativer, und das um so mehr, als auch der kynische Weltverzicht die Entwertung des Äußeren nicht als Selbstzweck, sondern mit dem Ziel inneren Selbstgenusses verfolgt. Zwischen kyrenaikischem Libertinismus und kynischer Askese waltet eine geheime Dialektik, die in der Geschichte des griechischen Geistes noch des Öfteren begegnen wird.

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In Anbetracht dieser Dialektik bleibt im Rückblick auf die bisher erwähnten Schulen von diversen Verehrern des Sokrates einstweilen nur zu sagen, dass sie gerade in der Unterschiedlichkeit ihrer Entwicklung auf ein gemeinsames Problem verweisen, das in der Philosophie der Griechen noch lange fortwirken sollte und das in den bei aller Gegensätzlichkeit ebenfalls aufeinander bezogenen Lösungsansätzen des Stoizismus und des Epikureismus unschwer wiederzuerkennen ist. Was Platon betrifft, so steht ihm unter den genannten Schulen eindeutig diejenige von Megara am nächsten, sofern auch er wie Euklid die sokratische Idee des Guten als jenes Eine begriff, dessen göttliches Sein die Vernunft in einer Weise erfüllt, die ihr einen Standpunkt jenseits von Weltgenuss und Weltentsagung ermöglicht. Doch hat Platon Euklids statischen Begriff vom Sein dynamisiert und damit für die Idee des Guten recht eigentlich erst die Möglichkeit erschlossen, sich zu einer Ideenwelt zu differenzieren, die darauf angelegt ist, in der Menschenseele reale Gestalt anzunehmen und mittels ihrer die Differenz von Idealität und Realität zu überwinden. Ob Platon diese Möglichkeit bereits angemessen verwirklicht hat, ist eine andere Frage, die auf Aristoteles vorausweist. Die heute am meisten benutzte griechische Textausgabe der Werke Platons ist die mehrfach nachgedruckte von Burnet: Platonis opera recognovit brevique adnotatione critica instruxit Ioannes Burnet. 5 Bände, Oxford 1900ff. Eine griechischdeutsche Gesamtausgabe ist bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienen: Platon, Werke in acht Bänden, griechisch und deutsch, Darmstadt 1977 (19902). Die bis heute am meisten verbreitete deutsche Übersetzung stammt von F. Schleiermacher: Platons Werke, Berlin 1804. Einleitungen, Literaturübersichten sowie Register und einen Platon-Index als Gesamtregister umfasst die von O. Apelt besorgte und herausgegebene Übersetzung: Sämtliche Dialoge (Philosophische Bibliothek), Leipzig 1922, Hamburg 1988. Als Einführungen in die Platonische Philosophie seien die im Literaturverzeichnis genannten Werke von M. Bordt, F. v. Kutschera, P. Stemmer, A. E. Taylor und W. Wieland empfohlen. Nach wie vor lesenswert ist die große Monographie zu Platons Lehre und Werk von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Über das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons informiert ein Sammelband mit gleichnamigem Titel. Platon hat die sokratische Idee des Guten mit der Sonne verglichen und das Sonnengleichnis in seiner „Politeia“ (vgl. 506bff.) dem Linien- und dem eingangs erwähnten Höhlengleichnis vorangestellt. Das Höhlengleichnis hat, indem es den Bildungsgang des Philosophen nachzeichnet, einen anthropologischen Skopus und die Verfassung und Bestimmung des Menschen überhaupt zum Thema. Das Liniengleichnis, auf das noch zurückzukommen sein wird, thematisiert in kosmologischer Absicht das Sein der Welt, wohingegen das Sonnengleichnis theologisch auf den göttlichen Grund und das göttliche Ziel alles Seins und Wesens ausgerichtet ist. Das aus sich heraus strahlende Sonnenlicht der Idee des Guten ist die an sich selbst unsichtbare Voraussetzung dafür, dass das innere Auge des Menschen Erleuchtung empfängt und die äußeren Erscheinungen der gegebenen Welt auf ihr Der Sokratesschüler Platon

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Wesen hin zu durchschauen vermag. Ohne das Licht der irdischen Sonne gibt es keine Sicht und nichts, was erscheint. Ohne das überirdische Sonnenlicht aber, das von der Idee des Guten ausstrahlt, bleibt das wahre Sein der Dinge hinter ihren äußeren Erscheinungen verborgen und der Mensch vermag nicht zur Wesensschau zu gelangen. Dazu bedarf es der Erleuchtung durch die Idee des Guten als der Sonne über allen Sonnen. Die Philosophie Platons (427–347 v.Chr.), deren anthropologische, kosmologische und theologische Komponenten durch Höhlen-, Linien- und Sonnengleichnis andeutungsweise umschrieben sind, lässt sich sachlich am ehesten in Logik, Ethik und Naturphilosophie einteilen und historisch von drei Ansätzen her verstehen: vom sokratischen, vom parmenideischen und vom pythagoreischen. Durchweg sokratisch sind die Werke der Frühphase. Sie kennzeichnen Sokrates als einen Lehrer und Meister der Tugend (areté), deren Einzelaspekte in moralphilosophisch-pädagogischen Dialogen wie Charmides (über sophrosyne, Besinnung), Laches (über andreia, Mut), Lysis (über philia, Freundschaft), Enthyphron (über hosiotes, Frömmigkeit) sowie im Thrasymachos (über dikaiosyne, Gerechtigkeit), der als I. Buch der Politeia wiederbegegnet, entfaltet werden. Das Beispiel wahrer Tugendhaftigkeit, das Sokrates im Kampf mit dem Kulturrelativismus (Protagoras) und Wertenihilismus (Gorgias) der Sophisten gibt, wird besiegelt durch Standhaftigkeit bis in den Tod. Davon handeln die platonische Apologie des Sokrates, der im Gefängnis situierte Kriton sowie das Rahmengespräch des Phaidon, das sich auf die letzten Stunden des Meisters vor dem Trinken des Schierlingsbechers bezieht. Die Kalokagathie der Sokratesgestalt als des ethischen Exempels schlechthin wird ermöglicht durch konsequente Teilhabe an der Ideenwelt der Werte, die in der Idee des Guten ihre Vollendung finden. Der sokratische Ansatz der Frühphase wird in den Werken der mittleren und der Spätphase in den umfassenden Horizont einer philosophischen Gesamtperspektive aufgehoben und durch Elemente namentlich der parmenideischen und der pythagoreischen Tradition ergänzt. Unter den Werken der mittleren Phase sind besonders der bereits erwähnte Dialog „Phaidon“, der die Todesproblematik der Frühdialoge in eine förmliche Metaphysik der Unsterblichkeit der Seele überführt, das Symposion mit seiner Verherrlichung des Eros als der Liebe zum absolut Schönen sowie die „Politeia“ zu nennen, die im Kontext der Staatslehre alle Grundmotive platonischen Philosophierens mit Ausnahme der Kosmologie enthält, die erst im Weltentstehungsentwurf des „Timaios“ in Fortführung der „Politeia“ und in Anlehnung an sie zur Entfaltung kommt. Im „Timaios“, der zusammen mit dem Fragment gebliebenen „Kritias“ und dem unbearbeiteten „Hermokrates“ eine vom ursprünglichen Weltganzen auf die aktuelle Geschichte Athens hinführende Trilogie bilden sollte, lassen sich sowohl parmenideische als auch und vor allem pythagoreische Einflüsse erkennen. Der Satz des Parmenides von der Einheit von Denken und Sein hatte Platon nicht nur zur Einsicht in die Realität der intelligiblen Ideenwelt als des wahrhaft, im Sinnlichen lediglich abgeschatteten Seienden, sondern zugleich zur Annahme

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einer Hierarchie der wahrhaft seienden Ideen geführt, die in der absoluten Einheit des alles Sein begründenden und alle Vielheit aufhebenden einen Guten ihre Vollendung findet. In diesen Zusammenhang wird die pythagoreische Zahlenspekulation eingezeichnet, derzufolge dem Denkprinzip der Eins die unbegrenzte und unbestimmbare Zweiheit als Inbegriff der Differenzsphäre des Sinnlich-Materiellen zu kontrastieren ist. Eine Transformation des parmenideischen als auch des pythagoreischen Ansatzes wird dadurch bewirkt, dass ein Mittleres auftritt, welches die Spannung zwischen dem absolut Einen und dem Gegensatz von Idealem und Realem in sich austrägt und die Abstraktion, in welcher das Prinzip der Identität zu dem Datum der Differenz zu verharren droht, auf bewegende Weise zu beheben bestrebt ist. Dieses Mittlere ist die Seele als Medium, welches einerseits die Transzendenz des Intelligiblen in der sinnlichen Körperwelt repräsentiert, um diese andererseits auf das Ideale hin zu transzendieren. Von daher wird deutlich, weshalb die Seelenlehre als Zentrum der platonischen Philosophie zu verstehen ist. Die zentrale Funktion der Seelenlehre für das entwickelte Denken Platons tritt nicht nur in der Kosmologie des „Timaios“, sondern auch in anderen Dialogen der Spätphase zutage. Sie umfassen die Problemgebiete der Einheitslehre oder Henologie (Parmenides), der Seinslehre oder Ontologie (Sophist), der Erkenntnislehre oder Epistemologie (Theaitet), der Sprachphilosophie (Kratylos), der Moralphilosophie, Psychologie und Rhetorik (Philebos und Phaidros), der Politologie, Jurisprudenz, Pädagogik (Staatsmann und Nomoi) sowie der Kosmologie, Physik, Biologie und Anthropologie (Timaios und Kritias). Mathematische, geschichtsphilosophische und selbstverständlich auch theologische Perspektiven sind vielfach eingeflossen. Das sehr umfangreiche Spätwerk der Nomoi nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als es Grundsätze des Staatslebens formuliert, die auch der philosophisch nicht geschulte Bürger billigen muss und die deshalb so ausgesprochen sind, dass das Entscheidende den Uneinsichtigen verhüllt bleibt. Zusammenfassend erklärt hat sich Platon über die Systematik seines Werkes in einem in hohem Alter gehaltenen Vortrag „Über das Gute“. Platon hat den sokratischen Ansatz unter InteDie platonische Ideenlehre gration von Philosophemen früherer Zeit zum wissenschaftlichen Ganzen gebildet, ohne dieses Ganze bereits streng systematisch zu exponieren und zu explizieren. Nicht nur Elemente der Mythendichtung, die freilich eher zur Veranschaulichung von Gedankengehalten, als zu deren Begründung dienen, auch und vor allem die dialogische Form, in die viele der Werke Platons gefasst sind, weisen auf charakteristische Unterschiede zwischen einem akademischen Lehrbuch der Philosophie unserer Tage und der philosophischen Lehre des Gründers der akademischen Schule Athens hin. Wie man indes in der Athener Akademie im Unterschied zum sokratischen Kreis schon zu Platons Zeiten mit regelmäßigem Unterricht und geordneter wissenschaftlicher Arbeit zu rechnen hat, so ist auch das Werk des Schulhaupts trotz Fehlens einer streng systematischen Form durchaus nicht ohne innere Ordnung, deren Strukturzusammenhang sich mehr oder minder präzise erheben und

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identifizieren lässt. Auch wird in Platons Dialogen, wie man weiß, keine beliebige Konversation betrieben. Die Gespräche, die geführt werden, sind wissenschaftlich und zielen auf belehrende Rede. Um zu vollführen, was Sokrates begann, universalisierte Platon die ursprüngliche sokratische Einsicht. Die Idee des Guten wird in Verbindung gebracht mit einer umfassenden Welt intelligibler Ideen, deren höchste sie ist. Die Ideenwelt enthält, indem sie die allgemeinen Begriffe der besonderen Entitäten in sich birgt, das Wesen der Dinge, und sie bringt zur Einsicht, was unter der sinnlichen Erscheinung verborgen liegt. Die Wahrheit kosmischer Entitäten besteht nicht in ihrer sinnlichen Erscheinung, sondern in ihrem übersinnlichen Wesen und allgemeinen Begriff, der nach Platon freilich nicht als bloßer Begriff, sondern als Idee in der Einheit von Begriff und Realität, Denken und Sein zu fassen ist. Indem sie über die Schranken irdischer Gegebenheiten und über die Beschränktheiten des sinnlichen Bewusstseins hinausführt, erhebt Philosophie vom Bedingten zum Unbedingten, um in der Idee der Ideen, die theoretisch als vernunftgegeben und praktisch als dem Willen aufgegeben zu erkennen ist, ihr Ziel und ihre Erfüllung zu finden. In der Idee des Guten vollendet sich mit der Philosophie das gesamte Geistesleben. Philosophisches Denken belässt es nicht bei bloßen Meinungen, sondern transzendiert Wahrnehmungen und Vorstellungen, um in Theorie und Praxis das wahrhaft Wirkliche der Ideen und in deren Zusammenhang die Idee der Ideen zu erstreben. Nicht, was einem als wahr erscheint, ist das Wahre, nicht, was einem gut dünkt, das Rechte. Recht und wahr ist nur, was der Idee des Guten entspricht, auf deren Erkenntnis mithin alles ankommt. Das Gute ist der höchste Lebenszweck, und allem Werden liegt das Sein des Guten zugrunde und als Ziel voraus. Das Gute ist das Wesen aller Wesenheiten und der Inbegriff alles Vernünftigen. In ihm erfüllt sich das Streben des Denkens und der philosophische Eros findet Erfüllung. Als Methode gedanklicher Erhebung zur absoluten Idee des Guten hin fungiert die Dialektik. Platon versteht unter ihr das Mittel und Organ der Entwicklung reiner Begriffe, die von sinnlichen Voraussetzungen und von den Formen des Vorstellens oder bloßen Meinens frei sind. Indem die Dialektik reine Begriffe ausbildet, bringt sie das Wesen der Dinge und ihr Sein als solches zur Erkenntnis. Das wesentliche Sein einer Entität stellt, wie gesagt, nicht deren besonderes Dasein und ihre individuelle Erscheinung dar, sondern ihr allgemeiner Begriff. Das Allgemeine ist das Wesenhafte, welches die Idee erfasst. Dabei ist nach Platon die ideale Erkenntnis allgemeinen Wesens die Bedingung dafür, das Einzelne überhaupt als das identifizieren zu können, was es ist. Der Wesensbegriff einer Entität geht deren besonderer Erscheinung voran und ist ungleich realer als diese. Denn während sich die Erscheinung eines Dinges ändert, hat dessen begriffliches Wesen stetigen Bestand. Erst der Begriff eines Seienden, der dessen allgemeines Wesen zu Bewusstsein bringt, vermag Identität zu vergewissern. Dialektik hat die Aufgabe, allgemeine Wesensbegriffe auszubilden, um das wahre Sein des Seienden zu begreifen. Zugleich hat sie die Ideen der Dinge in ein logisches Verhältnis zueinander zu setzen und durch graduelle Abstufung ihre innere

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Ordnung zu bestimmen, weil nur auf diese Weise eine geordnete intelligible Welt entsteht, die vernünftig genannt zu werden verdient und den Gesetzen des Denkens entspricht. Die logische Anordnung der Ideen, deren es unbestimmt viele gibt, ihre Verhältnisbestimmung untereinander sowie ihre innere Hierarchie bemisst sich nach Platon am Grad ihrer Teilhabe an der Idee des Guten, die als Idee der Ideen den Einheitsgrund und den obersten Zweck der Ideen repräsentiert. Aus der Stufung der Ideen untereinander geht die Ordnung der Wissenschaften stimmig hervor, wobei das Erkenntnispotenzial der einzelnen Wissenschaften desto höher ist, je mehr sie sich der Wissenschaft vom Guten annähert. Diese kann im Sinne Platons durchaus Theologie genannt werden. Denn dass ihm das Gute als das Göttliche gilt, duldet keinen Zweifel. Als das schlechthin Seiende ist das Gute ganz und Physik und Ethik aus sich selbst heraus erkennbar sowie auf eine gedanklich nicht steigerungsfähige Weise gewiss. Einen sehr hohen Grad an Gewissheit hat des Weiteren die Tugendlehre als die Lehre von den sittlichen Idealen und ihrer Erscheinung im Zusammenhang vernünftiger Willenstätigkeit. Von geringerem Gewissheitsgrad sind hingegen die Naturwissenschaften, welche die Ideen von sinnlichen Entitäten zum Gegenstand haben, wie sie in der prärationalen Welt des Natürlichen in Erscheinung treten. Ein Seiendes, dem Bewusstsein abgeht, ist nach Platon weniger seiend als eine bewusstseinsbegabte Entität. Entsprechend ist die Idee von Entitäten mit Bewusstsein von höherem Gewissheitsgrad als die Erkenntnis von bewusstlosem Sein. Die Ordnung der Welt der Natur ergibt sich daraus ebenso wie diejenige der physikalischen Wissenschaft. Anders als die Physik, deren Gegenstand seiende Wesen, allenfalls Wesen mit Bewusstsein, aber ohne Selbstbewusstsein sind, ist die Tugendlehre der Ethik auf selbstbewusste Entitäten bezogen, die vernunft- und willensbegabt einen Begriff ihrer selbst und ihres Wesens haben. Die Ideen der Ethik sind demgemäß durch vernünftiges Wissen und sittliche Einsicht bestimmt und damit in Gewissheit und Geltung höherwertig als die physikalischen Ideen, die nicht durch Selbst-, sondern durch Fremdbetrachtung gewonnen und damit lediglich in Form äußerer Wahrnehmung und sinnlicher Vorstellung zu vermitteln sind. Ethik setzt das Innesein der Grundideen voraus, welche sittliche Wesen bestimmen. Die Gegenstände der Physik sind ohne Innesein ihrer Ideen ebenfalls nicht zu denken mit der Folge, dass auch die physikalische Wissenschaft wie alle sonstigen Naturwissenschaften als Ideenwissenschaften zu gelten haben. Doch ist ihr Wissen ein Wissen von Entitäten, die nicht um sich wissen und deren Idee ihrer Erscheinung äußerlich ist. Die Physik kann daher der Welt der Ideen nur in ihrer Äußerlichkeit innewerden. Der Status physikalischer Ideen ist erkennbar anders als der Status ethischer Ideen oder gar derjenige der theologischen Idee des Guten. Das darf durch den Hinweis auf die gemeinsame „Substantialität der Ideen“ (Zeller II,1, 667) nicht verdunkelt werden. Zwar mag die generelle Charakteristik hingehen, dass es sich bei Ideen um Allgemeinbegriffe handelt, die das identische Wesen von Dingen in

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Form für sich bestehender Substanzen erfassen. Auch von einer Hypostasierung von Ideen zu realen Größen je eigener Art kann man insofern reden, als nach Platon der Begriff einer Entität seinshaltiger ist als ihre Erscheinung, die für sich genommen mit einem Moment zufälligen Beliebens versehen ist. Im Modus seiner Erscheinung ist Seiendes mannigfaltig, uneindeutig und Veränderungen unterworfen. Identisch ist es nur nach Maßgabe seines Begriffs, der, wie Platon sagt, seine Idee oder sein Wesen ausmacht. Doch ist das Wesen der Dinge an sich selbst differenziert und eins nur insofern, als der jeweilige Wesensbegriff mit der Idee des Guten übereinkommt. Man kann also die Ideen, von denen Platon signifikanterweise fast immer in der Mehrzahl spricht, nicht abstrakt vergleichen oder gar unmittelbar gleichsetzen. Ideen sind Universalien. Doch ist die Ausbildung von Allgemeinbegriffen nur ein erster Schritt, die Ideenwelt zu erfassen. Soll diese nicht lediglich eine Verdoppelung der Erscheinungswelt und Metaphysik anderes sein als überhöhte Physik, welche das Wesen der natürlichen Erscheinungen in Form einer transnaturalen Intellektualwelt von hypostasierten Begriffen vorstellig macht, dann muss die Differenz von Wesen und Erscheinung reflex gestaltet und auf die Idee von Entitäten zurückgeführt werden, die im Unterschied von Naturwesen nicht nur durch Sein, sondern durch Bewusstsein und Selbstbewusstsein gekennzeichnet und damit nach Platon seiender sind als natürliche Wesen. Die Erscheinung, in der die Natur ihr Wesen hat, ist seiend nur in äußerlichem Sinne. Bewusste und selbstbewusste Entitäten hingegen sind dazu bestimmt, ihr Wesen nicht nur äußerlich zur Erscheinung zu bringen, sondern ihrer Idee innezuwerden, um sich als manifester Begriff ihrer selbst zu realisieren. Auch die Physik, um es zu wiederholen, ist Ideenwissenschaft. Aber sie ist, wie gesagt, Wissenschaft von den Ideen in einem äußerlichen Sinne, weil sie von Gegenständen handelt, die keinen Begriff ihrer selbst haben und ihrem Wesen nach bloß äußere Erscheinung sind. Diese Äußerlichkeit ist nach geläufiger Platoninterpretation materiebedingt und durch Materie verursacht. Doch bleibt zu fragen, was hiermit gemeint ist; das gilt umso mehr, als Platon den Begriff der „hyle“ in seinen Schriften offenbar bewusst vermeidet und den üblicherweise mit der Vorstellung einer amorphen Masse assoziierten Urstoff der sinnlichen Welt nicht als „aitia“, sondern stets nur als eine Größe einführt, die – für alle möglichen Formen offen – schlechterdings formlose Unbestimmtheit ist. Was man sich ansonsten darunter zu denken hat, bleibt unklar. Doch ist es in gewisser Weise gerade diese Unklarheit, welche der Vorstellung der Materie als eines gestaltlosen Urstoffes gemäß ist. Sofern nämlich nach antiker Auffassung Erkenntnis stets an Form gebunden ist, ist die formlose Materie eigentlich unerkennbar bzw. dasjenige, was in Erkenntnis zwar mitgesetzt, aber solche Erkenntnis weder zu haben noch zu geben fähig ist. Der Begriff der Materie, wenn er denn überhaupt Begriff genannt werden soll, ist also zunächst nur die Negation bzw. Abwesenheit jeder Bestimmtheit. Die Materie ist das zu Formende, das zwar aller Formung zugrunde liegt, ohne doch an sich selbst etwas Bestimmtes zu sein. Ist Materie im platonischen Sinne kein schöpferisches Wirkprinzip, sondern

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lediglich dasjenige, was – an sich selbst form- und gestaltlos – alle Formen und Gestalten aufzunehmen bestimmt ist, um auf diese Weise geprägt zu werden, so wird man ihr Wirkkraft allenfalls in dem negativen Sinne zuzuerkennen haben, dass sie dem Prozess ihrer Formung und Gestaltung, ohne den sie nichts Bestimmtes, also eher dem Nichts als dem seienden Etwas zu vergleichen ist, eine vage und doch nicht einfach ins Leere gehende Widerständigkeit entgegensetzt. Als Prägematerial, das er ist, weist der Urstoff, wenn man so will, eine gewisse Sprödigkeit auf, welche reine Formwerdung verhindert. Unkörperlich, weil von allen bestimmten Körpern verschieden, leblos, weil ohne Seele und ohne Vernunft, kein Seiendes und damit auch recht eigentlich kein Stoff und keine Masse, sondern lediglich der schattenhafte Schein derselben, ist die Materie am ehesten einem unendlichen und grenzenlosen Chaos zu vergleichen, welchem die werdende Gestalt zu entwachsen bestrebt ist, ohne im Prozess ihrer Formung doch gänzlich materiellen Herkunfts- und Beziehungszusammenhängen zu entkommen. In diesem Sinne ist die Materie sowohl das dem Formprozess Zugrundeliegende als auch das ihn Hemmende. Wenn sich etwas über die Materie eindeutig aussagen lässt, dann diese ihre Zweideutigkeit. Unzweideutig nicht nur, sondern eindeutig dem Guten zugewendet sind demgegenüber die Ideen. Im Vergleich zu ihnen muss die Materie entweder als ein Indifferentes oder, nämlich im konkreten Falle differenter Widerständigkeit gegen Form und Gestalt, als böse erscheinen. In der Tat lassen sich bei Platon und im Platonismus viele Hinweise dafür finden, dass die Materie Ursache der Unordnung, des Chaotischen und des Bösen in der Welt ist. Hingegen macht Platon nirgends den Demiurgen für das kosmisch Schlechte verantwortlich. Vielmehr wird ausdrücklich das Gegenteil gesagt, nämlich dass das Böse allein in der sterblichen und vergänglichen Sphäre wirksam und wirklich sei und niemals in Gott seinen Ort und seine Ursache haben könne. Als Möglichkeit inhäriert das Böse der Materie, um im Widerstand des Sinnlichen gegen das Intelligible faktisch zu werden. Virtuell böse ist die Materie, wenn man so will, durch das Fehlen von Form und Gestalt, tatsächlich böse wird sie in den verschiedenen Weisen der Form- und Gestaltverfehlung, wie sie statthaben, wenn sich die Seele der Materie zuwendet und dem Sinnlichen hingibt, statt sich zum Idealen, Guten und Göttlichen zu erheben. Fasst man zusammen, was es mit der Materie platonisch auf sich hat, so wird man trotz ihrer behaupteten Uranfänglichkeit nicht undifferenziert ihre Gleichursprünglichkeit mit Gott oder gar ihre gegebene Gottgleichheit behaupten dürfen. Ihre Anfangslosigkeit bezeichnet ihr Ungewordensein im chronologischen Sinne, nicht aber mit Notwendigkeit ihr schlechterdings gottunabhängiges Vorgegebensein oder gar ein Vermögen der Selbstgenetisierung. Letzteres darf vielmehr als ausgeschlossen gelten, da zur Selbstbewegung nur die Seele, nicht aber das Materielle für sich genommen fähig ist. Als etwas Bestimmtes tritt die Materie entsprechend immer nur im Zusammenhang mit dem auf, was sie nicht unmittelbar an sich Materie und Form

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selbst ist, um sich auf diese Weise eher als ein stets Beigegebenes denn als ein ständig Vorgegebenes zu erweisen. So gesehen lässt sich die in der Lehre von der creatio ex nihilo explizierte christliche Kritik an dem Stellenwert, welcher der Materie in Platons Schöpfungslehre zuerkannt wird, auf den Protest gegen den falschen Schein reduzieren, es gebe etwas, was ursprünglich und beständig die Schöpfermacht Gottes und des Guten begrenzen und der Allmacht des guten Gottes durch nicht nur anfängliche, sondern andauernde Widerständigkeit Schranken auferlegen könnte. Anders freilich stellt sich die Angelegenheit in Bezug zur späteren Lehre des Mani und der Manichäer dar, welche die Materie undifferenziert verteufeln und zum Alternativprinzip Gottes und des Guten erklären, das einen grundsätzlichen und ewigen Gegensatz zu bedingen in der Lage ist. Doch widerspricht die manichäische Heterodoxie der Lehre Platons nicht weniger als dem Christentum. Ungleich sachgemäßeren Anspruch als die Materie können die Ideen auf einen Prinzipienstatus in Platons Schöpfungstheologie erheben. Ursächlich sind sie sowohl in ontologischer als auch in gnoseologischer Hinsicht: nur wer das Sein des Seienden im Wahrnehmungsvollzug auf Teilhabe an den Ideen hin durchschaut, weiß um dessen Wesen; nur wer in, mit und unter dem, was ist, die Ideen erkennt, sieht die Wahrheit des Wirklichen ein. Als unkörperliche und intelligible Vorbilder für das sinnlich Gegebene verweisen die Ideen auf den göttlichen Grund des Kosmos, wobei Gottes Schöpferhandeln mit den Ideen untrennbar verbunden ist. Sein schöpferisches Tun ist demjenigen des Künstlers zu vergleichen, der in seinem Denken und Vorstellen ein Modell entwirft, um der zu formenden Materie die entsprechende Idealgestalt abzugewinnen. Dabei liegt der Sinn der Ideen im Falle des Schöpfungshandelns Gottes anders als beim Künstler, der sie nur zum Zwecke ihrer Realisierung im vorgegebenen Material ersinnt, in ihnen selbst. Kosmische Prinzipien sind die Ideen daher nur sekundär; primär sind sie von theologischer Art, nämlich Gottes Gedanken, wie sie in der göttlichen Idee des Guten inbegriffen sind. Als solche sind sie die ersten und ursprünglichen Wesenheiten und das Höchste alles Seienden. Erschlossen sind die Ideen im reinen Denken. Weit entfernt davon, durch bloße Sinneswahr- Wesen und Erscheinung nehmung erfassbar zu sein, sind sie ausschließlicher Gegenstand der Vernunft, die absolute Gewissheit zu vermitteln vermag, wohingegen es im Bereich der Sinnlichkeit nur mehr oder minder wahrscheinliche Meinungen gibt. Trotz ihrer grundsätzlichen Unabhängigkeit vom bestehenden Kosmos, dessen Ordnung sie im Verein mit dem Schöpferhandeln des Demiurgen bewirken, stehen sie in einem unveräußerlichen Verhältnis zu ihm. Die Ewigkeit der Ideen ist entsprechend nicht, jedenfalls nicht in notwendiger Weise abstrakt zeitlos, sondern mit dem Vermögen, sich zu zeitigen, verbunden zu denken, wie denn umgekehrt die Ordnung der irdischen Dinge in einem Ideenkosmos vorgebildet ist, dessen Abbild die kosmische Welt darstellt. Es gibt Ideen der Götter am Himmel, d. h. der Sterne, Ideen der geflügelten Luftbewohner, der Wassertiere und

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der Erdbewohner. Daran zeigt sich, dass die Ideen nachgerade in ihrer Absolutheit bezogen sind auf das Relative, welches sie widerspiegelt. Doch begegnet bei Platon auch die Tendenz, die Ideen vom sinnlich Gegebenen abstrakt abzutrennen und das Ideale durch den Gegensatz zum Realen bestimmt sein zu lassen. Die Idee wäre dann aber, mit Hegel zu reden, ein unbestimmt Allgemeines und nicht konkret in sich selbst. War es demgegenüber nicht durchaus Platons Absicht, das Allgemeine nicht lediglich gegen das Besondere, das Eine nicht gegen das Viele, die Gattung nicht lediglich gegen das Individuelle zu setzen, sondern der Ideenwelt eine konkrete Bestimmung zu geben? Zu dieser Bestimmtheit gehört die Negation des Sinnlichen in der Weise des Bewusstseins, dass das unmittelbar Seiende, also die Dinge, die uns erscheinen, nicht an sich selbst das Wahre sind. Doch ist Negativität nur ein Moment im Wesen des Idealen, sofern die Ideen die sinnlichen Vorstellungen nicht nur negieren, sondern in die wirkliche Wahrheit ihrer selbst aufheben. Die platonische Dialektik kann deshalb, will man sich in den Umkreis ihrer Stärke stellen, nicht lediglich auf Gegensätze fixiert werden, sie ist vielmehr als Bewegung des Denkens zu begreifen, welche die Seele vom Sinnlichen zum Idealen und vermöge des Idealen zu jener einen Idee des Guten erhebt, die in ihrer Einheit differenziert genug ist, das Ganze einschließlich des Unterschieds von Idealem und Realem zu begreifen. Die Idee des Guten wäre sonach nicht schlechter Idealismus nach Art eines unvermittelten Gegensatzes von Idealem und Realem, sondern „Gedanke, der in einer Einheit ebensowohl Realität als Denken ist, der Begriff und seine Realität in der Bewegung der Wissenschaft, – Idee eines wissenschaftlichen Ganzen“ (Hegel II, 11 [= Geschichte der griechischen Philosophie. Erster Abschnitt. Drittes Kapitel: A. Philosophie des Platon]).

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Lit.: G. Böhme, Platons theoretische Philosophie, Stuttgart 2000. – Th. Buchheim, Aristoteles, Freiburg/Basel/Wien 1999. –R. Ferber, Platos Idee des Guten, St. Augustin 21989. – I. Düring, Aristotle in the Ancient Biographical Tradition, Göteborg 1957. – Ders., Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 1966. – F.-P. Hager (Hg.), Metaphysik und Theologie des Aristoteles, Darmstadt 1969. – O. Höffe, Aristoteles, München 1996. – W. Jaeger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin 1923. – G. Martin, Platons Ideenlehre, Berlin/New York 1973. – P. Moraux, Der Aristotelismus bei den Griechen. Von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias, Berlin/New York 1973. – J.H. Randall, Jr., Aristotle, New York 1960. – C. F. v. Weizsäcker, Ein Blick auf Platon. Ideenlehre, Logik und Physik, Stuttgart 1981. – E. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Zweiter Teil. Erste Abteilung: Sokrates und die Sokratiker. Plato und die Alte Akademie, Hildesheim 61963 (Fotomechanischer Nachdruck der 5. Auflage, Leipzig 1922). – Ders., Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Zweiter Teil. Zweite Abteilung: Aristoteles und die alten Peripatetiker, Hildesheim 51963 (Fotomechanischer Nachdruck der 4. Auflage, Leipzig 1921)

Man unterteile eine Vertikale, die zwei Punkte senkrecht verbindet, in zwei ungleiche Längen (I; Das Liniengleichnis II) und teile diese erneut gemäß derselben Proportion, in der die ursprüngliche Teilung erfolgte (I A,B; II C,D). Es ergibt sich: I : II = A : B = C : D, woraus folgt: B = C. Damit sind die Grunddaten des Liniengleichnisses benannt, das Platons Weltschema und Grundstrukturen seines wissenschaftlichen Systems symbolisiert. Die beiden Ursprungsteile I und II der Linie verweisen auf den mundus intelligibilis einerseits und den mundus sensibilis andererseits. Der noetische Kosmos des Übersinnlichen als die Sphäre dessen, was kein Entstehen kennt und allein durch vernünftiges Denken zu erfassen ist, steht zur materiellen Welt des Sinnlichen, welches in stetigem Werden und Vergehen begriffen, aber niemals vollendet ist, in Differenz und in einem Verhältnis der Ungleichheit. „Die Bereiche des Sinnlichen und Denkbaren sind so nicht einfach isoliert, sondern noch durch Proportionen miteinander verbunden“ (Ferber, 114), so different sie im Übrigen auch sind. Die elementare Ordnungsstruktur des wissenschaftlichen Ganzen der Philosophie Platons ist damit bezeichnet. Die Ideenlehre samt der Lehre von der höchsten Idee des Guten hat das immerdar sich selbst gleiche Sein intelligibler Wesenheiten zum Gegenstand. Sie ist Begriffswissenschaft und damit Wissenschaft im eigentlichen Sinne, weil sie über ein gewisses Bewusstsein ihres Wissens verfügt, wohingegen die auf das Wer-

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dende und Vergehende bezogene Sinneswahrnehmung nur Meinungen und bloße Vorstellungen zulässt, denen letzte Gewissheit abgeht. Während das Denken in der Idee des Guten zu vollendeter Reinheit gelangt, droht die Sinneswahrnehmung im materiellen Chaos zu versinken. Intelligible und sensible Welt stehen in ihrer im Liniengleichnis symbolisierten Ungleichheit in einem Verhältnis elementarer Spannung, die von einer tendenziellen Gegenläufigkeit herrührt. Von den Grenzmarken der Vertikalen des Gleichnisses her geurteilt, können kontradiktorische Gegensätze nicht ausgeschlossen werden. Das platonische Vernunftsystem weiß um Unvernunft und Vernunftwidriges, das aus dem materiellen Widerstand des Sinnlichen gegen die Idee hervorgeht. Dennoch ist die vom Liniengleichnis symbolisierte Differenz von gedanklicher Idealität und sinnlicher Realität nicht auf einen prinzipiellen Dualismus und unvermittelten Gegensatz angelegt. Darauf verweist die Gleichung IB = IIC. Zwar sind die beiden ursprünglichen Teile der Linie im Gleichnis von verschiedener Länge und damit ungleich. Aber aus der nach Maßgabe der Proportion der Ursprungsteilung jeweils erneut erfolgten Teilung ergibt sich auf vermittelte Weise die Möglichkeit einer Vergleichung im Sinne einer Gleichheit bei gegebener Ungleichheit. Die aneinander grenzenden Linienteilstrecken von Teil I und Teil II der Vertikale sind gleich lang. Dieses Bild deutet auf einen Sachverhalt hin, der für das Verständnis der strukturellen Ordnung platonischer Philosophie von nicht geringer Bedeutung ist. Intelligible und sensible Welt sind unterschieden, nicht aber zwangsläufig getrennt, sofern ein Vermittlungszusammenhang zwischen beiden gegeben ist, der sie in Beziehung setzt, ohne ihre prinzipielle Differenz zu beseitigen, von der Platon zweifellos ausgeht. Die intelligible Welt des Denkens, in der sich die Ideenwissenschaft bewegt, enthält als implizites Moment ihrer selbst, dem zwar keine absolute, wohl aber relative Selbständigkeit zukommt, die Untersphäre einer vornehmlich mathematisch und mit Zahlen operierenden Verständigkeit, welche, wiewohl dem reinen Denken der Ideen nicht gleichzustellen, mit der Ideenweisheit in differenziertem Zusammenhang steht und sie in virtuelle Beziehung setzt zum mundus sensibilis, der sich ebenfalls nicht undifferenziert darbietet, sondern durch jenen seiner Anteile, der in Bezug auf das Liniengleichnis IIC genannt wurde, bezogen ist auf die mit IB zu assoziierende logische Verstandessphäre, der er gleicht. Daran zeigt sich, dass die sensible Welt der intelligiblen keineswegs eo ipso widerstrebt, sondern durchaus darauf angelegt ist, von dieser verständig ergriffen und zur Vernunft gebracht zu werden. Zwar ist die Verstandeswelt der mathematischen Zahlen und logischen Begriffsstrukturen, durch welche der mundus intelligibilis an den mundus sensibilis anschließt und dieser Anschluss gewinnt an jenen, noch nicht die Ideenwelt reinen Denkens, in welcher sich die Vernunft bewegt. Doch ist sie geeignet und in der Lage, das Sinnliche mit dem Vernünftigen zu vermitteln, indem es erhebt, was am Sinnlichen verständig und zu verstehen ist. Durch Messen und Zählen, durch mathematische und logische, kurzum durch verständige Strukturierung wird Verstehen der in ihrer Mannigfaltigkeit und steten Veränderung

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nicht ohne Weiteres verständlichen Sinnesdaten ermöglicht und die sensible Welt angebunden an die intelligible. Ohne diese Anbindung müsste die Sinnenwelt aufhören, verständlich zu sein, und in ein materielles Chaos versinken, in der sie mit dem Verstand auch die ihr eigene Form verlöre. Dass Platons Wissenschaft trotz der sie kennzeichnenden Grunddifferenz zwischen Intelli- Platons Seelenlehre giblem und Sensiblem auf die Vermittlung von Gegensätzen angelegt ist, bestätigt sich in eindrucksvollster Weise an der Seelenlehre. „Die Seele hat eine Zwischenstellung zwischen dem ewigen Sein und dem Bereich des Werdens und Vergehens.“ (Böhme, 313) Ihre Position markiert nicht von ungefähr die Mitte des Systems. Die Seele ist eingespannt zwischen Idealem und Realem, Identischem und Nichtidentischem, Immerseiendem und Nichtigem, und sie trägt die Spannung zwischen intelligiblen Ideen und gedankenloser Materie, die Platons Lehre charakterisiert, gewissermaßen in sich selbst aus. Gemäß ihrer zentralen systematischen Stellung ist die platonische Seelenlehre in hohem Maße komplex. Vielfältig sind die Seelenarten: Neben der Menschenseele rechnet Platon mit einer Seele von Pflanzen und Tieren sowie mit Sternenseelen und einer Seele der Welt, die den kosmischen Gesamtleib des Alls regiert. Was die Seele des Menschen betrifft, so wird zwischen der vernunftbegabten Seele, die göttlich, unsterblich und am Immerseienden teilhabend zu denken ist, und einer sterblichen Seelenart unterschieden, die ihrerseits aus dem muthaften und dem begehrenden Seelenteil besteht. Die innere Differenziertheit, die dem Seelenbegriff eigen ist, muss freilich dessen Einheit nicht notwendig auflösen, sondern kann sie insofern bestätigen, als sie der Seele den Status eines Mittleren zuerkennt, welches als ein Drittes zwischen dem unteilbaren Sein des Intelligiblen einerseits und dem teilbaren Sein der sinnlichen Körperwelt andererseits vermittelt. Diese Vermittlungsfunktion tritt an der Menschenseele offenkundig zutage, da diese – in der Mitte zwischen den sterblichen und unsterblichen Seelen platziert – den Zusammenhang von Vernunft und Sinnlichkeit, welcher der Mensch als animal rationale ist, vermittelt, um ihn zugleich in der ihr eigenen Differenziertheit zu reflektieren. Indem die Seele als Bindeglied zwischen dem Intelligiblen und dem Sinnlichen fungiert, repräsentiert sie die dem Leben eigene Spannung und Bewegtheit, sowohl das nach „oben“ gerichtete, das Körperliche transzendierende Prinzip des Anabatischen als auch das dem Sinnlichen verbundene, nach „unten“ gerichtete katabatische Prinzip. Das bewegende Spannungsverhältnis, das zwischen Anabasis und Katabasis waltet, lässt sich durch den Hinweis auf zwei menschliche Seelen nicht aus der Welt schaffen, da beide bekanntlich nicht gesondert, sondern in einer einzigen Menschenbrust wohnen. Mit der Reminiszenz an Goethes Faust soll nicht geleugnet werden, dass sich tendenziell dualistische Sonderungstendenzen in Platons Seelenlehre finden lassen und tatsächlich finden. Sie zeigen sich vor allem in der bestehenden Neigung, die vernunftbegabte Seele des Menschen, welche ihn mit der als Gottheit vorgestellten Weltseele und den zu Göttern erklärten Sternenseelen verbindet, herauszulösen

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aus dem Zusammenhang mit der sinnlichen Welt des Körperlichen. Die platonische Lehre von der Unsterblichkeit der Vernunftseele des Menschen kann dafür als ein Beleg angeführt werden. Doch ist auch in dieser Hinsicht Differenzierung geboten, wie u. a. die uneinheitliche Rezeptionsgeschichte der Thematik im antiken Platonismus zeigt. Für Platons eigene Lehre immerhin wird man bei aller gebotenen Vorsicht sagen können, dass nach ihr die menschliche Vernunftseele als vom Körper separiert zu denken ist und nach der im Tode erfolgten Trennung in körperloser Weise kraft eigenen Bewegungsvermögens ewig fortlebt. Dies impliziert, dass die Seele ihrem eigentlichen Sein nach eine immaterielle, sich selbst bewegende Wesenheit ist. Damit hebt sich Platon nicht nur von den Vertretern einer feinstofflich-materiellen Seele, sondern auch von denjenigen ab, die vor ihm und nach ihm gelehrt haben, das Sein der Seele sei zwar nicht materiell, aber auch keine in und durch sich selbst bestehende immaterielle Substanz. Platons Auffassung von der Göttlichkeit der Seele stieß nicht nur bei seinem Schüler Aristoteles und anderen Philosophen, die Platoniker zu sein ansonsten durchaus für sich in Anspruch nahmen, auf Vorbehalte, sie wurde auch in der frühchristlichen Theologie bereits des zweiten Jahrhunderts Gegenstand expliziter Kritik. Motiviert war diese Kritik aus allgemeinen schöpfungstheologischen Gründen und durch das spezifische Interesse an der untrennbaren Zusammengehörigkeit der dezidiert als geschaffen behaupteten Seele mit der leiblichen Existenz des individuellen Menschen. Als Gottesgeschöpf ist die Menschenseele weder an sich selbst göttlich und unsterblich, noch lässt sich mit ihrer Geschöpflichkeit eine bei aller Unterschiedenheit prinzipielle Trennung von Leib und Körperwelt vereinbaren, die nach jüdisch-christlichem Urteil der guten Schöpfung Gottes ebenso ursprünglich angehören wie die Seele. Diese Einwände hinderten das frühe Christentum indes nicht, Gehalte der platonischen Seelenlehre produktiv zu rezipieren. Deren innere Differenziertheit und nachgerade die der von Platon der Seele zugewiesene Vermittlungsfunktion bot die Möglichkeit einer solch kritisch-konstruktiven Rezeption. In ihrer Eigenschaft als Medium des Intelligiblen und des Sinnlichen konnte die Seele auch dem Christentum als Inbegriff des Menschenwesens und seiner kreatürlichen Bestimmung gelten, sich und seine Welt auf Gott hin zu transzendieren. Im Lebensideal der erhebenden Angleichung an Gott, wie dessen erhabener Geist sie bewirkt, erfüllt und vollendet sich, wozu der Mensch von seinem Schöpfer her bestimmt ist. Der Menschenseele konnte in diesem Vollzug auch unter christlichen Bedingungen eine einzigartige Funktion zuerkannt werden, da sie nach Gottes Schöpferwillen das Mittel ist, welches – für Sinneswahrnehmungen offen und zugleich auf Intelligibles ausgerichtet – den leibhaften Menschen über die Schranken seines Körpers und der körperlichen Welt insgesamt hinausführt, um auf diese Weise den Prozess der Erhebung zu Gott zu mediatisieren. Auch Christen konnten daher mit Platon sagen, dass die Seele es ist, welche den Menschen zum Menschen macht. Klärungsbedürftig blieb dabei allerdings, wie das von Platon mit der Tendenz zur Sonderung in Anschlag gebrachte Verhältnis von intel-

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ligibler und sensitiver Seele genau zu bestimmen sei. Klar war zunächst nur, wie dieses Verhältnis formal und unabhängig von allen terminologischen Bezeichnungsfragen nicht bestimmt werden konnte, nämlich weder im Sinne einer trennenden Alternative, noch im Sinne einer Ununterscheidbarkeit beider Größen, in deren differenzierten Zusammenhang sich das Verhältnis von Intelligiblem und Sinnlichem reflektiert. Bleibt als die präziseste Antwort, die sich im Anschluss an Platon auf die Frage nach dem eigentümlichen Wesen der Menschenseele gewinnen lässt, nur der Hinweis auf deren Mittelstellung zwischen Intelligiblem und Sinnlichem, dann ergibt sich in der notwendigen Folge das Problem, wie das in der seelischen Mitte auf differenzierte Verbindung hin Angelegte an sich selbst so zu denken ist, dass die Funktion der Seele als eine zumindest virtuell mediatisierende gedacht werden kann. Auch in dieser Hinsicht enthielten die möglichen Lösungsangebote platonischer Tradition für das frühe Christentum nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Verband sich doch mit der platonischen Neigung, die Seele vom Leib bzw. die vernünftige und in ihrer Art immateriell-unsterbliche Seele von einer sensitiven, materiebehafteten und daher sterblichen Seele inklusive der mit ihr verbundenen Körperlichkeit zu sondern, die Tendenz, die Ideensphäre des Intelligiblen von der Sinnenwelt dergestalt zu trennen, dass wahres Sein ausschließlich dem immerseienden Idealen zugedacht, das im Werden Begriffene hingegen in protologischer Reduktion auf eine reine Materie zurückgeführt wurde, die trotz der ihr attestierten Nichtigkeit eine beständige und gleichsam substanzielle Widerständigkeit auf intelligibles Formstreben ausübt. Beide Aspekte finden in der platonischen Vorstellung ihren signifikanten Ausdruck, dass dem Schöpfungshandeln des Demiurgen sowohl die Bestimmtheit der Ideen als auch der unbestimmte Urstoff der Materie vorgegeben seien. Beides musste als inkompatibel mit dem christlichen Schöpfungsgedanken erscheinen. Was die Ideen anbelangt, so konnten die platonischen Unsicherheiten in der Bestimmung des Verhältnisses von Seele und Vernunft über das bestehende Problem nicht wirklich hinweghelfen. Denn auch für den Fall, dass die Vernunft und die mit ihr gegebene Ideenwelt nicht als eigenständige Wesenheit über der Seele, sondern als deren Funktion bestimmt wurde, war in der Annahme der immateriellen Substanzialität der vernünftigen Seele als des eigentlichen und in Wahrheit seelischen Seelenorgans die Behauptung der Ungeschaffenheit der Vernunft und der Göttlichkeit der Vernunftidee immer schon mitgesetzt. Umgekehrt enthielt der geltend gemachte Gegensatz zur Ideenwelt, wie er sich in der tendenziellen Ablösung einer sterblichen Seelenart von der unsterblichen Vernunftseele anzeigt und in der Annahme schlechterdings vernunftloser, aber in ihrer Vernunftlosigkeit gleichwohl als Urdatum in Anschlag gebrachten Materie vollendet, mögliche dualistische Implikationen, die mit dem christlichen Glauben an die schlechthinnige Voraussetzungslosigkeit göttlichen Schöpferhandelns ebensowenig verträglich waren wie mit dem Vertrauen auf die ursprüngliche Güte und die eschatologische Vollendung der Schöpfung.

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Von der christlichen Wahrnehmung dieses Problemzusammenhangs, wie sie u. a. in der altkirchlichen Lehre von der creatio ex nihilo zum Ausdruck kommt, wird an späterer Stelle noch ausführlich zu reden sein. Im gegebenen Kontext ist das Problem zunächst an denjenigen Schüler Platons weiterzugeben, der sich wie kein anderer an möglichen dualistischen Tendenzen platonischen Denkens in der Absicht abgearbeitet hat, sie zu vermeiden oder zu beheben: an Aristoteles. Nach sokratischem Grundsatz ist nur begriffliches Wissen, also Wissen, das ein Bewusstsein von sich selbst hat, wirkliches Wissen. Platon hat diesen Grundsatz zum metaphysischen Prinzip entwickelt und dialektisch zu einem wissenschaftlichen Lehrgebäude ausgebildet. Ziel platonischer Dialektik ist es, den reinen und identischen Begriff einer Sache zu erfassen, damit im sinnlichen Abbild das Urbild erschaut und das Wesen des Seienden zur Erkenntnis gebracht werde. Indes fungiert Dialektik nach Platon nicht lediglich als eine erkenntnistheoretische Methode propädeutischer Art. Indem sie den Begriff eines Seienden erhebt, benennt sie zugleich dessen Wesensgrund. Als Ideenlehre ist Dialektik sowohl Theorie der Erkenntnis als auch und vor allem Metaphysik, welche die Ideen mit einem ontologischen Status eigener Art versieht. Ideen sind keine bloßen Allgemeinbegriffe, die aus sinnlichen Gegebenheiten durch nachträgliche Abstraktion gewonnen werden. Als Wesensbegriffe der Dinge sind sie deren Seinsgrund, ohne welchen vom Sein der Dinge überhaupt nicht die Rede sein könnte. Wahres Sein eignet den Ideen als Ideen, wohingegen die Entitäten der Erscheinungswelt nur im abgeleiteten Sinne, nämlich insoweit als seiend bezeichnet werden können, als sie ihrer Idee entsprechen. Als Wesensgründe des Erscheinenden sind die Ideen metaphysische Größen, die ontologisch für sich bestehen, denen also Sein jenseits der Erscheinungswelt zukommt. Zwar stehen die Ideen zu den sinnlichen Erscheinungen, deren Begriff sie sind, in Beziehung. Dies ändert indes nichts an der Tatsache, dass sie nach Platon Wesenheiten sind, denen Sein keineswegs nur in Bezug auf Sinnliches, sondern an sich selbst eignet. Die platonische Anamnesislehre bestätigt dies in erkenntnistheoretischer Hinsicht. Nur durch Erinnerung an die Urbilder, welche die immaterielle Seele in der Präexistenz ihres übersinnlichen Daseins geschaut hat, vermag sie die Dinge der Erscheinungswelt als das zu begreifen, was sie in Wahrheit sind: Abbilder der Ideen, denen Sein nur vermöge ihrer Partizipation an diesen zukommt. Ideen sind für sich seiend, die sinnlichen Erscheinungen hingegen sind seiend nur durch Teilhabe an den Ideen. Als für sich bestehenden Wesenheiten eignet den Ideen nach Platon ein von der Erscheinungswelt nicht nur verschiedenes, sondern auch unabhängiges Sein. Sie sind weder hypostasierte Erscheinungen noch Begriffe von lediglich subjektiver Art, sondern in ihrer Idealität von einer Realität, die unvergleichlich realer ist als die sinnliche Wirklichkeit. Ungeworden und unvergänglich sind die Ideen nur rein für sich und in keinem anderen, woran ihr Verhältnis zueinander und ihre gestufte Hinordnung auf die Idee des Guten, in welcher ihre Idealität gründet, nach Platon Die Platonrezeption des Aristoteles

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nichts ändern soll. Gleichwohl enthält die Stufenordnung der Ideen ein elementares Problem, das nicht nur die Ideenlehre, sondern mit ihr das Verhältnis von idealem Wesen und sinnlicher Erscheinung betrifft. Ideen, sagt Platon, sind keine bloßen Begriffe, denen Sein an sich selbst abgeht, sondern existente Begriffe in der Einheit von Wesen und Sein. Einen abstrakten Dualismus wird man der platonischen Philosophie daher nicht unterstellen dürfen, da die Ideen das Sein, welches sie begreifen, in sich zu tragen beanspruchen. Dieser Anspruch indes bringt es mit sich, dass den Ideen die Bestimmtheit der sinnlichen Entitäten, die sie begreifen, und damit die für die sinnliche Welt charakteristische Mannigfaltigkeit nicht einfach äußerlich ist. Zwar sind Ideen Henaden, aber doch so, dass ihr monadisches Sein ein Sein unter vielen Ideenmonaden ist, die unter sich in vielfältigen Beziehungen stehen und ihren einheitlichen Zielgrund erst in der Idee des Guten finden. In der Differenziertheit der Ideenwelt reflektiert sich deren Bezug zur Erscheinungswelt, ohne den weder die Ideen noch der Kosmos, den sie bilden, begriffen werden kann. Selbst die Idee des Guten kann als Idee der Ideen nicht unterschiedslos eins sein, wenn sie ihrem Begriff als Ein und Alles entsprechen soll. Auch sie wird man deshalb wie die Ideen überhaupt der Sphäre des Differenten und mit ihr der Erscheinungswelt nicht einfach durch Entgegensetzung entziehen können. Dass Platon einen solchen Entzug nicht beabsichtigt und keine abstrakte Transzendenz der Ideenwelt intendiert, lässt sich an seiner Auseinandersetzung mit der eleatischen Seinslehre zeigen. Es liegt daher durchaus in der Konsequenz seiner Philosophie, die Ideen als Zweckursachen der Dinge zu denken, die unbeschadet ihrer Transzendenz zu allem sinnlich Gegebenen immanent in diesem wirken. Indem Aristoteles diese Konsequenz aus Platons Denken zog, hat er, folgerichtiger als sein Lehrer es vermochte, die Ideen mit der Realität des Seins, das sie in sich begreifen, vermittelt und einen abstrakten Gegensatz von Wesen und Erscheinung vermieden. Die Wesenswelt der Ideen ist nach Aristoteles keine zweite Welt neben, hinter oder über der Erscheinungswelt, der Begriff eines Erscheinenden nicht dessen dualistische Duplizierung in einem Jenseits seines diesseitigen Seins. Der ideale Wesensbegriff eines Seienden ist vielmehr die Zweckursache, welche zu realisieren dessen ureigene Bestimmung ist, die ihm im Rahmen des kosmischen Ganzen zukommt, dessen Ursache und Zweck in der Idee des Guten begründet liegen. Nach Aristoteles sind Ideen keine für sich bestehenden Wesenheiten jenseits der Erscheinungswelt. Auch ist der Zusammenhang von Wesen und Erscheinung nicht lediglich durch den Gedanken der Seinsteilhabe vermittelt. Das Erscheinende partizipiert nicht nur auf mehr oder minder äußerliche Weise am Wesen, sondern ist durch seine Idee innerlich dazu bestimmt, sich im Zusammenhang des Weltganzen zu realisieren, dessen Zweckursache das Gute ist. Damit ist deutlich, „daß Aristoteles die Realität des Allgemeinen anders versteht als Platon. Platon spricht den Ideen eine selbständige, auf dem Chorismos beruhene Realität zu, wie sehr er auch immer selbst die Problematik des Chorismos gesehen haben mag und

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wie sehr auch immer selbst in den späten Dialogen bemüht ist, dem Zusammenhang zwischen den Ideen und den Dingen Rechnung zu tragen. Aristoteles dagegen sieht die Dinge als das eigentlich Reale, und die Realität des Allgemeinen ist nach seiner Überzeugung in der Realität der Dinge gegründet.“ (Martin, 226) Dies hebt indes seine Überzeugung von der Realität des Allgemeinen nicht auf, die er vielmehr mit Platon teilt, auch wenn er sie ontologisch anders begründet. Aristoteles hat die platonische Ideentheorie zwar modifiziert und fortgebildet, aber keineswegs negiert; dass sie auch heute noch wissenschaftstheoretisches Interesse beanspruchen darf, hat Carl Friedrich von Weizsäcker in einem Beitrag mit dem schönen Titel „Parmenides und die Graugans“ (Weizsäcker, 16–45) auf unterhaltsame Weise gezeigt. Der im thrakischen Stagira geborene Aristoteles Der Stagirite und sein Werk (384–322 v.Chr.) war in nicht geringerem Maße Astronom, Anthropologe, Zoologe, Botaniker und Physiker als Metaphysiker. Unter seinen zahlreichen Schriften ragen die naturwissenschaftlichen nicht nur in quantitativer Hinsicht hervor. Schon darin zeigt sich ein bemerkenswerter Unterschied zu seinem Lehrer Platon, in dessen Athener Schülerkreis er in jugendlichem Alter eingetreten war, um ihm zwanzig Jahre lang bis zum Ende des Meisters anzugehören. Aristoteles war Platoniker, aber ein Platoniker von ganz eigener Art. Als er dreizehn Jahre nach Platons Tod, die er zum Teil als Erzieher Alexanders d. Gr. am mazedonischen Hof zugebracht hat, 335/34 v.Chr. nach Athen zurückkehrte, war sein philosophisches System soweit formiert, dass die Gründung einer eigenen Schule nur folgerichtig war. Aristoteles versammelte seine Hörer in den Räumen eines vorstädtischen Gymnasiums, in dessen Baumgarten man philosophierend auf und ab zu wandeln pflegte, worauf der Schulname Peripatetiker zurückgeht. Sämtliches Material zur Biographie des Aristoteles findet sich in übersichtlicher Ordnung und kenntnisreich kommentiert bei Ingemar Düring, von dem zugleich eine dichte Darstellung und Interpretation des aristotelischen Gesamtwerks vorliegt. Über die wichtigsten Deutungsalternativen in der Forschung informiert Otfried Höffe, während Paul Moraux sehr detailliert in die Wirkungsgeschichte des Peripatos in Hellenismus und Spätantike einführt. Weiterführende Literaturhinweise zu Einzelaspekten aristotelischer Philosophie bietet die Einführung von Thomas Buchheim (vgl. 175–193); dort sind auch die erhaltenen Werke des Aristoteles und ausgewählte Textausgaben benannt. Zu „Metaphysik und Theologie des Aristoteles“ sei auf den von F.-P. Hager herausgegebenen Sammelband verwiesen. Für die aristotelische Physik und Naturphilosophie sehr lehrreich ist das Werk von J. H. Randall. Bei allen Unterschieden zum platonischen Idealismus dürfen die spekulativen Elemente auch und gerade in den naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles nicht übersehen werden. „Seine Biologie ist durchweg eine philosophische Biologie.“ (Düring, Aristoteles, VIII) Die etwa zwölfjährige Lehr- und Forschungstätigkeit am Lykeion bis zu seiner Flucht und seinem endgültigen Abschied von Athen 323 v.Chr. ist die produktivste

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Periode im überaus produktiven Philosophenleben des Aristoteles; man wird sie seine „Meisterzeit“ (Jaeger, 329) nennen dürfen. Der Standpunkt, den er bezog und in vielfältigen Texten explizierte, schließt an die sokratisch-platonische Begriffsphilosophie an, um sie zugleich grundlegend zu transformieren. Gegenstand der Philosophie sind auch nach Aristoteles das Wesen und der unwandelbare Grund des Seienden. Doch im Unterschied zu Platon sucht er die Idee des Seienden nicht in rein begrifflicher Allgemeinheit, sondern in der Besonderheit ihrer einzelnen Erscheinungsgestalt zu erfassen. Daraus ergibt sich eine ungleich größere Aufgeschlossenheit für Phänomene und für Daten, welche die Erfahrung bereitstellt. Die ausgeprägte Neigung zu naturwissenschaftlichen Studien, die sich in der alten peripatetischen Schule, bei Theophrast und bei sonstigen Nachfolgern des Aristoteles eher noch verstärkte, ist ein Beleg hierfür. Zwar bestreitet das Schulhaupt auch in naturwissenschaftlicher Hinsicht nicht, dass nur das im Begriff gedachte Wesen der Dinge deren wahrhafte Wirklichkeit sei. Aber der allgemeine Wesensbegriff der Dinge ergibt sich ihm nicht bereits aus einer präempirischen Ideenanamnese, sondern erst aus dem Vollzug konkreter Wahrnehmung ontischer Besonderheiten, wie sie ohne sinnliche Anschauung nicht möglich ist. Die Idee als das Wesen der Dinge kann von deren Erscheinung zwar unterschieden, nicht aber getrennt werden. Das Wesen der Dinge ist kein Fürsichseiendes jenseits der Erscheinung. Der Begriff eines Seienden darf daher nicht hypostasiert und in eine transzendente Ideenwelt verlegt werden. Er ist vielmehr in den Dingen selbst aufzusuchen dergestalt, dass die Allgemeinheit des Wesens und die Besonderheit der Erscheinung keinen Gegensatz bilden, sondern sich wechselseitig auslegen. Obwohl weder von Aristoteles selbst noch von der ihm nahen Überlieferung klare Auskünfte über die systematische Ordnung seines Gesamtwerks zu erhalten sind, sprechen gute Sachgründe dafür, dieses mit den späteren Peripatetikern in einen theoretischen und einen praktischen Teil zu gliedern und dabei dem ersten im Verein mit der Metaphysik vor allem die Physik, dem letzteren hingegen Ethik, Ökonomik und Politik zuzuordnen. Während die theoretischen Schriften der Erkenntnis dienen, die ihren Sinn und Zweck in sich selbst findet, haben die praktischen das Handeln zum Ziel, wobei nach Aristoteles zwischen Praxis und Poesis zu unterscheiden ist. Die der Praxis gewidmete Wissenschaft ist insbesondere die Ethik, welche die willentliche Vernunfttätigkeit von sittlich Handelnden zu bedenken hat. Die poetische, der Poesis gewidmete Wissenschaft hat es hingegen hauptsächlich mit Werken der Kunst zu tun, welche die artifizielle Hervorbringung von Schönem zum unmittelbaren Zweck haben, durch ihre kathartische, auf Affektreinigung angelegte Wirkung aber mittelbar auch dem Guten und mit ihm dem Wahren dienen. Was die Physik als die anfängliche der theoreHylemorphismus und tischen Wissenschaften betrifft, so ist ihre Er- Entelechie kenntnis nach Aristoteles auf die Gesamtheit des Körperlichen und Bewegten als solcher bezogen. Natürliche Entitäten sind Körper, die durch das, was Aristoteles ihre Form nennt, zur Erfüllung ihres Zweckes

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bestimmt werden, wohingegen ihr materieller Stoff lediglich dasjenige ist, was geformt und damit seiner ontischen Wesensbestimmung zugeführt werden soll. Während die Form lebender Körper ihre Seele ist, die ihnen organische Gestalt verleiht, sind die unbeseelten Körper anorganischer Natur. Sind beseelte Körper in unterschiedlichem Maße zu leibhafter Selbstbewegung befähigt, bleibt anorganischen Körpern der Grund ihrer Bewegung eher äußerlich. Gleichwohl gehören organische und anorganische, beseelte und unbeseelte Körper derselben, von der Physik thematisierten Naturwelt an, insofern beide an sich selbst nicht unbewegt, sondern bewegt sind. Bewegt sind nach Aristoteles alle natürlichen Entitäten, sofern ihre Möglichkeit nicht mit ihrer Wirklichkeit zusammenfällt. Körperlich Seiendes der irdischen Welt kann sein und nicht sein. Es ist nicht dergestalt notwendig, dass es den Konstitutions- und Erhaltungsgrund seiner selbst unmittelbar in sich trägt und als die Einheit seiner Möglichkeit und seiner Wirklichkeit existiert. Deshalb unterliegt alles, was irdisch ist, der Veränderung im quantitativen und qualitativen, im räumlichen und im zeitlichen Sinne, wobei die Grenzmarken der Veränderung durch Entstehen und Vergehen bestimmt sind. Alle körperlichen Dinge, die in der irdischen Welt in Erfahrung zu bringen sind, entstehen und vergehen. Sie haben ihren je eigenen Ort und ihre je eigene Zeit, wohingegen unbegrenzte und unendliche Körper nicht möglich sind. Örtlich begrenzt bewegen sich die Körper im Raum, den Aristoteles die Schranke nennt, die der umschließende gegen den umschlossenen Körper darstellt. Leerer Raum ist nach ihm nicht denkbar, da ohne Körper auch kein Raum sein kann. Entsprechendes gilt von der Zeit: auch sie ist körperrelativ, wobei die Wahrnehmung sowohl von Räumlichkeit als auch von Zeitlichkeit beseelten Entitäten vorbehalten ist. Ihrem aristotelischen Begriff nach ist die Zeit das Maß oder die Zahl der Bewegung in Beziehung auf ein Früher und Später. Vom räumlichen Nebeneinander unterscheidet sich das zeitliche Nacheinander dadurch, dass im ersten Fall die durch die Differenz von einem und anderen gesetzte Grenze äußerlich bleibt, wohingegen sie sich im zweiten Fall nach innen wendet. Im Unterschied zur räumlichen Veränderung betrifft die zeitliche das Seiende nicht von außen, sondern von innen, sofern in der Zeit das eine als eines sich ändert. Mag sein, dass seine Kritik einer rein mechanischen Physik und der antiken Atomistik, die alle Art von Veränderung durch räumliche Bewegung bedingt sein lässt, eng mit dem Zeitverständnis des Aristoteles zusammenhängt. Wichtiger noch scheint die Feststellung, dass die teleologische Naturerklärung, in welche Aristoteles die mechanische Physik aufhebt, ohne seine Lehre von der nicht auf räumliche Bewegung zu reduzierenden Zeitbewegung nicht verstanden werden kann. Der Sinn des einzelnen Seienden in der Natur ebenso wie der Sinn der Natur im Ganzen erschließt sich nur, wenn man die jeweilige Zweckursache und das Endziel in Betracht zieht, auf das alle Dinge hinstreben. Um dies zu gewährleisten, muss man sich nach Aristoteles an die Wesensform des Seienden halten, die seine Bestimmung ausmacht, welche es durch Essentifikation des materiellen Substrats von Körperlichkeit zu realisieren gilt. Jene Essentifikation stellt sich im Falle anorgani-

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scher Entitäten anders dar als im Falle organischer und im Falle der Pflanze wieder anders als im Falle des Tieres oder des Menschen. Jede Entität hat ihren je eigenen Zweck zu realisieren, um auf diese Weise dem Sinn des Ganzen zu dienen. Zwar zeichnet sich in der inneren Entwicklung der Natur eine Bewegung ab, die nach jeweils Höherem strebt und erst in der absoluten Form, die unter irdischen Naturbedingungen nicht zu realisieren ist, ihre Befriedigung finden kann. Doch heißt dies nicht, dass der Stein danach streben sollte, Pflanze, die Pflanze Tier, das Tier Mensch oder der Mensch Engel zu sein. Jedes Seiende ist dazu bestimmt, es selbst zu sein, und wenn es seinen Zweck erfüllt, ist es vollendet in sich, auch wenn es sich dabei um das Geringste aller Weltwesen handelt. Von Übel ist also nicht schon die ontische Differenz, die zwischen Seiendem herrscht, auch nicht die graduelle Differenziertheit dieser Differenz und die Abstufung spezifischer Entitäten. Übles kommt erst zustande durch die Widerspenstigkeit, mit der sich die Materie gegen vollständige Durchformung sperrt. Es ist der sperrige Stoff, aus dem die natürlichen Körper gebildet sind, der die Realisation ihres gemäß Formgesetz eingestifteten Zwecks hemmt oder hindert. Auf seiner Widersetzlichkeit beruht alles Übel in der Welt. Die Welt in ihrer Gesamtheit ist, wie gesagt, Die veränderliche Welt, der durch Bewegung charakterisiert. Welt ist der In- Kreislauf der Gestirne und begriff des Bewegten. Nicht alles Bewegte indes der unbewegte Beweger ist veränderlich. Veränderlich ist nur, was sich geradlinig entweder vom Mittelpunkt weg oder zu ihm hin bewegt, wohingegen die Bewegung, die um einen Mittelpunkt kreist, nach Aristoteles nicht durch Veränderung, sondern durch die ewige Wiederkehr des Gleichen gekennzeichnet ist. In der überirdischen Sphäre der Gestirne, deren himmlischen Raum Aristoteles von einem transelementarischen Äther durchwirkt und durchwaltet sein lässt, herrscht das Gesetz zeitlosen Kreisens. Die Körperwelt der Sterne kennt daher keine Vergänglichkeit. Darin gleicht sie dem Göttlichen, von dem sie sich gleichwohl durch ihr Bewegtsein unterscheidet. Auch wenn Aristoteles Gestirne mit Göttern assoziieren kann, sind sie ihm doch nicht mit der Gottheit des einen Gottes gleichzusetzen. Sie sind von zeitloser Unvergänglichkeit, aber nicht ewig wie dieser, nicht in unbewegter Ewigkeit in sich ruhend, sondern lediglich infinit bewegt. Wohl kennen die Gestirnenwelt und der Raum ihrer Bewegung nach Aristoteles keinen Anfang und kein Ende, sondern haben als anfangs- und endlos zu gelten: Sowenig sie entstanden sind, sowenig vergeht der Weltraum der Gestirne. Dennoch ist er nicht ewig wie Gott, der ihn in zeitlose Bewegung gesetzt hat und ihn – in sich unbewegt – unentwegt bewegt. In welcher Weise Aristoteles die unentwegte Kreislaufbewegung der Gestirnenwelt differenziert und zu seiner Theorie rotierender Sphären mit ihrer Unterscheidung zwischen dem einen Fixsternhimmel und den vielen Planetenhimmeln gelangt, muss hier ebenso wenig interessieren wie die Frage, durch welchen Anstoß der beständigen und unvergänglichen Kreislaufbewegung der Gestirne jenes geradlinige Entstehen und Vergehen initiiert wurde, wie es für die von der himmli-

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schen geschiedene irdische Welt charakteristisch ist. Festgehalten werden soll nur, dass der irdischen Welt die beständige Mitte fehlt, um welche die Gestirne im ätherischen Raum zeitlos kreisen, so dass ihr Sein und das Sein alles Seienden in ihr durch zeitliches Werden und Vergehen bestimmt ist. Zwar hat die Erde selbst durch ihre Kugelgestalt, die für Aristoteles aus Gründen sowohl theoretischer Spekulation als auch empirischer Beobachtung feststand, an der Unvergänglichkeit der himmlischen Welt Anteil. Aber was sich auf dem Globus im Zeichen der vier Elemente Erde, Feuer, Luft und Wasser, die Aristoteles und Platon als Grundstoffe alles Irdischen gelten, abspielt, ist nicht durch Zeitlosigkeit, sondern durch zeitliches Werden und Vergehen, also durch eine von der Bewegung der Gestirnwelt elementar unterschiedene Bewegung bestimmt. Im anorganischen Bereich der irdischen Welt zeichnet sich deren Zeitlichkeit anfänglich und zum Teil eher unmerklich ab, da gleichteilige, aus einem einheitlichen Stoff bestehende Körper vergleichsweise zeitlos bestehen. Je ungleichteiliger sich die Körperwelt hingegen gestaltet, desto temporärer wird, wenn man so will, ihr Sein. Der Übergang von anorganischen zu organiDie Stufen des Organischen schen Entitäten ist nach Aristoteles ebenso flieund der Mensch ßend wie der Übergang vom botanischen in den zoologischen und schließlich in den anthropologischen Bereich. Die primitivsten Lebewesen, deren Organismus mit dem Anorganischen am ursprünglichsten verbunden ist, sind die Pflanzen. Doch erkennt Aristoteles bereits ihnen wie allem Lebendigen eine Seele zu, sofern sie nicht nur äußerlich, sondern, wenngleich nur rudimentär, von innen heraus bewegt und in der Lage sind, Veränderungen in sich selbst hervorzubringen, um sich, wenn man so sagen darf, zu zeitigen. Pflanzen wachsen und gehen ein und sind befähigt, sich zu ernähren und fortzupflanzen. Durch diese Fähigkeit zur Selbsterhaltung und zur Selbstreproduktion unterscheiden sich Pflanzen signifikant von anorganischen Entitäten, denen Aristoteles daher keine Seele oder allenfalls ein Seelenanalogon zuerkennt. Zwar ist auch ein Stein nach seinem Urteil keine formlose Materie, sondern eine Gestalt von erkennbarer Selbstzwecklichkeit. Doch ist ihm sein Telos noch vergleichsweise äußerlich und nicht in der Weise Entelechie seines materialen Seins, wie das bei Pflanzen anfangsweise der Fall ist. Verfügen Pflanzen über die Fähigkeit, in Form von Ernährung oder Fortpflanzung durch sich selbst eine Veränderung in sich und aus sich heraus ursächlich zu bewirken, so geht ihnen das Empfinden ihres Seins und Wirkens gleichwohl ab. Pflanzen sind ihrer selbst nicht inne. Zum Innewerden des irdischen Seins kommt es erst im Übergang von der pflanzlichen zur tierischen Welt, welcher die besondere Aufmerksamkeit des Aristoteles gilt. Nur wenige haben auf dem Gebiet der Zoologie so Großes geleistet wie er. Im Unterschied zu Pflanzen haben Tiere im Gefühl ein inneres Zentrum ihres Lebens. Vermögen Pflanzen vielfach auch in geteiltem Zustand fortzuexistieren, können Tiere nur in sehr viel eingeschränkterem Maße einzelne ihrer Teile entbehren. Ihre gesteigerte Individualität zeigt sich auch in gattungsmäßiger Hinsicht. Während sich Pflanzen in der Regel selbst be-

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gatten, ist die Fortpflanzung mit der Ausbildung von Zweigeschlechtlichkeit in ein ungleich differenzierteres Stadium ihrer Entwicklung eingetreten. Im Begehren eines anderen der eigenen Art tritt der Unterschied von Lust und Unlust in Erscheinung, der auch in sonstiger, etwa die Ernährung betreffender Hinsicht für das tierische Leben kennzeichnend ist. Kurzum: Mit dem Tierkörper ist eine empfindsame Seele verbunden, die sein Formprinzip bildet. Mit der Entwicklung seelisch bedingter Körperempfindsamkeit geht die Ausbildung der Sinne kontinuierlich einher. Die ursprüngliche Manifestation von Sinnlichkeit ist tastendes Fühlen. Mit dem Tastsinn hebt das Gefühl an, und mit dem Unterschied eines Außen und Innen wird das Tier tastend seiner selbst gewahr. Seine Ausstattung mit Fühlern ist ein äußeres Indiz beginnenden Innewerdens. Ansätze hierzu zeigen sich bereits in der Pflanzenwelt, doch vervollkommnet sich der Tastsinn erst im animalischen Leben, das sich sukzessive durch weitere Sinne anreichert, bis der Leib hochentwickelter Tiere neben dem Tast- auch über den Geschmacks- und Geruchssinn sowie über Gesicht und Gehör verfügt. Je komplexer sich die Sinne entwickeln, desto empfindsamer gestaltet sich das tierische Leben; der materielle Leib nimmt mehr und mehr seelische Form an. Als Seelenphänomen manifestiert sich die Sinnesempfindung nach Aristoteles evidentermaßen darin, dass in ihr der Gegenstand der Sinne nicht auf stoffliche Weise, sondern seiner Form nach präsent ist. Geht dem Tastsinn der Gegenstand in seiner materialen Stofflichkeit noch sehr nahe, so dass im äußersten Falle die für die Sinnesempfindung charakteristische Differenz von Innen und Außen schmerzlich kollabiert, so nehmen die anderen Sinne, namentlich Gesicht und Gehör, die Materialität des Gegenstandes ungleich distanzierter wahr, um sich primär seine Form einzuprägen. Der Erinnerung schließlich ist der Gegenstand nur mehr in seiner Form ohne jede Stofflichkeit präsent. In ihr vollendet sich die sinnliche Wahrnehmung im tierischen Bereich. Tieren, die der Erinnerung fähig und Gedächtnisleistungen zu erbringen in der Lage sind, kann nach Aristoteles Reflexionsvermögen nicht generell abgesprochen werden. Denn Erinnerung ist möglich nur, wenn die Äußerlichkeiten der sinnlichen Eindrücke im Inneren widergespiegelt und abgebildet werden, um sie im Gedächtnis zu bewahren. Das erinnernde Gedächtnis zeugt zugleich von der Fähigkeit, die Sinne zu koordinieren und die Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke zu einer Einheit zu ordnen. Wo dieses Ordnungsvermögen, wie etwa bei Affen oder ähnlich hoch entwickelten Tieren, gegeben ist, kann das Vorhandensein von Verstand nicht grundsätzlich bestritten werden. Zur verständigen Synthetisierung mannigfaltiger Sinneseindrücke sind einige nichtmenschliche Lebewesen nach Aristoteles zumindest ansatzweise in der Lage, was sie durch Anzeichen von Gelehrigkeit unter Beweis stellen. Sind die Tiere, was das Sinnesvermögen und die Fähigkeit, die sinnlichen Eindrücke zu einer einheitlichen Wahrnehmung zu ordnen, dem Menschen nicht generell und allesamt unterlegen, so ist das animalische Bewusstsein doch vom menschlichen grundsätzlich dadurch unterschieden, dass es kein Wissen um sich

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selbst hat. Am erwähnten Beispiel des Erinnerns lässt sich dies verdeutlichen. Das Gedächtnis von Tieren reproduziert nach Aristoteles nur abbildhaft frühere Wahrnehmungen. Der Mensch aber ist zu produktiver Einbildung und zu einer bewussten Wiedererzeugung von Bewusstseinsinhalten befähigt. Er ist nicht nur ein sinnliches, sondern ein besinnliches Wesen. Anamnetische Besinnung bildet die Grundlage seines Denkvermögens. Seinem körperlichen Dasein nach ein Weltding von gänzlich irdischer Natur und als fühlende Seele den höherentwickelten Tieren gleichzustellen unterscheidet sich der Mensch von diesen durch denkende Vernunft. Der Mensch ist ein animal rationale. Seine vernünftige Seele ist das entscheidende Formprinzip seiner leibhaften Existenz, von dem diese zu gestalten ist. Was die aristotelische Verhältnisbestimmung von Aristotelische Anthropologie Leib und Seele näherhin betrifft, so ist generell zu und Tugendlehre vermerken, dass die Menschenseele wie die Seele von Tieren und Pflanzen zwar als Entelechie und Organisationsprinzip eines Körpers diesem aufs innerlichste verbunden, aber gleichwohl an sich selbst von unkörperlicher Natur ist. Als Form des Stoffes, der die Körper materialiter sind, ist die Seele zwar nicht ohne den Körper, aber ebensowenig auf wie auch immer geartete körperliche Weise zu fassen. Das gilt bereits für die Pflanzenseele, und das gilt umso mehr für die vernünftige Seele des Menschen, durch die sich dieser nicht nur von der Pflanzen-, sondern auch von der Tierwelt unterscheidet. Nachgerade die Vernunftseele des Menschen weiß sich bei aller Bindung an den Leib, den sie formiert, grundsätzlich aller Körperlichkeit überlegen. Leibimmanenz und Leibtranszendenz der vernünftigen Menschenseele hat Aristoteles dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er einen doppelten Nus einführte und zwischen leidender und tätiger Vernunft unterschied. Als leidende weiß sich die Vernunft der körperlichen Welt in graduell unterschiedlicher Weise u.a. dadurch verbunden, dass sie die Daten sinnlicher Wahrnehmung verständig geordnet in sich bewahrt, um sie zu bedenken und nicht der Vergessenheit, sondern besinnlichem Gedächtnis anheimzugeben. Sie ist von daher auch der Vergänglichkeit irdischer Entitäten und der Sterblichkeit aller Lebewesen eingedenk. Doch erschöpft sich die Vernunft nicht in der anteilnehmenden Andacht des nus pathetikos; als aktive Vernunft weiß sie sich allem Irdischen überlegen, körperlich ungebunden, ja in der Reinheit des Denkens mit dem Göttlichen in seiner körperlosen Form selbst eins. Das ist es, was Aristoteles meint, wenn er die aktive Vernunft unsterblich nennt. Zwar teilt der Mensch mit allen irdischen Entitäten Werden und Vergehen, und wie alle Lebewesen war er nicht immer und wird er nicht immer sein, mit dem Unterschied freilich, dass er um seine Sterblichkeit weiß und durch seine leidende Vernunft ständig daran erinnert wird. Doch weiß er in Form aktiver Vernunft zugleich um die Unsterblichkeit seiner Seele, welches Wissen ihn allein theoretisch befriedigen kann und zugleich das stärkste Motiv für vernünftiges Handeln ist. Dies ist an der Ethik des Aristoteles skizzenhaft zu verdeutlichen, bevor im Kontext der Metaphysik auf das für die aristotelische Anthropologie entscheidende Pro-

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blem der Verhältnisbestimmung von leidender und tätiger Vernunft zurückzukommen sein wird: trennt man zwischen leidender und tätiger Vernunft, hat man zwar mit der Behauptung der Unsterblichkeit von letzterer scheinbar leichtes Spiel, aber man gibt mit jeder Hoffnung für die körperliche Welt tendenziell auch die Annahme der Individualität der aktiven Menschenseele auf. Lässt man den Unterschied beider fallen, entweicht die interne Spannung, die das Leben der Menschenseele kennzeichnet, und mit der Doppelstellung ihrer Vernunft wird entweder die göttliche Bestimmung des Menschen oder seine Menschlichkeit aufgegeben. Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie der differenzierte Zusammenhang passiver und aktiver Vernunft in der Menschenseele als differenzierter Zusammenhang zu denken ist. Nur die Metaphysik, die Aristoteles nicht nur erste Philosophie, sondern auch Theologie nennt, kann hierzu die nötige Auskunft geben, die Lehre vom doppelten Nus von ihrem fundierenden Grund und ihrer Zielbestimmung her aufklären und zugleich Auskunft geben über die differenzierte Einheit theoretischer und praktischer Wissenschaft. Während die theoretische Wissenschaft vorrangig durch die Denktätigkeit der Vernunft bestimmt ist, hat es die praktische im Wesentlichen mit dem willentlichen Handeln der Vernunft zu tun. Das sinnliche Begehren, wie es in allen fühlenden Wesen wirksam ist, strebt nach Lust und nach Vermeidung von Unlust. Sinnliches Streben ist auf Sinnengenuss aus. Hingegen ist der vernünftige Wille dadurch bestimmt, Vernünftiges zu wollen. Zwar ist er dem Sinnlichen nicht einfachhin abgetan; doch intendiert er ein Gut, das jenseits des Sinnlichen gelegen ist und ihn über dessen Schranken hinausweist. Auch der vernünftige Wille ist ein Begehren, aber ein Begehren, welchem die Sinnlichkeit allenfalls äußeren Anlass zu inneren Zwecksetzungen gibt, die alles durch sinnliches Streben Erreichbare transzendieren. Der Vorsatz vernünftigen Willens ist durch das Denken gesetzt. Dadurch unterscheidet sich die Freiheit des Willens und die Freiwilligkeit seines Tuns grundsätzlich von bloßem Belieben. Wer unmittelbar dem Begehren seiner Sinnlichkeit folgt und tut, was ihm sinnlich beliebt, handelt weder vernünftig, noch gut oder frei, sondern lässt sich von Begierden beherrschen, die ihn knechten. Die Tätigkeiten, welche aus der freien Selbstbestimmung vernünftigen Willens folgen, sind Gegenstand der aristotelischen Ethik. Ethik ist die Wissenschaft vernünftigen Handelns, dessen Ziel das Gute ist, welches schlechthin um seiner selbst willen zu erstreben ist. Das Streben nach dem Guten nennt Aristoteles tugendhafte Tätigkeit. Durch sie ist dem Menschen der Weg zu wahrer Glückseligkeit vorgezeichnet, wohingegen bloßem Lustbegehren kein dauerhaftes Glück beschieden ist. Lust vergeht, die Tugend aber hat, indem sie nach ihm strebt, am Unvergänglichen Anteil. Als praktische Bedingung menschlicher Glückseligkeit ist die Tugend eine Beschaffenheit jenes Willens, der durch das Streben nach dem Guten charakteristisch geprägt ist. Um diese charakteristische Willensprägung zu erlangen, bedarf es nicht lediglich des momentanen Entschlusses zum Guten, sondern der dauerhaften Übung in sittlichem Tun. Zwar kann die Tugend der Entschlossenheit nicht entbehren, der einmal gewonnenen Einsicht des Guten zu folgen.

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Doch reicht der einsichtige Entschluss, Gutes zu wollen, nicht hin, um tugendhaft zu sein. Der gute Wille muss durch tätige Übung zur Gewohnheit werden, um die Affekte in sich aufzuheben und nicht selbst als bloßer Affekt zu erscheinen. Als tugendhaft kann daher nicht bereits der gute Wille als solcher gelten; Tugend ist die durch konsequente sittliche Willenstätigkeit erworbene Eingewöhnung ins Gute, durch welche das Guttun zur Gewohnheit und die Freiheit sittlichen Wollens gewissermaßen zur zweiten Natur des Menschen wird. In der Tugend nimmt die Vernunft vermöge des Willens den Menschen nicht nur seelisch, sondern mit Leib und Seele in Besitz, um ihn zu beständigem Gebrauch jener Freiheit zu führen, die allein glückselig zu machen vermag. Auch in ethischer Hinsicht ergibt sich sonach ein charakteristischer Unterschied des aristotelischen vom platonischen Ansatz zu erkennen. Zwar gilt auch Aristoteles das Gute als eine schlechterdings übersinnliche Idee. Aber die Idee des Guten will im Sinnlichen reale Gestalt annehmen und als praktisches Formprinzip der materialen Natur des Menschen dergestalt wirken, dass es diese fortschreitend durchdringt, um sich in ihr zu explizieren. Kurzum: Die Sittlichkeit soll zur Sitte, die Moral zum Ethos werden. Das ist die entscheidende Pointe der aristotelischen Tugendlehre. Ihr Grundsatz wird durch die Theorie der EinzelDas Maß der Mitte und die tugenden und durch das Kriterium, an dem sie Metaphysik sich bemessen, durchweg bestätigt. Das rechte Maß der Tugenden ist durch die Mitte bestimmt, in welcher die äußersten Möglichkeiten des Menschen mediatisiert und von der Abstraktheit des Extremen distanziert werden, um zu jener Konzentration zu gelangen, durch die sich die sittliche Beschaffenheit des Willens auszeichnet. Indem sie verlässlich den Mittelweg wählen, geben die Tugenden einsichtiges Zeugnis von der guten Beschaffenheit des sie bestimmenden Willens. Die Tapferkeit etwa hebt den abstrakten Gegensatz von Feigheit und Tollkühnheit in sich auf und ist so eine konkrete Tugend und ein charakteristisches Indiz eines ans Gute gewöhnten Willens. Auch alle anderen Tugenden bemessen sich an dem Gesetz der Goldenen Mitte zwischen den Extremen, wie es der Wesensnatur des Menschen als einer leibhaften Seele gemäß ist. Die sie kennzeichnende Mäßigkeit ist nicht durch Mittelmaß, wohl aber durch das Maß der Mitte bestimmt, an dem sich nach Aristoteles auch die Gestaltung des Hauswesens sowie des Staates auszurichten hat, um recht zu sein. Ist Mäßigkeit das Maß aller Tugend, so liegt die Frage nahe, ob in ihr nicht zugleich das Kriterium zu finden ist, an der die aristotelische Philosophie insgesamt und nachgerade auch unter metaphysischen Gesichtspunkten bemessen werden will. Aufgabe der Metaphysik ist es, das Sein des Seienden als solches zu bedenken. Die Weise, in der sie diese Aufgabe erfüllt, ist durch Gesetze bestimmt, die dem Denken nicht äußerlich, sondern intern sind. Sie und damit die Regeln zu formulieren, die das Denken um seiner selbst willen zu befolgen hat, ist der Logik aufgetragen. Sie fungiert als Organon des philosophischen Systems, indem sie die Bedingungen wissenschaftlichen Beweisverfahrens bestimmt und über das Wesen

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von Begriff, Urteil und Schluss Auskunft gibt. Als Medium zwischen formaler Syllogistik und materialer Ontologie fungiert die Kategorienlehre, welche die allgemeinsten Bestimmtheitsweisen alles Seienden und die gedanklichen Grundformen benennt, durch die Seiendes als Seiendes zu begreifen ist. In der Regel zählt Aristoteles zehn solcher Grundformen von Aussagen über das Seiende: Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Ort, Zeit, Lage, Haben, Tun und Leiden. Die Kategorien stellen keine realen Begriffe dar, sondern bezeichnen die generellen Rahmenbedingungen, unter denen reale Begriffe von Entitäten prinzipiell ausgebildet werden, wenn sie Wirkliches begreifen sollen. Die Grundkategorie ist nach Aristoteles die Kategorie der Substanz. Sie bezeichnet das identische Wesen einer Entität und damit die Entität als solche. Indes will Aristoteles darunter, wie gesagt, in erster Linie nicht die von der konkreten Besonderheit eines einzelnen Seienden abgehobene allgemeine Idee desselben verstanden wissen, also nicht die dem Einzelseienden transzendente Wesenheit seines allgemeinen Begriffs, sondern das konkret erscheinende Einzelwesen eines Seienden. Das hat darin seinen Grund, dass Philosophie nach Aristoteles zwar darauf angelegt ist, reine Begriffswissenschaft zu sein, ihren Anfang aber nicht ohne Begreifen empirischer Realität zu nehmen vermag. Die Kategorie der Substanz ist daher primär im Sinne der Einzelsubstanz zu verstehen. Der allgemeine Begriff einer Entität lässt sich ohne Ansehung des Einzelwesens nicht fassen, das ein Seiendes als Seiendes ist. Deshalb ist die Wesenheit eines Seienden dasjenige, was ein Seiendes in konkreter Realisation seines Begriffs ist: ein in sich Identisches, dessen Identität nicht davon zu abstrahieren ist, Träger konkreter Eigenschaften zu sein. Die Eigenschaften einer Entität bestimmen sich nach Maßgabe der dem Substanzbegriff beigeordneten Kategorien. Quantität und Qualität sind die Bestimmtheitsweisen von Eigenschaften, welche jedem Seienden für sich zukommen. In der Relationskategorie sind alle Bestimmungen inbegriffen, die eine Entität im Verhältnis zu demjenigen kennzeichnen, was sie nicht unmittelbar, also aus der quantitativen und qualitativen Bestimmtheit ihrer Substanz heraus selbst ist. Ein eigentümliches Anderssein, das einem Wesen anhaftet, markieren des Weiteren die Kategorien Raum und Zeit. Seiendes unterliegt unter irdischen Bedingungen räumlichen und zeitlichen Veränderungen, ohne doch darüber zwangsläufig sein identisches Wesen einzubüßen. Das gilt entsprechend auch für den veränderungsbedingten Differenzzusammenhang von Tun und Leiden sowie für die durch Veränderung herbeigefügten Zustände, auf welche die bei Aristoteles eher marginalen Kategorien von Lage und Habe bezogen sind. Alles Seiende ist als Seiendes durch Besonderung bestimmt. Es ist seiner Substanz nach und nach Maßgabe der Kategorien, die sein Sein bestimmen, Einzelseiendes. Reale Erkenntnis hat deshalb nach Aristoteles mit der empirisch vermittelten Wahrnehmung einzelner Entitäten zu beginnen, wohingegen eine transempirische Erkenntnistheorie im Sinne platonischer Anamnesislehre, welche von einer rein intellektualen Anschauung idealer Entitäten ihren Ausgang nimmt, problematisiert wird. Gleichwohl unterscheidet sich die philosophische Ontologie

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auch nach Aristoteles signifikant von jeder besonderen Wissenschaft, indem sie erklärtermaßen nicht das Eigentümliche des Seienden in seiner Besonderheit, sondern dasjenige zum Thema hat, was allen Entitäten und damit dem Seienden als solchem und generell zukommt. Abstrahiert man von allen spezifischen Eigenschaften eines Seienden, so bleibt gleichwohl als ontologisches Grundfaktum bestehen, dass jede Entität in substanziellem Sinn einzeln und in ihrer Besonderheit wesentlich und nicht lediglich akzidentell von anderem Seienden unterschieden ist. Besonderheit ist daher eine essenzielle Grundverfassung alles Seienden im Sinne ontologischer Allgemeinheit. Denn Seiendes ist generell besonders. Seiendes ist als solches und damit seinem allgemeinsten Begriff nach differenzbestimmt. Als solches ist Seiendes immer ein dieses und ein anderes. Das strittige Problem der aristotelischen Verhältnisbestimmung der ersten zur zweiten Substanz ist unter diesem Gesichtspunkt anzugehen. Was ist der ontologische Grund für die Differenzbestimmtheit des Seienden, das dessen generelle Besonderheit ausmacht? Aristoteles verweist hierfür auf den ontologischen Fundamentalunterschied von Form und Stoff. Hylemorphismus lautet der Inbegriff aristotelischer Ontologie. Soll diese verstanden werden, muss es insbesondere um die verständige Entfaltung ihres Inbegriffs zu tun sein, der nicht umsonst als Kompositum gebildet ist. Denn Seiendes ist an sich selbst und als dieses, welches es als solches ist, ein Kompositum, nämlich eine Differenzeinheit von Form und Stoff. Form und Stoff verhalten sich zueinander nicht wie verschiedenartige Substanzen oder wie Grundbestandteile, aus denen Seiendes zusammengesetzt ist. Ihr Verhältnis ist vielmehr dasjenige des Möglichen und des Wirklichen. Stoff bzw. Materie bezeichnet die bloße Potenzialität eines Seienden zu sein, Form hingegen seine Realität und sein tatsächliches Sein. Materie ist alles Mögliche, aber keine wirkliche Entität, sondern lediglich die an sich leere und machtlose Potenz, zu Seiendem bestimmt zu werden. Materie ist, wenn man so will, bloße Bestimmbarkeit. Das Bestimmende aber, welches Seiendes zu dem bestimmt, was es seinem Wesen nach ist, ist die Form. Seiendes ist als wirklich Seiendes stets geformte Materie. Von der ungeformten Materie gibt es recht eigentlich keinen realen Begriff, da Wissen nur auf Wirkliches und damit auf geformten Stoff bezogen sein kann. Ungeformter Stoff hingegen ist mit Nichtsein zu assoziieren. Trotz ihrer Assoziation mit Nichtsein ist Materie nicht einfach Nichts. Sie ist Nichts, indem sie nichts Seiendes ist. Sie ist nicht Nichts, indem sie die Möglichkeit namhaft macht, dass Seiendes wird. Das Sein des Seienden ist im Werden begriffen und nur als im Werden begriffen zu begreifen. Materie ist der Ausdruck für die Möglichkeit, dass das Seiende aus dem Nichtsein seiner selbst heraus zu dem wird, was es ist. Indes ist dasjenige, was das Seiende Seiendes sein lässt, nicht die Materie, sondern die Form, in der das Seiende sein Wesen hat. Das Vermögen, als es selbst ein Seiendes zu sein, verdankt das Seiende seiner Form, nicht dem Stoff, den die Form formgemäß formt. Der Materie eignet kein Eigenvermögen, sie bezeichnet lediglich die Möglichkeit, geformt zu werden, ohne über eine Eigenpotenz zu verfügen, Seiendes aktuell zu konstituieren

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und wirklich zu erhalten. Materie ist sonach ein Grenzbegriff, von dem nur ein grenzwertiger Gebrauch dergestalt zu machen ist, dass durch ihn die allgemeine Möglichkeit, zu sein oder nicht zu sein, zum Ausdruck gebracht wird, die alles Seiende kennzeichnet. Auch durch den Begriff der Form ist eine Grenze benannt, jedoch in unvergleichlich ande- Aktive und passive Vernunft rer Weise als durch das, was Aristoteles Materie nennt. Kein Seiendes ist reine Form, sondern stets geformte Materie. Reine Form ist nichts in der Welt, sondern allein Gott, die absolute Wirklichkeit, dessen Wesen reine Aktualität ist. Indes ist alles in der Welt und jedes Seiende durch die ihm eigene Form, die seine Wesensbestimmung ausmacht, auf Gott als Ursprung und Ziel seiner selbst und aller Dinge hingeordnet. Diese Hinordnung wirksam werden zu lassen, ist die Aufgabe, welche die aktive Vernunft ihrer Bestimmung gemäß zu erfüllen hat. Aristoteles unterscheidet sie, wie erwähnt, vom „nus pathetikos“, der seinem Wesen nach der sinnlichen Welt verbunden ist, ohne selbst sinnlicher Natur zu sein. Indem er zwischen einer sinnenbezogenen und sinnenabgewandten Seite des Seelenlebens unterschied, hatte Platon bereits eine ähnliche Unterscheidung getroffen. Die sinnenabgewandte Seite assoziierte er mit dem vernünftigen Seelenteil, der allein dem wahren Begriff der Seele entspricht und insofern ihr ganzes Wesen ausmacht. Wahrhaft mit sich eins ist die Seele nur als Vernunftseele, und allein dieser eignet wesenhafte Unsterblichkeit. Der sinnenzugewandte Anteil der Seele ist hingegen im Unterschied zur sinnenabgewandten, den Ideen hingegebenen Vernunftseele in sich zwiespältig und sterblich. Die Teilung der Seele, die an sich selbst unteilbar ist, ist entsprechend ihm und nicht der Vernunftseele zuzurechnen, die in Wahrheit das seelische Ganze bzw. die ihrem Wesensbegriff und damit sich selbst entsprechende Seele ist. Was die Zwiespältigkeit des von der Vernunftseele unterschiedenen Seelenteils betrifft, so unterscheidet Platon zwischen einer besseren und einer schlechteren Hälfte. Die bessere Hälfte ist bei allem Sinnenbezug gewillt, der Vernunftseele zu folgen, wohingegen die schlechtere vernünftigen Weisungen zu widerstreben geneigt ist. Manifest wird diese vernunftwidrige Neigung, wenn der Mensch sich den körperlichen Begierden und Leidenschaften, die ihn sinnlich affizieren, mit Leib und Seele hingibt. Damit wird das Leib-Seele-Verhältnis verkehrt und die körperlichen Sinne dominieren die Seele, statt von dieser beherrscht zu werden. Tugendhaftigkeit kann unter solchen Bedingungen nicht gedeihen: Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit schwinden dahin und verkehren sich ins Gegenteil mit verheerenden Folgen sowohl für den Einzelnen als auch für das staatliche Gemeinwesen, dem Platons besondere Aufmerksamkeit galt. Ergibt ein Vergleich von Platons differenzierter Seelenlehre und der aristotelischen Unterscheidung von passivem und aktivem Intellekt bemerkenswerte Gemeinsamkeiten, so kann von Deckungsgleichheit dennoch nicht die Rede sein. Eine transzendente Wesenheit, von der Präexistenz ausgesagt werden könnte, ist

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der aristotelische aktive Intellekt trotz seiner Vergleichbarkeit mit der platonischen Vernunftseele erklärtermaßen nicht, da die Vorstellung eines vorzeitlichen Daseins nach aristotelischem Urteil in sich widersprüchlich ist. Die seelische Wirksamkeit des aktiven Nus ist nur in reinem Denken zu erfassen, das für die Anschauung eines früheren Lebens keinen Anhalt gibt. In der Theorie des Absoluten, von der die aristotelische Lehre aktiver Vernunft herkommt und auf die sie sich hinbewegt, ist mit jedweder Form von Anschaulichkeit sinnlicher und übersinnlicher Art auch die Vorstellung einer Prä- oder Postexistenz aufgehoben. Gewissheit von Unsterblichkeit vermittelt allein der aktuelle Vollzug des Denkens, nicht aber die Annahme einer immateriellen Seelensubstanz, die Aristoteles ablehnt. Eine Seelenwanderungslehre, mit der es ihm ernst wäre, kennt daher Aristoteles ebenso wenig wie die Hoffnung auf eine Fortdauer bzw. Verewigung leibhaften Lebens in der Individualität, die diesem Leben eigen ist. Die aktive Vernunft des Aristoteles ist ihrem Wesen nach keine für sich bestehende Substanz, sondern reiner Denkvollzug – dazu bestimmt, mit dem actus purus göttlicher Vernunft in unbewegter Bewegung zu koinzidieren.

14. Der Stoizismus und sein Verhältnis zur epikureischen Philosophie

Lit.: D. J. Allan, Die Philosophie des Aristoteles. Übers. u. hg. v. P. Wilpert, Hamburg 1955. – E. Asmis, Epicurus’ Scientific Method, New York/London 1984. – J. Brunschwig, Papers in Hellenistic Philosophy, Cambridge 1994. – Die Stoa. Kommentierte Werkausgabe. Übersetzt und hg. v. W. Weinkauf, Augsburg 1994. – Diogenes Laertios, Epikur (X: Buch). Griechisch-deutsch, Hamburg 1968. – M. Forschner, Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Darmstadt 21995. – M. Hossenfelder, Epikur, München 1991. – K. Hülser, Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. Neue Sammlung der Texte mit deutscher Übersetzung und Kommentaren. Vier Bände, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987/88. – B. Inwood (Hg.), The Cambridge Companion to the Stoics, Cambridge 2003. – D. Lemke, Die Theologie Epikurs. Versuch einer Rekonstruktion, München 1973. – A.A. Long/D.N. Sedley, The Hellenistic Philosophers. Bd. 1: Translations of the principal sources, with philosophical commentary. Bd. 2: Greek and Latin texts with notes and bibliography, Cambridge u.a. 1987. – G. Maurach (Hg.), Römische Philosophie, Darmstadt 1976. – M. Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 61984. – F. Ricken, Antike Skeptiker, München 1994. – E. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Dritter Teil: Die nacharistotelische Philosophie, 2 Abteilungen, Hildesheim 61963 (Fotomechanischer Nachdruck der 5. Auflage, Leipzig 1923)

„Alle Menschen streben von Natur nach WisPrima philosophia und sen.“ In der aristotelischen Abhandlung über die Gotteslehre bei Aristoteles erste Philosophie, der Andronikus den Namen Metaphysik gab und deren erstes Buch mit dem zitierten Grundsatz beginnt, hat das menschliche Wissensstreben eine vorher nie und nachher kaum wieder erreichte innere Konsequenz erlangt. Im Unterschied zu den Einzelwissenschaften und ihren Unterdisziplinen befasst sich Metaphysik nicht mit spezifischen Entitäten, sondern mit dem Sein des Seienden als solchem. Sie ist die Wissenschaft, die untersucht, was dem Seienden an sich, nämlich insofern zukommt, als es Seiendes ist. Die Seiendheit eines Seienden als sein im Begriff erkanntes Wesen ist nach Aristoteles keine vom empirischen Sein des Seienden abgehobene Idee. Realer Begriff einer Entität ist vielmehr das in dessen Erscheinung sich selbst entwickelnde und verwirklichende Wesen. Die Seiendheit eines Seienden hat ihr Wesen nicht außerhalb, sondern in der Erscheinung, in welcher sie sich realisiert. Fragt man nach den allgemeinsten Prinzipien der Seiendheit des Seienden, so ergeben sich als immanente Seinsursachen aller Entitäten in ihrem in der Erschei-

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nung sich realisierenden Wesen Stoff bzw. Materie und Form, „hyle“ und „eidos“ bzw. „morphe“. Alles, was ist, ist geformter Stoff. Ergänzt wird der aristotelische Hylemorphismus durch eine Ontologie der Bewegungs- und Zweckursachen, welche das Wesen alles Seienden im Verein mit Stoff- und Formursachen bestimmen. Fundiert ist die Metaphysik als die Wissenschaft vom Sein des Seienden daher durch die Lehre von den vier Ursachen, auf die jede Entität ontologisch gegründet ist: causa materialis, causa formalis, causa efficiens, causa finalis. Ist das Wesen einer Entität in dem Stoff, der ihr unbestimmtes Substrat ausmacht, nur der Möglichkeit nach gegeben, so realisiert sie sich – durch ihre causa efficiens ursächlich bewegt – vermöge der Form, durch deren Gestaltungsenergie das stofflich Mögliche wirklich wird und seinen Zweck realisiert. Die Selbstverwirklichung der Formgestalt in der Materie, in der sich das Wesen einer Entität zur Erscheinung bringt, nennt Aristoteles deren Entelechie, deren Bewegungsanfang, wie gesagt, mit dem Prinzip der Wirkursache und dessen Weswegen und Wozu, also dessen Bewegungsziel mit demjenigen der Finalursache assoziiert wird. Lässt sich das Wesen von seiner Erscheinung generell nicht trennen, so liegt es nahe, den Begriff der „ousia“ selbst primär mit dem durch seine Form in sich bestimmten Einzelding in Verbindung zu bringen. Genau dies ist bei Aristoteles der Fall. Primäre „substantia“ oder „essentia“, wie Cicero den „ousia“-Begriff zu übersetzen vorschlug, wird dasjenige genannt, was das Einzelseiende als solches, also als dasjenige ist, welches im Wechsel der Erscheinungen identisch und sich selbst gleich verharrt. Satzlogisch steht für die Substanz das Subjekt, nämlich derjenige Satzteil, der den Träger oder Gegenstand des durch das Verb ausgedrückten Geschehens bezeichnet. Dem Subjekt werden Prädikate zugeschrieben, ohne dass es selbst als Prädikation von anderen Subjekten ausgesagt werden könnte. „Das, was immer das Subjekt ist, dem Prädikate zugeschrieben werden, und das nicht umgekehrt Prädikat von etwas anderem ist, ist eine Substanz.“ (Allan, 104) Die Erscheinungsweisen der Substanz bzw. die über sie möglichen Prädizierungen heißen Kategorien. Aristoteles benennt neben der Substanz folgende: Quantität, Qualität, Relation, räumliche und zeitliche Bestimmtheitsweise, Tun und Leiden, fernerhin Sichbefinden und Sichverhalten. Sind Primärsubstanzen die Einzeldinge in der begrifflich bestimmten Identität ihres Wesens, so rechnet Aristoteles des Weiteren mit einer zweiten Art von Substanzen, nämlich mit den Wesenheiten der Gattungen, die in den Einzelwesen zur Erscheinung gelangen und ihre allgemeine Bestimmung ausmachen. Jede Einzelsubstanz ist ihrem Wesen nach dazu bestimmt, in der Besonderheit ihrer Erscheinungen den allgemeinen Begriff ihrer Gattung zu realisieren. Was hinwiederum die metaphysische Dignität der jeweiligen Gattungen anbelangt, die sich in den ihnen zugeordneten Einzelwesen realisieren, so bemisst sie sich an dem jeweiligen Verhältnis, in dem Form und Stoff zueinander stehen. Je mehr Formkraft einer Gattung innewohnt, desto höherwertiger ist sie in ontologischer Hinsicht; je weniger durchgestaltet sich das Stoffliche darbietet, desto geringer ist der metaphysische Status der betreffenden Entität. Nach Maßgabe dieser graduellen Abstufung ergibt

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sich ein hierarchisches System des Seienden, dessen unterste Grenze durch die ideenwidrige Annahme einer völlig ungeformten Materie im Sinne bloßer Möglichkeit markiert ist, der jede Realität abgeht, und dessen höchste Vollendung die Idee reiner Form bezeichnet, in welcher das Denken in sich selbst vollkommene Erfüllung findet. Im Denken des Denkens ist der Widerstand der Materie völlig formierender Zwecktätigkeit gewichen und das Ursprungsziel aller Dinge realisiert. Ursprungsziel alles begriffsgemäßen Seienden ist nach Aristoteles Gott als das im reinen Akt des Denkens sich realisierende Sein selbst. Gott ist es, der als unbewegter Beweger der ursprüngliche Grund aller Bewegung ist, die in den anfänglichen Materiegestalten sich abzeichnet, um zu immer entwickelteren Formen fortzuschreiten. Gott ist es zugleich, der als erster Beweger die Zweckursache jedweder Entität ist und allem Seienden sein letztes Ziel verordnet. In ihrer des Stoffes gänzlich unbedürftigen Immaterialität ist die Wirklichkeit Gottes auf keine ihr äußerliche Möglichkeit bezogen und daher ewig, unveränderlich, unkörperlich und vollkommen in sich. Gottes Geist transzendiert die Differenz von Denken und Sein, um sie in seiner Jenseitigkeit in sich zu begreifen. Im allerrealsten „actus purus“ denkenden Denkens ist Gott Inbegriff jener Theorie, zu der sich Philosophie in ihrem Ursprung und Ziel bestimmt weiß. Insofern sie Gott nicht nur als Gegenstand, sondern auch als Agenten ihrer Tätigkeit weiß, darf Philosophie nach Aristoteles als göttliche Wissenschaft und Theologie als vollendete Philosophie gelten. Man lese Buch XII der aristotelischen Metaphysik und insbesondere, was in den Kapiteln 6 bis 10 des Buches über das göttliche Wesen gesagt ist, um sich vom Recht dieser Annahme und von der ontologischen Höhenlage zu überzeugen, die der griechische Geist bei Aristoteles im Anschluss an Platon erreicht hat. Zu den mit Platon und Aristoteles erreichten Philosophische EntwicklungsHöhepunkten der Philosophie im Griechenland tendenzen nach Platon und des vierten Jahrhunderts v.Chr. steht die Tatsache Aristoteles in eigentümlichem Kontrast, dass der politische Stern der Hellenen seit geraumer Zeit in unaufhaltsamem Sinken begriffen war. Die Blütezeit der Poleis, die den Mittelpunkt des bisherigen bürgerlichen Lebens und die entscheidende Bezugsgröße der platonischen und aristotelischen Staatslehren gebildet hatten, neigte sich dem Ende zu. Obgleich sie ihre Eigenart auch unter Bedingungen der Fremdherrschaft in eingeschränktem Maße behaupten konnten und eine Vorbildfunktion für kommunale Verfassungen bis in die hellenistische Zeit ausübten, gehörten die glänzendsten Tage der griechischen Stadtstaaten der Vergangenheit an. Der Verlust oder zumindest die Minderung politischer Selbständigkeit konnte für das Denken der Griechen nicht folgenlos bleiben. Der Mangel an realen Wirk- und Gestaltungsmöglichkeiten nach außen hatte in der nachplatonischen und nacharistotelischen Philosophie nicht selten einen Rückzug ins Innere und in die Welt des Privaten zur Folge. Philosophie nimmt vielfach die Gestalt individueller Selbstbesinnung an. Glückseligkeit von Bestand lässt sich, so die Grundannahme, eher durch denkende Einkehr des Subjekts in den

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Grund seiner selbst als durch äußere Aktivitäten, geschweige denn von Ansprüchen an das soziale und natürliche Geschick erwarten. In dieser Überzeugung kommen bei allen sonstigen Unterschieden die großen Schulen überein, die seit Ende des vierten bzw. seit der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts v.Chr. unter Zurückdrängung des Einflusses der platonischen Akademie und der aristotelischen Gemeinschaft der Peripatetiker bis ins erste vorchristliche Jahrhundert hinein die philosophische Szene bestimmten. „So, wie die Dinge lagen, schien auch dem Besten nichts anderes übrigzubleiben, als daß er sich auf sich selbst zurückziehe, sich in der Sicherheit seines Selbstbewußtseins den äußeren Schicksalen entgegenstelle, seine Zufriedenheit einzig und allein von dem Zustand seines Innern abhängig mache. Die Apathie der Stoiker, die Selbstgenügsamkeit Epikurs, die skeptische Ataraxie sind die Lehren, welche dem Geist und den Verhältnissen jener Zeit entsprachen und deshalb auch in derselben den allgemeinsten Beifall gefunden haben. Ebenso entsprach ihnen aber andererseits auch jenes Zurückgehen vom Nationalen auf das allgemein Menschliche, jene Ablösung der Moral von der Politik, welche die Philosophie der alexandrinischen und römischen Zeit auszeichnet.“ (Zeller, 13) Letztere Tendenz und die verbreitete Neigung zum Kosmopolitismus kam dem Christentum entgegen und trug zur Rezeption griechischen Denkens in der Alten Kirche nicht unerheblich bei. Umgekehrt steigerte sie die Aufgeschlossenheit der Philosophie der Griechen und öffnete sie namentlich für orientalische Einflüsse, was sich wirkungsgeschichtlich ebenfalls als äußerst relevant erweisen sollte. Mit Platons Tod im Jahre 347 v.Chr. war die von ihm vor den Toren Athens nahe dem Hain des Heros Akademos gegründete Akademie keineswegs am Ende. Sie blieb vielmehr bis zu ihrer Schließung durch Justinian im Jahr 529 n.Chr. fast ein Jahrtausend lang ein Zentrum der griechischen Gelehrsamkeit. Auch wenn Vorlieben für die pythagoreischen Neigungen der Altersphilosophie Platons zu gelegentlichen Remythologisierungen seiner Lehre führten, erhielt die Akademie mit Speusipp (um 410–339 v.Chr.), Platons Neffe, und mit Xenokrates (um 400–314) durchaus würdige Führer. Ähnlich stellte sich die Lage bei den Peripatetikern in der Nachfolge des Aristoteles dar, der 322 v.Chr. gestorben war. Theophrast (371–287 v.Chr.), dessen nach 319 v.Chr. entstandene „Charaktere“ Glanzstücke menschlicher Typenkennzeichnung von hohem Unterhaltungswert enthalten, war nicht der Einzige, der die aristotelische Lehre engagiert und erfolgreich fortbetrieb. Dennoch stand die griechische Philosophie im dritten und zweiten Jahrhundert v.Chr. nicht im Zeichen des Platonismus und des Aristotelismus, sondern des Stoizismus, des Epikureismus und der Skepsis. Wohl bestanden, wie sich etwa am Verhältnis der pyrrhonischen Skepsis und der mittleren Akademie unter Arkesilaos (315–241 v.Chr.) und Karneades (214–129 v.Chr.) unschwer zeigen lässt, mannigfache Querverbindungen und wechselseitige Beeinflussungen. Aber bestimmend waren andere, von Platon und Aristoteles nicht unerheblich abweichende Ansätze, unter denen als erster der Stoizismus zu nennen ist. Seinen Schulnamen verdankt der Stoizismus der Stoa Poikile, einer „bunten“

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Halle an der Nordseite des Marktes von Athen, die mit Wandgemälden aus der attischen Ge- Die Stoa schichte und Sagenüberlieferung ausgestaltet war. Dort lehrte Zenon aus dem zyprischen Kition (um 354–262 v.Chr.), im Unterschied zum gleichnamigen Eleaten der Jüngere genannt, der als Gründer der stoischen Philosophie gilt und ihr Lehrsystem in Grundzügen entwickelt hat. Ihm folgten der Kleinasiat Kleanthes (um 331–232 v.Chr.) und andere Schüler, die wesentlich als Tradenten fungierten, bis Chrysipp, der bis Ende des 3. Jahrhunderts als Vertreter der Schule wirkte, das System im Detail entfaltet und durchgebildet hat. Er wird daher der zweite Gründer der Stoa genannt. Nach seiner Ursprungsphase erlebte der Stoizismus im 2. und 1. Jahrhundert v.Chr. eine neue Blütezeit unter Panaitios aus Rhodos und unter seinem Schüler Poseidonios aus Syrien. Als wichtigste Vertreter der mittleren Stoa gaben sie Zenons und Chrysipps Lehre durch Integration platonisierender und aristotelischer Gedanken diejenige Form, in der sie Pompeius und Cicero (106–43 v.Chr.) kennenlernten. Durch Letzteren, der auf einer Reise nach Athen und Rhodos in den Jahren 79–77 entscheidende philosophische Anregungen erhielt, wurde die stoische Lehre und ihr Humanitätsideal der römischen Welt vermittelt, um entscheidenden Einfluss zu nehmen auf Bildung und Denkungsart der damaligen Gebildeten. Die bedeutendsten Stoiker der Kaiserzeit sind Seneca (4 v.Chr. – 65 n.Chr.), der neben Cicero wichtigste Repräsentant lateinischer Kunstprosa, Epiktet (um 50–140 n.Chr.), dessen praktische Lebensweisheit wie schon diejenige Senecas auch unter Christen viel Anklang fand, sowie Marc Aurel, der Philosoph auf dem römischen Kaiserthron, den er von 161–180 n.Chr. innehatte; auch er darf gewiss als Lateiner gelten, „obschon er griechisch schrieb“ (Maurach, 9). Einfluss und Wirkung der Stoa im aufkommenden Christentum sind erheblich. Dieses „adaptierte viele Überzeugungen vor allem der stoischen Ethik und ersetzte als religiöse Weltanschauung mehr und mehr den philosophischen Gesamtentwurf der Stoa, die schließlich ihre Eigenständigkeit und Bedeutung als nicht-christliche Orientierung weitgehend verlor“ (Weinkauf, 15). Während die stoische Lehre der römischen Kaiserzeit in zusammenhängenden Werken dokumentiert ist, lässt sie sich für die Frühzeit nur aus Bruchstücken rekonstruieren. Klare Konturen zeichnen sich erst bei Chrysipp ab, der bereits deutlich die sittliche, auf die Ausbildung humaner Tugendhaftigkeit ausgerichtete Orientierung des Stoizismus erkennen lässt. Den Mittelpunkt und Skopus des Systems bezeichnet die Ethik, wohingegen Logik und Physik eher dienende Funktion zukommt. Indes ist die Ethik mit der logisch fundierten Physik darin konstitutiv verbunden, dass die Natur des Menschen und die seiner vernünftigen Bestimmung entsprechende Tugend wesentlich darin bestehen, mit der kosmischen Ordnung und den allgemeinen Gesetzen in Übereinstimmung zu gelangen, welche die ganze Welt durchwalten. An der Logoslehre der Stoa hat Max Pohlenz dies im Einzelnen aufgewiesen: Als „Gestalter der Welt“ (Pohlenz, 64) ist der Logos zugleich „Träger unserer geistigen Existenz“ (Pohlenz, 37) und „Führer und Norm

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im menschlichen Leben“ (Pohlenz, 111), dessen Sinn und Zweck es ist, immer logosförmiger zu werden. Die stoische Logosphilosophie will als Physik und Metaphysik immer auch und vor allem „eine Lebenskunst sein, die den Menschen über seine Bestimmung aufklären und ihn instandsetzen sollte, diese in jeder Lage zu erfüllen“ (Pohlenz, 5). Die stoische Logik, zu der Grammatik, Rhetorik und Dialektik zu rechnen sind, ergänzt die aristotelische vor allem in sprachanalytisch-aussagentheoretischer Hinsicht. Man vergleiche hierzu eigens die vierbändige, von K. Hülser herausgegebene Textsammlung „Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker“ und dabei insbesondere, was über sprachliche Zeichen und über die Bedeutung von Sprachzeichen angeführt wird. Die Bedeutung eines Ausdrucks wird von der Realität der bezeichneten Sache als ein ideales Etwas unterschieden, dem kein Sein im eigentlichen Sinne zukommt. Eigentlich seiend sind nur körperliche Entitäten. Erkenntnistheoretisch ergibt sich daraus die Konsequenz, dass als die ursprüngliche Quelle menschlicher Vorstellungen, auf die alles Sprechen und alle Denkoperationen bezogen sind, allein die sinnliche Wahrnehmung gilt. Die wahrnehmende Seele gleicht einer tabula rasa, auf welcher die Wirklichkeit ihre Eindrücke hinterlässt. Ohne sinnliche Anschauung sind alle Begriffe und Ideen leer, das Innere des Menschen nichts weiter als ein unbeschriebenes Blatt. Bedeutung wächst menschlichem Denken nur aus der Erfahrung zu, aus welcher vernünftige Schlüsse zu ziehen sind, um zu sachgemäßen Urteilen zu gelangen. Dabei ist die menschliche Verstandestätigkeit, deren aktive Elemente die Stoiker keineswegs leugnen, nur dann angemessen und recht, wenn sie konform geht mit der Vernunft, die allem logischen Bestreben des Menschen zuvor als kosmischer Logos im Weltganzen wirkt. Die Kraft vernünftiger Menschenseele kann nur aus der stofflichen Dynamik hervorgehen, welche die Menschenvernunft zu begreifen hat: aus der Mächtigkeit des die Welt durchwaltenden Logos. Wie alles Wirkliche in ihm ist der Kosmos nach Stoische Kosmologie stoischer Lehre körperlich verfasst und in seiner Körpernatur gänzlich bestimmt von Gesetzen unverbrüchlicher Determiniertheit. Der Weltlogos hebt den kosmischen Determinismus nicht auf, sondern ist vielmehr der Grund und Inbegriff seiner Geltung. Infolgedessen darf der stoische Logos nicht in platonischem Sinne als welttranszendente Idee gedacht werden, die in Differenz steht zur materialen Welt und einen möglichen Gegensatz zu dieser begründet. Der Logos ist vielmehr selbst das Gesetz der Weltmaterie und ihre interne Dynamik. Daher kann der stoische Logismus durchaus dynamischer Materialismus genannt werden. Stoff und Kraft machen den Bestand und die Wirklichkeit all dessen aus, was ist, und auch dasjenige, was sich dem dynamischen Materialismus der stoischen Weltanschauung anfangs nicht zu fügen scheint, wie Raum und Zeit sowie das von den Dingen und über sie Gedachte, wird zuletzt auf Stoff und Kraft zurückgeführt und als eine sensualistisch vermittelte Folge ihrer körperlichen Einwirkungen begriffen. Weil diese Einwirkungen dynamischer Art sind, lassen sie sich auf bloß mechanische Weise nicht

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durchweg erklären. Gleichwohl sind sie durch nichts anderes als durch Materie bedingt, deren kraftdurchwalteter Stoff alles bestimmt. Der kraftdurchwaltete Charakter der Weltmaterie ist nicht nur der Grund für die Verschiedenheit der Dinge, die sich aus dynamischer Differenzierung des Stoffs und aus stofflichen Mischungen unterschiedlicher Gemengelage ergeben, er prägt zugleich die Einheit des Kosmos, in der und zu der alle kosmischen Entitäten verbunden sind. Wenn die Stoiker den Einheitsgrund des Kosmos Gott nennen, dann meinen sie auch hiermit recht eigentlich keine welttranszendente Größe, sondern die alles bestimmende Wirklichkeit der Kraft, die jedwedes Seiende durchwirkt und mit anderem Seienden verbindet, ohne die Immanenz der materialen Welt grundsätzlich zu übersteigen. Die Gottheit unterscheidet sich zwar vom Seienden in seiner körperlichen Begrenztheit und ist daher kein Seiendes unter und neben anderen. Sie ist aber kein Anderes der Welt in ihrer Gesamtheit, sondern der Inbegriff der materialen Dynamik, kraft welcher der Kosmos ist, was er ist. „The Stoics accordingly regarded theology as part of physics“ (Inwood [Hg.], 153). Gott ist Welt, und die Welt ist Gott. Man mag dies Pantheismus, Panentheismus oder Kosmotheismus nennen: die Gottheit als Seele, Vernunft und Geist der Welt ist nirgends anders manifest als in dem Logos, der den Inbegriff des Kosmos und seiner materialen Seinsdynamik bezeichnet. Der göttliche Logos ist der Kraftstoff der Welt, und entsprechend müssen auch Seele, Geist und Vernunft, sowenig sie bloß dinghafter Art und von der Beschränktheit sinnlich begegnender Körper sind, auf kraftstoffliche Weise gedacht werden. Zwar ist der Materialismus der stoischen Kosmologie, wie gesagt, nicht bloß mechanischer Art, sondern von dynamischer Natur und von Kräften bestimmt, die göttlich genannt werden können; aber die göttlichen Kräfte wirken allein weltimmanent, wohingegen von einem Walten der Gottheit in welttranszendenter Idealität nicht die Rede sein kann. Als die Urkraft, welche die kosmische Materie durchdringt, um den differenzierten Zusammenhang der Welt zu begründen und zu erhalten, bestimmt der Logos die Gesetzmäßigkeit der Welt und ihrer internen Verläufe. Er tut dies nicht auf zufällige Weise und um ein Feld freien Beliebens zu eröffnen, sondern in der Form strenger Notwendigkeit, die keine Ausnahmen zulässt. Der Logos wirkt durchaus schicksalhaft, ohne dadurch die Welt einem fremden Fatum zu unterwerfen, denn der Determinismus, in dem der Logos die Welt bestimmt, ist deren ureigenes Gesetz. Freiheit im Sinne eines liberum arbitrium, welches die Lage der Dinge zumindest momentan unentschieden lässt, um zwischen Möglichkeiten zu wählen, welche dem Gesetz der Notwendigkeit äußerlich sind, kennt der Stoizismus allerdings nicht. Sein Verständnis von Freiheit ist ein anderes: Es ist nicht auf die Ausnahme und darauf ausgerichtet, das logosbestimmte Weltgesetz zu durchbrechen oder zu transzendieren, sondern mit ihm übereinzustimmen und eben darin Erfüllung zu finden. Stimmt die Welt als Ganze mit dem Gesetz des Logos unmittelbar überein, weil er die Urkraft ist, ohne die ihr materiales Wesen keinen Augenblick gedacht werden kann, so ist der kosmologische Status aller einzelnen Entitäten vermittelter Natur,

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sofern sie das, was sie jeweils sind, nur als voneinander unterschiedene Teile der Welt insgesamt sind. Während die anorganischen Teile der Welt am Weltlogos vergleichsweise äußerlich partizipieren und seinem Gesetz mehr oder minder mechanisch und auf unwillkürliche Weise entsprechen, sind die organischen und namentlich die mit Bewusstsein und Selbstbewusstsein begabten Entitäten dazu bestimmt, dem Weltlogos nach Maßgabe des logischen Gesetzes, das in der zwar nicht immateriellen, aber im Vergleich zum anorganischen Sein ungleich dynamischeren Materie ihrer Seele waltet, innerlich bzw. von Innen heraus zu entsprechen. Im unbewussten Sein begegnet das innere Gesetz der Welt verhältnismäßig äußerlich. In einem ungleich innigeren Verhältnis zum Logos stehen jene Entitäten, die dazu befähigt sind, fühlend ihrer selbst inne zu werden und mit gewisser Dauerhaftigkeit ihrer selbst inne zu sein und zu bleiben. Zu vollendeter Manifestation hingegen will der Weltlogos in jenen Wesen gelangen, deren Selbstbewusstsein nicht nur von anfänglicher, sondern von beständiger Art ist, wie das beim Menschen der Fall ist. Auch Menschenseelen sind nur Teile des Weltganzen und partizipieren am kosmischen All nur teilhaft. Aber ihre teilhafte Logosteilhabe ist doch auf Vollendung und gänzliche Fülle dadurch angelegt, dass das materiale Sein der Menschen derart dynamisiert werden kann, dass es mit der pneumatischen Kraft des Logos tendenziell koinzidiert. Auf diese Dynamisierung der Menschenseele, deren pneumatischer Funke logosbefeuert zu materiedurchdringender innerer und äußerer Strahlkraft gebracht werden soll, ist die stoische Ethik mit dem Ziel angelegt, allen partikularisierten Eigenwillen niederzubrennen und einzuschmelzen in den vernünftigen Weltlauf, dessen allgemeinem Gesetz willig zu entsprechen die Bestimmung aller Vernunftwesen ist. Willkürlich und in die Irre führend wäre es, wollte sich das Einzelne gegen die Allgemeinheit des kosmischen Logos und der Weltvernunft sperren, um unmittelbar auf sich selbst und auf der Erhaltung seiner Partikularinteressen zu insistieren. Gutes Gelingen und Glück finden sich nur dort, wo das Einzelne dem Allgemeinen untergeordnet wird und der Teil sich dem Ganzen fügt. Wenn ein Denken das Prädikat der GanzheitlichApathie durch Übereinkeit verdient, so ist es das stoische. Was im extrastimmung mit der Natur humanen Sein mehr oder minder unwillkürlich der Fall ist, soll im Falle des Menschen bewusst und willentlich statthaben: Erfüllung durch holistische Integration. Als unglückliches Verhängnis empfunden wird der determinierte Lauf der Welt nur, solange er nicht als logoshaft erkannt und durch vernünftiges Wollen dessen, was allgemeines Gesetz der Natur ist, bejaht wird. Erfolgt hingegen die geforderte Erkenntnis und ihre willentliche Affirmation, so stellt sich Gleichmut ein und die Seele findet im Grunde ihrer selbst die nötige Beruhigung: Es ist, wie es ist und wie es von Natur aus und der göttlichen Vorsehung gemäß sein soll. Deus sive natura: gottgefällig ist, wer naturgemäß lebt. So lautet das Grunddogma des Stoizismus. Sittlichkeit und naturgemäßes Handeln gehören zusammen. Die von den Sophisten im Gegenzug zu den Vorsokratikern aufgerichtete Antithese von Physis und Nomos ist zu beseitigen. Zwar konstituiert sich die sittliche Person nach stoischer Auffassung keineswegs unmittelbar

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auf naturwüchsige Weise, sondern „durch reflexive Klärung und willentliche Aufnahme der durch die Natur vorgegebenen Tendenzen“ (Forschner, 151; bei F. gesperrt). Gleichwohl bleibt Natur der Maßstab aller Dinge, und Ethik lässt sich nur auf naturalistische, nicht etwa auf transnaturale Weise begründen. Wer diesem Grunddogma widerspricht und ihm zuwiderhandelt, richtet sich selbst zugrunde. Seine Natur wird ihm nicht nur zum äußeren Geschick, sondern zu einem fatalen Verhängnis, welches ihn innerlich zerstört. Schicksalhaft ist alles, und als determiniert hat das extrahumane Sein ebenso zu gelten wie das humane. Aber der Mensch steht nicht nur in einer äußeren, sondern in einer inneren Beziehung zum Schicksal, das die Natur ihm bereitet; er ist dazu bestimmt, sich zum Gesetz der Welt in ein bewusstes Verhältnis zu setzen. In gelungener Weise, die innere Glückseligkeit zur Folge hat, geschieht dies, wenn die Welt als ein vollkommenes Ganzes betrachtet wird, mit deren Selbstzwecklichkeit übereinzustimmen höchster Zweck des Menschen ist. Sucht der Mensch hingegen den Zweck seiner selbst unmittelbar in sich, wird er der Grundlosigkeit seines Seins gewahr und verfällt dem Gefühl der Nichtigkeit, durch das er sich sein eigenes Unglück bereitet. Die stoische Ruhe ist in der abendländischen Tradition sprichwörtlich geworden. Sie besteht in jener Apathie und Ataraxie, die sich dann einstellen, wenn der Mensch seine vernünftige Seele logoskonform gestaltet. Zur Logoskonformität sind alle Entitäten bestimmt, weil der Logos, wie gesagt, die Wesensnatur der Welt und den Inbegriff aller kosmischen Gesetze darstellt. Anorganisches entspricht dem Logos unmmittelbar naturhaft und in der Weise rein äußerlichen Seins. Pflanzen und Tiere wiederum sind auf keimhafte bzw. instinktive Weise logoshaft. Sie können ihre Wesensnatur daher nicht von Grunde auf verfehlen. Dies ist dem Menschen als demjenigen Wesen vorbehalten, das aufgrund seiner gesteigerten Logoshaftigkeit sich wider seine Natur zu wenden und dem Gesetz des Logos zu widersprechen vermag. Nach stoischer Auffassung tritt der Fall logoswidrigen Vernunftgebrauchs auf, wenn der Mensch willentlich darauf aus ist, seiner Einzelheit unabhängig von der Weltnatur und ihren Gesetzen Geltung zu verschaffen. Damit wird der Mensch an der Welt und an sich selbst schuldig. Schuld ist nach stoischer Auffassung nichts anderes als Naturwidrigkeit. Dass Naturwidrigkeit ein implizites Moment jeder sittlichen Kultur und kultivierter Sittlichkeit sein könnte, kommt nicht in den Blick bzw. wird konsequent ausgeblendet. Die stoische Moral erfüllt sich dementsprechend in dem Gebot, naturgemäß zu leben, und in der Befähigung, die Forderung dieses Gebots zu erfüllen. Es ist das Wesen der Natur, im Grunde eins und eine zu sein, obzwar zwischen der Natur von Menschen und derjenigen extrahumaner Wesen zu differenzieren ist; denn diese Differenzierung bleibt naturintern. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist wie derjenige von Tier und Pflanze oder Pflanze und Stein wesentlich natürlicher Art. Auch das Menschenwesen hat einen kosmischen Naturbegriff zur Voraussetzung, ohne ihn prinzipiell zu transzendieren. In diesem Sinne darf durchaus auch die stoische Sittenlehre als Naturphilosophie gelten, und der alte Streit, ob im Stoizismus die Ethik der Physik oder die Physik der Ethik

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systematisch vorzuordnen sei, ist unentscheidbar, weil in der Sache selbst begründet. Was ist der Mensch nach Maßgabe der Stoa? Ein vernunftbeseeltes Wesen, das in den Weltleib unbeschadet seiner im Vergleich zu anderen kosmischen Körpern gesteigerten Logoshaltigkeit und pneumatischen Dynamik körperhaft eingeordnet ist mit dem Unterschied freilich, dass es der leibhafte Mensch seiner psychosomatischen Natur und seiner Vernunftseele gemäß vermag, Einsicht in seine Partikularität zu nehmen, um sich bewusst und willentlich als Teil des Naturganzen wahrzunehmen und zu gestalten. Voraussetzung jenes Bildungsprozesses ist zuerst die Bereitschaft, natürliche Übel um der höheren Notwendigkeit der Weltordnung willen mit geduldiger Gelassenheit hinzunehmen. Des Weiteren gehört dazu der Wille, selbst durch soziales oder durch Schuld einzelner Menschen zugefügtes Leid den inneren Seelenfrieden nicht stören zu lassen. Der Stoiker wird sein Recht zwar nicht einfachhin zur Disposition stellen. Aber er wird es niemals mit Gewalt erzwingen wollen, weil er lieber Unrecht erleidet, als sich durch Rechtsstreitigkeiten über Gebühr aus der Ruhe bringen zu lassen. Unter allen Umständen Herr seiner Affekte zu sein, gilt ihm als das oberste moralische Gebot. Sein sittliches Ideal ist wenn nicht durch Apathie, so doch durch Ataraxie bestimmt, welche ihm als das höchste Gut gilt, der aller Selbsterhaltungstrieb und jedwede Form der Selbstliebe unterzuordnen sind. Es liegt in der Konsequenz naturgemäßen LeDas Glück der Bedürfnisbens, wie der Stoizismus es erstrebt, Gemütsruhe losigkeit auch unter äußersten Widrigkeiten zu wahren. Nur der entspricht dem allgemeinen Logosgesetz der Natur, wie sie dem eigenen Wesen eingeschrieben ist, welcher unter allen Umständen und Bedingungen, als wie übel und schlecht sie auch erscheinen mögen, seinen „aequus animus“ behält, der nach stoischem Urteil Übereinstimmung mit der Natur und Übereinstimmung mit sich selbst in einem darstellt und gewährleistet. Genau in solcher Übereinstimmung mit der Natur und gleichermaßen mit sich selbst besteht das Wesen der Tugend, außerhalb derer es in Wahrheit nichts Gutes und innerhalb derer es recht eigentlich nichts Übles und Böses gibt. An sich und für sich genommen ist die Natur und alles, was in der Welt der Fall ist, gleich gültig und dem Gegensatz von Gut und Böse gegenüber indifferent. Man kann es mit den Dingen der Welt daher grundsätzlich halten, wie man will. Sie sind Adiaphora, Mitteldinge zwischen gut und böse. Sittlich relevant werden sie erst durch die Art und Weise, in welcher der Mensch sich zu ihnen verhält. Ist das Verhältnis des Menschen zu den Dingen durch ein verkehrtes Selbstverhältnis bestimmt, werden sie für ihn zu Übeln und bekommen ihm schlecht, wobei der Grund der Schlechtigkeit nicht in den Dingen selbst, sondern in der menschlichen Untugend und Torheit besteht. Der Tugend und ihrer Weisheit hingegen wendet sich alles zum Guten, weil im höchsten Gut der Ataraxie alles Üble aufgehoben ist. Die Tugend allein vermag den Menschen vollkommen und vollkommen glückselig zu machen, weil sie in Übereinstimmung steht mit dem, was die Welt im In-

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nersten zusammenhält und im Grunde vereint. Die Glückseligkeit ist reine Lust ohne Beimischung irgendwelcher Affekte, von denen sich bestimmen zu lassen zuletzt nur Unlust erzeugt. Wer das Einzelne als isoliertes Einzelne begehrt, ist von affektiver Begierde beherrscht. Herr seiner Affekte vermag nur derjenige zu sein, der auf nichts anderes aus ist, als dem allgemeinen Gesetz des Weltlogos zu folgen. Ein Weiser dieser Art lässt sich weder durch Gegenwärtiges bekümmern, noch fürchtet er Kommendes, weil er frei von Affekten sich vor keinem Nichtigen ängstigt. Sein Sein ist des Nichts mächtig und mit dem Weltganzen im Grunde eins. Der tugendhafte Weise achtet das Grundgesetz des Kosmos, wohingegen der Untugendhafte die kosmische Ordnung in verrückter Torheit aufzuheben trachtet und damit für Andere sowie vor allem für sich selbst nur Schlechtes bewirkt. Noch einmal vermerkt sei, dass der stoische Rekurs auf die innere Wesensnatur des Menschen, die diesen mit dem Weltlogos vereint, eine Relativierung, ja eine Marginalisierung aller äußeren Daseinsbestände einschließlich solcher ethnischer Herkunft oder nationaler Zugehörigkeit zur Folge hat. Der Stoiker will der Wesensnatur des Menschen entsprechen und primär ein exemplarischer Menschheitsrepräsentant und nicht ein Vertreter dieses oder jenes Volkes bzw. dieser oder jener sozialen Klasse sein. Die eigentümliche Humanität, die den Stoizismus auch für Christen attraktiv machte, hat hierin ihren Grund. Doch darf die stoische Menschenliebe mit affektiver Zuneigung nicht verwechselt werden. Ihr Ideal ist eine Freundschaft, die keine äußeren Bedürfnisse kennt. Sie vollzieht sich nicht ohne Sympathie; aber alles stoische Mitgefühl hat seine Grenze dort, wo es in Gefahr läuft, die Gemütsruhe zu stören. Apathisch ist ein missverständliches Wort: Gleichwohl wird man sagen dürfen, dass die stoische Ethik von einem Mitleidspathos nichts weiß und nichts wissen will. Gegebenenfalls ist dem Pathos des Mitleidens und des eigenen Leidens dadurch ein Ende zu bereiten, dass man den Selbstmord empfiehlt oder für sich selbst wählt. Wenn Seneca sagt, dass die Möglichkeit freiwilligen Dahinscheidens aus der Welt eine fundamentale Bedingung menschlicher Freiheit sei, dann hat er damit einen Grundsatz stoischer Ethik bündig zum Ausdruck gebracht. Der selbst gewählte Tod als höchster Triumph sittlichen Lebens: Nur wer das Nichts der eigenen Besonderheit gegebenenfalls willig und tatkräftig zugleich auf sich zu nehmen bereit ist, ist zum Weisen geschickt, dem höchste Seelenruhe und eine Geistesgegenwart beschieden ist, die weder Vergangenes noch Zukünftiges anzufechten vermag. Die stoische Ewigkeit ist ein stehendes Jetzt. Im ewigen Augenblick vollkommener innerer Ruhe erschließt sich der Grund des Kosmos, und der göttliche Logos wird offenbar. Man kann den Stoizismus weder areligiös noch religiös im Sinne des überkommenen Götterglaubens nennen, den er sich nur durch allegorische Auslegung und symbolische Mythendeutung anzuverwandeln vermochte. Weder wollte er mit den religiösen Überlieferungen gewaltsam brechen, noch ließ er sich ihre Apologie und Fortschreibung angelegen sein. Zu religiösem und religionskritischem Fanatismus verhält er sich äquidistant. Auch in dieser Hinsicht macht der Stoiker sich die Seelenruhe zur

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obersten Pflicht, in der er die Vollendung der Tugend und aller humanen Geistigkeit findet. Divination wird dem Menschen weder auf theistische noch atheistische Weise zuteil, sondern nur durch klaglose, ja freudige Ergebung ins Ganze und durch ebenso stillen wie dezidierten Gehorsam gegenüber dem allgemeinen Gesetz, welches die Welt durchwaltet. In der Bedürfnislosigkeit, die er erstrebt, erinnert Die Pyrrhonische Skepsis der Stoizismus in manchem an die von Antisthenes, einem ursprünglichen Anhänger des Sokrates, gestiftete Philosophenschule der Kyniker. Ihm Zynismus im landläufigen Sinne zu unterstellen, wäre gleichwohl unbillig, weil der Stoizismus im Unterschied zu manchen kynischen Philosophen sowohl auf äußeren Anstand achtete, als auch innere Distanz zu einer Form von Skepsis hielt, die es als ein Zeichen von Radikalität und innerer Konsequenz wertete, sich selbst zur Norm aller Dinge zu erklären. Um auch sich selbst in Frage zu stellen, waren die Stoiker durchaus Zweifler genug. Skepsis ist wohl ein Moment, nicht aber der eigentliche Sinngehalt jener Seelenruhe, die als ein Zustand jenseits von Zynismus und Verzweiflung zu erstreben ist. In dieser Auffassung ist den Stoikern ein Mann wie Pyrrhon von Elis (um 360–270 v.Chr.) verbunden, dessen Skeptizismus, wie erwähnt, starken Einfluss gewann auf die platonische Schule unter Arkesilaos und Karneades, bis die jüngere Akademie wieder Vertrauen fasste zu einer allem Zweifel überlegenen Macht der Vernunft. In Personalunion vereint sind pyrrhonische und akademische Skepsis im Werk des Aenesidemus bzw. Ainesidemos, einem in Alexandria lebenden Zeitgenossen Ciceros, dessen Name vor allem mit der Auflistung der sog. zehn Tropen, der traditionellen Argumentationsschemata des Skeptizismus verbunden ist. „Die meisten der zehn Tropen gelten der Relativität der Wahrnehmung. Je nach der Verschiedenheit des wahrnehmenden Subjekts und der Wahrnehmungsbedingungen erscheinen die Dinge anders, so daß wir keine Aussage darüber machen können, wie sie an sich beschaffen sind. Darüberhinaus wird die Geltung moralischer und rechtlicher Normen, der Religion und philosophischer Thesen relativiert.“ (Ricken, 70) Pyrrhon und die nach ihm benannte erste skeptische Schule in Athen stellten die Möglichkeit einer objektiven Wirklichkeitserkenntnis und damit die dogmatischen Grundlagen des Stoizismus grundsätzlich in Frage, obwohl sie in ethischer Hinsicht zu vergleichbaren Ergebnissen kamen wie dieser. Behauptungen basieren nach pyrrhonischer Auffassung lediglich auf subjektiven Eindrücken von Erscheinungen und sind daher nur als Meinungsäußerungen zu werten. Theoretisch geboten sei mithin eine völlige Zurückhaltung von Letzturteilen, aus welcher Aphasie oder Akatalepsie sich in praktischer Hinsicht die Ataraxie von selbst ergebe. Während das vom Vorurteil objektiver Erkenntnis bestimmte Insistieren auf Meinungen Affekte und beunruhigende Leidenschaften zur zwangsläufigen Konsequenz habe, folge aus dem skeptischen Verzicht auf Objektivitätsansprüche und dogmatische Letzturteile jene Seelenruhe und jene Unerschütterlichkeit des Gemüts, in welcher allein wahre Glückseligkeit zu finden sei. Theoretisch von der Einsicht in die Unmöglichkeit einer objektiven Letzterkenntnis der Dinge be-

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stimmt, deren Grund und Wesen unter dem Schein äußerer Phänomene verborgen sei, übt sich der pyrrhonische Weise praktisch in einer Haltung der Gleichgültigkeit der scheinbaren Wirklichkeit gegenüber, die ihn von den Geschicken des äußeren Daseins innerlich unabhängig macht. Während Skeptiker vom Schlage Pyrrhons den theoretischen Verzicht auf objektives Wissen Epikureismus zur Bedingung der Möglichkeit praktischer Ataraxie erklärten, hielten die Epikureer die Gemütsruhe, die auch sie als letztes Ziel philosophischer Praxis erstrebten, durch Einsicht in die Verfasstheit der Welt und ihre Gesetze bedingt und von diesen nicht einfachhin ablösbar. Darin stimmen sie mit dem Stoizismus im Prinzip überein, so sehr sie sich von ihm im Verständnis der theoretischen Basis praktischer Philosophie und in deren Gestaltung ansonsten unterscheiden. Die epikureische Schule, die 306 in Athen eröffnet wurde, unter Griechen und Römern eine große Anhängerschaft fand und bis ins vierte Jahrhundert n.Chr. einflussreich blieb, ist länger als andere fast ausschließlich von der überragenden Figur ihres Gründervaters bestimmt geblieben. Epikur (341–270 v.Chr.), dem Diogenes Laertius neben Platon ein ganzes Buch seines zehnbändigen philosophiegeschichtlichen Werkes einräumt, hat seine Philosophie in Erkenntnistheorie, Physik und Ethik untergliedert, wobei die Ethik deutlicher noch als im Stoizismus den Skopus des Gesamtsystems einschließlich der epikureischen Theologie (vgl. Lemke) darstellt. Der Kanon der Erkenntnis ist nach Epikur entscheidend durch die sinnliche Wahrnehmung bestimmt. Rationalität kann der sensualistischen Basis nicht entbehren, die sie fundiert. Begriffe und Satzaussagen sind ohne die Möglichkeit sinnlicher Verifikation und Falsifikation sinnlos. Alle Vernunft geht von Anschauung aus, welche die Sinne vermitteln. Näheres über „Epicurus’ Scientific Method“ ist dem gleichnamigen Buch von E. Asmis zu entnehmen. In der Physik Epikurs korrespondiert dem erkenntnistheoretischen Sensualismus das Bestreben, alle sinnlichen Erscheinungen auf rein natürliche Ursachen zurückzuführen. Abgelehnt hingegen wird die Annahme, dass die Welt auf Zwecke und auf ein Sinnziel ausgerichtet sei, welches der Mensch zu erkennen und für sein praktisches Leben fruchtbar zu machen vermöge. Die Welt- und Naturerklärung Epikurs ist generell mechanischer Art und im Einzelnen durch Demokrits Atomtheorie bestimmt, die er im Detail modifiziert und fortentwickelt hat. Zentral ist der Gedanke, dass das ursprünglich Wirkliche durch die Einzelentität in ihrer atomar-individuellen Unteilbarkeit bestimmt ist, deren aus rationalen Notwendigkeitsgründen nicht ableitbarer und insofern kontingent verfasster Wirkzusammenhang die Möglichkeit erschließt, allgemeine Ordnungsregeln von relativer, wenngleich niemals absoluter Verlässlichkeit zu formulieren. Unterscheidet sich bereits die epikureische Physik von der stoischen darin, dass sie ihren Ausgang nicht in der Allgemeinheit des Weltgesetzes, sondern beim Einzelnen in seiner keinem vorherbestimmenden Allgemeingesetz zu subsumierenden Besonderheit nimmt, so tritt dieser Unterschied in ethischer Hinsicht noch deut-

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licher zutage, sofern den Anstoß zu aller sittlichen Praxis und Praxistheorie nach Epikur die individuellste aller individuellen Sinnesempfindungen gibt: die Empfindung von Lust und Schmerz. Mag der Mensch viele seiner Empfindungen mit anderen teilen und sich entsprechend allgemein über sie äußern; Lust und Schmerz sind unteilbar nur demjenigen Individuum eigen, welches sie empfindet. In Allgemeinsätzen kann von beiden Empfindungen ursprünglichsten und unmittelbarsten Selbstgefühls allenfalls andeutungsweise, aber nicht angemessen die Rede sein. Der Grundsatz von Epikurs Ethik, die in praktischer Hinsicht die Theorie seiner sensualistisch fundierten Physik der Einzelwesen entspricht, ist ganz am sinnlichen Urempfinden des Individuums orientiert und besagt ebenso schlicht wie ergreifend, dass das höchste Gut die Lust individuellen Wohlbefindens, das schlimmste Übel aber der Schmerz sei. Schmerz sei daher das Einzige, was es unbedingt zu vermeiden, Lust das Einzige, was es unbedingt zu erstreben gelte. Einen Beweis dieses Grundsatzes zu geben hielt Epikur für nicht erforderlich, da er für jedes fühlende Wesen unmittelbar evident sei. Wie Tiere scheuen auch Menschen unwillkürlich den Schmerz, wohingegen beide nach Lust instinktiv verlangen. Lust sei damit evidentermaßen der naturgemäße Zustand fühlender Wesen, Schmerz hingegen ihrer Natur unmittelbar zuwider. Gleichen sich Mensch und Tier in ihrem Streben nach Lust und Schmerzvermeidung insofern, als beide fühlende Sinnenwesen sind, so wird ihr Unterschied darin manifest, dass Tiere in Bezug auf Lust und Schmerz einem bloßen Reiz-Reaktions-Mechanismus folgen, wohingegen der Mensch, ohne aus diesem Mechanismus gänzlich entlassen zu sein, als bewusstseinsbegabtes und mit Willensvermögen ausgestattetes Wesen erfahrene Lust und erlittenen Schmerz zu reflektieren vermag. Im Unterschied zu Tieren ist der Mensch daher zu einem sittlichen Umgang mit den sinnlichen Urempfindungen der Lust und des Schmerzes sowohl befähigt als auch verpflichtet. Zwar bleibt es auch unter menschlichen Bedingungen dabei, dass Lust ein unbedingt erstrebenswertes Gut, Schmerz als unbedingtes Übel hingegen zu meiden sei. Aber dieses Ziel lässt sich human auf unmittelbar natürlich-instinktive Weise nicht dauerhaft erreichen. Dazu bedarf es sittlicher Vermittlung und der Reflexion, wie sich Lust für den Einzelnen und für alle Einzelnen zusammen am besten auf Dauer stellen und Schmerz möglichst verlässlich vermeiden lasse. Lust ergibt sich wie der Schmerz dem sensualistischen System Epikurs zufolge unmittelbar aus einem sinnlichen Reiz. Doch ist es mit Reizen allein nicht getan. Reizen unmittelbar zu erliegen, wäre nach Epikur nichts als blinde Torheit und nach Art der Tiere, die dem Andrang von Lust und Schmerz ebenso hemmungswie besinnungslos ausgeliefert sind. Human und menschenwürdig ist der Umgang mit Lust und Schmerz nur, wenn er Besonnenheit nicht ausschließt, sondern auf ihrer Basis erfolgt. Anders als Hedoniker der unbesonnenen Art erklärt Epikur daher nicht die körperliche Lust als solche zum höchsten aller Güter. Zwar kann eine humane Sittlichkeit vom natürlichen Streben nach Lust ebenso wenig abstrahieren wie von der Tatsache, dass physischer Schmerz naturgemäß gemieden wird.

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Aber um beständiges Glück zu erlangen, kann es mit dem instinktiven Streben nach Schmerzvermeidung und Lustvermehrung nicht sein Bewenden haben, da der Mensch ansonsten vom Wechsel sinnlichen Glücks und Unglücks bald schon zerrieben wird. Um nicht im Auf und Ab vitalen Jauchzens und tödlicher Betrübnis zu vergehen, muss ein Standpunkt gefunden werden, der vom Wechsel des äußeren Glücks innerlich möglichst unberührt bleibt. Der Standpunkt, den das epikureische DenStoische und epikureische ken moralphilosophisch einnimmt, ist kein an- Ataraxie derer als derjenige der stoischen Ataraxie. Von der Gemütsruhe des Stoikers unterscheidet sich die epikureische allein dadurch, dass die stoische Ataraxie sinnliche Belange gegebenenfalls gänzlich hintanzustellen bereit ist, wohingegen die epikureische Ataraxie anschlussfähig zu bleiben versucht in Bezug auf die konkreten Bedürfnisse menschlicher Sinnlichkeit. Dass bloßer Sinnengenuss nicht dauerhaft glücklich macht und Lust sich nicht im Körperlichen erschöpfen darf, sagen nicht nur die Stoiker; dies sagt ausdrücklich und mit Nachdruck auch Epikur. Wer von Begierde zu Genuss jagt, um im Genuss nach Begierde zu schmachten, ist töricht und weit davon entfernt, ein Weiser zu sein. Der Weise sucht Seelenfrieden, welchen er nur findet, wenn er sich von den Orgien sinnlicher Lust und den Qualen physischer Schmerzen möglichst gleich weit entfernt hält. Das aber heißt: Wahre Glückseligkeit ist ohne Tugend nicht zu haben. Darin, wie gesagt, stimmt der Epikureismus mit dem Stoizismus vorbehaltlos überein. Skeptisch nicht nur, sondern ablehnend verhält er sich indes gegen den stoischen Anspruch, der allerdings beizeiten auch von Sympathisanten der Stoa problematisiert und infrage gestellt wurde, dass Tugend den Genuss prinzipiell in sich selbst zu tragen vermöge und Glückseligkeit als rein geistige Größe auf jedweden sinnlichen Anhalt verzichten könne. Demgegenüber macht der Epikureismus geltend, dass Tugend nicht auf Pflichterfüllung allein ausgerichtet sei. Sie macht es sich vielmehr zur Pflicht, ein Glück zu erstreben, das der psychophysischen Natur des Menschen gemäß ist und den menschlichen Geist nicht rücksichtslos den sinnlichen Bedürfnissen entgegenstellt. Zwar unterscheidet sich Tugendglück von bloß sinnlicher Lust elementar, sie ist aber im epikureischen Sinne ohne positiven Bezug und ohne Rücksicht auf die Belange der Sinnlichkeit nicht zu denken. Wie theoretische Erkenntnis von ihrer sensualistischen Basis nicht absehen kann, so darf nach Epikur die sittliche Praxis um ihres Realitätsgehalts willen von der Tatsache nicht abstrahieren, dass Glück sinnliche Lust als ein zwar lediglich anfängliches, prinzipiell aber unverzichtbares Moment in sich enthält. Wohl sind die geistigen Genüsse höher als die körperlichen, und seelisches Leiden ist letztlich schlimmer als physischer Schmerz, da die leibliche Pein in jedem Fall durch das endliche Leben befristet, der Seelenschmerz hingegen temporal unermesslich ist. Gleichwohl erachtet es Epikur als mit dem Begriff des Guten unverträglich, von sinnlichem Glück prinzipiell abstrahieren zu sollen. Tugend ist für ihn daher keine absolute Größe und nicht von reiner Selbstzwecklichkeit, sondern immer auch und zugleich Mittel eines Zwecks, der nicht unmittelbar der ihre, wenngleich nur

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durch sie zu erreichen ist. So sehr Epikur für Mäßigung der Sinne und Beschränkung der Sinnlichkeit durch die Tugend plädiert, von ihrer sittlichen Unterdrückung will er nichts wissen. Ein entsprechendes Ansinnen beurteilt er im Gegenteil als moralischen Terrorismus, den es zu bekämpfen gilt. In der Nachwelt wurde Epikurs Name beinahe zu einem Synonym für einen Genussmenschen. Dabei wird übersehen, dass der epikureische Hedonismus einen Lustbegriff ganz eigener Art zur Voraussetzung hat. Er bezeichnet das Gegenteil blinder Gier und zielt auf eine Besonnenheit, die erregte Leidenschaft und übermächtige Triebimpulse nicht weniger meidet als physischen Schmerz. In seiner Ausrichtung auf den Gleichmut als Inbegriff menschlichen Wohlbefindens ist der Epikureismus mit dem Stoizismus und mit der pyrrhonischen Skepsis durchaus vergleichbar, neben denen er „eine der drei großen individualistischen Philosophien der Antike“ (Hossenfelder, 11) bildet. Sahen Platon und Aristoteles als Repräsentanten der attischen Klassik den Menschen fest in die Polisgemeinschaft eingefügt, in deren Rahmen er seine Bestimmung zu erfüllen hatte, so trat im Hellenismus der Einzelmensch ins Zentrum des Interesses, und dem individuellen Wohlergehen gilt die primäre philosophische Aufmerksamkeit. Zugleich weitet sich der Blick über die engen Grenzen des örtlichen Gemeinwesens hinaus ins Allgemeinmenschliche; es eröffnen sich kosmopolitische Horizonte. Die beherrschenden Strömungen antiker Philosophie nach dem Tode des Aristoteles sind charakterisiert durch parallel verlaufende Tendenzen zur Individualisierung einerseits und zur Universalisierung andererseits. Ein Vergleich der in der umfangreichen Sammlung von Long und Sedley vorgelegten Texte pyrrhonischer, stoischer und epikureischer Provenienz kann davon überzeugen. Zu einem entsprechenden Ergebnis führen J. Brunschwigs „Papers in Hellenistic Philosophy“.

15. Eklektizismus und Neuplatonismus

Lit.: W. Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1985. – Ders., Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik, Frankfurt a.M. 21979. – R.M. Berchman, Porphyry Against the Christians, Leiden/Boston 2005. – St. R.L. Clark, From Athens to Jerusalem. The Love of Wisdom and the Love of God, Oxford 1984. – J. Dillon, The Middle Platonists. A Study of Platonism 80 B.C. to A.D. 220, London 1977. – K. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986. – St. Gersh, Middle Platonism and Neoplatonism. The Latin Tradition Bd. I/II, Notre Dame 1986. – J. Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004. – A. v. Harnack (Hg.), Porphyrius „Gegen die Christen“, 15 Bücher. Zeugnisse, Fragmente und Referate, Berlin 1916. – R. Hirsch-Luipold (Hg.), Gott und die Götter bei Plutarch. Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder, Berlin/New York 2005. – B. Nasemann, Theurgie und Philosophie in Jamblichs De mysteriis, Stuttgart 1991. – H.R. Schlette, Das Eine und das Andere. Studien zur Problematik des Negativen in der Metaphysik Plotins, München 1966. – A. Smith, Porphyry’s Place in the Neoplatonic Tradition. A Study in Post-Plotinian Neoplatonism, The Hague 1974. – K.-H. VolkmannSchluck, Plotin als Interpret der Ontologie Platos, Frankfurt a.M.31966. – E. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Dritter Teil. Zweite Abteilung: Die nacharistotelische Philosophie, Hildesheim 61963 (Fotomechanischer Nachdruck der 5. Aufl., Leipzig 1923) – C. Zintzen (Hg.), Die Philosophie des Neuplatonismus, Darmstadt 1977. – Ders. (Hg.), Der Mittelplatonismus, Darmstadt 1981.

Vier Philosophenschulen haben die Geschichte Schulen griechischer griechischen Denkens bis weit über die Anfänge Philosophie des Christentums hinaus entscheidend geprägt: die akademische, die peripatetische, die stoische und die epikureische. Daneben und in gelegentlicher Verbindung insbesondere mit der Akademie hat die Schule der pyrrhonischen Skepsis weitergewirkt, die im letzten vorchristlichen Jahrhundert u. a. mit dem in Alexandria lehrenden Aenesidemus (hinter seinem Namen suchte nachmals G.E. Schulze als Autor einer gegen die Elementarphilosophie Reinholds gerichteten Schrift von 1792 Deckung) neue Stärke gewann und im ausgehenden zweiten und beginnenden dritten Jahrhundert n.Chr. durch die Lehre des Sextus Empiricus, eines in Athen, Rom und Alexandria in der Tradition empirischer Medizin wirkenden Arztes, zu einem abschließenden Höhepunkt gelangte. Als eine spezifische Variante der Skepsis kann der Eklektizismus gedeutet werden, der in der Philosophie der hellenistisch-römischen Zeit mehr und mehr um sich griff. Unter philosophischen Eklektikern versteht man Denker, die aus verschiedenen Elementen früherer Lehren, die sie auswahlsweise benützen, ihr eige-

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nes Gedankengebäude errichten. Ciceros Denken etwa, obwohl von stoischer Grundprägung, kann als typischer Eklektizismus gewertet werden. Mit dem Skeptizismus ist der Eklektizismus insofern verwandt, als er dessen Zweifel an einer einheitlichen und alles umfassenden Wahrheit teilt. Während indes der Skeptizismus allen Schulsystemen gleichermaßen ihre wissenschaftliche Stringenz bestritt, brachte der Eklektizismus seine kritischen Vorbehalte durch auswahlsweisen Gebrauch verschiedener Lehrtraditionen zur Geltung. Unter der Hand wurden so Systeme mit dogmatischem Wahrheitsanspruch zu lediglich positionellen Lehrmeinungen herabgesetzt. Als Kriterium eklektizistischer Wahl fungierte in der Regel praktische Brauchbarkeit, wobei das Maß der Brauchbarkeit jeder Eklektizist letztlich in sich selbst fand. Kaum wird sich daher eine eklektizistische Philosophie finden lassen, der nicht ein konstitutives Moment persönlichen Beliebens innewohnt, ja man wird sagen dürfen, dass die Subjektivität des Eklektizisten als jeweiliges Maß und Mediatisierungsprinzip der getroffenen Auswahl fungierte. Seinem Wesen nach positionell verfasst und darauf angelegt, die Positionalität allen Denkens zu bezeugen, hat der Eklektizismus in unterschiedlichem Grade Eingang gefunden in die jeweiligen Schulsysteme, deren Differenzen er relativierte und deren Exklusivität er tendenziell auflöste. Während die Epikureer ihre Schulorthodoxie unter Inkaufnahme von Vergröberung verhältnismäßig zäh zu wahren suchten, fand der Eklektizismus in der stoischen Tradition bald namhafte Anhänger. Zu nennen sind insbesondere Panaitios aus Rhodos, der die stoische Schule in Athen im 2. Jahrhundert v.Chr. leitete, sowie sein Schüler Poseidonios aus dem syrischen Apameia (135–51 v.Chr.), der als wichtigster Vertreter der mittleren Stoa und als Lehrer von Pompeius und Cicero eine bemerkenswerte Wirkungsgeschichte entfaltet hat. Panaitios öffnete den Stoizismus für platonische und aristotelische Gedanken und gab ihm die Form, in der ihn die Römer kennen gelernt haben. Poseidonios erweiterte den stoischen Themenkanon und gab dem Humanitätsideal seines Lehrers durch seine Auffassung von der Stellung des Menschen in dem nach Seinsgraden gestuften Kosmos spezifische Konturen. Als wirkungsreich hat sich das von der älteren Stoa nicht unerheblich abweichende Stufensystem des Poseidonios u. a. dadurch erwiesen, dass man es im Kontext platonischer Tradition unter Transformation seines ursprünglich kosmologisch-physikalischen Charakters auf die hierarchische Stufenordnung transzendenter Geistwesen bezog. Verhaltener als im Stoizismus, aus dem im römischen Umfeld und unter Integration anderer Bildungselemente Cicero sowie andere namhafte Eklektizisten der Kaiserzeit hervorgingen, hat sich der Eklektizismus in der peripatetischen Schule ausgebreitet. Seit der Neuausgabe der lange verschollenen Lehrschriften des Aristoteles durch Andronikos von Rhodos im 1. Jahrhundert v.Chr. konzentrierten sich die Peripatetiker bis weit in die Zeit der römischen Kaiser hinein vielfach auf kommentierende Tätigkeit. Um Ursprungstreue bemüht versuchten sie die Lehre ihres Schulhaupts möglichst rein zu halten. Doch verhinderte dies nicht, dass der Eklektizismus auch unter den Aristotelikern Einzug hielt, wenngleich nicht in dem Maße, wie das bei den Stoikern und bei den Repräsentanten der platonischen

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Akademie der Fall war. Namentlich Antiochos von Askalon, Lehrer Ciceros wie Poseidonios, bemühte sich auf offenkundig eklektizistische Weise um Aufhebung der Schuldifferenzen und um philosophische Vereinigung von Platonismus, aristotelischem Peripatos und Stoa. Andere Akademiker sind ihm gefolgt, so dass sich bald eine „eklektizistische Schule“ bildete. Doch blieb diese Schulbildung innerhalb der Geschichte der Akademie Episode. Es waren andere Kräfte, die dem Platonismus zu neuer und unvorhersehbarer Wirkung verhalfen und ihn zu jener Großmacht im Reich des spätantiken Geistes werden ließen, deren Einfluss sich nachgerade das frühe Christentum und die Dogmatik der Alten Kirche nicht entziehen konnten. Die antike Wirkungsgeschichte der Philosophie Platons (427–347 v.Chr.) pflegt man, um Phasen des Platonismus bereits Gesagtes wiederholend zusammenzufassen, in mehrere Phasen einzuteilen. Den Platonismus, der in der Akademie weiterentwickelt wurde, nennt man in der Regel den älteren Platonismus. Diese Benennung wird dadurch differenziert, dass man zwischen einer älteren, mittleren und jüngeren Akademie unterscheidet. Leiter der älteren Akademie waren Speusipp sowie Xenokrates, nach deren Wirksamkeit sich die platonische Schule mehr und mehr von spekulativen Untersuchungen ab- und der Ethik zuwandte. Auf die mittlere Akademie gewann mit Arkesilaos und Karneades ein gemäßigter Skeptizismus Einfluss, der nur wahrscheinliche Erkenntnis für möglich hielt und Wahrscheinlichkeit zur konkreten Norm für das praktische Leben erklärte. Unter den jüngeren Akademikern des letzten Jahrhunderts v.Chr. wie Philo aus dem thessalischen Larissa und Antiochos von Askalon, den Cicero in Athen hörte, wandte man sich entschieden von der skeptischen Richtung ab, um sich auf die ursprüngliche Lehre des Schulstifters zu besinnen, seine Werke sorgsam zu pflegen, zugleich aber den Platonismus in eklektizistischer Manier mit Elementen aus anderen Systemen, insbesondere aus dem Stoizismus zu versehen. Dem in vorchristliche Zeit gehörenden Altplatonismus der älteren, mittleren und jüngeren Akademie ist der um 200 n.Chr. entstandene Neuplatonismus als die letzte große Systembildung griechischer Philosophie zur Seite zu stellen. Das geschieht in dem Bewusstsein, „that Plato’s thought and Neoplatonism are two different things“ (Gersh I, 26). Stifter des Neuplatonismus war Ammonios Sakkas, sein bedeutendster Systematiker Plotin. Den Übergang von Alt- zu Neuplatonismus bildete der sog. mittlere Platonismus. Mit dieser Bezeichnung „faßt man gewöhnlich die philosophische Entwicklung und die einzelnen Ausprägungen der platonischen Akademie von der Mitte des ersten Jahrhunderts v.Chr. bis zum Beginn des dritten Jahrhunderts n.Chr. zusammen“ (Zintzen, Mittelplatonismus, IX). Hauptthemen sind Logik, Physik und Ethik. Die Philosophen des mittleren Platonismus oszillieren „between the two poles of attraction constituted by Peripateticism and Stoicism, but adding to the mixture of these influences a strong commitment … to a transcendent supreme principle, and a non-material, intelligible world above and beyond this one, which stands as a paradigm for it. The influence

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of Pythagoras and what was believed to be his doctrine was also dominant throughout our period.“ (Dillon, 51) Unter den Vertretern des mittleren Platonismus ist neben Gaios, Albinos und Apuleius der Historikerphilosoph Plutarch (50–125 n.Chr.) hervorzuheben. Er ist durch seine vierundvierzig vergleichenden Beschreibungen berühmter Griechen und Römer bekannt und zu einem der meistgelesenen Autoren der Weltliteratur geworden, hat daneben aber auch pädagogische, moralphilosophische und metaphysische Schriften von stark religiöser Prägung verfasst (vgl. im Einzelnen Hirsch-Luipold), die den Platonismus mit neupythagoreischen Einflüssen verbanden. Obwohl sein Schrifttum keine Kenntnis des Christentums verrät, wurde Plutarch wegen seiner religiös gestimmten Humanität von nicht wenigen Kirchenvätern hochgeschätzt und gerne gelesen. Philosophiegeschichtlich ist sein Denken vor allem als ein festes Glied in der zum Neuplatonismus führenden Entwicklungsreihe bedeutsam geworden. Die neupythagoreische Bewegung, die mit dem vorplatonischen Pythagoreismus vielfach nur den Namen teilt, im Wesentlichen aber auf einer eklektizistischen Verbindung platonischer Traditionen mit Anleihen aus der peripatetischen und stoischen Schule basiert, gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie der platonisierende Stoizismus, der sich bei Seneca, Epiktet und Marc Aurel findet. Nicht minder wichtig als die genannten StröPhilo von Alexandrien mungen sind für die Genese des Neuplatonismus die Einflüsse geworden, die von der alexandrinischen Philosophie vor Philo und von Philo von Alexandrien (20/13 v.Chr. – 45 n.Chr.) selbst ausgingen. Diese Einflüsse sind gerade in christlicher Perspektive in hohem Maße relevant, sofern die alexandrinische Philosophie aus einer eigentümlichen Verbindung griechischen Geistes und jüdischer Traditionsbestände resultierte. Wie man das Verhältnis beider zueinander zu bestimmen hat, ist eine notorisch strittige und im Grunde nicht lösbare Frage, da sich die Gemengelage des hellenistischen Judentums, aus der die philonische Philosophie erwuchs, nicht mehr trennungsscharf in ihre Bestandteile zerlegen lässt. Klar jedenfalls ist, dass sich die Begegnung griechischen Geistes und jüdischer Religion, die keineswegs auf Philo beschränkt, wenngleich durch ihn in hervorragender Weise dokumentiert ist, als enorm folgenreich erwies und zwar nicht nur in Bezug auf die Genese des Neuplatonismus, sondern in Bezug auf die Entwicklungsgeschichte des Christentums und des abendländischen Geistes insgesamt, der nicht lediglich von okzidentaler Herkunft ist, sondern auf einer Verschmelzung orientalischer, namentlich jüdischer, und okzidentaler, insbesondere griechisch-römischer Traditionselemente beruht. Der Ort, wo Judentum und griechische Philosophie in engste Beziehung traten, war das ägyptische Alexandrien, nach Maßgabe philosophiegeschichtlicher Topographie in der Mitte des Weges gelegen, der von Jerusalem nach Athen, aber ebenso „From Athens to Jerusalem“ (vgl. Clark) führte. Von Alexander d. Gr. 331 v.Chr. gegründet war die auf einer Nehrung zwischen Mittelmeer und Mereotisee gelegene Hafenstadt unter den Ptolemäern rasch zu einem Bildungszentrum erster Ord-

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nung geworden. Die bevölkerungsreiche Metropole stand in höchstem Glanz, als sie 30 v.Chr. an das römische Reich fiel, dessen zweitgrößte Stadt Alexandria im ersten Jahrhundert n.Chr. war. Der Gründeridee der Stadt gemäß Orient und Okzident vereinigend war die Bevölkerung Alexandriens sehr gemischt. Eine verhältnismäßig selbständige Gruppe bildeten die Juden, die über eine weithin autonome Gemeinde und einen eigenen Ethnarchen verfügten. Kontakte zum palästinischen Judentum waren gegeben; zugleich eignete sich zumindest die jüdische Oberschicht wesentliche Bestände der griechischen Kultur an. Das Ergebnis war ein hellenistisches Judentum, wie es in Philos Denken eine seiner eindrucksvollsten Explikationsgestalten gefunden hat. Die jüdisch-griechische Philosophie Alexandriens vor Philo reicht bis über die Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts zurück. Beizeiten schon haben gebildete Juden versucht, die Inhalte ihrer Religion und insbesondere deren monotheistischen Charakter mit Mitteln griechischer Philosophie darzulegen, gegen Kritik zu verteidigen und gegenüber den Mythen polytheistischer Religion als überlegen zu erweisen. Nach außen hin sollte das Judentum mit philosophischen Mitteln behauptet, nach innen hin durch gedankliche Durchdringung seiner Gehalte zu einem innigeren und tieferen Verständnis gebracht werden. Dabei bediente man sich häufig der Auslegungsmethode der Allegorese, um den unter den Buchstaben verborgenen Sinn der Heiligen Schriften Israels erheben, in seiner Übereinstimmung mit den Zentralgehalten griechischen Denkens erweisen, ja zur Grundlage der wichtigsten Einsichten antiker Philosophie erklären zu können. Aristobul etwa, ein jüdisch-hellenistischer Religionsphilosoph, der um die Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts in Alexandria lehrte, wollte durch allegorische Deutung der Tora seinen gebildeten Zeitgenossen beweisen, dass im mosaischen Gesetz bereits alles enthalten sei, was die alten Griechen philosophisch erdachten. Die mit Mitteln der Allegorese begründete Annahme, dass die griechische Weisheit eine Folgegestalt der dem Judentum von Jahwe zuteil gewordenen und namentlich in der Tora beurkundeten Einsicht sei, findet sich auch bei Philo, in dessen Denken jüdische Theologie und griechische Philosophie zum System vereint sind. Sein in der ersten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts entstandenes Werk, das ihn als den hervorragendsten geistigen Repräsentanten des hellenistischen Judentums Alexandriens erweist, verbindet auf eindrucksvolle Weise jüdische Frömmigkeit mit griechischer Denkungsart insbesondere platonischer und stoischer, gelegentlich neupythagoreischer, seltener peripatetischer Provenienz. Die Editio maior der philonischen Werke wurde von Leopold Cohn, Paul Wendland und Siegfried Reiter besorgt (Philonis op. quae supersunt, Berlin 1896– 1930). In deutscher Übersetzung liegen sie in der siebenbändigen Ausgabe von Cohn, Isaak Heinemann, Maximilian Adler und Willy Theiler vor (Bd. 1–6, Berlin 1909–1938, 21962; Bd. 7, 1964). Die Basis des philonischen Systems bildet die Gotteslehre. Gott ist einer und von absoluter Welttranszendenz. In sich und zugleich mit dem vermittelt, was er

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nicht unmittelbar selbst ist, ist der transzendente Gott durch den Logos, der die göttliche Einheit nicht auflöst, wohl aber aufschließt für Differenz und Differentes. Als Mediatisierungsprinzip der Gottheit gehört der Logos dieser an und ist mithin selbst göttlichen Wesens, zugleich aber Grund und Urbild der von Gott unterschiedenen Welt, deren vernünftiges Maß und Muster er vorgibt. Mit der stoischen ist die philonische Logoslehre dadurch verbunden, dass der Logos in beiden Fällen für die Idee der allgemeinen, in der Geistseele des Menschen sich selbst erschlossenen Weltvernunft steht. Unterschieden ist der Logos Philos von demjenigen des Stoizismus durch betonte Immaterialität und die Weltüberlegenheit seiner Wirkkraft, die anderes ist als eine dem Kosmos immanente Dynamik. Ob es sich beim Logos um ein Attribut im Sinne göttlicher Zentralkraft oder um eine selbständige Hypostase handelt, ist im Einzelnen ebenso schwierig zu entscheiden wie die Frage, in welchem Verhältnis bei Philo der göttliche Logos zur Weisheit Gottes steht. Die Schwierigkeit der Entscheidung scheint dabei in der Sache selbst begründet zu sein: Als oberste Dynamis Gottes ist der Logos sowohl das Prinzip der Einheit als auch der Vielheit göttlicher Kräfte, wie er denn in Bezug auf Gott selbst gleichermaßen für dessen alle Differenz transzendierende Identität wie für die göttliche Weltaufgeschlossenheit steht, die eine interne Differenziertheit der Einheit Gottes zur Voraussetzung hat. Der Logos gehört wesentlich zur Einheit Gottes und differiert zugleich vom einen Gott. Er ist eine Dynamis Gottes neben anderen und zugleich Einheitsprinzip aller göttlichen Kräfte. Unmittelbar und auf sinnidentisch-univoke Weise lässt sich vom Logos nicht reden. Sein mittlerisches Wesen lässt sich nur dialektisch begreifen: denn er umfasst Einheit und Unterschied gleichermaßen in sich, indem er in dem, was er seinem Wesen nach ist, von anderem her und auf anderes hin ist. Er ist weder eines noch anderes, sondern dasjenige, was eines und anderes vermittelt. Als führender Philosoph des hellenistischen Judentums Alexandrias hat Philo nicht nur auf die Christologie und trinitarische Gotteslehre der Alten Kirche, sondern auch auf das neuplatonische Denken stark eingewirkt. Wirksam wurden vor allem die Logoslehre Philos sowie die philonische Lehre von der Transzendenz Gottes, dessen unbegreifliches Wesen sich nur durch Offenbarung mittels jener Kräfte erschließt, die im Logos vereint sind. Gottes Jenseitigkeit transzendiert alles Denkvermögen; um die göttliche Wirklichkeit gedanklich zu erfassen, bedarf es der Vermittlung des Logos, in welchem das menschliche Denken den Grund seiner selbst und alles vernünftigen Seins zu erkennen vermag. Doch ist diese Erkenntnis ohne religiöses Bewusstsein göttlicher Offenbarung nicht zu haben, sofern Gott sich im Logos dem Denken nicht anders als dadurch vermittelt, dass es dieses über sich selbst hinausführt. Indem Philo in seinem Denken die Tradition jüdischer Theologie mit griechischer Philosophie verband, hat er deren Transzendenzbewusstsein erheblich gesteigert und wesentlich zu der religiösen Wende beigetragen, die sich im Neuplatonismus vollzog. Zwar findet sich eine Logoslehre auch im Die Logoslehre Philos

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Stoizismus, und man geht gewiss nicht fehl in der Annahme, der philonische Begriff des Logos sei durch den stoischen historisch vermittelt. Indes ist der stoische Logos ein kosmosinternes Prinzip von stoffähnlicher Art; das Verhältnis der Stoiker zu ihm kann nicht eigentlich religiös genannt werden. Der stoische Logos begründet ein vernünftiges Weltverständnis, ohne die Weltweisheit über sich hinauszuführen und hinzuordnen auf die in ihrer Unvordenklichkeit unbegreifliche göttliche Transzendenz, wie dies bei Philo der Fall ist. Wohl stimmen er und der Stoizismus in der Idee einer allgemeinen Weltvernunft formal überein; aber in der materialen Fassung, die er seinem Logosgedanken gibt, weist Philo über den stoischen hinaus und antizipiert die Systemkonzepte des Neuplatonismus, innerhalb dessen die Verbindung von Religion und Philosophie mitsamt dem theologischen Transzendenzcharakter des Denkens nicht minder deutlich zutage tritt als bei Philo. Die Vorsokratiker suchten das Wesen der GottDie Vollendung griechischer heit aus der Natur des Alls zu ergründen, mit de- Philosophie im Neuplatonisren internem Wirkprinzip sie es identifizierten. mus Als göttlich galt ihnen dasjenige, was die Natur naturiert und von innen heraus einheitlich bestimmt. Der Gedanke einer wesentlichen Naturtranszendenz der Gottheit war mit diesem Ansatz schwer zu verbinden. Das änderte sich grundlegend mit Sokrates: Für ihn hörte die Physik auf, philosophische Leitwissenschaft zu sein. An ihre Stelle trat die Ethik als eine praktisch orientierte Begriffsphilosophie. War die Naturphilosophie eine naturhafte Form des Denkens insofern, als sie sich unmittelbar dem Objekt ihres Begreifens hingab, führte Sokrates die Wissenschaft über ihr anfängliches Stadium der Selbstvergessenheit hinaus, indem er ihren Vollzug zum reflexen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen machte. Die Wissenschaft wurde, wenn man so will, sich selbst gegenständlich. Das Denken gestaltete sich reflexiv, um einen geklärten Begriff seines Begreifens zu erlangen. Nicht länger fand Philosophie im Wissen der Natur Befriedigung; ihr Bedürfnis ging dahin, die Natur des Wissens zu ergründen. Dieses Bedürfnis wurde umso dringender, je konsequenter die Möglichkeit wahrhafter Wissenschaft von der sophistischen Skepsis in Zweifel gezogen wurde. In ihrer skeptischen Negation unmittelbarer Gewissheit von naturhaften Gegebenheiten übte die Sophistik eine Mediatisierungsfunktion für den sokratischen Ansatz aus. Indes erschöpfte sich dieser nicht in sophistischem Zweifel, sofern er gewisses Wissen nicht nur für möglich, sondern für unbestreitbar erachtete. Zwar kann die sinnliche Wahrnehmung des naturhaft Gegebenen keine fundierte Gewissheit vermitteln, und auch das Sein der Natur ist nicht unmittelbar gewiss. Gewiss aber ist das Gute, und das Wissen von ihm kann nicht in Abrede gestellt werden. Theologisch hat dies für Sokrates zur Folge, dass Gott zum Inbegriff des Guten erklärt wird. Vom göttlichen Guten her ist schließlich auch der Natur ihr Zweck gesetzt, der in ihr selbst nicht unmittelbar zu finden ist. Gott als Inbegriff des Guten transzendiert alles natürlich Gegebene und kann auf bloß naturhafte Weise nicht begriffen werden. Die theologische Grundthese

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des Sokrates wird durch Platons Ideenlehre auf eine theoretisch erweiterte Basis gestellt, im Übrigen aber einschließlich ihrer impliziten Voraussetzung bestätigt, dass mit dem Bewusstsein des Guten auch ein Wissen von Gott als der Idee der Ideen gegeben ist. Theologie ist ein transnaturales, aber nichtsdestoweniger ein vernünftiges Geschäft, sofern die Idee Gottes als Inbegriff des Guten die Welt der Vernunftideen nicht negiert, sondern vollendet. Im Wissen des Guten ist die göttliche Vernunft zur Erkenntnis gebracht und eingesehen, was in Wahrheit Gott ist. Als höchste aller Ideen ist die Idee des Guten mit derjenigen Gottes identisch, und indem sie gedacht wird, ist mit ihr auch Gott als der Grund und Zweck allen Seins erkannt, sofern das Gute nichts anderes ist als die göttliche Vernunft und die göttliche Vernunft nichts anderes als das Gute. Die Idee Gottes als des höchsten Guts und Inbegriff alles Guten sprengt den Begriff der Vernunft nicht, sondern bezeichnet den Inbegriff ihres Seins. Daran hält auch Aristoteles fest. Nicht nur, dass der aristotelische Nus als oberste Weltursache mit dem Guten zusammenfällt; auch der Begriff des höchsten Guts als eines Denkens, das nur sich selbst zum Inhalt hat, bestätigt den rationalen Charakter der Theologie des Aristoteles, die nicht auf der Vernunft prinzipiell Transzendentes, sondern auf deren vernünftige Vollendung angelegt ist. Als Denken des Denkens ist Gott Inbegriff der Vernunfttätigkeit. Philosophie und Theologie kommen überein; göttliche Offenbarung und Selbsterkenntnis der Vernunft koinzidieren. Dies sollte im Neuplatonismus anders werden. Als geschichtlicher Schlusspunkt griechischer Philosophie verweist er das Denken auf eine Grenze, die zu transzendieren das Vernunftvermögen überfordert und nur mit Hilfe der Religion transzendierbar ist, welche Vernunft in Offenbarung gegründet sein lässt. Ob man in solchem Verweis das Ende oder die Vollendung hellenischer Wissenschaft zu sehen hat, ist eine Frage der Perspektive: Für die Alte Kirche, in der er seit dem vierten Jahrhundert zu großer Wirkung gekommen ist, markiert der Neuplatonismus – „die letzte Epoche des antiken Platonismus von Plotin bis zur Schließung der Akademie in Athen“ (Zintzen, Neuplatonismus, VII) – Ende und Neuanfang zugleich, sofern er die gedanklichen Mittel bereitstellt, den Christusglauben als die Krise aller Wahrheit in weisheitlicher Konstruktivität so zu entfalten, dass Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Vernunft gleichermaßen zur Erkenntnis gelangen. Die Grundlagen des neuplatonischen Systems Plotin hat im Anschluss an seinen alexandrinischen Lehrer Ammonius Sakkas Plotin (205–270 n.Chr.) entworfen, der neben Platon und Aristoteles „größte, einflußreichste und wirkungsmächtigste Denker der Antike“ (Halfwassen, 9). Dargelegt sind Plotins Ansichten in Schulvorträgen, die aus der Zeit seiner römischen Lehrtätigkeit stammen und von seinem Schüler und Biographen Porphyrios im Jahr 301 auftragsgemäß herausgegeben wurden. Die beste, auf Auswertung aller bekannter Handschriften basierende moderne Textausgabe haben Paul Henry und HansRudolf Schwyzer erstellt (Plotini Opera. 3 Bd., Paris/Brüssel 1951–1973; vgl. fer-

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ner: Plotins Schriften. Übersetzt von R. Harder. Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen, fortgeführt von R. Beutler und W. Theiler, 6 Bd. in 12 Teilbänden, Hamburg 1956–1971.) Der Titel „Enneaden“ rührt von der Texteinteilung in sechs Gruppen von je neun Abhandlungen her, mit der Porphyrios seine Gesamtausgabe versah. Um zur Erkenntnis des Grundes und Ziels seiner selbst und allen Seins zu gelangen, muss der Geist nach Plotin die sinnlichen Beschränktheiten, ja die Grenzen von allem Endlichen transzendieren und Einkehr halten in jenem unvordenklich Einen, von dem alles Seiende und alles Denken seinen Ausgang genommen hat und zu welchem zurückzukehren seine Bestimmung ist. Das unvordenklich Eine, aus dem alles, was ist, hervorging, um zu erscheinen und aus der sinnlichen Erscheinungswelt zurückzukehren in seinen übersinnlichen, selbsttranszendenten Grund, steht in seiner absoluten Transzendenz nach Plotin noch jenseits der Vernunft. Der Nus ist nicht das Eine, sondern dessen, wenngleich erstrangige Folgegestalt. Das Eine selbst, dessen Urwesen Plotin mit der unbegreiflichen Gottheit Gottes identifiziert, übersteigt in seiner Unvordenklichkeit die Vernunft und ist begrifflich nicht zu fassen. Es ist nicht nur eine supranaturale, sondern ebenso eine transrationale, überbegriffliche Größe. Anderes als seine Unaussprechlichkeit lässt sich von ihm realiter nicht aussagen. Plotins Lehre vom Einen ist negative Theologie. Der Gott über dem Gott ist in seinem Wesen unbegreiflich, erhaben nicht nur über das sinnliche Sein, sondern auch über die Gedanken reinen Denkens, die das Eine in seiner Unbegreiflichkeit nicht zu fassen vermögen, sondern nur in seiner absoluten Positivität voraussetzen können. Das Eine kann nicht erkannt, sondern in seiner unvordenklichen Faktizität nur anerkannt und religiös verehrt werden. Seine Erhabenheit transzendiert sowohl die Sinnenwelt als auch die Welt der Ideen. Das Eine ist nicht gleichzusetzen mit der obersten Idee der Ideen, es gleicht weder der platonischen Idee des Guten noch dem unbewegten Beweger des Aristoteles, dessen absolutes Wesen sich in reiner Theorie erfüllt. In seiner Unvergleichlichkeit steht das Eine jenseits aller Theorie und Praxis; es geht nicht darin auf, Grund des Denkens oder Ziel des Handelns zu sein. Obwohl Denken und Handeln bewegend ist es Theorie und Praxis jenseitig. Alle Differenz und Vielheit ist aus ihm ausgeschlossen, ohne dass das Eine schiere Indifferenz oder durch den Gegensatz zu Differenz und Vielheit bestimmt wäre. Es transzendiert daher auch den Unterschied von Einem und Anderem. Alles, was in seiner Identität durch den Unterschied zu anderem bestimmt ist, hat als eine relative, nicht aber als eine absolute Größe zu gelten. Das Absolute ist weder durch ihm Äußerliches noch auch durch den Unterschied zu dem bestimmt, was es nicht unmittelbar selbst ist. Es ist das schlechterdings Transzendente, jenseits von Einheit und Vielheit, Identität und Differenz: unvorstellbar, unzählbar und unbegreiflich. Das Eine ist höher als alles und höher auch als die höchste, in ihrer Vernünftigkeit nicht mehr steigerbare Vernunft. Die Vernunft als der Inbegriff des Denkens und der intellektuellen Welt der Ideen geht nach Plotin aus dem Einen als der unvordenklichen Voraussetzung allen

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Denkens hervor. Mit diesem Hervorgang ist die Differenz von Einem und Anderem gesetzt und die für die Metaphysik Plotins zentrale Problematik von Negativität eröffnet (vgl. im Einzelnen Schlette). Der Grund und die Ursache der Einheit der Vernunft liegen nicht in dieser selbst, sondern außer ihr, und alles Denken beruht auf der suprarationalen Absolutheit des Einen, welche es zur Voraussetzung hat. Der Nus ist eine Folgegestalt des Einen, göttlich zwar, aber in seiner Gottheit von abkünftigem Wesen und mit dem unvergleichlichen Einen nicht gleichzusetzen. Zwar ist der Nus allem sinnlichen Sein überlegen und als die Bedingung begrifflicher Erfassung des Seienden von übersinnlicher Art. Auch ist er in sich eins sowie ungeteilt und keiner ihm äußerlichen Vielheit unterworfen. Das rückt den Nus an das Eine, in dessen Unvordenklichkeit er gründet, nahe heran und unterscheidet ihn grundsätzlich von der Sphäre des Differenten. Gleichwohl kann nach Plotin auch der Nus im Unterschied zum unvordenklich Einen der Differenz nicht gänzlich entbehren, sofern sich alles Denken, auch das sich selbst denkende Denken in der differenzierten Einheit von Denken und Gedachtem vollzieht. Die Vernunft ist differenzbestimmt, nicht zwar durch eine äußerliche Differenz, wohl aber durch eine Differenz, die ihr intern ist, sofern sich Denken, wie gesagt, in der Unterschiedseinheit von Denken und Gedachtem vollzieht. Dieses Unterschieds bedarf die Vernunft um ihrer Identität und Einheit willen; daher eignet dem Nus nicht die gleiche Bedürfnislosigkeit wie dem schlechterdings selbstgenügsamen Einen, das um seiner selbst willen auch des Nus nicht bedarf. Warum das Eine ihn gleichwohl hervorgebracht und aus sich entlassen hat, ist wie der Wesensgrund des Nus unbegreiflich und als ein unergründliches Geheimnis vernünftig nicht anders als durch religiöse Ver- und Bewunderung zu ehren. Der Grund ihrer selbst ist der Vernunft unzugänglich; ihre Realität ist ein Faktum, aber ein Faktum, das unbegreiflich und begrifflich nicht zu genetisieren ist, weil es allem Begreifen vorausliegt. Die Vernunft verdankt ihr Wesen einer Voraussetzung, die sie nicht selbst gesetzt hat, sondern die in ihrer absoluten Kausalität, die jeden vernünftigen Begriff von Ursächlichkeit transzendiert, unvordenklicher Grund alles Vernünftigen ist. Kann vom Einen nur uneigentlich und auf negative Weise, recht eigentlich aber gar nicht die Rede sein, weil es in seiner Unvordenklichkeit nicht nur alle Vernunft, sondern auch alle Sprachmöglichkeiten transzendiert, so findet vernünftige Rede im Nus den Sinngrund ihrer Verständlichkeit und Intelligibilität. Nach Plotin ist der Nus göttlicher Natur, ungeschaffen und ewig wie das Eine, doch diesem, aus dem er hervorging, nicht nur nach, sondern auch untergeordnet. Als subordinierter Logos des Einen ist der Nus das erste und vornehmste der Wesen, die aus dem unvordenklichen Grund in seiner Absolutheit hervorgehen. Dass dieser Hervorgang nicht naturhafter Art ist, versteht sich unter plotinischen Systembedingungen von selbst. Das Verhältnis von Einem und Nus ist von schlechterdings transnaturaler Art. Man sollte also im Hinblick auf den Hervorgang des Nus aus dem Einen nur unter Vorbehalt von Emanation sprechen, sofern der Emanationsbegriff naturhafte Assoziationen nahelegt, wenn nicht förmlich erzwingt.

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Sowenig der Nus mit Zwangsnotwendigkeit aus dem Einen hervorgeht, sowenig ist sein Verhältnis zum Einen beliebig. Denn die Willkür, die im Belieben waltet, ist selbst naturhafter Art, und sie wird von der Vernunft nicht ohne vernünftigen Grund als fatal eingeschätzt. Gleichwohl lässt sich das Verhältnis von Einem und Nus ebenso wenig in Vernunftnotwendigkeit auflösen. Zwar bedarf nach Plotin der Nus des Einen notwendig, weil er ohne dessen Voraussetzung zu keinem Verständnis seiner selbst gelangen könnte. Aber das Eine wird doch dadurch nicht zu einer vernünftigen Setzung bzw. zu einer Voraussetzung, welche die Vernunft um ihrer Selbsterkenntnis willen als nichtgesetzt setzt. Das Eine Plotins hat vielmehr als absolute Voraussetzung zu gelten, aus welcher auf nicht nur transnaturale, sondern auch transintelligible Weise der Nus hervorgegangen ist, welcher Hervorgang in seiner Transrationalität zwar nicht als vernunftnotwendig, wohl aber und unbeschadet, ja in Anerkennung seiner Transintelligibilität als höchst vernünftig, ja als die Bedingung alles vernünftigen Sinns zu gelten hat. Dem Nus als der ersten Folgegestalt des Einen ist als weitere die Seele zu- und nachgeordnet, die als dritte Größe im göttlichen Bunde zwar wie das Eine und der Nus ebenfalls übersinnlicher Natur ist, zugleich aber die Beziehung zur sinnlichen Welt herstellt, in der die wachsende Differenz zum Einen Vieles zur Erscheinung kommen lässt, was in seiner Vielheit nur noch in eingeschränktem Maße als theoretisch vernünftig und als praktisch gut angesehen werden kann. Es bestätigt sich ein Grundgesetz plotinisch-neuplatonischen Denkens, dass mit immer differenter werdender Differenz und steigender Vielheit die Distanz zum Einen und dem mit ihm verbundenen Nus wächst und die Vollkommenheit des Seins proportional abnimmt. Das vom Urwesen ausstrahlende Licht verliert an Kraft, je weiter es sich von seiner Quelle entfernt, um mehr und mehr zu verblassen und schließlich in der Finsternis materiellen Nichts zu verlöschen. Enthält das Eine alle Strahlkraft in sich, welche das Viele erhellt, so vermag das Viele nur in Reflexion des Einen zu leuchten und verblasst zu bloßem Schein immer mehr, je weniger es seiner fortschreitenden Ausdifferenzierung wegen das Licht des Einen in sich zu wahren in der Lage ist. Am Ende des Prozesses, der vom Einen seinen Ausgang nimmt, verdunkelt sich das Sein und zergeht im Nichts. Während das Eine in seiner absoluten DiffeDas Eine, die Vernunft, die renzüberlegenheit des Gegensatzes von Sein und Seele und die seelische Nichts schlechterdings mächtig, ja durch ihn in Neigung keiner Weise berührt ist, ist das Nichtige im Nus in der Weise der Differenz von Denken und Gedanken latent präsent, wenngleich lediglich als aufgehobenes Moment, dem keine bleibende Eigenrelevanz zukommt. Zwar ist der Nus nicht mehr das reine Eine, sondern bereits durch eine Zweiheit bestimmt, die ihn als Folgegestalt des Einen erkennen lässt. Aber die Vernunft ist, sofern sie sich als dem Einen zugehörig weiß und die Verbindung mit ihm unbedingt festhält, der ihr innewohnenden Differenz gänzlich mächtig. Sie vermag daher alles, was ist, in sich zu fassen und ist durch den Unterschied von Sein und Nichts lediglich intern, aber nicht äußerlich bestimmt. Als sich selbst denkend

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verfügt das Denken über ein Selbstbewusstsein, das sich zwar vom Einen schlechthin abhängig, aber im Übrigen allem überlegen und dazu befähigt weiß, es vernünftig zu begreifen und durch praktische Vernunft willentlich zu gestalten. Dabei ist das Denken und Tun der Vernunft vollendet in sich, weil ihr nichts mangelt, solange ihr der Zusammenhang mit dem Einen nicht abgeht. Wie der Nus im Einen inbegriffen ist, ohne seinerseits das Eine, welches ihn integriert, in sich zu begreifen, so partizipiert die Seele ihrerseits am Nus, von dem sie umfangen ist, ohne die Vernunft in Gänze in sich zu enthalten und ganz vernünftig zu sein. Die Seele, welche den Kosmos und alles Einzelne in ihm in abgestufter Weise durchdringt und mit Leben erfüllt, ist einerseits eine überweltliche Wesenheit. Als solche hat sie am Nus und mittels dessen am Einen teil. Die Vernünftigkeit der Seele kommt wesentlich in ihrem Vermögen zur Geltung, sich die Rationalität präsent zu halten, die ihr der Nus vergegenwärtigt. Durch die Intelligibilität, welche der Nus ihr vermittelt, ist die Seele zu einer strukturierten Wahrnehmung der Entitäten in der Lage, die sie beseelt. Sie ist ideenfähig und damit in der Lage, das Viele in vernünftiger Weise in sich zu vereinen. Darin gleicht sie dem Nus, in dem sie gründet wie dieser im Einen. Aber die Nushaftigkeit der Seele ist bedingt und hat wenn auch nicht am Nus, der sie umschließt, sondern an sich selbst eine Grenze, durch die sie sich von vollkommener Vernünftigkeit unterscheidet. Während nämlich vom Nus die Differenz, die er in sich trägt, gänzlich integriert und zur Einheit gebracht zu werden vermag, solange er sich im unvordenklichen Einen gegründet weiß, verfügt die Seele von sich aus über diese Möglichkeit nicht, die ihr lediglich als vom Nus vermittelte, aber nicht unmittelbar eigen ist. Was die Seele an sich selbst betrifft, so ist es für sie eigentümlich und kennzeichnend, ihre durch den Nus gegebene Vernünftigkeit zu öffnen für eine Differenz, die derart ausdifferenziert ist, dass sie nicht mehr ohne Weiteres und auf gleichsam selbstverständliche Weise zur Vernunft gebracht und mit dem Nus und mittels seiner mit dem Einen vereint werden kann. Diese Aufgeschlossenheit ihrer Einheit für die vielfältige Vielheit des Vielen ist zwar einerseits die Bestimmung der Seele, die ihr Wesen ausmacht, das ihr vom Einen her zukommt und ihr vom Nus zugedacht ist. Aber wie schon der Nus den Grund, den er im Einen hat, in seiner jeden Begriff übersteigenden Unendlichkeit nicht zu fassen vermag, so trägt auch die Seele die Gewähr ihrer Vernünftigkeit nicht in sich und ist versucht, sich wider bessere Einsicht vom Nus und mit ihm vom Einen ab- und dem Vielen dergestalt zuzuwenden, dass es in dessen Mannigfaltigkeit ihre Einheit und mit ihr ihre Vernünftigkeit verliert. Diese seelische Verfehlung erfolgt zwar, wo sie der Fall ist, nicht mit naturhafter Zwangsläufigkeit, aber auch nicht auf eine Weise, die der Verfassung der Seele einfachhin äußerlich ist. Plotin ist letzterer Aspekt um der Möglichkeit willen wichtig, die Verfallenheit ans Sinnliche von Naturfatalität zu unterscheiden und trotz des Verhängnischarakters, der dem Fall der Seele eignet, als seelische Schuld zurechnen zu können. Um Missverständnisse zu vermeiden, ist nachzutragen, dass die Gedanken, die im Nus inbegriffen sind, zwar Ideen, aber keine irrealen oder idealen Gebilde im

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Gegensatz zu realen sind. Die Differenz von Denken und Sein tritt, wenn man so will, unter reinen Nusbedingungen gar nicht erst auf, weil die Vernunft dieser Differenz jenseitig ist bzw. sie in ihrer Einheit umfasst. Die Gedanken, die der Nus denkt, sind reale Gebilde und Wesenheiten von je eigener Art, die zwar körperlos, aber nichtsdestoweniger individuiert sind. Als solche erfüllen sie, ohne Raum einzunehmen und ohne zeitlich befristet zu sein, die übersinnliche Sphäre, um ewig mit dem Einen, dessen Geheimnis sie ehren, vereint zu sein. Mit Sinnlichkeit und mit einer körperlichen Welt wird der von Plotin durchaus als real gedachte Gedankenkosmos erst durch die Seele in Verbindung gebracht, ja man wird sagen müssen, dass nachgerade die Seele selbst das Medium ist, welches den Unterschied von Intelligibilität und Realität hervorbringt, um ihn in sich zu vermitteln. Wie der Nus ist die Seele zwar an sich selbst und unmittelbar erfasst körperlos; als Erzeugnis der Vernunft, die ihrerseits vom Einen erzeugt ist, partizipiert die Seele nach Plotin an der realen Gedankenwelt des Intelligiblen. Aber zugleich eignet ihr ein Hang zum Sensiblen und nicht nur dies: Sensibilität hat zusammen mit Intelligibilität als Grundcharakteristikum der Seele zu gelten, das ihr Wesen ausmacht. Die Seele steht nicht nur in der Mitte, sie ist die Mitte von Denken und sinnlichem Empfinden, welche zu mediatisieren ihre eigentümliche Funktion ist. Als vernunftbegabte Wesenheit ungeteilt und integre Einheit von Denken und sinnlichem Sein, dessen Mannigfaltigkeit sie umfasst und zur Ganzheit bringt, hat die Seele an der Teilbarkeit des Körperlichen insofern Anteil, als sie einen Körper anzunehmen und leibhafte Seele zu sein gewillt ist. Nicht so, als ob der Leib die ihn beseelende Seele körperlich umschlösse; räumlich umschlossen und im Raume, zeitlich befristet und in der Zeit ist der Körper als Körper, nicht aber die Seele als Seele. An sich selbst raum- und zeitlos sowie ungeteilt besteht gleichwohl eine Neigung der Seele, den Körper, den sie beseelt, auf gleichsam leibhafte Weise liebzugewinnen und innigen Anteil zu nehmen an seinem äußeren Geschick. Ihre anteilnehmende Neigung zum geteilten Sein wird der Seele nach Plotin leicht zum Verhängnis. Denn ist aus dem Verhältnis von Seele und Leib erst einmal eine sympathetische Beziehung und eine innige Liaison geworden, bedarf es nur noch eines Schrittes, dass beide ihre Rollen vertauschen und der Leib in Verkehrung des bestimmungsgemäßen Ursprungsverhältnisses die Seele dominiert, die seinen Leiden und Ängsten willig Gehör schenkt, sich aber dadurch um ihre Identität und um ihre Bindung an die Vernunft und an das Eine zu bringen droht. Man mag die Doppelstellung der Seele zu einem Status der Unentschiedenheit zwischen Intelligiblem und Sensiblem erklären. Das ändert nichts an der Tatsache, dass durch sie ein Dreh- und Angelpunkt im plotinischen System markiert ist, an welchem sich alles entscheidet. Indem die Seele die Gedankensphäre intelligibler Wesenheiten und die sinnliche Welt des Körperlichen in sich verbindet, kann ihr Weg sowohl in den Himmel des Einen, der über allen Himmeln ist, als auch in die Unterwelt der Hölle führen, wo kein ewiges Licht leuchtet und alles Seiende in Finsternis vergeht. Wie der Nus ohne Gedanken nicht zu denken ist, die für Plotin intelligible Entitäten von rein vernünftigem Sein sind, so wird man der Weltseele ihrem Wesen

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nach unbeschadet der kosmischen Differenzeinheit, die sie bewirkt, nur in je besonderer Weise inne. Sind die Ideen in ihrer jeweiligen Einzelheit allgemein und Gattungen für sich, so ist es die Art der Seele, realiter nur in Einzelwesen zu wirken, die jeweils einer gemeinsamen Gattung angehören. Was die Menschheitsgattung als die Gattung beseelter Vernunftwesen angeht, so ist nach Plotin jede Menschenseele in ihrer Art singulär und mit anderen Menschenseelen nur unter leibhaften Gesichtspunkten und in sinnlicher Hinsicht vergleichbar. Einer Betrachtung, die auf das Wesen der je und je einzigartigen Menschenseele schaut, hat diese als hervorragendste Gestalt der Weltseele zu gelten, der sie auf mikrokosmische Weise entspricht. Jede Menschenseele ist, obwohl unter leiblichen Aspekten nur ein Teil des Kosmos, je eine Welt im Ganzen. Darin ist es wesentlich begründet, dass Plotin jede Menschenseele mit einem präexistenten Sein vor ihrer Vereinigung mit einem Leib und vor ihrem Eintritt in die körperliche Welt versieht. Man kann darin in vorstellungshafter Form die Einsicht in den aus der körperlichen Welt nicht erklärbaren Ewigkeitswert jeder einzelnen, ihrer Art nach singulären Menschenseele zum Ausdruck gebracht finden. Der zur Welt gekommene und mithin leibhafte Mensch ist freilich stets schon in die Zeit eingetreten und auf räumliche Weise da, so dass es den Anschein haben muss, als sei die Annahme einer Präexistenz seiner Seele nicht mehr als ein Mythos und die fiktive Vorstellung einer Seinsweise, die es nie gab. Dem hält Plotin entgegen, dass mit einer Präexistenz ebenso wie mit einer Postexistenz der einzelnen Menschenseele durchaus zu rechnen ist, wenngleich nicht auf sinnliche, sondern auf transsinnliche Weise. Ein schwieriges Problem der Plotininterpretation liegt in der Frage beschlossen, ob mit einem präexistenten Fall oder gar mit einem Fall rein intelligibler Vernunftwesen zu rechnen bzw. ob bereits das Faktum einer räumlichen Körperwelt und einer Leibhaftigkeit von Seelen als ein Indiz der Tatsächlichkeit eines solchen Falls zu werten sei. Beide Fragen sind weder einfachhin zu bejahen noch einfachhin zu verneinen. Denn einerseits ist der Progress, der vom Einen über den Nus zur Seele und mittels dieser zur Mannigfaltigkeit der sinnlich differenzierten Körperwelt führt, nicht per se abwegig, so dass auch der Eingang der Seele in den sinnlichen Kosmos und die Beseelung leibhaften Seins nicht schon in sich als Abfall gewertet werden kann. Gleichwohl wird man nach Maßgabe Plotins die Abschüssigkeit des Weges vom Einen zur Mannigfaltigkeit der körperlichen Welt, deren Sinneinheit für sinnliche Betrachtung nicht zu erkennen ist, nicht in Abrede stellen können. Die Annahme, dass der Leib die Seele befangen und tendenziell zur Gefangenen macht, ist für Plotin zu selbstverständlich, als dass sie sich ernsthaft bestreiten ließe. Indes würde die Seele nach Plotin sich selbst verkennen, wollte sie ihr leibhaftes Sein als naturhaftes Verhängnis deuten, gegen das nichts auszurichten sei. Ihrer Herkunft und Zukunft eingedenk ist die Seele sowohl verpflichtet als auch in der Lage, ihr leibhaftes Dasein vernünftig und in religiöser Achtung des Einen zu gestalten, von dem alles herkommt und auf das alles hinzielt. Spekulative Psychologie und Psychosomatik

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Das psychosomatische Sein des Menschen ist nach Plotin von primär seelischer und erst sekundär körperlicher Art. Daher ist die menschliche Seele nach seinem Urteil keineswegs gezwungen, körperliche Lust und körperliches Leid des Leibes, den sie beseelt, vorbehaltlos und ohne kritischen Einspruch zu teilen. Psychische Leidteilhabe gegebenenfalls zu versagen, steht nach Plotin durchaus in der Freiheit des Willens der Seele. Ist die Seele doch ihrem Wesen nach Tätigkeit und dazu bestimmt, sich der körperlichen Lust und des körperlichen Leides tätig anzunehmen, statt sich passiv in das Leibgeschick zu ergeben. Eine Seele, die sich ihres bestimmungsgemäßen Wesens und ihrer Beziehung zum Nus und zum Einen eingedenk der Lust und des Leids des von ihr beseelten Körpers annimmt, wird dessen Leid bis hin zum Tod zum erträglichen Übel und dessen Lust zu einer Glückseligkeit gestalten, die sich von bloßem Sinnengenuss grundsätzlich unterscheidet. Dass die Seele dazu prinzipiell in der Lage ist, bestätigt sich Plotin nicht zuletzt in erkenntnistheoretischer Hinsicht. Es ist nach seinem Urteil keineswegs so, vielmehr eine irrige Annahme, dass die Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung unmittelbare Eindrücke in der Seele hinterlassen. Folgt sie der Vernünftigkeit, die der Nus ihr gewährt, wird sich die Seele vom Sinnlichen nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar und unter Wahrung ihres aktiven Vermögens beeindrucken lassen. Indem sie die von der äußeren Gegenstandswelt sinnlich bewirkten Körperwahrnehmungen tätig bearbeitet, um ihrer wahrhaft inne zu werden, macht sie Erfahrungen in durchaus aktiver Weise und nimmt keineswegs nur passiv Eindrücke hin. Das Gedächtnis als seelenspezifisches Erinnerungsvermögen kommt ihr dabei ebenso zu Hilfe wie die ihr eigene Einbildungskraft, die Zukunftsphantasien genug zu entwickeln vermag, um nicht hoffnungslos in gegenwärtigem Ungemach zu vergehen. Ihre mit Herkunftsanamnese vereinte EinbilIdealismus und Materiadungskraft in Bezug auf Künftiges vermag der lismus Menschenseele nach Plotin auch unter körperlichen Daseinsbedingungen übelster Art die begründete Aussicht auf ihre Rückkehr aus der sinnlichen in die übersinnliche Welt zu eröffnen, aus der sie herstammt. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass sich die Seele von der körperlichen Welt nicht dergestalt vereinnahmen lässt, dass sie herabsinkt in die Niederungen des Seins, um schließlich aller Vernunft bar sich selbst zu verfehlen und dem Nichts anheimzufallen, dessen völligem Seinsmangel innezuwerden die Seele aufs äußerste betrüben und quälen muss. Bleibt zu fragen, welches Motiv nach Plotin vom Einen und vom Nus abführt und die Unterscheidung von Intelligiblem und Sinnlichem für die Menschenseele zum Gegensatz werden lässt, um sie von ihrer übersinnlichen Bestimmung abzulenken und hinabzudrücken ins Vernunftlose, ja Vernunftwidrige. Plotin verweist hierzu auf die Materie. Doch ist dieser Hinweis erklärungsbedürftig. Materie ist nach Plotin kein spezifischer Stoff, auch kein stoffliches Substrat alles Körperlichen im Sinne einer bestimmten Masse, sondern eine Stoffmasse von völliger Unbestimmtheit und sonach nichts als bloße Leere. Alles Seiende ist durch die Negation der Nichtigkeit dieser Leere bestimmt.

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Sofern sich die Menschenseele an das Eine und an den Nus hält und sich nicht vom horror vacui erfassen lässt, vermag sie nicht nur in dem von ihr beseelten Leib, sondern auch in beseelten Tierkörpern, in Pflanzenarten, ja in der gesamten organischen und anorganischen Natur Sinngebilde zu entdecken, um von den himmlischen Gestirnen und ihrer erhebenden Anschauung zu schweigen. Gerät die Menschenseele indes in den Sog des Nichtigen, der vom vernunftlosen Sein des bloß Sinnlichen, zuletzt von der Materie in ihrer geistlosen, ja geisttötenden Formlosigkeit ausgeht, und gibt sie sich diesem Sog hin, dann droht ihr der Untergang. Noch einmal: Was hat man sich unter der plotinischen Materie vorzustellen und zu denken? Die Antwort kann nur lauten: ein Derivat unbestimmter Differenz und sonst nichts. Der Materie eignet kein eigenes Sein und der Schein der Macht, mit der sie ihre Nichtigkeit umhüllt, wächst ihr nur in Verbindung mit dem Seienden, näherhin mit demjenigen Seienden zu, das seiner fühlend inne, zum Bewusstsein des Seienden und, wie im Falle des Menschen, zum Bewusstsein seiner selbst zu gelangen vermag. Das Nichts, das die Materie ist, ist eine seinsrelative Größe, und am ehesten mit der Finsternis zu vergleichen, welche das Auge sieht, wenn ihm jedwedes Licht abgeht und alles bestimmt Seiende als in Dunkelheit versunken erscheint. Es liegt in der Logik dieses Vergleichs, die Materie nicht nur mit dem Nichts, sondern auch mit dem Bösen zu assoziieren, wie das bei Plotin der Fall ist. Die Materie ist nach seinem Urteil das Urböse, von dem sich alle Bosheit herleitet. Doch gilt auch hier, dass die Materie an sich selbst keine Macht hat, sondern nichts ist als leer, nichtig und eitel. Diabolische Möglichkeiten gewinnt sie erst im Zusammenhang mit Seiendem, wobei sie im Bereich extrahumaner Entitäten lediglich Übel, unter leibhaften Menschenseelen aber Bosheiten hervorzubringen vermag, die schuldhafter Art sind und schlimmer als alle natürlichen Übel zusammen. Betrachtet man nämlich die natürlichen Übel im Zusammenhang des Weltganzen, so kann nach Plotin durch sie dessen Sinn nicht ernsthaft in Frage gestellt werden. Sinnwidrig im eigentlichen Sinne ist allein die Schuld, in welche sich vernünftige Seelenwesen im nichtigen Sog der Materie verstricken. Die Erhebung des Geistes von den sinnlichen Erscheinungen zur übersinnlichen Welt, auf die Plotins ganze Philosophie abzielt, ist also ein Vorgang mit sittlichen Elementen von konstitutiver Bedeutung. Indes ist es weder die praktische noch auch die theoretische Vernunft, welche der Menschenseele den Weg zum Heil zu weisen vermag. Wiedervereinigung mit dem Einen, von dem alles seinen Ausgang nahm, und Reintegration ins Ganze kann es für die Menschenseele zuletzt nur auf religiöse Weise geben, weil sie dasjenige, was sie ihrer innersten Bestimmung nach erstrebt, nicht nur in der sinnlichen Welt oder in sich selbst, sondern auch in der Vernunft nicht unmittelbar findet. Ruhe erlangt die Seele nach Plotin nur in dem Einen, welches höher ist als alle Vernunft. Ohne die Erleuchtung, welche allein das Eine selbst zu wirken vermag, tappt selbst die Vernunft im Dunkeln. Das letzte Streben plotinischer Philosophie ist daher auf Offenbarung und auf mystische Versenkung in das ewige Licht des Einen ausgerichtet.

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Kommt bereits bei Plotin das philosophische Interesse tendenziell mit dem religiösen Bedürfnis überein, so verstärken sich in seiner Schule die Neigungen, die Philosophie ganz in den Dienst der Religion zu stellen. Schon das Schulhaupt hatte an der Volksfrömmigkeit regen Anteil genommen und sein spekulatives System konstruktiv mit den Traditionsbeständen positiver Religiosität verbunden. Seine Seelenwanderungslehre ist nur ein Beleg hierfür. Indes hat Plotin die Positivität religiöser Überlieferungen nicht einfachhin affirmiert, sondern im Anschluss an die Philosophie Platons, als deren Interpret er sich verstand (vgl. VolkmannSchluck), auf kritische Weise gedanklich anzueignen und zu explizieren gesucht. Selbst seine These einer Vernunfttranszendenz und Unbegreiflichkeit des Einen, das sich nur durch erleuchtende Offenbarung erschließt, ist theoretisch im Sinne rationaler Selbstlimitation ausgewiesen. Direkter und enger wird die Anlehnung an die positiven Bestände der religiösen Überlieferung bei Porphyrios (um 233– 304 n.Chr.), dem bedeutendsten Schüler Plotins, obgleich auch bei ihm das Interesse an einer gedanklichen Reform der Religion keineswegs fehlt. Die Position, die er in religionsphilosophischer Hinsicht einnimmt, lässt sich am ehesten als Zwischenstellung charakterisieren: „He stands at the end of the final creative phase of Greek thought which culminates in Plotinus and at the beginning of that, at times brilliant but relatively unoriginal, period of later Neoplatonism whose main distinction seems to many to have been the sacrifice of genuine Greek rationalism to occult magico-religious practices which were meant to secure the salvation of the soul.“ (Smith, XI) Ausdrücklich affirmiert wird von Porphyrios der überkommene Polytheismus, dessen Kompa- Porphyrios tibilität mit dem neuplatonischen System hervorgehoben wird. In seinen fünfzehn Büchern „Gegen die Christen“, die Theodosius II. 448 öffentlich verbrennen ließ, hat der Schüler Plotins die althergebrachte Volksreligion trotz aller Kritik entschieden verteidigt. Das Werk ist nach Adolf von Harnacks Urteil „unstreitig das umfangreichste und gelehrteste ..., welches im Altertum gegen das Christentum verfaßt worden ist, wenn auch die Gegenschrift des Celsus in mancher Hinsicht bedeutender gewesen zu sein scheint“ (Harnack, 3; vgl. im einzelnen Berchman). Unbeschadet der überragenden Stellung des Einen ist eine Mehrzahl von Göttern oder gottähnlichen Wesen in der übersinnlichen Welt unter neuplatonischen Bedingungen fest anzunehmen. Dass dabei Subordinationsverhältnisse walten, geht aus der Gesamtanlage des Systems folgerichtig hervor. Je weiter die vom Einen anhebende Reihe differenzierter Zeugungen fortschreitet, desto mehr nimmt die vollkommene Einheit und die immaterielle Reinheit himmlischer Größen ab, bis schließlich mit der Inkarnation der Seele die himmlische Welt verlassen und in irdische Niederungen eingetreten wird. Was sein Verhältnis zu Plotin näherhin betrifft, so hat sich Porphyrios vor allem durch den systematischen Ausbau von dessen Lehrgebäude verdient gemacht, wobei der architektonische Grundplan durchweg erhalten blieb. Seine genaue

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Kenntnis der aristotelischen Schriften, insbesondere der logischen Bücher, kam ihm dabei zustatten. Hervorzuheben ist unter seinen Aristoteleskommentaren, denen in der neuplatonischen Schule weitere folgten, vor allem die philosophiegeschichtlich wirksame Einleitung zur Kategorienlehre. Im Übrigen hat Porphyrios die plotinische Lehre vom Nus stärker ausdifferenziert und der Tugendlehre eine klare Ordnung gegeben, indem er zwischen vier Klassen von Tugenden unterschied: Die politischen sind auf bloße Zähmung sinnlicher Affekte angelegt, die reinigenden bezwecken die fortschreitende Abkehr von allem Irdischen, die seelischen dienen der Einübung in reine Vernunfttätigkeit, die zur Gewohnheit zu werden hat, bis schließlich die Tugend der Vernunft in der Einigung mit dem Einen sich erfüllt. Der Prozess differenzierender Ausgestaltung des ploJamblich tinischen Systems setzt sich bei Porphyrios’ Schüler Jamblich (um 250 – 325/6 n.Chr.) fort, dem Gründer der syrischen Schule des Neuplatonismus, dessen „Protreptikos“ für die Vermittlung des Frühwerks von Aristoteles wichtig geworden ist. Der Klasseneinteilung der Tugenden bei Porphyrios, die den Systemweg von unten nach oben abschreitet, korrespondiert bei Jamblich eine Klassifizierung der Systemordnung von oben herab, die zu einer genauen Vermessung der himmlischen Hierarchie führt. War bei Plotin die übersinnliche Welt durch die Trias von Einem, Nus und Seele bestimmt, so duplizierte Jamblich die triadische Ordnung, indem er jedes Glied der Trias dreifach differenzierte, um von dort aus zu immer komplexer werdenden Ausgestaltungen zu gelangen. Es ergibt sich eine breit angelegte Stufenabfolge, die unter Zuhilfenahme mathematischer Elemente pythagoreischer Zahlenspekulation nach dem Muster graduell abnehmender Einheit bei fortschreitender Differenzierung angelegt ist. Damit war Raum geschaffen, um dem gesamten, durch orientalische Kandidatinnen und Kandidaten angereicherten griechisch-römischen Pantheon einen angemessen Ort in der himmlischen Hierarchie zuzuweisen. Engelwesen und andere überirdische Gestalten traten den Göttern und Halbgöttern zur Seite, so dass es an nichts fehlte und alles, was der paganen Volksfrömmigkeit lieb und wert war, seinen angestammten Platz finden konnte. Darauf aber kam es Jamblich an: die Philosophie mit der religiösen Tradition zu vereinen, in welcher er lebte und zu deren Apologeten er sich berufen wusste. Seine eklatante Neigung, jedes Begriffsmoment zu hypostasieren bzw. mit einer spezifischen religiösen Vorstellungsgestalt zu identifizieren, gehört in diesen Zusammenhang. Gewiss war es auch ein genuin spekulatives Interesse, welches Jamblich bewog, die Stufenordnung der übersinnlichen Seinshierarchie immer differenzierter zu gestalten und sich nicht mit der Trias von Einem, Nus und Seele zu begnügen. Doch verbindet sich dieses Interesse sogleich mit dem religiösen Anliegen, den polytheistischen Vorstellungsgehalten ihre philosophische Legitimation zu verschaffen. Beispielhaft studieren lässt sich Jamblichs Denken anhand der seit Marsilio Ficinos Übersetzung (1497) unter dem Titel „De mysteriis“ bekannten Schrift, welche „die Lehren der Offenbarungsliteratur mit

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denen des (Neu-) Platonismus zu verbinden und den theurgischen Riten eine philosophische Begründung zu geben“ (Nasemann, 11) sucht. In der neuplatonischen Schule nach Jamblich setzten sich die bei ihm registrierten Tendenzen Proklos fort, ohne dass es zu nennenswerten Neuerungen gekommen wäre. Man konzentrierte sich auf apologetische Bemühungen um den Erhalt der alten Religion, die man zu restaurieren und namentlich gegen das Christentum zu verteidigen suchte. Das verhinderte nicht, dass es später zu intensiven Verbindungen von Christentum und Neuplatonismus kam. Darauf ist hier nicht einzugehen. Erwähnt sei nurmehr Proklos (411–485 n.Chr.), der als Haupt der athenischen Schule den Neuplatonismus, ja die griechische Philosophie insgesamt zu spekulativer Vollendung gebracht hat. „Platon, Aristoteles, die Stoa, die philosophische und mythologische Überlieferung ... sind durch die systembildende Kraft des proklischen Denkens zu einer fruchtbaren Synthese geworden.“ (Beierwaltes, Proklos, 1) Alles Seiende geht nach Plotin aus dem Einen hervor, das als das absolut Erste noch jenseits der Vernunft und der Idee des Nus steht, der wiederum die Seele als dritte Größe der übersinnlichen Welt zu- und untergeordnet ist. Diesseits der übersinnlichen Trias entfaltet sich die Körperwelt gewissermaßen als Reflex des Jenseitigen in der Materie, die das irdische Sein als abgestuftes Mischgebilde erscheinen lässt, das sich aus einer Gemengelage von Sein und Nichtsein ergibt. Philosophisches Ziel muss es nach Meinung Plotins und seiner neuplatonischen Schüler sein, dem Abgleiten auf der schiefen Ebene in Richtung Nichts Einhalt zu gebieten und den Geist zur Umkehr zu bewegen, damit dem Exitus, der vom Einen zur Materie führt, ein Reditus korrespondiere, der durch fortschreitende Immaterialisierung der Vereinung mit dem Urwesen zustrebt, in der sich der Gesamtprozess vollendet und Gott alles in allem ist. Bei den Schülern Plotins und namentlich bei Jamblich wurde das triadische System durch weitere Dreigliederungen fortentwickelt, ohne dass die Gliederungssystematik und ihre methodische Durchführung bereits als solche zum Gegenstand eingehender Reflexionen gemacht worden wäre. Dies ist bei Proklos der Fall: Er bringt das Prinzip auf den Begriff, nach dem das neuplatonische System konstruiert und organisiert ist; es ist in seiner Gesamtheit nach dem Schema von Insichbleiben, Heraustreten und Rückkehr zu sich geordnet. Im Vergleich zu Plotin ist der Denk- und Sprachhabitus des Proklos daher bei aller Bedeutung, die er – mehr als Plotin – konkret-religiösen Momenten zuschreibt, „primär argumentativ, klassifizierend und systematisierend“ (Beierwaltes, Denken des Einen, 160). Das ursprüngliche Eine tritt in einem differenzierten Prozess aus sich heraus, um auf nicht minder differenziertem Wege in sich zurückzukehren. Als kriteriologische Regel dieses Ordnungsschemas fungiert nach Proklos die dialektische Abfolge von Identität, Differenz und Identität von Identität und Differenz, die sich auf den diversen Stufen des Systems gleich einer ab- bzw. aufsteigenden Spiralbewegung wiederholt. Nach Maßgabe dieser Dialektik und unter Integration aller wesentlichen Fortbestimmungen, die sich in den beiden Jahrhunderten nach Plotin erge-

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ben hatten, ordnete Proklos den Neuplatonismus zu einem System von strengster Folgerichtigkeit. „Das ganze Gebiet der neuplatonischen Ueberlieferungen mit einem regelrecht entworfenen logischen Netz zu umspannen, dieses ganze Chaos zu ordnen, allem einzelnen seine bestimmte Stelle auszumitteln, alle Lücken, die sich hiebei herausstellten, zu ergänzen, alle Widersprüche auszugleichen, dies ist die Aufgabe, welche Proklus sich gestellt, und welche er, so weit sie überhaupt lösbar war, mit ebensoviel logischer Meisterschaft als religiöser Begeisterung gelöst hat.“ (Zeller, III,2,841f.) Als der Scholastiker neuplatonischer Philosophie par excellence hat Proklos diese nicht nur zu einem formellen Abschluss gebracht, sondern in bündiger Form der christlichen Spätantike und mittelalterlichen Wissenschaft vermittelt, wo der Neuplatonismus zu Zeiten neben bzw. im Verein mit dem Aristotelismus Schule machte. Im sechsten Band der Reihe „Studium Systematische Theologie“, der dem altkirchlichen Dogma und seiner Rezeption in der östlichen und westlichen Christenheit gewidmet ist, wird der schulmäßige Zusammenhang von Neuplatonismus und christlicher Theologie vor allem in trinitätstheologischer Perspektive aufzuzeigen sein. Zuvor jedoch ist im fünften Reihenband von Jesus von Nazareth und dem Ursprung des Christentums zu handeln, wie er in der Auferweckung des Gekreuzigten österlich begründet ist, um im Geist wirksam zu werden.

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Register Namensregister (In den Literaturangaben aufgeführte Personennamen werden in der Regel nicht eigens benannt.) Aaron 108, 184 Abraham 70, 91f., 194 Achill 231 Adler, M. 297 Aenesidemus 288, 293 Ahab 98, 101 Ahas 100 Ahasja 98 Aischylos 194, 241 Albert d.Gr. 205 Albinos 296 Alexander d.Gr. 127, 130, 196, 201, 264, 296 Alexander Jannai 169 Alkibiades 224 Alt, A. 122 Ammon 101 Ammonios Sakkas 295, 300 Amos 75, 99, 113, 116, 131, 145f. Anaxagoras 57, 203, 236f. Anaximander 203, 228 Anaximenes 203, 228 Andronikos 294 Anselm von Canterbury 28ff. Antigonus 170 Antiochos von Askalon 295 Antiochus d.G. 166 Antiochus IV. Epiphanes 51, 166f., 175, 177, 186f., 212 Antipatros 169 Antisthenes 245f. Antonius Felix 172 Apelt, O. 248 Aphrodite-Venus 200 Apoll 197 Apollonius von Tyana 198, 229 Apuleius 296 Archelaos 171 Ares-Mars 200 Aristipp 245ff. Aristobulos (Hasmonäer) 169 Aristobulos (Philosoph) 194, 297

Aristophanes 214, 220, 222 Aristoteles 57f., 60, 203ff., 210, 219, 227, 237f., 260, 262ff., 280, 292, 294, 300, 310f. Arkesilaos 280, 288, 295 Artaxerxes II. Mnemon 126 Artemis-Diana 200 Asarja 174 Aschera 96, 101f. Asklepios 221 Asmis, E. 289 Assmann, J. 75ff., 96 Astarte 115 Athanasius 43 Athene 214 Attis 198 Augustin 20, 33, 204 Augustus 170, 201 Baal 96, 99, 101f., 115 Bacchus 200 Bar Kochba 188 Barth, K. 26, 30, Baruch ben Neria 166, 177 Basilides 207 Basilius d.Gr. 43 Begrich, J. 156 Belial 184 Belsazar 175 Berchman, R.M. 309 Beutler, R. 301 Bildad 150 Boccaccini, G. 195 Bonhoeffer, D. 24 Bordt, M. 248 Braun, L. 57 Brucker, J.J. 225 Brunschwig, J. 292 Brutus 170 Buchheim, T. 227, 239, 264 Burckhardt, J. 55 Burnet, J. 248

314 Caesar 170 Chrysipp 281 Cicero 207, 225, 278, 281, 288, 294f. Clemens von Alexandrien 204 Cohn, L. 297 Crüsemann, F. 139ff. Daniel 175, 177 Darius I. 107 David 90, 92, 96ff., 104, 106 De Wette, W.M.L. 74, 104, 135, 137 Deines, R. 186 Demeter-Ceres 200 Demokrit 57, 234f., 289 Descartes, R. 33 Deuterojesaja 107, 113f., 116, 145 Diels, H. 227 Dilthey, W. 59 Diogenes Laertius 220, 289 Diogenes von Apollonia 228 Diogenes von Sinope 246 Dionysos 198 Donner, H. 102 Droysen, J.G. 55, 196f., 209f. Drusilla 172 Duhm, B. 117f. Echnaton 78ff. Elia 98, 118, 177 Elisa 98, 118 Empedokles 57, 203, 234, 236 Emsbach, M. 238 Epiktet 207, 281, 296 Epikur 206, 280, 289ff. Esra 108, 164f., 177, 187 Euklid 245, 248 Euripides 241f. Ewald, H. 75, 117, 144 Ezechiel 113, 116, 145, 174 Ficino, M. 310 Fohrer, G. 121f. Gabinius 170 Gadamer, H.-G. 14, 59, 227 Gaios 296 Geyer, C.-F. 56 Gigon, O. 227 Glaukon 241 Goethe, J.W. v. 132f., 135, 259 Gorgias 238, 249 Graetz, H. 187 Graf, F.W. 85

Register Graf, K.H. 72ff. Gregor von Nazianz 43 Gregor von Nyssa 43 Greßmann, H. 87 Gunkel, H. 120, 156f. Habakuk 16, 119, 146 Hadrian 172, 188 Hager, F.-P. 264 Haggai 107, 116, 119, 146 Hamann, J.G. 14 Harder, R. 301 Harnack, A. v. 309 Hasmon 167 Hegel, G.W.F. 9, 12, 15, 34f., 39ff., 43, 55, 57ff., 73, 142, 222ff., 256 Heidegger, M. 14 Heine, H. 69 Heinemann, I. 297 Hengel, M. 210, 212 Henoch 174 Henry, P. 300 Hephaistos-Vulcanus 200 Hera-Juno 200 Heraklit 57, 203, 226, 232ff., 236 Herder, J.G. 14 Hermes-Merkur 200 Herodes Agrippa I. 171f. Herodes Agrippa II. 172 Herodes Antipas 171 Herodes d.Gr. 169ff., 175 Hesiod 214, 226f. Hillel 186 Hiob 149ff., 164 Hirsch, E. 224 Hirsch-Luipold, R. 296 Hiskia 101 Höffe, O. 264 Hölscher, G. 117f. Homer 200, 214, 226 Hosea 99, 110, 113, 116, 131, 145f. Hösle, V. 57 Hülser, K. 282 Hyrkanos I. 169 Hyrkanos II. 169f. Isaak 70, 91f. Isis 198 Jaeger, W. 227 Jakob 70, 91f., 175 Jakobus 171 Jamblich 310f.

Namensregister Janowski, B. 87 Jehu 99 Jeremia 106, 113, 116, 118, 131f., 144f. Jerobeam I. 98 Jerobeam II. 99 Jesaja 99f., 105, 113f., 116, 131 Jesus Sirach 153, 161, 193f. Joel 146 Johannes der Täufer 171, 181 Jojachin 103, 106 Jonathan 168f., 183 Joram 98 Josephus 165, 167, 182, 213 Josia 66, 101f., 104ff. Josua 91ff. Judas Makkabäus 167f. Justin 207 Justinian 280 Kähler, M. 156 Kaiphas 179 Kaiser, O. 87, 144 Kambyses 107 Kant, I. 8, 14, 31ff., 39, 205 Karneades 280, 288, 295 Keel, O. 94f. Kierkegaard, S. 221ff. Kleanthes 281 Kleisthenes 214 Kohelet 149, 154, 164 Kranz, W. 227 Kraus, H.-J. 157 Kriton 221, 249 Kuenen, A. 73f. Kutschera, F. v. 248 Kybele 198 Kyros II. 107, 109, 125, 175 Leibniz, G.W. 33 Lemke, D. 289 Lentulus Marcellinus 170 Leonidas 214 Leukipp 57, 203, 235f. Liebeschütz, H. 55 Long, A. 292 Lücke, F. 37f., 176 Luther, M. 20ff., 37, 148, 190 Marcus Aemilius Scaurus 170 Maier, C. 138 Maleachi 117 Manasse 101 Mani 255

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Mann, T. 85 Marc Aurel 281, 296 Marcus Antonius 170 Mattatias 167 Meier, C. 213 Melissos 57, 232 Meyer, E. 55 Micha 99, 113, 116, 118, 145f. Mithras 198 Mithridates 169 Moraux, P. 264 Mose 62, 65ff., 70, 76ff., 92f., 164f., 190, 194 Mowinckel, S. 157 Nabonid 107 Nahum 116, 146 Nebukadnezar II. 103, 106f., 175 Necho II. 104 Nehemia 108, 187 Niehues-Pröbsting, H. 246 Nietzsche, F. 63f., 226 Nitzsch, C.I. 42f. Noth, M. 66, 76, 89, 109 Obadja 116, 146 Omri 98f. Origenes 204 Panaitios 281 Panaitios 294 Pannenberg, W. 15ff. Paris 247 Parmenides 57, 203, 230ff., 236, 249, 264 Paulus 55, 78, 172, 189, 191, 206, 211 Peisistratos 214 Perikles 214f., 241f. Perlitt, L. 73 Petrus 190 Phaidon 245f., 249 Phidias 214 Philippos 171 Philo von Alexandrien 182, 194, 207, 213, 226, 296ff. Philo von Larissa 295 Philostrat 198 Platon 33, 57f., 60, 194, 203ff., 215f., 218ff., 230, 237ff., 241f., 245, 248ff., 268, 275, 280, 289, 292, 295, 300, 309, 311 Plinius d.Ä. 182f. Plotin 55, 58, 204, 295, 300ff. Plutarch 296 Pohlenz, M. 281 Pompeius 169f., 281, 294

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Register

Pontius Pilatus 171 Porcius Festus 172 Porphyrios 300f., 309f. Poseidon 200 Poseidonios 281, 294f. Pritchard, J.B. 87 Proklos 55, 311f. Protagoras 238, 249 Pyrrhon von Elis 288f. Pythagoras 194, 229 Pythia 197 Quintilius Varus 171 Rad, G. v. 122, 162 Randall, J.H. 264 Ranke, L. 55 Rehabeam 98 Reinhold, C.L. 293 Reiter, S. 297 Rendtorff, T. 18f. Reuss, E. 72ff. Sacharja 107, 116, 119, 146 Salmanassar V. 100, 104 Salomo 90, 96ff., 104, 146, 149, 155 Sanherib 100 Sargon II. 100 Saul 92, 96 Schammai 186 Schiller, F. 79 Schleiermacher, F.D.E. 9, 35ff., 39, 41ff., 218f., 248 Schlette, H.R. 302 Schulze, G.E. 293 Schwyzer, R. 300 Sedley, D. 292 Seneca 281, 287, 296 Sextus Empiricus 293 Simon 169 Snell, B. 56f., 226 Sokrates 57, 194, 203, 210, 215ff., 234, 239, 241ff., 251, 299f. Solon 214 Sophokles 241 Speusipp 280, 295 Spinoza 33 Stemmer, P. 248 Sticher, C. 158 Strauß, D. F. 72 Tacitus 172 Tatian 207

Taylor, A.E. 248 Tertullian 52f. Thales 57, 203, 226ff., 230 Theiler, W. 297, 301 Themistokles 214 Theodor (Kyrenaiker) 247 Theodosius II. 309 Theophrast 227, 265, 280 Thomas von Aquin 27f., 204 Thukydides 242 Tiglatpilesar III. 100, 104 Tigranes 169 Tillich, P. 23ff. Titus 51 Trajan 188 Treitschke, H. v. 55 Twesten, A. 42 Ueberweg, F. 56 Uehlinger, C. 94f. Valentinus, 207 Van der Waerden, B.L. 229 Vatke, K.W. 41, 72f., 142f. Voegelin, E. 226 Volkmann-Schluck, K.-H. 309 Weber, M. 55, 173 Weiser, A. 157 Weizsäcker, C.F. v. 264 Wellhausen, J. 63, 65, 69ff., 82, 86, 117, 122, 127ff., 134ff., 143f., 186, 189f. Wendland, P. 297 Westermann, C. 120 Wieland, W. 248 Wilamowitz-Moellendorff, U. v. 216, 248 Wilhelm, G. 87 Windelband, W. 59 Wolff, Chr. 33 Wundt, W. 118 Xanthippe 220 Xenokrates 280, 295 Xenophanes 57, 203, 226, 230, 233 Xenophon 218ff., 241f. Zedekia 103, 106 Zeller, E. 41, 56, 59 Zenon 57, 231f., 281 Zephanja 116, 118, 146 Zerubbabel 107 Zeus-Jupiter 200

Sachregister

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Sachregister Abendmahl 199 Absolutes 10ff., 25, 29, 34f., 223, 276, 301 Akademie siehe Platon Alexandria 296f. Altes Testament 64ff., 72f., 130ff. Anthropologie siehe Mensch Apathie siehe auch Gemütsruhe 285 Apokalyptik, apokalyptische Literatur 123, 162ff., 172ff., 176f., 187 – 4. Esrabuch 164ff., 172 – Danielbuch 174f. – Henochliteratur 172f. Assyrien 100f. Ataraxie siehe auch Gemütsruhe 285f., 291 Atom 234f., 289 – Atomisten 234ff. Baalsreligion, kanaanäische 98f., 101f. Begriff, Begriffswissenschaft 29f., 32, 217, 244, 251, 273, 277, 289 Bewegung 27, 232, 266f., 279 Bewusstsein siehe auch Selbstbewusstsein 243, 252f., 284, 290 Beschneidung 108 Bilderfeindlichkeit, Bilderverbot 81, 83, 95 Bilderverehrung 79f. Böses 158f., 245, 254, 286, 308 Bund 62, 67, 110f. Bundesbuch 67f., 139f. Chassidim 188, 212 Christentum 49, 53ff., 63, 198, 202, 206, 211ff., 311 Chronikbücher 138 creatio ex nihilo siehe auch Schöpfung 255 Dekalog siehe Gebot Denken siehe auch Sein und Denken 8, 29f., 239, 245, 255ff., 302ff. Determiniertheit/ Determinismus 282ff. Deuteronomium 66f., 105f., 137f., 140 – Deuteronomismus 66, 114 – deuteronomistisches Geschichtswerk 66, 118, 138 Diadochen 197 Dialektik 217, 262, 311 Diaspora, jüdische 190ff., 213 Differenz/ Differenziertheit 229, 234ff., 274, 283, 298, 302f., 311 Doketismus 208 Dualismus 208

Eines 10, 12, 301ff., 308f. Einheit 229, 231f., 236, 298, 302ff., 311 Eklektizismus, philosophischer 293f. Eleaten 230f. Elemente, vier 234 Endliches, Endlichkeit 10, 12, 25, 35 Engelfall, Engelsturz 172, 174 Epikureismus 58, 207, 289ff., 294 Erinnerung 269f. Erkenntnis 238, 245, 282, 288f. Erscheinung, Erscheinungsgestalt 58, 265, 278 Erwählung 62, 110f. Erzvätergeschichten 90f. Eschatologie, eschatologisch 153ff., 163, 177f., 187 Essener 182ff. Essenz, essenziell siehe auch Wesen 274, 278 Ethik 37, 122, 219, 252, 271, 281, 284f., 287, 290 Exil 82, 96, 103ff., 109ff., 133f., 164 Exodus 76, 79, 91, 96 Festkalender 128 Filioque 47 Form 253, 265f., 269, 274f., 277 Freiheit 272, 283 Gebot siehe auch Gesetz 62, 133 – Doppelgebot der Liebe 67, 141 – erstes Gebot 20f. – Zehn Gebote 62, 67, 134 Gefühl 43, 268, 287 – Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit 36, 38f. Geist 35, 57, 215, 237, 301ff. Gemütsruhe 284f., 287, 289, 291f. Gerechter, Frommer 151, 155, 158, 163 Gerechtigkeit siehe Gerechtigkeit Gottes Gericht 177f. Geschichte 13f., 50f., 59, 64, 87, 162f., 176ff. – Geschichte Athens 213ff., 241f. – Geschichte Israels 62f. 70ff., 86ff., 103, 165ff. – griechische Geschichte 213ff. Gesetz siehe auch Tora 84f., 126f., 158, – Gesetz und Propheten 122f., – Heilsbedeutung des Gesetzes 193 Glaube 19ff., 29 – Glaubensgewissheit 11, 22 Gleichmut siehe Gemütsruhe Gnostizismus/ Gnosis 207f.

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Register

Gott – Einheit/ Einzigkeit Gottes 23f., 28, 81, 104, 230 – Existenz Gottes 30, 32, 35 – Gerechtigkeit Gottes 62f., 81ff., 122f., 138, 140ff., 150ff., 159, 162, 164, 178 – Gott Israels 48f., 62, 80, 110ff. – Gottes Freiheit 44, 110f. – Gottesbegriff, Gottesgedanke, Gottesbewusstsein, Gottesidee 8, 16ff., 24f., 27ff., 32ff., 36ff., 39, 61, 203, 275, 279, 283, 297ff. – Möglichkeit und Wirklichkeit Gottes 33 – Rede von Gott 18f. – Reich Gottes 177ff., 208f. – Selbsterschließung, Selbsterweis Gottes siehe Offenbarung – Schöpfergott 21ff. Götter, griechische/römische 200f., 216, 310 Gottesberg, Berg Sinai 91f. Gottesbeweise 25ff., 34f. – fünf Wege des Thomas 27ff. – kosmologisches Argument 25, 31 – Kritik an den Gottesbeweisen 31ff. – ontologisches Argument 25, 32ff. – physikoteleologisches Argument 31 – ratio Anselmi 28ff. Gottesfürchtige 192 Gotteslehre, allgemeine 50 Gottheiten 93ff., 309f. Göttliches, Göttlichkeit, Gottheit 206, 245, 260, 267, 299, 302 Götze 21, 23 Gutes 20, 35, 219, 251f., 271f., 291, 299 – höchstes Gut 20, 25, 286, 290, 300 Haggada 186 Halacha 186 Hasmonäer 169f. Heidentum siehe Volksglaube, paganer Heil 208 – Heilsgeschichte 205 Hellenismus, hellenistisch 55, 193f., 196f., 209f., 212f., 292, 297 – Hellenisierung 166, 212 Herrscherkult 201f. Hierokratie 129f. Historie siehe Geschichte Hohepriester 129, 184 Höhlengleichnis 240f., 248 Ideales/ Idealität 256, 262 Idee 9, 58, 204, 215, 219, 251ff., 258ff., 265, 300

– Idee des Guten 204, 216, 219, 223, 243ff., 248f., 251f., 255f., 272 – Ideenlehre 249, 257, 262, 300 Idolatrie 79f Immanenz, immanent 206, 283 Individualität, Individuum 215, 290, 292 Inkarnationsgedanke 205 Ironie 220ff. Israel 62f., 78, 84, 86, 107ff., 126 – Israel und Ägypten 76ff. – Staatlichkeit Israels 90, 92, 104, 110 – Stämme Israels 89f. – Volk Israel 62, 88ff., 110f., 126 Josianisches Reformwerk 105f., 140 Judentum 48, 54f., 61ff., 73f., 84, 192f., 212f., 297 Jüngstes Gericht 154, 162 Kanaan 98 Kanonisierung 123, 126, 131f., 139 Kaiserkult siehe Herrscherkult Kategorienlehre, Kategorie 273, 278 Königtum Israels 75, 92, 96ff., 104 Kontingenz 27, 30 Körper, Körperlichkeit 28, 208, 260f., 265ff., 270, 282f., 291, 305ff. Kosmos/ Kosmologie 217, 236, 255, 281ff., 306 Kosmotheismus 79ff. Kreuz 211f. Kult 41, 107f., 127f., 130, 140, 193 – Kulteinheit 128, 140 – Kultgemeinschaft 107f. – Kultreinheit 105 – Kultzentralisation 105f. Kynismus/ Kyniker 207, 246 Kyrenaiker 246f. Kyrosedikt 107, 109 Landnahme 88f. Leviten 108, 129, 184 Leib siehe Körper Liniengleichnis 257f. Logos 206, 226, 281ff., 298f. Lust 246f., 269, 287, 290ff., 307 Makkabäer 166ff., 213 Manichäismus 255 Mantik 118 Materie 253ff., 266, 274f., 277, 279, 282f., 307f. Mensch – Lehre vom Menschen 9, 17, 215, 217, 281

Sachregister – Sein des Menschen 21, 25f., 208, 217, 244, 259f., 269f., 284, 286f., 290 Menschensohn 174 Messias 177ff. Metaphysik 9f., 12, 15f., 37, 39, 202, 262, 272, 277f. Methode, historisch-kritische 64 Midrasch 186 Mischna 186 Mittelweg 272 Möglichkeit 27, 266, 274, 279 Monotheismus – jüdischer Monotheismus 61ff., 75, 80ff., 93, 96f., 112, 114f., 142ff., 190ff. – Monotheismus der Philosophie 12, 38f. Mosaische Unterscheidung 76, 81ff., 96 Mose, historischer 76f. Mysterienkulte 198f. Mythologie, Mythos 56, 226 Natur 13f., 56, 227, 244, 253, 266, 284ff., 289, 299 Neuplatonismus 55, 58, 205, 295f., 299f., 309ff. Nichts, Nichtiges 222f., 230f., 235f., 274, 307f. Notwendigkeit 27, 31, 33f. Nus siehe Geist Objekt, Objektivität 22, 217, 238 Offenbarung, Selbsterschließung Gottes 10ff., 22, 26, 40ff., 62, 298, 300 Ontologie siehe Sein Opfer 108, 128, 184, 199 – Kreuzesopfer 199 – Sühnopfer 128 – Opferkult 127, 170, 183, 193, 199 Ostern 12 Pantheismus 283 Pentateuch 65f., 70, 74, 133, 139, 141 – Pentateuchforschung 74, 134ff. Peripatetiker siehe Aristoteles Perser 107ff., 125 Pharisäer 171, 186ff. Philosophie 10, 13, 15ff., 37, 39ff., 204, 216f., 219, 236, 279 – alexandrinische Philosophie 296 – Anfänge der Philosophie 226f. – griechische Philosophie 48, 56f., 194, 202ff., 215, 279f., 293, 297, 299 – Naturphilosophie 56, 216, 227f., 231f., 236 – Philosophiegeschichte 14, 56ff. Physik 252f., 265f., 281, 289 Platonismus 204f., 206f., 295f.

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Polytheismus 80ff., 93ff., 97, 115, 143, 200, 216, 309 Priester 108, 129f., 173, 184f., 187 Priesterschrift 65f., 135ff., 140 Propheten/Prophetie 99, 113f., 116ff., 144, 164, 173f. – Heilsprophetie 113, 119, 145 – Kultprophetie 119 – Prophetenbücher 124 – prophetische Rede 120f., 145 – Schriftpropheten 119 – Unheilsprophetie 113, 119, 123, 145 – Zwölfprophetenbuch 146 Proselyten 191 Psalmen 156ff. Pythagoreismus 228ff. Qumran 180ff. – Qumrangemeinschaft 182ff. – Qumrantexte 180ff. Raum, Räumlichkeit 266, 273 Reinheit 187f. Religion 8ff., 17, 23, 36f., 40f., 287, 300f., 309f. – griechische Religion 56, 216 – Jahwereligion 101 – Religion und Philosophie 41 – Religion und Vernunft 36ff. – religiöses Selbstbewusstsein 42 – religiöse Vorstellung 40 Religionsgeschichte, jüdische 50f., 61ff., 73, 75ff., 83, 93ff., 115 Römer 170ff. Sabbat 108, 128 Sadduzäer 186f. Samaritanisches Schisma 127 Schmerz 290f., 307 Schöpfung 12, 21, 151ff., 255, 260 – Geschöpf, Geschöpflichkeit 20f., 205, 260f. – Schöpfer 20f., 205 Schriftgelehrte, Schriftgelehrsamkeit 127, 185, 187 Schuld 85, 122, 285, 304, 308 Schuldhaftung, kollektive und individuelle 148, 151 Seele 205, 233, 250, 259ff., 266, 268, 270, 275f., 284, 291, 303ff. – Leib und Seele 205, 270 – Unsterblichkeit der Seele 155, 260 Seelenruhe siehe Gemütsruhe Sein, Seiendes 35, 229ff., 245, 272ff., 307f. – Sein-Selbst 24,

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– Sein und Denken 33f., 57, 279, 26, 305 – Sein und Sollen 35 Selbstbewusstsein, Selbsterkenntnis 9, 217, 243, 252f., 269f., 284 – frommes, religiöses Selbstbewusstsein 38, 42 Seleukiden 166ff. Sinne, Sinnliches 255ff., 259, 269, 282, 289ff., 305 Skepsis 237, 288, 294 Sokratische Wende 216 Sonnengleichnis 248f. Sophistik 216f., 238f., 243 Sprache 14, 282 Stoa, Stoizismus 58, 194, 206f., 281ff., 294 Stoff, Stofflichkeit 228, 267, 269, 274, 277 Stufung 28, 205 Subjekt, Subjektivität 9, 22, 217, 278, 294 Substanz 273, 278 Sühne 140f. Sünde 21, 81f., 83f., 155f., 174 Synagoge 188f., 192 Synkretismus 197, 209 Syrisch-ephraimitischer Krieg 100 Syropalästinische Landbrücke 88 Talmud 186 Taufe – Johannestaufe 181 Tempel 97, 101f., 106f., 119, 126ff., 167f., 171f., 183 Theodizeefrage 163 Theokratie 126, 129 Theologie 9f., 15ff., 24, 37, 202ff., 279 – Gegenstand der Theologie 23f. – natürliche Theologie 25f., 50 – Offenbarungstheologie 26 – Theologie als Wissenschaft 60f. – Theologiebegriff 60 Tod 154f., 220f., 287 – Tod des Sokrates 216, 218, 220f. – Totenauferstehung 154, 178 Tora siehe auch Gesetz – Tora als Schriftensammlung 64ff., 70, 134, 139f., 158 – Tora als Weisung 70, 108, 111, 178, 182f., 185ff., 191, 194, 212f. Transzendenz 10, 18, 39, 81, 95, 206, 260, 298, 301

Trinität, Trinitätslehre 40ff., 46ff. Tropen, zehn 288 Tugend 244, 271f., 275, 286, 291 Tun-Ergehens-Zusammenhang 51, 147ff., 158f., 161, 163f., 174, 177 Übel 153, 174, 267, 286, 290, 308 Unendliches 9, 12, 25 Universale, anthropologisches 20, 26, 36 Unsterblichkeit siehe auch Unsterblichkeit der Seele 155, 205, 270f., 275 Urfeuer 233 Urgrund 229 Ursache 27, 31, 266, 278 Urstoff 227f., 234, 253 Veränderung 233, 266 Vernunft 13f., 244f., 261, 300ff. – tätige Menschenvernunft 205, 271f., 275 – Vernunft und Religion/ Glaube 8, 15, 29, 40 Vielheit 230ff. Volksglaube, paganer 197f., 309f. Vorsokratik, Vorsokratiker 203, 225ff. Weisheit 160f. Weisheitsliteratur 146f., 149ff., 161ff., 174 – Hiob 149ff. – Jesus Sirach 153f. – Kohelet 149 – Weisheit Salomos 154f. Welt 9f., 23, 79, 206, 267f., 283ff., 306 – Erscheinungswelt 263 – Gesetz der Welt/ des Weltlogos 285 – intelligible und sensible Welt 258ff. Werden 233f., 268, 274 Wesen 58, 216f., 230, 265, 273, 278 Wille 271f., 290, 307 Wirklichkeit 206, 266, 274 Wissen 243f., 252, 262 – Nichtwissen 243 Wissenschaft 36, 217, 257f., 271, 277f., 299 Zahl 229f. Zeit, Zeitlichkeit 266, 273 Zerstörung Jerusalems 106, 123 Zweck 28, 31, 35, 265ff., 285