Globalgeschichte 1800-2010
 9783205790846, 9783205785859

Citation preview

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 1

22.09.2010 07:49:54

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 2

22.09.2010 07:49:54

Reinhard Sieder · Ernst Langthaler (Hg.)

Globalgeschichte 1800–2010

b ö h l a u v e r l ag w i e n

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 3

·

köln

·

we i mar

22.09.2010 07:49:54

Gedruckt mit Unterstützung durch  :

Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien

MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http  ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78585-9 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2010 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http  ://www.boehlau.at http  ://www.boehlau.de Umschlaggestaltung: Judith Mullan Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck  : Balto print, Litauen

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 4

22.09.2010 07:49:54

Inhalt

Einleitung: Was heißt Globalgeschichte?

Reinhard Sieder · Ernst Langthaler 9 Kapitel 1 Gesellschaftliche Naturverhältnisse: Globale Transformationen der Energie- und Materialflüsse

Fridolin Krausmann · Marina Fischer-Kowalski 39 Kapitel 2 Demografie: Der Große Übergang

Albert F. Reiterer 69 Kapitel 3 Globale Migrationen Albert Kraler 97 Kapitel 4 Landwirtschaft vor und in der Globalisierung

Ernst Langthaler 135 Kapitel 5 Wirtschaft: Wachstum und Struktur

Gerd Hardach 171 Kapitel 6 Internationale Arbeitsteilung

Gerd Hardach 191 

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 5

22.09.2010 07:49:54

Inhalt

Kapitel 7 Internationale Politik

Ulrich Brand 213 Kapitel 8 Arbeitsverhältnisse: Weltumspannende Kombination und ungleiche Entwicklung

Andrea Komlosy 261 Kapitel 9 Haus und Familie: Regime der Reproduktion in Lateinamerika, China und Europa

Reinhard Sieder 285 Kapitel 10 Geschlechterpolitik: Österreich und die USA im Vergleich

Maria Mesner 343 Kapitel 11 Die Entstehung der Konsumgesellschaft

Manuel Schramm 367 Kapitel 12 Jugend und Jugendkulturen

Rosa Reitsamer 389 Kapitel 13 Erziehungswesen: Schule, Berufsausbildung, Universität

Lorenz Lassnigg 411



978-3-205-78585-9_Sieder.indd 6

22.09.2010 07:49:54

Inhalt

Kapitel 14 Kommunikationsmedien und Gesellschaft

Jörg Requate 439 Kapitel 15 Verkehrsrevolutionen

Ralf Roth 471 Kapitel 16 Religionen: Die Wiedergeburt des Religiösen im globalen Austausch

Gerald Faschingeder 503 Kapitel 17 Revolutionen: Welten auf den Kopf gestellt

David Mayer 529 Kapitel 18 Krieg und Militär: Die „große Divergenz“ und ihre Schließung

Thomas Kolnberger 557

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 585



978-3-205-78585-9_Sieder.indd 7

22.09.2010 07:49:54

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 8

22.09.2010 07:49:54

Einleitung

Was heißt Globalgeschichte  ? Reinhard Sieder · Ernst Langthaler

Einige Begriffsverwirrung besteht derzeit um „Globalgeschichte“, „Weltgeschichte“, „Transnationale Geschichte“, „Histoire croisée“, „Makrogeschichte“ und „Universalgeschichte“. Nach den bisher geführten Debatten und Definitionsversuchen1 liegen die in mehreren Weltsprachen gängigen Labels Weltgeschichte (World History, Historia del Mundo) und Globalgeschichte (Global History, Historia Global) sehr nahe aneinander  ; einige Autoren und Autorinnen betrachten diese beiden Labels sogar als Synonyme.2 Der Konstanzer Historiker Jürgen Osterhammel hingegen umschreibt feine Unterschiede. “World History is a de-centred, and certainly non-eurocentric, perspective, detached, as far as possible, from the concrete circumstances and the national identity of the observer, on the varieties of social and cultural life across time and space, focussing on distinct features of macro-units such as ‘civilizations’, ‘empires’ or ‘nation-states,’ on identities within such units, on special paths and trajectories and on particular ways of problem-solving in response to ecological and economic challenges. World History considers interaction between peoples, but does not privilege it at the expense of internal developments. It only deserves its name when it is more than a mere addition of regional histories. In other words  : World History is meaningless without some kind of comparative approach.”3

Weltgeschichte vergleicht also sozial-kulturelles Leben über Jahrhunderte und zwischen Weltregionen, ist an großen Einheiten wie Zivilisationen, Reichen und Nationalstaaten interessiert und fragt, welche Entwicklungspfade diese ökologisch und ökonomisch jeweils eingeschlagen haben. Globalgeschichte hingegen umschreibt Osterhammel so  : “Global History […] (in a narrow sense) is the history of the continuous, but not linear intensification of interactions across vast spaces and of the crystallization of these interactions into extended networks or, sometimes, institutions which usually possess 

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 9

22.09.2010 07:49:54

Einleitung

their own hierarchical structure. The tension between the global and the local is crucial for this approach. It makes little use of the concept of ‘civilizations’ and considers places and regions as the nodal points from which networks are being constructed.”4

Den allgemeinen Forschungsgegenstand der Globalgeschichte im engeren Sinn bilden nach dieser uns plausibel erscheinenden Auffassung die sich nicht linear, doch wiederholt intensivierenden Interaktionen und Transfers zwischen Weltregionen und die Herausbildung von ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Netzwerken und jenen Institutionen und Medien, die sie ermöglichen, organisieren und vorantreiben. Dabei interessiert ganz besonders, so Osterhammel, die Spannung zwischen dem „Lokalen“ und dem „Globalen“, wir fügen erläuternd hinzu  : die Veränderung, bisweilen sogar Erzeugung des Lokalen („Glokalisierung“) durch die diversen Transfers, ohne dass das Lokale vollends seine Spezifik verliert. In der Praxis der Historiografie scheinen uns derzeit unterschiedlich graduierte Mischungen aus Globalgeschichte, Weltgeschichte und anderen Spielarten vorzuliegen. Mitunter finden sich innerhalb global- und weltgeschichtlicher Überblicke und zu deren Zweck auch internationale Vergleiche und die Untersuchung transnationaler Beziehungen.5 Fassen wir Globalgeschichte daher möglichst weit und integrativ, so schließt sie weltgeschichtliche Synthesen ebenso ein wie transnationale Untersuchungen, die teils unter dem Label histoire croisée unternommen werden, nicht zuletzt auch sozial- und kulturwissenschaftliche Vergleiche in der Erziehungswissenschaft (s. Kap. 13), in der Politikwissenschaft, in der sozial- und kulturanthropologischen Forschung, in den Cultural Studies u. a. m. (s. Abb.). Globalgeschichte im hier vorgeschlagenen, weiten und v. a. fachübergreifenden Sinn geht offenkundig über Nationalgeschichten hinaus, auch über die Kompilation von diversen Nationalgeschichten. Sie rekonstruiert vor allem die verschiedenen Transfers und Vernetzungen über politische und geografische Grenzen hinweg, ohne notwendig und in jedem Fall „die ganze Welt“ zu erfassen. Da die Transfers und Vernetzungen keineswegs nur ökonomisch, sondern divers sind, d. h. auch politisch, sozial, kulturell, religiös, wissenschaftlich, ideologisch u. a.m., ist Globalgeschichte nach unserer Auffassung am besten multi-, inter- und transdisziplinär – kurz  : fachübergreifend – anzulegen. Damit werden staats- und länderspezifische Politik-, Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichten nicht obsolet, ganz im Gegenteil. Wir heben ausdrücklich hervor, dass Globalgeschichte unbedingt der empirisch sorgfältig erarbeiteten Fallstudien bedarf (von Länder- über Regional- bis zu Stadt- und Gemeindestudien), und dies jeweils zu allen großen Aspekten von Wirtschaft, Gesellschaft, Herrschaft, Politik und Kultur. Die Kapitel dieses Bandes sind dementsprechend nach diesen 10

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 10

22.09.2010 07:49:55

Dominanz der teillräumlichen Perspektive

Einleitung

National-, Regionalund Lokalgeschichte Transnationale Geschichte

Internationalvergleichende Geschichte

Dominanz der totalräumlichen Perspektive

Globalgeschichte (im weiteren Sinn) Globalgeschichte (im engeren Sinn)

Weltgeschichte

Universalgeschichte Dominanz der Vergleichsperspektive

Dominanz der Transferperspektive

Aspekten organisiert. Sie gründen jeweils auf einer großen Zahl fachwissenschaftlicher Studien, die überwiegend länder- und regionsspezifisch angelegt sind. Wenn Globalgeschichte ökologische, ökonomische, politisch-ideologische, soziale und kulturelle Transfers und Vernetzungen über Länder, Regionen und Kontinente hinweg rekonstruiert, tritt sie unserer Auffassung nach unvermeidlich (wie übrigens vor ihr schon die noch vergleichsweise kleinräumig angelegte „Gesellschaftsgeschichte“ eines Staates oder Landes) aus der Kompetenz des einzelnen Polyhistors6 heraus. Sie bedarf der Teambildung einer Reihe von Spezialistinnen und Spezialisten für die diversen Aspekte  ; denn mit diesen Aspekten sind z. T. hoch spezialisierte Fachwissenschaften befasst. Eine solche Teambildung haben wir 11

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 11

22.09.2010 07:49:56

Einleitung

für diesen Band unternommen. Es scheint uns nur begrüßenswert, dass nicht alle Autorinnen und Autoren Historiker/innen von Beruf sind, sondern auch Sozialund Kulturwissenschaftler/innen, die historisch denken und arbeiten. Historische Forschungen finden nicht nur in den Geschichtswissenschaften, sondern in so gut wie allen Disziplinen (Politikwissenschaft, Soziologie, Pädagogik, Ethnologie, Ökonomie, Rechtswissenschaft usw.) statt  ; diese ‚Disziplingeschichten‘ pflegen mehr oder weniger gute Kommunikation mit den Geschichtswissenschaften, die sich einmal mehr öffnen müssen. Die globalgeschichtliche Erzählung integriert also die Erzählungen diverser Fachwissenschaften, deren Theorien, Methoden und Empirien, damit auch mehrere Fachsprachen und – nicht zuletzt – die ‚Translationen‘ zwischen den Sprachen und Begriffssystemen der untersuchten Gesellschaften. Globalgeschichte ist nicht eurozentristisch  ; sie leistet ganz im Gegenteil Kritik am Eurozentrismus, der sich in allen wissenschaftlichen, besonders aber in allen geschichts- und sozialwissenschaftlichen Fächern findet. Sie ist allerdings, wenn sie von Europa aus betrieben wird, zwangsläufig eurozentrisch, weil sie ihre Kategorien und ihre Wissenschaftslogik aus den europäischen bzw. europäisch-nordamerikanischen („westlichen“) Wissenschaften und Wissenstraditionen entnimmt. Umso mehr ist die Kritik am Euro- und Westzentrismus die sich permanent stellende erkenntnistheoretische (epistemologische) Aufgabe. Sie fragt nach dem Ausmaß, den Spielarten und Folgen des Euro- und Westzentrismus, wenn sie sich auf die Suche nach den Transfers und Vernetzungen macht. Doch führt kein einfacher Weg aus den teils offenen, teils verborgenen Zwängen der Selbstreferenzialität aller wissenschaftlichen Kategorien, Kriterien und Methoden. Man kann ganz weltbürgerlich eingestellt sein, und doch schreiben sich Kategorien, Kriterien und Methoden in die eigenen Texte und Denkweisen ein, die der eigenen Wissenschaftskultur geschuldet sind. Wir nennen dies den epistemologischen Eurozentrismus bzw. Westzentrismus. Er tritt zunächst in kruder Form als Perspektivenverengung, oft aufgrund von mangelndem Wissen und kollektiven Vorurteilen gegenüber nichtwestlichen Kulturen und Kontinenten auf. Kontinente und Halbkontinente, Weltregionen, Zivilisationen, Kulturen werden aber auch – wie die Nationen seit dem 18. Jahrhundert – reifiziert  : Gedankliche Einheiten werden in substantivische Begriffe verwandelt, als seien sie wie physische Gegenstände beobachtbar. Im Weiteren werden sie essenzialisiert, d. h. mit Serien von charakterisierenden Eigenschaften ausgestattet, die am vermeintlichen Gegenstand haften, zuvorderst in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, die zwangsläufig eine besonders metaphernreiche Sprache benützen. Konzepte von Kultur und Zivilisation, die alle Lebensäußerungen und alle Individuen, Gruppen und Klassen einer Nation, eines Kontinents usw. integrieren wollen, feiern in rezenten Globalgeschichten ein 12

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 12

22.09.2010 07:49:56

Einleitung

Comeback und führen hier ebenso zur Nivellierung der kulturellen Differenzen im Inneren der Weltregionen und Kontinente wie zuvor im Inneren der Nationen.7 Mit den leitenden Kategorien der Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften (wie „Staat“, „Erziehung“, „Schule“, „Familie“, „Ehe“, „Arbeit“, „Wirtschaft“, „Politik“, „Kultur“ usw.), die als tertium comparationis herangezogen werden müssen, schleicht sich, drittens, leicht der Irrtum ein, diese Kategorien träfen in jedem Teil der Welt dasselbe Phänomen, wenn auch in „verschiedenem Gewand“. Trotz ihrer relativen Abstraktheit sind diese Kategorien aber niemals ‚historisch leer‘, sondern von jeweiligen ideologischen Kontexten ‚kontaminiert‘. Selbst wenn wir uns beim Gebrauch dieser Kategorien die in sie jeweils eingeschriebenen Erfahrungen, Ideologien, Mythen, Valenzen usw. vollends bewusst machen könnten, tun wir es ganz unvermeidlich in jener kulturellen und bedeutungsschwangeren Aura, die sie jeweils umgibt und mit der wir lebensweltlich und als Wissenschaftler/innen ‚aufgewachsen‘ sind. Aber auch innerhalb der vorderhand westzentrierten Globalgeschichte sind die leitenden Kategorien nicht derart geklärt und verbindlich, wie es vielleicht zu wünschen wäre. Auch die Autorinnen und Autoren der Kapitel dieses Bandes haben keinesweg, wie man erwarten könnte, die genau gleiche Theorie von ‚Globalgeschichte‘ oder von ‚Globalisierung‘ – und das, obwohl sie sich in einem eigenen Workshop8 darüber zu verständigen versuchten. Sie hängen verschiedenen Theorien zu einzelnen Entwicklungszusammenhängen an. Neben theoretischen Ansätzen der ‚Entwicklung‘ (Historischer Materialismus, Modernisierungs-, Dependenz-, Regulationstheorie usw.) findet sich der Ansatz der Multiple Modernities von Shmuel N. Eisenstadt, d. h. die Annahme von mehreren verschiedenen, koexistenten Modernen, die Weltsystem-Theorie von Immanuel Wallerstein, die systemische Theorie der Weltgesellschaft und der Ansatz des institutionellen Internationalismus und Globalismus, wie er von der Stanford-Gruppe um John W. Meyer entwickelt wurde. Bei einigen tritt eine teils historische, teils ökonomische Theorie der Globalisierung9 an die Stelle der Modernisierungstheorie, wobei die Auffassungen darüber, wieviele Schübe oder Stadien von Globalisierung (zwei, drei oder mehr  ?) zu unterscheiden seien, auseinandergehen  ; bei einigen Autorinnen und Autoren finden sich Modernisierungs- und Globalisierungstheorien nebenei­nander, bei anderen gelangen Schübe der Globalisierung und Phasen der Regulation von Produktion und Konsumtion annähernd zur Deckung. – Dieser Theorien-Pluralismus ist charakteristisch für alle Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften und nicht unbedingt ein Malheur. Theorien sind unverzichtbare Denkwerkzeuge und bewähren sich als solche insoweit, als sie schlüssige Deutungen und Erklärungen der Phänomene ermöglichen. In diesem Sinn ist jedes Kapitel des vorliegenden Bandes sein eigenes, theoretisch gerüstetes Experiment. 13

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 13

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

Gemeinsam ist den Kapiteln vor allem, dass sie bei allen Unterschieden davon ausgehen, dass Globalisierung keine sozioökonomische, soziokulturelle oder politische ‚Gleichrichtung‘ der Welt impliziert. Die hier im Paradigma der Globalgeschichte angestellte Suche nach connections und comparisons, nach Verbindungen sowie synchronen und diachronen Vergleichen (d. h. von gleichzeitigen Ähnlichkeiten und Unterschieden der Beobachtungseinheiten, aber auch von Ausgangsund Endprodukten der Transferprozesse) revidiert populäre Vorstellungen von Globalisierung. Diese wird hier nicht als unilinear auf einen Endzustand hinlaufender, selbstläufiger und uniformierender Prozess der sukzessiven Unterwerfung der Welt unter eine einzige kapitalistische Logik und ein universales Entwicklungsgesetz gedacht. Das scheint uns pure Teleologie (wie sie in anderer Weise schon in der älteren Universalgeschichte – etwa bei Spengler, Toynbee und anderen zu beobachten war) und spräche den kolonialistischen, imperialistischen und kapitalistischen Strategien totale Macht zu. Wir gehen vielmehr – wie wohl alle Autorinnen und Autoren des Bandes – davon aus, dass die jeweils untersuchten Transfers und globalen Netzwerkbildungen von kapitalistischen ‚Zentren‘ gesteuert werden, jedoch zugleich überall (in Regionen der Ersten, Zweiten und Dritten Welt) auch Prozesse der Regionalisierung auslösen. Das aber bedeutet, konsequent zu Ende gedacht, dass sich zwar die zuletzt allein-hegemonialen kapitalistischen Produktionsverhältnisse und Entwicklungsweisen durchsetzen, aber nicht mit dem Effekt eines Endes der Geschichte – im Gegenteil. Wie Arif Dirlik formuliert, wäre es jeweils das Ende einer alten und der Anfang einer neuen Geschichte.10 Die Kapitel des vorliegenden Bandes zeigen denn auch eine Vielfalt von Transfers und Verbindungen zwischen Regionen, die nicht „global“ (weil regionalisiert), aber auch nicht mehr nur „regional“ (weil globalisiert) sind.11

Vergleichs- und Transfergeschichten Um Vernetzungen, Verbindungen und Transfers aller Art nachgehen zu können, sind Theorien oder ‚allgemeine Sätze‘ erforderlich, um Phänomene in verschiedenen Weltregionen und verschiedenen Sprachen einander zuordnen zu können. Sie werden bekanntlich in der überwiegend immer noch sehr empiristischen und konkretistischen Geschichtswissenschaft nicht immer geschätzt. Schon Max Weber hat das Problem des Vergleichs in der historischen Forschung umgetrieben zu einer Zeit, als die meisten Historiker noch dem historistischen Credo anhingen, ein historisches Phänomen sei nur aus sich selbst zu verstehen. Weber schlug vor, das Problem des Vergleichs von (auch für ihn) einzigartigen Phänomenen mittels 14

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 14

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

der Konstruktion von Idealtypen zu lösen. Sie entstehen durch Abstraktion am konkreten historischen Fall. Dabei werden genau jene Aspekte des Falles hervorgehoben, die im Hinblick auf die angestrebte Erklärung von Zusammenhängen und Entwicklungen relevant erscheinen.12 Jedoch ist damit das Problem einer Steuerung dieser Abstraktion durch das kulturelle Apriori des Forschenden (ein Set von selbstverständlichen Annahmen, die teils lebensweltlich, teils durch die jeweilige Wissenschaftskultur hervorgebracht werden) nicht ‚aus der Welt‘ zu schaffen. Dieses Problem wird in der Erkenntnistheorie seit Langem mit der logischen Denkfigur des tertium comparationis besprochen. Dieses Dritte (Gedankliche) muss ich unterstellen, um zwei verschiedenen Phänomenen Vergleichbarkeit zubilligen zu können. Es ist schon in der geschichts- und sozialwissenschaftlichen Forschung zu einzelnen staatlich verfassten Gesellschaften erforderlich, im globalgeschichtlichen Vergleich spreizt es sich aber über Wissens- und Alltagskulturen hinweg auf  ; und hier potenzieren sich die Schwierigkeiten. Selbst dort, wo das Phänomen von einem Kontinent (sagen wir  : Europa) in einen anderen ‚exportiert‘ wird (sagen wir  : nach Lateinamerika), stellt sich die Frage, ob es damit dasselbe Phänomen bleibt. Es wird ja nicht mit seinem Kontext exportiert, sondern in einer bestimmten, exportfähigen Variante und auf besonderen Wegen (z. B. der christlichen „Mission“), die eigene Institutionen und spezialisierte Akteure (z. B. Missionare und ihre Helfer) hervorbringen. Darüber wird es selbst einer erheblichen Anpassung unterworfen, und auch die exportierende Institution (z. B. die katholische Kirche in Europa) wird sich darüber verändern. Der Transfer wirkt also auch auf das ‚Exportland‘ und auf die exportierende Institution zurück. Was die Rezipienten (z. B. die lateinamerikanischen Indigenen) daraus machen, ist mit großer Wahrscheinlichkeit ein anderes Phänomen als jenes, das exportiert werden sollte. (Der Glaube der „Indios“ ist nicht mehr der in der römischen ‚Zentrale‘ entworfene europäische Katholizismus.) Dies trifft insbesondere für alle kulturellen Transfers zu, bei denen Interpretation und Bedeutung die maßgebliche Rolle spielen  : für Religionen aller Art (wie den Islam, den Katholizismus, den Protestantismus, jüdischen Glauben in der Diaspora, aber auch afrikanischen Voodoo, der in die Karibik oder nach Europa transferiert wird), für politische Ideologien wie jene des Liberalismus, des Neoliberalismus, der Sozialdemokratie oder des Kommunismus, für Rechtsformen, Codices und Rechtsphilosophien oder für Kulturkonsum-Artefakte wie Popmusik, Liebeskomödien und Melodramen. Aber auch der Transfer von so ‚harten‘ Dingen wie Waren und Gegenständen, ja sogar der Export von ‚Produktionsweisen‘ (z. B. der frühindustriellen Fabrik mit Lohnarbeit) erzeugt im jeweiligen Zielgebiet nicht genau jene Effekte, die der exportierende Kontinent oder seine Wirtschaftsmächte intendiert haben, weil sie im Zielgebiet (z. B. in der Kolonie) von dort geprägten Akteurinnen und 15

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 15

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

Akteuren interpretiert, angeeignet und handelnd umgesetzt werden. Da wirtschaftliche Transfers in der Regel nicht einseitig sind, sondern Rohstoffe, Halbfertig- und Fertigprodukte ein- und ausgeführt werden, verändern sie meist nicht nur die Ziel-, sondern auch die Ausgangsgebiete (in einer bestimmten Theorie  : Zentren und Peripherien). So hat bekanntlich die Eroberung der beiden Amerikas für Europa so gravierende Folgen wie die Einführung von Nutzpflanzen, die hier ein erhebliches Bevölkerungswachstum mit bewirkte (vgl. den Columbian Exchange von Kartoffel, Mais und anderen Kulturpflanzen seit dem 16. Jahrhundert, s. Kap. 4). Hier ist auch an die besondere Form des Transfers von human resources (in einer bestimmten Theorie  : „Humankapital“) zu erinnern. Es wird nicht nur manpower transferiert, sondern auch kulturelle und soziale Eigenart, was die Gesellschaften im Ziel- und im Herkunftsland der Wanderung verändert (s. Kap. 3), wie etwa der legendäre Satz von Max Frisch ausdrückt  : „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.“13 Für die fächerübergreifende globalgeschichtliche Forschung ergibt sich daraus die nicht geringe Anforderung, sich trotz der notwendigen Abstraktion der Fälle zu Idealtypen und dem jeweils unverzichtbaren tertium comparationis („Industrie“, „Familie“, „Erziehung“, „Migration“, „Jugendkultur“, „Religion“, „Krieg“, „Konsum“, „Massenmedien“, „Verkehr“ usw. – jene Kategorien also, die auch die Titel der Buchkapitel bilden) für genau jene Momente sensibel zu halten, an denen erstens das Verglichene trotz desselben Grundbegriffs nicht das Gleiche ist und zweitens der Transfer eines Phänomens dessen Eigenart verändert. ‚Transfer‘ ist ein hilfreicher, weil leerer Begriff, der diverse Kategoriebildungen erlaubt. So können etwa folgende Typen von Transfer unterschieden werden  : (1) Inklusion (häufig verbunden mit Exklusion) einer Region in teils überregionale, teils weltumspannende Netzwerke (wie Welthandel, elektronische Kommunikation oder internationale Politik)  ; (2) überwiegend einseitige Transfers (wie der Export japanischer Autos nach Südamerika oder chinesischen Spielzeugs nach Europa, denen zwar jeweils Geldflüsse, aber kein gleicher Gegenimport – wie beispielsweise von europäischem Kinderspielzeug nach China – gegenübersteht)  ; (3) annähernd reziproke Transfers (wie der Austausch zwischen europäischen und nord­ amerikanischen intellektuellen Eliten)  ; (4) zirkuläre Transfers (wie der Export afrikanischer Rhythmen, die mit der Verschiffung afrikanischer Sklaven beginnen und über mehrere Kontinente „wandern“, um zuletzt deutlich verändert wieder in Teilen Afrikas anzukommen  ; (5) globale Transfers, die alle Weltteile, jedoch in verschiedener Weise, betreffen und verändern (wie die Verschmutzung der Meere oder die globale Erwärmung). Je nachdem, welcher Typus von Transfer untersucht wird, ist den weltregionalen und lokalen Bevölkerungen nach sozialen Klassen, Geschlecht, Hautfarbe, 16

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 16

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

Religion u. a. verschiedene Handlungsmacht und Gestaltungsbeteiligung (agency)14 zuzurechnen. Eben deshalb darf globalgeschichtliche Forschung nicht übersehen, dass die von ihr gesuchten Transfers immer auch ihren regionalen und lokalen Ausdruck und Niederschlag, ihre spezifische Aneignung und weitere Gestaltung finden. Aneignung ist nicht passive Aufnahme, sondern, wie die rezenten Kulturwissenschaften und Cultural Studies hervorheben, aktive Auseinandersetzung und Kreation, Neuschöpfung. Vielfältige Bricolagen aus kulturellen, religiösen, technischen, massenmedialen und wirtschaftlichen Elementen aus diversen Weltregionen sind die Folge. (So habe ich in den Hütten der Maya auf der Halbinsel Yucatan importierte japanische Ghettoblaster gesehen, die mit dem christlichen Rosenkranz, einer kleinen Statue der synkretistischen Jungfrau von Guadalupe – s. Kap. 16 – und vergilbten Polaroid-Fotos von Familienangehörigen geschmückt waren – RS.) Dies gilt auch für die Aneignung wirtschaftlicher Waren, Werkzeuge, Apparate, ja sogar komplexer Produktionsweisen. In der Zielregion des Transfers sind jeweils eigensinnige Akteurinnen und Akteure15 auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Hierarchie – vom Plantagenbesitzer oder Missionar bis zum Sklaven, Kuli oder zur Textilarbeiterin – am Werk. Und erst indem sie das jeweils transferierte Objekt auf ihre Weise und mit ihren Bedeutungen gebrauchen, ist es auch in ihrer Welt. Es wäre fatal, würde Globalgeschichte in dieser Hinsicht das schon erreichte Niveau der sozialtheoretischen Konstruktion von ‚Gesellschaft‘ unterbieten. Etwa hundert Jahre sozial- und kulturwissenschaftlicher Theoriebildung, die zuletzt in den großen Konzepten der Systemtheorie, der Diskurstheorie und des Sozialkonstruktivismus (inklusive des Symbolischen Interaktionismus und der Theorie der Praxis) mündete, definieren bis auf Weiteres auch für Globalgeschichte das theoretische Niveau, unter dem es für sie keine Wissenschaftlichkeit in der Wissenschaftskultur der Geistes- und Sozialwissenschaften16 geben kann. Es wäre übrigens verfehlt, diese Großkonzepte als rein europäische zu denunzieren. Rezente Entwicklungen der Systemtheorie nahmen von der Mikrobiologie in Lateinamerika ihren Ausgang, also von einem interkontinentalen, reziproken wissenschaftlich-theoretischen Transfer zwischen Natur- und Sozialwissenschaften.17 Der Sozialkonstruktivismus wurde maßgeblich von europäischen Denkern vorangebracht, die der Nationalsozialismus in die Emigration nach Nordamerika gezwungen hatte. Wesentliche Impulse zur Weiterführung der Diskurstheorie gingen von Autorinnen und Autoren aus Ländern der „Dritten Welt“, unter anderem im Rahmen der Postcolonial Studies und der Subaltern Studies aus.18 Es ist hier nicht der Platz, sich damit näher auseinanderzusetzen. Aber es soll betont werden, dass der aktuelle Stand der Wissenschaften – und somit auch der globalgeschichtlichen Forschung – selber das Resultat von interkontinentalen Transfers der skizzierten Art ist. Weiter17

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 17

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

entwicklungen der Großkonzepte (die allen sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungen implizit und explizit zugrunde liegen) sind wünschbar, nicht jedoch ein Rückfall in Zeiten, in denen über Gesellschaft, Ökonomie oder Kultur noch in quasi-naturwissenschaftlichen Modellen gedacht und geredet wurde. Wir sehen hier durchaus Anlass zur Sorge. Die notwendig hohe Abstraktion der Globalgeschichten verführt bisweilen dazu, eine Theorie der Dialektik von „Strukturen“ und „Praxis“, wie sie schon erreicht worden ist,19 durch mechanistische Vorstellungen einer reduktionistischen Variante von Ökonomie als bloße Warenzirkulation oder Expansion der Märkte zu unterbieten. Auch globalisierter Ökonomismus bleibt Ökonomismus und ist ebenso abzulehnen wie der unter Politikhistorikern häufige politische Reduktionismus, der bei Sozialhistorikern und Demografen anzutreffende Sozialrealismus20 oder der in der Soziologie bis in die 1970er-Jahre vorherrschend gebliebene Strukturfunktionalismus21 – alles Spielarten des Objektivismus.22 In einem gezielten Einsatz dagegen haben wir uns bemüht, eine Kollektion von thematischen Studien zusammenzustellen, die jeweils den aktuellen wissenschaftlichen Level der Fachwissenschaften, aus denen sie hauptsächlich kommen, zu halten versuchen, obgleich ihnen eine besondere Knappheit der Darstellung abverlangt wird. Für die Autorinnen und Autoren des Bandes war der typische Vorgang, dass sie Expertinnen und Experten für den jeweiligen Aspekt sind, was die meisten in mehr als nur eine einzige Fachwissenschaft involviert (die reine Fachwissenschaftlichkeit ist wohl immer schon eine realitätsfremde Vorstellung gewesen). Sie haben zu diesem Aspekt über Jahre und Jahrzehnte für eine europäische Region geforscht, ehe sie die Perspektive auf andere Regionen Europas und der Welt ausgedehnt haben. Somit verfügen sie zumindest für die europäische ‚Stammregion‘, aus der sie unlängst forschend aufgebrochen sind, über genaueste Kenntnis der Forschungstradition, des Datenmaterials und der theoretischen und methodologischen Diskussionen. Das sollte sie dazu befähigen, vergleichbare Forschungen aus anderen und für andere Weltregionen entsprechend neugierig und kritisch zu lesen und einer komparativen Sekundäranalyse zu unterziehen. Wir betonen ausdrücklich, dass wir gegenüber einer Globalhistorie skeptisch sind, die ausschließlich mittels Kompilation von Forschungsergebnissen Dritter vorgeht. Wie kann sie wissen, wie die kompilierten Forschungsergebnisse jeweils zustande gekommen sind und welchen verschiedenen Logiken von Wissenschaftskulturen sie jeweils folgen  ? Methodologisch kehren solche Globalhistorien zurück in eine zwar oft beeindruckend „gebildete“, aber relativ forschungsferne Schriftstellerei. Als Utopie lässt sich formulieren, dass es irgendwann so weit kommen sollte, dass Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Teilen der Welt Themen und Problemstellungen, für die sie (welt-)regionale Experten sind, gemeinsam erforschen. Doch bis dahin 18

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 18

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

scheint es vor allem in den so lokal gebundenen Geschichtswissenschaften noch ein weiter Weg. Bei den bisher vorliegenden Globalgeschichten handelt es sich ganz überwiegend um europa- und westzentrierte Synthesen, die entweder von einzelnen heroischen (ganz überwiegend männlichen) Autoren in Monografien23 oder von Expertenteams für Weltregionen (Area-Spezialisten m/w) vorgelegt werden.24 Von beiden Typen unterscheidet sich der hier vorgelegte Band  : Seine Kapitel bieten keine zusammenfassende Darstellung der Geschichte einzelner Weltregionen, sondern untersuchen überwiegend diverse Transfers und Vernetzungen zwischen Weltregionen. Die Transfers und Vernetzungen werden nicht von Area-, sondern von Aspekt-Spezialisten (m/w) aus mehreren Fachwissenschaften untersucht. Auf diese Weise entstand eine fächerübergreifende (multi-, inter- und transdisziplinäre) Globalgeschichte. Dass sie niemals ‚vollständig‘ sein kann und ‚nur‘ den aktuellen Zwischenstand laufender Forschungen zusammenfasst, versteht sich von selbst. Mehr noch als andere Konzepte der Globalgeschichte macht der vorgelegte Band aber auch deutlich, dass es ein kanonisierbares Weltgeschichtswissen nicht geben kann. Gerade wer Geschichtswissenschaften, Politikwissenschaften oder andere Sozial- und Kulturwissenschaften studiert, sollte nicht die Illusion vermittelt erhalten, dass deren Wissen feststeht oder kumulativ aufgeschichtet wird. Es handelt sich immer nur um vorläufig gültiges und überdies um situiertes Wissen25, das von den Forschungsfragen und den angewandten Theorien und Methoden der beteilig­ ten Forscherinnen und Forscher abhängt und geleitet wird.

Globalgeschichte als globale Gesellschaftsgeschichte Die für die Kapitel des Bandes titelgebenden Grundkategorien wie „Naturverhältnisse“, „Migrationen“, „Landwirtschaft“, „Wirtschaft“, „Internationale Politik“, „Haus und Familie“ usw. referenzieren Phänomene, die sich in ungleichmäßiger und ungleichzeitiger Weise historisch ausdifferenzieren. Ungleichmäßigkeit und Ungleichzeitigkeit sind daher auch im globalen Vergleich in Rechnung zu stellen. Wie aber stehen Wirtschaft, Politik und Kultur in den globalen Interaktionsprozessen grundsätzlich zueinander  ? Oder anders gefragt, wie verhalten sich die ökonomischen, politisch-herrschaftlichen und kulturellen Aspekte in den zu untersuchenden Transfer- und Vernetzungsprozessen  ? Die Kapitel des vorliegenden Bandes geben darauf einige plausible, gleichwohl vorläufige Antworten. Schon ab dem 16. Jahrhundert relativ hoch ausdifferenzierte Gesellschaften des europäischen Westens erzielten politische und militärische Machtgewinne gegen­ 19

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 19

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

über weniger ausdifferenzierten Gesellschaften auf dem lateinamerikanischen Kontinent und in der Karibik, an den Küsten Chinas, in Indien, in Teilen Afrikas und so fort. Dennoch wurden diese politisch-militärischen Differenzen erst schlagend in dem Maße, als es gelang, geeignete kapitalistische Infrastrukturen in den militärisch dominierten Regionen aufzubauen. Von diesen profitierten dann aber Unternehmen verschiedener Nationalität. In globalgeschichtlicher Perspektive war beispielsweise entscheidend, dass Großbritannien (ab einem bestimmten Zeitpunkt) die stärkste See- und Wirtschaftsmacht Europas war und Produktions- und Distributionsnormen vorgab, zugleich aber ein globales Wirtschafts-, Finanz- und Handelsnetzwerk aufgebaut wurde, an dem nicht nur britische Unternehmen und auch nicht nur die zunehmend global agierenden Handelspatrizier, sondern auch deren Ehefrauen und Kinder, Dienstboten und Sklaven, Arbeiter, Verwalter, Privatangestellte usw. auf je verschiedene Weise beteiligt waren. Die politisch-militärischen Rivalitäten zwischen den europäischen Mächten nahmen sich demgegenüber wie die Raufereien kleiner Kinder im Haus aus, während Väter und Onkel auswärts die entscheidenden Geschäfte machten. Die globalhistorische Rede kocht diese Vielfalt der beteiligten Akteure (m/w) freilich zwangsläufig ein  : „Wer immer siegte, es waren die Europäer (oder ihre kolonialen Vettern), die auf kaum unterscheidbare Weise die Welt regierten. Der Ausgangspunkt der Vorherrschaft dieser VielmächteZivilisation lag nicht in erster Linie beim einzelnen Staat.“26 Seit den Anfängen des modernen Kapitalismus agieren privatkapitalistische und staatliche Unternehmen, im 20. Jahrhundert zunehmend auch international und global organisierte Konzerne, Finanzierungs- und Beteiligungsgesellschaften gegenüber ‚ihren‘ nationalen Regierungen und den sich herausbildenden Institutionen der internationalen Politik und versuchen diese nach ihren Interessen zu lenken. – Dies zeigen im Einzelnen mehrere Kapitel des Bandes, vor allem jene über Landwirtschaft (Kap. 4), Internationale Arbeitsteilung (Kap. 6), internationale Politik (Kap. 7) und Arbeitsverhältnisse (Kap. 8). Im weitesten Sinne sind auch die globalen Energie- und Materialflüsse (Kap. 1) seit der Frühen Neuzeit von kapitalistischen Interessen gesteuert, und auch jüngere Umwelt- und Klimapolitiken unterliegen politikexternen Kräften. Die im analytischen Sinn „sozialen Beziehungen und Institutionen“ – vor allem Arbeitsverhältnisse (Kap. 8), Haus und Familie (Kap. 9), Jugendkulturen (Kap. 12), Institutionen der Erziehung (Kap. 13) und Militär (Kap. 18) – reproduzieren sich einerseits in ökonomischen Bedingungen und Zwängen  ; andererseits produzieren sie jene lebendige Arbeitskraft, von der schon Marx sprach, die mit Bewusstsein und Disziplin, mit Kompetenzen, Fähigkeiten und Neigungen ausgestattet ist, ohne die weder Ökonomien jeder Art, noch die diversen politischen Regime 20

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 20

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

(Monarchien, Diktaturen, Demokratien usw.) funktionieren. Ja zum Teil gehen die ökonomischen und politischen Institutionen recht unmittelbar aus den sozialen Verhältnissen der Arbeit und der Reproduktion hervor und verselbständigen, verstetigen und verrechtlichen (institutionalisieren) sich erst im Lauf von Wachstums- und Differenzierungsprozessen. Soziale Institutionen entstehen aus der Verstetigung sozialer Praxis und – zunächst in Europa – aus deren zunehmender Verrechtlichung (Verfassungsgebung, Erbrecht, Ehe- und Familienrecht, Strafrecht, Arbeitsrecht usw.). Derartige Regulative werden im Zuge der europäischen Expansion zum Teil in Gesellschaften anderer Weltregionen und Kontinente transferiert (so Teile des europäischen Ehe- und Familienrechts nach China oder das römisch-kanonische Recht in die indigenen und mestizischen Bevölkerungen Lateinamerikas, s. Kap. 9). Damit aber ist keineswegs Rechtsidentität zwischen einem europäischen Land (wie Frankreich) und einem außereuropäischen Land (wie beispielsweise Louisiana im Süden Nordamerikas) hergestellt. In Loui­siana stellte sich, wie anderswo, eine hybride Rechtswirklichkeit unter den spezifischen sozialen, wirtschaftlichen und ethnischen Bedingungen des Landes und seiner kolonialen Geschichte her.27 Kulturelle Artefakte – zu denen Rechtsvorstellungen und Regulative (wie Verwandtschaft), Religionen, politische Ideologien, Konsumkulturen (wie Popmusik oder Fernsehserien) u. v. a. gehören, werden teils über die physische und verkehrstechnisch erhöhte Mobilität (s. Kap. 15) der regionalen Eliten, teils über schriftliche Texte und rezente Massenmedien (s. Kap. 14) transferiert. Sie behalten dabei ihr Eigengewicht und ihre spezifische Logik, obwohl sie sich immer mit wirtschaftlichen und sehr häufig mit politischen Strategien und Inhalten verkoppeln. Kapitel 12 zeigt dies eindrucksvoll an jugendkulturellen Bewegungen, die erst nach Ghana und Tansania oder in den Senegal gelangten, nachdem (neoliberale) kapitalistische Warenzirkulation auch diese Länder erfasst hatte. Sie verbinden sich dort aber mit lokalen und regionalen politischen Bewegungen, erhalten darüber hybride kulturelle Eigenart und gewinnen regionalpolitischen Eigen-Sinn. Schon lange zuvor sind in einem sehr weitläufigen Transferprozess musikalische Elemente über den Sklavenhandel (also ökonomisch determiniert) in die Karibik, in die Gettos USamerikanischer Industriestädte (wie Detroit) und von dort (als Rhythm & Blues) in die Radiostationen nordamerikanischer und europäischer Metropolen gelangt, von wo sie nun, kulturindustriell mehrfach verändert, über Radio und TV in afrikanische Gesellschaften ‚zurückkehren‘, um dort auf neue Art und Weise angeeignet zu werden – ein zirkulärer Transfer. Kulturelle Transfers zeigen auch Untersuchungen über die Religionen (s. Kap. 16) und über die zeitlich und räumlich oft weit auseinander liegenden, aber 21

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 21

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

doch geistes- und ideologiegeschichtlich verbundenen Revolutionen (s. Kap. 17). In ­beiden Kapiteln sind ökonomische Kräfte und Bedingungen zu erkennen, wie aber umgekehrt Religionen und Revolutionen ökonomische Verhältnisse und herrschaft­liche und politische Praktiken orientieren, kritisieren und neu ent­werfen. Religionen versorgen jene, die wirtschaftlich (als Händler und Kaufleute, Handwerksmeister, industrielle Unternehmer, Arbeiter usw.) miteinander verkehren, mit moralisch-ethischen Regeln, mit Deutungen und Tröstungen für die Leidenden und Schwachen und Legitimationen (aber auch Verhaltensregeln) für jene, die wirtschaftlich, politisch, militärisch mächtiger als andere sind. Der Autor des Religionen-Kapitels führt uns vor Augen, wie einzelne Religionen erst in den letzten zweihundert Jahren als solche entstehen oder zu dem werden, was sie heute sind, indem sie die Funktionen der moralisch-ethischen Orientierung und der Legitimierung von Herrschafts- und Staatsformen erfüllen, was u. a. am Hinduismus in Indien oder am Shintoismus in Japan deutlich wird. Entgegen verbreiteter Meinung sind Religionen nicht das ‚Ursprüngliche‘, das mit der Entwicklung der Welt (wird sie nun modernisierungstheoretisch, system- oder regulationstheoretisch gefasst) nach und nach verginge, sondern sie entstehen erst als spezialisierter Teil des kulturellen Apparatus einer Gesellschaft. Der Transfer und die Konfrontation der Religionen im Zuge der europäischen Expansion haben die Prozesse der Religionsbildung häufig verstärkt und ihnen eine gewisse Vehemenz (häufig – vom westlichen Standpunkt – als „Fundamentalisierung“ bezeichnet) verliehen, so in Japan, Indien oder Lateinamerika, in den muslimischen Regionen Südwestasiens und Nordafrikas und nicht zuletzt in den multiethnischen Metropolen der Welt. Auch die vergleichende Untersuchung der Revolutionen (Kap. 17) zeigt, dass der Transfer von revolutionären Ideen und Konzepten in ähnlicher Weise zu Neuaneignungen und Vermischungen führt. Hier sei nur an die Rezeption der Französischen Revolution in Haiti erinnert, die hier 1804 zur ersten Befreiung einer Kolonie, aber auch zu grausamen Auseinandersetzungen führte. Revolutionen erscheinen als paradigmatischer Ort der Verquickung von Dimensionen des Gesellschaftlichen in einem Ereignisprozess  : langfristige sozialökonomische Entwicklungen, Usancen der politischen Macht und Formen der Rebellion gegen sie, die Mobilisierung von Klassen und Massen, ideologische und intellektuelle Diskurse und nicht zuletzt Anlässe, Ereignisse, Zufälle. Der Autor des Kapitels fragt nach transnationalen Wirkungen, grenzüberschreitenden Beziehungen der Akteure (m/ w) und dem globalgeschichtlichen Zusammenhang zwischen revolutionären Prozessen in verschiedenen Teilen der Welt.

22

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 22

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

Die Frage der Periodisierung Eine der schwierigsten Fragen einer fächerübergreifenden Globalgeschichte ist gewiss jene der Periodisierung. Diese soll hier aber nicht zu dem Zweck betrieben werden, einen Kanon vermeintlich ‚sicheren‘ Wissens zu portionieren. Sie soll vielmehr Werkzeug einer Theoriebildung sein, die das Gleichzeitige und das Ungleichzeitige im Verlauf der diversen (ökonomischen, politischen, kulturellen usw.) Transfers und Vernetzungen zu fassen vermag. Deshalb aber kann sich eine solche Periodisierung weder allein auf politische noch allein auf ökonomische oder kulturelle Zäsuren beziehen. Sie muss vielmehr Zusammenhänge zwischen den diversen Transfers in gleitenden Kategorien der Dauer zu fassen versuchen. Die Grenzen der Perioden werden nur selten durch punktuale politische Ereignisse (wie den nahezu gleichzeitigen Zusammenbruch von mehreren großen Monarchien in den 1910erJahren), oft aber durch die nur ungefähre Gleichzeitigkeit von ökonomischen und gesellschaftlichen Transitionen bestimmt. Eben deshalb gehen in die Bestimmung der Perioden komplexe historisch-sozialwissenschaftliche Theorien wie jene der kapitalistischen Produktionsweisen bzw. der Regulationstheorie ein.28 Auch hier besteht keine völlige Übereinstimmung, und die Art der Periodisierung hängt von den bevorzugten Theorien ab. Für die Zeit vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart lassen sich die im Folgenden knapp skizzierten Perioden bezeichnen. Politische, ökonomische und sozial-kulturelle Zäsuren kommen dabei nur zum Teil zur Deckung, manchmal verschieben sich Enden und Anfänge der Perioden in den Weltregionen je nachdem, ob wir jeweils vorrangig politische, ökonomische oder sozial-kulturelle Aspekte in den Blick nehmen. Verschiebungen entstehen aber auch aus den Ungleichzeitigkeiten, die sich zwischen den unterschiedlich ‚entwickelten‘ und in sozialökonomische und kulturelle Transfers einbezogenen Weltregionen ergeben. Die liberal-kapitalistische Produktions- und Entwicklungsweise

Das „lange 19. Jahrhundert“ von 1789 bis 191429 begann in politischer Hinsicht mit der Französischen Revolution und ging mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende. Ohne Zweifel waren diese beiden politisch-kulturellen Zäsuren nicht nur für Europa, sondern auch für weite Teile der außereuropäischen Welt relevant und mit ähnlich wichtigen Zäsuren der wirtschaftlichen Entwicklung verbunden. In wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtlicher Hinsicht stand das „lange 19. Jahrhundert“ überwiegend im Zeichen einer liberal-kapitalistischen Produktions- und Entwicklungsweise. Das späte 18. und das 19. Jahrhundert waren in Europa durch korrelierende 23

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 23

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

Prozesse der Agrarrevolution, der Industrialisierung, des demografischen Übergangs und des starken Städtewachstums (Urbanisierung) gekennzeichnet (s. die Kap. 2, 4, 5, 6, 8). Die „bürgerliche Familie“ entstand mit der wirtschaftlichen Emanzipation eines städtischen Bürgertums. Sie erzeugte vor allem die Auseinanderentwicklung der männlichen und weiblichen Geschlechtscharaktere, ihre Doppelmoral und eine erhebliche Intensivierung der familialen und der öffentlichen Erziehung. Die Industrialisierung nahm in den Textilregionen ganze Arbeiterfamilien in den Dienst  ; in den Schwer- und Maschinenindustrien differenzierten sich innerhalb der Arbeiterschaft drei Familientypen aus  : subproletarische, proletarische und Facharbeiterfamilien (s. die Kap. 8, 9, 13). Die Agrarrevolution der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts steigerte die verfügbare Nahrungsmenge und regte so das Wachstum der Bevölkerung an, wie sie umgekehrt auch durch das Bevölkerungswachstum angeregt wurde. Diese Produktivitätssteigerungen bewegten sich noch innerhalb der Grenzen des agrarischen, auf Sonnenenergie und Fotosynthese aufbauenden Stoffwechselregimes von Natur und Gesellschaft (s. die Kap. 1, 2, 4). In Lateinamerika formten sich nach dem Ende des Kolonialismus Anfang des 19. Jahrhunderts junge Nationalstaaten. China wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts von den imperialistischen Mächten erreicht und vor allem in seinen Küstenregionen und Häfen tangiert  ; Umstürze im Inneren des riesigen Reiches waren zum Teil religiös motiviert und attackierten bereits das „feudale“ System der chinesischen Familie und dessen besondere Frauenfeindlichkeit. Das Ende des Kaiserreichs und der Beginn der Republik standen im Zeichen kulturell europäisch orientierter Eliten. Im Verhältnis zwischen den europäischen Militär- und Wirtschaftsmächten und den asiatischen und afrikanischen Zielgebieten ihrer militärischen und wirtschaftlichen Expansion dominierte zunächst noch das Verhältnis des späten Kolonialismus und dann des Imperialismus. Letzterer fand erst 1929 in der Weltwirtschaftskrise sein Ende. In der zweiten Hälfte des „langen 19. Jahrhunderts“ gewannen kontinentalübergreifende Verflechtungen derart an Quantität und Qualität, dass manche Autoren von einer „ersten Globalisierung“ sprechen. Das technisch erneuerte Verkehrsund Kommunikationsnetz ließ die Kontinente näher aneinanderrücken (s. die Kap. 14, 15)  ; Massen an Europäerinnen und Europäern wanderten in die gemäßigten Klimazonen Nord- und Südamerikas sowie Australiens aus und verbreiteten die für diese Kontinente charakteristische Mischwirtschaft von Ackerbau und Viehhaltung  ; über den Weltagrarhandel traten überseeische Agrarregionen in scharfe Konkurrenz zu europäischen und veranlassten eine Reihe von Regierungen zu protektionistischen Gegenmaßnahmen, während Großbritannien – die noch unumstrittene Weltmacht – am Freihandel festhielt (s. die Kap. 3, 4)  ; die entstehende Weltnachrichtenordnung erweiterte und beschleunigte die Nachrichtenflüsse und 24

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 24

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

veränderte darüber die Raum- und Zeitwahrnehmung des Lesepublikums (s. Kap. 14). Kurz, es entstand eine Weltgesellschaft, in der globale Vernetzungen eine bislang unerreichte Quantität und Qualität gewannen. Das Ende der Epoche und der Beginn des „kurzen 20. Jahrhunderts“ von 1914/18 bis 1989 vollzogen sich in Raten, denn ökonomisch folgten der schweren Wirtschaftskrise in den 1870er-Jahren nur noch eine Kriegskonjunktur (Erster Weltkrieg) und eine sehr labile Inflationskonjunktur bis zum großen Zusammenbruch 1929. Die Kriegswirtschaft in den unmittelbar kriegsbetroffenen Ländern und Staaten hatte die internationalen Handels- und Finanzbeziehungen erheblich verändert und vor allem die Hegemonie der liberal-kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, die auch eine Frage der Ideologie und des wirtschaftlichen Glaubens war, deutlich geschwächt. Gestärkt gingen hingegen die USA aus dem Ersten Weltkrieg hervor, die nun zum weltweit größten Gläubiger und zur produktivsten ‚Volkswirtschaft‘ der Welt wurden. Ihre wirtschaftliche Produktivität stand – teils durch die boomende Rüstungswirtschaft, teils durch den privaten Konsum von industriellen Massenwaren angetrieben – bereits im Zeichen der folgenden Periode, jener des fordistischen Kapitalismus. Die fordistisch-kapitalistische Produktions- und Entwicklungsweise

Die fordistische Produktions- und Entwicklungsweise begann sehr ungleichzeitig  : in den USA schon ab 1910  ; im von Krieg und Faschismen betroffenen Europa und in Lateinamerika erst Anfang der 1950er-Jahre. In Nord-, West- und Mitteleuropa ging ihrem manifesten Beginn ein längerer und heterogener soziokultureller Prozess des „Einbruchs der Massen“ in die Politik voraus  : zuerst die Bildung von politischen Massenparteien im späten 19. Jahrhundert, dann die Durchsetzung eines Allgemeinen Wahlrechts um 1918 zusammen mit Republikgründungen  ; danach diverse Versuche, die Rückkehr zur liberal-kapitalistischen Ordnung zu verhindern, die zunehmende Bereitschaft zu staatsinterventionistischer Politik, um kapitalistischen Krisen die Schärfe zu nehmen (demokratischer Keynesianismus und faschistischer Korporativismus), und schließlich die Durchsetzung von Gewaltherrschaft, legitimiert durch Massensammlungsparteien in der „faschistischen Epoche“, mit mehreren Varianten von staatskapitalistischen Regimen. Dennoch orientierten sich Teile der west- und mitteleuropäischen Gesellschaften schon in den 1920er-Jahren – wie etwa der italienische Intellektuelle Antonio Gramsci bemerkte – zunehmend am american way of life oder, wie er es auch bereits nannte, am „Fordismus“.30 Im privaten Regime der Reproduktion setzten schon kurz vor, während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg tendenzielle und auch derzeit noch nicht 25

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 25

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

abgeschlossene Veränderungen mittlerer Dauer ein. In den 1910er-Jahren erfuhren westliche wie östliche patriarchale Regime durch den beinahe simultanen Zusammenbruch von Monarchien (Deutsches Reich, Habsburgerreich, Osmanisches Reich, Russisches Zarenreich, Chinesisches Kaiserreich), durch signifikante Reformen in den skandinavischen Ländern, die Mexikanische und die Russische Revolution nachhaltige Schwächungen. Mit den Revolutionen, einigen kurzlebigen und bald unterdrückten Räte-Experimenten und neuen republikanischen Demokratien sank die Legitimität traditionaler Männerherrschaft über Ehefrauen und Konkubinen, Kinder und Jugendliche, häusliches Personal und Lohnarbeiter, ja sogar militärische Hierarchien wurden zumindest für kurze Zeit in „revolutionären“ Armeen abgeflacht. Deutlicher als sonst zeigen sich hier die vielfältigen ideologischen und mentalen Verflechtungen der Regime privater Reproduktion, der politischen und militärischen Regime und der wirtschaftlichen Produktionsweise (s. Kap. 9). Alle politischen Regimewechsel der 1910er-Jahre waren auch mit Programmen und Bekenntnissen zur Geschlechterdemokratie (Wahlrecht, Ehe- und Familienrecht) und einer zunehmend expliziten Gender-Politik verbunden. Mit der Erosion des Patriarchats gingen sehr verschiedene Formen der Geburtenkontrolle und die Senkung der Geburtenrate, eine Zunahme kinderloser Personen wie auch die Verkleinerung der Familien und Haushalte sowie die Integration der Frauen, auch der Mütter, in die „produktive“ kapitalistisch oder sozialistisch organisierte Erwerbsarbeit einher. Die USA und westeuropäische Länder, darunter auch Österreich, entwickelten dabei, vor allem ideologisch bedingt, sehr verschiedene Strategien (s. Kap. 10). Hausarbeit wurde ab den 1920er-Jahren technisch erleichtert, jedoch nirgendwo erfolgreich sozialisiert, aber auch nicht gleichmäßig auf Männer und Frauen verteilt. Die Paarbildung emanzipierte sich aus elterlich-häuslichen und dynastischen Regimen. „Romantische Liebe“ als zentrales Motiv der Partnerwahl setzte sich im Westen zunehmend durch. In Lateinamerika endete sie für die indigenen und mestizischen Bevölkerungsmehrheiten häufig in Mutter-Kind-Familien. In China blieb die „Liebesheirat“ bis in die 1980er-Jahre die meist unerfüllte Forderung intellektueller städtischer Schichten (s. Kap. 9). Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise (1929 ff.) verloren in vielen europäischen und auch in lateinamerikanischen Ländern Demokratien an Rückhalt und wurden mittels Militärdiktaturen und faschistischen Regimen vollends, aber nicht für immer zerstört. Während in den USA – die ebenfalls eine Politik der verstärkten Intervention in die Wirtschaft betrieben (New Deal) – wohl aufgrund bereits deutlich höher entwickelten Massenkonsums („Fordismus“) und höheren Lebensstandards trotz kleiner faschistischer Gruppen keine ernsthafte Faschismusgefahr bestand, wählten große Teile der Gesellschaften in West- und Mitteleuropa den 26

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 26

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

Weg der Staatsintervention ohne demokratische Legitimation und mit den Mitteln autoritär-faschistischer Politik, die sich innere und äußere Feinde (er-)fand, um die Leidenschaften der Massen anzufachen und diese letztlich in die militärische Expansion mit wirtschaftlichen Zielen zu treiben. Nur in Nordeuropa (skandinavische Länder) kamen überwiegend Regierungen an die Macht, die einen sozialdemokratischen Weg gingen, der erst in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren in einigen postfaschistischen Gesellschaften (Deutschland, Frankreich, Österreich, verspätet in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren auch in Spanien und Italien) teilweise ‚nachvollzogen‘ wurde (s. Kap. 7). Mitte der 1940er-Jahre zerbrachen in West- und Mitteleuropa mit dem nationalsozialistischen Dritten Reich und dem faschistischen Italien vorläufig letzte Formen europäischer soldatischer Männerherrschaft. Nur in Spanien hielt sich die Militär-Elite mit dem Franquismus bis Mitte der 1970er-Jahre, zuletzt im Kalten Krieg abgesichert durch einen Pakt mit den USA, um danach mit den demokratischen Kräften und dem westlich-liberal orientierten Königshaus eine langsame transición zu vereinbaren. In Osteuropa ging die Sowjetunion einen alternativen, „realsozialistischen“ Weg und dehnte ihr Modell auf einen Ring von ‚Vasallenstaaten‘ aus, die in militärische, politische und wirtschaftliche Netzwerke integriert wurden (s. Kap. 7). Auch auf anderen Kontinenten wurde in den 1920er-Jahren der Versuch unternommen, die liberal-kapitalistische Ordnung wiederherzustellen, insbesondere in Lateinamerika. Die Mexikanische Revolution (1910 ff.) richtete sich dagegen (s. Kap. 17). In Ostasien wählte Japan den faschistischen und militärisch-imperialistischen Weg und marschierte in den 1930er-Jahren in die Mandschurei ein. China geriet bald nach Gründung der Republik und bei starker Westorientierung seiner schmalen intellektuellen Eliten in einen zwanzig Jahre dauernden Bürgerkrieg zwischen nationalkonservativen und kommunistischen Kräften. 1949 siegte die kommunistische Partei und gründete die Volksrepublik China, in der das maoistische Regime einen streng kollektivistischen Kurs der Landreform und der Industrialisierung begann (s. Kap. 9). In den 1950er-Jahren übernahmen – nach der „faschistischen Epoche“ und der Trümmerzeit nach dem Zweiten Weltkrieg – auch die west- und mitteleuropäischen Länder großteils mit US-amerikanischer Wirtschaftshilfe (Marshallplan) und politischer re-education die fordistische Produktions- und Entwicklungsweise (abkürzend Fordismus), d. h. eine an Massenproduktion und Massenkonsum ausgerichtete Lebensweise der lohnabhängigen Bevölkerungsmehrheit. Technologische Innovationen in den Bereichen Chemie, Landwirtschaft, Telekommunikation, Maschinenbau, Elektronik und Transport ermöglichten die fordistische Dynamik. Der 27

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 27

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

private Personenkraftwagen wurde emblematisch für diese Produktions- und Entwicklungsweise  ; er veränderte nachhaltig die Lebenswelten und die Eingriffstiefe in natürliche Ressourcen und in „die Landschaft“. Lebensführung und Arbeitsmoral der Lohnabhängigen veränderten sich markant. Staatliche (Infrastruktur-)Politiken unterstützten den privaten Konsum und legitimierten sich erstmals auch wesentlich aus der Verteilung des „Kuchens“ – so eine nicht zufällig orale Metapher dieser Zeit für Wirtschaftswachstum. Die gesellschaftlichen Naturverhältnisse (vor allem die Verkehrsplanung in den Städten, der Bau von Autobahnen usw.) standen ganz im Zeichen von erwerbsbezogener und zunehmend auch freizeitbezogener Mobilität (s. die Kap. 1, 15). Im Unterschied zur liberal-kapitalistischen Entwicklungsweise des 19. Jahrhunderts fanden nun Forderungen der Arbeiterbewegung Gehör, Gewerkschaften wurden an der Aushandlung von Kompromissen zwischen Unternehmen und Lohnabhängigen beteiligt und Reallohnsteigerungen im Interesse der Massenkaufkraft und des Massenkonsums durchgesetzt. Dementsprechend dominierte in Westeuropa in den späten 1960er- und 1970er-Jahren das sozialdemokratische Paradigma, teilweise nach skandinavischem Vorbild. Private Haushalte und das Familienleben wurden zunehmend stärker konsumorientiert (s. Kap. 9). Ländliche Subsistenzwirtschaft (Bauern, Kleinbauern) ging anteilsmäßig rasch zurück  ; die industrialisierte, auf fossilen Energieträgern basierende high-input high-output Landwirtschaft brach sich im Zuge der green revolution Bahn – mit einschneidenden sozialen und ökologischen ‚Kosten‘. Die ‚nationale Ernährungssicherheit‘ diente – auch aus militärstrategischen Erwägungen – als Leitbild der Agrarpolitik der westlichen und östlichen Industriestaaten, während die durchwegs agrarisch geprägten Staaten der Dritten Welt in postkoloniale Abhängigkeiten verstrickt wurden (s. Kap. 4). Anders verlief die Entwicklung des peripheren fordistischen Kapitalismus in Ländern Lateinamerikas, wo militärische Eliten in den 1960er- und 1970er-Jahren mehrfach die politische Macht übernahmen und militärische Formen der Männlichkeit und Männerherrschaft, gestützt durch traditionellen machismo, begünstigten. In China war seit 1949/50 die kommunistische Partei an der Staatsmacht. Schon seit den 1920er-Jahren hatte sie gegen das „feudale“ chinesische Patriarchat angekämpft und eine egalitäre Partnerschaft von Mann und Frau innerhalb sozialistischer Organisationen der landwirtschaftlichen und industriellen Arbeit angestrebt, ohne aber militärisch-diktatorische, männergeprägte Hierarchien in Staat, Partei und Militär abzubauen. Hier ging es in den ersten Jahrzehnten darum, die Bevölkerung hinreichend zu ernähren (s. Kap. 4) und die im Westen „private“ Reproduktion in genossenschaftlichen („sozialistischen“) Modellen des Haushalts, integriert in Einheiten der Arbeit und des Wohnens, zu organisieren. Mann und Frau sollten darin 28

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 28

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

gleichberechtigt und gleichermaßen zur Teilnahme an der „produktiven Arbeit“ in Landwirtschaft und Industrie verpflichtet sein (s. Kap. 9). In der Sowjetunion und in der sowjetischen Einflusssphäre setzte sich unter Führung der Schwerindustrie eine Spielart des Fordismus bei relativ niedrigeren Niveaus des privaten Konsums und ohne demokratische Legitimierung durch. Die Jahre um 1968 und bis 1975 brachten kulturelle und teils auch politische Revolten im europäischen und nordamerikanisch-australischen Westen, Reformversuche im Ostblock („Prager Frühling“) und eine zweite Frauenbewegung mit antipatriarchaler Politik. Die chinesische Staatsführung mutete in den zehn Jahren der „Großen Kulturrevolution“ Kindern, Jugendlichen und Intellektuellen mit den Landverschickungen erhebliche Belastungen zu. Paare lebten häufig getrennt, wenn es die kollektivistische Organisation der Arbeit erforderte (s. Kap. 9). 1975 wurde von der UNO zum Internationalen Jahr der Frau erklärt. Es löste eine weltweite Welle gegen noch bestehende Vorrechte und Privilegien von Männern und Benachteiligungen von Frauen und Kindern aus. In den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren standen einige nord-, west- und mitteleuropäische Länder unter sozialdemokratischer Hegemonie, Leistungen der Sozialstaaten wurden hier ausgebaut, die Bildungszugänge der Mädchen und Frauen deutlich verbessert und eine gemäßigt feministisch inspirierte Ehe- und Familienpolitik geführt (s. Kap. 10). Die fordistisch-kapitalistische Produktions- und Entwicklungsweise hatte in den ideologisch stark polarisierten Gesellschaften West- und Mitteleuropas tragende Konsenselemente (d. h. grundlegende Übereinstimmung der ökonomischen und politischen Eliten und der Massen, die die Wählerschaft stellten, über das politische und ökonomische System des konsumorientierten Kapitalismus). Die Verbreitung einer peripher-fordistischen Variante in den Ländern des globalen Südens wurde hingegen vor allem durch Organisationen internationaler Politik (UNO, Weltbank, Weltwährungsfonds) vorangetrieben (s. Kap. 7). Die kapitalistisch-fordistische Phase endete in den 1970er- und 1980er-Jahren sowohl in Europa und in den USA, als auch in Lateinamerika. China begann genau an dieser Schwelle eine parallele Alternative zum neoliberalen Kapitalismus  : die Öffnung seiner Wirtschaft für kapitalistische Entwicklungen bei Beibehaltung seines kommunistischen politischen Regimes und genossenschaftlichen Formen der Reproduktion. In einigen Ländern des subsaharischen Afrika begannen neoliberale Reformen mit dem Rückbau demokratischer Verhältnisse und der Einfluss einiger global players nahm zu, wohl am auffälligsten in Nigeria (internationale Ölkonzerne wie Shell ).

29

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 29

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

Die neoliberal-kapitalistische Produktions- und Entwicklungsweise

Das wirtschaftspolitische Gedankengut des Neoliberalismus, schon seit den 1940erJahren akademisch entwickelt, wurde ab Mitte der 1970er-Jahre von den ökonomischen und politischen Eliten in den USA und in Europa übernommen. Der Neoliberalismus wird oft fälschlicher Weise auf „De-Regulierung“ reduziert  ; tatsächlich ging er einher mit einer „Re-Regulierung“, d. h. einer Machtverlagerung von staatlichen zu privatwirtschaftlichen Organisationen wie transnationalen Konzernen. Einen Schub erfuhr die aktuelle neoliberale Globalisierung durch den Fall der Berliner Mauer 1989 und die Auflösung der Sowjetunion. Politisch hatte die Phase aber bereits mit einem globalstrategischen Projekt neoliberalistischer Außen- und Weltwirtschaftspolitik der Regierungen der USA und Großbritanniens begonnen. In Chile kam es 1973 zu einem blutigen Militärputsch unter Pinochet und in Argentinien zur Bildung einer Militärjunta (1976–1983) mit einigen Tausend Toten und Vermissten. Damit begann, was heute als neoliberal-imperiale Globalisierung bezeichnet werden kann. Einige Theoretiker sprechen auch von einer ‚zweiten‘ Globalisierung, nach der ‚ersten‘ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Doch während sich in der jüngsten Phase der Globalisierung eine vor allem wirtschaftlich verflochtene globale Machtordnung formierte, war die vorige Phase von einer vor allem politischen Machtordnung, getragen von kolonial erweiterten Nationalstaaten, bestimmt. Die neoliberale Globalisierung hingegen findet unter postkolonialen Bedingungen statt  ; das heißt u. a., dass postkoloniale Nationalstaaten, manchmal Militärdiktaturen, mit den politischen und ökonomischen Eliten Westeuropas und der USA, aber zunehmend auch mit den großen Schwellenländern, v. a. China und Indien, kooperieren. Kulturindustriell und massenmedial (s. Kap. 14) schoben sich in dieser jüngsten Phase die Teile der Welt zunehmend ‚übereinander‘. Als allegorischer Ausdruck und ökonomische Folge des supra- und transnationalen, mondialisierten Kapitalismus werden „die Fremden“ – die in Großstädten wie Paris, Berlin, Frankfurt am Main oder Wien ganze Stadtviertel bevölkern – zu emblematischen Kollektiv-Subjekten einer ‚nicht-westlichen‘, ‚nicht-modernen‘ Kultur mitten in der westlichen Moderne. Der Ganzkörperschleier, der Gesichtsschleier, sogar das Kopftuch der Muslima (das vom Kopftuch der christlichen Tiroler oder slowenischen Bäuerin nicht so verschieden ist) scheinen dies sinnfällig – und nach dem Realismusprinzip, das den Alltagsdiskurs bestimmt – auch ‚zweifelsfrei‘ zu beweisen. Wellen der Arbeitsmigration seit den 1970er-Jahren haben die kulturelle Pluralität der westlichen Städte und Industriegebiete enorm gesteigert. Mit den wachsenden Distanzen der Arbeitswanderung wuchs die kulturelle Fremdheit der Migrantinnen und Migranten 30

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 30

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

(s. Kap. 3). Dies verunsicherte nicht nur die angestammte Bevölkerung in den westlichen Städten, sie war auch für die Zuwanderer (m/w) selbst voller Schwierigkeiten. Es scheint wahrscheinlich, dass sich Ressentiments und Rassismus in Teilen der Bevölkerung vieler von der Migration stark betroffener europäischer Länder mit der ökonomischen Logik der nationalen und supranationalen (der neoliberalen Doktrin folgenden) Regierungs- und Wirtschaftseliten darin ‚treffen‘ werden, die Zuwanderung nach Kriterien der ökonomischen Nützlichkeit strenger zu regulieren und dies auch mit polizeilich-militärischen Mitteln durchzusetzen. Die seit den 1980er-Jahren neoliberale Politik – zuerst in Großbritannien (Thatcherism) und in den USA (Reaganism) – führte in den europäischen Sozialstaaten zu mehr oder minder starkem Sozialabbau und Machtverlusten nationalstaatlicher wie zwischenstaatlicher Politik. Die globalisierten Finanzmärkte entzogen sich weitgehend politischem Einfluss und wurden, auch nach der letzten schweren Krise der Finanzmärkte, nicht nachhaltig re-reguliert. China öffnete sich einer kapitalistischen Entwicklung seiner Wirtschaft, was vor allem die Familien in den Millionenstädten ökonomisch stärkte und auf privaten Konsum orientierte (s. Kap. 9). Nach dem Attentat fundamentalistischer Moslems auf das World Trade Center in New York begann eine Epoche neuartiger, niederfrequenter Kriege (s. Kap. 18) im Zeichen rivalisierender Religionen und Zivilisationen  : Kampf gegen Terrorismus in Afganistan, im Irak, in Indonesien und in allen Metropolen der Welt. Auch dies hat Auswirkungen auf die Regime der Reproduktion, die sich in islamischen, christlichen und hinduistisch dominierten Regionen verstärkt politisch artikulieren  : beispielsweise in der Auseinandersetzung um die Verschleierung der Muslima in europäischen Metropolen, in genozidalen Angriffen muslimischer Gruppen auf Christen im südlichen Sudan oder in den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems in südostasiatischen und indischen Regionen. Vereinfacht gesagt  : Das Religiöse wird verstärkt politisch (s. Kap. 16). Ob die neoliberale Produktionsweise die Bevölkerungen der Welt weiter in Gewinner und Verlierer spaltet und die Benachteiligten zu einem Rückbau von partnerschaftlichen Ehen und Familien zu Notgemeinschaften führen wird, ist derzeit nicht abzusehen. Ebenso unklar ist, wie sich globale Verteilungskonflikte und demografische Krisen (s. Kap. 2) wie der Frauenmangel und die Problematik der Altenversorgung in China und in ganz Ostund Südostasien, der ‚Ausfall‘ von Generationen durch Aids im subsaharischen Afrika, Millionen vaterlose Kinder in den Slums und favelas Südamerikas etc. auf die Reproduktion und die teilweise interkontinentalen Migrationsströme auswirken werden. In der neoliberal-kapitalistischen oder, auf die Landwirtschaft bezogen, „postproduktivistischen“ Entwicklungsweise zeichnen sich mehrere, oft widersprüch31

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 31

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

liche Entwicklungen ab  : die Ablösung von Nationalstaaten durch transnationale Unternehmen (TNCs) als Regulatoren der Weltlandwirtschaft  ; die Segmentierung zwischen gentechnologisch manipulierten sowie „frischen“ und „biologisch“ erzeugten Lebensmitteln für unterschiedliche, jeweils mit entsprechendem ökonomischem und kulturellem Kapital ausgestattete Bevölkerungsgruppen (s. Kap. 11)  ; die Differenzierung unterschiedlicher bäuerlicher Wirtschaftsstile zwischen Profitmaximierung und sozial-ökologischen Serviceleistungen für die Gesellschaft. Trotz der enormen Produktivitäts- und Produktionssteigerungen der „produktivistischen“ Entwicklungsweise in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – zunächst in den Industrie-, dann auch in den Schwellen- und Entwicklungsländern – gilt am Beginn des 21. Jahrhunderts weit mehr als ein Zehntel der Weltbevölkerung als hungergefährdet (s. die Kap. 2, 4). Klar ist, dass Hunger zunächst ein Verteilungsund kein Mengenproblem darstellt  ; dennoch wird das prognostizierte Wachstum der Weltbevölkerung in den kommenden Jahrzehnten auch das Mengenproblem in den Vordergrund rücken. Anmerkungen 1 Einen ersten Überblick über ältere und aktuelle Debatten verschaffen  : Sebastian Conrad u. a., Hg., Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt am Main/New York 2007  ; Margarete Grandner u. a., Hg., Globalisierung und Globalgeschichte, Wien 2005  ; Peer Vries, Hg., Global History. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 20 (2009), Band 2  ; Jürgen Osterhammel, Hg., Weltgeschichte. Basistexte, Stuttgart 2008. 2 So Peer Vries, editorial  : global history, in  : ders., Hg., Global History. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 20 (2009), Band 2, 5–21, hier  : 5. 3 Jürgen Osterhammel, Global History in a National Context  : The Case of Germany, in  : Vries, Hg., Global History, 40–58, hier  : 43  ; vgl. auch Jürgen Osterhammel, Einleitung  : Alte und neue Zugänge zur Weltgeschichte, in  : ders., Hg., Weltgeschichte, Stuttgart 2008, 9–32. 4 Osterhammel, Global History in a National Context, 44. 5 Möglichkeiten des transnationalen Vergleichs erörtert Kiran Klaus Patel, Überlegungen zu einer transnationalen Geschichte, in  : Osterhammel, Hg., Weltgeschichte. Basistexte, 67–89. Auch für die transnationale Geschichte, die noch stark der Nationalgeschichte als Ausgangspunkt verhaftet ist, sind die „methodischen Werkzeuge“ des „Vergleichs“ und die „Transferanalyse“ besonders wichtig  ; ebd. 81. Siehe dazu auch Hartmut Kaelble/Jürgen Schriewer, Hg., Vergleich und Transfer, Frankfurt am Main 2003. Dem Vergleich und der Suche nach Transfers und Verflechtungen verpflichtet sind auch Historikerinnen und Historiker, die das Label Histoire croisée für sich gewählt haben, vgl. Michael Werner/Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung der Transnationalen, in  : Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), 607–636  ; zu sozial- und kulturwissenschaftlichen Aspekten des „Kulturenvergleichs“ s. Ilja Srubar/Joachim Renn/Ulrich Wenzel, Hg., Kulturen vergleichen. Sozial- und kulturwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen, Wiesbaden 2005. 6 D. h. des/der Gelehrten, der/die über das Gesamtwissen seiner/ihrer Zeit verfügt.

32

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 32

22.09.2010 07:49:57

Einleitung

  7 Dies steht in einer langen geistesgeschichtlichen Tradition, die in der vorislamischen und islamischen Welt bis auf Ibn Khaldūn im späten 14. Jahrhundert westlicher Zeitrechnung, im französischen Sprachraum v. a. auf Voltaire, im deutschen v. a. auf J. G. Herder und dessen romantischen Kulturbegriff zurückgeht (Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“, 1774). Herder formulierte eine Grundidee des Historismus, die dann im 19. Jahrhundert alle Geisteswissenschaften bestimmte  : Er setzte Kultur mit Zivilisation und Volk in eins. Waren Voltaire, Herder u. a. von Hochachtung für alle ‚Kulturen‘ getragen, traten später chauvinistische und nationalistische Konzepte auf, die auf denselben Denkvorgängen der Reifikation und der Essenzialisierung beruhten.   8 Workshop „Global History 1800–2008“ an der Universität Wien, 22. und 23. Mai 2009  ; Leitung  : Reinhard Sieder u. Ernst Langthaler. Wir bedanken uns beim Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung für die finanzielle Unterstützung. Peter Feldbauer danken wir für erste Ideen zu Themen und Autorinnen und Autoren. Er hat uns die Realisierung und thematische Erweiterung des Buchprojekts überlassen, weil er sich einer Globalgeschichte der frühen Neuzeit zuwenden wollte.   9 Zur wirtschaftswissenschaftlichen Globalisierungstheorie in Differenz zu anderen wirtschaftswissenschaftlichen Theorien und in Bezug auf die Frage, wie sich ökonomische Globalisierung auf die europäischen Wohlfahrtsstaaten auswirkt  : Philipp Genschel/Henning Deters, Mehr Globalisierung, weniger Wohlfahrtsstaat  ? in  : Reinhard Sieder, Hg., Fortschritt. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, ÖZG, 20 (2009), Band 1, 158–180. 10 Arif Dirlik, Globalization as the End and the Beginning of History  : The Contradictory Implications of a New Paradigm, GHC-Working Paper 00/3, Institute on Globalization and the Human Condition (2000), http  ://globalization.mcmaster.ca/wps/dirlik.PDF (20.2.2010) 11 Sandip Hazareesingh/Jonathan Curry-Machado, Editorial – Commodities, Empires, and Global History, in  : Journal of Global History 4 (2009), 1–5, 5. 12 In seinem berühmten Objektivitätsaufsatz nennt Max Weber zwei nützliche Anwendungen des Idealtypus (IT)  : a) eine heuristische Anwendung und b) die Anwendung als Mittel der Darstellung. Beide Formen dürften für eine fächerübergreifende Globalgeschichte relevant sein und sehr häufig genutzt werden, unabhängig davon, ob die Autorinnen und Autoren Webers Text studiert haben. Eine heuristische Anwendung liegt vor, wenn auf empirischer Grundlage ein IT entworfen wird in der Absicht, damit die Suche nach weiteren Fällen von Transfers und Vernetzungen zu orientieren. Für die Darstellung wird der IT nützlich, wenn er die Richtung weist, in welche Richtung Hypothesen gebildet werden können. Die Hypothesen der Globalgeschichte enthalten v. a. Annahmen über die Ursachen und Auswirkungen der Varianten von Transfers und Vernetzungen. Der IT weicht qua Abstraktion gezielt von den konkreten Fällen ab, verleiht aber der Darstellung der in sich vielfältigen und variantenreichen Wirklichkeiten ein „eindeutiges Ausdrucksmittel“. Etwa in der folgenden Art  : In Rechnung stellend, dass wir gar keinen Überblick über alle Fälle und die endlosen Variationen haben können, lässt sich sagen, die realen (bzw. realtypischen) Varianten von Transfers und Vernetzungen umspielen den zu ihnen jeweils gebildeten und darstellbaren IT. Vgl. Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 1904, in  : ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen (1922), 7. Auflage, Tübingen 1988, 146–214. 13 Max Frisch, Vorwort, in  : Alexander Jean Seiler, Hg., Siamo italiani – die Italiener. Gespräche mit italienischen Arbeitern in der Schweiz, Zürich 1965, 7.  14 Agency meint in den Sozialwissenschaften den Anteil von Akteuren und Akteursgruppen an der Gestaltung ihrer sozialen Welten. Dies impliziert jedoch kein freies Subjekt, sondern ein unterworfenes und selber unterwerfendes Subjekt, beispielsweise in der Version von Michel Foucault. In der sozialkonstruktivistischen Theorietradition wird (etwa bei P. Bourdieu oder A. Giddens) angenommen, dass der Akteur (m/w) durch sein Wahrnehmen, Deuten und Handeln Strukturen schafft, während

33

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 33

22.09.2010 07:49:58

Einleitung

die großteils von Menschen geschaffenen Strukturen dieses Wahrnehmen, Deuten und Handeln ermöglichen und begrenzen (zuvorderst in den Strukturen der Sprache). In den Geschichtswissenschaften taucht agency unseres Wissens erstmals in den 1960er-Jahren bei dem britischen Sozialhistoriker E. P. Thompson im Zusammenhang mit dessen neomarxistischer Neufassung von ‚Arbeiterklasse‘ als einer erfahrenden, interpretierenden und handelnden Klasse auf. Vgl. E. P. Thompson, The Making of the English Working Class, London 1963. Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Mit einer Einführung von Hans Joas, Frankfurt am Main/New York 1988. 15 Das Konzept des Eigen-Sinns wurde von Alf Lüdtke in die Geschichtswissenschaften eingeführt. Es referiert auf Hegels Phänomenologie des Geistes, wo es heißt  : „Der eigene Sinn ist Eigensinn“. Hier zeige sich Freiheit, allerdings eine, „welche noch innerhalb der Knechtschaft stehen bleibt“. Wie Lüdtke ausführt, zielt diese Freiheit zum Eigen-Sinn auf Distanz gegenüber herrschaftlichen Zumutungen. Vgl. Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Ergebnisse, Hamburg 1993, 9. 16 Inwieweit das wahrscheinlich umfassendste Konzept, das derzeit ausprobiert wird, jenes der „Big History“, das naturwissenschaftliches Wissen (auf dem aktuellen Stand) zur Entwicklung des Weltalls, des Globus und aller seiner Gesellschaften und aller ihrer Transfers verbinden will, also die epistemologische Kluft zwischen den beiden Wissenschaftskulturen (C. P. Snow) der Geisteswissenschaften und der Naturwissenschaften überwinden möchte, auch gelingen kann, bleibt abzuwarten. Vgl. David Christian, Big History  : The longest ‚durée‘, in  : Vries, Hg., Global History, 91–106. 17 Vgl. dazu Rudolf Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen, Frankfurt am Main 1984. 18 Vgl. dazu Sebastian Conrad/Shalini Randeria, Hg., Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Unter Mitarbeit von Beate Sutterlüty, Frankfurt am Main/New York 2002. 19 Grundlegend  : Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. 20 Als Sozialrealismus bezeichnen wir den für Sozialgeschichte, Demografie und andere Disziplinen der Sozialwissenschaften immer noch typischen Gebrauch von „Struktur“, die als Ordnung verstanden wird, welche das Handeln von Individuen und Gruppen determiniert oder – in älteren Varianten – als eine Art ‚soziale Verfassung‘ gedacht und besprochen wurde  ; dieser Determinismus unterschlägt, wie derartige ‚Strukturen‘ zustande kommen (nämlich durch strukturierendes Handeln), und auch, dass Strukturen den Handelnden nicht nur äußerlich sind, sondern auch ihre Sprache und ihr Bewusstsein, ja sogar ihr Unbewusstes wie eine Sprache strukturiert sind. Damit unterscheidet sich Sozialrealismus grundlegend von strukturalistischen und poststrukturalistischen Konzepten  ; vgl. Reinhard Sieder, Was heißt Sozialgeschichte  ? Brüche und Kontinuitäten in der Aneignung des ‚Sozialen‘, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 1 (1990) 1, 25–48. 21 Strukturfunktionalismus bezeichnet die von der frühen soziologischen Systemtheorie der 1950er- und 1960er-Jahre (Parsons u. a.) hervorgebrachte Vorstellung von Struktur und System, die darunter eine Ordnung verstand, der sich die Akteure (m/w) unterwerfen müssen. Diese Vorstellung unterschlägt tendenziell, dass jedes strukturierte System (wie „die Kultur“ als hegemoniales System bei Parsons oder „die Wirtschaft“ u. a.) durch das teilweise konfliktive und agonale Handeln von Individuen, Gruppen, Klassen etc. allererst hervorgebracht wird und permanent reproduziert, aber auch modifiziert wird. 22 Zum Objektivismus und seinem Konterpart, dem Subjektivismus, vgl. Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1976. Als Einführung geeignet  : Markus Schwingel, Bourdieu zur Einführung, Hamburg 1995  ; Eva Barlösius, Pierre Bourdieu, Frankfurt am Main/New York 2006.

34

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 34

22.09.2010 07:49:58

Einleitung

23 Hervorragend und auch von den Autorinnen (m/w) in diesem Band mehrfach benutzt  : Christopher A. Bayly, Die Geburt der Modernen Welt. Eine Globalgeschichte, 1780–1914, Frankfurt am Main 2006. Für das 19. Jahrhundert vgl. die hervorragende Synthese von Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. Beeindruckend in seiner thematischen Fülle, aber schwer lesbar und etwas untertheoretisiert  : Felipe Fernández-Ar­ mesto, The world. A History, Prentice Hall 2006, 2. Auflage 2009  ; dominant wirtschaftsgeschichtlich  : Kenneth Pomeranz, The Great Divergence. China, Europe, and the making of the modern world economy, Princeton 2000  ; einen sehr guten Überblick über globale Wirtschaftsgeschichten gibt Peer Vries, Global economic history  : a survey, in  : ders., Hg., Global History, 133–169  ; einige der vorliegenden Globalgeschichten haben, was nicht weiter verwundert, eine ökonomische bzw. wirtschaftsgeschichtliche Schlagseite  : Dagegen ist in einer arbeitsteilig verfahrenden Geschichtswissenschaft nichts zu sagen, jedoch bleiben die Theorien zwangsläufig unterkomplex, wenn sie die Verschiedenheiten der Logiken des Ökonomischen, des Sozialen und des Kulturellen (inklusive des Politischen) gerade im Lauf der globalen Transfers nicht hinreichend bedenken. Die Fallen des ökonomischen Determinismus lauern auf diesem Weg. 24 Diese können für das Grundstudium bestens geeignete Überblicke bieten, die von der Expertise der versammelten Autoren (m/w) für einzelne Areas profitieren  ; wie z. B. Michael Mann, Hg., Die Welt im 19. Jahrhundert, Wien 2009  ; Walther L. Bernecker/Hans Werner Tobler, Hg., Die Welt im 20. Jahrhundert bis 1945, Wien 2010. 25 Situiertes Wissen ist ein erkenntnistheoretisches Konzept der feministischen und der reflexiven Wissenschaftstheorie  ; es bricht mit der für die okzidentalen Wissenschaften über Jahrhunderte gültig gewesenen objektivistischen (s. o.) Idee, dass Wissen unabhängig wäre von jenen, die es erarbeiten, vermitteln und erwerben. Diese Annahme erfordert es, den eigenen sozialen Ort der Wissensproduzenten (m/w), deren Privilegien und Zwänge, Perspektivität und Interessen etc. zu reflektieren. Diese Position scheint uns für das Programm einer fächerübergreifenden Globalgeschichte zentral und wegweisend und müsste die Utopie der Kooperation von Forscherinnen (m/w) aus verschiedenen Weltregionen nach sich ziehen. 26 Michael Mann, Geschichte der Macht, Bd. 3/I. Die Entstehung von Klassen und Nationalstaaten, Frankfurt am Main/New York 1998, 166. 27 Vgl. Nina Möllers, Zwischen Machtlosigkeit und Ermächtigung  : Ehe und ‚Rasse‘ in Louisiana im 19. Jahrhundert, in  : Maria Mesner, Hg., Ehe.Norm. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 20 (2009), Band 3, 59–82. 28 Die von Frankreich ausgegangene Regulationstheorie behauptet einen formierenden Zusammenhang zwischen Produktion, Distribution und Konsum resp. Reproduktion, welcher durch staatliche, internationale und supranationale Politik mittels Gesetzen, Abkommen etc. reguliert werde  ; vgl. Robert Boyer/Yves Saillard, Hg., Régulation Theory. The State of the Art, London/New York 2002  ; ganz ähnlich behauptet die Theorie der kapitalistischen Produktionsweisen die Unterscheidbarkeit von mehreren kapitalistischen Produktionsweisen, die sich an Charakteristika der wirtschaftlichen (kapitalistischen) Produktions- und Distributionsweise im engeren Sinn (kurz  : Kapitalstrategien) sowie an mit diesen verbundenen politischen Regimen, Arbeitsmoralen und Alltagskulturen erkennen lassen.  ; vgl. dazu die wichtigen Arbeiten von Joachim Hirsch, Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Post-Fordismus (mit Roland Roth), Hamburg 1986  ; ders., Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen, Hamburg 2002 (völlig überarbeitete Fassung von Der nationale Wettbewerbsstaat [1995/96])  ; ders., Materialistische Staatstheorie. Transformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems, Hamburg 2005. 29 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995.

35

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 35

22.09.2010 07:49:58

Einleitung

30 Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 9, Hamburg 1999, 2063 ff.  ; Gramsci entwickelt hier einen Fragenkatalog, der bereits die Ungleichzeitigkeit der Anfänge des Fordismus in den USA und in Europa zum Anlass nimmt  ; er setzt „Fordismus“ und „Amerikanismus“ als „höchst moderne[n] Form der Produktion und der Arbeitsweise, wie sie vom perfektioniertesten amerikanischen Typus, der Industrie Henry Fords, dargeboten wird“, gleich und folgert  : „[…] Die europäische Reaktion auf den Amerikanismus ist daher aufmerksam zu untersuchen  : ihre Analyse ergibt mehr als ein Element, das notwendig ist, um die gegenwärtige Situation einer Reihe von Staaten des alten Kontinents und die politischen Ereignisse der Nachkriegszeit zu verstehen“, ebd., 2064. Zur technischen, ökonomischen und arbeitsmoralischen Seite der Industrie Henry Fords und ihrer Rezeption in Europa als „amerikanische Gefahr“ vgl. Stefan Bauernschmidt, Ford im Zwischenkriegs-Berlin. Notizen zur Benennung von Ford als amerikanische Gefahr, in  : Oliver Kühschelm, Hg., Nationalisierte Konsumgüter, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, ÖZG 21 (2010), Band 2, 19–49.

36

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 36

22.09.2010 07:49:58

1950er-Jahre: Der Traktor mit Bindemäher substituiert tierische und menschliche Arbeitskraft. Die globale Nahrungsproduktion kann mit der Vervierfachung der Weltbevölkerung im 20. Jahrhundert Schritt halten. Quelle: Deutsche Fotothek Dresden/Wikimedia Deutschland (o.J.), Fotograf unbekannt.

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 37

22.09.2010 07:49:58

Erdöl als Schmiermittel des fordistischen Kapitalismus: Raffinerie Fort Mac Murry in Alberta, Kanada, im Jahr 2008. Foto: Etienne de Malglaive, Bildrechte: Malglaive/REA/LAIF

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 38

22.09.2010 07:49:59

Kapitel 1

Gesellschaftliche Naturverhältnisse Globale Transformationen der Energie- und Materialflüsse Fridolin Krausmann · Marina Fischer-Kowalski

„Der Mensch hat eine Geschichte, da er die Natur verändert. Und diese Fähigkeit gehört zur Natur des Menschen. Der Gedanke ist, dass von allen Kräften, die den Menschen bewegen und ihn neue Gesellschaftsformen erfinden lassen, die bedeutendste Kraft seine Fähigkeit ist, sein Verhältnis zur Natur zu verändern, indem er die Natur selbst verändert“ (Maurice Godelier).1

Einleitung Wir entwerfen hier eine neuerliche Erzählung einer altbekannten Geschichte. Unsere Leistung besteht darin, die Knochen (und das Fleisch, soweit es die Länge des Aufsatzes zulässt) um ein anderes Rückgrat zu arrangieren und damit eine neue Anatomie der altbekannten Geschichte zu rekonstruieren – eine Anatomie, die unserer Meinung nach aus guten Gründen, aber dennoch zu Unrecht, lange nicht erkannt wurde. Das neue Rückgrat, das wir einziehen, ist der Energiestoffwechsel; er ist verantwortlich für die gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Was ist unter gesellschaftlichen Naturverhältnissen zu verstehen ? Gesellschaftliche Naturverhältnisse umfassen eine materielle und eine symbolische Dimension. In diesem Beitrag steht die materielle Dimension im Vordergrund  : Gesellschaft hat eine materielle Komponente (Bevölkerung, Nutztiere, Artefakte usw.) und steht über diese in Wechselwirkung mit der natürlichen Umwelt. Gesellschaft verändert Natur, gezielt und unbeabsichtigt, und Veränderungen in der Natur zeigen Wirkung in der Gesellschaft. Für eine Beschreibung dieser Naturverhältnisse stützen wir uns auf die Konzepte des gesellschaftlichen Stoffwechsels („Sozialer Metabolismus“) und der Kolonisierung von Natur.2 Das Konzept des Stoffwechsels stammt ursprünglich von Karl Marx; er meinte damit die Notwendigkeit des Menschen, in einem sozial organisierten und mit Arbeit verbundenen Prozess seinen Lebensunterhalt durch 39

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 39

22.09.2010 07:49:59

Gesellschaftliche Naturverhältnisse

Austausch mit der Natur zu bewerkstelligen.3 Dieses Konzept wurde inzwischen ausdifferenziert, statistisch als Parallele zur volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung umgesetzt und historisch spezifiziert  : Es ist nicht schlicht „der Mensch“, der mit seinem Stoffwechsel auf Natur angewiesen ist und auf sie einwirkt; die jeweilige gesellschaftliche Produktions- und Konsumptionsweise ist es, die diesen Stoffwechsel qualitativ und quantitativ bestimmt. Energie ist eine zentrale Dimension im gesellschaftlichen Stoffwechsel. Die Verfügbarkeit von Energie begrenzt die Möglichkeiten des Menschen, Natur zu verändern und Ressourcen zu entnehmen, zu transportieren und zu verarbeiten. Über wie viel Energie eine Gesellschaft verfügt und aus welchen Quellen, macht daher einen großen Unterschied – nicht nur für die Natur-, sondern auch für die gesellschaftlichen Verhältnisse. Diesbezüglich lassen sich in der bisherigen Menschheitsgeschichte mehrere ‚sozialmetabolische Regimes‘ unterscheiden, zwischen denen es Übergänge gibt, die in der Regel als ‚Revolutionen‘ bezeichnet werden  : die neolithische Revolution, die den Übergang vom Regime des Jagens und Sammelns zur Agrargesellschaft markiert, und die Industrielle Revolution, die den Übergang vom agrarischen zum industriellen Regime markiert.4 Das ist soweit nicht besonders neu; dennoch  : In unserem Beitrag, der sich infolge der gewählten Zeitperiode vor allem mit den agrarisch-industriellen Übergängen beschäftigt, werden wir zu zeigen versuchen, dass man unter der erweiterten Perspektive der Naturverhältnisse anderes sehen und verstehen kann, als wenn man dem üblichen Interpretationsmuster des technologischen Wandels folgt. Nimmt man nicht nur den handelnden Menschen und seine gesellschaftlichen Beziehungen in den Blick, sondern auch die naturalen Voraussetzungen und Wirkungen dieses Handelns, gewinnt man ein auch quantitativ beschreibbares Verständnis für die Bedingungen, Grenzen und kausalen Beziehungen, das davor bewahrt, Fortschritts- oder Verfallserzählungen aufzusitzen. Fortschritts- und Verfallserzählungen ist gemeinsam, dass sie zumindest implizit einem magischen – und nicht einem an den Naturwissenschaften geeichten realistischen – Naturverständnis folgen. Dem magischen Satz „Mit Gottes Hilfe kann der Mensch Berge versetzen“ würde der Realist antworten  : „Mag schon sein, aber er braucht dazu sicher ziemlich viel Energie.“

Naturverhältnisse vor der Industriellen Revolution, oder Der Stoffwechsel agrarischer Gesellschaften Der Stoffwechsel aller vorindustriellen Gesellschaften basiert auf der Nutzung von Biomasse und damit auf der Fähigkeit pflanzlicher Organismen, durch Fotosyn40

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 40

22.09.2010 07:49:59



Gesellschaftliche Naturverhältnisse

these unter Ausnutzung von Sonnenenergie aus Kohlendioxid, Wasser und Mineralstoffen energiereiche Substanz aufzubauen. In Form von Nahrung und Futter stellt Biomasse die energetische Basis für den Menschen und seine Nutztiere dar und kann von diesen in mechanische Arbeit umgewandelt werden. Durch Verbrennung (von Holz zum Beispiel) wird Raum- und Prozesswärme für Haushalte (Kochen) und Gewerbe (Metallschmelze) sowie Licht bereitgestellt. Die Umwandlung von Wärme in mechanische Arbeit ist bis zur Erfindung der Dampfmaschine nicht möglich; der Verfügbarkeit von mechanischer Arbeit sind damit enge Grenzen gesetzt. Wasser- und Windkraft spielen eine wichtige, aber mengenmäßig untergeordnete Rolle. Abgesehen von wenigen Ausnahmen5 ist Biomasse bis zur Industriellen Revolution der bei Weitem wichtigste Energieträger; in der Regel wurden durch sie 99 Prozent der verfügbaren Primärenergie abgedeckt. Der aller­ größte Teil der Biomasse galt der Ernährung von Menschen und Arbeitstieren. Der Anteil von Brennholz unterlag im Zusammenhang mit der Verfügbarkeit von Holz und klimatischen Bedingungen erheblichen regionalen Schwankungen, und nur ein bescheidener Teil der extrahierten Biomasse wurde für nicht energetische Zwecke verwendet. Mit der Nutzung von Biomasse schaltet sich der Mensch in erneuerbare Energieflüsse ein. Natur wird durch Landbewirtschaftung in einer Art und Weise umgestaltet, die es erlaubt, den gesellschaftlichen Nutzen in Form von verwertbarer Biomasse zu erhöhen. Der deutsche Umwelthistoriker Rolf Peter Sieferle spricht daher vom „kontrollierten Solarenergie-System“ der Agrargesellschaften.6 Auf globaler Ebene prägt dieses kontrollierte Solarenergiesystem bis ins 21. Jahrhundert hinein die gesellschaftlichen Naturverhältnisse des größten Teils der Menschheit. Diesen Grundtypus von gesellschaftlichen Naturverhältnissen bezeichnen wir als das ‚agrarische sozialmetabolische Regime‘. Dieses Regime hat in all seinen regional spezifischen Ausprägungen, die von einer Vielzahl biogeografischer und gesellschaftlicher Faktoren abhängen,7 eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die es deutlich von anderen sozialmetabolischen Regimes (etwa dem der Jäger und Sammler oder eben dem industriellen) abgrenzen. Die Energiebereitstellung basiert auf der kontrollierten Veränderung von Ökosystemen mit dem Ziel, den nutzbaren Biomasseertrag zu erhöhen, also auf Kolonisierung von Natur. Arbeit wird investiert, um Ökosysteme umzugestalten und die Menge an nutzbarer Biomasse, die pro Flächeneinheit geerntet werden kann, zu erhöhen. Grundvoraussetzung dieser Subsistenzweise ist, dass ein positiver Energieertrag (return upon investment, EROI)8 in der Landbewirtschaftung erzielt wird  : Durch die Bewirtschaftung von Land muss deutlich mehr Energie in Form von Biomasse erwirtschaftet werden, als in Form von menschlicher Arbeit (und ihren Vorleistungen wie insbesondere der Ernährung) 41

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 41

22.09.2010 07:49:59

Gesellschaftliche Naturverhältnisse

eingesetzt wird. Schätzungen gehen davon aus, dass in Mitteleuropa vor Beginn der Industrialisierung in der Landwirtschaft ein EROI von etwa 10 zu 1 erzielt wurde. Der erwirtschaftete Überschuss kann zur Versorgung der nichtagrarischen Teile der Gesellschaft dienen – also zur Bereitstellung von Nahrung und Brennholz für die Bewohner von Städten und nicht landwirtschaftlich tätiger Landbevölkerung sowie von Futter für Zugtiere, die all dies transportieren müssen. Je höher der Überschuss, umso komplexere gesellschaftliche Strukturen sind möglich. Allzu groß ist dieser Überschuss jedoch nie; ein System muss schon gut organisiert sein, wenn es gelingt, mit der Arbeit von zehn Bauern mehr als ein bis zwei andere Personen (wie adlige Grundbesitzer, Handwerker oder Beamte) zu erhalten. Auf wachsende Nachfrage nach Nahrung – und die entsteht unter agrarischen Bedingungen in der Regel durch Bevölkerungswachstum – wird im agrarischen Regime zuerst mit einer Ausweitung der in die Bewirtschaftung einbezogenen Fläche reagiert; das heißt häufig auch, dass der Versuch der Eroberung neuer Territorien gemacht wird. Schließlich, wenn Land knapp wird und das Territorium begrenzt ist, bleibt vermehrter Arbeitseinsatz auf der gleichen Fläche zur Erzielung von mehr Ertrag – also die Intensivierung der Flächennutzung. Der Ertrag je eingesetzter Arbeitsstunde sinkt allerdings in der Regel mit zunehmender Intensität und nähert sich asymptotisch einer physischen Grenze an, ab der weitere Intensivierung sich nicht mehr lohnt. Wachstum ist also möglich, führt aber zu einem sinkenden Grenznutzen. Bei Erreichung dieser Grenze bietet sich jenes ‚typische‘ Bild von Agrargesellschaften, in denen der größte Teil der Bevölkerung, einschließlich der Kinder, unablässig schwer arbeitet und dennoch unter Knappheit leidet. Diese Logik, die die (Agrar-)Ökonomin Ester Boserup9 aufgrund von weltweiten Beobachtungen eingehend beschrieben hat, stellt eine sehr grundsätzliche Limitation gesellschaftlicher Entwicklung auf Basis des agrarischen Regimes dar  : In der Regel führt in diesem Regime Wachstum, trotz Fortschritten in den Bewirtschaftungsmethoden und in der Pflanzenzucht, über kurz oder lang zu einer stagnierenden oder gar sinkenden Verfügbarkeit von Material und Energie pro Kopf der Bevölkerung. Eine zusätzliche Begrenzung von Wachstum resultiert aus den Schwierigkeiten des Transports. Überlandtransport beruht auf menschlicher oder tierischer Arbeitskraft,10 ist energetisch kostspielig und lohnt für Massenrohstoffe nur über Distanzen von wenigen Kilometern. Biomasse ist ein dezentraler Rohstoff mit geringer Energiedichte und daher besonders von dieser Transportlimitierung betroffen. Nur wo Wasserwege verfügbar waren, konnten Massenrohstoffe über größere Distanzen transportiert werden. Im agrarischen Regime sind daher dem Wachstum von Städten enge Grenzen gesetzt, und größere urbane Zentren kann es nur an Flüssen oder Küsten mit fruchtbarem agrarischem Hinterland geben. Auch die mangelnde 42

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 42

22.09.2010 07:49:59



Gesellschaftliche Naturverhältnisse

Möglichkeit der Umwandlung von Wärme in mechanische Arbeit schränkt die Freiheitsgrade ein  : Mechanische Arbeit konnte nur von Menschen, Tieren sowie Wasser- und Windkraft geleistet werden; die erzielbare Leistung blieb dabei relativ gering.11 Insgesamt waren durch das kontrollierte Solarenergiesystem der Höhe und der Struktur des gesellschaftlichen Stoffwechsels und seiner räumlichen Ausdifferenzierung Grenzen gesetzt  : Vor Beginn der Industriellen Revolution wurden in Europa zwischen zwei und vier Tonnen Material und 30 bis 70 Gigajoule (GJ)12 Primärenergie pro Kopf und Jahr umgesetzt, wobei über 80 Prozent des Material- und 95 Prozent des Energieumsatzes auf Biomasse entfielen  : Nahrung für Menschen, Futter für Nutztiere, Bau- und Brennholz. Regionale Unterschiede im Stoffwechsel hingen insbesondere mit der unterschiedlichen Relevanz der Haltung von Nutztieren und klimatischen Bedingungen zusammen.13 Agrargesellschaften haben zwar energetisch das Potential für ökologische Nachhaltigkeit, denn sie schalten sich in erneuerbare Flüsse ein und brauchen keine erschöpfbaren Bestände auf. Allerdings beruht gerade das agrarische Regime auf einer massiven Umgestaltung von Natur, die mit Risiken verbunden ist und zu einer Reihe spezifischer Umweltprobleme führt. Die Ausbreitung der Landwirtschaft setzt in den meisten Regionen die Entwaldung des Landes voraus  : In England zum Beispiel waren vor Beginn der Industrialisierung nur mehr wenige Prozent der Landfläche bewaldet; in Mitteleuropa wurden zwischen 900 und 1900 mehr als 50 Prozent der Waldflächen gerodet.14 Veränderungen in der Landbedeckung und Nutzung ziehen Veränderungen in Wasser- und Nährstoffkreisläufen nach sich und sind häufig mit Bodendegradation und Erosion verbunden (siehe zum Beispiel die weitgehend anthropogenen, also menschengemachten, Verkarstungen im Mittelmeerraum). Die Umgestaltung der Ökosysteme führt zu Veränderungen der Fauna und Flora, und der vom Menschen induzierte Transfer von Pflanzen, Nutztieren und Parasiten hat viele ungewollte Nebeneffekte.15 Der enge Kontakt mit Nutztieren fördert Parasiten und Infektionskrankheiten, und in Städten waren Wasser und Luft verschmutzt. Allerdings hatten diese Umweltprobleme lediglich regionalen Charakter. Oft wurden sie von natürlichen Prozessen wie extremen Wetterereignissen ausgelöst oder verstärkt. Zu den gesellschaftlichen Strategien der Problemvermeidung zählten daher auch Portfoliostrategien, also das Setzen auf Diversität (Vielfalt) anstatt auf Spezialisierung und die Unterausnutzung vorhandener Ressourcen. Entscheidend für Nachhaltigkeit agrarischer Gesellschaften war aber, ob es ihnen gelang, Bevölkerung und Bodenfruchtbarkeit, und damit die landwirtschaftlichen Erträge, langfristig in Balance zu halten. Dazu dient – was die Bevölkerung betrifft – die kulturelle (auch rechtliche) Regelung der Familien und der Fortpflanzung. Ehebeschränkungen und massive Sexualtabus (z. B. strenge Ahndung vor43

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 43

22.09.2010 07:49:59

Gesellschaftliche Naturverhältnisse

und außerehelicher Sexualität insbesondere von Frauen) sind charakteristisch für alle Agrargesellschaften. Was die Nahrungsmittelerträge anlangt, ist deren Stabilisierung oder gar Steigerung in einer Landwirtschaft, die ausschließlich auf interne, biologische Betriebsmittel angewiesen ist, ein schwieriges Unterfangen und war nicht immer erfolgreich  : Bodendegradation, Wüstenbildung und in manchen Fällen gesellschaftlicher Kollaps waren Folgen fehlgeschlagener Versuche, Landwirtschaft zu betreiben, bzw. eines Ungleichgewichtes von Bevölkerung und Kapazität des Agrarsystems.16 In der Dreifelderwirtschaft, wie sie in Mitteleuropa am Beginn des 19. Jahrhunderts weit verbreitet war, wurde die Stabilisierung des Niveaus an wichtigen Pflanzennährstoffen durch ein komplexes und arbeitsintensives System von Feldfruchtrotation mit Brache, Sammeln und Ausbringung von tierischem Mist und Nährstofftransfers von Wald und Grünland zu Ackerflächen gewährleistet. Ein weiteres, globales Nachhaltigkeitsproblem blieb von den Agrargesellschaften jedoch völlig unbemerkt, ja es kam ihnen regional sogar zugute. Der Stoffwechsel von Agrargesellschaften beruht im Wesentlichen auf Kohlenstoff  : Kohlenwasserstoffe und Proteine sind die Basis der Ernährung und Energieversorgung. Dieser Stoffwechsel verbleibt global im Rahmen der gegebenen biogeochemischen Kreisläufe, da jener Kohlenstoff, der durch Verdauung und Verbrennung in die Atmosphäre freigesetzt wird (CO2 und andere Verbindungen), im Zuge des neuerlichen Pflanzenwachstums wieder absorbiert wird. Dies ist jedoch nur ein Teil der Wahrheit. Durch das Abholzen der ursprünglichen Waldvegetation wurden große Mengen an Kohlenstoff freigesetzt, während die von der Landwirtschaft bevorzugten Pflanzen (im Wesentlichen Gräser) nur sehr wenig Kohlenstoff in ihrer Pflanzenmasse und im Boden speichern. Also führte die Ausbreitung von Agrargesellschaften auf Kosten des Waldes zu einer nicht unerheblichen Anreicherung der Atmosphäre mit CO2. Man schätzt, dass 30 bis 50 Prozent der CO2-Anreicherung der heutigen Atmosphäre auf Änderungen der Vegetation zurückgehen.17

Kohle und Dampfmaschine oder Die englische Erfolgsstory ab Mitte des 17. Jahrhunderts Die metabolische Transition begann in England im 17. Jahrhundert, wo mit der zunehmenden Nutzung von Kohle die Herausbildung eines neuen Energiesystems einsetzte. Im Kern dieses Prozesses stand der Übergang von der Nutzung von Ener­ gieflüssen mit geringer Energiedichte in Form jährlich nachwachsender Biomasse zur Ausbeutung großer, über lange geologische Zeiträume akkumulierter Energiebestände, die in Form von Kohle konzentriert und mit hoher Energiedichte vorlagen. 44

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 44

22.09.2010 07:49:59



Gesellschaftliche Naturverhältnisse

Anfangs wurde diese Kohle lediglich als durchaus unbeliebter Brennstoff in den Öfen der in den urbanen Zentren wohnenden Manufakturarbeiterfamilien genutzt, für deren steigenden Bedarf es nicht mehr ausreichend Brennholz gab; Kohlevorräte befanden sich glücklicherweise in der Nähe dieser Zentren, und Kohle konnte günstig auf Wasserwegen transportiert werden. Solche dicht besiedelten Manufakturzentren gab es, da es die englischen Großgrundbesitzer schon im 17. Jahrhundert profitabler gefunden hatten, ihr Land für Rohstoffe der Textilindustrie zu nutzen statt zur Ernährung einer in ihren Augen teilweise überflüssigen Landbevölkerung. Um 1800 wurden in England bereits 900 Kilogramm Kohle pro Kopf und Jahr genutzt (Abb. 1a). Weltweit war das ein ganz neuer Entwicklungspfad und – wie sich am rapiden wirtschaftlichen Aufschwung Englands zeigte – ein äußerst erfolgversprechender. Der Anteil Englands an der Weltkohleförderung betrug um 1800 etwa 90 Prozent. Davon wurde ein nicht unerheblicher Teil in andere europäische Länder exportiert, die bald die Vorteile einer kohle-basierten Wirtschaftsweise zu erkennen begannen. Quantitativ gesehen verblieben dennoch weite Teile des restlichen Europa, die USA und Japan, so wie alle anderen Weltregionen, bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts weitestgehend dem agrarischen sozialmetabolischen Regime verhaftet und stützten sich fast ausschließlich auf Biomasse als Rohstoff und Energieträger. Erst um 1850 zeigt sich die Energietransition in weiteren europäischen Ländern; der Kohleverbrauch pro Kopf stieg auch in Deutschland, Frankreich und den USA rasch an (Abb. 1a). In führenden Industrienationen wie Deutschland und den USA wurde bereits um 1870 die Marke von 1.000 Kilogramm pro Kopf und Jahr überschritten, in den meisten anderen europäischen Ländern, wie etwa in Frankreich oder Österreich, erst deutlich später. Nachzügler wie Japan und Russland bzw. die UdSSR begannen erst nach der Wende zum 20. Jahrhundert, größere Mengen Kohle zu verbrauchen. In dieser Phase beschränkte sich die metabolische Transition im Wesentlichen auf Europa, Japan und die USA. Allein in den vier Ländern England, Frankreich, Deutschland und den USA wurden um 1900 noch mehr als 70 Prozent der Weltkohleförderung verbrannt. In fast allen anderen Regionen der Erde wurden dagegen bestenfalls regional industriell-urbane Zentren von der metabolischen Transition erfasst. Dementsprechend war der durchschnittliche Kohleverbrauch pro Kopf in Ländern wie Indien, China oder Brasilien noch am Beginn des 20. Jahrhunderts mit weit unter 100 Kilogramm pro Kopf und Jahr verschwindend gering. Es gab ganz im Gegenteil ein aktives Interesse der sich industrialisierenden europäischen Länder, andere Weltregionen mittels Kolonialismus auf die Rolle von Lieferanten billiger Agrarprodukte und anderer Rohstoffe sowie als Absatzmärkte sich entwickelnder Industrieproduktion festzulegen und sie nicht selbst an industrieller Entwicklung teilhaben zu lassen. 45

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 45

22.09.2010 07:49:59

Gesellschaftliche Naturverhältnisse 300

UK Frankreich Deutschalnd USA Japan

3000

2000

1000

200

100

1a  Kohleverbrauch

1910

1900

1890

1880

1870

1860

1850

1840

1830

1820

1810

1800

1790

1b  Roheisenproduktion

200

1200

Landesfläche Großbritannien Kohleverbrauch als virtueller Waldfläche

150

Fläche in 1000 km²

100

800

400

50

1900

1885

1870

1855

1840

1825

1810

1795

1750

1910

1900

1890

1880

1870

1860

1850

1840

1830

1820

1c  Eisenbahnnetz

1780

0

0

1765

Eisenbahnnetzwerk in m/km²

1780

1750

1770

0

1900

1885

1870

1855

1840

1825

1810

1795

1780

1765

1750

0

1760

4000

Roheisenproduktion in kg/Kopf und Jahr

Kohleverbrauch in t/Kopf und Jahr

5000

1d  Virtuelle Waldfläche

Abb. 1: Entwicklung von Kohleverbrauch (1a), Roheisenproduktion (1b) und Eisenbahnnetz (1c) in ausgewählten Ländern 1550/1830 bis 1910 sowie Kohleverbrauch von Großbritannien als virtuelle Waldfläche (1d) Anmerkung zu 1d: Für die Umrechnung des Kohleverbrauchs in virtuelle Waldfläche wurde angenommen, dass eine dem Energiegehalt der Kohle äquivalente Menge an Brennholz durch nachhaltige Waldbewirtschaftung (d. h. durch Nutzung des jährlichen Zuwachses und nicht der stehenden Holzmasse) bereitzustellen ist. Die dafür erforderliche Waldfläche wird als virtuelle Waldfläche bezeichnet. Um 1900 entsprach der Kohleverbrauch von Großbritannien demnach einer Waldfläche vom fünffachen Ausmaß der Landesfläche. Quelle: Eigene Berechnungen nach Brian R. Mitchell, International Historical Statistics, New York 2003; Angus Maddison. Historical Statistics for the World Economy: 1–2006 AD. Online data base, http://www.ggdc. net/maddison/ (1.12.2008); Heinz Schandl/Fridolin Krausmann, The Great Transformation: A socio-metabolic reading of the industrialization of the United Kingdom, in: Marina Fischer-Kowalski/Helmut Haberl, Hg., Socio­ ecological transitions and global change: Trajectories of Social Metabolism and Land Use, Cheltenham, UK/Northampton, USA 2007, 83–115.

46

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 46

22.09.2010 07:49:59



Gesellschaftliche Naturverhältnisse

Kohle, Dampfmaschine, Stahl und Eisenbahn Die Industrielle Revolution und die Durchsetzung des neuen Energiesystems waren aufs Engste mit der Etablierung eines neuen Technikkomplexes verknüpft, der durch das Zusammenwirken von Kohle, Dampfmaschine, Eisen, Stahlerzeugung und Eisenbahn charakterisiert ist.18 Die stationäre Dampfmaschine ermöglichte als Grubenpumpe zunächst eine effizientere Förderung von Kohle und die Ausbeutung tieferer Lagerstätten. Kohle wiederum erlaubte eine Vervielfachung der Eisenproduktion und ab 1870 auch die Erzeugung von hochwertigem Stahl. Die Dampfmaschine sowie reichlich Eisen und später Stahl ermöglichten eine Transportrevolution mittels Eisenbahnsystem und Dampfschifffahrt. Die Entwicklung von Kohleverbrauch, Roheisenproduktion und Eisenbahnnetzen während des 19. Jahrhunderts (Abb. 1) verdeutlicht die führende Position des Vereinigten Königreichs und den Aufholprozess von Nachzüglern wie Deutschland und den USA – die aber erst am Beginn des 20. Jahrhunderts das Niveau des Vereinigten Königreichs erreichten. Zwischen 1840 und 1860 begann in vielen Ländern ein schneller Ausbau der Eisenbahnnetze. Die Eisenbahn und ebenso die Dampfschifffahrt ermöglichten zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die großräumige Trennung von Bevölkerungssegmenten, die Nahrung produzieren, und zunehmend großen Bevölkerungssegmenten, die diese Nahrung als Grundlage anderer, nämlich industrieller, Produktionsprozesse benötigen. Dem Wachstum urbaner Zentren waren damit zum ersten Mal keine Grenzen mehr gesetzt. Dampfmaschinen erlauben die Konversion von Kohle in mechanische Arbeit. Das führte zu einer dramatischen Erhöhung der verfügbaren Leistung im Vergleich zum alten Regime  : Die Möglichkeiten, Materialien zu fördern, zu transportieren, zu verarbeiten und zu verbrauchen, veränderten sich radikal, und eine völlig neue Form des gesellschaftlichen Stoffwechsels entstand  : Zusätzlich zur Biomasse wurden riesige Mengen an Kohle, Baumaterialien und Erzen entnommen und verarbeitet. Im Vereinigten Königreich zum Beispiel stieg der Materialumsatz im Zeitraum 1750 bis 1900 von 60 auf mehr als 400 Millionen Tonnen pro Jahr an. Das Bevölkerungswachstum hielt in dieser Phase mit dem materiellen und energetischen Wachstum nahezu Schritt. Zum ersten Mal in der Geschichte gab es eine steigende Nachfrage nach nichtlandwirtschaftlicher Arbeitskraft  : Die kohlegetriebenen großen Maschinen schufen mit ihrer mechanischen Leistung Voraussetzungen für eine Unzahl von Arbeitsplätzen, an denen die eigentlichen Produkte hergestellt werden mussten. In dieser Phase kam es zwar zu einer Verdoppelung des Material- und Energieverbrauchs pro Kopf; dies steigerte aber nicht den Massenwohlstand, sondern die Ressourcen flossen in den Aufbau des Fabriksystems und in Exporte. Die Umwelt47

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 47

22.09.2010 07:49:59

Gesellschaftliche Naturverhältnisse

bedingungen für die Stadtbewohner verschlechterten sich zusehends. John McNeill bezeichnet in seiner globalen Umweltgeschichte des 20. Jahrhunderts diese Phase nach Charles Dickens als Coketown-Periode  :19 Charakteristisch waren wachsende urbane Industrieregionen mit rauchenden Schloten, beißendem Smog, vergifteten Gewässern, düsteren Arbeitervierteln und Slums. Mit den wachsenden materiellen und energetischen Inputs in das ökonomische System stiegen gleichermaßen auch die Emissionen von giftigen Abgasen und Ruß, der Anfall von Abwässern und Abfällen. Das führte zu neuartigen Umweltproblemen, und vor allem in den industriellen und urbanen Ballungszentren mit ihrem konzentrierten Ressourcenverbrauch erzeugte das einen nie dagewesenen Druck auf die umgebenden Ökosysteme und die Lebensqualität. Gut dokumentiert sind etwa die extremen Smog-Ereignisse in London im 19. und 20. Jahrhundert, bei denen Ruß und Schwefeldioxid außerordentlich hohe, unmittelbar gesundheitsschädliche Konzentrationen erreichten.20 Luft- und Wasserverschmutzung und die damit zusammenhängenden Hygieneund Gesundheitsprobleme entwickelten sich in dieser Phase zu gravierenden und zum Teil überregionalen Umweltproblemen, die die Gesundheit der Stadtbewohner stark beeinträchtigten. Maßnahmen wie die Errichtung von hohen Schloten und Kanalnetzen verlagerten oder verdünnten die problematischen Stoffe, konnten die lokalen Auswirkungen jedoch lediglich mildern. Die Emanzipation des Energiesystems von der Fläche

Kohle war ein erster wichtiger Schritt in der Emanzipation des Energiesystems von der Landfläche und in der Aufhebung traditioneller Wachstumsschranken. Rolf Peter Sieferle hat dafür den anschaulichen Begriff des „unterirdischen Waldes“ geprägt.21 Er hat gezeigt, dass die Energie, die im Brennwert der Kohle steckte, die in Großbritannien jedes Jahr verbrannt wurde, bereits um 1850 dem Brennholzertrag einer virtuellen Waldfläche im Ausmaß der gesamten Landesfläche entsprach. Bis 1900 erhöhte sich das Flächenäquivalent des unterirdischen Waldes auf das Vierfache der Landesfläche (Abb. 1d). Dies kann man so lesen, dass das Vereinigte Königreich für einen gesellschaftlichen Stoffwechsel auf dem damaligen Niveau ein fünfmal so großes Territorium, und noch dazu voll bewaldet, benötigt hätte. Allerdings wurden durch die Kohle nicht alle Limitierungen des solaren Ener­ giesystems außer Kraft gesetzt. Eine sehr grundlegende Abhängigkeit von der flächengebundenen Ressource Biomasse blieb erhalten  : der Bedarf nach Nahrung. Die frühe Industrialisierung war verbunden mit einem starken Anstieg der Bevölkerung. In England zum Beispiel hat sich die Bevölkerung von 1750 bis 1900 mehr als verdoppelt, und sie wurde, einschließlich Frauen und Kindern, in der nichtland48

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 48

22.09.2010 07:49:59



Gesellschaftliche Naturverhältnisse

wirtschaftlichen Produktion auch eingesetzt. Die Verfügung über mehr (technische) Energie hatte menschliche Arbeitskraft keineswegs ersetzt, sondern den Bedarf nach ihr erhöht. Ähnlich wurden Zug- und Arbeitstiere durch die Eisenbahn nicht abgelöst, sondern das Gegenteil war der Fall  : Das weitmaschige Streckennetz der Eisenbahn führte in Kombination mit dem Anstieg der transportierten Waren und Personen zu einem gesteigerten Bedarf nach Nutztieren für Zubringerdienste und regionalen Transport. Bis ins 20. Jahrhundert wuchs der Zugtierbestand kontinuierlich an. Wo es zu einem Ersatz von Brennholz durch Kohle kam, wurde mehr Holz als zuvor für den Eisenbahnbau oder die aufkommende Papierindustrie gebraucht. Insgesamt wuchs daher paradoxerweise mit der Transformation des Ener­giesystems auch der Bedarf an Biomasse, um Menschen und Tiere zu ernähren. Zugleich waren die Potentiale für eine Ausweitung der Anbauflächen weitgehend ausgereizt und die Mittel zur Steigerung der Flächenproduktivität begrenzt. Die wichtigste Beschränkung für eine Steigerung der Produktion war der chronische Mangel an Dünger. Zwar fanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend fossile und mineralische Düngemittel wie Guano, Chile-Salpeter oder Superphosphat in der Landwirtschaft Anwendung; die Mengen blieben aber gering und auf Spezialkulturen wie Orangen oder Tabak begrenzt, und die Nährstoffversorgung musste weiterhin mit betriebs­ internen Mitteln auskommen. Damit blieb eine grundlegende Beschränkung der traditionellen Landwirtschaft aufrecht, die trotz erfolgreicher biologischer Innovationen wie neuer Kulturpflanzen und neuer Landnutzungspraktiken zum Beispiel in England, wo diese Innovationen schon früh umgesetzt worden waren, im 19. Jahrhundert die Getreideerträge stagnieren ließ. Der Import von Nahrungsmitteln aus überseeischen Kolonien, den USA (die ja früh ihren kolonialen Status abgeschüttelt hatten) und Russland war daher notwendig. In den USA nämlich fand eine ganz andere Entwicklung statt  : Bei einer stark wachsenden Bevölkerung, aber einer äußerst geringen Bevölkerungsdichte von nur zwei Einwohnern pro Quadratkilometer, wurden mit der Ausbreitung des Eisenbahnsystems riesige Gebiete mit fruchtbaren Prärieböden für die Nahrungsproduktion erschlossen. Binnen weniger Jahrzehnte entstanden zwischen 1850 und 1920 im Mittleren Westen der USA mehr als 100 Millionen Hektar an hochwertigem Agrarland, nachdem man die indigenen Völker mit ihren extensiven Nutzungsweisen gewaltsam verdrängt hatte. Die Great Plains mit ihren nährstoffreichen Böden erlaubten anfänglich, große Erträge mit geringem Arbeitsaufwand zu erzielen. Die Arbeitsproduktivität dieser Agrarsysteme war außergewöhnlich hoch und ermöglichte einer kleinen landwirtschaftlichen Bevölkerung die Versorgung der dicht besiedelten urbanen Zentren an den Küsten sowie den Export großer Nahrungsmengen nach Europa. Um 1880 exportierten die USA bereits mehr als vier 49

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 49

22.09.2010 07:50:00

Gesellschaftliche Naturverhältnisse

Millionen Tonnen Getreide, Nahrungsgrundlage für mehr als 20 Millionen Menschen. Auch diese Entwicklung war aufs Engste mit dem Technologiecluster der Coketown-Ära verknüpft. Sie hing an der Ausbreitung des Eisenbahnsystems und der Dampfschifffahrt, der Energieversorgung der lokalen Bevölkerung mit Kohle und den Möglichkeiten, die hochwertige Maschinen aus Stahl für die Mechanisierung der Arbeitsabläufe in der Landwirtschaft bedeuteten.

Erdöl und Auto, oder: Die Erfolgsstory der USA ab 1900 Nicht nur die agrarische Produktivität eines Pionierlandes, sondern auch eine andere Ressource versetzten die USA in die Lage, zur Leitnation der nächsten Phase der industriellen Transformation zu werden  : das Erdöl. Erdöl war schon seit den 1860er-Jahren gefördert worden, es wurde aber nur in geringen Mengen und fast ausschließlich als Lampenöl zur Beleuchtung genutzt. Der große Ölboom setzte um 1900 mit der Entdeckung ausgiebiger Ölfelder in Spindletop, Texas, ein. In den USA stieg die jährliche Erdölförderung in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von unter 10 auf 140 Millionen Tonnen an. Vor der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er-Jahre wurden damit bereits mehr als 1.200 Kilogramm Erdöl pro Kopf und Jahr gefördert. Die gesamte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierten die USA die Weltproduktion von Erdöl, ähnlich wie zuvor England mit seiner Kohle. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Ausbeutung der riesigen Lagerstätten in Westasien und verdrängte die USA aus ihrer Weltmarktdominanz. Erdöl hat eine noch höhere Energiedichte als Kohle, ist billiger in der Förderung und lässt sich, Infrastrukturen vorausgesetzt, technisch leicht und kostengünstig transportieren. Erdöl ist daher gewissermaßen die ideale Energieressource überhaupt. Allerdings ist Erdöl (und auch Erdgas) im Vergleich zur Kohle sehr ungleich über den Planeten verteilt. Die bis dahin erfolgreichen europäischen Industrieländer verfügen nur über bescheidene Vorkommen und mussten erst kapitalintensive Verteilungsnetzwerke wie Pipelines, Öltanker und Raffinerien aufbauen, um diese Ressource nutzen zu können; dabei floss solcherart ein Teil der Erträge industrieller Produktion in andere Weltregionen, anfangs insbesondere die USA. Mit der Nutzung von Erdöl entstanden auf diese Weise neue weltgeografische Beziehungen. Mit der Energieressource Erdöl ist ein neuer Technologie-Cluster entstanden. McNeill nannte die sich herausbildende Kombination von Erdöl mit Verbrennungsmotor, Automobil und Flugzeug, (petro-)chemischer Industrie und letztlich auch Elektrizität nach dem Zentrum der US-amerikanischen Automobilindustrie – der Motor Town Detroit – Motown Cluster.22 Der mobile Verbrennungsmotor, eingesetzt in 50

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 50

22.09.2010 07:50:00



Gesellschaftliche Naturverhältnisse

Auto und Flugzeug, steht für die Individualisierung und Beschleunigung des Personenund Güterverkehrs und löste eine neue Transportrevolution aus. Und mit Elektrizität gab es eine neue und universell einsetzbare Energieform, die über den Elektromotor die Mechanisierung einer Vielzahl technischer Prozesse erlaubte. Wie Biomasse in der ersten Phase der Transformation, wurde auch Kohle als Energieträger in dieser zweiten Phase der Transformation nicht völlig verdrängt, sondern blieb die Grundlage für Stahlerzeugung und die thermische Stromerzeugung. Dennoch erreichte der Kohleverbrauch in den USA bereits um 1920 und in den europäischen Ländern einige Jahrzehnte später einen historischen Spitzenwert und begann dann rasch zu sinken. Dagegen stieg der Anteil von Erdöl am gesamten Energiedurchsatz weltweit innerhalb von wenigen Jahrzehnten auf fast 50 Prozent (Abb. 2). 1

1

Biomasse Kohle

2a  Vereinigtes Königreich

2000

1975

1950

1925

1900

1850

2000

1975

1950

1925

1900

0

1875

0 1850

0,25

1825

0,25

1800

0,5

1775

0,5

1750

0,75

1875

Öl, Gas und andere 0,75

2b  Welt

Abb. 2: Die Durchsetzung der neuen Energieträger im Vereinigten Königreich (1750–2000) (2a) und weltweit (1850–2005) (2b). In dieser Abbildung ist der Anteil der drei Fraktionen Biomasse, Kohle sowie Erdöl und Erdgas (inkl. anderer Ener­ gieformen) am gesamten Primärenergieaufkommen dargestellt. Die Biomasse-Fraktion inkludiert neben Brennholz auch sämtliche als Nahrung für Menschen und Nutztiere genutzte Biomasse sowie auch alle für andere Zwecke genutzte Biomasse. Datenquellen: Eigene Berechnungen nach Schandl/Krausmann, Transformation, 97; Fridolin Krausmann u. a., Growth in global materials use, GDP and population during the 20th century, in: Ecological Economics 68 (2009) H. 10, 2696–2705; Bruce Podobnik, Toward a Sustainable Energy Regime, A Long-Wave Interpretation of Global Energy Shifts, in: Technological Forecasting and Social Change 62 (1999) H. 3, 155–172; International Energy Agency (IEA) and Organisation of Economic Co-Operation and Development (OECD), Energy Statistics of OECD and Non-OECD Countries (CD-ROM), Ottawa (2007).

Den ökonomischen Rahmen für die Durchsetzung des neuen Energiesystems in den USA bildet die Kombination aus billiger Energie, Fließbandproduktion und steigenden Einkommen der arbeitenden Klassen, die in der Literatur als Fordismus 51

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 51

22.09.2010 07:50:00

Gesellschaftliche Naturverhältnisse

bezeichnet wird und die Ära von Massenproduktion und Massenkonsum einläutet.23 Die neuen Technologien finden in erschwinglichen und massentauglichen Gütern Anwendung; nun kommt der steigende Energie- und Materialverbrauch auch den Haushalten zugute, deren materieller Wohlstand enorm zunimmt. Zu den materialund energieintensiven Schlüsselprodukten dieser Phase gehören das Automobil, die Zentralheizung, elektrische Haushaltsgeräte und Fleisch. Diese Produkte werden leistbar und verbreiten sich innerhalb weniger Jahrzehnte flächendeckend durch alle sozialen Schichten  : der American way of life bildet sich heraus. In Europa und Japan schlägt diese Dynamik (unter anderem dank amerikanischer Wirtschaftshilfe) erst nach dem Zweiten Weltkrieg voll durch und führt dann zu einer Pro-Kopf-Verdoppelung des jährlichen Energie- und Materialverbrauchs (und natürlich auch der zugehörigen Abfälle und Emissionen) innerhalb von nur 25 Jahren. Für diese bis dahin völlig unbekannte Wachstumsdynamik im gesellschaftlichen Stoffwechsel hat der Schweizer Umwelthistoriker Christian Pfister den Begriff des „1950er Syndroms“ [so die Pfister-Wendung] geprägt und gezeigt, dass in Europa in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu den Ölkrisen in den 1970er-Jahren ein fundamentaler Wandel in den gesellschaftlichen Naturverhältnissen erfolgt.24 Zur rasanten Durchsetzung des neuen sozialmetabolischen Regimes trugen drei sozioökonomische Faktoren entscheidend bei  : Erstens sanken die Energiepreise relativ zu den Preisen anderer Güter deutlich ab, die Bedeutung des Kostenfaktors Energie ging zurück. Zweitens trieben staatliche Infrastrukturprogramme und Interventionen den Ausbau der erforderlichen Pipelines und Stromnetzwerke voran und schufen die erforderliche Verkehrsinfrastruktur.25 Und drittens wurden mittels neuer, breiter staatlicher Wohlfahrtssysteme (in den USA im Rahmen des New Deal durch Roosevelt in den 1930er-Jahren, in Europa erst nach dem Zweiten Weltkrieg) die Masseneinkommen abgesichert.26 In Europa waren es vor allem der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und das European Recovery Program (Marshallplan), das die rasche Durchsetzung vorantrieb. Insgesamt bewirkte das „1950er Syndrom“ eine aufholende Entwicklung und Verbreitung des American way of life im westlichen Europa, Kanada, Australien und Japan. Die meisten anderen Weltregionen und damit der Großteil der Weltbevölkerung blieben davon vorerst unberührt. Das Automobil

Das Automobil ist einer der wichtigsten Faktoren in der Veränderung des gesellschaftlichen Stoffwechsels im 20. Jahrhundert. Es war die Grundlage für eine weitere Transportrevolution  : Die Dichte des Straßennetzes liegt mit mehreren tausend Meter pro Quadratkilometer um ein bis zwei Größenordnungen über dem der 52

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 52

22.09.2010 07:50:00



Gesellschaftliche Naturverhältnisse

Eisenbahn; Zugtiere als Zubringer zu zentralisierten Netzen werden vollkommen überflüssig. Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs in den Industrieländern die Kraftfahrzeugflotte sprunghaft an. Bereits um 1970 kamen auf 1.000 Einwohner mehr als 300 Fahrzeuge, und in den USA war es gar der doppelte Wert (Abb. 3a). Das kostengünstige Automobil ermöglichte damit erstmals einen flächendeckenden Individualtransport, und die Automobilproduktion wurde zum wichtigsten Industriezweig für die ökonomische Durchsetzung des neuen Systems. Dieses Transportsystem verursacht direkt und indirekt enorme Material- und Energieflüsse in der Produktion und im täglichen Betrieb  :27 Je Automobil werden in der Herstellung bis zu 30 Tonnen Materialien verbraucht. In den USA gingen noch in den 1990erJahren 10 bis 30 Prozent aller genutzten Metalle und zwei Drittel der Gummiproduktion in die Automobilindustrie. Auch Aufbau und Erhaltung der erforderlichen Verkehrsinfrastruktur brauchen Material und Energie. Pro Kilometer Autobahn werden 40.000 Tonnen Zement, Stahl, Sand und Schotter benötigt, und der Flächenbedarf für Straßen ist 10- bis 15-mal so hoch wie der für die Eisenbahn. Der Transportsektor löst in dieser Phase die Industrie als größten direkten Energieverbraucher ab. Der Kraftstoffverbrauch der Kfz-Flotte wird neben dem Energiebedarf für Raumwärme zum größten Einzelfaktor im gesellschaftlichen Energieverbrauch von Industrieländern. 18 Elektrizitätserzeugung in MWh/Kopf/Jahr

600

300

UK

Frankreich

Deutschland

USA

Japan

Indien

Brasilien

12

6

2000

1990

1980

1970

1960

1950

1940

1910

2000

1990

1980

1970

1960

1950

1940

1930

1920

1910

1900

3a  Kraftfahrzeugbestand

1930

0

0

1920

Kraftfahrzeuge pro 1000 Einwohner

900

3b  Elektrizitätserzeugung

Abb. 3: Kraftfahrzeugbestände und Elektrizitätserzeugung im 20. Jahrhundert Datenquellen: Eigene Berechnungen nach Mitchell, Statistics (Kraftfahrzeuge und Elektrizität) und Maddison, Statistics (Bevölkerung).

53

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 53

22.09.2010 07:50:00

Gesellschaftliche Naturverhältnisse

Elektrifizierung

Elektrizität wird bereits seit dem späten 19. Jahrhundert kommerziell genutzt. Ihre Erzeugung ist nicht an einen bestimmten Primärenergieträger gebunden. Strom wurde zuerst aus Wasserkraft erzeugt, dann in thermischen Kraftwerken aus Kohle und später aus Öl, Gas oder Müll und schließlich seit den 1960er-Jahren auch in Kernkraftwerken. Ausgehend von den USA wurde die flächendeckende Elektrifizierung zu einer Grundvoraussetzung industrieller Entwicklung und Massenwohlfahrt im 20. Jahrhundert. Der Bedarf nach Elektrizität steigt ständig an, wobei die Zunahme direkt an wirtschaftliches Wachstum gekoppelt ist. In allen Industrieländern lässt sich ein kontinuierlicher Anstieg auf heute acht bis zehn Megawattstunden pro Kopf und Jahr beobachten (siehe Abb. 3b); in den USA ist der Stromverbrauch allerdings doppelt so hoch. Die Erzeugung von Strom braucht riesige Mengen an Energie, zumal bis zu 60 Prozent der Primärenergie bei der Stromerzeugung und Übermittlung verloren gehen. In Industrieländern werden 20 bis 25 Prozent der Primärenergie für die Stromerzeugung verwendet. Die einzelnen Länder gehen dabei unterschiedliche Wege und setzen je nach Ressourcen­ ausstattung auf Wasserkraft (z. B. Österreich und Schweden), Kernenergie (z. B. Frankreich) und vor allem auf Kohle (z. B. die neu industrialisierenden Länder wie China oder Indien). Zwei Drittel der derzeitigen Weltkohleförderung gehen daher in thermische Kraftwerke. Alle Technologien haben ihre spezifischen negativen Umwelteffekte  : Wasserkraft stellt einen Eingriff in Ökosysteme dar, und es gibt nur noch wenige Flusssysteme, die in einem natürlichen Zustand sind; thermische Kraftwerke tragen einen großen Teil zu den globalen CO2-Emissionen bei; Kernenergie ist mit hohen Risiken verbunden (Three Mile Island 1979 in den USA; Tschernobyl 1986 in der Ukraine) und mit dem ungelösten Problem der Lagerung langlebiger radioaktiver Abfälle. Heute werden etwa 15 Prozent der Elektrizität durch Kernenergie produziert, wobei die drei Nationen USA, Frankreich und Japan 56 Prozent der Kapazität halten. Elektrizität ist universell und komfortabel einsetzbar und kann zur Beleuchtung, Wärmeerzeugung oder zur Verrichtung mechanischer Arbeit verwendet werden. Der Elektromotor erlaubt die Mechanisierung sehr diffiziler Prozesse. Er hat etwa die Zeitverwendung in Haushalten durch die Verbreitung von Geräten wie Waschmaschine, Geschirrspüler und Staubsauger revolutioniert und eine weitgehende Entkoppelung von physischer Arbeit und Produktionsprozessen in der Industrie ermöglicht. Und schließlich sorgten Transistor und Computerchip für eine Revolution in der Informations- und Kommunikationstechnologie (Telefon, Fernsehen und Computertechnologie). 54

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 54

22.09.2010 07:50:00



Gesellschaftliche Naturverhältnisse

Die grüne Revolution

Wie gezeigt wurde, konnten die USA im 19. Jahrhundert dank ihrer hochproduktiven Landwirtschaft die Schwächen des englischen Transformationsmodells (nämlich Schwierigkeiten in der Nahrungsversorgung einer dichten und wachsenden Bevölkerung) erfolgreich kompensieren und zu ihrem Vorteil nutzen. Es stellte sich aber heraus, dass diese landwirtschaftliche Produktivität kein langfristiges Potenzial hatte und bereits nach wenigen Jahrzehnten auf massive ökologische Beschränkungen stieß  : Die hohen Flächenerträge bei geringem Arbeitseinsatz waren nur möglich, weil die erstmals umgepflügten Prärieböden riesige Reservoirs an über historische Zeiträume akkumulierten Pflanzennährstoffen enthielten. Diese Reservoirs nahmen in den ersten Jahrzehnten nach dem Pflügen allerdings schnell ab. Die Erträge begannen zu sinken und massive Erosionsprobleme stellten sich ein.28 Unter der Voraussetzung der günstigen Verfügung über Erdöl konnte nun mit einem Bündel von Technologien, die an diese neue Energieressource gekoppelt waren, ein neues Erfolgsmodell für die Landwirtschaft geschaffen werden. Der Traktor erlaubte die Substitution aller tierischen und eines Großteils der menschlichen Arbeitskraft in der Landwirtschaft, ähnlich wie die Motorsäge die Geschwindigkeit des Baumfällens um einen Faktor 100 bis 1.000 gegenüber der Axt erhöhte (und so das rasante Abholzen von Regenwäldern ermöglichte). Zum anderen half die auf Petroleum und Erdgas basierende Agrochemie die chronische Nährstoff­ limitation der Landwirtschaft aufzuheben. Im Haber-Bosch-Verfahren wurden ab den 1920er-Jahren unter hohem Energieeinsatz riesige Mengen an Luftstickstoff für die Landwirtschaft verfügbar gemacht.29 Die durchschnittlichen Stickstoffgaben im Ackerbau wurden dadurch auf mehrere 100 Kilogramm gesteigert. Gemeinsam mit mineralischen Kalium- und Phosphatdüngern, Pflanzenschutzmitteln, Erfolgen in der Pflanzen- und Tierzucht konnten Flächenerträge und Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft innerhalb kürzester Zeit vervielfacht werden.30 Ausgehend von den USA und getragen von deren global agierenden Agrarkonzernen, verbreiteten sich diese neuen landwirtschaftlichen Methoden unter der Bezeichnung „grüne Revolution“ über die ganze Welt.31 In Europa fanden sie ihre Anwendung nach dem Zweiten Weltkrieg und erlaubten, den Anteil landwirtschaftlich tätiger Bevölkerung auf fünf Prozent oder weniger zu senken. Die „grüne Revolution“ erfasste auch große Teile der Landwirtschaft in den Ländern des Südens und schuf eine Voraussetzung dafür, dass die globale Nahrungsproduktion mit der Vervierfachung der Weltbevölkerung im 20. Jahrhundert Schritt halten konnte. Die Industrialisierung der Landwirtschaft führte zu einer massiven Umgestaltung der Agrarlandschaft, die erst maschinengerecht gemacht werden musste, und zu einer Reihe 55

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 55

22.09.2010 07:50:00

Gesellschaftliche Naturverhältnisse

spezifischer Umweltprobleme  : Es wurden große Feldeinheiten geschaffen, aus denen man alle Raine, Gehölze und geländemorphologischen Hindernisse entfernte. Die Bearbeitung mit schwerem Gerät förderte Bodenverdichtung und Erosion, und großflächige Monokulturen erforderten einen hohen Einsatz an Agrochemikalien, die Böden und Grundwasser belasteten. Auch der Stellenwert der Landwirtschaft im gesellschaftlichen Stoffwechsel und im Energiesystem veränderte sich grundlegend. Die industrialisierte Landwirtschaft hat einen hohen Energieaufwand. Heute wird mehr Energie in die Agrarproduktion investiert als letztlich in Form von Nahrung gewonnen wird. Mitverantwortlich dafür ist die große Menge hochwertiger Agrarprodukte, die man an Nutztiere verfüttert. Insgesamt hat sich damit die Landwirtschaft im Laufe der sozialmetabolischen Transformation von der wichtigsten Quelle gesellschaftlich nutzbarer Energie zu einer Energiesenke gewandelt.32 Die Gesellschaft hat sich mit der industriellen Transformation für den wichtigsten Teil ihres Stoffwechsels, nämlich die Ernährung der Bevölkerung, von reichlich fließenden externen Energiequellen abhängig gemacht. Ungeachtet dessen schuf die „grüne Revolution“ die Voraussetzung für ein neues Verhältnis zwischen den industriellen Zentren und der globalen Peripherie. Es ­schwand der Bedarf der dicht besiedelten europäischen Länder nach kolonialen Territorien (ein Bedarf, der in dem von den USA getragenen Entwicklungsmodell ohnehin nie gegeben war); unter klarer politischer und militärischer Führung durch die USA galt als erste Priorität, der Gefahr einer planwirtschaftlichen, sozialistischen oder staatskapitalistischen Entwicklung vorzubeugen und das kapitalistische Wirtschaftsmodell westlicher Prägung weltweit durchzusetzen.

Die Grenzen der Dynamik industrieller Transformation seit den 1970erJahren: Gegenwart und Zukünfte Der Anfang vom Ende des US-dominierten Ölregimes?

Zu Beginn der 1970er-Jahre entstand in den USA, auf dem ersten zivilen Großcomputer der Welt, ein komplexes Simulationsmodell des globalen Zusammenhangs von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Dynamik mit ihren naturalen Voraussetzungen und Folgen unter dem provokanten Titel Die Grenzen des Wachstums.33 Die Plausibilität der Ergebnisse dieser Studie von Dennis und Donella Meadows wurde im Folgejahr durch die sogenannte erste Ölpreiskrise der Weltwirtschaft unterstrichen. Als Reaktion auf den Jom-Kippur-Krieg hatten die OPEC-Staaten ihre Erdölförderung gedrosselt und von einem Tag auf den anderen stieg der Ölpreis von drei auf über fünf Dollar pro Barrel. Weitere Ölpreiskrisen folgten in den Jahren 1979 (erster Golfkrieg) und 1990 (zweiter Golfkrieg). Für die USA kam hinzu, dass sie 1970/71, wie 56

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 56

22.09.2010 07:50:00



Gesellschaftliche Naturverhältnisse

im Übrigen schon 1956 von M. K. Hubbert34 vorhergesagt, ihren peak oil, also das Maximum ihrer eigenen Ölförderung, überschritten hatten und so zunehmend von einem wirtschaftlichen Profiteur des Ölregimes zu einem Nettozahler wurden – zumal auch die mit hohem Aufwand geführten Kriege im Nahen Osten die langfristige amerikanische Kontrolle der Ölquellen nicht sicherzustellen vermochten. Auch die neue Energiehoffnung der mit großen Investitionen geförderten Kernenergie erfüllte sich nicht so recht. Kernenergie war nicht nur teurer und entwickelte sich technologisch langsamer als erwartet; sie erlitt auch noch in dieser Zeit einen Rückschlag durch den schweren Reaktorunfall auf Three Mile Island (1979). Weltweit wurden in der Folge eine Reihe von Maßnahmen gesetzt, die den Ölverbrauch reduzierten und den Anstieg des Energieverbrauchs insgesamt deutlich verlangsamten. Es kam zu einem abrupten Einbruch im Material- und Energieverbrauch in den Industrieländern und zu einem Ende des rasanten Wachstums des gesellschaftlichen Material- und Energieverbrauchs pro Kopf (Abb. 4a und b). Ab diesem Zeitpunkt hat sich, für die folgenden drei Jahrzehnte, der Energie- und Materialumsatz in den Industrieländern auf hohem Niveau stabilisiert, und eine weitere Annäherung Europas und Japans an das doppelt so hohe US-amerikanische Niveau blieb aus. Ausgehend von Japan kam es auch zu einer Neuorientierung der Schlüsselindustrie des Ölregimes, der Autoindustrie, in Richtung kleinerer und kraftstoffsparender Fahrzeuge, die sich weltweit durchsetzten. Die US-amerikanische Autoindustrie allerdings blieb auf ihrem angestammten ressourcenintensiven Kurs bis zum Zusammenbruch weiter Teile dieser Industrie in der Krise 2008. Man kann also diese frühen 1970er-Jahre, kulturell eingeläutet von der weltweiten Studentenrevolte 1968 und militärisch von der Niederlage in Vietnam, als eine Zeit der Wende lesen, in der ein langfristiges, von den USA vorangetriebenes sozialmetabolisches Regime des verschwenderischen Umgangs mit Naturressourcen seinem Ende zuging. Zugleich hob ein neues Regime, das der Informations- und Kommunikationstechnologien, gerade an, welches die Chance in sich barg, wichtige menschliche Bedürfnisse mit weniger Ressourcen zu befriedigen. Wenn man diese Zeit so liest, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass jedenfalls die USA selbst ihre Zeichen nicht ausreichend verstanden haben und mit aller Macht noch die nächsten Jahrzehnte versuchten, auf dem business-as-usual-Pfad ihres bisherigen Regimes fortzufahren. Während ihnen auf diesem Pfad der Triumph gegönnt war, den Zusammenbruch des Sowjetreiches zu erleben,35 entstand dank des Ölregimes eine neue, potenziell feindselige Peripherie von vorindustriellen, aber infolge von Ölvorkommen plötzlich ungeheuer reich gewordenen Ländern, von denen viele – ein historisches Zusammentreffen – eine kulturelle Tradition missionarisch-aggressiver religiöser Überzeugung teilten, die sie gegen die USA wendeten. 57

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 57

22.09.2010 07:50:00

Gesellschaftliche Naturverhältnisse 250

100

Vereinigtes Königreich

10

200

150

100

50

80

8

60

6

40

4

20

2

Materialverbrauch [t/Kopf/Jahr]

Energieverbrauch [GJ/Kopf/Jahr]

Energieverbrauch (primäre y-Achse)

500

2000

1990

1980

1970

1960

1950

1940

0

4b  Energie/Materialverbrauch pro Kopf: Welt

60

Wasserkraft, Kernenergie und andere Erdgas Erdöl Kohle Brennholz

Baumineralien Erze und Industriemineralien Fossile Energieträger Biomasse

Milliarden Tonnen

400

1920

1900

2000

1990

1980

1970

1960

1950

1940

1930

1920

1910

1900

4a  Energieverbrauch pro Kopf: UK und Österreich

1930

Materialverbrauch (sekundäre y-Achse)

0

0

1910

Energieverbrauch [GJ/Kopf/Jahr]

Österreich

EJ

300

200

40

20

100

2000

1990

1980

1970

1960

1950

1940

1930

1920

1900

4c  Verbrauch technische Primärenergie: Welt

1910

0

2000

1990

1980

1970

1960

1950

1940

1930

1920

1910

1900

0

4d  Materialverbrauch: Welt

Abb. 4: Die Entwicklung des globalen energetischen und materiellen gesellschaftlichen Stoffwechsels Datenquellen: Fridolin Krausmann u. a., Socio-ecological regime transitions in Austria and the United Kingdom, in: Ecological Economics 65 (2008) H. 1, 187–201; ders., Growth.

Metabolismus und Umwelt im 21. Jahrhundert Insgesamt hat die zweite Phase der metabolischen Transition auf globaler Ebene in den letzten hundert Jahren zu einer Steigerung des jährlichen Materialdurchsatzes von 8 auf 60 Milliarden Tonnen geführt, der Primärenergieverbrauch stieg von 50 auf 480 Exajoule (Abb. 4c u. d). Die Vervielfachung des gesellschaftlichen Stoffwechsels wurde zum Teil vom ausgeprägten Wachstum der Weltbevölkerung, die sich in diesem Zeitraum etwa vervierfachte, angetrieben. Einen wesentlichen Beitrag leistete aber auch die Steigerung der pro Kopf in den Industrieländern verbrauchten Mengen 58

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 58

22.09.2010 07:50:01



Gesellschaftliche Naturverhältnisse

an Material und Energie (4a und b). In ausgereiften Industrieländern beträgt der durchschnittliche jährliche Materialdurchsatz in der Regel zwischen 15 und 30 Tonnen, der Energiedurchsatz 200 bis 450 Gigajoule pro Kopf und der Anteil der Biomasse am Materialumsatz unter 30 Prozent (Tabelle 1). Mit der metabolischen Transition erfolgte zudem eine enorme Diversifizierung der genutzten Materialien.36 Der industrielle Stoffwechsel hat zu einer großen Zahl von regionalen und einer Reihe von globalen Umweltproblemen geführt und die gesellschaftliche Dominanz über natürliche Systeme auf ein völlig neues Niveau gehoben. Am Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es praktisch keine vom Menschen unberührten Ökosysteme mehr; viele Arten und Ökosysteme sind verschwunden oder vom Aussterben bedroht.37 Für viele Umweltprobleme, meist klassische Verschmutzungsprobleme, die durch Industrialisierung und rasantes physisches Wachstum entstanden sind, konnten mit steigendem Reichtum in den Industrieländern durchaus auch technische Lösungen gefunden werden. Es wurden Entsorgungssysteme installiert, problematische Stoffe und Gifte aus dem Verkehr gezogen oder durch Filter, Abbauverfahren und ähnliche Maßnahmen kontrolliert unschädlich gemacht. Rachel Carson hatte in ihrem 1962 erschienenen Buch Silent Spring die gesundheitlichen und ökologischen Folgen der weitverbreiteten Anwendung von DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan) in der Landwirtschaft, einem höchst effizienten Insektizid, aufgedeckt;38 Anfang der 1970er-Jahre wurde das Gift schließlich, wenigstens in den Industrieländern, verboten. Ein anderes Beispiel ist saurer Regen und das dadurch verursachte Waldsterben  : Schwefeldioxid wird durch die Verbrennung fossiler Energieträger in großen Mengen freigesetzt und führt durch die Bildung von Schwefelsäure zu saurem Regen. In den 1970er-Jahren rückte dieses bereits lange bekannte Phänomen ins Zentrum des umweltpolitischen Diskurses, man befürchtete großflächiges Waldsterben und die Versauerung von Gewässern. Das führte schließlich zu rigiden Luftreinhaltegesetzen, und relativ rasch setzten sich Filtertechnologien und die Entschwefelung von Energieträgern durch; die Emissionen wurden weitgehend reduziert. Und schließlich sei auch noch das Ozonloch erwähnt  : Bereits fünf Jahre nach der Entdeckung des Ozonlochs im Jahr 1985 wurde ein weitreichendes Verbot der Verwendung von Fluorchlorkohlenwasserstoffen erlassen und auch umgesetzt, seither schließt sich das Ozonloch langsam. Solcherart konnten einige große Umweltprobleme erfolgreich eingedämmt oder ganz eliminiert werden – dabei spielte die neu entstandene Umweltpolitik eine große Rolle. Mit Umweltpolitik allein ist jedoch jenen grundlegenden Umweltproblemen, die sich mit der metabolischen Transition einstellen, nicht beizukommen. Insgesamt haben die vom Menschen verursachten Materialflüsse mittlerweile eine ähnliche Größenordnung erreicht wie die Materialmengen, die in biogeochemischen Prozessen 59

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 59

22.09.2010 07:50:01

Gesellschaftliche Naturverhältnisse

des Planeten umgesetzt werden  : Man schätzt, dass sich die Menschheit am Beginn des 21. Jahrhunderts zum Beispiel bereits fast 30 Prozent der jährlich nachwachsenden Biomasse aneignet und damit einen großen Teil der Lebensgrundlage aller tierischen Organismen.39 Dies gilt in einer Situation und zu einem Zeitpunkt, wo erst rund eine Milliarde Menschen gemäß einem industriellen Stoffwechselprofil leben, während die übrigen fünf Milliarden ein solches zu erreichen trachten und zum Teil in größter Armut existieren. Tabelle 1 zeigt die großen Unterschiede, die auf globaler Ebene in den sozialmetabolischen Profilen verschiedener Länder herrschen, und weist auf die enge Koppelung zwischen Volkseinkommen (gemessen in BIP pro Kopf ) und den dargestellten Indikatoren für Ressourcen- und Umweltverbrauch hin. Zwischen den wohlhabenden Industrieländern und den ärmsten Ländern der Welt klafft ein Unterschied von ein bis zwei Größenordnungen, und im Allgemeinen gilt  : Je höher das Pro-Kopf-BIP eines Landes, umso höher ist auch der Umweltverbrauch. Tabelle 1: Sozialmetabolische Profile ausgewählter Länder im Jahr 2000 BIP pro Kopf Material(Einkommen) verbrauch

Energieverbrauch

CO2-Emissionen

Stromverbrauch

Kraftfahrzeuge

Ökologischer Fußabdruck

$/Kopf/Jahr

t/Kopf/ Jahr

GJ/Kopf/ Jahr

tC/Kopf/ Jahr

GJ/Kopf/ Jahr

Stk./1.000 EW

ha/Kopf

USA

31.618

28

440

5,6

52

761

9,6

Japan

23.804

16

202

2,5

31

551

4,4

Frankreich

23.735

17

252

1,6

29

548

5,6

Deutschland

23.391

20

225

2,7

25

553

4,5

UK

22.560

12

214

2,6

24

418

5,6

Korea

14.010

15

208

2,5

20

223

4,1

Argentinien

11.012

22

227

1,0

 9

204

2,3

Mexiko

  8.231

15

117

1,0

 7

144

2,6

Brasilien

  6.646

16

139

0,5

 8

  92

2,1

China

  3.491

 7

  55

0,6

 4

  10

1,6

Indien

  2.234

 6

  37

0,3

 2

  11

0,8

Datenquellen: The World Bank Group. World Development Indicators 2007 (CD-ROM), Washington 2007; Fridolin Krausmann u. a., The global socio-metabolic transition: past and present metabolic profiles and their future trajectories, in: Journal of Industrial Ecology 12 (2008) H. 5/6, 637–656; G. Marland u. a., Global, Regional, and National CO2 Emissions, in: Trends: A Compendium of Data on Global Change, Oak Ridge, Tenn., U.S.A. 2007; International Energy Agency (IEA), Energy; United Nations, Statistical Yearbook 2001, New York 2004; Global Footprint Network, Global Data Tables, http://www.footprintnetwork.org/en/index.php/GFN/page/footprint_for_nations/ (1.6.2006).

60

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 60

22.09.2010 07:50:01



Gesellschaftliche Naturverhältnisse

Nicht nur die USA haben Anfang der 1970er-Jahre die Zeichen der Zeit nicht richtig erkannt – das gleiche kann man von den übrigen Industrieländern sagen. Es ist nicht gelungen, mit einem neuen metabolischen Profil der Informations- und Kommunikationsgesellschaft die alten Ressourcen vernichtenden Strukturen des industriellen Regimes zu substituieren; die Neuerungen wurden lediglich hinzugefügt. Damit wurde vorerst auch die Chance vertan, aufstrebenden Entwicklungsländern ein neues Modell technologischer und wirtschaftlicher Entwicklung vorzuführen, das um einen ökologisch weitaus geringeren Preis ein hohes Maß an Lebensqualität zu bieten hätte. Nun spitzt sich global die Dynamik der gesellschaftlichen Naturverhältnisse auf große Krisen, wenn nicht Katastrophen, zu. Ein Aufholprozess von derzeit zwei Drittel der Weltbevölkerung auf das gegenwärtige metabolische Niveau der entwickelten Industriegesellschaften würde, selbst wenn man hohe Effizienzgewinne annimmt, fast eine Verdreifachung der jährlichen Ressourcenentnahme bis 2050 bedeuten. Dies in Bezug auf Nahrung für machbar zu erklären schafft die dafür zuständige internationale Organisation der UNO, die FAO (Food and Agriculture Organization) nur unter Vernachlässigung limitierender Faktoren wie Energieverteuerung, Wassermangel und Bodenerosion.40 In Bezug auf technische Energie bedeutet ein solcher Weg eine Rückkehr zur Kohle, ein Trend, der sich global schon abzeichnet, hohe Kosten verursachen wird oder klimapolitisch in die Katastrophe führt. Was die Süß- und Trinkwasserreserven anlangt, ist schon jetzt die Lage in vielen Weltregionen sehr schlecht, und die Zukunft hängt am seidenen Faden des Klimawandels. In Bezug auf andere Ressourcen wie Metalle und seltene Erden würde sich die Konkurrenz so sehr verschärfen, dass zunehmende kriegerische Auseinandersetzungen drohen. Derzeit befindet sich die Welt genau auf einem solchen Entwicklungspfad – und in einer Weltwirtschaftskrise, die vielleicht eine Trendwende erzwingt. Ein politischer Anlauf zu einer solchen Trendwende wurde mit dem KyotoProtokoll unternommen und dem Versuch, die Emissionen des Hauptprodukts des industriellen Stoffwechsels, nämlich Kohlendioxid, global einzuschränken. CO2 und andere sogenannte Treibhausgase sind verantwortlich für eine in der Menschheitsgeschichte noch nie dagewesene Veränderung biogeochemischer Kreisläufe mit gravierenden Auswirkungen auf das globale Klimasystem. Steigende Emissionen von Treibhausgasen sind eine direkte Folge zunehmender Verbrennung fossiler Energieträger. Derzeit werden weltweit mehr als acht Gigatonnen Kohlenstoff emittiert, das entspricht einer weltweiten Pro-Kopf-Rate von 1,5 Tonnen pro Jahr. Abb. 5 zeigt die Entwicklung der CO2-Emissionen in einer Reihe ausgewählter Industrie- und Entwicklungsländer. Die Entwicklung der Emissionsraten spiegelt sehr gut die Phasen der globalen metabolischen Transition wider  : Die Emissions61

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 61

22.09.2010 07:50:01

Gesellschaftliche Naturverhältnisse

rate in England lag um 1750, also in der Frühphase der Industriellen Revolution, bei etwa 250 Kilogramm Kohlenstoff (C) pro Kopf.41 Sie verdoppelte sich bis 1800 auf 500 Kilogramm und bis 1850 noch einmal auf 1.000 Kilogramm. Die europäischen Nachzügler und die USA erreichten den Schwellenwert von 250 Kilogramm erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, brauchten aber deutlich weniger Zeit für die nächsten Verdoppelungen auf 500 und schließlich auf 1.000 Kilogramm. Eine zweite Aufholjagd setzte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein, als aufstrebende Industrienationen in Europa (UdSSR), Ostasien (Japan und später auch Nord- und Südkorea) und Lateinamerika (Mexiko) ihre CO2-Emissionen innerhalb von nur zwei bis drei Jahrzehnten von 250 Kilogramm C pro Kopf und Jahr auf mehr als 1.000 Kilogramm steigerten. Für den weitaus größten Teil der Welt steht dieser Prozess allerdings noch aus  : Große Ökonomien wie Indien oder Brasilien weisen am Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer sehr niedrige Emissionsraten von unter 500 Kilogramm pro Kopf und Jahr auf. In den Industrieländern werden heute im Mittel 3,5 Tonnen C pro Kopf und Jahr emittiert, in allen anderen Ländern weniger als 0,5 Tonnen pro Kopf und Jahr. Um die globale durchschnittliche Erwärmung auf die geforderte Obergrenze von plus 2 Grad zu beschränken, ist eine Reduktion der durchschnittlichen Emissionsrate pro Kopf auf 1.300 Kilogramm erforderlich. 7,0

UK USA Deutschland Japan UDSSR

CO2 Emissionen in tC/Kopf und Jahr

3,5

3,5

2000

1985

1970

1955

1940

1925

1910

1895

1880

1865

1820

5a  Industrieländer

1850

0,0

2000

1985

1970

1955

1940

1925

1910

1895

1880

1865

1850

1835

1820

0,0

Mexiko Brasilien Indien Süd Korea China

1835

CO2 Emissionen in tC/Kopf und Jahr

7,0

5b  Länder des Südens

Abb. 5: CO2-Emissionen aus der Verbrennung fossiler Energieträger und aus der Zementproduktion in ausgewählten Ländern. Angaben in Tonnen Kohlenstoff (C) pro Kopf und Jahr. Datenquellen: Eigene Berechnungen nach Marland, CO2-Emissions (CO2-Emissionen); Maddison, Statistics (Bevölkerung).

62

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 62

22.09.2010 07:50:01



Gesellschaftliche Naturverhältnisse

Schluss Am Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es die unterschiedlichsten Vorstellungen darüber, mit welchen Mitteln der globalen ökologischen Krise beizukommen ist – oder das Vorhandensein einer solche Krise wird überhaupt bezweifelt. Da gibt es die Hoffnung auf technologische Lösungen, die es erlauben sollen, den bisher beschrittenen ökonomischen Wachstumspfad mehr oder weniger ungestört weiter zu gehen. Man setzt darauf, dass, ähnlich wie in der Vergangenheit, technologische end of pipe-Lösungen greifen werden, und will das Klimaproblem durch sogenanntes Geo-engineering42 in den Griff bekommen  : Dazu zählen die Versuche, die Aufnahmekapazität der Ozeane für Treibhausgase durch großflächige Düngung zu steigern, durch künstliche Wolkenbildung die Reflexion der Sonneneinstrahlung zu erhöhen oder durch Carbon Capture and Storage (CCS)43 emittiertes Kohlendioxid einzufangen und unterirdisch einzulagern. Andere setzen auf Effizienzgewinne, durch die Produkte und Dienstleistungen mit deutlich weniger Energie- und Materialaufwand bereitgestellt werden könnten, wodurch ermöglicht werden soll, den gesellschaftlichen Stoffwechsel von wirtschaftlicher Entwicklung zu entkoppeln.44 Im Verbund mit einer sparsameren Lebensweise und der Nutzung von neuen, kohlenstofffreien Energiequellen, von Windkraft über Solarstrom bis zur Kernenergie, soll wirtschaftliches Wachstum möglich bleiben, während der Druck auf das Weltklima und die Umwelt im Allgemeinen reduziert würde. Und schließlich gibt es auch radikalere Vorstellungen, die eine völlige Abkehr vom gängigen Wachstumsparadigma (de-growth) und damit ein neues Gesellschaftsmodell fordern, denn nur so könnten die physischen Lebensgrundlagen für eine wachsende Weltbevölkerung auf Dauer erhalten bleiben.45 Die historische Perspektive liefert hier keine eindeutigen Antworten, aber sie liefert wichtige Einsichten. Es wird deutlich, dass der hohe Material- und Energiebedarf der Industriegesellschaft strukturell bedingt ist und sich nicht einfach durch sparsameres Haushalten reduzieren lässt. Wirtschaftliche Entwicklung und Stoffwechsel sind im industriellen sozialmetabolischen Regime aufs Engste miteinander verknüpft, und die teilweise enormen Effizienzgewinne haben in der Vergangenheit nie zu einer Reduktion im Stoffwechsel geführt, sondern eher weiteres Wachstum angetrieben.46 Die historische Perspektive zeigt zwar, dass in der Vergangenheit oft technologische Lösungen gegriffen haben, aber eben auch, dass mit technischen Lösungen immer wieder neuartige Probleme entstehen und sich eine Risikospirale weiter dreht. Letztlich wird die Gesellschaft zur Kenntnis nehmen müssen, dass physisches Wachstum begrenzt ist und dass es daher darum geht, menschliche Lebensqualität von weiterem Material- und Energieverbrauch 63

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 63

22.09.2010 07:50:01

Gesellschaftliche Naturverhältnisse

zu entkoppeln. Das wird nicht allein über technologische Lösungen zu haben sein, sondern bedarf tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen. Solche Veränderungen werden sich einstellen, unabhängig davon, ob das die relevanten politischen und ökonomischen Akteure wollen oder nicht. Die Vertreter des Konzepts nachhaltiger Entwicklung sind der Meinung, dass es klüger wäre, eine solche Wende proaktiv zu betreiben.

Anmerkungen * Wir möchten uns herzlich bei Rolf Peter Sieferle, der diesen Text freundlicherweise durchgesehen hat, für seine hilfreichen Kommentare bedanken. Dank gebührt weiters Michael Neundlinger, der uns bei der Sammlung und Aufbereitung des verwendeten Datenmaterials unterstützt hat. Die Datengrundlage für diese langfristige Analyse sozialökologischer Transforma­tionsprozesse wurde in den beiden vom FWF geförderten Projekten „Trans­europe“ und „Glometra“ geschaffen. 1 Maurice Godelier, Natur, Arbeit, Geschichte. Zu einer universalgeschichtlichen Theorie der Wirtschaftsformen, Hamburg 1990, 32. 2 Marina Fischer-Kowalski u. a., Hg., Gesellschaftlicher Stoffwechsel und Kolonisierung von Natur, Amsterdam 1997; Peter Baccini/Paul H. Brunner, The metabolism of the anthroposphere, Berlin 1991. 3 Marina Fischer-Kowalski, Society’s Metabolism. The Intellectual History of Material Flow Analysis, Part I  : 1860–1970, in  : Journal of Industrial Ecology 2 (1998) H. 1, 61–78. 4 Rolf Peter Sieferle, Nachhaltigkeit in universalhistorischer Perspektive, in  : Wolfram Siemann, Hg., Umweltgeschichte Themen und Perspektiven, München 2003, 39–60. 5 Im 17. Jahrhundert etwa bildete in den Niederlanden die Ausbeutung von großen Torfvorkommen, die intensive Nutzung von Windenergie und ein dichtes System an schiffbaren Wasserwegen die ener­getische Grundlage für eine außergewöhnliche wirtschaftliche Entwicklung, das Dutch Golden Age. Man geht davon aus, dass in dieser Periode jährlich bis zu 1,5 Millionen Tonnen Torf abgebaut und dabei jährlich 700 Hektar Torfmoor abgegraben wurden. Torf ist natürlich ein – wenn auch nicht so alter – fossiler Energieträger. Siehe J. W. De Zeeuw, Peat and the Dutch Golden Age, in  : A.A.G. Bijdragen 21 (1978), 3–31. 6 Rolf Peter Sieferle, The Subterranean Forest. Energy Systems and the Industrial Revolution, Cam­ bridge 2001. 7 Die lokale Ausprägung agrarischer Subsistenzweisen hängt unter anderem von der Verteilung der Niederschläge und Temperatur übers Jahr, von der Bevölkerungsdichte und der verfügbaren Arbeitskraft, sowie von Herrschafts- oder Grundbesitzverhältnissen ab. In ihrem Erscheinungsbild sind daher die vorindustriellen Agrargesellschaften sehr unterschiedlich  : Sie reichen vom einfachen Wanderfeldbau und Hirtennomadismus bis zu komplexen und ausdifferenzierten Gesellschaften auf der Basis von Ackerbau mit und ohne Viehwirtschaft, Bewässerung oder Fruchtwechsel. 8 Zum Konzept des EROI siehe Charles A. S. Hall u. a., Energy and Resource Quality. The Ecology of the Economic Process, New York 1986, 28. 9 Ester Boserup, Population and Technological Change. A Study of Long-Term Trends, Chicago 1981; dies., The conditions of agricultural growth. The economics of agrarian change under population pressure, Chicago 1965.

64

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 64

22.09.2010 07:50:01



Gesellschaftliche Naturverhältnisse

10 Man muss sich vor Augen halten, dass es energetisch und ökonomisch unsinnig ist, wenn Zugtiere und ihre menschlichen Begleiter auf einer Transportstrecke (und retour) mehr Nahrungsmittel brauchen, als sie tragen können. Sie können also nur entweder sehr wertvolle Dinge transportieren, für die man – in Gewichtsäquivalenten – viel Nahrung eintauschen kann, oder Nahrungsmittel über kurze Strecken. Außerdem ist zu bedenken, dass man für diese Tiere und Menschen zusätzliches bewirtschaftetes Land braucht, um sie zu ernähren – also vergrößern sich auch die Strecken, die überwunden werden müssen. Siehe Rolf Peter Sieferle, Rückblick auf die Natur  : Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt, München 1997, 87. 11 Man muss sich vorstellen, dass ein Pharao für den Pyramidenbau mit 2.000 Arbeitern etwa über jene Leistung verfügen konnte, wie heute ein Arbeiter an einer größeren Straßenbaumaschine. 12 Ein Joule entspricht 0,24 Kalorien und ist eine sehr kleine Einheit. Ein Megajoule (MJ) ist gleich106 Joule, ein Gigajoule (GJ) ist gleich 109 Joule und ein Exajoule (EJ) ist gleich 1018 Joule. Der Energiegehalt (Heizwert) von einem Kilogramm Holz beträgt etwa 15 MJ, der von Kohle 20 bis 30 MJ und der von Erdöl 45 MJ. 13 Die höchsten Biomasseumsätze werden in pastoralen Gesellschaften mit einem sehr hohen Nutztierbestand pro Kopf verzeichnet, die geringsten in Gesellschaften, deren Subsistenzweise überwiegend auf menschlicher Arbeitskraft und pflanzlicher Nahrungsgrundlage beruht (wie zum Beispiel in den Reisanbaugesellschaften in Süd- und Südostasien). 14 H. C. Darby, The clearing of the woodland in Europe, in  : William L. Thomas, Jr., Hg., Man’s Role in Changing the Face of the Earth, Chicago 1956, 183–216; Hans Rudolf Bork u. a., Landschaftsentwicklung in Mitteleuropa, Gotha/Stuttgart 1998. 15 Siehe etwa Alfred W. Crosby, Ecological Imperialism. The Biological Expansion of Europe, 900– 1900, Cambridge 1986. 16 Joseph A. Tainter, The collapse of complex societies, Cambridge 1988; Jared M. Diamond, Collapse  : How societies choose to fail or succeed, New York, NY 2005. 17 Es wird sogar spekuliert, dass dadurch das statistisch erwartbare Eintreten einer neuen Eiszeit verhindert wurde. Siehe William F. Ruddiman, The Anthropogenic Greenhouse Era Began Thousands of Years Ago, in  : Climatic Change 61 (2003) H. 3, 261–293; I. C. Prentice u. a., Contribution of Working Group I to the Third Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change, in  : John T. Houghton u. a., Hg., Climate Change 2001  : The Scientific Basis, Cambridge, MA 2001, 183–237. 18 Arnulf Grübler, Technology and Global Change, Cambridge 1998, 207. 19 John R. McNeill, Something New Under the Sun. An Environmental History of the Twentieth Century, London 2000, 296. 20 Peter Brimblecombe, The Big Smoke. A history of air pollution in London since medieval times, London 1987. 21 Rolf Peter Sieferle, Der unterirdische Wald. Energiekrise und Industrielle Revolution, München 1982. 22 McNeill, Something New, 297. 23 Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld, Fordismus. Über Industrie und Technische Vernunft, Jena 1924; Grübler, Technology, 213. 24 Christian Pfister, Energiepreis und Umweltbelastung. Zum Stand der Diskussion über das „1950er Syndrom“, in  : Wolfram Siemann, Hg., Umweltgeschichte Themen und Perspektiven, München 2003, 61–86. 25 Im Rahmen des New Deal wurden in den USA in den 1930er-Jahren eine Million Kilometer Straßen und 77.000 Brücken gebaut, und mit dem Federal Highway Aid Programm wurde das Land schließlich ab 1956 mit einem umfangreichen Autobahnsystem überzogen.

65

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 65

22.09.2010 07:50:01

Gesellschaftliche Naturverhältnisse

26 Burkhart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/New York 1989. 27 Peter Freund/George Martin, The Ecology of the Automobile, Montreal 1993. 28 Geoff Cunfer, On the Great Plains  : Agriculture and Environment, College Station 2005. 29 Vaclav Smil, Enriching the Earth. Fritz Haber, Carl Bosch, and the Transformation of World Food Production, Cambridge, MA 2001. 30 David B. Grigg, The Transformation of Agriculture in the West, Oxford 1992. 31 Der Begriff der green revolution wurde erstmals von 1968 von William S. Gaud, dem Direktor der US-amerikanischen Entwicklungshilfeagentur USAID geprägt. Siehe auch Murray J. Leaf, Green Revolution, in  : Shepard Krech III u. a., Hg., Encyclopedia of World Environmental History, London/New York 2004, 615–619. 32 David Pimentel/Marcia Pimentel, Food, Energy and Society, London 1979. 33 Dennis L. Meadows u. a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht an den Club of Rome, München 1972. 34 Kenneth S. Deffeyes, Hubbert’s Peak, The Impending World Oil Shortage, Princeton 2001. 35 Aus einer sozialmetabolischen Perspektive entsprachen die Sowjetunion und die mit ihr wirtschaftlich und politisch verbundenen Länder noch weitgehend dem englischen Kohle-Stahl-EisenbahnRegime, zeichneten sich allerdings durch einen besonders hohen Ressourcenverbrauch bei geringen Einkommen aus. 36 In elektronischen Geräten wie PCs oder Mobiltelefonen werden bis zu 60 verschiedene Metalle, darunter äußerst seltene, verarbeitet. Deren Recycling ist angesichts der kleinen Dosen und feinen Verteilung chancenlos. Siehe Lorenz M. Hilty, Information Technology and Sustainability. Essays on the Relationship between Information Technology and Sustainable Development, Norderstedt 2008, 168. 37 Millennium Ecosystem Assessment, Ecosystems and Human Well-Being, volume 1  : Current State and Trends, Washington/Covelo/London 2005. 38 Rachel Carson, Silent Spring, Boston 1962. 39 Helmut Haberl u. a., Quantifying and mapping the human appropriation of net primary production in earth’s terrestrial ecosystems, in  : Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 104 (2007), 12942–12947. 40 Food and Agriculture Organization (FAO), World agriculture  : towards 2030/2050 – Interim report. Prospects for food, nutrition, agriculture and major commodity groups, Rome 2006. 41 Kohlendioxid-(CO2)-Emissionen werden meist in Tonnen Kohlenstoff (C) angegeben. Eine Tonne C entspricht 3,67 Tonnen CO2. 42 National Academy of Sciences, Policy Implications of Greenhouse Warming  : Mitigation, Adaptation, and the Science Base, Washington, DC, 1992, 433–464. 43 Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), Working Group III, IPCC special report on Carbon Dioxide Capture and Storage, Cambridge u. a. 2005, 442 ff. 44 Ernst Ulrich von Weizsäcker u. a., Faktor Vier – Doppelter Wohlstand, halbierter Naturverbrauch. Der neue Bericht an den Club of Rome, München 1995. 45 Im April 2008 fand in Paris die erste wissenschaftliche Konferenz zum Thema degrowth „Economic De-growth for ecological sustainability and social equity“ statt. Siehe http  ://events.it-sudparis.eu/ degrowthconference/en/ (1.8.2009). 46 Robert U. Ayres/Benjamin Warr, The economic growth engine  : How energy and work drive material prosperity, Cheltenham, UK/Northampton, MA, 2009.

66

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 66

22.09.2010 07:50:01

Kommunale Wohnblocks, in großer Geschwindigkeit aus industriell vorgefertigten Bauelementen ­zusammengesetzt, nehmen Millionen Zuwanderer in Chinas Großstädten auf. Wohntürme am Rande von Hongkong, kurz vor ihrer Fertigstellung 2004. Foto: Wolf, Bildrechte: LAIF 

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 67

22.09.2010 07:50:06

In Äthiopien gebären Frauen durchschnittlich mehr als fünf Kinder. Jede 150. Geburt führt zum Tod der Mutter. Hilfsorganisationen verteilen empfängnisverhütende Mittel. Quelle: www.menschenfürmenschen.de

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 68

22.09.2010 07:50:06

Kapitel 2

Demografie  : Der Große Übergang Albert F. Reiterer

Die Zeit vom 18. Jahrhundert bis zum Ende des 21. Jahrhunderts bildet den Großen Übergang von traditionalen regionalisierten Bevölkerungen zu einer modernen umfassenden Weltbevölkerung. Die Menschenzahl verneunfachte sich  ; bis 2100 wird sie sich verdreizehnfachen, dann aber möglicherweise abnehmen. Eine so rapide Bevölkerungszunahme gab es vorher in der menschlichen Geschichte nie, und es wird sie kaum wieder geben.1

Demografischer Diskurs und demografische Analyse Im Jahr 1798 erschien in London ein schmales Büchlein eines unbekannten jungen anglikanischen Geistlichen  : Malthus’ Principle of Population.2 Es war ein antirevolutionäres Pamphlet gegen jeden Fortschrittwunsch, gegen den liberalen Condorcet ebenso wie den naiven Progressiven Godwin. Malthus traf zwei willkürliche Annahmen  : Er sprach vom „geometrischen“ (exponentiellen) Wachstum der Bevölkerung und vom arithmetischen der Nahrung, brachte dafür aber keine empirischen Belege. Da die Bevölkerungszunahme immer die Nahrung übertreffen müsse, sei Wohlstand für alle unmöglich. Diese Annahme stellte sich binnen zweier Jahrzehnte als falsch heraus. Und doch wurde dieser Essay zum Anstoß aller demografischen Debatten bis in die Gegenwart. Doch Demografie als erste empirisch fundierte Sozialwissenschaft gab es schon vorher  : John Graunt hatte im 17. Jahrhundert in England Trends aufgezeigt.3 Johann Peter Sueßmilch beschrieb die Entwicklung in Preußen.4 So ergaben sich zwei parallele Linien, die einander nicht zur Kenntnis nahmen. Beiden tat dies nicht gut. Der „demologische“ Diskurs wurde zu einem Tummelplatz von rassistischen Ideologen. Die Demografie hingegen blieb bis Mitte des 20. Jahrhunderts ohne Theorie, sammelte Daten, bot aber keine Erklärung. 1934 prägte Adolphe Landry den Ausdruck „demografische Revolution“. Dann tauchte das Konzept des Demografischen Übergangs und damit eine demografische Theorie auf. Den Malthusianismus aber vermochte sie nicht zu verdrängen. 69

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 69

22.09.2010 07:50:06

Demografie

Vor allem Ökonomen ziehen diese Ideologie weiter. Eine eigene Debatte findet in der journalistischen Öffentlichkeit der hoch entwickelten Länder statt. Voll Sorge wird auf die erschöpfte Kapazität des „Raumschiffs Erde“ verwiesen. Gleichzeitig wird die Furcht vor dem Aussterben (z. B. der Deutschen in den Schriften von Herwig Birg und Frank Schirrmacher) und der „Überfremdung“ geschürt. Dies ist keineswegs nur ein Diskurs von Rechtsextremen, sondern von mainstream-Journalisten. Der Demografische Übergang ist die idealtypische Darstellung der modernen Bevölkerungsentwicklung mittels zweier Kurven, jener der Fruchtbarkeit und jener der Sterblichkeit. Beschränkt man ihn darauf, ist er die Bezeichnung Theorie nicht wert. Man kann ihn aber als zentrales Problem im komplexen Ablauf der Modernisierung darstellen. Dann wird er zur umfassenden Zentraltheorie sozialer Evolution. Und doch bleibt er datengestützt-empirisch, formalisierbar, damit bestreitbar und wissenschaftlich.

Daten, Quellen und ihre Qualität Bis ins 19. Jahrhundert blieben die Kirchen in großen Teilen Europas die einzige flächendeckende bürokratische Organisation, ein Parallelstaat. Sie besorgten mit der Erfassung der gesamten Bevölkerung eine künftig nationale Funktion, erhoben Geburten, Todesfälle, Hochzeiten und damit auch die Bevölkerungszahl. Diese Daten werden von Historikern stark, von Demografen kaum genutzt. Über die früheren Prozesse sind wir durch Mikrostudien („Historische Demografie“5) somit nicht schlecht informiert. In Skandinavien begann man um 1700 herum, Daten verhältnismäßig guter Qualität staatlich zu sammeln (man findet dies heute fast alles im Internet). Im übrigen Europa machte man dies teils von privater Seite. Anfang 19. Jahrhundert werden schließlich die ersten statistischen Ämter gegründet, ab Mitte des Jahrhunderts überall in Europa. Das indiziert eine neue Stufe des Staatsaufbaus. Außerhalb Europas verfügten die USA seit 1790 über relativ gute Daten für ihr jeweiliges Gebiet. Auch die Kolonialmächte zählten manchmal die Bevölkerungen ihrer Kolonien. Daneben gibt es den Sonderfall China.6 Dort wurden seit zwei Jahrtausenden für Steuerzwecke Bevölkerungsstände systematisch erhoben. Die Prozesse (Fruchtbarkeit, Sterblichkeit) interessierten nicht und galten überdies als selbstverständlich. – Die Datenqualität ist bis nahe an die Gegenwart sehr unterschiedlich. Auch in einzelnen südeuropäischen Ländern (Hellas, Portugal) war sie noch Mitte der 1960er nicht hoch. 70

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 70

22.09.2010 07:50:06



Demografie

Für die Zeit um 1900 haben wir Daten über 90 Prozent der Welt  : über Europa, die USA, China, Indien  ; etwas weniger gute über Lateinamerika  ; fast keine über Afrika südlich der Sahara und einige asiatische Länder. Die Daten finden sich unter anderem in den Jahrbüchern des Völkerbundes der Zwischenkriegszeit. Über die Qualität dürfen wir uns keine Illusionen machen  : Als Edgar Snow Mitte der 1960er China neuerlich besuchte, sagte ihm Mao, er kenne den genauen Bevölkerungsstand nicht. Doch dort ging es um ein bis zwei Dutzend Millionen, bei einer Bevölkerung von etwa 680 Millionen ein bis drei Prozent. Das rückwärtsgewandte Regime des Haile Selassié wusste hingegen zur selben Zeit auch nicht annähernd über die äthiopische Bevölkerung Bescheid. In der Gegenwart bemüht sich die UNO, bis 1950 zurückzurechnen.7 Demografische Entwicklung im engeren Sinn ist abhängig von den Geburten bzw. der Fruchtbarkeit, den Todesfällen bzw. der Sterblichkeit und der Lebenserwartung sowie schließlich den Wanderungen. Selbst auf Staatsebene wissen wir für die Zeit vor 1900 darüber nur wenig. Was es kaum gibt, sind Daten nach sozialer Schicht8. Der Demografische Übergang verlief jedoch nach Schichten unterschiedlich. Die Klassen haben differente Entwicklungspfade. Im Zeitablauf wäre eine Kenntnis darüber wesentlich, weil sich die Klassenstruktur völlig verändert.

Die Entwicklung Allgemeine Überlegungen

Periodenbrüche sind immer symbolisch und daher in gewissem Umfang willkürlich. Das Jahr 1800 ist für die Bevölkerung kein gutes Datum. Bevölkerungsentwicklung ist in ihren Komponenten vom allgemeinen Entwicklungsstand abhängig. Die große Schere im Wohlstand zwischen Nord und Süd öffnete sich aber seit 1600.9 Damals unterschied sich der Lebensstandard in Südchinas Städten und in Westbengalen (Indien) wenig vom Lebensstandard in England. Aber ab 1800 sehen wir in immer rascherem Tempo das Auseinanderfallen der Welt in Räume drastisch unterschiedlichen materiellen Wohlstands. Doch es ist nicht ausschließlich der materielle Wohlstand, der zählt. Für Familienbildung und Kinderzahl sind Mentalitäten von überragender Bedeutung. Anzeichen einer veränderten Haltung zum Kind gab es in Schweden und in Frankreich bereits im 18. Jahrhundert, doch der Rückgang von Sterblichkeit und Fruchtbarkeit setzte erst deutlich später ein. Die ungleiche Entwicklung beginnt. Jede Zeitstruktur ist gleichzeitig eine räumliche Struktur. 71

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 71

22.09.2010 07:50:06

Demografie

Politisch setzte an der Wende zum 19. Jahrhundert allerdings eine neue Zeit ein, die demografische Folgen hatte. Die Weltbevölkerung bildete bisher eine Ansammlung vieler kleiner regionaler Bevölkerungen. Wanderungen hatte es gegeben, sie waren politisch unter Umständen enorm wichtig gewesen. Aber sie hatten demografisch gewöhnlich neue regionale Gesellschaften begründet, nicht zum Netzwerk einer Weltgesellschaft geführt. Das änderte sich nun nachhaltig. Aus kleinregionalen Gesellschaften entstanden „Nationen“ – Bevölkerungen auf staatlicher Ebene, die sich politisch-emotional zusammengehörig fühlten und tatsächlich Bevölkerungen im demografischen Sinn bildeten, also Reproduktionsgemeinschaften. Gleichzeitig erhielt die europäische Expansion, die seit drei Jahrhunderten ablief, ein neues Gesicht. Nun baute ein weltweites Netzwerk auf sie auf. Es entstanden nicht nur neue Gesellschaften europäischen Typs in den USA, in Kanada, in Südamerika, bald auch in Australien. Es entstanden eine globale Metabevölkerung und eine Weltgesellschaft. Sie war und ist zwar alles andere als einheitlich, bildet aber ein System. Die Weltrevolution der Verwestlichung beschleunigte sich. Das Jahr 1950 wird wieder eine historisch-politische Zäsur bilden, dadurch sekundär eine demografische, ähnlich wie 1800. Bereits im 18. Jahrhundert entwickelten sich die Lebens- und Sterbeverhältnisse in einzelnen Weltregionen unterschiedlich. In Europa setzte der große Modernisierungsprozess und damit das Bevölkerungswachstum ein. Es ist bis heute nicht völlig klar, was diese Entwicklung auslöste. Denn die Lebensbedingungen der breiten Masse verbesserten sich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert kaum  ; in Teilen Europas wurden sie sogar schlechter. Dennoch begann die Sterblichkeit in den meisten Regionen West- und Mitteleuropas zu sinken. Das demografische Ancien Régime mit seinen periodischen Sterblichkeitskrisen ging langsam zu Ende. Das Modell  : Der Demografische Übergang

Frank Notestein und Kingsley Davis konzipierten gegen Kriegsende die Idee einer regulären Abfolge demografischer Veränderungen.10 Sie beginnt mit einem deutlichen Sinken der Sterblichkeit – die Wirklichkeit ist komplizierter. Ein, zwei Generationen später realisieren die Familien  : Um drei überlebende Kinder zu haben, muss man nicht mehr sechs in die Welt setzen. Damit sinkt die Zahl der Geburten. Solange die Sterblichkeit abnimmt, die Fruchtbarkeit aber hoch bleibt, wächst die Bevölkerung. Die Wachstumskurve ergibt sich (ohne Wanderungen) direkt aus den beiden anderen Kurven und hat eine doppelt-logistische Form, d. h. eine untere Schwelle und einen oberen Plafond.

72

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 72

22.09.2010 07:50:06



Demografie Phase 1

45

Phase 4 und 5

Phase 2 und 3

40

Geburten / Todesfälle auf 1.000 EW

35 30

Geburten

25

Todesfälle

20

"Natürliches" Wachstum

15

Nettomigration

10 5 0 -5 1790

1810

1830

1850

1870

1890

1910

1930

1950

1970

Abb. 1  : Demografischer Übergang (idealtypischer Verlauf – mit Wanderung) in Westeuropa Phase 1  : Hohe Geburten- und Sterberaten. Die Sterblichkeit schwankt stark, die Lebenserwartung ist gering. Die Bevölkerung wächst nicht oder sehr langsam. Phase 2  : „Modernisierung“ bringt die Sterblichkeit zum Sinken. Die Lebenserwartung steigt, hauptsächlich wegen fallender Kindersterblichkeit. Die Fruchtbarkeit bleibt hoch, die Bevölkerung wächst beträchtlich. Phase 3  : Verzögert reagieren die Familien auf die sinkende Säuglings- und Kindersterblichkeit  ; sie beschränken ihre Kinderzahl. Das Wachstum wird langsamer. Phase 4  : Geburten- und Sterberate pendeln sich auf niedrigem Niveau ein. Der „klassische“ Übergang endet. Phase 5, der Zweite Demografische Übergang in hoch entwickelten Ländern  : die Geburtenrate sinkt unter das Niveau der Sterberate. Wachstum gibt es nur durch Zuwanderung.

Der Demografische Übergang stellt einen fundamentalen Wandel der Mentalität im Bereich der Reproduktion menschlichen Lebens dar. Man hat daher im Anschluss eine Reihe weiterer „Übergänge“ konzipiert  : den „epidemiologischen Übergang“  ; den „Mobilitäts-Übergang“ und den „Gender-Übergang“. Der erste Demografische Übergang ist Teil eines großen Zivilisationsprozesses. Menschliches Leben im Allgemeinen und kindliches Leben im Besonderen gewannen einen Wert, den sie bisher nicht hatten oder allenfalls in Teilen der oberen Mittelschicht. Das wird, bei allen Barbareien des Nationalsozialismus, auch nicht mehr aus der Geschichte zu verdrängen sein. Die Individualisierung als Leitprozess des letzten Vierteljahrtausends bestand unter anderem in der Herausbildung einer neuen Geschlechterordnung. Um 1800 herum verbrachten Frauen in Europa drei Viertel ihres Lebens als Erwachsene damit, Kinder in die Welt zu setzen und zu ernähren. Fast die Hälfte von ihnen erreichte nie das Erwachsenenalter. Die andere Hälfte war schlecht ernährt und blieb meist 73

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 73

22.09.2010 07:50:06

Demografie

ungebildet. Es war eine ungeheure Indolenz und ein von den herrschenden Kräften geförderter Fatalismus. Heute widmen Frauen in hoch entwickelten Gesellschaften höchstens ein Siebtel ihrer Lebenszeit diesem Ziel. Die Wirkung auf die Entwicklung ist gewaltig  : Qualitativ wird in die geringe Zahl von Kindern ungleich mehr an Fürsorge und Erziehung investiert. Das erhöht ihre Lebenserwartung, ihre Chancen und ihre künftige Produktivität. Frauen aber bekommen Zeit für Erwerb außerhalb des Haushalts. Das sind die demografischen Grundlagen des Wohlstands moderner Gesellschaften. Die „Qualität“ von Kindern steht im Vordergrund. Ökonomen fragen  : Warum haben Unterschicht-Familien mehr Kinder als die in der Mittelschicht  ? Kinder stellen doch ein wesentliches Lebensziel dar  ; also sollte ihre Zahl zunehmen, wenn das Einkommen steigt. Nur ‚inferiore Güter‘ werden bei steigendem Einkommen weniger nachgefragt. Sind also Kinder ‚inferiore Güter‘  ? Dagegen wehrt sich das Alltagsempfinden. Der Ausweg heißt  : Es gibt Kinder unterschiedlicher Art. Die meisten Eltern versuchen, ihren Kindern durch Ausbildung gute Startchancen zu geben. Erst in der Mittelschicht, dann überall geht es nicht um viele Kinder, sondern um ‚Qualitäts-Kinder‘. In sie werden Zeit und Geld investiert. Das kann man sich aber nur leisten, wenn man wenige Kinder hat. Die ‚Einkommenselastizität‘ für Kinder und ihre Qualität ist also doch positiv. In ­Europa hat man statt dieser Sprache des ökonomischen Fetischismus zutreffender den Wertewandel betont, welcher die Entwicklung steuert.11 Was im Konzept des Übergangs fehlt, sind Wanderungen. Sie sind aber Teil der demografischen Grundgleichung und für die neue Bevölkerungsweise ebenso kennzeichnend wie das generative Verhalten. Damit aus stets gegebener räumlicher Mobilität eine Wanderung wird, braucht es – zum einen – den modernen Staatsaufbau  ; und – zum anderen – eine Autonomisierung des Menschen. Der moderne Staat zieht Grenzen neuer Art. Sie wurden zu hochbedeutsamen Außenlinien um Zugehörigkeiten und Bedeutungswelten. Zwischen diesen kann der Mensch als Einzelner nun grundsätzlich wählen, ohne dass er aufhörte, Mensch zu sein, weil er vollständig seinen Hintergrund verliert. Mit der weiten Verbreitung bürgerlicher Lebensformen verkleinern sich die ohnehin nicht großen Familien und Haushalte. Die sogenannte Hajnal-Linie, die Grenze in den Heiratsmustern zwischen Nordwesten und Südosten in Europa12, galt weiter und bekam eine neue Bedeutung  : Sie wurde eine vom Entwicklungsstand abhängige Zivilisationsgrenze. An ihr verzögerten sich zeitweise die Verbreitung einer neuen Lebenseinstellung und die Entwicklung der Moderne. Der Demografische Übergang ist in seiner umfassenden Form, mit dem Ersten wie auch dem Zweiten Übergang, Teil des mondialen Modernisierungsprozesses. Fast alle für den Zweiten Übergang genannten Charakteristiken der neuen Verhaltens74

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 74

22.09.2010 07:50:06



Demografie

weisen setzen bereits während des Ersten ein. Meist handelt es sich um Phasenverschiebungen zwischen den Schichten. Er war der wesentlichste verhaltensrelevante Ablauf im Rationalisierungsprozess der Moderne, die Modernisierung im Familien- und im Gebärverhalten. Es ging nicht vorrangig um Kosten-Nutzen-Überlegungen (im Sinn Gary Beckers)  ; die gehörten dazu, waren aber untergeordnet. Es ging um den Willen und die Fähigkeit des Einzelmenschen, das Leben in einem selbstbewussten Lebensplan in die eigenen Hände zu nehmen (im Sinn Max Webers). Nun entscheiden die eigenen Werte und Wünsche, nicht ein bewusstlos von äußeren moralischen Instanzen übernommenes Lebensziel. Die erste Bedingung für einen Rückgang der Fruchtbarkeit war es, die Fruchtbarkeit in das Kalkül der bewussten Wahl einzubeziehen.13 Die Entscheidung, ob man Kinder bekommen will und wie viele, ist nur ein – wenn auch wichtiges – Verhaltensfeld im Rahmen der Säkularisierung. Es wird in Hinkunft als legitime Entscheidungskompetenz des Paars betrachtet, nicht mehr als Selbstverständlichkeit, aber auch nicht mehr als Pflicht. Die drei von Lestaeghe benannten „Revolutionen“ (die kontrazeptive Revolution, die sexuelle Revolution und die Gender-Revolution) sind Aspekte eines einzigen Prozesses, der „Revolution des Privaten“. Die Säkularisierung und Individualisierung ermöglichte erst die Autonomisierung auf der Ebene der Person und der Familie. Individualisierung heißt, dass die Entscheidungskompetenz über das eigene Leben von den Institutionen (auf der Mikro-Ebene mehr die Kirche als der Staat) zum Paar und zu den Einzelpersonen wandert. Modernisierung sieht Leben als Wahl zwischen Alternativen und Präferenzen.

Vorläufer und Nutznießer Europa Der fundamentale demografische Wandel ging von Europa aus. Wir müssen diese Prozesse auf der Ebene der Bevölkerung betrachten, also regional oder national. „Europa“ war keine demografische Einheit. Früh begann der Übergang in Frankreich im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, und zwar in der Île-de-France. Dort war die mentale Modernisierung dank der Aufklärung weiter vorangekommen als im sonstigen Westeuropa. Die durchschnittliche Fruchtbarkeit dürfte im Juste Milieu (1815 bis zur Revolution von 1848) etwa 3,4 Kinder betragen haben. – In Skandinavien setzte der Übergang etwa zur selben Zeit ein. In beiden Gebieten dauerte er sehr lang. Weder in Frankreich noch in den nordischen Ländern sieht die Abfolge der skizzierten idealtypischen Gestalt sehr ähnlich (vgl. Abb. 1 mit Abb. 2). Die Wirtschaft im europäischen späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wuchs, doch die Lebensbedingungen der breiten Masse änderten sich kaum. Die zweite 75

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 75

22.09.2010 07:50:07

Demografie

Hälfte des 18. Jahrhunderts war für die große Mehrheit der Bevölkerung keine gute Zeit. Ihre Reallöhne sanken. Ihr Lebensstandard verfiel, da die Nahrungsmittelpreise anzogen. Dennoch begann die Sterblichkeit in vielen Regionen West- und Mitteleuropas zu sinken. Die ‚Verstetigung‘ der Sterbeverhältnisse begann, aber sehr langsam. Der Zyklus von Perioden hoher Sterblichkeit und der folgenden Auffüllung der Gesellschaften durch mehr Geburten oder Zuwanderer wird bis Mitte 19. Jahrhundert weitergehen. Kalte Winter, Missernten, Seuchen, Kriegsschäden – ob durch feindliche oder ‚eigene‘ Soldaten, machte keinen Unterschied – brachten regelmäßig regionale Krisen. Transportmittel für Nahrung aus Überschussgebieten fehlten weitgehend. Ab 1770 war die Sterblichkeit in Europa gesunken, doch 1820 bis 1870 stieg sie wieder. Die letzte gesamteuropäische Hungersnot herrschte 1816/17, gefolgt von einer Typhus- und – für Europa ein Novum – einer Cholera-Epidemie. Schwere Hungersnöte gab es allerdings noch später, doch stärker auf einzelne Länder beschränkt (Irland 1845–1850, Finnland 1862/63, Ungarn 1873/74). In den rapid wachsenden Städten nahm die Säuglings- und Kindersterblichkeit zu. Der Zuzug ländlicher Unterschichten hielt die Sterblichkeit hoch. 60,00 50,00

Geburtenziffer

40,00 30,00

Sterbeziffer

20,00

Saldo 10,00 0,00 -10,00 -20,00

2010

2000

1990

1980

1970

1960

1950

1940

1930

1920

1910

1900

1890

1880

1870

1860

1850

1840

1830

1820

1810

1800

1790

1780

1770

1760

1750

1740

-30,00

Abb. 2  : Schweden  : Geburten- und Sterbeziffern (roh und gleitender Durchschnitt über 5 Jahre) Datenquelle  : Statistics Sweden.

Mitte des 18. Jahrhunderts lag die Lebenserwartung in Westeuropa bei etwa 25 Jahren. Es war die exorbitante Kindersterblichkeit, die sie so niedrig hielt. Doch auch die Sterblichkeit im Erwachsenenalter war hoch. Zwischen den Ländern gab es 76

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 76

22.09.2010 07:50:07



Demografie

erhebliche Unterschiede. In Dänemark, Schweden und England stieg die Lebenserwartung erstmals schon Mitte des 18. Jahrhunderts. Tatsächlich war in Schweden die Kindersterblichkeit im ersten Lebensjahr schon 1816 bis 1840 deutlich niedriger als ein halbes Jahrhundert später im Deutschen Reich. Auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit lassen sich diese Unterschiede nicht zurückführen  ; die war in Schweden nicht höher als im Deutschen Reich. Die Lebenserwartung nach 1800 sank sogar vorübergehend, obwohl die Ressourcenausstattung der Gesellschaften stieg. Wir sehen eine Kuznets-Kurve demografischer Entwicklung.14 Erhebliche regionale Unterschiede bestanden auch innerhalb von Staaten weiter. Die Mortalität war in Ost- und Süddeutschland groß. Im Westen begann die Lebenserwartung bis zu den Napoleonischen Kriegen zu steigen, blieb sodann ein halbes Jahrhundert auf einem niedrigen Sockel und stieg gegen Ende des 19. Jahrhunderts schnell. Besonders schnell stieg sie dann nach dem Ersten Weltkrieg. Investitionen in allgemeine Hygiene, neue Trinkwasserleitungen und öffentliche Kanalisation sowie Müllbeseitigung unterbrachen Infektionskreisläufe. Massenimpfungen (Pocken seit der Wende zum 19. Jahrhundert, Tuberkulose ab dem 20. Jahrhundert) und spät erst verbesserte Wohnstandards trugen zur Senkung der Sterblichkeit bei. 100 90 80

beide Geschlechter Männer (untere Kurve) Frauen (obere Kurve)

70

Jahre

60 50 40 30 20 10 0 1750

1800

1850

1900

1950

2000

Abb. 3  : Lebenserwartung bei Geburt (LE0,) in Frankreich Wir messen die allgemeine Sterblichkeit gewöhnlich invers, mit der Lebenserwartung bei Geburt [LE0]. Ist diese niedrig, so ist die Sterblichkeit hoch. Datenquelle  : France Meslé/Jacques Vallin, Reconstitution de tables annuelles de mortalité pour la France au XIXe siècle, in  : Population 44 (1989), 1121–1158.

77

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 77

22.09.2010 07:50:07

Demografie

Die sozio-ökonomische Umschichtung in West- und Mitteleuropa brachte bis zum Ersten Weltkrieg hauptsächlich Gewinne für die oberen Klassen. Die Einkommensungleichheit vergrößerte sich. Erst nach dem Ersten Weltkrieg sank sie wieder auf ein niedrigeres Niveau. Die Verbreitung materiellen Wohlstands, besserer Lebensbedingungen und höherer Überlebenschancen ging nicht automatisch vonstatten. Sie musste politisch angeschoben werden.15 Erst dann profitierte tatsächlich ein größerer Teil der Bevölkerung. In der Dynamik wäre daher eine schichtspezifische Analyse dieser Prozesse von überragender Bedeutung. Die Wertmuster des Zusammenlebens, die Einschätzung von Kindern dürften enorm verschieden gewesen sein. Die Auffassung von Familie und insbesondere der Ehe  ; die Kindererziehung  ; die Scheidungsbereitschaft und Ähnliches dürften sich von der Ober- zur Mittel- und zur Unterschicht deutlich unterschieden haben, und zwar nicht immer in eindeutiger Richtung. Die Stärkung der Familie, die man im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu beobachten glaubte, war Teil des Nationenbildungsprozesses. Ein Integrationsprozess trachtete auch die Unterschichten, Bauern und Arbeiter, zu Bürgern zu machen, wenn sich auch diese ‚Gleichheit‘ nur mit größten Einschränkungen realisierte. Die Nationalisierung aller Klassen sollte durch die Standardisierung der Lebenspläne und Lebensmodelle vor sich gehen. Konformität war das wesentliche Merkmal in dieser Phase. „Nationale Homogenität“ war die fetischisierte Form dieses Konformitätsdruckes. Im Symbol der einheitlichen Nationalsprache sollte sich die Disziplinierung aller Zugehörigen realisieren. Nationalisten, Sozialdemokraten, Kommunisten suchten jeweils ein Modell des Mindeststandards für alle, materiell wie kulturell. Lebensformen des mittleren Bürgertums boten sich als konkretes Vorbild an. Die Arbeiterbewegung(en) waren einerseits auf der Suche nach neuen Formen des Lebens. Andererseits wollten die neuen Eliten die Arbeiter disziplinieren. Neue Werte in der Sexualmoral richteten sich zwar gegen Prüderie, fanden im Bemühen um eine menschenwürdige Sexualität aber doch nur wieder die traditionale Familie vor. Die Führer persönlich waren meist konservative Mittel- und Oberschichtangehörige wie etwa der sowjetische Regierungschef Lenin – die Feministin Kollontai agierte in der zweiten Reihe. Auch das Bürgertum hat seine Werte in diesem Ablauf geändert, früher als die Arbeiterschaft. Der Prozess der Zivilisation wurde aber in die Arbeiter geplanter und bewusster hinein­getragen  ; die Modernisierung der Bürger war chaotischer und tastender. Zwischen 1870 und 1930 sank die allgemeine Sterblichkeit deutlich. Im Deutschen Reich reduzierte sich die Kindersterblichkeit in den drei Jahrzehnten nach der Reichsgründung bei Knaben um ein Fünftel  : von 25,3 (1871) auf 20,2 Prozent (1901). Doch auch die fernere Lebenserwartung der Bevölkerung im Alter von fünf Jahren stieg, für Knaben von 49,4 (1871) auf 55,2 Jahre (1901), für Mädchen auf 78

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 78

22.09.2010 07:50:07



Demografie

höherem Niveau ähnlich stark. Die regionalen Unterschiede und später auch die sozialen Differenzen nahmen etwas ab. Die Geburtenzahlen begannen zu sinken. In Frankreich ging dies in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert schneller vor sich als weiter im Osten. Vor dem Ersten Weltkrieg erreichte die Fruchtbarkeit dort mit 2,1 Kindern das Ersatzniveau, also jene Zahl der Kinder, welche den Umfang der Bevölkerung aufrecht erhalten würde. Politiker machten die niedrigen Kinderzahlen für die Niederlage gegen Preußen im Krieg von 1871 und für die anfangs schlechte Stellung im Ersten Weltkrieg verantwortlich. Man dachte in Begriffen politischer, militärischer und demografischer Konkurrenz (George Clémenceau  : „20 Millionen Deutsche zuviel …“). In einigen wirtschaftlich weiter entwickelten Ländern lagen die Kinderzahlen höher  : Für England und Wales wird für das Jahr 1800 eine durchschnittliche Zahl von 5,5 Kindern angenommen. Allerdings sank die Fruchtbarkeit danach deutlich. 1850 lag sie bei 4,6, um 1875 nur mehr bei 3,4 Kindern pro Frau. Das westliche ­ Europa erreichte um 1913 eine Kinderzahl von 2. Noch niedriger war die Fruchtbarkeit in Teilen Skandinaviens. Auch in England dürfte sie vor dem Ersten Weltkrieg zeitweise unter das Reproduktionsniveau gesunken sein. In Ost- und Südeuropa war die Fruchtbarkeit fast doppelt so hoch. Auch in den Alpenländern des Habsburgerstaats, also auf dem Gebiet des heutigen Österreich, lag sie deutlich über dem westeuropäischen Niveau. In außereuropäischen Einwanderungsländern, deren Bevölkerungen überwiegend europäischer Herkunft waren – in den USA, Kanada und Australien –, lagen die Kinderzahlen deutlich über dem westeuropäischen Niveau. Doch bis 1910 war sie auch da stark gesunken. Sie lagen in Australien bei 2,4 und in den USA bei 2,5 Kindern pro Frau. Dies trug gemeinsam mit der Zuwanderung das starke Bevölkerungswachstum dieser Länder. Zwischen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs erreichte das Wachstum der europäischen Bevölkerung im Schnitt 0,78 Prozent pro Jahr. Die zwei Jahrzehnte vorher waren in Europa und in den hauptsächlich von Nachfahren europäischer Migranten besiedelten Regionen in Übersee eine Zeit rascher demografischer Modernisierung. Während des Ersten Weltkriegs kam es in den beteiligten Ländern zu einem Geburteneinbruch. Die pessimistische kollektive Stimmung wirkte. Verlustreich war auch die Epidemie der Jahre 1918 bis 1921. Der Spanischen Grippe fielen mehr Menschen zum Opfer als den Schlachten der Weltkriegsjahre. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es die Tendenz, aufgeschobene Geburten ‚nachzuholen‘. Bei den Siegermächten war dies stärker ausgeprägt als in Deutschland und 79

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 79

22.09.2010 07:50:07

Demografie

der 1918 gegründeten Republik Österreich. In Südeuropa war die Transformation in diesem Zeitraum keineswegs zu Ende. Dort überdeckte der säkulare Geburtenrückgang die konjunkturelle Zunahme. In Italien sank die durchschnittliche Kinderzahl in jener Zeit von 3,1 (1900) auf 2,3 (1925)  ; in Spanien von 3,4 (1900) auf 2,3 (1925). Die beiden Jahrhunderte zwischen 1750 und 1950 waren militärisch, politisch und ökonomisch die ‚große Zeit‘ Europas. In demografischer Hinsicht galt dies nur bedingt. Im Jahr 1800 lebten hier 20,8 Prozent aller Menschen, bis 1900 stieg der Anteil auf 24,7 Prozent. Danach sank er wieder auf 21,7 Prozent (1950). Absolut finden wir hier (einschließlich Russlands) um 1800 rund 203 Millionen  ; 1950 547 Millionen Menschen. Es war nicht Europa im engeren Sinn, welches nach 1800 deutlich an Einwohnern gewann. Es waren vor allem jene Regionen in Übersee, die zum Großteil von europäischen Zuwanderern und deren Kindern besiedelt wurden und die europäischen Strukturen übernahmen.

Die Weltbevölkerung und ihr Wachstum bis zum Zweiten Weltkrieg Um 1800 gab es knapp eine Milliarde Menschen, 150 Jahre später 2½ Milliarden. Über die gesamte Periode gerechnet betrug die jährliche Wachstumsrate 0,63 Prozent. Dieses Wachstum, um ein Vielfaches größer als in allen Perioden davor, führte zu einer Verdoppelung der Weltbevölkerung zwischen 1850 und 1950 (Abb. 4). Unsere Daten lassen nur ein fragmentarisches Bild von der Verteilung zu. Das jährliche Bevölkerungswachstum Europas von 0,66 Prozent lag knapp über dem globalen Schnitt, aber um die Hälfte unter dem jährlichen Wachstum Lateinamerikas (+1,30 Prozent) und Ozeaniens (+1,26 Prozent)  ; dreimal so hoch wie in Europa war es in Nordamerika (+2,16 Prozent). Bis zum Ersten Weltkrieg entsprang dieses hohe Wachstum dort hauptsächlich der Massenzuwanderung aus Europa. Ohne die Auswanderung wäre umgekehrt der Bevölkerungsanstieg in Europa schwerer zu bewältigen gewesen. Asien, Afrika, Lateinamerika

In China begann Mitte des 17. Jahrhunderts mit der Machtübernahme durch die Ching-Dynastie ein ansehnliches Bevölkerungswachstum. Es dauerte bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Einwohnerschaft verdoppelte sich bis um 1800 auf rund 300 Millionen, ein knappes Drittel der Menschheit, und nahm danach weiter zu. Es ist nicht ganz klar, was dahinter stand. Teil der Erklärung dürfte 80

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 80

22.09.2010 07:50:07



Demografie 12.000

Projektion Hauptvariante 10.000

Welt Afrika Asien Europa

8.000

in 1.000

Lateinamerika und Karibik Nordamerika Ozeanien

6.000

4.000

2.000

0 1700

1750

1800

1850

1900

1950

2000

2050

2100

2150

2200

Jahr

Abb. 4  : Bevölkerungsentwicklung 1750 bis 2150 Datenquelle  : Vereinte Nationen, Bevölkerungsabteilung (in Hinkunft UN PD)

ein quasimalthusianischer Prozess sein, der in einer saisonalen Intensivierung der chinesischen Landwirtschaft wurzelte (teils zwei Ernten pro Jahr). Danach kam es zu einem Einschnitt in der Entwicklung. Die politische Stagnation, die Opiumkriege, der enorme Aderlass während des Taipeh-Aufstandes, als südchinesische Bauern-Heere für eineinhalb Jahrzehnte einen Parallelstaat aufbauten  ; schließlich der niedergeschlagene Boxeraufstand gegen die europäischen Mächte forderte einen enormen Blutzoll. Die häufigen Rebellionen unterdrückter Bauern taten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Weiteres. China wurde aber nie kolonialisiert, wenn man von den Hafenstädten Macao, Hongkong und Qingdao sowie von der kurzen Okkupation der Mandschurei durch Russland und Japan absieht. Die potenziellen Kolonialmächte konnten sich über die Aufteilung des Landes nicht einigen und hielten einander in der Folge in Schach. Doch trotz Anarchie (Warlords), Bürgerkrieg und des blutigen japanischen Besatzungsregimes gab es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein gewisses Wachstum. Die politischen Verhältnisse waren düster. Im Krieg zwischen Guomindang und Kommunisten sowie unter dem Terror der japanischen Besatzung gingen Millionen Menschen zugrunde. In Indien hatte sich die Bevölkerung im 18. Jahrhundert verdoppelt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm sie weiter zu. Die britische Schätzung von 1840 81

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 81

22.09.2010 07:50:07

Demografie

ergab eine Bevölkerung von 193 Millionen Menschen, davon 145 Millionen unter direkter britischer Herrschaft. Doch in der Mitte jenes Jahrhunderts gab es massive Rückgänge. Die Briten trugen mit ihrer brutalen Politik in der „Großen Meuterei“, dem Sepoy-Aufstand der 1850er-Jahre, erheblich dazu bei. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann dann die Sterblichkeit etwas zu sinken. Da die Fruchtbarkeit hoch blieb, stiegen die Geburtenüberschüsse. Die in vormodernen Perioden typischen Sterbekrisen prägten bis ins 20. Jahrhunderts das Bild. Dennoch erfolgte der Übergang zu kräftigem Bevölkerungswachstum. Die Teilung des Subkontinents zwischen Indien und Pakistan in den Jahren 1947 bis 1949 nach dem plötzlichen Abzug der Briten forderte Hekatomben von Opfern. Schätzungen sprechen von bis zu zwölf Millionen Toten. Trotzdem wuchs die Bevölkerung auf dem Gebiet der heutigen Staaten Bangladesch, Indien und Pakistan beträchtlich  : um mehr als zwei Prozent jährlich knapp nach der Unabhängigkeit. Japan hatte in der Tokugawa-Zeit (1604–1856) eine Bevölkerung von etwa 25 Millionen und wuchs kaum. Mit der Meiji-Restauration, dem Sprung aus einem Feudalismus japanischer Prägung in eine autoritäre Moderne, setzte ein hohes Wachstum ein. Gegenwärtig weist das Land eine leicht rückläufige Bevölkerung auf. Bleibt von den heutigen demografischen Schwergewichten noch Indonesien  : Anfang des 19. Jahrhunderts könnte es 18 bis 20 Millionen Menschen gezählt haben. Das Wachstum setzte früh ein und war hoch (1914  : rund 50 Millionen). Insgesamt verdoppelte sich die Zahl der Einwohner Asiens zwischen 1800 und 1950 von 648 Millionen auf 1,4 Milliarden. Ihr Anteil an der Weltbevölkerung aber sank in dieser Zeit von 64,9 auf 55,6 Prozent. Afrikas Bevölkerung verdoppelte sich ebenfalls in dieser Zeit von 109 (1800) auf 221 Millionen (1950). Somit sank sein Anteil von 10,9 auf 8,8 Prozent. Die Bevölkerungen des subsaharischen Afrika hatten sich noch nicht von den großen Sklavenjagden des 17. und 18. Jahrhunderts erholt. An ihnen hatten sich Araber, Berber, die europäischen Kolonialmächte, aber auch einheimische Potentaten beteiligt. Im Nordosten des Kontinents, im heutigen Sudan, ging dies noch im 19. Jahrhundert so weiter. Erst im 20. Jahrhundert setzte in Afrika stärkeres Wachstum ein. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts beschleunigte es sich auf 1,02 Prozent pro Jahr. Die Einwohnerzahl Nordamerikas, also der USA und Kanadas, stieg auf das 25Fache  : von 7 Millionen im Jahr 1800 auf 172 Millionen 1950. Der Anteil an der Weltbevölkerung verzehnfachte sich von 0,7 (1800) auf 6,8 Prozent (1950). Das Wachstum verringerte sich, als die USA nach massiven Zuströmen zwischen 1880 und 1910 aus rassistischen Gründen weitere Zuwanderung, vor allem solche aus Ost- und Südeuropa sowie aus Asien, massiv beschränkten. Ab den späten 1920er-Jahren zog die Weltwirtschaftskrise eine Rückwanderungswelle in Richtung Europa und La82

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 82

22.09.2010 07:50:07



Demografie

teinamerika nach sich – untypisch für die jüngere Geschichte. Während des Zweiten Weltkriegs kam die transatlantische Überseewanderung fast völlig zum Erliegen. Lateinamerikas Bevölkerung stieg von 24 Millionen auf 167 Millionen, ihr Anteil von 2,5 auf 6,6 Prozent der Weltbevölkerung. Der Norden überholte den Süden des Doppelkontinents. Das 19. Jahrhundert war der Tiefpunkt der nativen Bevölkerung. Als in der ‚Kontaktperiode‘ die europäische Eroberung einsetzte, war sie durch eingeschleppte Seuchen und Hunger auf einen Bruchteil ihrer vorigen Größe geschrumpft. Auf diesem niedrigen Niveau blieb sie für einige Jahrhunderte. Erst im 20. Jahrhundert setzte eine Erholung ein. Zwischen 1800 und 1950 wuchs auch die Einwohnerzahl Ozeaniens, d. h. Australiens, Neuseelands und der pazifischen Inselwelt  : von 2 auf 13 Millionen. Ihr Anteil erhöhte sich von 0,2 auf 0,5 Prozent. Der große Wanderungsstrom nach Australien und Neuseeland setzte erst Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Vorher war Australien Sträflingskolonie, in die Großbritannien seine Kriminellen und Außenseiter verbrachte. Über die Prozesse (Fruchtbarkeit und Sterblichkeit) wissen wir im Detail wenig. In Lateinamerika war die Fruchtbarkeit Anfang des 20. Jahrhunderts hoch. Sie sank in den stärker europäisch geprägten Staaten, in Argentinien, Chile, auch in Venezuela, bald. Ebenso sank zeitweise auch die Sterblichkeit. Hoch war das Wachstum vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die USA schlossen ihre Grenzen für Einwanderer 1921 weitgehend und 1924 fast vollständig  ; so verlagerte sich die Überseewanderung nach Südamerika. Europäische Einwanderer trugen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa in gleichem Umfang zum Bevölkerungswachstum bei wie der Geburtenüberschuss. Über Afrika wissen wir wenig. Ägypten stand nach einem kemalistischen Versuch unter Mehmet Ali und dessen Sohn Ibrahim in der ersten Jahrhundert-Hälfte faktisch unter britischer Herrschaft – wir haben also Daten. Die Fruchtbarkeit war hoch. Auch die Sterblichkeit war hoch, doch ab Anfang des 20. Jahrhunderts deutlich niedriger als die Fruchtbarkeit – also gab es beträchtliche Geburtenüberschüsse und ein hohes Bevölkerungswachstum. Daten gibt es auch für die Weißen Südafrikas. Das war eine typische Siedler-Bevölkerungs­weise. Die Sterblichkeit lag nahe am niedrigen Niveau Westeuropas. Doch ihre Fruchtbarkeit war nahezu so hoch wie in heutigen Entwicklungsländern. Der weiße Anteil nahm deutlich zu. Er wuchs überdies durch Zuwanderung. Die Bantu-Bevölkerung wuchs langsamer, denn ihrer auch hohen Fruchtbarkeit stand eine hohe Sterblichkeit gegenüber. Weiters entstand durch Zuwanderer aus Indien, die meist unter sich blieben, eine dritte Gruppierung. Buschleute und Hottentotten wurden von Weiß und Schwarz nahezu ausgerottet. – Über die anderen dünn besiedelten Länder des subsaharischen Afrika können wir für diese Phase nur spekulieren. 83

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 83

22.09.2010 07:50:07

Demografie

Migrationen

Wanderungen vor der Frühmoderne sind nicht nur wegen der Datenlage, sondern auch wegen des unpassenden Konzepts kaum zu erfassen. Man kann vereinzelt Ströme erkennen und grob zahlenmäßig verfolgen. Das waren kollektive Versetzungen zu spezifischen Zwecken. Die rund 100 Menschen, die im November 1620 von der Mayflower in Cape Cod an Land gingen, wollten dort als Gemeinschaft ihr irdisch-himmlisches Jerusalem errichten. Im 19. Jahrhundert setzte langsam eine neue Art der interkontinentalen Fernwanderung ein. Die demografischen Auswirkungen dieser Bewegungen im Rahmen des europäischen Imperialismus und seiner Vorläufer waren erheblich. Die nun unabhängigen USA bemächtigten sich ihres heutigen Westens und wurden langsam von europäischen Zuwanderern aufgefüllt. Südamerika wurde Teil des demografischen und politischen Weltsystems, als und insoweit Menschen europäischer Herkunft es besiedelten. Die französische Besiedelung Algeriens blieb dagegen eine lange historische Episode. Indien diente hauptsächlich wenig bemittelten Angehörigen der unteren britischen Mittelklasse, sich ein gewisses Vermögen zu erwerben, womit sie dann nach England zurückkehrten, das nie aufhörte, ihren Bezugspunkt zu bilden. Eine Bewegung anderer Art setzte in Europa ein. Aus der näheren und etwas ferneren Umgebung strömten immer mehr Menschen in Industriestädte und bald in manche Regionen wie das Ruhrgebiet. Ein erstes ‚Gastarbeiter-Problem‘ entstand. Es wurde auch zum Anlass, die Erste Internationale zu gründen  : Bei den Vorarbeiten zur Weltausstellung in London war es 1862 zu Konflikten von Ansässigen und Zuzüglern gekommen. Dies waren nun keine Gruppenwanderungen aus weltanschaulichen Motiven mehr  ; ganz verschwand dieser Hintergrund nicht (die utopischen Sozialisten  ; die „1848er“). Waren es zuerst noch Familienwanderungen, so dominierten bald alleinstehende junge Männer die Szene. Diese Wanderungen waren auf Dauer angelegt, auch wenn man die Rotation dabei nicht unterschätzen sollte. Daneben gab es aber auf mittlere Entfernungen auch eine Saison­wanderung, teils freiwillig, teils durch die Behörden der Zielgebiete erzwungen. Preußische Großgrundbesitzer schätzten zwar die billigen polnischen Erntearbeiter, doch die Beamten versuchten, eine reguläre Rückkehr zu erzwingen. Für einige Auswanderungsländer wurde der Bevölkerungsverlust zu einem ideo­ logischen Problem. Der italienische Faschismus entwickelte sich in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg an diesem Thema sowie an der Frage der Kolonien und war dann bereit für Mussolini. Die Versuche kollektiver italienischer Kolonisierung (Li84

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 84

22.09.2010 07:50:07



Demografie

byen, Äthiopien) scheiterten allerdings jämmerlich. Hingegen wurde Argentinien zu einem wichtigen Ziel individueller italienischer Auswanderung, ebenso wie die USA und noch einmal spät, in kleiner Anzahl, Österreich (Trientiner in Vorarlberg). In sehr viel größerer Zahl noch später, in den 1960er-Jahren, wurde Deutschland zum Ziel. Tatsächlich machte diese Wanderung den Ersten Übergang in manchen Gebieten erst erträglich. Die großen interkontinentalen Ströme wurden allerdings schon vor dem Ersten Weltkrieg weitgehend gestaut. Seit dem 18. Jahrhundert gab es in den USA nativistische (fremdenfeindliche) Wellen, die immer wieder auch Erfolg hatten. In diesen Zeitraum fallen auch die riesigen Zwangswanderungen. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zum „Bevölkerungsaustausch“ zwischen Griechenland und der neuen Türkei. Die Nazi-Aggression setzte während des Zweiten Weltkriegs bereits riesige Ströme in Bewegung. Danach kam der Bumerang  : zwölf Millionen Menschen deutscher Herkunft gingen, flohen und wurden vertrieben. Eine ähnlich hohe Zahl wechselte zwischen Indien und Pakistan und vice versa. Die nationale Homogenisierung nahm brutale Formen an.

Die Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg 2½ Milliarden Menschen lebten 1950. Bis heute hat sich diese Zahl nahezu verdreifacht (2010  : 6,85 Mrd.). Die Verteilung hat sich erheblich geändert. In den nächsten Jahrzehnten wird sie sich nochmals drastisch ändern. Die Gewichte werden sich weiter nach Asien, aber auch nach Afrika verschieben (Abb. 5). Wir werden in Hinkunft ständig und noch stärker als bisher von einer Zweiteilung der Welt sprechen müssen, auch wenn dies etwas vergröbert ist. Das globale Wachstum stieg bis zum Ende der 1960er-Jahre an und lag 1966/68 bei 2,1 Prozent jährlich  : Das hätte eine Verdoppelung in rund 29 Jahren bedeutet.16 Aber die hoch entwickelten Länder wachsen langsam (z. B. 2000  : 0,31 Prozent) und gegenwärtig nur mehr durch Zuwanderung. Die schlecht entwickelten Länder (LDCs) wachsen immer noch stark (2000  : 1,49 Prozent). Vor allem aber wachsen die schlechtest entwickelten Länder (LLDCs) stark (2000  : 2,43 Prozent) und kommen so aus ihrer Entwicklungsfalle kaum heraus. In den hoch entwickelten Ländern lief Ende des 20. Jahrhunderts der Zweite Demografische Übergang ab  : In einem neuerlichen profunden und über alle Schich­ ten verbreiteten Wertewandel wurde das persönliche Glück, vor allem in der Liebesbeziehung zu einem anderen Menschen, zum überragenden Lebensziel. Kinder sind Teil dieses Lebensglücks – oder auch nicht. Als Folge sank die Kinderzahl in allen diesen Ländern unter das Ersatzniveau (TFR etwa 2,1). 85

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 85

22.09.2010 07:50:07

Demografie

In den schlecht entwickelten Ländern läuft aber erst der Erste Übergang ab. Die langsame Erhöhung des Lebensstandards, nicht zuletzt auch der Transfer hygienischen und medizinischen Fortschritts (Impfkampagnen) aus den hoch entwickelten Ländern durch internationale Organisationen hat die Sterblichkeit verhältnismäßig schnell gesenkt. Die Mentalitäten und das Verhalten reagierten nicht so schnell darauf. Die Fruchtbarkeit blieb hoch und stieg zeitweise sogar. „Bevölkerungsexplosion“ war die Folge. In den etwas besser entwickelten Ländern sank die Kinderzahl inzwischen stark. Doch nun kommen wuchtige Elterngenerationen ins fruchtbare Alter. Das wird auch bei niedriger Fruchtbarkeit eine breite nächste Generation ergeben. Das Bevölkerungswachstum geht noch Jahrzehnte weiter, obwohl die Fruchtbarkeit in immer mehr dieser Länder unter das Ersatzniveau gleitet. In den schlechtest entwickelten Ländern ist die Fruchtbarkeit noch hoch (2000– 2005  : TFR etwa 5). In Afrika, der paradigmatischen Elendsregion, stieg sie von 6,63 in den Jahren 1950–1955 auf 6,75 (1960–1965) und hält 2000–2005 bei 4,61  ; in Ost- und Zentralafrika jedoch bei fast 6. Das Bevölkerungswachstum wurde so zu einem Hauptproblem des „Raumschiffs Erde“. Doch noch vor drei bis vier Jahrzehnten nahmen es die neuen Eliten der unabhängig gewordenen Staaten kaum zur Kenntnis. Nur ein Drittel der Regierungen in den Entwicklungsländern sah die hohe Fruchtbarkeit als Problem, und einige dieser Regierungen (Kamerun, Zentralafrikanische Republik, damals „Kaiserreich“) sahen sie sogar als „zu niedrig“.

Insgesamt: 6,5 Milliarden Abb. 5  : Weltbevölkerung nach Kontinenten in Prozent 1950 und 2005 Datenquelle  : UN PD.

86

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 86

22.09.2010 07:50:08



Demografie

Anders in Asien  : Die Volksrepublik China förderte schon zu Lebzeiten Maos die Geburtenkontrolle. Mit seinen Nachfolgern kam die totalitäre „Einkind-Politik“. Doch der eigentliche Erfolg stellte sich schon vorher, in den 1970er-Jahren, ein, als die Fruchtbarkeit binnen zehn Jahren um mehr als die Hälfte sank. Die harte Politik danach brachte wenig  : Seit 1980 sank die TFR von 2,24 auf derzeit (2010) etwa 1,8. Der diktatorische Eingriff stößt auf Widerstand. Das zeigte sich auch in Indien  : Die dortige Demokratie ging Mitte der 1970er-Jahre an der Nachahmung einer solchen Politik durch die Familie Indira Gandhi beinahe zugrunde. Migration

Wanderung ist heute kein Ereignis ein für alle Mal  : Es ist daher nicht einfach, sie empirisch mit Daten zu umreißen. Die folgenden Daten sind also bestenfalls indikativ. Vergessen wir nicht  : Mitte des 20. Jahrhunderts befand sich ein Teil der Länder vor allem im subsaharischen Afrika noch am Anfang des Staatsaufbaus. Da sagen grenzüberschreitende Wanderungen, insbesondere wenn sie anderen Zugehörigkeiten folgen, nicht unbedingt viel aus. Beginnen wir mit jenen, die gewandert sind und sich nun in einem Land befinden, woher sie nicht stammen. Laut Zahlen der UNO stieg ihre Zahl seit 1960 schneller als die Bevölkerung. Damals waren es 75½ Mio., heute (2005) sind es 190½ Mio. Ihr Anteil stieg somit, global allerdings nicht dramatisch, von 2,5 auf 2,9 Prozent. In Asien, Afrika und Lateinamerika nahm dieser Anteil deutlich ab – die Menschen wandern großregional eher ab als zu. In Europa stieg der Anteil stark von 3,4 (1960) auf 8,8 Prozent (2005)  ; auch in Nordamerika nahm der Anteil von 6,1 auf 13,5 Prozent zu. Von den Gewanderten waren nicht alle freiwillig unterwegs. Der Anteil der Flüchtlinge an allen Gewanderten stieg deutlich. Am Anfang der Periode machte er knapp 3 Prozent aus, stieg in den 1980ern und 1990ern auf gut 12 Prozent, sank seither aber wieder. Der Flüchtlingsanteil ist besonders in Afrika hoch  : Wenn man zur Flucht gezwungen ist, kann man sich sein Ziel nicht unbedingt aussuchen  : Man geht dorthin, wo es möglich ist und halbwegs Sicherheit herrscht – was oft in Frage steht  : In den heutigen Lagern im Osten des Tschad sind die Flüchtlinge immer noch Angriffen der Janjawid aus dem Sudan ausgesetzt. – In Europa war der Flüchtlingsanteil am Anfang der Periode hoch (6,2 Prozent), teils weil die Gesamtzahl der Wanderer noch eher niedrig war, teils weil immer noch ein gewisser Überhang aus der Nachkriegszeit bestand. Seither hat er sich halbiert. Ähnliches gilt für Nordamerika. Auf globaler Ebene gibt es einen Wanderungsstrom vom „Süden“ nach dem „Norden“. Im Zeitraum 2000 bis 2005 machte der Saldo zwischen hoch entwi87

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 87

22.09.2010 07:50:08

Demografie

ckelten und Entwicklungsländern jährlich rund 3,2 Mio. Menschen aus und war im Steigen begriffen. Zur Klarheit sei betont, dass Wanderungen innerhalb der Länderkategorien nicht inbegriffen sind, und dass dies ein Saldo ist, d. h. nur einen Bruchteil der wirklich Wandernden darstellt. Das ist ein negativer Saldo von 0,6 Prozent der Bevölkerung des „Südens“  ; für den „Norden“ macht der positive Saldo aber beachtliche 2,6 Prozent pro Jahr aus. Das Wanderungsgeschehen in der Gegenwart erinnert an die Entlastungsmigrationen der Industriellen Revolution. Es ist allerdings komplexer. Die Weltgesellschaft organisiert sich sozioökonomisch wie politisch immer häufiger in Regionalgesellschaften. Ziele der Wanderungen sind die Metropolen im engeren und im weiteren Sinn. Die Quellländer stehen meist mitten im Ersten Demografischen Übergang. Hohes Bevölkerungs- und nicht besonders hohes Wirtschaftswachstum drängen einen Teil ihrer Bevölkerung zum Wegzug. Im Vergleich zur Zeit vor 150 Jahren ist heute die Rotation viel stärker. Schon als in Europa die Gastarbeiter-Ströme zu fließen begannen, dachten fast alle Menschen an eine Heimkehr. Viele blieben in den Zielländern. Doch der Saldo bildet nur einen oft kleinen Bruchteil der Ströme. Im Jahr 2007 hatten etwa die Niederlande einen negativen Saldo, –6.600 Menschen bei 116.600 Einwanderern. In Dänemark machte der Außensaldo im selben Jahr immerhin +23.100 aus, bei einer Einwanderung von 64.700 auch nur ein Drittel. Zur Massen-Wanderung aus schlechter entwickelten Regionen in hoch entwickelte Länder kommt eine Eliten-Wanderung. Insbesondere die Ober- und die obere Mittelschicht erlebt heute die Welt als einheitliches System. Schließlich werden die Reichweiten der altersspezifischen Wanderungen (z. B. retirement migration) im Lebenszyklus immer größer. Sie sind nicht selten saisonal  : Österreichische Pensionisten (m/w) verbringen das Winterhalbjahr auf den Philippinen.17 Bevölkerung und Lebensstandard

Fast alle Kennwerte der Bevölkerung und ihrer Entwicklung sind in hohem Maß vom materiellen Lebensstandard abhängig. Wir könnten durch Faktorenanalyse eine Hauptkomponente „Entwicklung“ erhalten, die, je nach Einbezug von Variablen, einen hohen Anteil der Unterschiede erklärt. Doch wir benützen das BIP pro Kopf, weil es leichter verständlich ist. Im Ländervergleich muss man es in Kaufkraftparitäten (KKP) preisbereinigt rechnen. Das Pro-Kopf-Einkommen „erklärt“ im Querschnitt (Vergleich von Ländern unterschiedlichen Entwicklungsstands zur gleichen Zeit) rund zwei Drittel der Unterschiede in der Lebenserwartung (LE0) zwischen Ländern stark unterschiedlichen Lebensstandards  ; korreliert wird mit 88

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 88

22.09.2010 07:50:08



Demografie

dem Logarithmus des BIP pro Kopf  : Der Logarithmus für große Zahlen ist vergleichsweise klein, der Zusammenhang wird also oben flach (Abb. 6). Klassifiziert man die Staaten nach dem BIP pro Kopf, verschwindet der Zusammenhang mit dem materiellen Wohlstand sowohl in den reichen wie in den mittleren Ländern  ; in der ärmsten Gruppe bleibt er in bescheidenem Ausmaß erhalten und erklärt ein Viertel der Varianz. Innerhalb der Gruppen spielen also andere Faktoren eine Rolle – in der mittleren Klasse z. B. Aids (Botswana). Die Gruppierung ist also sinnvoll – sie zeigt eine gewisse Homogenität. Das BIP pro Kopf (in KKP) ist nicht nur ein Wohlstands-, sondern auch ein Struktur-Index. Doch innerhalb der Länderklassen spielt es eine Rolle, ob Regierungen z. B. mehr Waffen oder mehr Impfstoffe importieren. Dieser Zusammenhang gilt auch für die Fruchtbarkeit (invers) und für die anderen Variablen, natürlich in jeweils etwas unterschiedlicher Stärke. In hoch entwickelten Industrieländern mit nur geringen Wohlstandsunterschieden zählen Faktoren wie Ungleichheit sowie Lebensstil.18 Die Daten für die Ungleichheit sind allerdings notorisch schlecht, wir haben daher viel „Rauschen“, und der Zusammenhang kommt in dieser Staatengruppe nicht gut heraus. Schwer zu messen ist Lebensstil. 90 80

Lebenserwartung

70 60 y = 8,957Ln(x) - 11,252 R2 = 0,6471

50 40 30 20 10 0 0

5.000

10.000

15.000

20.000

25.000

30.000

35.000

40.000

BIP p.c. in KKP-$, 2003 Abb. 6  : Lebenserwartung und Pro-Kopf-Produkt 2002/03 (alle 131 Länder mit Daten) Datenquellen  : Für das BIP  : Entwicklungsbericht der Weltbank  ; für die Lebenserwartung  : UN PD.

Führt man dieselbe Rechnung auch für andere Variablen und für die wenigen Fälle durch, wo Schätzungen für Langzeitreihen des BIP vorhanden sind, etwa für 89

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 89

22.09.2010 07:50:08

Demografie

Schweden, dann erhält man z. B. für die Fruchtbarkeit ganz erstaunlich hohe negative Korrelationen nahe 1, wenn man die Regression mit einer Funktion rechnet, die eine nicht unterschreitbare untere Schwelle hat. Urbanisierung

Um 1800 bestand die Welt aus einer Sammlung ländlich-agrarischer Gesellschaften. In der heute hoch entwickelten Welt ging die Entwicklung von relativ kleinen, engen und enorm überfüllten Städten – mit 30.00 bis 50.000 Einwohnern pro Quadratkilometer – über verhältnismäßig große, aber ebenso überfüllte Industriestädte zu den Metropolen von heute, in denen vor allem zentrale Dienste erbracht werden. Im Großen Übergang änderte sich die Lebens- und Siedlungsweise drastisch. Zuerst wuchsen die imperialen Städte  : London, Paris, Wien, bald auch Berlin. Dann kamen die Industriestädte und -landschaften. Das Wachstum der Gegenwart und der Zukunft ist praktisch ausschließlich Wachstum der Städte. Gegenwärtig (2010) lebt die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Das Wachstum der Städte findet heute wesentlich in der Dritten Welt statt, hauptsächlich in den LLDCs. Selbst in diesen Ländern mit ihrem hohen Wachstum wird ab 2025/30 die ländliche Bevölkerung bereits schrumpfen. Das „städtische Lebensmodell“ ist seinen Ansprüchen und Werthorizonten nach das westliche Lebensmodell. Städte sind soziale und kommunikative, vor allem aber herrschaftliche Knotenpunkte im sozialen Netz. Die Diffusion des Struktur- und Kulturmodells der westlichen Welt spielt sich in der Verstädterung ab. Megastädte sind eine spektakuläre Erscheinung. Sie sind definitiv übernationale, globale Punkte eines weltweiten Netzes, neben und über den Nationalstaaten. Sie sind nichtpolitisch kontrollierte Steuerungsorte im sozioökonomischen System. Vom Bevölkerungsanteil her betrachtet ist ihre Rolle nicht überwältigend. 3,7 Prozent der Menschheit leben im Jahr 2000 in Städten mit mehr als 10 Mio. Menschen, 6,5 Prozent in solchen mit mehr als 5 Mio. Einwohnern. Im Jahr 2015 könnten es bereits 8,4 Prozent sein. Alter  : „Entwicklungsfallen“ einerseits  ; „Ageism“ andererseits

Rund die Hälfte der Bevölkerung ist etwa in Äthiopien jünger als 17 Jahre. Selbst wenn nicht ein Viertel bis die Hälfte der Staatsausgaben ins Militär flösse, würde das BIP pro Kopf nur zu einem ziemlich elenden Überleben reichen. Davon muss ein erheblicher Teil in eine basale Ausbildung der Kinder und Jugendlichen gehen. Um eine höher produktive Landwirtschaft und Industrie aufzubauen, bedarf es der 90

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 90

22.09.2010 07:50:08



Demografie

Investitionen in Produktionsmittel  : Maschinen, Werkzeuge, Rohstoffe, Energie. Woher sollen die Mittel kommen  ? Nicht Bevölkerungswachstum „an sich“ stellt das Problem dar, sondern eine bestimmte Altersstruktur der Bevölkerung in Verbindung mit extrem niedrigen Ressourcen, die wegen dieser Altersstruktur in kurzfristig vorerst unproduktive Ausgaben geleitet werden müssen, damit langfristig überhaupt eine Chance auf eine Entwicklung irgendwann besteht. Die Regierungen der hoch entwickelten Länder hingegen sehen ihr Hauptproblem in der niedrigen Fruchtbarkeit sowie in der dadurch verursachten demografischen Alterung, der Verschiebung der Altersstruktur nach oben.19 In Österreich machte 1951 der Anteil der Menschen im Alter von 65 und darüber 10,9 Prozent aus  ; 2007 sind es 17,1 Prozent, und der Anteil wird sich bis 2050 nochmals deutlich erhöhen, auf etwa 28 Prozent. Daraus leiten Regierungen ein Altersproblem ab. Die Umstrukturierung der Gesellschaft wird dabei wenig angesprochen, es geht fast ausschließlich um eine altersspezifische Verteilung.

Zusammenschau: Ein Dritter Übergang? Gegenwart und Zukunft

Die „Große Wegscheide“ – the great divergence – heißt die weltgeschichtliche Fragestellung neuerdings, an welcher sich die Sozialwissenschaft seit dem 19. Jahrhundert abarbeitet. Max Weber formuliert sie ein bisschen umständlich  : „Welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gerne vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen  ?“20 Jared Diamond macht es kürzer, bündiger und USamerikanisch  : „Why is it that you white people developed so much cargo and brought it to New Guinea, but we black people had little cargo of our own  ?“21 So lässt er seinen Boy Yali aus Neuguinea fragen. Die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals bildet eine umfassende Antwort auf der strukturellen Ebene. Die politisch getriebene Trennung der unmittelbaren Produzenten von ihren Produktionsmitteln und gleichzeitig die Zentralisation und Konzentration dieser Produktionsmittel als Kapital auf der anderen Seite brachten kurzfristig Elend über die Produzenten  ; längerfristig bot sie aber Möglichkeiten und Notwendigkeiten  : die Produktion zu vergesellschaften  ; damit über technische Entwicklung, Skalenerträge und Ähnliches die Produktivität enorm anzuheben  ; in der Folge, wiederum politisch getrieben, einen Teil der Erträge 91

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 91

22.09.2010 07:50:08

Demografie

als Masseneinkommen an die Produzenten zurückzuleiten. Das hatte kulturelle Voraussetzungen. Damit ein Teil des Ertrags von den nunmehr darüber Verfügungsberechtigten, den Eigentümern, investiert wird und nicht ausschließlich in erhöhten Luxuskonsum geht, bedurfte es eines Mentalitätswechsels bei diesen Eigentümern. Der „Geist“ des Kapitalismus entwickelte sich allerdings keineswegs in den alten Oberschichten. Dazu musste eine neue Klasse Terrain gewinnen. Die Bourgeoisie verdrängte den Adel, und die neuen Intellektuellen ersetzten den Klerus als dominante und hegemoniale Schicht. Im unteren Teil der sozialen Pyramide setzte gleichzeitig ein verwandter Verdrängungsprozess ein  : Die Arbeiter traten an die Stelle der Bauern als produzierende Leitschicht. Gegenwärtig treten zunehmend die Angestellten an die Stelle der Arbeiter, um arbeitsteilig Dienste zu erbringen. Gesellschaft ist aber kein Mechanismus, mit der ein Uhrmacher, blind oder nicht, spielt. Gesellschaft arbeitet ausschließlich über (einzel-)menschliches Bewusstsein. Als Mentalität und als Reflexion über Innen- und Außenwelt wird dieses Bewusstsein in der primären und der sekundären Sozialisation geformt. Jene (Mikro-)Institutionen, in denen dies geschieht, sind die Familien und die Haushalte im Rahmen lokaler Gemeinschaften und etwas später auch die Schulen  ; schließlich ein Verbund von Erziehungsinstitutionen, welche der überregionale Staat einrichtet und kontrolliert. Familien und Haushalte sind soziale Institutionen, die dem kulturellen Wandel unterliegen. Sie sehen also in verschiedenen Weltteilen ganz unterschiedlich aus. Das westeuropäische Heiratsmuster war eine Entwicklung des späten Mittelalters aus mehreren Wurzeln heraus. Ein erster Ansatzpunkt könnte das Interesse der Grundherren an einem hohen Ertrag gewesen sein  : Die Bauern und ihre großen Familien sollten nicht das gesamte potenzielle Mehrprodukt auffressen. Man musste also die Kinderanzahl beschränken und dazu die Familienbildung kontrollieren. Eine zweite und etwas spätere Wurzel war vermutlich die Entwicklung eines Arbeits- und bald danach auch eines Kapitalmarkts in Nordwesteuropa (Niederlande, England)22. Ein beträchtlicher Teil der jungen Menschen – 60 Prozent der 18- bis 24-Jährigen – scheint in ihrem Lebenszyklus eine Phase der Lohnarbeit durchgemacht zu haben. Die Folgen waren weitreichend. Das steigende Heiratsalter senkte die Fruchtbarkeit. In den Kernregionen der Entwicklung brachte sie auch eine deutlich verbesserte, neue Stellung der Frau. Mit abnehmenden Kinderzahlen ergab sich eine Neubewertung der Kinder. Das wiederum führte zu einer weiteren Verbreitung bisher sehr beschränkter Kulturtechniken (insbesondere des Lesens und Schreibens). All dies ergab einen Schub in Richtung größerer Individualisierung und möglicherweise auch einer stärkeren 92

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 92

22.09.2010 07:50:08



Demografie

Vertragsmäßigkeit sozialer Beziehungen. Das Europäische Heiratsmuster war die Basis der Großen Transformation. In diesem Verbund von Makro- und Mikrostrukturen über eine dominante Mentalität erhalten Haushalts- und Familienformen eine universalgeschichtliche Bedeutung. Die Muster dürften regional unterschiedlich funktioniert haben. Im kontinentalen West- und Mitteleuropa dürfte es für längere Zeit eher die Absicherung der alten Formation begünstigt haben. Es verhinderte das zu starke Anwachsen einer plebeischen Schicht. Die wäre kaum zu kontrollieren gewesen. Erst der Erste Demografische Übergang löste hier die alten Grundverhältnisse auf. Damit ver­ schwand auch das Europäische Heiratsmuster. Dieser Wandel war so fundamental, dass Fogel23 diesen Weg von einer tendenziell permanenten Unterernährung hin zum Überfluss in heute hoch entwickelten Ländern als „techno-physische Evolution“ kennzeichnet  : Nicht nur die Krankheits­ risiken nahmen drastisch ab und die Lebenserwartung zu. Die bessere Versorgung lebenswichtiger Organe vom Herz bis zum Hirn habe die Produktivität entschieden gesteigert, argumentiert er plausibel, und habe etwa die Hälfte des britischen (und implizit  : des westlichen) Wirtschaftswachstums der letzten zwei Jahrhunderte verantwortet. Wird es einen Dritten Demografischen Übergang geben  ? Ein neuerlicher Anstieg der Fruchtbarkeit setzte eine neue Einschätzung der sozialen Strukturen und der Familie für die Wertestruktur in den hegemonialen Schichten der hoch entwickelten Welt voraus. Der Erste Demografische Übergang war, wie der Kampf um die Moderne überhaupt, teils noch durch traditionalistische Motive bedingt, etwa durch Familie­n­ mobilität. Die derzeitige Phase in der wenig entwickelten Welt lässt sich als Integration beschreiben. Die hegemoniale Struktur der Weltgesellschaft wird von den hoch entwickelten Ländern vorgegeben. Nunmehr übernehmen alle anderen dieses kulturelle Muster  : Sie integrieren sich in die vorgegebene Struktur der Weltbevölkerung. Der Zweite Übergang der hoch entwickelten Welt ist dagegen von der postmodernen Selbstverständlichkeit vom Vorrang des Einzelnen motiviert. Die Rationalität der Mittelwahl und das Glückskalkül der Unternehmer/innen ihrer selbst entscheiden. Der Zweite Übergang baut auf individuellen Rechten und der Selbstverwirklichung des Einzelnen auf. Allein dadurch wird das Konzept zum Zeugnis für eine neue Auffassung von Bevölkerungsprozessen. Wir befinden uns in hoch entwickelten Gesellschaften mitten im Übergang zu einer neuen Gesellschaft. Die neue postmoderne Bevölkerungsweise ist ein wichtiger Teil der künftigen Gesellschaft. Sie baut auf mehreren Voraussetzungen auf. 93

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 93

22.09.2010 07:50:08

Demografie

Eine neue Geschlechterordnung bringt Gleichheit zwischen Geschlechtern in der Auffassung vom Lebensplan als Bündel von Optionen. Beruf und das prestigeorientierte Verdienen des Lebensunterhalts können nur eine neue Balance finden, wenn die zugespitzte sozio-ökonomische Konkurrenz insbesondere zwischen den besser gebildeten Angehörigen einer neuen Mittel- sowie mittleren Oberschicht beschnitten wird. Das Schlagwort von der postmateriellen Gesellschaft muss erst Realität erhalten. In diesem Sinn wären Attribute wie post-Fordist, expressive oder flexible Versuche, die hegemoniale Stimmung und ihren langsamen Wandel zu erfassen. Der sich abzeichnende dritte Übergang ist Teil einer Transformation der hoch entwickelten Gesellschaft. In diesem Reorganisierungsprozess ändert sich die Lebensauffassung ebenso wie die in ihren Grundzügen oft jahrtausendealten Lösungen, die von der agrarischen Bevölkerungsweise für die menschliche Reproduktion, das Hauptalter und auch das höhere Alter entwickelt wurden und die in der modern-industriellen Bevölkerungsweise noch weiter wirkten.

Anmerkungen 1 Rainer Münz/Albert F. Reiterer, Overcrowded World  ? Global Population and International Migration. London 2009  ; Massimo Livi-Bacci, A concise History of World Population, Oxford 1998  ; Collin McEvedy/Richard Jones, Atlas of World Population History, Harmondsworth 1978  ; Ernst Kirsten/Ernst Wolfgang Hochholz/Wolfgang Köllmann, Hg., Bevölkerungs-Ploetz. Raum und Bevölkerung in der Weltgeschichte, 2 Bde.,Würzburg 1956. 2 Thomas Robert Malthus, Das Bevölkerungsgesetz, München 1977 [1798]. 3 John Graunt, Natural and Political Observations Mentioned in a following Index and Made upon the Bills of Mortality [1662]. http  ://www.ac.wwu.edu/~s//tephan/Graunt/… (2. März 2003). 4 Johann Peter Sueßmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen, 2. Aufl., Berlin 1761 [1742]. 5 Arthur E. Imhof, Einführung in die historische Demographie, München 1977  ; überführt in Bevölkerungsgeschichte  : E. Anthony Wrigley/Roger S. Schofield (with contributions by R. Lee and J. Oeppen), The Population History of England, 1541–1871. A Reconstruction, London 1981. 6 John D. Durand, The Population Statistics of China, A.D. 2-1953, in  : Population Studies 13 (1960), 209–256. 7 Unentbehrlich als Datenquelle die Datenbank der UNO  : http  ://www.un.org/esa/population/. Längerfristige Schätzungen der Eckzahlen  : http  ://www.populstat.info/. – Der Völkerbund hat während der Zwischenkriegszeit systematisch demografische Daten gesammelt. 8 Jedoch  : Simon Szreter, Fertility, Class and Gender in Britain, 1860–1940 (Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time 27), Cambridge 1996  ; ein früher Ansatz  : G. Udny Yule, The Fall of the Birth Rate. A Paper Read Before the Cambridge University Eugenics Society, 20 May 1920, Cambridge 1920.

94

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 94

22.09.2010 07:50:08



Demografie

  9 Angus Maddison, The World Economy. A Millennial Perspective, Paris 2001  ; ders., The World Economy  : Historical Statistics, Paris 2003. 10 Frank W. Notestein, Population – the Long View, in  : Theodor W. Schultz, Hg., Food for the World, Chicago 1945, 36–57  ; Kingsley Davis, The World Demographic Transition, in  : Annals of the American Academy of Political and Social Science 237 (1945), 1–11. 11 Philippe Ariès, Two Successive Motivations for the Declining Birth Rate in the West, in  : Population and Development Review 6 (1980), 645–650  ; R. Lesthaeghe/D. van de Kaa, Twee demografische transities  ?, in  : dies., Hg., Bevolking – Groei en Krimp, Mens en Maatschappij, Deventer 1986, 9–24  ; D. J. van de Kaa, Europe’s Second Demographic Transition, in  : Population Bulletin 42 (1983), 1  ; ders., The second demographic transition revisited  : Theories and expectations, in  : G. C. N. Beets u. a., Population and Family in the Low Countries 1993. Late Fertility and other Current Issues, Lisse 1994, 81–126. 12 John Hajnal, Two Kinds of Preindustrial Household Formation Systems, in  : Population and Development Review 8 (1982), 449–494. 13 Ansley J. Coale/Susan Cotts Watkins, Hg., The Decline of Fertility in Europe, Princeton, NJ 1986. 14 Die Kuznets-Kurve zeigt, dass die Einkommensungleichheit in der Industriellen Revolution zuerst stieg und erst nach dem Ersten Weltkrieg sank. 15 Seit den 1980er Jahren steigt die Ungleichheit in Nord- und Westeuropa wieder, in den USA schon seit den späten 1960er-Jahren, seit 1990 auch in Ostmittel- und Osteuropa. Die sogenannte Kuznets-Kurve erhält eine andere Form, und Kuznets Begründung aus der Sektorenverschiebung ist offensichtlich falsch. 16 Die Verdoppelungszeit ergibt sich durch n = log 2/log g  ; g = Wachstumsrate  ; sie kann gut mit 70/[g%] angenähert werden. 17 Corrado Bonifazi/Marek Okólski/Jeannette Schoorl/Patrick Simon, International Migration in Europe. New Trends and New Methods of Analysis, Amsterdam 2008. 18 Amartya Sen, Lebensstandard und Lebenserwartung, in  : Spektrum der Wissenschaft, November 1993, 38–45. 19 Gary T. Burtless/Barry Bosworth, Hg., Aging Societies  : The Global Dimension, Washington 1998. 20 Max Weber, Die Protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, Gütersloh 1981, 9. 21 Jared M. Diamond, Guns, Germs and Steel. A Short History of Everybody for the last 13.000 Years, London 1997, 4. 22 Mary S. Hartman, The Household and the Making of History  : A Subversive View of the Western Past, Cambridge 2003  ; Tine de Moor/Jan Luiten van Zanden, Girlpower. The European Marriage Pattern (EMP) and Labour Markets in the North Sea Region in the Late Medieval and Early Modern Period, in  : Economic History Review 63 (2010), 1–33. 23 Robert W. Fogel, Economic and Social Structure for an ageing population, in  : Phil. Trans. R. Society Lond. B 352 (1997), 1905–1917  ; vgl. auch  : Jacques Vallin/France Meslé, The Segmented Trend Line of Highest Life Expectancies, in  : Population and Development Review 35 (2009), 159–187.

95

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 95

22.09.2010 07:50:08

Eine Schweizer Familie – die Eltern arbeitslos – wandert im Jahr 1936 mit finanzieller Unterstützung der ­Bundesregierung nach Brasilien aus. Warten auf die ­Abreise am Bahnhof Zürich. Bildrechte: Keystone, Quelle: Photopress-Archiv

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 96

22.09.2010 07:50:10

Kapitel 3

Globale Migrationen Albert Kraler

Einleitung Was heißt „Migration“  ?

In der allgemeinsten Bedeutung des Begriffs als eine Form räumlicher Mobilität ist Migration Teil der conditio humana.. Menschen waren immer schon mobil und Wanderungen elementarer Bestandteil individueller Biografien genauso wie von kollektiven Erfahrungen. Migration – wie räumliche Mobilität insgesamt – ist damit ein durchaus alltägliches, soziales Phänomen. Gleichzeitig sind Formen, Verlauf, Ursachen und Strukturen von Migration räumlich wie auch historisch von immensen Variationen gekennzeichnet  ; sie sind geprägt durch deren soziale, ökonomische, kulturelle und politische Kontexte.1 Von Mobilität im Allgemeinen unterscheidet sich Migration im Besonderen zunächst durch die Dauer des Ortswechsels. Mobilität und Migration können dabei als zwei Pole eines Kontinuums gedacht werden. Auf der einen Seite stehen alltägliche Formen von Mobilität von kurzer Dauer und Distanz  ; auf der anderen Seite finden wir längerfristige Formen des Ortswechsels, die mit einer gewissen Verweildauer am Zielort einhergehen und eine vorherige Verweildauer am Ausgangsort voraussetzen. Wo freilich genau die Grenzen zwischen Migration und kurzfristigen und kleinräumlichen Formen von Mobilität gezogen werden, ist bis zu einem gewissen Grad willkürlich und letztlich abhängig von wissenschaftlichen Konventionen. Unser heutiges Verständnis von Migration ist dabei ganz massiv von den politischen Strukturen der Gegenwartsgesellschaft, der national order of things (Lisa Malkki),2 und der zumindest in der völkerrechtlichen Fiktion beinahe vollständigen ‚Durchstaatlichung‘ der Welt geprägt. Nicht nur ist damit ein gewisser „methodologischer Nationalismus“3 verbunden, also die stillschweigende Voraussetzung von Nationalstaaten als quasi natürlicher Rahmen und Bezugspunkt von Migration. Migration wird durch diesen Blickwinkel tendenziell auch als staatlich erfasste Wanderung zwischen wiederum staatlich definierten Territorien sichtbar. Moderne Nationalstaatlichkeit trübt freilich den analytischen Blick nicht nur als ein als selbstverständlich angenommener geografisch-politischer Bezugsrahmen. Vielmehr ist im Kontext von moderner Nationalstaatlichkeit Mig97

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 97

22.09.2010 07:50:10

Globale Migrationen

ration auch ursächlich mit staatlich definierten Zugehörigkeitskategorien – allen voran der Staatsbürgerschaft – verbunden, die wiederum unsere Kategorien beeinflussen, mit denen wir Migration analysieren. In (global-)historischer Perspektive stößt dieser mehrfache Bias freilich schnell an seine Grenzen, ist doch die Herausbildung, Konsolidierung und vor allem Universalisierung von Nationalstaatlichkeit ebenso relativ jungen Datums wie die Bedeutung von Staatsbürgerschaft als primäre (politische) Zugehörigkeitskategorie, Unterscheidungsmerkmal zwischen „Einheimischen“ und „Fremden“ und (freilich nicht immer zutreffender) Indikator von Migrationserfahrungen. Zentral ist dabei auch die Unterscheidung zwischen Binnenmigration und internationaler Migration. Sie ist freilich nicht lediglich Ausdruck der Aufteilung der Welt in Nationalstaaten  ; vielmehr behauptet sie auch eine unterschiedliche gesellschaftliche Relevanz internationaler Migration verglichen mit Binnenmigration, und zwar in mehrfacher Weise  : Zum einen unterscheiden sich internationale Migration und Binnenmigration häufig, wenn auch nicht notwendigerweise, im geografischen Maßstab  : Internationale Migrationen bewegen sich häufiger über größere Distanzen, während Binnenmigrationen tendenziell kleinräumiger sind. Zum anderen ist mit internationaler Migration per definitionem ein Wechsel von einem politischen System in ein anderes – und damit von einem Rechtssystem in ein anderes – verbunden. In der Gegenwart impliziert Migration über staatliche Grenzen auch migrationspolitische Einschränkungen, während Binnenmigration meist kaum staatlichen Beschränkungen unterliegt. Die Unterscheidung zwischen Binnenmigration und internationaler Migration hat schließlich auch eine kulturelle und soziale Konnotation und zeigt spezifische Bedingungen internationaler Wanderungen an. Tatsächlich gehen internationale Migrationen häufiger als Wanderungen innerhalb eines Staates mit einem Wechsel des kulturellen und sozialen Bezugssystems einher. HistorikerInnen haben unterschiedliche Antworten auf die konzeptionelle und methodische Frage gefunden, ein Äquivalent für „internationale Migration“ in historischer Perspektive zu finden – und erst in jüngerer Zeit wird diese Frage auch explizit erörtert. Nicht ganz überraschend gibt es keine einfache Antwort auf dieses Dilemma, ist doch die für die Gegenwart so zentrale Unterscheidung zwischen ­ „In-“ und „Ausländern“, aus dem Ausland Zugewanderten und im Inland Geborenen, Ausdruck spezifischer Bedingungen der Gegenwartsgesellschaft. In einem viel beachteten Essay hat Patrick Manning jüngst vorgeschlagen, cross community migra­ tion als die zentrale Untersuchungskategorie für die Analyse von Migrationsprozessen und -dynamiken und in gewisser Weise als Ersatz für internationale Migration in der Gegenwart zu verwenden, wobei Manning ‚kulturelle Gemeinschaften‘ im Wesentlichen als Sprachgemeinschaften fasst. Denn, so Manning, es sind gerade 98

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 98

22.09.2010 07:50:10



Globale Migrationen

die erforderlichen Anpassungsleistungen von MigrantInnen beim Überschreiten von Kultur- und Sprachgrenzen, die gesellschaftlichen Wandel fördern und weitreichende Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft haben.4 Ansätze der historischen Migrationsforschung

Jan und Leo Lucassen konstatierten in einer einflussreichen, erstmals 1997 veröffentlichten Bestandsaufnahme der historischen Migrationsforschung5 eine fehlende Anbindung historischer Forschungen an sozialwissenschaftliche Theoriebildung in Bezug auf Migration  ; umgekehrt stellten sie die weitgehende Nichtbeachtung historischer Forschungen durch SozialwissenschaftlerInnen fest.6 Die Theorielosigkeit der historischen Migrationsforschung, so die Autoren, impliziert eine Reihe von Schieflagen. So lag der Schwerpunkt der globalgeschichtlich interessierten Migrationsforschung lange Zeit auf besonders dramatischen Migrationsströmen wie der transatlantischen Migration, dem transatlantischen Sklavenhandel oder der Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich. Nicht nur gerieten weniger spektakuläre Migrationsströme mitunter gar nicht erst in das Blickfeld, sondern die häufig untersuchten Fallstudien wurden auch als ‚typisch‘ für Migrationserfahrungen schlechthin interpretiert. Vielfach blieben diese deskriptiven Forschungen freilich weitgehend ohne theoretischen Anspruch. Die historische, aber auch die gegenwartsbezogene Migrationsforschung waren so lange Zeit geprägt von Dichotomien, die unterschiedliche Aspekte von Migration scharf voneinander abgrenzten und damit Gemeinsamkeiten zwischen unfreier und freiwilliger Migration, Arbeits- und Fluchtmigration oder Wanderungsprozessen einerseits und Eingliederungsprozessen von MigrantInnen nach der Niederlassung andererseits weitgehend ignorierten. Darüber hinaus war die Forschung lange weitgehend staatszentriert, fokussierte auf den euroatlantischen Raum und ging – implizit oder explizit – davon aus, dass Massenmigration ein spezifisches Phänomen der Moderne sei. Die Schwerpunktlegung innerhalb der historischen Migrationsforschung auf die – quantitativ zweifellos beeindruckende – Massenmigration in die USA und zu einem geringeren Teil in andere europäisch geprägte Siedlergesellschaften ließ weitgehend vergessen, dass in Nordasien (vor allem in der Mandschurei, in Sibirien, Zentralasien und Japan) sowie in Südostasien (einschließlich des indischen Ozeanraums und Teilen des Pazifiks) zwischen etwa 1840 und 1940 ähnliche Größenordnungen von Menschen migrierten wie im transatlantischen Raum.7 Jüngere Forschungen8 zu Migration in Europa hinterfragen zudem die Interpretation der europäischen Massenmigration nach 1850 als Ausdruck eines tief 99

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 99

22.09.2010 07:50:10

Globale Migrationen

greifenden Strukturwandels und die damit verbundene These eines „Mobilitäts­ übergangs“, der ähnlich wie der demografische Übergang typisch für Gesellschaften an der Wende von einer ‚vormodernen‘, wenig industrialisierten Stufe zu einer ‚modernen‘ Industriegesellschaft sei.9 Zwar gewannen Migrationen nach 1850 deutlich an Ausmaß, aber eben in weitaus weniger abrupter Weise, als dies die Hypothese des „Mobilitätsübergangs“ erwarten lässt. Periodisierungen

Jeder Periodisierungsversuch globaler Migrationsgeschichte seit 1800 ist notwendigerweise perspektivisch und geprägt von der eigenen theoretischen Position sowie pragmatischen Entscheidungen. In diesem Beitrag werden sechs Perioden unterschieden  : erstens die Zeit von etwa 1800 bis 1880 – eine Zeit des Übergangs, die durch die massive Zunahme von Wanderungen über lange Distanzen und den Übergang von unfreier zu freier Lohnarbeit geprägt war  ; zweitens die Periode von etwa 1880 bis 1920, dem Höhepunkt der transatlantischen Migration, Hochzeit des Imperialismus und Wirtschaftsliberalismus und Entstehungszeitpunkt moderner Migrationspolitik  ; drittens die Periode zwischen etwa 1920 und 1950, geprägt von den zwei Weltkriegen, der Wirtschaftskrise, migrationspolitischen Restriktionen, den europäischen Flüchtlingskrisen im Zusammenhang mit den Weltkriegen und ersten Ansätzen eines globalen Migrationsregimes  ; viertens die Periode zwischen etwa 1950 und 1973, geprägt von Wirtschaftswachstum, Arbeitskräfterekrutierung in den Industrieländern, Beginn von Süd-Nord-Wanderungen und Flüchtlingskrisen in außereuropäischen Staaten sowie der Herausbildung eines institutionellen Rahmens globaler Migrationspolitik  ; fünftens die Periode zwischen 1973 und 1989, geprägt vom Ölpreisschock (oder, aus Sicht von Erdöl fördernden Ländern, einem Ölpreisboom), von zunehmenden Restriktionen in westlichen Einwanderungsländern und damit verbundenen Verschiebungen in der Migrationsdynamik sowie der Herausbildung neuer Einwanderungsländer unter den Schwellen- und Entwicklungsländern  ; und sechstens die Periode von 1989 bis zur Gegenwart, geprägt von dem Zusammenbruch der Bipolarität, einer (selektiven) Globalisierung von Wanderungsdynamiken und einer massiven Zunahme von Süd-Nord-Wanderungen.10 Keine dieser Periodisierungsgrenzen markiert einen Epochenbruch im engeren Sinn. Vielmehr dienen sie der pragmatischen Unterteilung der zweihundertjährigen Zeitspanne und verweisen auf bestimmte Verschiebungen von Migrationsdynamiken, deren politische Regulierung und deren gesellschaftliche Auswirkungen.

100

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 100

22.09.2010 07:50:10



Globale Migrationen

Migration im Übergang (1800–1880) Die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert stellt in mehrfacher Hinsicht einen Wendepunkt der globalen Migrationsgeschichte dar. Mit der Abschaffung des Sklavenhandels und der Sklaverei (Abolition), der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst in der Form eines Informal Empire einsetzenden Welle der europäischen Expansion und Kolonisierung und der Institutionalisierung von Staatsbürgerschaft als zentraler politischer Zugehörigkeitskategorie in den USA und im Zuge der Napoleonischen Kriege auch in Europa wurden Anfang des 19. Jahrhunderts neue politische Rahmenbedingungen für die Migration geschaffen. Verkehrstechnologische Innovationen zwischen den 1820er- und 1850er-Jahren schufen die Voraussetzung für Massenmigration, während die Beseitigung von Binnengrenzen und grundherrschaftlichen Mobilitätsschranken sowie die Verankerung der Ausreisefreiheit in Europa die politischen Voraussetzungen für Massenmigration schufen. Von unfreien zu freien Formen der Arbeitsmigration

Das Verbot des Sklavenhandels – zunächst durch Frankreich (1794, allerdings 1802 wieder ausgesetzt und 1818 endgültig durchgesetzt) und Dänemark (1803), Groß­ britannien und die USA (beide 1807) –, dem drei Jahrzehnte später, beginnend mit Großbritannien (1838), die Emanzipation der Sklavenbevölkerung und das Verbot der Sklaverei selbst folgten, läutete den Übergang zu freieren Formen der Arbeitsmigration ein.11 Zwangsförmige Arbeitsmigration wurde damit keineswegs abgeschafft, nahm aber mehr und mehr vertragsförmige Formen an. Während ab Beginn des 19. Jahrhunderts der Sklavenhandel in immer mehr Staaten verboten wurde und ab den 1830er-Jahren auch die Institution der Sklaverei selbst zunehmend unter Druck kam, war die Gesamtzahl der gehandelten Sklaven mit etwa fünf Millionen im 19. Jahrhundert freilich größer denn je.12 Der transatlantische Sklavenhandel verlor zwar infolge der Abolition während des 19. Jahrhunderts stetig an Bedeutung  ; allerdings verschoben sich in der Folge die Handelsströme, was das Volumen gehandelter Sklaven ansteigen ließ. Die Nachfrage nach Sklaven nahm etwa in Kuba und Brasilien – wo die Sklaverei erst 1886 und 1888 abgeschafft wurde – im 19. Jahrhundert zu. Allein im Jahr 1848 wurden nach Kuba und Brasilien mehr als 40.000 Sklaven verschifft.13 Gleichzeitig verschoben sich die Hauptherkunftsgebiete afrikanischer SklavInnen weg von Westafrika hin zu zentralund südafrikanischen Herkunftsgebieten und schließlich bis hin nach Mosambik. Infolge des Wegbrechens traditioneller Sklavenabsatzmärkte in Nordamerika und den britischen und französischen Karibikinseln, britischer Anti-Sklaverei-Patrouil101

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 101

22.09.2010 07:50:10

Globale Migrationen

len vor Westafrika sowie eines Anstiegs westafrikanischer Sklavenpopulationen durch Kriegsgefangene aus den westafrikanischen Dschihaden erlangte gleichzeitig der Transsaharahandel mit Nordafrika, der arabischen Halbinsel, Persien und Indien eine neue Dynamik. Zusätzlich stieg auch das Volumen gehandelter Sklaven aus Ost- und Zentralafrika im Zuge des indischen Ozeanhandels, an dem vor allem arabische und Swahili-Händler beteiligt waren. Gleichzeitig gewann in Westafrika, vor allem in der Sahelzone, die innerafrikanische Sklaverei an Bedeutung.14 Der Sklavenhandel prägte vor allem in der Karibik und Südamerika langfristig die Zusammensetzung der Bevölkerung  : Sowohl in der Karibik als auch in Brasilien machten um 1870 afrikanische SklavInnen und deren Nachfahren die relative Bevölkerungsmehrheit aus. In beiden Gebieten stellten Weiße die nächstgrößte Gruppe (ein Drittel in Brasilien, ein Sechstel in der Karibik). Die indigene Bevölkerung war dagegen aufgrund von Krankheiten und Ausrottungspolitik seit Beginn der europäischen Kolonisation in Brasilien auf 500.000 Personen reduziert worden und in der Karibik praktisch ausgerottet.15 Aber auch in anderen traditionellen Destinationen für Sklaven – etwa den Inseln im Indischen Ozean oder Südafrika – veränderte der Sklavenhandel die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerungen dauerhaft. Zwangsförmige Arbeitsmigration war freilich im transatlantischen Kontext nicht nur auf die Sklaverei beschränkt  ; auch unter europäischen MigrantInnen war bis ins 19. Jahrhundert hinein der Anteil von ZwangsmigrantInnen relativ hoch, berücksichtigt man neben unfreien ArbeitsmigrantInnen wie Personen in Lohnknechtschaft (z. B. KontraktarbeiterInnen) sowie Sträflingsarbeitern auch den hohen Anteil von religiösen oder politischen Flüchtlingen unter den ‚freiwilligen‘ MigrantInnen. Insgesamt wanderte rund die Hälfte aller im 18. Jahrhundert in den USA ankommenden EuropäerInnen im Rahmen von Arbeitskontrakten aus.16 Der Übergang zu freieren Formen von Lohnarbeit erfolgte hier vor allem aufgrund der massiven Verbilligung und Verkürzung von Fernreisen und des breiteren Angebots an Finanzierungsmöglichkeiten für weniger vermögende Bevölkerungsschichten während des 19. Jahrhunderts.17 In globaler Perspektive freilich nahmen zunächst ‚halbfreie‘ Formen der Arbeitsmigration zu. Die durch die Abschaffung des Sklavenhandels entstandene Lücke wurde schnell durch sogenannte Indentured Labour („Kuli-Handel“), ein 1806 durch die Briten eingeführtes System der Kontraktarbeit, geschlossen. Indische MigrantInnen wurden dabei vor allem für die Plantagenökonomien im Indischen Ozean, der Karibik sowie ab den 1850er-Jahren für die Zuckerrohrplantagen im südafrikanischen Natal rekrutiert. Ab etwa den 1840er-Jahren wurden auch chinesische und japanische „Kulis“ rekrutiert.18 102

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 102

22.09.2010 07:50:10



Globale Migrationen

Die Zahl afrikanischer KontraktarbeiterInnen war dagegen relativ gering. Relevant war im afrikanischen Kontext Kontraktarbeit vor allem in Afrika selbst, wo es vor allem im portugiesischen Kolonialreich zu einem fließenden Übergang von Sklaverei zu kolonialen Formen von Kontrakt- und Zwangsarbeit kam. Insgesamt verlor Afrika aber mit der Abolition und der Ablösung von Sklaverei durch unterschiedliche Formen von Kontraktarbeit seine dominierende Stellung als Quelle von Arbeitskraft für Europas Kolonien. Gleichzeitig waren afrikanische Destinationen, vor allem das britische Süd- und Ostafrika, wichtige Destinationen von indischen und, zu einem geringeren Teil, chinesischen KontraktarbeiterInnen. Damit war Afrika in der frühen Kolonialphase von einem Exporteur von Arbeitskraft zu einem Arbeitskräfteimporteur geworden, wobei der Großteil von KontraktarbeiterInnen zwischen 1880 und 1914 importiert wurde (Abb. 1).

Abb. 1: Entwicklung der Zahl von Indentured Labourers („Kulis“) nach Destinationen (1831–1920) Quelle  : eigene Darstellung (Marcelo Riberio, ICMPD) nach Timothy J. Hatton/Jeffrey G. Williamson, Global ­M igration and the World Economy. Two Centuries of Policy and Performance, Cambridge/Mass. 2005, 24.

Innerhalb weniger Jahrzehnte erreichte das Volumen von Indentured Labourers ein Vielfaches der Zahl der in der Hochzeit des Sklavenhandels verschifften Sklaven, vor allem nach dem dramatischen Absinken der Schifffahrtskosten ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Allerdings flachte die Nachfrage nach einem absoluten Höhepunkt um 1850 wieder ab (außer in Afrika, wo der Höhepunkt im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erreicht wurde). Zum Teil verpflichteten sich die MigrantInnen über die ursprüngliche Vertragsdauer hinaus weiter  ; zum anderen gewann zeitgleich die spontane, freiwillige Arbeitsmigration an Bedeutung.19 Ähnlich wie 103

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 103

22.09.2010 07:50:10

Globale Migrationen

der Sklavenhandel hatte der „Kuli-Handel“ langfristige Auswirkungen auf die demo­ grafische Struktur der Bevölkerungen in den Destinationen. Im Unterschied aber zum Sklavenhandel, der aufgrund der ausschließlich auf Zwang beruhenden Rekrutierungsmechanismen und fehlender Rückkehrmöglichkeiten die Verbindungen zu den jeweiligen Herkunftsregionen abreißen ließ, blieben diese im Kontext von Indentured Labour durchaus intakt  ; sie wurden durch Niederlassung nach Ende der Vertragsdauer, wiederholte Zirkulation, Remigration und familiäre Migrationen in gewisser Weise sogar gestärkt, was wiederum das Entstehen von Diasporas oder transnationalen Gemeinschaften förderte.20 Besonders in Indien rief das „Kuli“-System gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend Kritik hervor. Die Anwerbung wurde schließlich 1917 nach einer Kampagne des Indischen Nationalkongresses offiziell beendet.21 Zu diesem Zeitpunkt hatte das „Kuli“-System freilich schon weitgehend seine frühere Bedeutung eingebüßt. Obwohl es wesentlich zur Herausbildung einer indischen globalen Diaspora beitrug, emigrierten nur wenige der MigrantInnen dauerhaft  : Von den geschätzten 27,4 Millionen Indern, die zwischen 1846 und 1932 emigrierten, kehrten 23 Millionen oder rund 82 Prozent zurück oder zirkulierten wiederholt.22 Erneute koloniale Expansion im 19. Jahrhundert

Ein zweiter Bereich globaler Migrationsdynamiken im 19. Jahrhundert war die erneute Welle kolonialer Expansion. Ein Schlüsselereignis dafür stellten die Unabhängigkeit der USA sowie, zu einem geringeren Teil, die Kräfteverschiebungen zwischen den europäischen Großmächten im Zuge der Napoleonischen Kriege dar  ; dies bekräftigte die Vormachtstellung Großbritanniens als Weltmacht und führte zur Übernahme einiger französischer und niederländischer Kolonien durch die Briten. Die Schwerpunktverschiebung britisch-imperialer Anstrengungen war zunächst vor allem in Indien spürbar, das ab den 1790er-Jahren zunehmend unter direktere Kontrolle durch den britischen Staat geriet und ab 1806 als Arbeitskräftereservoir diente. In weiterer Folge beschränkten sich die hegemonialen Interessen Großbritanniens nicht mehr auf Indien, sondern wurden auf Asien und Afrika, wo Großbritannien mit dem Erwerb der Kapkolonie Anfang des 19. Jahrhunderts einen wichtigen strategischen Brückenkopf erhielt, ausgedehnt. Der Verlust der USA ließ überdies Kanada, Australien und Neuseeland sowie, wenn auch zu einem geringeren Teil, die britischen Besitzungen im südlichen Afrika zu einer zunehmend bedeutenden Destination britischer MigrantInnen und von Großbritannien anderswo angeworbener MigrantInnen werden  ; dies läutete die Transformation dieser Gebiete in weiße Siedlerkolonien ein. 104

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 104

22.09.2010 07:50:10



Globale Migrationen

An Australien zeigt sich die enge Verbindung unterschiedlicher Migrationssys­ teme. Großbritannien nutzte Australien zunächst vor allem als ‚Abschiebeposten‘ für missliebige und arme Bevölkerungsschichten, allen voran Sträflinge.23 In gewisser Weise ersetzten Sträflinge afrikanische Sklaven als billige Arbeitskräfte – ein Indikator dafür, wie eng die vom britischen Empire dominierten Migrationssys­ teme von Sträflingen, freien MigrantInnen und afrikanischen Sklaven miteinander verwoben waren.24 Eines der ersten kolonialen Projekte zu Beginn des 19. Jahrhunderts – die Gründung von Kolonien für freigelassene Sklaven und deren Nachkommen in Liberia und Sierra Leone – kann als Ausdruck dieser eng verzahnten Entwicklungen oder entangled histories (Dietmar Rothermund)25 gelesen werden. Wie der Beginn des „Kuli-Handels“ ist die Realisierung von Repatriierungsplänen für freigelassene Sklaven und deren Nachfahren mit dem Verbot des Sklavenhandels durch die USA und Großbritannien verbunden. Darüber hinaus ist freilich das Kolonisierungs- und Repatriierungsprojekt auch unmittelbarer Ausdruck der im 19. Jahrhundert vorherrschenden Tendenz, Emigration als Lösung der „sozialen Frage“ zu verstehen  ; dabei war Sozialpolitik eng mit Bevölkerungspolitik und, insbesondere in den Siedlergesellschaften, aber auch in den kolonialen Metropolen, mit rassenpolitischen Vorstellungen verwoben. Der Repatriierungsgedanke war ein wichtiges Element früher panafrikanischer Entwürfe. Insgesamt kennzeichnet die ‚afrikanische Diaspora‘ freilich vor allem der fehlende unmittelbare Migrationszusammenhang – ganz im Gegensatz zu den von indischen und chinesischen MigrantInnen gebildeten Diasporas, implizierte doch die Sklaverei die Verunmöglichung jeglicher Beziehungen zwischen Herkunfts- und Zielregionen. Die ‚afrikanische Diaspora‘ ist vor allem auch Ausdruck der gemeinsamen Erfahrung des historischen Erbes der Sklaverei und des Rassismus in den Post-Emanzipationsgesellschaften, kurz  :     einer gemeinsamen Identität als ‚Schwarze‘, und nicht, wie bei der indischen oder chinesischen Diaspora, Ausdruck einer transnationalen, durch Migration hervorgebrachten Gemeinschaft. Nicht nur das britische Empire und Frankreich – das nach einer kurzen Phase kolonialer Zurückhaltung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wieder koloniale Expansionspläne hegte und mit der Eroberung Algeriens ab 1830 auch zunehmend umsetzte – sowie, in weitaus geringerem Ausmaß, die Niederlande, Spanien und Portugal waren an der neuen Welle der kolonialen Expansion beteiligt  ; auch Russland und China expandierten territorial. Bereits vor 1800 hatte das Russische Reich gezielt MigrantInnen angesiedelt. Doch erst im Zuge der territorialen Expansion und der kolonialen Bestrebungen Russlands im Kaukasus, in Zentralasien und Ostasien ab Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Ansiedlung vorrangig russischer SiedlerInnen in den neu erworbenen Territorien 105

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 105

22.09.2010 07:50:10

Globale Migrationen

ein bedeutendes Ausmaß an. Zwischen 1840 und 1940 migrierten so an die 13 Millionen RussInnen auf der Basis staatlicher Anreiz- oder Zwangsprozesse nach Zentralasien und Sibirien.26 Staatsbürgerschaft und Ausreisefreiheit

Staatsangehörigkeit (nationality) im Sinne einer (rechtlichen) Beziehung zwischen einer Person und einem Staat ist keine Innovation des 19. Jahrhunderts, sondern besteht seit der Herausbildung von staatlichen und staatsähnlichen Herrschaftsformen. Allerdings entwickelte sich erst in der Neuzeit und nur in Europa ein juristischer, präziser Begriff von Staatsangehörigkeit, wobei damit noch keineswegs ein rechtlicher Status – im Sinn von Staatsbürgerschaft (citizenship) – verbunden war. Ein spezifischer Staatsbürgerschaftsstatus entwickelte sich erst im Zusammenhang mit dem bürgerlichen Nationalstaat, in dem feudale und herrschaftliche Statusformen zurückgedrängt, Herrschaft zentralisiert und vom Zentralstaat monopolisiert wurde  ; damit setzte sich schließlich die Vorstellung des (männlichen) Bürgers als Träger von Rechten gegenüber dem Staat durch. Diese Entwicklungen korrelierten eng mit der Herausbildung von Nationalstaaten und der durch nationalistische Bewegungen popularisierten Vorstellung einer Rechts- und Identitätsbeziehung zwischen Bürger und Staat. Für alle diese Entwicklungen waren die amerikanische und die französische Revolution – und daran anknüpfende Revolutionen in Lateinamerika und anderswo – maßgeblich. Viele Staaten in Europa übernahmen ein vom napoleonischen Code Civil geprägtes Staatsbürgerschaftskonzept  ; damit wurde die Unterscheidung zwischen In- und AusländerInnen zentral. Über weite Teile des 19. Jahrhunderts blieb freilich für den Großteil der mobilen Bevölkerung in Europa die Staatsbürgerschaft zweitrangig und hatte auch im Völkerrecht zunächst noch keine klare Bedeutung. Dennoch wurde die Staatsbürgerschaft zunehmend wichtig und fand auch Eingang in staatliche Praktiken – in die Verwendung von Pässen, Volkszählungen und andere Formen der ‚Erfassung‘.27 In der Übergangszeit bis 1880 waren Staatsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit allerdings ein überwiegend europäisches Phänomen und selbst hier für grenzüberschreitende Mobilität noch von geringerer Bedeutung. Allerdings beförderte die Durchsetzung von Staatsbürgerschaft als zentrale Statuskategorie innerhalb eines Staatsgebietes den Abbau von Binnengrenzen und grundherrschaftlichen Mobilitätseinschränkungen. Die Liberalisierung des Ausreiserechts trug gleichzeitig dazu bei, die Schranken für Staatsgrenzen überschreitende Mobilität abzubauen. Die Liberalisierung der Ausreise und die Aufhebung bestehender Ausreisebeschränkungen im 19. Jahrhun106

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 106

22.09.2010 07:50:10



Globale Migrationen

dert waren Ausdruck eines Paradigmenwechsels von einer merkantilistischen zu einer liberalen Bevölkerungspolitik, in der die freie Zirkulation von Arbeitskräften als ökonomische und gewissermaßen ‚naturgesetzliche‘ Notwendigkeit gesehen wurde und zudem – durch die Emigration der ‚überschüssigen‘ Bevölkerung – auch eine Lösung der „sozialen Frage“ versprach.28 Verkehrsrevolution und Herausbildung einer Migration Industry

Veränderungen des Transportwesens und die geringeren Transportkosten infolge technischer Neuerungen waren ein wesentlicher Faktor dafür, dass Migration ab Mitte des 19. Jahrhunderts für breitere Schichten der Bevölkerung zu einer realen Option wurde. Der Ausbau der Binnenschifffahrt in Europa und den USA vor allem zwischen 1780 und 1840, die Entwicklung der Eisenbahn und der darauffolgende rasche Ausbau des Schienennetzes ab 1850 waren für die Binnenmobilität von wichtiger Bedeutung. Die Expansion der Dampfschifffahrt war indes der entscheidende Schritt für die massive Zunahme der Migration über weite Distanzen. Sie ermöglichte nicht nur eine drastische Verringerung der Reisedauer – eine Atlantiküberquerung dauerte statt 30 bis 45 Tagen nur noch rund 14 Tage29 –, sondern auch eine erhebliche Kostenreduktion. So fielen die Frachtpreise auf amerikanischen Routen zwischen 1830 und 1850 um rund 55 Prozent, während sie in Großbritannien in den 25 Jahren nach 1840 um 70 Prozent fielen. In ähnlichem Ausmaß verringerten sich die Kosten einer transatlantischen Überfahrt. Gemessen am Durchschnittseinkommen war der Rückgang der Transportkosten noch drastischer – fielen doch die Kosten für die Überfahrt von Großbritannien in die USA zwischen etwa 1820 und 1860 um rund 80 Prozent.30 Allerdings reichten die technischen Neuerungen und die Verbilligung der Reisekosten nicht aus, um breiteren Schichten der Bevölkerung Migration zu ermöglichen. So waren die Kosten für eine Überfahrt aus England nach Australien zwar zwischen 1824 und 1834 von 30 auf 18 Pfund gefallen – doch dies machte etwa 60 Prozent des Jahreseinkommens eines durchschnittlichen männlichen Landarbeiters in England aus.31 Folglich konnte ein Großteil der MigrantInnen die Überfahrt weiterhin nicht aus eigener Kraft finanzieren. Neue Praktiken der Vorfinanzierung der Überfahrt waren entscheidend dafür verantwortlich, dass sich breitere Bevölkerungsschichten in Europa auf den Weg machen konnten. Facilitators (Vermittler) spielten dabei eine Schlüsselrolle – sowohl bei der Rekrutierung von MigrantInnen, als auch für die Finanzierung der Überfahrt. In Europa waren es vor allem die Reedereien, die „Rekrutierungsagenturen“ betrieben. Ein ähnliches dichtes Netz an Rekrutierungsagenturen, bestehend aus chinesischen, europäischen und spä107

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 107

22.09.2010 07:50:10

Globale Migrationen

ter auch amerikanischen Unternehmern, die sich im chinesischen „Kuli“-Geschäft engagierten, entstand in China nach der erzwungenen Öffnung für den Freihandel und der Gewährung des Emigrationsrechts in der Folge der Opiumkriege.32 Darüber hinaus waren auch staatliche Anreize und Subventionen für die Anwerbung von MigrantInnen zentral, insbesondere für ‚neue‘ koloniale Territorien wie Neuseeland und Australien  ; so migrierten rund 50 Prozent der MigrantInnen in den beiden Territorien mit Unterstützung der britischen Regierung, die die Kosten für die Überfahrt auf rund die Hälfte senkte. Aber auch andere Destinationen, etwa Argentinien, Brasilien und die USA, unterstützten MigrantInnen.33 Die europäischen Migrationen veränderten massiv den Charakter der kolonialen Gesellschaften. So macht es erst ab etwa 1850 Sinn, zwischen Siedlerkolonien und „Ausbeutungskolonien“ (exploitation colonies), in denen nur eine begrenzte Zahl von Europäern lebte, zu differenzieren. Die Entstehung von Siedlerkolonien ist vorrangig ein Resultat massiver Zuwanderung aus Europa.34 Umgekehrt trug die Massenmigration in die USA wesentlich zum take off als Agrar- und Industriemacht ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts bei  : Migration hatte nicht nur vielfach ökonomische Ursachen, sondern auch ökonomische Folgen, die über bloße Arbeitsmarkteffekte hinausgingen.35 Wie Hatton und Williamson argumentieren, hatten die transatlantischen Migrationsbewegungen mittelfristig tatsächlich die von neoklassischen Ökonomen postulierten makroökonomischen Effekte – nämlich die Angleichung des Lohnniveaus zwischen europäischen Herkunftsländern und vor allem nordamerikanischen Zuwanderungsregionen.36 In globaler Hinsicht, vor allem für die kolonialisierten Gebiete, kann dies allerdings nicht mit derselben Bestimmtheit behauptet werden  ; dort waren Arbeitsmigration sowie Löhne und Arbeitsplatzwahl weitaus stärker reguliert. Staatliche Interventionen (Vertragsarbeit, Zwangsarbeit, Rekrutierungsagenturen mit Monopolstellung in kolonialen Territorien usw.) trugen gleichzeitig ganz wesentlich dazu bei, derartige Schieflagen zu befestigen. Aber wer migrierte  ? Während die Sklaverei vor allem die verwundbarsten und ärmsten Bevölkerungsschichten traf, beruhten alle anderen Formen von Arbeitsmigration im 19. Jahrhundert bereits mehr oder weniger auf ökonomischen Anreizen, selbst bei erzwungenen Migrationsformen. Im „Kuli“-Handel migrierten vermutlich vor allem wenig vermögende MigrantInnen aus Indien, China und anderen Rekrutierungsregionen, während MigrantInnen aus vermögenderen Verhältnissen durchwegs außerhalb der Anwerbung zu ähnlichen Bedingungen wie MigrantInnen aus Europa migrierten. Im Falle der europäischen Auswanderungen migrierten selbst bei staatlich unterstützten Formen von Migration insgesamt tendenziell eher wohlhabende Gruppen und nicht die allerärmsten Schichten. Tatsächlich ist Immobili108

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 108

22.09.2010 07:50:10



Globale Migrationen

tät bis heute weitgehend ein Armutsphänomen, denn jede Migration bedarf eines Mindestmaßes an Ressourcen. Äußere Zwänge – wie die Hungersnot in Irland, aber auch politische Vertreibungen und politische Krisen – waren dennoch bedeutende Triebkräfte. Aus dem Russischen Reich etwa, wo eine zahlenmäßig bedeutende Emigration nach Nordamerika erst ab 1880 zu beobachten ist, emigrierten zwischen 1880 und 1920 überwiegend Angehörige ethnischer Minderheiten, vor allem der jüdischen Bevölkerung (rund 1,8 Mio.), gefolgt von MigrantInnen aus dem russischen Teil Polens (1,1 bis 1,3 Mio.) sowie aus Litauen (rund 300.000), der Ukraine (rund 250.000) und Lettland (10.000 bis 15.000). Dagegen emigrierten nur rund 100.000 ethnische Russen.37

Massenmigration, Krise des Liberalismus und die Erfindung der Migrationspolitik (1880–1920) Während die wesentlichen Weichen für die Massenmigration bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts gestellt worden waren, erreichte sie erst zwischen etwa 1880 und 1914 ihren Höhepunkt. Im Falle der transatlantischen Migration stieg die jährliche Einwanderung in die USA, Kanada, Brasilien und Argentinien von 198.331 in der Dekade 1856 bis 1865 auf mehr als 1,357 Millionen in der Dekade vor dem Ersten Weltkrieg.38 Auch in Afrika führte vor allem im Süden die beginnende Bergbauindustrie zu einem starken Anstieg von Migrationen. Ebenso stieg mit der russischen und chinesischen Expansion die Migration in neu erschlossene Gebiete Ostasiens massiv an. Industrialisierung, Proletarisierung und Urbanisierung fachten außerdem in den Kernregionen der Industrialisierung massiv die Binnenmigration an. Insgesamt ist die Periode von etwa 1880 bis 1920 von einem deutlichen Mobilitätsschub gekennzeichnet  ; diese Massenmobilität ging in Europa und im transatlantischen Raum mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu Ende. Allerdings kam es bereits ab den 1860er-Jahren zu zunächst selektiven, dann zunehmend generalisierten Beschränkungen von Migration. In den weißen Siedlergesellschaften wurde Migration zunehmend zu einem umstrittenen Thema, wobei sich der Widerstand vor allem gegen die weitere Zuwanderung aus Europa und Asien richtete. In den USA mobilisierten nativistische Bewegungen gegen die „neue Zuwanderung“ aus Ost- und Südeuropa, insbesondere aber gegen die Zuwanderung von Personen jüdischer und chinesischer Herkunft. So wurde mit dem Chinese Exclusion Act 1882 die Zuwanderung von ChinesInnen in die USA massiv beschränkt. Ähnliche rassistisch motivierte Zuwanderungsbeschränkungen wurden im selben Zeitraum auch in anderen ‚weißen‘ Siedlerkolonien durchge109

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 109

22.09.2010 07:50:11

Globale Migrationen

setzt. Die indische Zuwanderung nach Südafrika, seit ihrem Beginn ab etwa 1860 umstritten, wurde phasenweise unterbunden und mit dem Immigration Act 1913 generell beschränkt. Australien führte ab der Jahrhundertwende massive Beschränkungen für chinesische und polynesische MigrantInnen ein und ging dazu über, vorwiegend südeuropäische Arbeitskräfte für die Zuckerplantagen zu rekrutieren. Zur gleichen Zeit machte Kuba seine Grenzen gegenüber ArbeitsmigrantInnen aus Jamaika und Haiti dicht und rekrutierte stattdessen Arbeitskräfte aus Spanien.39 Migrationspolitik war häufig auch ‚rassisch‘ begründete Bevölkerungspolitik, in der Förderung von Zuwanderung aus bestimmten Herkunftsgebieten und Kontrolle von Zuwanderung aus anderen Regionen zwei Seiten derselben Medaille darstellten. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit beeinflussten zwar die Gestalt der Migrationspolitik, die zugrunde liegenden Kräfte aber waren überwiegend ökonomischer Natur. Die ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunächst durch wenige Länder eingeführten und auf wenige MigrantInnengruppen bezogenen Zuwanderungsbeschränkungen waren dabei Anzeichen eines breiteren protektionistischen Trends, der nach dem Ersten Weltkrieg voll zur Entfaltung kam. Mit der zunehmenden Beschränkung internationaler Migration kam ab etwa 1880 eine (kurze) Periode relativer Personenfreizügigkeit zu ihrem Ende  ; zudem erfolgte die Regulierung von Migration von nun an über neue Mechanismen, die eng mit der Konsolidierung von Staatsbürgerschaft als zentraler Statuskategorie während der Nationalstaatsgründungen nach dem Ersten Weltkrieg zusammenhingen. Auch die Entwicklung von Wohlfahrtsstaatlichkeit und die damit zusammenhängende Tendenz eines zunehmend sozial- und wirtschaftspolitisch intervenierenden Staates nahmen darauf erheblich Einfluss. Migration in den Kolonien  : Arbeitskräfterekrutierung bei strukturellem Arbeitskräftemangel

Die koloniale Durchdringung Afrikas und Asiens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte weitreichende Veränderungen in politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Hinsicht. Diese Veränderungen bestimmten das Migrationsgeschehen während der Kolonialzeit wesentlich mit und führten zum Entstehen von Migrationssystemen, die zum Teil bis heute fortbestehen. Während vorkoloniale Formen von Mobilität an Bedeutung verloren oder gänzlich verschwanden, entstanden neue Formen der Migration, die unmittelbar mit dem kolonialen Projekt und der damit verbundenen kapitalistischen Transformation zusammenhängen. Zu den bedeutendsten dieser neuen Migrationsformen gehören einerseits ländliche 110

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 110

22.09.2010 07:50:11



Globale Migrationen

Formen der Arbeitsmigration im Kontext kommerzieller Landwirtschaft, andererseits Arbeitsmigration im Kontext der Förderung mineralischer Rohstoffe. Die Rolle des Kolonialstaates war dabei in mehreren Hinsichten zentral. Zum einen hatte der Kolonialstaat selbst einen massiven Bedarf an Arbeitskräften  : Träger, Soldaten, ArbeiterInnen für staatliche Infrastrukturprojekte, für untergeordnete Positionen in der Verwaltung, Schulen und vieles andere mehr. Zum anderen ließen die Erschließung von mineralischen Rohstoffen und der Boom landwirtschaftlicher Erzeugnisse den Arbeitskräftebedarf der kolonialen Wirtschaft massiv ansteigen. Sowohl in Asien als auch in Afrika konnten die Kolonialverwaltungen den massiven Arbeitskräftebedarf kaum mit einheimischen Arbeitskräften befriedigen. Während sie die Schuld für die mangelnde Beteiligung von AfrikanerInnen und AsiatInnen an Lohnarbeit hauptsächlich bei diesen selbst sahen, bestand der eigentliche Grund wohl vor allem in der geringen Attraktivität und dem Ausbeutungscharakter von Lohnarbeit im kolonialen Kontext. Sowohl in Afrika als auch Asien griffen Kolonialadministrationen in weiterer Folge auf Arbeitskräfte außerhalb der kolonialen Territorien zurück, vor allem auf indische und chinesische Kontraktarbeiter. In Malaysia etwa stammten im Jahr 1911 96 Prozent der Minenarbeiter aus China. Als Gegengewicht zur chinesischen Einwanderung rekrutierte die britische Kolonialregierung für die Kautschukplantagen dann vor allem indische (überwiegend tamilische) Arbeitskräfte. 1911 machten InderInnen bereits zehn Prozent der Bevölkerung aus – gegenüber einem Anteil von chinesischen MigrantInnen von 34 Prozent und einem 52-prozentigen Anteil von einheimischen Bevölkerungsgruppen.40 In Ost- und Südafrika setzten die Briten neben der Rekrutierung von MigrantInnen aus anderen kolonialen Territorien in Afrika massiv auf indische Arbeitskräfte. Zwischen 1860 und 1911, als infolge der Südafrikanischen Union (1910) die Rekrutierung von Indenture Labourers endete, wurden 150.000 Inder für die Zuckerplantagen in Natal rekrutiert. Die Versorgung mit billiger Arbeitskraft war entscheidend dafür, dass die Zuckerindustrie der Kronkolonie im Wettbewerb mit etablierten Produzenten in der Karibik und Mauritius und mit Zucker aus europäischem Zuckerrohranbau bestehen konnte. Der Wettbewerb war dabei nicht allein auf das Produkt beschränkt, sondern war auch ein Wettbewerb um (indische) Arbeitskräfte.41 In Ostafrika rekrutierten die Briten indische Kontraktarbeiter für den Bau der Uganda-Bahn (1896–1901). Auf dem Höhepunkt arbeiteten 18.000 Personen am Bau der Bahn. Der Großteil der InderInnen wanderte allerdings außerhalb des Indenture-Systems in den Jahren nach 1910 nach Kenia zu.42 Tatsächlich führte die koloniale Durchdringung Afrikas und Asiens zu wichtigen sekundären Wanderungsströmen von Händlern und anderen, die im kolonialen Kontext eine Mittlerfunktion einnahmen. In Südostasien war der Handel bereits 111

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 111

22.09.2010 07:50:11

Globale Migrationen

vor der kolonialen Durchdringung durch ethnische Netzwerke von ChinesInnen und InderInnen dominiert, die aber mit der Kolonisierung und der dadurch ausgelösten wirtschaftlichen Dynamik wesentlich an Bedeutung gewannen. Netzwerke chinesischer Kaufleute spielten zudem eine wichtige Rolle bei der Rekrutierung und Verteilung von chinesischen ArbeitsmigrantInnen und betrieben daneben ein dichtes Netzwerk an einfachen Dienstleistungseinrichtungen.43 Aus den Handels­ unternehmungen indischer und chinesischer MigrantInnen gingen in weiterer Folge dann auch Manufakturen und Industrieunternehmungen hervor. In Ost- und Südafrika dominierten vor allem indische HändlerInnen. Daneben waren vor allem in Tanganjika, Sansibar und Kenia und zum Teil auch im Kongo arabische Händler aktiv, während in West- und Zentralafrika Libanesen und griechische Händler dominierten. Parallel zur Rekrutierung von KontraktarbeiterInnen setzte der Kolonialstaat in Asien und Afrika eine Reihe von Maßnahmen um, die darauf abzielten, das einheimische Reservoir an Arbeitskräften zu fördern. Die Rekrutierung von migrantischen Arbeitskräften im kolonialen Kontext war dabei auch ein bewusst eingesetztes Instrument der Lohn- und Wettbewerbspolitik  : Löhne mussten aus der Sicht von Kolonialadministrationen und Unternehmern niedrig gehalten werden, um global wettbewerbsfähig zu bleiben. Zwangsrekrutierungen und andere Maßnahmen spielten dabei eine wesentliche Rolle. Maßnahmen des Kolonialstaates waren aber nicht nur auf die Angebotsseite des Arbeitsmarktes beschränkt, sondern betrafen auch die Nachfrageseite. So konnten die meisten kapitalistischen Unternehmungen ohne massive Unterstützung des Kolonialstaates kaum bestehen – erst Subventionierung, agrarpolitische Maßnahmen sowie Zölle rüsteten kapitalistische Produzenten in den Kolonien gegen die globale Konkurrenz. Nicht nur in der Bevölkerungspolitik, sondern auch in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik folgte der Kolonialstaat damit einem merkantilistischen Paradigma. Der Rückgriff auf Zwangsarbeit war dabei vor allem im afrikanischen Kontext ein wichtiges Instrument dafür, ein ausreichendes Arbeitskräfteangebot zu garantieren. Allerdings darf die Bedeutung von Zwangsmaßnahmen, obwohl zentral für das Verständnis kolonialer Arbeitsmarktpolitik, nicht überschätzt werden  : MigrantInnen hatten selbst unter widrigen (rechtlichen) Umständen durchaus Handlungsspielräume und konnten Arbeitsbedingungen bis zu einem gewissen Grad verhandeln  ; weder der Staat noch die betroffenen Unternehmen waren in der Regel stark genug, um Arbeit unter jeden Bedingungen zu erzwingen.44

112

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 112

22.09.2010 07:50:11



Globale Migrationen

Die Herausbildung des modernen Flüchtlingsbegriffs in der Zwischenkriegszeit (1920–1950) Flucht und Vertreibung, eine paradigmatische Erfahrung im 20. Jahrhundert, unterscheiden sich von früheren Perioden hinsichtlich des Zusammenhangs mit Staats- und Nationsbildungsprojekten, der gegenüber früheren Epochen weitaus größeren Betroffenheit der Zivilbevölkerung bei kriegerischen Konflikten und der damit weitaus größeren Zahl an Kriegsflüchtigen sowie der Entschlossenheit des modernen Staates, ‚innere Feinde‘ zu verfolgen. Die erste ‚moderne‘ Flüchtlingskrise in der Zwischenkriegszeit war eine direkte Folge des Ersten Weltkrieges. Die politischen Umwälzungen – der Zusammenbruch Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reichs, die Entstehung neuer Nationalstaaten sowie die Oktoberrevolution in Russland – machten Flucht, Staatenlosigkeit und Vertreibung zu einem Massenphänomen in Europa. Mit geschätzten 9,5 Millionen (1926) erreichte die Zahl der Flüchtlinge in den 1920er-Jahren ein erstes Hoch.45 Die Geburt des ‚Flüchtlingsproblems‘ in den 1920er-Jahren verdeutlicht insgesamt die Verschiebung der Deutungsparameter im Zuge des Aufstiegs des modernen Nationalstaats, in Folge dessen Staatsbürgerschaft und Ausländerstatus zu zentralen politischen Kategorien wurden.46 Der Bedeutungsaufschwung dieser Kategorien war umgekehrt eng mit Staatenlosigkeit und der Minderheitenfrage verbunden – beides Resultate des Zerfalls der multinationalen und multireligiösen Reiche. Exemplarisch für die Vorherrschaft des Nationalen und die Dominanz des Ideals ethnisch homogener Nationalstaaten kann der ‚Bevölkerungsaustausch‘ zwischen Griechenland und der Türkei (Frieden von Lausanne 1923) sowie zwischen Griechenland und Bulgarien (Vertrag von Neuilly-sur-Seine 1919) angeführt werden. In seiner Radikalität durchaus extrem, verdeutlicht er nichtsdestotrotz wie kein anderes Ereignis den Geist der 1920er-Jahre und die Auswirkungen der zweiten Welle an Nationsgründungen, bei der die Idee von ethnisch weitgehend homogenen Nationen eine zentrale Rolle spielte. Das Ende der „ersten Globalisierung“

Im Kontext der politischen und ökonomischen Krisen der Zwischenkriegszeit kamen die ‚erste Globalisierung‘ und das damit verbundene erste Age of Migration zu einem Ende. Der bereits ab den 1880er-Jahren zu beobachtende Trend zunehmender Selektivität von Migrationspolitik der klassischen Zuwanderungsländer setzte sich nicht nur fort, sondern Migration wurde vielerorts beschränkt. Die USA limitierten die Zuwanderung mittels Quoten zunächst auf 350.000 und dann mit 113

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 113

22.09.2010 07:50:11

Globale Migrationen

dem zweiten Quota-Act auf nur mehr 150.000 Personen pro Jahr – rund ein Viertel des langjährigen Durchschnitts zwischen 1856 und 1924.47 Der Rückgang in Australien, Kanada und Australien war ähnlich dramatisch. Nur in Lateinamerika blieb die Zuwanderung bis in die 1930er-Jahre auf hohem Niveau. Aber auch in Lateinamerika wurde die Zuwanderung zunehmend beschränkt, allerdings weitaus weniger drastisch als anderswo.48 Auch in Europa selbst kam es zunehmend zur Beschränkung von Zuwanderung und Aufenthalt von Fremden. Nur Frankreich stellte eine Ausnahme dar und rekrutierte auch in der Zwischenkriegszeit ArbeitsmigrantInnen und bot Flüchtlingen – vor allem russischen und armenischen – Schutz. Mit der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er-Jahre beendete Frankreich die Rekrutierung und führte zunehmende Restriktionen ein. Von den etwa 430.000 algerischen ArbeitsmigrantInnen, die zwischen den 1920er-Jahren und dem Ausbruch der Wirtschaftskrise Anfang der 1930er-Jahren rekrutiert worden waren, blieben nur rund 56.000.49 Einige europäische Staaten, darunter Österreich, führten im Kontext chronischer Arbeitslosigkeit und protektionistischem Wirtschaftsnationalismus Arbeitsbewilligungen als neue Form der Migrationskontrolle ein, die den Arbeitsmarkt für inländische Arbeitskräfte schützen sollte. Zunehmende Kontrolle und Beschränkung von Mobilität ließen den Begriff „illegal“ oder „irregulär“ erstmals in öffentlichen Debatten über Migration auftauchen – bezeichnenderweise vor allem in Bezug auf jüdische Flüchtlinge.50 Die neu gegründete UdSSR, aus der zwischen 1920 und 1938 geschätzte 4,5 Millionen Personen meist als Flüchtlinge emigrierten, ging Anfang der 1920er-Jahre ebenfalls zu verstärkten Migrationskontrollen über. Allerdings war es die Ausreise, die durch neue administrative und finanzielle Hürden praktisch verunmöglicht wurde. Damit kehrte die UdSSR zur staatlichen Bevölkerungskontrolle des 19. Jahrhunderts zurück, die bis zum Zerfall der Sowjet­union bestehen blieb. Insgesamt kam es in der Zwischenkriegszeit zu einem massiven Rückgang von Migrationsbewegungen. Nur das koloniale Migrationsgeschehen stellt in gewisser Weise eine Ausnahme dar. Nicht nur war die Zwischenkriegszeit eine Phase weißer Zuwanderung in afrikanische Siedlerkolonien, sondern auch die Zahl afrikanischer ArbeitsmigrantInnen stieg im Zusammenhang verstärkter ‚Entwicklungsanstrengungen‘ des Kolonialstaates massiv an. Ähnliche Entwicklungen gab es in Süd- und Südostasien. In Palästina nahm die Zuwanderung jüdischer MigrantInnen, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte, in der Zwischenkriegszeit erstmals bedeutsame Ausmaße an und wuchs mit dem verschärften Antisemitismus in Europa nach 1930 deutlich an. Zwischen 1922 und 1937 wanderten rund 245.000 Jüdinnen und Juden in Palästina ein.51 114

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 114

22.09.2010 07:50:11



Globale Migrationen

Abb. 2: Globale Migrationsströme im Zeitraum der ‚ersten Globalisierung‘ Quelle  : eigene Darstellung (Marcelo Riberio, ICMPD) nach Manning, Global Migration, 147.

Koloniale Migrationspolitiken in der Zwischenkriegszeit

Im kolonialen Zusammenhang folgte die staatliche Politik häufig nach wie vor einem merkantilistischen Paradigma, innerhalb dessen die Bevölkerung an sich einen Wert darstellte und Mobilität der ‚verwalteten Bevölkerungen‘ von den Kolonialmächten immer auch als Bedrohung gesehen wurde. Zum einen wurde Migration als Bedrohung der ‚moralischen Ordnung‘ des Kolonialstaates gesehen und Migration und Urbanisierung häufig mit ‚Entwurzelung‘, ‚Enttribalisierung‘ und sozialer Unordnung in Verbindung gebracht  ; zum anderen wurde Migration (und hier im wesentlichen Emigration) als Bedrohung kolonialer Entwicklungspolitiken gesehen, vor allem dort, wo Kolonialstaaten Politiken ländlicher – großteils erzwungener – Entwicklung verfolgten.52 Umgekehrt übten Kolonialstaaten eine massive Kontrolle auf Migration über Rekrutierungsagenturen, Umsiedlungsprogramme und Ähnliches aus. Tatsächlich waren die Sicherung des Arbeitskräfteangebots und staatliche Infrastrukturprojekte ein vorrangiges Problem kolonialer Politik bis zum Zweiten Weltkrieg. Kennzeichnend für koloniale Migrationspolitiken war damit ein gewisser Widerspruch zwischen der Kontrolle von Mobilität und ihrer Förderung. Die Politik gegenüber ZuwanderInnen aus den Kolonien in den metropolitanen 115

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 115

22.09.2010 07:50:11

Globale Migrationen

Gebieten war noch mehr als die Migrationspolitik in den Kolonien von Widersprüchen gekennzeichnet. Staaten wie Frankreich rekrutierten schon in den 1920er und 1930er-Jahren Arbeitskräfte aus den nordafrikanischen Kolonien für den metropolitanen Arbeitsmarkt. In der Regel aber hatten koloniale MigrantInnen in den Metropolen keinen Platz  ; sie sollten eine Ausnahme bleiben. Die Migrationserfahrungen kolonialer MigrantInnen in den Metropolen sowie von Soldaten aus den Kolonien, die in den zwei Weltkriegen in Europa oder in anderen Teilen der Kolonialreiche dienten, hatten trotz der relativ geringen Zahl involvierter Personen weitreichende Auswirkungen. Viele afrikanische und asiatische Staatsmänner hatten prägende Jahre in den europäischen Metropolen verbracht und dort Netzwerke zu Politikern aus anderen kolonialen Gebieten aufgebaut, die auch für die späteren Allianzen der Dritt-Weltländer von Bedeutung sein sollten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg nahm Migration aus den Kolonien bedeutendere Ausmaße an. Internationalisierung der Migrationspolitik  : Ansätze eines globalen Flüchtlings- und Migrationsregimes in der Zwischenkriegszeit

Insgesamt war die Zwischenkriegszeit von einer präzedenzlosen ‚Nationalisierung‘ von Migrationspolitik gekennzeichnet  ; allerdings gab es auch gegenläufige Entwicklungen. In Reaktion auf den Zustrom russischer Flüchtlinge wurde 1921 im Kontext des Völkerbundes mit dem Norweger Fritjof Nansen ein Hochkommissar eingesetzt, der sich in weiterer Folge auch der durch den Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland, der Türkei und Bulgarien Vertriebenen sowie armenischer Flüchtlinge annahm.53 Im Kontext von Arbeitslosigkeit und der Politisierung der Flüchtlingsfrage konnten sich die Völkerbundmitgliedsstaaten allerdings auf keine universale Definition von Flüchtlingen einigen und schufen nur ein begrenztes Instrumentarium zum Flüchtlingsschutz. Ein zentrales Hindernis bestand dabei in der politischen Deutung des Begriffs „Flüchtling“. Sahen Herkunftsländer die Benennung von Emigranten als Flüchtlinge als unstatthafte Parteinahme für oppositionelle Gruppen und als Kritik an den politischen Verhältnissen im betreffenden Land, so waren Aufnahmeländer nicht bereit, von einer primär von außenpolitischen, strategischen und arbeitsmarktpolitischen Überlegungen geleiteten Flüchtlingspolitik abzugehen – ein Problem, das erst mit der Umdeutung des Flüchtlingsproblems zu einem humanitären Problem infolge des Zweiten Weltkriegs zumindest zum Teil gelöst wurde.54 Ein zentrales Instrument des Flüchtlingsschutzes war neben dem Hochkommissar der auf dessen Initiative eingeführte „Nansen-Passport“, der 1924 auch auf Armenier ausgedehnt wurde. Der Pass diente im Wesentlichen als Reisedokument, beinhaltete aber schon bestimmte Mindestrechte wie etwa jenes auf Aufenthalt – eine Vor116

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 116

22.09.2010 07:50:11



Globale Migrationen

wegnahme von Instrumenten des Flüchtlingsschutzes nach dem Zweiten Weltkrieg. 1933 wurde dann ein eigener Kommissar für Flüchtlinge aus Deutschland eingesetzt, der allerdings aufgrund des fehlenden politischen Willens zum gemeinsamen Vorgehen bei jüdischen Vertriebenen bald resigniert zurücktrat. Im selben Jahr wurde die Convention regarding the international status of refugees verabschiedet, die erweiterte Rechte für Nansen-Flüchtlinge vorsah, aber ebenfalls aufgrund fehlender Unterstützung weitgehend Makulatur blieb. Im Kontext des zunehmend dringlichen Vertriebenenproblems wurde 1938 mit der Evian-Konferenz ein letzter Anlauf für eine internationale Regelung genommen, in deren Folge eine neue Institution – das Intergovernmental Committee on Refugees – geschaffen wurde. Bereits im Vorfeld der Konferenz waren alle flüchtlingsbezogenen Aktivitäten des Völkerbundes einem neuen Flüchtlingskommissar übertragen worden. Letztlich scheiterten aber alle Versuche der Lösung des Vertriebenenproblems an mangelndem politischem Willen.55 Aber nicht nur die Flüchtlingspolitik wurde in der Zwischenkriegszeit internationalisiert  ; es gab auch erste Ansätze einer Internationalisierung von Arbeitsmigrationspolitik, vor allem im Rahmen der seit 1919 bestehenden International Labour Organization (ILO).56 Politisch relevant war allerdings vor allem die im Völkerbund und ILO initiierte Agenda gegen Sklaverei, die mit der Anti-Slavery Convention von 1926 und der Forced Labour Convention von 1930 auch einen völkerrechtlichen Ausdruck fand.57

Europäische Flüchtlingskrise, Arbeitskräfterekrutierung, Dekolonisierung und die Globalisierung des Flüchtlingsproblems (1950–1973) Die Herausbildung eines globalen Flüchtlingsregimes infolge des Zweiten Weltkriegs

Das Elend von Flucht, Vertreibung und massiven Bevölkerungsverschiebungen der 1920er-Jahre wiederholte sich in noch größerem Ausmaß nach dem Zweiten Weltkrieg. Insgesamt wurden in den Jahren zwischen 1939 und 1945 rund 30 Millionen Personen vertrieben. Daneben rekrutierte Nazi-Deutschland große Zahlen an ZwangsarbeiterInnen. So befanden sich gegen Ende des Krieges rund 7,5 Millionen ZwangsarbeiterInnen auf deutschem Territorium, davon 1,8 Millionen Kriegsgefangene.58 Auch Japan setzte massiv ZwangsarbeiterInnen ein. Am Ende des Krieges betrug die Zahl der Vertriebenen, die sich außerhalb ihres Heimatlandes befanden und auf Unterstützung angewiesen waren, rund elf Millionen. Dazu kamen noch zahlreiche Binnenflüchtlinge und große Zahlen von Flücht117

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 117

22.09.2010 07:50:12

Globale Migrationen

lingen aus Osteuropa, darunter 9,5 Millionen Deutsche aus Gebieten außerhalb des Deutschen Reichs und rund 4 Millionen Kriegsflüchtlinge, die vor der Roten Armee geflohen waren. Nach der Machtübernahme der Kommunisten setzte zudem ein wachsender Strom von politischen Flüchtlingen aus Osteuropa ein.59 Der Umgang mit dem ‚Flüchtlingsproblem‘ allerdings hatte sich gegenüber der Zwischenkriegszeit wesentlich geändert. Bereits mit dem Intergovernmental Committee on Refugees (IGCR), das auf der Konferenz von Evian (1938) ins Leben gerufen wurde und nach Möglichkeiten für die dauerhafte Ansiedlung von Flüchtlingen suchen sollte, war ein erster Schritt zu einem universellen (also nicht auf bestimmte Flüchtlingsgruppen beschränkten) Instrument getan worden. 1943 wurde auf Initiative der USA die United Nations Relief and Rehabilitation Agency (UNRRA) gegründet, die sich der Displaced Persons in den von den Alliierten besetzten Gebieten annahm. 1947 wurde schließlich die International Refugee Organization (IRO) ins Leben gerufen, die die Mandate (Resettlement von Flüchtlingen sowie Betreuung und Versorgung von Displaced Persons) der beiden Vorgängerorganisationen in sich vereinte. Der 1950 gegründete UNHCR hatte zunächst dagegen vor allem die Aufgabe, den rechtlichen Schutz von Flüchtlingen zu gewährleisten.60 Die Lösung des Flüchtlingsproblems galt dabei als elementarer Bestandteil des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ‚Flüchtlingsproblem‘ der Nachkriegszeit und die dafür institutionalisierten Lösungsmechanismen, allen voran Resettlement (Umsiedlung von Flüchtlingen in Drittstaaten), folgten freilich keiner rein humanitären Logik. Zum einen war Flüchtlingspolitik immer stark von außenpolitischen Motiven geleitet. Zum anderen war Flüchtlingspolitik nicht frei von ökonomischen Motiven  : Insbesondere die USA, Kanada und Australien sahen Resettlement auch als eine Möglichkeit, die steigende Nachfrage nach Arbeitskräften zu stillen. Resettlement-Agenturen waren damit gleichzeitig in gewisser Weise auch Rekrutierungsbüros.61 Tatsächlich hatten Flüchtlinge einen bedeutenden Anteil an ArbeitsmigrantInnen in den überseeischen Einwanderungsländern oder spielten eine nicht zu unterschätzende Rolle auf europäischen Arbeitsmärkten, als die Wirtschaft nach dem Krieg in eine Phase signifikanten Wachstums eintrat. Das Flüchtlingsregime der Nachkriegszeit war – wie das rudimentäre Flüchtlingsregime der Zwischenkriegszeit – ein europäisches. Mit der einsetzenden Dekolonisation und der damit einhergehenden Rekonfiguration der Staatenwelt wurde allerdings aus dem Flüchtlingsproblem rasch ein globales Phänomen, insbesondere im Zuge der Teilung Indiens (1947), der Gründung Israels und des ersten israelisch-arabischen Krieges (1948) und im Kontext des Koreakrieges (1950). Ein globales Flüchtlingsregime bildete sich allerdings erst ab den 1960er-Jahren heraus, 118

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 118

22.09.2010 07:50:12



Globale Migrationen

zunächst auf Initiative des UNHCR selbst, schließlich mit der formalen Ausweitung der Geltung der Genfer Konvention durch das Zusatzprotokoll von 1967. Für palästinensische Flüchtlinge und Flüchtlinge im Gefolge der Koreakrise von 1950 wurden eigene Organisationen ins Leben gerufen  : die 1948 gegründete United Nationals Relief for Palestine Refugees (UNRPR), die 1949 durch die United Nations Relief and Works Agency for Palestinian Refugees (UNRWA) abgelöst und für die damals rund 700.000 bis 800.000 palästinensischen Flüchtlinge zuständig wurde, und die United Nations Korean Reconstruction Agency, die zwischen 1950 und 1958 bestand.62 Im Laufe der 1950er-Jahre setzte sich allerdings der UNHCR als die insgesamt bedeutendste Organisation im Flüchtlingsbereich durch. Zunächst allerdings waren wichtige Staaten – allen voran die Sowjetunion und die USA – eher skeptisch gegenüber dem UNHCR. So war es 1950, als der UNHCR gegründet wurde, keineswegs klar, dass er alle Agenden der auslaufenden IRO übernehmen würde. In diesem Kontext wurde auf Initiative der USA das Provisional Intergovernmental Committee for the Movement of Migrants from Europe (PICMME) gegründet, das 1952 in Intergovernmental Committee on Migration in Europe (ICEM) umbenannt wurde (ab 1980 ohne den Zusatz „in Europe“) und aus dem 1989 die International Organization for Migration (IOM) hervorging. Die Rolle von PICMME lag ursprünglich vor allem in der Umsiedlung von Vertriebenen und anderen MigrantInnen in Drittstaaten. Gleichzeitig sahen die USA PICMME aber auch als Alternative zu ILO – die im Nachkriegskontext eine umfassende Kompetenz für Migration beanspruchte – sowie zum UNHCR.63 Nicht zuletzt aufgrund seiner Rolle bei der Luftbrücke für Berlin (1952) und der Ungarnkrise (1956) konnte sich aber der UNHCR als dominanter Akteur etablieren und universelle Zuständigkeit beanspruchen. 1952 engagierte sich der UNHCR erstmals in einer Flüchtlingskrise außerhalb Europas, nämlich in Hongkong. Ab 1957 unterstützte er algerische Flüchtlinge in Tunesien und Marokko und spielte eine wichtige Rolle bei deren Repatriierung ab 1961. Die bislang größte Mission des UNHCR fand ab 1961/62 in Burundi, dem Kongo und Tanganjika (ab 1964  : Tansania) im Kontext der ersten Ruandakrise statt. Aufgrund der fehlenden rechtlichen Basis für den Flüchtlingsschutz bestand seine Tätigkeit vor allem in humanitärer Hilfe und nur zu einem geringeren Teil im rechtlichen Schutz von Flüchtlingen. Spätestens mit der Ruandakrise hatte sich allerdings der Schwerpunkt der Organisation nachhaltig von Europa auf Afrika und Asien verschoben. Inhaltlich verschob sich die Tätigkeit der Organisation vom Flüchtlingsschutz zur humanitären Hilfe bei Flüchtlingskrisen, womit auch das Budget des UNHCR stetig wuchs. Mit dem Zusatzprotokoll von 1967 zur Genfer Konvention von 1951 wurde schließlich die faktische Ausweitung des Mandats des UNHCR auch völkerrechtlich nachvollzogen.64 119

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 119

22.09.2010 07:50:12

Globale Migrationen

Die Schwerpunktverlagerung des UNHCR hin zu den „Entwicklungsländern“ war eine Reaktion auf eine tatsächliche Schwerpunktverlagerung von Fluchtmigration im Kontext von Dekolonisation, Stellvertreterkriegen im Zuge der OstWest-Konfrontation sowie religiösen und ethnischen Konflikten in den peripheren Ländern. Befanden sich 1960 noch rund zwei Drittel der weltweiten Flüchtlinge in Europa und Nordamerika, so hatte sich eine Dekade später das Verhältnis umgekehrt  : Weniger als ein Drittel aller weltweiten Flüchtlinge befand sich in ‚entwickelten‘ Ländern. Die Entwicklungsländer dagegen nahmen einen wachsenden Anteil von Flüchtlingen auf, wobei Asien, gefolgt von Afrika, am stärksten von Flüchtlingskrisen betroffen war. Tabelle 1  : Entwicklung der Flüchtlingszahlen, 1960–2010 1980

1990

2000

2010

Afrika

1960 78.700

988.713

3.577.855

5.350.404

3.575.262

2.567.719

Asien

653.742

1.603.679

3.845.157

9.938.170

8.820.091

10.869.688

Europa

883.268

629.945

536.692

1.317.763

2.486.718

1.593.350

0

101.750

146.630

1.197.441

49.689

529.365

548.282

518.897

644.138

583.449

651.445

726.143

0

44.000

315.000

109.997

73.709

59.475

1.431.550

1.192.841

1.496.655

2.010.442

3.209.599

2.370.691

732.442

2.694.142

7.568.817

16.486.781

12.447.313

13.975.049

75.000

983.885

3.371.200

4.787.639

3.051.670

2.144.714

2.163.992

3.886.983

9.065.472

18.497.223

15.656.912

16.345.740

2,9

4,8

9,1

11,9

8,9

7,6

Lateinamerika Nordamerika Ozeanien Entwickelte Länder Entwicklungsländer Least Developed Countries Gesamt Anteil an der welt­ weiten Migration (in Prozent)

1970

Quelle  : United Nations, Department of Social and Economic Affairs, Population Division. Trends in Total ­M igrant Stock, 2005 Revision (1960 bis 2000) und 2008 Revision, http  : //esa.un.org/migration/ auf der Basis von Statistiken des UNHCR und UNRWA (beinhaltet auch palästinensische Flüchtlinge).

Gleichzeitig ist der Anteil von Flüchtlingen an der Gesamtzahl der MigrantInnen in den Entwicklungsländern im Vergleich zu den entwickelten Ländern relativ hoch. Ging der Anteil von Flüchtlingen an der Gesamtzahl von MigrantInnen in der entwickelten Welt von 4,4 Prozent im Jahr 1960 auf 1,9 Prozent im Jahr 2010 zurück, so stieg er in den Entwicklungsländern von 1,7 Prozent im Jahr 1960 auf 16,2 Prozent im Jahr 2010. Die Zahl der Flüchtlinge kann damit auch als ein Indikator für Armut und Instabilität gelesen werden.

120

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 120

22.09.2010 07:50:12



Globale Migrationen

Arbeitsmigration und die Rekrutierung von Arbeitskräften in den Industrieländern

Mit der anziehenden Konjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in den USA, in Kanada, Australien und, mit etwas Verzögerung, Europa stieg die Nachfrage nach Arbeitskräften – und damit nach MigrantInnen. Arbeitsmigration war ein wesentliches Element der wirtschaftlichen Entwicklungen im Großteil der Industriestaaten. Nur Japan, das bis in die 1980er-Jahre keine nennenswerte Arbeitsmigration verzeichnete und die Nachfrage nach Arbeitskräften ausschließlich durch die Ausschöpfung des nationalen Arbeitskräftepotenzials befriedigte, stellt in diesem Kontext eine Ausnahme dar.65 Das charakteristischste Element des Booms nach dem Zweiten Weltkrieg bis etwa 1973 bestand in institutionalisierten Mechanismen der Arbeitskräfterekrutierung – dem ‚Gastarbeiterregime‘. Obwohl die Bedeutung der Rekrutierung insgesamt umstritten ist, migrierten doch viele MigrantInnen außerhalb formeller Rekrutierungsmechanismen. Die Rekrutierung war von enormer Bedeutung für die Initiierung von Arbeitsmigration, mithin von Migrationsbeziehungen zwischen bestimmten Herkunfts- und Zielländern. In dieselbe Zeit fällt auch der Beginn (post‑)kolonialer Migration in die Metropolen der (ehemaligen) Mutterländer. Die heute vielfach konstatierte Diversifizierung der Herkunftsländer von MigrantInnen in die industriellen Zentren begann in gewisser Weise schon mit der Rekrutierung von Arbeitskräften in der Wachstumsphase nach dem Zweiten Weltkrieg. Die USA begannen bereits während des Zweiten Weltkriegs ArbeitsmigrantInnen zu rekrutieren. Mit dem sogenannten Bracero-Programm, das 1942 eingeführt wurde und bis 1964 bestand, wurden gezielt mexikanische Arbeitskräfte angeworben. Waren es im ersten Jahr nur wenige tausend MigrantInnen, so stieg die Zahl gegen Kriegsende rasch auf mehrere 10.000 und betrug in den 1950erJahren zwischen 200.000 und 400.000. Insgesamt arbeiteten rund fünf Millionen MexikanerInnen im Rahmen des Bracero-Programms in den USA, vorwiegend in der Landwirtschaft.66 Gleichzeitig wurden nach 1945 große Zahlen von Displaced Persons in die USA umgesiedelt. Die Entscheidung, Vertriebene aufzunehmen, folgte keineswegs ausschließlich humanitären Gesichtspunkten, sondern war auch arbeitsmarktbedingt. 1948 wurde so 202.000 Vertriebenen, 1950 nochmals rund 341.000 die Einreise gestattet. Daneben lockerten die USA auch das Quotensystem.67 Die jährlichen Zuwanderungszahlen erreichten in der Folge mit rund 250.000 in den 1950er-Jahren und 330.000 in den 1960er-Jahren wieder das durchschnittliche Niveau der Jahre zwischen etwa 1850 und 1910, waren aber weit von den Zahlen zur Hochzeit der Masseneinwanderung zwischen 1900 und 1910, als in den stärksten Jahren rund 800.000 Menschen in die USA eingewandert waren, entfernt.68 121

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 121

22.09.2010 07:50:12

Globale Migrationen

In Westeuropa begann die Rekrutierung in Ländern wie Belgien, Frankreich und der Schweiz unmittelbar mit Kriegsende. Andere Länder wie Deutschland oder Österreich folgten in den 1950er und 1960er-Jahren. Rekrutiert wurde vor allem in den südeuropäischen Ländern – Spanien, Italien, Portugal und Griechenland, dann auch in der Türkei, Marokko und Jugoslawien. Frankreich hatte bereits in der Zwischenkriegszeit große Zahlen an algerischen MigrantInnen und, zu einem geringeren Teil, MarokkanerInnen rekrutiert und setzte diesen Kurs nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Auch Großbritannien rekrutierte in beschränktem Maß, überwiegend Frauen vor allem für den Gesundheitsbereich. Dagegen überwog dort die spontane Migration von Personen aus dem New Commonwealth, die ein Zuwanderungsrecht besaßen. Ab den 1960er-Jahren wurden Staatsbürgerschaftsrecht und Zuwanderungsregelung jedoch massiv verschärft. Als System temporärer Arbeitsmigration scheiterten Gastarbeiterprogramme, denn ein guter Teil der rekrutierten Arbeitskräfte blieb. Was diese Periode auszeichnet, ist das Abgehen von der Herkunft als dem primären Selektionsprinzip in den klassischen Einwanderungsländern. Wurde die ‚Qualität‘ von MigrantInnen in der ersten Phase kontrollierter Migration ab etwa 1880 hauptsächlich an ethnischer und nationaler Herkunft gemessen, traten nun andere Kriterien in den Vordergrund. So schufen die USA in den 1960er-Jahren die diskriminierenden Quoten für nichteuropäische Zuwanderung ab. Ebenfalls ging Australien von seiner White Australia Policy ab. In beiden Regionen änderte sich damit auch die Herkunft der ZuwanderInnen.Während in den USA nunmehr Migration aus Zentral- und Südamerika und der Karibik, gefolgt von AsiatInnen, vorherrschte, war die Zuwanderung in Australien zunehmend asiatisch. Arbeitsmigration in den Ländern der Peripherie

Die Länder der Peripherie partizipierten in weitaus geringerem Ausmaß am ökonomischen Boom der unmittelbaren Nachkriegsära  ; ihr Bedarf an ArbeitsmigrantInnen war daher geringer als in den Industrieländern. In Afrika allerdings blieben bereits in der kolonialen Phase gebildete Migrationssysteme – insbesondere das auf die südafrikanischen Bergbaugebiete und Industriezentren fokussierte Migrationssystem im südlichen Afrika sowie das auf Ghana und die Elfenbeinküste fokussierte Migrationssystem landwirtschaftlicher Saisonarbeit – zunächst weitgehend intakt. Dazu kamen mit dem Fund von Erdöl in Gabun und Nigeria neue Migrationsströme. Allerdings begann die Zahl internationaler MigrantInnen bereits in den 1960er-Jahren im Kontext der Strukturkrise afrikanischer Ökonomien zurückzugehen, während die Zahl von Flüchtlingen sprunghaft anstieg.69 122

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 122

22.09.2010 07:50:12



Globale Migrationen

Im Zuge der Dekolonisation wurden besonders in Afrika und Asien Migration zunehmend beschränkt, restriktive Migrationsgesetze verabschiedet, Grenzkon­ trollen eingerichtet und Pässe und Identitätskarten eingeführt, um Menschen anderer Nationalitäten von den nationalen Arbeitsmärkten fernzuhalten. Mit der Unabhängigkeit kam in gewisser Weise eine im ‚apolitischen‘ Kontext des Kolonialismus neue Dimension zum Tragen  : die ‚Politisierung der Migration‘. Nicht nur dort, wo ökonomische Krisen den Kampf um Arbeitsplätze und andere Ressourcen verschärften, wurden ‚Fremde‘ zunehmend zur Zielscheibe staatlicher Politik. Ähnlich wie im Europa der 1920er-Jahre wurde die Unterscheidung zwischen StaatsbürgerInnen und ‚Fremden‘ zu einer zentralen Differenzierung staatlicher Politik und ‚AusländerInnen‘ und ‚BürgerInnen‘ zu zentralen Kategorien des Politischen. Der ‚Entwicklungsnationalismus‘ der neuen Staaten wirkte dabei durchaus verschärfend. Seit den frühen 1960er-Jahren verfügten etwa afrikanische Staaten wiederholt Massenausweisungen, unter anderem die Elfenbeinküste (1958, 1964), Senegal und Kamerun (1967), Guinea und Sierra Leone (1968), Ghana (1969), Zaire (1970 und 1973), Sambia (1971) und Nigeria (1983).70 In Südostasien kam die chinesische und indische Zuwanderung infolge von massiven Beschränkungen fast gänzlich zum Erliegen. Das Wanderungsgeschehen war in der Folge bis in die 1970er-Jahre hinein durch Fluchtmigration sowie interne Wanderungsströme dominiert. In den 1960er und 1970er-Jahren setzte eine Abwanderung in die Industrieländer, vor allem in die USA und Australien, ein. Am bedeutendsten war Emigration aber in den Philippinen, wo sich eine regelrechte ‚Migrationsindustrie‘, vor allem für HausarbeiterInnen und Pflegekräfte, entwickelte. Ebenso bedeutend war die Abwanderung aus Vietnam im Zuge des Vietnamkriegs sowie aus Laos und Kambodscha.71 Lateinamerika wiederum wandelte sich in den 30 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg von einem Zuwanderungskontinent zu einem Auswanderungskontinent, vor allem in Folge der Weltwirtschaftskrise der 1970er-Jahre.72 Ein Großteil der lateinamerikanischen EmigrantInnen ging in die USA  ; allerdings war auch die Rückwanderung nach Europa signifikant. Insgesamt kann in Bezug auf die Länder der Peripherie in der unmittelbaren Nachkriegsperiode eine gewisse Entflechtung regionaler und globaler Migrationsbeziehungen festgestellt werden. Ab den 1970er-Jahren wurde diese Entflechtung durch die steigende Abwanderung in die Industrie- sowie neue Zielländer kompensiert und teilweise wieder rückgängig gemacht. Vor allem aber nahm die Zuwanderung in Länder der Peripherie, die einen wichtigen Anteil am gesamten Wanderungsgeschehen hatte, ab den 1960er-Jahren drastisch ab. So verringerte sich der Anteil von MigrantInnen an der Gesamtbevölkerung in Afrika von 3,2 Prozent im Jahr 1960 auf 2,7 Prozent im Jahr 1970 und in Asien von 1,7 Prozent auf 123

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 123

22.09.2010 07:50:12

Globale Migrationen

1,3 Prozent, wobei in beiden Fällen der gleichzeitige Anstieg der Flüchtlingszahlen den massiven Rückgang von Arbeitsmigration überdeckt. Am drastischsten war der Rückgang des Anteils der MigrantInnen allerdings in Lateinamerika  : von rund 2,8 Prozent im Jahr 1960 auf zwei Prozent eine Dekade später und 1,7 Prozent im Jahr 1980. Dagegen stieg der Anteil von MigrantInnen an der Gesamtbevölkerung, insbesondere in Nordamerika und Europa, kontinuierlich an (Tabelle 2). Die Entwicklung globaler Migrationsdynamik spiegelt damit auch die zunehmende Divergenz zwischen den Ländern des Nordens einerseits und den Ländern des Südens andererseits wider. Tabelle 2  : Internationale MigrantInnen (Bestandszahlen) und deren Anteil an der ­Gesamtbevölkerung (1960–2005) Jahr

Afrika

Asien

Europa

Latein­ amerika

Nord­ amerika

Ozeanien

Gesamt

1960

9.134.224

28.477.693

14.244.764

6.018.088

12.512.766

2.134.129

75.463.352

in %

3,2

1,7

3,4

2,8

6,1

13,4

2,5

1970

9.944.018

27.823.933

18.783.392

5.678.838

12.985.541

3.027.545

81.335.779

in %

2,7

1,3

4,1

2

5,6

15,4

2,2

1980

14.095.839

32.113.653

21.894.487

6.079.326

18.086.918

3.754.605

99.275.898

in %

2,9

1,3

4,5

1,7

7,1

16,4

2,2

1990

16.351.076

49.887.766

49.381.119

6.978.142

27.596.538

4.750.692

154.945.333

in %

2,6

1,6

6,9

1,6

9,7

17,8

2,9

2000

16.496.240

50.303.887

58.216.735

6.280.578

40.387.759

5.050.573

176.735.772

in %

2.0

1,4

8,0

1,2

12,8

16,3

2,9

2005

17.068.882

53.291.281

64.115.850

6.630.849

44.492.816

5.033.887

190.633.564

in %

1,9

1,4

8,8

1,2

13,5

15,2

3,0

Quelle  : United Nations, Department of Social and Economic Affairs, Population Division. Trends in Total Migrant Stock, The 2005 Revision, http  : //esa.un.org/migration/. Die Zahlen beruhen großteils auf Volkszählungen und darauf beruhenden Schätzungen und beziehen sich teils auf im Ausland Geborene, teils auf AusländerInnen

Verstärkte Süd-Nord-Migration, Ende der Arbeitskräfterekrutierung und neue Migrationsdynamiken (1973–1989) Der Ölpreisschock und die darauf folgende Rezession beendete die Phase aktiver Rekrutierung von ArbeitsmigrantInnen in Europa und führte zu einem (allerdings eher kurzfristigen) Rückgang der Einwanderung. Restriktivere Migrationspolitiken konnten die Zuwanderung nicht stoppen  ; allerdings wurde in den Einwanderungs124

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 124

22.09.2010 07:50:12



Globale Migrationen

ländern des Nordens Zuwanderung über andere Kanäle zunehmend wichtiger, insbesondere über Asylmigration und Familiennachzug. Als eine weitere Folge restrik­tiverer Migrationspolitiken stieg die Zahl irregulärer MigrantInnen. Während allerdings in den USA irreguläre Migration bereits in den 1970er-Jahren zu einem zentralen Thema der Migrationspolitik wurde, blieb sie in Europa bis Ende der 1980er-Jahre weitgehend ein Randthema, zumindest in der öffentlichen Diskussion. Die Erdöl exportierenden Länder, insbesondere die Golfstaaten, dagegen erlebten aufgrund des Ölpreisanstiegs einen beispiellosen Boom, der mit einer massiven Nachfrage nach Arbeitskräften einherging, die vor allem mit Personen aus Südasien (Indien, Bangladesch und Pakistan), Südostasien (Thailand und Indonesien) und der arabischen Welt (vor allem Ägypten, Jordanien und den besetzten Gebieten) gestillt wurde. Tatsächlich entwickelte sich die Golfregion zu einer der wichtigsten globalen Destinationen für ArbeitsmigrantInnen nach der Gastarbeiterphase. Während zunächst hauptsächlich Arbeiter für die Erdölindustrie rekrutiert wurden, erweiterte sich das Spektrum rasch. Neben der Bauindustrie war vor allem der Dienstleistungssektor und hier vor allem der Haushaltssektor (mit überwiegend weiblichen Angestellten), dominant. Der Anteil von MigrantInnen an der Gesamtbevölkerung wuchs dementsprechend rasch  : In den Vereinigten Arabischen Emiraten sind etwa rund drei Viertel der Bevölkerung MigrantInnen, davon drei Fünftel aus Süd- und Südostasien, der überwiegende Rest aus angrenzenden arabischen Staaten und Nordafrika und zunehmend auch aus dem sub­saharischen Afrika.73 Die Rezession und der Ölpreisschock der 1970er-Jahre trafen dagegen ärmere Länder enorm. Die Auswirkungen des Ölpreisschocks und die darauf folgenden Einbrüche der Preise für bestimmte Rohstoffe sowie die Krise der Landwirtschaft führten etwa im subsaharischen Afrika zu einem massiven Rückgang von internationaler Migration innerhalb des Kontinents. Gleichzeitig stieg im Zuge von Stellvertreterkriegen in der „Dritten Welt“ die Zahl der Flüchtlinge weltweit massiv an. Ein signifikanter Teil der internationalen MigrantInnen in den Entwicklungs­ländern waren und sind Flüchtlinge. Eine Handvoll an Krisenregionen stellte ­dabei die überwiegende Mehrzahl an Flüchtlingen – allen voran der Nahe Osten (Palästinenser), Afghanistan, Zentralamerika, das südliche Afrika, das Horn von Afrika und Südostasien. Charakteristisch für viele der Flüchtlingskrisen der 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre ist dabei ihr langwieriger Charakter. Flüchtlinge blieben vielfach über Jahrzehnte im Exil – häufig, ohne dabei den vollen Schutz des Flüchtlingsstatus unter der Genfer Konvention zu genießen. Während vor allem in Afrika in den 1960er und 1970er-Jahre Flüchtlinge meist lokal angesiedelt wurden, ging eine wachsende 125

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 125

22.09.2010 07:50:12

Globale Migrationen

Zahl von Ländern in den 1980er-Jahren dazu über, Flüchtlinge in Lagern, häufig in entlegenen Gebieten oder nahe an der Grenze zum Herkunftsstaat, anzusiedeln. Charakteristisch für die Flüchtlingspolitik vieler Entwicklungsländer ist dabei die Annahme, dass es sich bei den Flüchtlingen lediglich um vorübergehend Anwesende handle, deren Situation erst durch eine Repatriierung ins Herkunftsland dauerhaft gelöst werden würde.74 Die häufig langjährig ungelösten Flüchtlingskrisen waren ein wesentlicher Grund für die Fortdauer von kriegerischen Konflikten oder die Entstehung neuer Konflikte. Einerseits fungierten Flüchtlingslager häufig als Basislager für Rebellenbewegungen – und wurden im Kontext des Ost-West-Konflikts von den Großmächten explizit als solche benutzt. Andererseits stellte der soziale Mikrokosmos der Flüchtlingslager einen idealen Nährboden für die Entstehung radikaler Flüchtlingsbewegungen dar.75 China, Russland und die kommunistisch regierten Länder Osteuropas partizipierten infolge der rigiden Ausreisebeschränkungen kaum am internationalen Wanderungsgeschehen. Allerdings wurden auch in kommunistisch regierten Ländern Rekrutierungsabkommen mit befreundeten Staaten geschlossen, etwa zwischen der DDR und Vietnam, Angola und Mosambik oder zwischen der Tschechoslowakei und Vietnam  ; ein erheblicher Teil der gegenwärtigen Bevölkerung mit Migrationshintergrund in diesen Staaten geht auf entsprechende Anwerbeabkommen zurück. Mit der schrittweisen Öffnung Chinas ab Mitte der 1980er-Jahre nahm allerdings die chinesische Auswanderung wieder deutlich zu. In allen anderen Staaten brachte erst der Fall des Eisernen Vorhangs neue Migrationsbewegungen in Gang.

Ausblick  : Migration nach dem Ende der Bipolarität (seit 1989) Die Wanderungsdynamik hat sich seit dem Ende des Ost-West-Konflikts deutlich gesteigert  ; die Zahl der MigrantInnen weltweit ist seitdem deutlich gestiegen – auf geschätzte 213 Millionen im Jahr 2010. Damit hat Migration in der Gegenwart wieder eine ähnliche quantitative Bedeutung wie in der Phase der ‚ersten Globalisierung‘ zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Dynamiken und der Charakter der Migrationsströme unterscheiden sich allerdings deutlich. Globale Migrationen unterliegen heute viel größeren Beschränkungen, betreffen weitaus mehr Länder und Regionen und sind insgesamt differenzierter und komplexer geworden. Insbesondere Schwellenländer und Industrieländer sind für gewöhnlich sowohl Herkunfts- und Zuwanderungsländer für jeweils unterschiedliche Gruppen von MigrantInnen. Internationale Migrationsbewegungen haben sich zudem seit 1989 beschleunigt und an Ausmaß zugenom126

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 126

22.09.2010 07:50:12



Globale Migrationen

men. Insbesondere Arbeitsmigration – in früheren Perioden überwiegend männlich – weist heute insgesamt ein relativ ausgeglichenes Geschlechterverhältnis auf. Eine kleine, aber wachsende Zahl von Ländern ist von Auswanderungsländern zu Destinationen von MigrantInnen geworden, etwa die südeuropäischen Staaten, Marokko oder Südkorea.76 MigrantInnen sind dabei zunehmend in den Ländern des Nordens konzen­triert  : 1970 lebten 43 Prozent aller internationalen MigrantInnen in den entwickelten Staaten (ohne die Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten), 53 Prozent in Entwicklungsländern. Bis zum Jahr 2000 war der Anteil der in entwickelten Ländern lebenden MigrantInnen auf 46 Prozent angestiegen, während der Anteil von MigrantInnen in Entwicklungsländern auf 37 Prozent sank.77 Gleichzeitig wandert aber nach wie vor etwa die Hälfte aller MigrantInnen aus Entwicklungsländern in andere Entwicklungsländer aus.78 Die Bedeutung von Süd-Süd-Migration hat sich aber dennoch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs drastisch reduziert. Gleichzeitig ist die Zahl der Flüchtlinge drastisch gestiegen. Tatsächlich ereigneten sich einige der größten Flüchtlingskrisen überhaupt in den zwei Dekaden seit dem Ende der Bipolarität. Flucht und Vertreibung sind durch die Zunahme neuer Kriege und des Staatszerfalls zentrale Elemente von Migrationsdynamiken in der globalen Peripherie und insbesondere in den ärmsten und instabilsten Staaten geworden. Der Anstieg der Zahl weltweiter MigrantInnen geht aber zu einem nicht unwesentlichen Anteil auf die Herausbildung neuer Staaten nach 1990 zurück, also auf die ‚Migration von Grenzen‘ – und nicht von Menschen  ; dies ist mit dem Zerfall des Ostblocks und insbesondere der Sowjetunion verbunden. Nicht zufällig finden sich unter den 20 Staaten mit den höchsten MigrantInnenpopulationen mehrere Nachfolgestaaten der UdSSR  : Russland mit rund 13 Millionen, die Ukraine mit rund 6,9 Millionen und Kasachstan mit rund 3 Millionen. Die Mobilität zwischen den Nachfolgestaaten der UdSSR blieb dabei insgesamt beachtlich. Allerdings handelt es sich bei dem größten Teil um undokumentierte MigrantInnen – einerseits ein Spiegel der lückenhaften Administration von Fremden, andererseits aber auch Ausdruck einer mit dem Staatszerfall einhergehenden Entrechtung häufig bereits langjährig aufhältiger MigrantInnen aus anderen Nachfolgestaaten der UdSSR.79 Für das Migrationsgeschehen in Europa war der Fall des „Eisernen Vorhangs“ ein ebenso entscheidendes Ereignis, der zu neuen Ost-West-Migrationsbewegungen führte. Durch den EU-Beitritt vieler ehemaliger Ostblockländer und der damit erlangten Personenfreizügigkeit wurde diese Dynamik noch entscheidend befördert. Tatsächlich war bereits seit Gründung der Europäischen Union Personenfreizügigkeit ein zentraler Bestandteil der Europäischen Integration, auch wenn das Recht auf Freizügigkeit lange auf ArbeitsmigrantInnen beschränkt war. Mit der 127

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 127

22.09.2010 07:50:12

Globale Migrationen

Vergemeinschaftung der Migrationspolitik in der Folge des Amsterdamer Vertrages (1997) wurde zudem eine präzedenzlose Phase einer regionalen Internationalisierung von Migrationspolitik eingeleitet, die zwar nach wie vor inhaltlich beschränkt ist, aber gleichzeitig auch eine signifikante externe, globale Dimension umfasst. So führen aufgrund direkter und indirekter Anreize und teilweise expliziter Zwänge eine wachsende Anzahl von Staaten Mechanismen der Migrationskontrollen nach dem Muster europäischer Staaten ein. Obwohl ursprünglich vor allem bezogen auf Nachbarstaaten der Europäischen Union, hat diese Externalisierung von Migra­ tionspolitik mittlerweile eine globale Dimension. Vor dem Hintergrund der zentralen Rolle der Personenfreizügigkeit ist Migrationspolitik in der Europäischen Union gleichzeitig zu einem Instrument der Regulierung nur mehr eines beschränkten Teils der ZuwandererInnen – sogenannter „Drittstaatsangehöriger“ – reduziert worden. Zwar ist die effektive Bedeutung von Migrationspolitik dadurch gesunken  : In vielen europäischen Staaten stellen EUBürgerInnen einen großen Teil der ZuwanderInnen, in einigen sogar die Mehrheit dar  ; damit untersteht ein erheblicher Teil des Migrationsgeschehens nicht mehr nationalstaatlicher Kontrolle. Zugleich aber ist die symbolische Bedeutung von Migrationspolitik seit den 1990er-Jahren stetig gewachsen  ; sie ist vielerorts zu einem Leitthema der Politik schlechthin avanciert. Aber auch in einigen Entwicklungs- und Schwellenländern haben Migration und Migrationspolitik häufig einen zentralen Stellenwert in der öffentlichen Diskussion. Brachte die Welle der Dekolonisation nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals Staatsbürgerschaft als Deutungsrahmen in Debatten über Migration hervor, so haben Demokratisierungsprozesse und die Entstehung demokratischer Massenpolitik eine Arena für einen massentauglichen, xenophoben Populismus geschaffen. Worin sich die Gegenwart von früheren Phasen der Migrationsgeschichte damit erheblich unterscheidet, ist der Stellenwert von Migration im öffentlichen Diskurs, in politischen Debatten und als Gegenstand staatlicher, supra- und internationaler Regulierung. Gab es Anfang des 20. Jahrhunderts nur wenige Staaten mit einer expliziten Migrationspolitik, gibt es heute nur wenige entwickelte Staaten, die auf eine solche verzichten. Selbst Länder mit relativ geringer internationaler Migration sehen sich unter dem Eindruck der Externalisierung der Migrationspolitiken indus­ trialisierter Staaten gezwungen, formelle Politiken zu formulieren und Institutionen sowie Mechanismen der Migrationskontrolle aufzubauen. Die Geschichte der Migration seit dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere seit den 1960er-Jahren ist damit auch eine Geschichte der Institutionalisierung von Migrationspolitik auf nationaler und internationaler Ebene und der gleichzeitigen Etablierung von Migration als Gegenstand fokussierter Wissensproduktion. 128

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 128

22.09.2010 07:50:12



Globale Migrationen

Gab es etwa Anfang der 1960er-Jahre weniger als eine Handvoll Forschungsinstitute mit einem Migrationsfokus und nur wenige einschlägige internationale Organisationen, so zählt eine 2004 publizierte Bestandsaufnahme 87 auf Migration spezialisierte Forschungszentren und 32 internationale Organisationen, die sich ausschließlich oder schwerpunktmäßig mit Migration befassen.80 Wenn es auch verfehlt ist, von der Gegenwart als einem „Zeitalter der Migration“ zu sprechen, so erscheint doch Migration heute als zentrales Merkmal moderner Gesellschaften – als Referenzpunkt politischer Diskurse und politischen Handelns, als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Wissensproduktion und als Kernelement moderner Identitätspolitik.

Anmerkungen   1 Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jh. bis zu Gegenwart, München 2000  ; Veronika Bilger/Albert Kraler, Introduction, in  : Stichproben. Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien/Vienna Journal of African Studies 8 (2005), Special Issue  : African Migrations. Historical Perspectives and Contemporary Dynamics, 11–28.   2 Lisa Malkki, Refugees and Exile  : From “Refugee Studies” to the National Order of Things, in  : Annual Review of Anthropology 24 (1995), 495–523.   3 Andreas Wimmer/Nina Glick-Schiller, Methodological Nationalism and Beyond  : Nation-State Building, Migration and the Social Sciences, in  : Global Networks 4 (2002) 2, 301–334.   4 Patrick Manning, Migration in World History, New York/London 2005, 1–16.   5 Jan Lucassen/Leo Lucassen, Migration History, History  : Old Paradigms and New Perspectives, in  : Jan Lucassen/Leo Lucassen, Hg., Migration, Migration History, History. Old Paradigms and New Perspectives, Bern u. a. 2005, 9–38.   6 Siehe allerdings die Arbeiten von Aristide Zolberg, Charles Tilly, Saskia Sassen sowie des in den USA lehrenden Schweizer Soziologen Andreas Wimmer. Aufseiten von HistorikerInnen sind vor allem Dirk Hoerder, Jan und Leo Lucassen, Ewa Morawska und im deutschsprachigen Bereich Klaus Bade als ProponentInnen einer sozialwissenschaftlich interessierten historischen Migrationsforschung zu nennen.   7 Adam McKeown, Global Migration 1846–1940, in  : Journal of World History 15 (2004) 2, 155–189.   8 Jan Lucassen/Leo Lucassen, The Mobility Transition Revisited, 1500–1900  : What the Case of Europe Can Offer to Global History, in  : Journal of Global History 4 (2009) 3, 347–377.   9 Die These formulierte Anfang der 1970er Zelinsky  : Wilbur Zelinksy, The Hypothesis of the Mobility Transition, Geographical Review 61 (1971), 219–249. 10 Albert Kraler, Zur Einführung  : Migration und Globalgeschichte, in  : ders./Karl Husa/Veronika ­Bilger/Irene Stacher, Hg., Migrationen. Globale Entwicklungen seit 1850, Wien 2007, 10–31. 11 Arno Sonderegger, Antisklaverei und Afrika. Zur Geschichte einer Bewegung im langen 19. Jahrhundert, in  : Karin Fischer/Susan Zimmermann, Hg., Internationalismen. Transformation weltweiter Ungleichheit im 19. und 20. Jahrhundert (Historische Sozialkunde/Internationale Entwicklung, HSK 26), Wien 2008, 85–105. 12 Rund drei Millionen im transatlantischen Sklavenhandel und rund zwei Millionen im Zuge des „orientalischen“ Sklavenhandels. Siehe Albert Kraler, Mobilität und Immobilität. Migrationen im

129

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 129

22.09.2010 07:50:12

Globale Migrationen

subsaharischen Afrika im 19. und 20. Jahrhundert, in ders./Husa/Bilger/Stacher, Hg., Migrationen, 121–150. 13 Patrick Manning, Migration  : Overview, in  : Peter Stearns, Hg., The Oxford Encyclopedia of the Modern World, Bd. 5, Oxford 2008, 175. 14 Kraler, Mobilität, 130. 15 Christof Parnreiter, Migration, Entangled Histories und Politics of Scale, in  : Kraler/Husa/Bilger/Stacher, Hg., Migrationen, 54–70, hier 56 f. 16 Sylvia Hahn, Klassische Einwanderungsländer  : USA, Kanada und Australien, in  : Kraler/Husa/Bilger/Stacher, Hg., Migrationen, 71–100, hier 71 f. 17 Heinz Fassmann, Europäische Migration im 19. und 20. Jahrhundert, in  : Kraler/Husa/Bilger/Stacher, Hg., Migrationen, 32–53. 18 Jens Damm/Bettina Gransow, Zwischen Kuli-Export und Business Netzwerken. Muster interner, inter- und transnationaler chinesischer Migration seit dem 19. Jahrhundert, in  : Kraler/Husa/Bilger/ Stacher, Hg., Migrationen, 226–227. 19 Damm/Gransow, Kuli-Export, 222–244  ; Timothy J. Hatton/Jeffrey G. Williamson, Global Migration and the World Economy. Two Centuries of Policy and Performance, Cambridge/Mass. 2005, 22 f.  ; Kraler, Mobilität, 131,137 f.  ; Michael Mann, Mobilität und Migration von Menschen in und aus Südasien 1840 bis 1990, in  : Kraler/Husa/Bilger/Stacher, Hg., Migrationen, 199–221. 20 Robin Cohen, Global Diasporas. An Introduction, London 1997. 21 Mann, Mobilität, 203. 22 Ebd., 199 f. 23 Hahn, Einwanderungsländer, 93. 24 A. James Hammerton, Migration  : Britain, the British Empire, and the Commonwealth, in  : Stearns, Hg, Encyclopedia , Bd. 5, 179–184. 25 Dietmar Rothermund, Globalgeschichte und Geschichte der Globalisierung, in  : Margarete Grandner/ders./Wolfgang Schwentker, Hg., Globalisierung und Globalgeschichte, Wien 2005, 12–35. 26 McKeown, Migration, 159 f. 27 John Torpey, The Invention of the Passport. Surveillance, Citizenship and the State, Cambridge u. a. 2000  ; Jane Caplan/John Torpey, Documenting Individual Identity. The Development of State Practices in the Modern World, Princeton, Oxford 2001. 28 Aristide R. Zolberg, The Exit Revolution, in  : Nancy L.Green/François Weil, Hg., Citizenship and Those Who Leave. The Politics of Emigration and Expatriation, Urbana u. a. 2007, 33–60. 29 Hahn, Einwanderungsländer, 73. 30 Hatton/Williamson, Migration, 35–42. 31 Ebd., 42–43. 32 Aristide R. Zolberg, Global Movements, Global Walls. Responses to Migration, 1885–1925, in  : Wang Gungwu, Hg., Global History and Migrations, Boulder, Colorado 1997, 279–307, hier 288. 33 Hatton/Williamson, Migration, 42–45. 34 Ulbe Bosma, Beyond the Atlantic  : Connecting Migration and World History in the Age of Imperialism, 1846–1940, in  : International Review of Social History 52 (2007), 116–123. 35 Vgl. Jeffrey G. Williamson, Globalization, Convergence, and History, The Journal of Economic History 56 (1996), 277–306  ; Robin Cohen, Hg., The Cambridge Survey of World Migration, Cambridge 1995, 2. 36 Hatton/Williamson, Migration  ; Wiliamson, Globalization. 37 Hofmann, Migration, 105. 38 Fassmann, Migration, 39. 39 Kraler, Immobilität, 138.

130

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 130

22.09.2010 07:50:12



Globale Migrationen

40 Blanca Garcés-Mascareñas, Old and new labour migration in Malaysia. From colonial times to the present, in  : Marlou Schrover/Joanne van der Leun/Leo Lucassen/Chris Quispel, Hg., Illegal Migration and Gender in a Global Perspective, Amsterdam 2008, 105–126, hier 107 f. 41 Kraler, Immobilität, 137. 42 Ebd., 138. 43 Karl Husa/Helmut Wohlschlägl, Globale Märkte, lokale Konsequenzen. Arbeitsmigration in Südostasien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, in  : Kraler/Husa/Bilger/Stacher, Hg., Migrationen, 171–198, hier 177. 44 Siehe zu Tansania  : Thaddeus Sunseri, Labour Migration in Colonial Tanzania and the Hegemony of South African Historiography, in  : African Affairs 95 (1996), 581–598. 45 R. Zolberg/Astri Suhrke/Sergio Aguayo, Escape from Violence  : Conflict and the Refugee Crisis in the Developing World, New York/Oxford 1989, 18. 46 Vgl. dazu Bilger/Kraler, Introduction. 47 Fassmann, Migration, 42. 48 Cohen, Cambridge Survey. 49 Fassmann, Migration, 42  ; Irene Stacher, Bevölkerungsmobilität im Maghreb und im westlichen Mittelmeerraum seit Mitte des 19. Jahrhunderts, in  : Kraler/Husa/Bilger/Stacher, Hg., Migrationen, 151–170, hier 154 f. 50 Marlou Schrover/Joanne van der Leun/Leo Lucassen/Chris Quispel, Introduction  : illegal migration and gender in a global and historical perspective, in  : dies., Hg., Illegal Migration and Gender in a Global and Historical Perspective, Amsterdam 2008, 9–37. 51 Thomas Brinley, International Migration and Economic Development. A Trend Report and Bibliography, UNESCO – Population and Culture Series, Paris 1961, 17. 52 Vgl. dazu Bilger/Kraler, Introduction. 53 Zolberg/Suhrke/Aguayo, Escape, 19. 54 Rieko Karatani, How History Separated Refugee and Migrant Regimes  : In Search for Institutional Origins, in  : International Journal of Refugee Law 17 (2005), 517–541, hier 521. 55 Zolberg/Suhrke/Aguayo, Escape, 20. 56 Karatani, History, 522. 57 Suzanne Miers, Slavery in the Twentieth Century. The Evolution of a Global Problem, Walnut Creek u. a. 2003. 58 Stephen Castles/Mark J. Miller, The Age of Migration. International Population Movements in the Modern World, 4. Auflage, Houndsmill, Basingstoke 2009, 93. 59 Gil Loescher, The UNHCR and World Politics. A Perilous Path, Oxford 2001  ; Zolberg/Suhrke/ Aguayo, Escape, 21 ff. 60 Loescher, UNHCR, 21 ff. 61 Siehe für eine einschlägige Studie zur Rekrutierung von Hausarbeiterinnen unter deutschen DPs durch Kanada  : Christiane Harzig, MacNamara’s DP Domestics  : Immigration Policy Makers Nego­ tiate Class, Race and Gender in the Aftermath of World War II, in  : Social Politics 10 (2003), 23–49. 62 Zolberg/Suhrke/Aguayo, Escape, 23–24. 63 Rieko Karatani, How History Separated Refugee and Migrant Regimes  : In Search for Institutional Origins, in  : International Journal of Refugee Law 17 (2005), 517–541. 64 Loescher, UNHCR, Kapitel 4–6  ; UNHCR, The State of the World’s Refugees. Fifty Years of Humanitarian Action, Oxford 2000. 65 Dietrich Thränhard, Closed Doors, Back Doors, Side Doors  : Japan’s Non-immigration Policy in Comparative Perspective, in  : Journal of Comparative Policy Analysis  : Research and Practice 1 (1999), 203–223.

131

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 131

22.09.2010 07:50:12

Globale Migrationen

66 Hahn, Einwanderungsländer, 85  ; Parnreiter, Migration, 58. 67 Hahn, Einwanderungsländer, 84–87. 68 Castles/Miller, Age, 103. 69 Kraler, Immobilität, 143 f. 70 Aderanti Adepoju, Illegals and Expulsions in Africa  : The Nigerian Experience, in  : International Migration Review 18 (1984), 426–436. 71 Husa/Wohlschlägl, Märkte, 186 f. 72 Albert Harambour-Ross, Migrant Laobur  : Latin America, in  : Stearns, Hg., Encyclopedia, Bd. 5, 170–172. 73 Castles/Miller, Age, 164. 74 Gaim Kibreab, Citizenship Rights and Repatriation of Refugees, in  : International Migration Review 37 (2003), 24–73. 75 Fiona Terry, Condemned to Repeat  ? The Paradox of Humanitarian Action, Ithaca/London 2002. 76 Castles/Miller, Age, 9–11. 77 IOM (International Organization for Migration), World Migration 2005. Cost and Benefits of Migration, Geneva 2005, 379–380. 78 Philip Martin/Gottfried Zürcher, Managing Migration. The Global Challenge, in  : Population Bulletin 63 (2008), 3. 79 Hofmann, Migration, 116 f. 80 Kristof Tamas, Mapping Study of International Migration, Stockholm 2004.

132

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 132

22.09.2010 07:50:12

Ein pakistanischer Arbeiter häuft Weizen im Hof eines Lagerhauses am Stadtrand von Lahore, Pakistan, auf; 2008. Foto: Marta Ramoneda, Bildrechte: Marta Ramoneda/Polaris/laif.

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 133

22.09.2010 07:50:13

Norman Borlaug, der „Vater der Grünen Revolution“, erlangte mit den unter seiner Leitung gezüchteten Hochertrags-Weizensorten Heldenstatus; dafür erhielt er im Jahr 1970 den Friedensnobelpreis. © The World Food Prize Foundation.

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 134

22.09.2010 07:50:14

Kapitel 4

Landwirtschaft vor und in der Globalisierung Ernst Langthaler

Was heißt Landwirtschaft  ? Gegen Ende des 20. Jahrhunderts litten mehr als 800 Millionen der insgesamt knapp sechs Milliarden Menschen auf der Erde an Unterernährung, die meisten davon im subsaharischen Afrika, in Indien und China.1 Unter den debattierten Begründungen für das weltweite Hungerproblem muss eine wohl ausscheiden  : jene, wonach die Nahrungsmittelproduktion mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt halten könne. Genau diese Ansicht formulierte der englische Bevölkerungswissenschaftler Thomas Robert Malthus an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert  : Die Bevölkerung wachse entlang einer steilen Aufwärtskurve („geometrisch“  : 1, 2, 4, 8, 16 usw.), die Nahrungsmittelmenge hingegen steige bestenfalls linear („arithmetisch“  : 1, 2, 3, 4, 5 usw.) an  ; beim Fehlen von preventive checks zur Senkung der Geburtenrate (z. B. einem steigenden Heiratsalter) seien positive checks zur Steigerung der Sterblichkeit (z. B. Hungerkatastrophen) unvermeidlich.2 Dieses „Bevölkerungsgesetz“ hat sich, langfristig und weltweit betrachtet, als ungültig erwiesen  : Während die Weltbevölkerung in den Jahren 1800 bis 2000 auf das Sechs- oder Siebenfache wuchs, wurde am Ende desselben Zeitraums mindestens das Zehnfache der Nahrungsmenge zu Beginn erzeugt – ein Beleg einer epochalen „Erfolgsgeschichte“.3 Um der „Erfolgsgeschichte“ der Landwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert – und ihren weniger glanzvollen Episoden – auf die Spur zu kommen, müssen wir deren Eigenart begreifen  : Was heißt Landwirtschaft  ? So banal diese Frage zunächst erscheinen mag, ist sie bei genauerem Hinsehen nicht zu beantworten. Landwirtschaft im Allgemeinen sowie im globalen Maßstab im 19. und 20. Jahrhundert im Besonderen stellt sich dar als ein schillerndes Phänomen, das sich einfachen Begriffsbestimmungen entzieht. Je nach Beobachtungsperspektive treten unterschiedliche Aspekte hervor  : die Landwirtschaft als ein von menschlichen Gesellschaften „kolonisierter“ Teil der Natur  ; als ein Wirtschaftssektor neben Industrie und Dienstleistungen  ; als Gegenstand politischer Regulation auf (supra‑)nationaler und globaler Ebene  ; als jener Bereich der Arbeits- und Familienverhältnisse, in dem bis in die 1970er-Jahre die Mehrheit der Weltbevölkerung produzierte und sich repro135

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 135

22.09.2010 07:50:14

Landwirtschaft

duzierte  ; als Projektionsfläche für (urbane) Vorstellungen von ‚Ländlichkeit‘, und so fort. Folglich können wir Landwirtschaft als zeitlich und räumlich variierenden Zusammenhang ökologischer, ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Elemente – kurz, als komplexes System – begreifen. Wesentlich dabei ist die äußere und innere Differenzierung des Agrarsystems  : Nach außen hin ist das Agrarsystem in naturale und soziale Umwelten eingebettet – und wird über die Koppelung mit dem jeweiligen Öko- und Gesellschaftssystem geregelt. Im Inneren umfasst es materielle und immaterielle Ressourcenflüsse, die von den darin arbeitenden und lebenden Akteuren bis zu einem gewissen Grad selbst geregelt werden (Abb. 1). Eine entsprechende Begriffsbestimmung könnte daher lauten  : „Landwirtschaft“ meint ein komplexes, natural und sozial eingebettetes sowie fremd- und selbstgesteuertes System der agrarischen Produktion und Reproduktion.4

Ökosystem Ressourcenflüsse

(naturale Umwelt)

Agrarsystem Outputs

Nahrungsregime

Regulation

Stoffwechselregime

Gesellschaftssystem

Inputs

(soziale Umwelt)

© 2010 Institut für Geschichte des ländlichen Raumes Abb. 1: Landwirtschaft als Agrarsystem Quelle  : Eigene Darstellung nach Langthaler, Agrarsysteme.

Landwirtschaft als Agrarsystem zu begreifen eröffnet eine Beobachtungsperspektive auf die Agrarentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Was diese beiden Jahrhunderte gegenüber der früheren, jahrtausendelangen Entwicklung der Landwirtschaft auszeichnet, ist die zunehmende Verflechtung lokaler, regionaler und nationalstaatlicher Agrarsysteme im weltweiten Maßstab, die Formierung eines globalen Agrarsystems. Freilich können wir bereits bis zum 18. Jahrhundert globale Verflechtungen von Agrarsystemen beobachten  ; das zeigt etwa der Columbian Ex136

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 136

22.09.2010 07:50:14



Landwirtschaft

change von Kartoffel, Mais und anderen Kulturpflanzen seit dem 16. Jahrhundert.5 Zudem müssen wir einräumen, dass im 19. und 20. Jahrhundert lokale, regionale und nationalstaatliche Ausprägungen von Agrarsystemen nicht einfach verschwanden, vielfach sogar erst entstanden.6 Dennoch, die Verflechtung der Landwirtschaft über globale Ströme von ‚Dingen‘, ‚Menschen‘ und ‚Ideen‘ – kurz, die Globalisierung7 – erreichte in den vergangenen zwei Jahrhunderten eine neue Quantität und Qualität. Unter welchen Bedingungen, in welchen Ausprägungen und mit welchen Folgen die Agrarglobalisierung stattfand, ist die Frage, die dieser Beitrag zu beantworten sucht. Um den Weg zur globalisierten Landwirtschaft in seinen Grundzügen nachzuzeichnen, bestimmen wir mit dem Agrarsystem-Modell die wesentlichen Entwicklungsstränge (Abb. 1)  : Erstens, die landwirtschaftliche Produktionsmenge und Produktivität – die Produktionsmenge pro aufgewandter Einheit an Land oder Arbeit – nahmen um ein Vielfaches zu. Zweitens, die Koppelung des Agrarsystems an seine soziale Umwelt gewann an Einfluss  ; die Landwirtschaft wurde zunehmend in die Produktketten der Industriegesellschaft eingebunden. Drittens, das Agrarsystem wurde von seiner naturalen Umwelt bis zu einem gewissen Grad entkoppelt  ; die Landwirtschaft wurde durch den Übergang von der Solar- zur Fossilenergie aus den Kreisläufen des sie tragenden Ökosystems entbettet.8 Für jeden Entwicklungsstrang steht eine Palette an wissenschaftlichen Werkzeugen zur Verfügung  ; aus globalhistorischer Sicht eignen sich vor allem jene, die comparisons und/oder connections eröffnen.9 Für den Vergleich des Produktions- und Produktivitätswachstums in verschiedenen Weltregionen bietet sich das entwicklungsökonomische Konzept der Pfade induzierter Innovation an.10 Für die Verflechtung von Agrarsystem und Gesellschaft steht das politisch-ökonomische Konzept des Nahrungsregimes zur Verfügung.11 Die Verflechtung von Agrarsystem und Natur lässt sich mit dem sozialökologischen Konzept des Stoffwechselregimes erfassen.12 Während der dritte Entwicklungsstrang anderswo in diesem Buch ausführlich behandelt wird,13 stehen die übrigen beiden Entwicklungsstränge – der Vergleich regionaler Wachstumspfade sowie die industriegesellschaftliche Verflechtung der Landwirtschaft – im Zentrum dieses Beitrags.14

Landwirtschaft vor der Globalisierung (ca. 1800–1870/90) Welche Agrarsysteme bestanden auf der Welt um das Jahr 1800, als Thomas Robert Malthus sein „Bevölkerungsgesetz“ veröffentlichte  ? Die Koppelung der Agrarsysteme an die Natur zog äußere, nur mit hohem technischem Aufwand überwind137

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 137

22.09.2010 07:50:14

Landwirtschaft

bare Nutzungsgrenzen  : Klima, Boden, Landschaftsrelief und Wasserversorgung bestimmten die möglichen Nutzpflanzen und -tiere, Arbeitstechniken und Erträge mit – freilich ohne sie festzulegen. So etwa erfuhren die Hauptgetreidearten in den letzten beiden Jahrhunderten ausgehend von ihren traditionellen Anbaugebieten – Europa und Zentralasien für Weizen, Südostasien für Reis und Lateinamerika für Mais – eine fast weltweite Verbreitung.15 Die Agrarregionen, die Geografen abzugrenzen suchen, schmiegen sich eng an naturräumliche Grenzen.16 Dabei fällt auf, dass zu Beginn den 19. Jahrhunderts die seit dem Mittelalter bestehende Mischwirtschaft von Ackerbau und Großviehhaltung weitgehend auf Europa beschränkt war  ; selbst bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hatte sie sich lediglich auf die europäisch besiedelten Teile anderer Kontinente ausgebreitet (Abb. 2). Die Binnen- und Außenwirkungen der gemischten Landwirtschaft (mixed farming) dürften für den europäischen „Sonderweg“ im Allgemeinen und die Agrarentwicklung im Besonderen von weitreichender Bedeutung gewesen sein.17

Abb. 2: Die Agrarregionen der Welt um 1950 Quelle  : Eigene Darstellung nach Grigg, Systems, 4.

Welche Entwicklungsmöglichkeiten die landwirtschaftlich tätigen Akteure innerhalb der von der Natur gezogenen Grenzen beschritten, hing vor allem von der Koppelung der Agrarsysteme an die jeweilige Gesellschaft ab. Dem konventionellen Geschichtsbild zufolge ereignete sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in England zeitgleich mit der Industriellen Revolution eine „Agrarrevolution“, die 138

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 138

22.09.2010 07:50:15



Landwirtschaft

von hoch produktiven Großbetrieben getragen wurde  ; die überwiegend bäuerlich geprägten Agrarstaaten Kontinentaleuropas eiferten dem englischen Vorbild mehr oder weniger nach  ; und der Rest der Welt verharrte in ‚primitiver‘ Selbstversorgung.18 Dieses Bild ist mittlerweile gründlich revidiert worden  :19 Erstens beruhte die Dominanz der Großbetriebe in der – eher langfristig-evolutionären als kurzfristig-revolutionären – „Agrarrevolution“ Englands weniger auf wirtschaftlichen als auf politischen Momenten, nämlich der Aufhebung bäuerlicher Landbesitzrechte.20 Zweitens stellte England weniger einen Modell- als einen Sonderfall dar  ; auch bäuerlich geprägte Regionen auf dem europäischen Festland, etwa die Île-de-France um Paris21 oder Westfalen mit dem Ruhrgebiet22, verzeichneten im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert beachtliche Wachstumsschübe. Drittens beschränkten sich auf Hochleistung getrimmte Agrarsysteme nicht auf Europa und seine Siedlerkolonien, sondern waren auch in Teilen Lateinamerikas, Afrikas und Asiens – etwa im arbeitsintensiven Nassreisanbau Chinas23 – verbreitet.24 Dennoch, das weltweite Agrarwachstum, das ein Ausbrechen aus der „malthusianischen Falle“ ermöglichte, nahm von (Nordwest-)Europa seinen Ausgang. Die „Große Trennung“ (great divide) von (nordwest-)europäischer und außereuropäischer Agrarentwicklung im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert folgte aus unterschiedlichen – teils naturalen, teils sozialen – Bedingungen  ;25 eine – vielleicht die entscheidende – war die Industrielle Revolution, die sich von England ausgehend auf dem europäischen Kontinent ausbreitete.26 Die steigende Nachfrage der wachsenden (Industrie-)Bevölkerung nach Nahrungsmitteln eilte – entgegen dem malthusianischen Modell – dem Angebot nicht einfach davon  ; vielmehr regte sie – entsprechend dem Modell der Agrarökonomin Ester Boserup27 – die landwirtschaftlich tätigen Akteure zu erheblichen Produktivitäts- und Produktionssteigerungen an. Leistungsfähige Transportmittel, vor allem das verdichtete Eisenbahnnetz, banden industrielle Konsumzentren und landwirtschaftliche Produktionsgebiete zu ringförmigen, entlang der Verkehrsachsen ausgreifenden Agrargütermärkten zusammen.28 Neben der Industriellen Revolution als ökonomischer Triebkraft der europäischen „Agrarrevolutionen“ schrieb die ältere Forschung der Aufhebung feudaler Landbesitzrechte durch die Agrarreformen, meist im Zuge antiabsolutistischer Revolutionen, als politischer Triebkraft eine Hauptrolle zu. In der neueren Forschung spielt der Abgang des ancien régime nur noch eine Nebenrolle  : Zwar beseitigten die „Bauernbefreiungen“ von Frankreich im Jahr 1789 bis Russland ab dem Jahr 1861 eine Reihe „feudaler Fesseln“ wie herrschaftliches Übereigentum am Land, kollektive Landbesitzrechte, bäuerliche Dienst- und Abgabeverpflichtungen, persönliche Untertänigkeit („Leibeigenschaft“) oder Handelsbeschränkungen.29 Doch 139

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 139

22.09.2010 07:50:15

Landwirtschaft

die Anreize der wachsenden Agrargütermärkte hatten bereits vor den staatlichen Reformgesetzen landwirtschaftliche Produktivitäts- und Produktionssteigerungen ausgelöst.30 Die traditionellen Beziehungsnetze ländlicher Haushalte dienten nicht schlichtweg als Tragegerüst einer bäuerlichen Subsistenzkultur, sondern auch als risiko- und kostensenkende Institution zur Übernahme agrarischer Innovationen.31 Die europäischen „Agrarrevolutionen“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erforderten den „Landwirt“ als Volleigentümer (owner-occupier) im Sinn des „Agrarindividualismus“32 nicht zwingend  ; sie konnten in äußerst unterschiedlichen – noch spät- oder bereits nachfeudalen – gesellschaftlichen Verhältnissen stattfinden.33 Welcher Art war das von den europäischen „Agrarrevolutionen“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgelöste Produktivitäts- und Produktionswachstum  ? Trotz aller zeitlichen und regionalen Besonderheiten zeichnen sich zwei allgemeine Tendenzen ab  : Erstens handelte es sich weniger um extensives – auf der Erweiterung der Nutzfläche basierendes – als um intensives – auf der Ertragssteigerung pro Nutzflächeneinheit basierendes – Wachstum. Zweitens erfolgte die Intensivierung der Landnutzung noch kaum durch wissenschaftlich-technische Neuerungen – obwohl auf englischen Großgütern bereits seit den 1840er-Jahren mit Dampfkraft betriebene Ackerpflüge sowie an der südamerikanischen Pazifikküste abgebauter „Guano“, eine Verbindung aus Vogelkot und Kalkstein, als Handelsdünger zum Einsatz kamen  ;34 es handelte sich weniger um kapital- als um arbeitsintensives Wachstum.35 Die Neuerungen in den Agrarsystemen, oft Ergebnis jahrzehntelangen trial and error-Lernens, verschoben die Ertragsgrenzen nach oben  ; dabei setzten sie am Flaschenhals der frühneuzeitlichen Landwirtschaft, dem Stickstoffhaushalt, an.36 Auf den Äckern wurde die Fruchtfolge der mittelalterlichen, in der Frühneuzeit verbesserten Dreifelderwirtschaft – im ersten Jahr Wintergetreide, im zweiten Jahr Sommergetreide, im dritten Jahr Brachweide – durch die Bebauung des Brachefeldes weiter entwickelt. Zum Leitbild der Fruchtwechselwirtschaft wurde die „Norfolker Vierfelderwirtschaft“37, in der stickstoffzehrender Sommer- und Wintergetreideanbau (im ersten und dritten Jahr) sich mit stickstoffanreicherndem Klee- und bodenauflockerndem Futterrübenanbau (im zweiten und vierten Jahr) abwechselte. Mit dem Mehrertrag an Feldfutter ließ sich in weiterer Folge die ganzjährige Stallfütterung des Großviehs bewerkstelligen  ; auf diese Weise ging der stickstoffreiche Dung nicht mehr großteils auf den Weiden verloren, sondern floss zur Gänze in die Nährstoffversorgung der Äcker ein (Abb. 3). Die langsame Optimierung der (nordwest‑)europäischen Mischwirtschaft vollzog sich noch innerhalb des solarenergetischen Stoffwechselregimes.38 Die mit zusätzlichem Arbeitsaufwand verbundene Ankurbelung des hofzentrierten Stickstoffkreislaufs durch die Wechselwirkung von Fruchtwech140

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 140

22.09.2010 07:50:15



Landwirtschaft

Abb. 3: Stoff- und Energieflüsse in der traditionellen und optimierten Mischwirtschaft (Nordwest-)Europas um 1800 Quelle  : Eigene Darstellung nach Mazoyer/Roudart, History, 272, 322.

141

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 141

22.09.2010 07:50:16

Landwirtschaft

selwirtschaft und Sommerstallfütterung optimierte die Erträge der für Europa charakteristischen Mischwirtschaft von Ackerbau und Viehzucht (Abb. 2). Der Gesamtgewinn an Produktivität dieses hochkomplexen Agrarsystems war mehr als die Summe der Produktivitätsgewinne der einzelnen Elemente.39 So stiegen in England und Wales in den Jahren 1800 bis 1850 – als sich die Bevölkerung verdoppelte – die Durchschnittserträge pro Acre bei Weizen von 19 auf 28 Bushels, bei Gerste von unter 30 auf 35 Bushels, bei Hafer von 37 auf 50 Bushels. Im selben Zeitraum verschob sich das Verhältnis von Körneraussaat und -ernte bei Weizen von 1 : 8 auf 1 : 16, bei Gerste von 1 : 6 auf 1 : 13, bei Hafer von 1 : 6 auf 1 : 8.40 Freilich hing die Verbreitung dieses Agrarsystems nicht nur von Markt-, sondern auch von Naturbedingungen ab  ; so etwa fehlten im Mittelmeerraum die für den Ackerbau nötigen Niederschläge.41 Die optimierte Mischwirtschaft (Nordwest‑)Europas, im Englischen high farming genannt, bildete neben den exogenen Triebkräften der „Großen Trennung“ der weltweiten Agrarentwicklung – der Industriellen Revolution und den staatlichen Agrarreformen – ein endogenes Moment dieser säkularen Weggabelung. Bevölkerungswachstum, Urbanisierung und Marktintegration ließen die Nahrungsmittelpreise in (Nordwest-)Europa im späten 18. Jahrhundert ansteigen und hielten sie bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus auf hohem Niveau. Zugleich blieben die Landarbeiterlöhne vergleichsweise niedrig, weil das ländliche Arbeitskräftepotenzial eher zu- als abnahm  : Nicht nur die städtische, auch die ländliche Bevölkerung wuchs  ; zudem beschäftigten die Fabriken in der Frühphase der Industriellen Revolution noch in erheblichem Maß Migranten sowie Frauen und Kinder. Hohe Verkaufserlöse und niedrige Lohnaufwendungen machten die Landwirtschaft – zumindest für jene Bauern- und Gutsbetriebe, die an ihren Standorten Marktchancen nutzen konnten – zu einem profitablen Unternehmen  ; die Rede vom „goldenen Zeitalter“ kam auf (Abb. 4). Der Abbau merkantilistischer Handelsschranken in Europa, etwa der britischen Corn Laws im Jahr 1846, entsprach der Logik der liberalen Agrarpolitik als Regulatorin des Agrarwachstums. Das arbeitsintensive Nahrungsregime eröffnete – trotz mancher Rückschläge bis zur Jahrhundertmitte (z. B. Hungerkrise 1847/48)42 – ein schrittweises Ausbrechen aus der „malthusianischen Falle“ wiederkehrender Hungerkrisen.43 Zeitgenössischen Beobachtern, gleichgültig ob politisch rechter oder linker Orientierung, erschien der landwirtschaftliche Großbetrieb mit einer lohnabhängigen Landarbeiterschaft – entsprechend der Fabrik im Industriebereich – als das Leitbild im Agrarbereich. Im europäischen Agrardiskurs der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts differenzierten sich gegensätzliche Identitätspositionen aus  : der ‚rückständige Bauer‘ auf der einen Seite, der ‚fortschrittliche Landwirt‘ auf der anderen Seite. Aus „Bauern“ 142

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 142

22.09.2010 07:50:16



Landwirtschaft

„Landwirte“ zu machen, lautete das Credo der modernen Agronomen und ihrer Klientel, der von Adeligen und Bürgerlichen dominierten agronomischen Vereinigungen  ; agrarromantische Gegenentwürfe, etwa Wilhelm Heinrich Riehls „Hofbauerntum“, suchten diese Wertung umzukehren.44 Europas Weg zum Agrarkapitalismus 45, der großbetrieblichen, auf Lohnarbeitsbasis betriebenen Landwirtschaft, schien vorgezeichnet.

Abb. 4: Die landwirtschaftliche Preisschere in England und Wales 1775–1965 Quelle  : Eigene Darstellung nach Niek Koning, The evolution of farm policies  : a long-term global perspective, in  : Peter Moser/Tony Varley, Hg., Integration through Subordination. Agriculture and the Rural Population in ­European Industrial Societies, Turnhout 2010 (im Druck).

Landwirtschaft in der kolonialstaatlich regulierten Globalisierung (1870/90–1930/50) Das „goldene Zeitalter“ des europäischen Agrarkapitalismus fand in den 1870erJahren ein jähes Ende. Eine Preisschere zwischen sinkenden Nahrungsmittelerlösen und steigenden Landarbeiterlöhnen begann sich zu öffnen  ; die landwirtschaftlichen Profite schmolzen dahin und kehrten sich um in Defizite (Abb. 4). Zwei Momente trieben die zuvor fast gleichlaufende Preisentwicklung auseinander  : Erstens stieg im Zuge der Hochindustrialisierung mit der Stahl-, Elektro- und chemischen Industrie als Leitsektoren in vielen Staaten Europas nicht nur der Ge143

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 143

22.09.2010 07:50:17

Landwirtschaft

samtbedarf an Arbeitskräften, sondern auch der Bedarf an männlichen, fachlich ausgebildeten Stammbelegschaften  ; damit verschärfte sich die Konkurrenz zwischen Agrar- und Industriesektor um die – auch durch die massenhafte Migration von Europa nach Nord- und Südamerika sowie Australien – knapper werdenden Arbeitskräfte. Zweitens ließ die „Transportrevolution“ des Eisenbahn- und Dampfschiffverkehrs erstmals Weltmärkte für Getreide und, nach Einführung der Kühltechnik, Fleisch entstehen. Über das verdichtete Verkehrsnetz traten Agrarsysteme außerhalb Europas in Konkurrenz zu europäischen Agrarsystemen – und formierten sich, als Strang der „ersten Globalisierung“46, zu einem globalen Agrarsystem. Die Frachtraten fielen beständig, so etwa für den Schiffstransport eines Bushels Weizen von New York nach Liverpool in den Jahren 1873 bis 1901 von 21 auf 3 Cent.47 Europäische Nahrungsmittelimporte aus Übersee zur Versorgung der wachsenden Industriearbeiterschaft wurden gegen Exporte von Industrieprodukten getauscht. Agrarindustrielle Unternehmen für die Verarbeitung landwirtschaftlicher Rohprodukte zu Nahrungs- und Genussmitteln – Margarine, Zucker, Spirituosen usw. – entstanden in den europäischen Metropolen. Die früheren Handelsmonopole der europäischen Kolonialmächte wichen multilateralen Handelsbeziehungen – ein weiterer Schritt zur Globalisierung des Agrarsystems.48 Werfen wir einen genaueren Blick auf das weltweite Netz des Agrarhandels anhand des wichtigsten Handelsguts, des Getreides (Weizen, Roggen, Gerste, Hafer und Mais, ohne Reis), am Vorabend des Ersten Weltkriegs (Abb. 5). Der bei Weitem größte Getreideexporteur war Russland mit 10,7 Mio. Tonnen pro Jahr  ; danach folgten von europäischen Siedlern kultivierte Gebiete in Übersee  : Argentinien (5,9 Mio. Tonnen), USA (4,1 Mio. Tonnen), Kanada (2,7 Mio. Tonnen) sowie Australien und Neuseeland (1,5 Mio. Tonnen)  ; den – äußerst lückenhaften – Angaben zufolge waren auch Rumänien (3,2 Mio. Tonnen) und Indien (1,6 Mio. Tonnen zuzüglich 2,5 Mio. Tonnen Reis) wichtige Exportländer.49 Im Unterschied zu den meisten (nordwest-)europäischen Ländern im 19. Jahrhundert war das Agrarwachstum, dem sich diese „Getreideinvasion“50 verdankte, nicht vorrangig intensiv  ; es handelte sich vor allem um extensives, auf der Ausweitung der Nutzflächen basierendes Wachstum. Zwischen den 1860er- und 1910er-Jahren war die Ackerfläche Russlands (von 49 auf 112 Mio. Hektar) sowie Nordamerikas, Argentiniens, Uruguays und Australiens (von 82 auf 185 Mio. Hektar) auf mehr als das Doppelte ausgedehnt worden.51 Vorherrschende Agrarsysteme waren die extensive Acker- und Weidewirtschaft auf kommerziellen Familienfarmen in den gemäßigten Klimazonen sowie die zunächst auf Sklaven-, dann auf Lohnarbeit basierenden Plantagenbetriebe für Zucker, Bananen, Kaffee, Tee und andere Exportgüter in den subtropischen und tropischen Zonen.52 144

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 144

22.09.2010 07:50:17



Landwirtschaft

Abb. 5: Der Weltgetreidehandel am Vorabend des Ersten Weltkriegs Quelle  : Eigene Berechnung und Darstellung nach Lange, Atlas, Karte 70.

Die wichtigsten Netto-Importeure von Getreide waren (nordwest-)europäische (Kolonial‑)Staaten  : Allen voran lagen Großbritannien und Irland (8,8 Mio. Tonnen)  ; danach folgten das Deutsche Reich (5,3 Mio. Tonnen), Belgien und die Niederlande (4,1 Mio. Tonnen), Frankreich (2,3 Mio. Tonnen) und Italien (2,0 Mio. Tonnen)  ; die übrigen Importländer, einschließlich Japans, verzeichneten jeweils weniger als eine Mio. Tonnen. Diese Länder unterschieden sich nach dem Anteil der Netto-Importe 145

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 145

22.09.2010 07:50:18

Landwirtschaft

am Inlandsverbrauch an Getreide. Auf der einen Seite standen Kolonialmächte, die ihren Getreideverbrauch zu fast zwei Dritteln über Importe deckten  : Großbritannien und Irland (59 Prozent) sowie Belgien und die Niederlande (62 Prozent)  ; auf der anderen Seite lagen die fast autarken Länder, darunter die kontinentalen Vielvölkerreiche Österreich-Ungarn (3 Prozent) und das Osmanische Reich (6 Prozent)  ; die übrigen Staaten verzeichneten Importanteile zwischen rund einem Zehntel (Frankreich  : 12 Prozent) und einem Viertel (Dänemark  : 28 Prozent). Ein Zusammenhang zwischen Industrialisierungsgrad und Importabhängigkeit bei Nahrungsmitteln – der Industriestaat Großbritannien einerseits, der Agrarstaat ÖsterreichUngarn andererseits – drängt sich auf  ; doch er wird gebrochen durch Fälle wie das hochindustrialisierte, aber vergleichsweise importunabhängige Deutsche Reich (16 Prozent).53 Um dieses Problem zu lösen, müssen wir neben ökonomischen auch politische Momente der Agrarglobalisierung ins Auge fassen. Mit der sich seit den 1870er-Jahren rasant öffnenden Schere von Einnahmen und Ausgaben sank die finanzielle Ertragskraft der Landwirtschaft. In der folgenden „Agrarkrise“ drangen die unterschiedlichen Wirtschaftsstile agrarkapitalistischer Betriebe und familienwirtschaftlicher Haushalte ins öffentliche Bewusstsein  : Agrarkapitalisten orientierten sich am landwirtschaftlichen Reinertrag  ; wenn dieser ein gewisses Maß unterschritt, suchten sie die Lohnarbeitskosten zu drücken („Fremdausbeutung“) oder, wenn nicht machbar, zogen sich aus der Landwirtschaft zurück und wechselten in profitablere Wirtschaftszweige. Familienwirtschaften orientierten sich vor allem am landwirtschaftlichen Einkommen (ohne Veranschlagung der eigenen Lohnansprüche) im Verhältnis zur Zahl ihrer Angehörigen, der arbeitenden wie der noch nicht oder nicht mehr voll arbeitsfähigen  ; wenn dieses sank und keine außerlandwirtschaftlichen Erwerbsalternativen bestanden, steigerten sie den Arbeitsaufwand auf ihrem Landbesitz, um das als angemessen betrachtete Pro-Kopf-Einkommen möglichst zu halten („Selbstausbeutung“). Die sinkende Rentabilität der Landwirtschaft führte im ersten Fall zur Extensivierung, im zweiten Fall zur Intensivierung der Landnutzung.54 Auf der politischen Bühne fand die „Agrarkrise“ ihren Ausdruck in der Debatte um die „Agrarfrage“.55 Weniger von einem verstockten Konservativismus56 als von fallenden Profiten getrieben, riefen auch bislang liberal eingestellte Agrarier immer lauter nach Staatshilfe, etwa Schutzzöllen auf Agrarimporte, im Kampf gegen die „Agrarkrise“. Ihr Durchsetzungsvermögen hing von Allianzen mit anderen Interessengruppen ab. Im Deutschen Reich, der einen Seite des Spektrums, setzte eine Koalition aus Großgrundbesitzern („Junkern“), Bauernverbänden und der Industrielobby – auch zur Abwehr der sozialistischen Arbeiterbewegung im Inland und der französischen „Revanchepolitik“ nach dem Deutsch-Französischen 146

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 146

22.09.2010 07:50:18



Landwirtschaft

Krieg 1870/71 – hohe Schutzzölle auf Agrarimporte durch. In Großbritannien, der anderen Seite, fanden die landlords weder eine bäuerliche Massenbewegung vor, noch vermochten sie dauerhafte Allianzen mit der exportorientierten Industrie zu schmieden  ; die weitere Einfuhr billiger Nahrungsmittel aus ehemaligen und noch bestehenden Kolonien bereitete dem high farming im Mutterland den Garaus. Auf diese Weise schlugen zwei ähnlich hoch industrialisierte Staaten unterschiedliche agrarpolitische Wege – Handelsprotektionismus im deutschen, Freihandel im britischen Fall – ein.57 Vom Weg Großbritanniens, der damals führenden Weltmacht, und den europäischen Siedlerkolonien leitet sich auch die Kennzeichnung dieses Nahrungsregimes als extensiv ab  ;58 dabei dürfen freilich die kontinentaleuropäischen Intensivierungsbestrebungen, etwa des deutschen Entwicklungspfades, nicht übersehen werden. Wie durchschlagskräftig die Agrarier-Bündnisse auch waren – die in der „Agrar­ krise“ gestiegene ökonomische Konkurrenzfähigkeit bäuerlicher Familienwirtschaften gegenüber agrarkapitalistischen Unternehmen steigerte auch das politische Gewicht des Agrarsektors  ; denn kapitalschwache Klein- und Mittelbetriebe bedurften – vor allem hinsichtlich der Übernahme technischer Neuerungen – mehr Unterstützung als kapitalkräftige Großbetriebe.59 Zudem wurde die Ernährungssouveränität im Klima nationalistischer Spannungen auf dem europäischen Kontinent zur ‚nationalen Aufgabe‘ erhoben.60 Als Folge dieser ökonomischen, politischen und kulturellen Aufwertung richtete der (koloniale) Nationalstaat sein Augenmerk verstärkt auf die Regulation des Agrarsektors. Die Eingriffe der Regierungen erfolgten direkt, über Förderungsmaßnahmen der in Ausbau begriffenen staatlichen Agrarbürokratie, und indirekt, über die Zusammenarbeit mit Agrarverbänden („Agrarkorporatismus“).61 Trotz der nationalistischen Spannungen gewannen supranationale Organisationen einer ‚grünen Internationalen‘ Kontur, etwa durch die Gründung des Internationalen Landwirtschaftsinstituts, der Vorläuferorganisation der Food and Agriculture Organization (FAO) der Vereinten Nationen, in Rom im Jahr 1905 durch 41 Mitgliedsstaaten.62 Wenn auch die Reichweite der Agrarpolitik von Land zu Land unterschiedlich ausgeprägt war – die Richtungen ähnelten einander  : Hochindustrialisierung und verschärfte „Landflucht“ von Arbeitskräften legten eine Kursänderung vom arbeitszum kapitalintensiven Wachstum mittels industriell und wissenschaftlich bereitgestellter Technologie nahe. Technische Innovationen können in unterschiedlicher Weise Agrarwachstum auslösen  : über die Steigerung der Arbeitsproduktivität mittels mechanischer oder arbeitssparender Technologie (z. B. Mähdrescher) einerseits, der Flächenproduktivität mittels organischer oder landsparender Technologie (z. B. Mineraldünger) andererseits. Beide Wege der Technisierung erfordern eine Reihe 147

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 147

22.09.2010 07:50:18

Landwirtschaft

institutioneller Innovationen, die den Einsatz der jeweiligen Technologie regeln (z. B. Forschungs- und Bildungseinrichtungen).63 20 Japan 1980 (91 %) 10 /A rb e ha 2

Frankreich 1980 (90 %)

0,

5

Großbritannien 1980 (97 %)

Japan 1880 (21 %)

USA 1980 (97 %)

Frankreich 1880 (51 %)

ha

1

/A

rb

ei

te

r

Dänemark 1880 (46 %)

1

Flächenproduktivität (Produktion pro Hektar Land) (logarithmische Skala)

i te

r

Dänemark 1980 (91 %)

Großbritannien 1880 (84 %)

USA 1880 (45 %)

r

/A

10

0,1 1

ha

r

r

ite

te

i be

e rb

/A

0 10

5

10

ha

/

0 50

50

Arbeitsproduktivität (Produktion pro Arbeiter) (logarithmische Skala)

ha

r

te

ei

b Ar

100

250

Anm.: Die Prozentsätze in Klammern bezeichnen die Anteile der nicht im Agrarsektor tätigen männlichen Arbeitskräfte. © 2010 Institut für Geschichte des ländlichen Raumes Abb. 6: Pfade der Agrarentwicklung ausgewählter Staaten 1880–1980 Quelle  : Eigene Darstellung nach Hayami/Ruttan, Development, 131.

Auf welche Weise technische und institutionelle Innovationen in Gang gesetzt („induziert“) wurden, lässt sich an einem internationalen Vergleich der Agrarentwicklung 1880 bis 1980 ablesen (Abb. 6). Auffällig ist zunächst, dass die nationalen Wachstumspfade auf unterschiedlichen Niveaus verliefen. Dafür waren die unterschiedlichen Arbeitskraftdichten verantwortlich  : In den USA bearbeitete eine 148

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 148

22.09.2010 07:50:18



Landwirtschaft

männliche Landarbeitskraft um 1880 durchschnittlich 26,0 Hektar  ; bis um 1980 verneunfachte sich die Pro-Kopf-Fläche auf 239,8 Hektar. In den europäischen Staaten lagen die entsprechenden Werte erheblich niedriger  ; sie bewegten sich zwischen 6,7 und 24,1 Hektar in Frankreich, 8,8 und 23,7 Hektar in Dänemark sowie 14,3 und 38,9 Hektar in Großbritannien. Japan wies die geringsten ProKopf-Flächen auf  ; sie nahmen von 0,7 auf 2,5 Hektar zu. Weiters fällt auf, dass die Wachstumspfade zwar in etwa derselben Richtung – von links unten nach rechts oben –, jedoch mit unterschiedlicher Steilheit fortschritten. Dafür gaben die unterschiedlichen Verhältnisse von Arbeits- und Flächenproduktivitätssteigerungen den Ausschlag  : Mit jeder Zunahme der Arbeitsproduktivität zwischen 1880 und 1980 um eine Getreideeinheit wuchs in den USA die Flächenproduktivität nur um 0,11 Getreideeinheiten. Demgegenüber betrugen die Zuwächse in den europäischen Ländern zwischen 0,28 und 0,37 und in Japan 0,28 Getreideeinheiten.64 Auf dieser Grundlage lässt sich die Frage, wie technischer und institutioneller Wandel induziert wurden, knapp beantworten  : In Weltregionen mit geringer Arbeitskraftdichte und großer Fläche pro Landarbeitskraft wie den USA wurde der im Vergleich zu Land teure Produktionsfaktor Arbeit primär durch mechanische Technologie zur Steigerung der Arbeitsproduktivität ersetzt. In Weltregionen mit hoher Arbeitskraftdichte mit kleiner Fläche pro Landarbeitskraft wie Japan und, mit einigem Abstand, Europa wurde der im Vergleich zu Arbeit teure Produktionsfaktor Land in höherem Maß durch organische Technologie zur Steigerung der Flächenproduktivität ersetzt. Die Industrialisierung induzierte im Agrarsektor – je nach Ausstattung mit Arbeit und Land – den Ersatz des jeweils knapperen, folglich teureren Produktionsfaktors durch Kapital, indem sie ein billiges Angebot an arbeits- und landsparenden Technologien sowie eine Massennachfrage nach Nahrungsmitteln erzeugte. Umgekehrt erhöhte das landwirtschaftliche Produktivitätswachstum die Nachfrage nach industriellen Inputs sowie – im Fall von mechanisch-technischem Fortschritt – das Angebot an Industriearbeitskräften.65 Kurz, Agrar- und Industrieentwicklung bedingten einander wechselseitig bis zu einem gewissen – allerdings in der Forschung umstrittenen66 – Grad.

Landwirtschaft in der industriestaatlich regulierten Globalisierung (1930/50–1970/90) Die Verflechtung von Agrar- und Industrieentwicklung, die sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert abzuzeichnen begann, erfuhr bis zu den 1950er-Jahren eine wesentliche Verdichtung. Zu dieser Zeit prägten US-amerikanische Agronomen 149

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 149

22.09.2010 07:50:18

Landwirtschaft

für den agrar-industriellen Komplex den Begriff agribusiness als „the sum total of all operations involved in the manufacture and distribution of farm supplies  ; production operations on the farm  ; and the storage, processing, and distribution of farm commodities and items made from them“67. Wie die beiden Weltkriege und die dazwischen liegende Weltwirtschaftskrise mit der Entstehung des kapitalintensiven oder „produktivistischen“ Nahrungsregimes zusammenhingen, ist noch nicht geklärt  ;68 dass ein solcher Zusammenhang bestand, scheint gewiss. Jedenfalls ging der Industriestaat als ‚Krisenmanager‘ aus dieser ‚extremen‘ Periode gestärkt hervor  ; er galt in den Nachkriegsjahrzehnten als Garant der ‚nationalen Ernährungssicherheit‘ – nicht nur im „Kommandosozialismus“ des Ostens mit seinen kollektivierten Großbetrieben, sondern auch in der „Sozialen Marktwirtschaft“ des Westens mit bäuerlichen und unternehmerischen Betrieben in Privateigentum.69 Selbst in Großbritannien, wo sich der Staat aus der im Ersten Weltkrieg installierten Lenkung des Agrarapparats in der Zwischenkriegszeit wieder zurückgezogen hatte, wurden die Lenkungseingriffe während des Zweiten Weltkriegs nach Kriegsende nicht nur fortgesetzt, sondern sogar gesetzlich festgeschrieben.70 Der Produktivismus, das agrarische Element der fordistischen Entwicklungsweise der 1950er- bis 1970er-Jahre, vollendete die Industrialisierung der Landwirtschaft, also die Verflechtung mit vor- und nachgelagerten Industrien, für die Versorgung von Massenmärkten in den Metropolstaaten Europas, Nordamerikas und Ostasiens.71 Ökonomisch gesehen ersetzte Kapital als hauptsächlicher Produktionsfaktor in Form von mechanischer und organischer Technologie Land und Arbeit.72 Ökologisch gesehen ersetzten fossile Brennstoffe direkt (z. B. Treibstoffe für motorisierte Landmaschinen) und indirekt (z. B. chemisch-industriell hergestellter Mineraldünger) die Solarenergie als Hauptenergiequelle.73 Mit dem Ersatz endogener durch exogene Ressourcen gerieten vor allem bäuerliche Klein- und Mittelbetriebe in eine „landwirtschaftliche Tretmühle“, in der Intensivierung, Spezialisierung und Betriebskonzentration die sich selbst verstärkende Spirale von Größenvorteilen (economies of scale) – nach der Logik „Wachsen oder Weichen“ – in Gang setzten.74 Nicht nur die Produktionsfaktoren, sondern auch die Produkte durchliefen kapitalintensive Bearbeitungsschritte, bevor sie über Supermärkte und Küchen in die Mägen der Konsumenten gelangten. Kurz, Anfang und Ende der Kette von Nahrungsproduktion und ‑konsum (agro-food chain) wurden aus den Höfen ausgelagert  ; der auf seine Rolle als – nicht mehr Energie erzeugender, sondern verbrauchender – Technologieanwender und Rohstoffproduzent reduzierte Agrarsektor verschmolz mit vor- und nachgelagerten Industrien zum agribusiness (Abb. 7). Agro-industrielles Kapital war auch an der Integration der früheren, nunmehr staatlich unabhängigen Kolonien in ein globales Nahrungsregime beteiligt. Agro150

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 150

22.09.2010 07:50:18

Dünger 1,2

Energie 0,7 Gebinde 1,0

Transport 1,0

Sonstiges 2,9

Großhandel 0,5

Maschinen 5,8

Saatgut 0,6

Landwirtschaft Futtermittel 2,7



Angaben in Milliarden Dollar

Tabakprodukte 0,7

Holz und Papier 0,2

Textilien 2,1

Alk. Getränke 0,3

lokale 0,8

1,2

3,1

Trink- und Speise

Nahrungsindustrie 14,5

Trink- und Speiselokale 16,4

Konsum 93,0

Textilien 11,0

Groß- und Einzelhandel 15,0

Sonstiges 3,0

unverarbeitete Nahrungsmittel 10,0

Holz und Papier 3,0

Nahrungsindustrie 26,3

Tabekprodukte 2,8

Leder 0,7

1,0

Alk. Getränke 1,5

Leder 3,0

Seifen und Lacke 1,0

Seifen und Lacke 0,8

Öle 0,9

Ölkuchen 0,3

Kleie usw. 2,2

Landwirtschaft 16,4

© 2010 Institut für Geschichte des ländlichen Raumes

Abb. 7: Agro-industrielle Ressourcenflüsse in den USA 1954 Quelle  : Eigene Darstellung nach Davis/Goldberg, Concept, 9.

industrielle Konzerne aus den Metropolstaaten (Coca-Cola, Kellogg, Unilever usw.) sicherten sich ihre Rohstoffbasis durch Lieferverträge mit nachkolonialen Nationalstaaten. Zudem waren sie bestrebt, Tropenpflanzen durch Pflanzen aus gemäßigten Zonen (z. B. Zuckerrohr durch Zuckerrübe) oder Ersatzstoffe (z. B. Süßstoffe) zu ersetzen. Die Entwicklungsländer wurden zunehmend von Getreide­ importen aus entwickelten Ländern zur Versorgung ihrer rasch wachsenden Bevölkerungen abhängig  ; diese wurden bezahlt mit Industriepflanzen (z. B. Baumwolle) oder hochwertigen Nahrungsmitteln (z. B. Südfrüchten) – mit nachteiligen Folgen für die traditionellen, subsistenzorientierten Agrarsysteme.75 Diese Trends resultieren in sinkenden terms of trade für Agrarexporte aus Entwicklungsländern, was deren Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten steigerte. 151

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 151

22.09.2010 07:50:18

Landwirtschaft

Zugleich mit der Integration des Agrarsektors sowie der vor- und nachgelagerten Industrien bildeten sich innerhalb des agribusiness einzelne Warenkomplexe heraus. Der Weizen-Komplex gewann seinen Einfluss durch nationalstaatliche Marktregelungen, etwa die Erzeugerpreisstützungen in den USA und der Europäischen Gemeinschaft (EG). Die dadurch angefachten Überschüsse wurden über Nahrungshilfeprogramme für Entwicklungsländer oder subventioniert auf dem Weltmarkt abgesetzt. Die nachkolonialen Staaten erhielten US-Weizen entweder als Nahrungshilfe oder Importware auf Kosten der Inlandserzeugung  ; der Anteil der Entwicklungsländer an den Welt-Weizenimporten stieg von 19 Prozent Ende der 1950er-Jahre auf 66 Prozent Ende der 1960er-Jahre. Der Vieh-Komplex wuchs in den entwickelten Ländern des Nordens während des Nachkriegs-Wirtschafts­booms, als die Konsumenten aufgrund wachsender Einkommen im – sozialstaatlich regulierten – Wechselspiel von Massenproduktion und Massenkonsum vermehrt auf Milch- und Fleischprodukte umstiegen. Schwerpunkte der intensiven Viehmast waren Schweine, Geflügel und Rinder – ein Trend, der durch den internationalen Handel von billigen Futtermitteln auf Basis von Mais und Sojabohnen aus den USA möglich wurde. Die USA akzeptieren den Protektionismus der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EG gegenüber Getreideimporten  ; im Gegenzug wurden Futtermittelimporte auf Sojabasis durch US-Konzerne davon ausgenommen. Der Haltbarnahrungs-Komplex entstand mit dem zunehmenden Konsum von industriell verarbeiteten und erzeugten Nahrungsmitteln auf dem Speiseplan der Konsumenten in der nördlichen Hemisphäre  ; er verkoppelte Massenproduktion und Massenkonsumtion standardisierter Nahrungsmittel. Die landwirtschaftlichen Erzeuger sahen sich zunehmend oligopolistischen Marktstrukturen mit wenigen, als Unternehmen organisierten Käufern ausgeliefert.76 Die agro-industrielle Verschränkung von Nahrungsmittelproduktion und -konsumtion hing eng mit politischen Entwicklungen – vor allem der Gründung nachkolonialer Nationalstaaten und der politisch-ökonomischen Hegemonie der USA – zusammen. Die Entkolonialisierung brach die kolonialen Handelsblöcke auf und ermöglichte den neuen Nationalstaaten, zur Unterstützung ihrer Industrialisierung Nahrungsmittel, einschließlich Hilfslieferungen, zu importieren. Dies verdrängte bodenständige Nahrungsmittel und erforderte Kreditaufnahmen zur Importfinanzierung, die sich in wachsender Verschuldung ausdrückten. Die Nahrungsimporte der Entwicklungsländer lagen im Interesse der USA, die auf der Suche nach neuen Exportmöglichkeiten für die wachsenden Weizenberge waren  ; damit war auch der Einsatz von Hilfs- und Importlieferungen zur Stabilisierung der nachkolonialen Staaten verbunden. Folglich verstärkten die Entkolonialisierung und die Entstehung unabhängiger Staaten die Abhängigkeit von US-Weizenlieferungen. Nur Europa, 152

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 152

22.09.2010 07:50:18



Landwirtschaft 500

USA

Japan Gesamt-Output Gesamt-Input

400

Index (1880 = 100)

Gesamt-Produktivität 300

200

100 1880

1900

1920

1940

1960

1980

1880

1900

1920

1940

1960

1980

© 2010 Institut für Geschichte des ländlichen Raumes

Abb. 8: Landwirtschaftliche Produktions- und Produktivitätsentwicklung in den USA und Japan 1880–1980 Quelle  : Eigene Darstellung nach Hayami/Ruttan, Development, 168.

ebenfalls Produzent von Getreideüberschüssen, konnte sein Agrarsystem dagegen schützen. Zwei internationale Abkommen rahmten die staatliche Agrarpolitik  : das Abkommen von Bretton Woods 1944 zur Stabilisierung der Wechselkurse der nationalen Währungen und das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) 1947 zur Liberalisierung des internationalen Handels. Ersteres ermöglichte die globale Ausweitung des nationalstaatlichen Modells des Wirtschaftswachstums  ; Letzteres schloss die Landwirtschaft vom Freihandel aus und legitimierte den Protektionismus, der in den Metropolstaaten zur Bewältigung der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs in den 1930er- und 1940er-Jahren institutionalisiert worden war. Unter dem Schutz von Importhürden steigerten die USA, Japan und die EGStaaten ihre (Überschuss‑)Produktion, die mittels Exportstützungen auf den internationalen Märkten abgesetzt wurde. Die Expansion agro-industrieller Konzerne beschleunigte die staatlich regulierten Handelsströme.77 Die hier nur grob skizzierte Formierung kapitalintensiver, industriell verflochtener Agrarsysteme lässt sich an den Extremfällen USA und Japan verfeinern. Trotz der Unterschiede in der Ausstattung mit den Faktoren Land und Arbeit erreichten beide Länder in den Jahren 1880 bis 1980 dieselben Wachstumsraten  : Die gesamten Inputs nahmen um jährlich 0,7 Prozent zu  ; die gesamten Outputs stiegen um 153

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 153

22.09.2010 07:50:19

Landwirtschaft

USA

800

Japan Landwirtschaftsfläche pro Arbeiter USA: Ackerfläche pro Arbeiter Japan: Reisfeldfläche pro Arbeiter

Land pro Arbeiter (1880 = 100)

300

Arbeitstiere oder Traktor-PS pro Arbeiter

Landwirtschaftsfläche pro Arbeitsstunde

500 400

100

200

100 10 Arbeitstiere pro Arbeiter Traktor-PS pro Arbeiter 1 0,5

1880

1900

1920

1940

1960

1980

1880

1900

1920

1940

1960

1980

© 2010 Institut für Geschichte des ländlichen Raumes

Abb. 9: Mechanisch-technische Entwicklung in den USA und Japan 1880–1980 Quelle  : Eigene Darstellung nach Hayami/Ruttan, Development, 172.

jährlich 1,6 Prozent  ; die Gesamtproduktivität wuchs um jährlich 0,9 Prozent. Eine genauere Betrachtung zeigt ähnliche, zeitlich verschobene Entwicklungsphasen  : in den USA starke Wachstumstrends bis in die 1890er-Jahre, eine Abschwächung bis Mitte der 1930er-Jahre und, nach dem Einbruch durch die Great Depression, ein Wachstumsschub ab den späten 1930er-Jahren  ; in Japan starkes Produktions- und Produktivitätswachstum bis in die 1910er-Jahre, Stagnation bis in die 1930er-Jahre und, nach dem Einbruch des Zweiten Weltkriegs, beschleunigtes Wachstum ab den 1940er-Jahren (Abb. 8).78 Die Unterschiede treten jedoch bei gesonderter Betrachtung der Arbeits- und Flächenproduktivität deutlich hervor  : Hinsichtlich des Einsatzes mechanischer Technologie ging in den USA der Ersatz menschlicher Arbeitskraft – zunächst durch von Pferden gezogene, seit den 1920er-Jahren zunehmend durch motorisierte Maschinen – Hand in Hand mit der Vergrößerung der Fläche pro Arbeitskraft. In Japan hingegen stagnierte die Zahl der Arbeitstiere  ; Traktoren wurden in großem Umfang erst ab Ende der 1950er-Jahre eingesetzt (Abb. 9). Ebenso deutliche Unterschiede zeigt der Einsatz organischer Technologie. In den USA trug der Mineraldüngereinsatz erst seit den 1930er-Jahren zur Ertragssteigerung bei. In Japan hingegen ließ seit den 1880er-Jahren das Paket aus Hochertrags-Reissorten und Mineraldünger die Erträge wachsen (Abb. 10). In beiden Ländern wurde der 154

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 154

22.09.2010 07:50:19



Landwirtschaft

USA

Japan

Ertrag pro Hektar Ackerfläche 400 300

USA: Maisertrag pro geerntetem Hektar Japan: Reisertrag pro angebautem Hektar

200

100

200 100 50

Handelsdüngereinsatz pro Hektar Ackerland

100

Flächenanteil von Hybridmais (USA) oder HochleistungsReis (Japan)

80 60 40

10 5

1880

20

1900

1920

1940

1960

1980

1880

1900

Anteil an der angebauten Fläche

Handelsdüngereinsatz (kg/ha)

Flächenproduktivitätsindex (1880 = 100)

Ertrag pro Hektar Landwirtschaftsfläche

1920 1940 1960 1980 © 2010 Institut für Geschichte des ländlichen Raumes

Abb. 10: Organisch-technische Entwicklung in den USA und Japan 1880–1980 Quelle  : Eigene Darstellung nach Hayami/Ruttan, Development, 173.

Ersatz von Arbeit oder Land durch sinkende Preise für technische Inputs induziert. Die Unterschiede der beiden Wachstumsmuster – mechanischer Technologie in den USA, organischer Technologie in Japan – verminderten sich nach dem Zweiten Weltkrieg. In der US-amerikanischen Landwirtschaft wurden, in Reaktion auf die zunehmende Nutzung des Landes für nichtagrarische Zwecke, ertragssteigernde Innovationen eingeführt  ; in der Landwirtschaft Japans setzte, in Reaktion auf die Arbeitsmigration in Industrie- und Dienstleistungssektor, eine rasante Mechanisierung ein. Kurz, der US-amerikanische und der japanische Wachstumspfad begannen sich anzunähern.79 Der technische Wandel der US-amerikanischen und japanischen Landwirtschaft war eng mit institutionellem Wandel verknüpft. Mechanisch- und organisch-technische Innovationen mussten entwickelt, erprobt, verbreitet, angewandt und angepasst werden  ; dafür waren Experten- und Erfahrungswissen sowie horizontale und vertikale Kooperation zwischen Akteuren oder, ökonomisch gesprochen, Human155

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 155

22.09.2010 07:50:19

Landwirtschaft

und Sozialkapital notwendig.80 Beide Länder hatten aufgrund – im Vergleich zu Großbritannien – verspäteter Industrialisierung erhöhten Aufholbedarf  ; daher institutionalisierten sie staatliche Forschungs- und Bildungseinrichtungen nach dem Vorbild Deutschlands, einem ebenfalls nachhinkenden, auf Aufholjagd befindlichen Industriestaat. In den USA wurde die Technologieentwicklung im 19. Jahrhundert von privaten Akteuren – innovativen Farmern, Erfindern und der Maschinenindustrie – bestimmt. Ihre Strategie war, die von einer Arbeitskraft zu bewältigende Fläche durch mechanische Technologie – etwa das Ernte-Dresch-Verfahren mit Gespannbindemäher und Stahldreschmaschine – zu vergrößern. Angesichts abnehmender Ertragszuwächse seit der Jahrhundertwende wurde zusätzlich ein dualer, staatlich-föderaler Forschungs- und Beratungsapparat zur Entwicklung und Verbreitung organischer Technologie nach deutschem Muster aufgebaut. Aufgrund der im Vergleich zum Land nach wie vor teuren Arbeitskraft dauerte es bis in die 1930er-Jahre, bis der Einsatz des Technologiepakets aus Traktor, Hybridmais – nicht zur Vermehrung geeignetes Hochertragssaatgut, das jährlich neu über den Saatguthandel bezogen werden muss – und Mineraldünger die vorherrschende mechanische durch eine organische Agrartechnologie ergänzte. Die durch Produktions- und Produktivitätssteigerungen erhöhten Umsätze entfachten eine agrarpolitische Debatte über das Verhältnis von Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit im Agrarsektor. Mit der Politik des New Deal ab den 1930er-Jahren intervenierte der Staat durch markt-, preis- und strukturpolitische Maßnahmen in die Landwirtschaft. Die anfänglich hohen Fixpreise für landwirtschaftliche Erzeugnisse, die die Mehr- und Überproduktion anfachten, wurde in den 1960er-Jahren in Richtung abnehmender Preissubventionen und zunehmender Direktzahlungen an die Weltmarktbedingungen angepasst. Die Intensivierung durch technische Innovationen begünstigte die Spezialisierung auf wenige Betriebszweige  ; diese wiederum führte zur Konzentration von Landbesitz in den Händen von Großfarmern und Agrarindustrie. Extensivere, stärker diversifizierte und kleiner strukturierte Familienbetriebe erfuhren jedoch durch die Neuen Sozialen Bewegungen seit den 1970er-Jahren eine Aufwertung. In den 1980er-Jahren wurde unter der ReaganAdministration der Staatsinterventionismus zugunsten neoliberaler Programme zurückgenommen.81 In Japan versuchte die Meiji-Regierung im ausgehenden 19. Jahrhundert, die gegenüber dem Westen technische Rückständigkeit der Landwirtschaft durch staatliche Forschungs- und Bildungsaktivitäten abzubauen. Nach dem Scheitern mechanisch-technischer Experimente nach britischem Vorbild wurden mithilfe deutscher Experten und unter Nutzung standortgerechten Erfahrungswissens organisch-technische Innovationen auf allen Ebenen – nationalstaatlich, regional 156

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 156

22.09.2010 07:50:19



Landwirtschaft

und lokal – institutionalisiert. Neben der Züchtung von ertragreicheren Sorten wurde der Mineraldüngereinsatz durch die expandierende Düngemittelindustrie vorangetrieben. Die Produktions- und Produktivitätssteigerungen der 1930er-Jahre wurden, nach dem kriegsbedingten Einbruch, nach 1945 fortgeführt. Während die von der US-Besatzungsmacht zur Stabilisierung der japanischen Gesellschaft nach westlichem Muster initiierte Landreform mehr Verteilungsgerechtigkeit anstrebte, diente die Neuorganisation der landwirtschaftlichen Vereinigungen nach US-Vorbild der Effizienzsteigerung. Je mehr in den Nachkriegsjahrzehnten das Industrie- das Agrarwachstum überflügelte, desto weiter klaffte die Schere zwischen außerlandwirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Einkommen auseinander. Auf politischen Druck hin garantierte die Regierung in den 1960er-Jahren den landwirtschaftlichen Produzenten „gerechte Preise“ auf Kosten der Konsumenten. Die Folge waren immense Reisüberschüsse, die durch Programme zur Stilllegung von Anbauflächen bekämpft wurden. Trotz Zunahme der Agrarimporte und Abnahme des Selbstversorgungsgrades praktizierte Japan weiterhin ein hohes Maß an Protektionismus, um den Strukturwandel einzudämmen. Gleichzeitig wuchs der internationale Druck zur Liberalisierung des Agrarhandels, was eine Betriebskonzentration zur effizienten Nutzung arbeitssparender Technologie erforderte  ; dem entgegen stand der – im Hinblick auf die Verteilungsgerechtigkeit förderliche – Trend zur Nebenerwerbslandwirtschaft.82 Die beiden Länderstudien machen den Zusammenhang von Entwicklungspfad und Agrarstruktur deutlich  : Während die mechanische Technologie aufgrund ihrer Unteilbarkeit kleine und mittlere Betriebe zum Größenwachstum drängte (economies of scale), konnten auch – und vor allem – Kleinst- und Kleinbetriebe (smallholders) die teilbare organische Technologie effizient anwenden.83 Doch wie konnte das moderne Agrarwachstum auf Entwicklungsländer übertragen werden  ? In vielen Ländern Süd- und Südostasiens, Afrikas und Lateinamerikas („Trikont“) waren bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts aufgrund hoher Bevölkerungsdichte kleine Pro-Kopf-Flächen gegeben. In der vorindustriellen Periode hatten die wachsenden Agrargesellschaften auf die Landknappheit mit vermehrtem Arbeitseinsatz reagiert  ;84 im Zuge der Industrialisierung lagen also beste Voraussetzungen für den Einsatz landsparender Technologie vor. Dem standen jedoch zwei Hindernisse entgegen  : Erstens konnten die für gemäßigte Klimazonen entwickelte Agrartechnologien nicht ohne Anpassung an veränderte Umweltbedingungen in subtropische oder tropische Länder verpflanzt werden  ; zweitens fehlten in den meisten Entwicklungsländern die notwendigen Forschungs- und Bildungseinrichtungen. Die als Green Revolution (William Gaud)85 bezeichneten Produktions- und Produktivitätssprünge in einigen Trikont-Ländern seit den 1960er-Jahren transfe157

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 157

22.09.2010 07:50:19

Landwirtschaft

rierten die ostasiatische Reis-Technologie und die westliche Weizen-Technologie von gemäßigten in subtropische und tropische Weltregionen. Voraussetzungen waren, erstens, der Aufbau eines internationalen Forschungsverbunds unter Koordination der Weltbank und, zweitens, der Ausbau eigener Versuchs- und Beratungseinrichtungen.86 Das Beispiel der Philippinen zeigt, wie der Transfer der japanischen Hochertragssaatgut-Mineraldünger-Technolgie in ein tropisches Land erfolgte. In den 1960er-Jahren, nach der Ausschöpfung der letzten Landreserven, verlagerte sich der Schwerpunkt der philippinischen Landwirtschaft von der Export- zur Nahrungsproduktion für die wachsende Bevölkerung  ; dies induzierte den Einsatz landsparender Technologie und Investitionen in Bewässerungsanlagen. Die Züchtung düngerhungriger und gegen Schädlingsbekämpfungsmittel resistenter Reissorten wurde durch das im Jahr 1959 auf den Philippinen gegründete International Rice Research Institute begünstigt  ; ähnliche Aufgaben für die Mais- und Weizensaatzucht hatte das aus einem Forschungsprogramm der US-amerikanischen Rockefeller-Stiftung in Mexiko im Jahr 1943 hervorgegangene International Maize and Wheat Improvement Center.87 Entwicklungsökonomisch kann die HybridsaatgutMineraldünger-Technologie der „Grünen Revolution“ als – verspäteter – Ausgleich des ökonomischen Ungleichgewichts, das durch das geänderte Faktorangebot und Nachfragewachstum entstanden war, gesehen werden.88 Kritiker dieser Sichtweise betonen den weltregional ungleich verteilten Nutzen der Produktivitäts- und Produktionszuwächse der „Grünen Revolution“, etwa deren weitgehendes Scheitern in Afrika, sowie die ökologischen und sozialen Kosten, etwa die Verringerung der pflanzlichen und tierischen Artenvielfalt und die Abhängigkeit der indigenen Kleinbauernfamilien von westlichen Technologiekonzernen.89

Landwirtschaft in der marktregulierten („neoliberalen“) ­Globalisierung (seit 1970/90) Die Energie- und Ernährungskrise der 1970er-Jahre signalisierte die Erosion des kapitalintensiven oder „produktivistischen“ Nahrungsregimes  ; sie äußerte sich in hochschnellenden Öl- und Getreidepreisen und hing mit einem Bündel teils bedingender, teils daraus folgender Faktoren zusammen  : mit großflächigen Missernten, massiven US-amerikanischen Weizenlieferungen an die Sowjetunion, weltweiten Einbrüchen des Produktionswachstums, dem Zusammenbruch des Bretton-WoodsSystems, Hungerkatastrophen in der Dritten Welt, überbordenden, kaum mehr zu finanzierenden Agrarsubventionen in den Industriestaaten, der Tripolarität zwischen den USA, Japan und der EG sowie dem Interessenkonflikt zwischen Natio­ 158

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 158

22.09.2010 07:50:19



Landwirtschaft

nal­staaten und internationalen Konzernen.90 Das daraus hervorgehende flexible oder „post-produktivistische“ Nahrungsregime hat bisher keine einheitliche Struktur gebildet, sondern umfasst mehrere, teils widersprüchliche Prozesse. Erstens entstand unter Federführung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der World Trade Organization (WTO), der Nachfolgeorganisation des GATT, ein globales Regelwerk für den Agrarhandel. Es folgte einer „neoliberalen“ Handelspolitik mit Verschärfung des Wettbewerbs für jene Nahrungsmittelproduzenten, ‑verarbeiter und ‑händler in den entwickelten Ländern, die jahrzehntelang unter dem Schutzmantel des Protektionismus agiert hatten. Zugleich traten neue Erzeugerländer auf (Brasilien, Thailand, Chile, Kenia, Mexiko usw.), in denen die Subsistenzlandwirtschaft für das Inland durch kommerzialisierte Exportproduktion verdrängt wurde. Folglich büßten die USA die seit dem Jahr 1945 erlangte Vorherrschaft im Handel mit Futter- und Nahrungsmitteln ein.91 Beispielsweise übertraf die seit den 1990er-Jahren boomende Sojabohnenproduktion in Brasilien, Argentinien und anderen südamerikanischen Ländern Anfang der 2000er-Jahre das Volumen der bislang führenden US-Produktion. Es wurde großteils genmanipuliertes Soja eines US-Saatgutkonzerns, das gegen ein Pflanzengift derselben Firma resistent ist, angebaut. Den Profiten aus Sojaanbau und ‑export standen die Gefährdung der Artenvielfalt und der Nahrungssicherheit der ansässigen Bevölkerung gegenüber. Haupttriebkraft des rasch wachsenden Produktionsangebots Südamerikas war die anhaltende Nachfrage nach dem proteinreichen Sojaschrot als Rinder-, Schweineund Geflügelfutter in der EU  ; weitere Abnehmer waren Chemie-, Ernährungsund andere Industrien. Der Sojahandel zwischen Südamerika und der EU lag in den Händen von nur vier Konzernen, drei US-amerikanischen und einem französischen.92 Zweitens erhielten innerhalb des neoliberalen Regelwerks agro-industrielle Unternehmen mehr Spielraum als bisher  ; sie lösten die Nationalstaaten als zentrale Regulatoren des Agrarsektors ab und stiegen zu global players – zu transnationalen Unternehmen (TNCs) – auf. Durch den flexiblen Einsatz von Kapital können sie rasch auf Änderungen der Produktions- und Konsumtionsbedingungen reagieren. Sie stehen nicht nur im Wettbewerb untereinander, sondern auch mit den an Einfluss verlierenden Nationalstaaten und nichtstaatlichen Organisationen (NGOs).93 Ein Beispiel stellt die Firma Parmalat dar, die von einer italienischen Handelsgesellschaft zu einem transnationalen Konzern in der Milchindustrie aufgestiegen war. Seine Drei-Ebenen-Netzwerkarchitektur war paradigmatisch für die ‚flexibel‘ regulierte Kapitalakkumulation der Globalisierungsära seit den 1990er-Jahren  : Auf der ersten Ebene generierten Produzenten und Konsumenten in verschiedenen Ländern, die über das weitgespannte Verarbeitungs- und Verteilungsnetz auf der 159

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 159

22.09.2010 07:50:19

Landwirtschaft

zweiten Ebene verknüpft waren, ‚reale‘ Werte. Das parteipolitisch und finanzökonomisch eng verflochtene Kontrollzentrum auf der dritten Ebene (Parmalat Finanziaria) saugte die ‚realen‘ Werte auf und suchte sie im globalen Finanzsystem in ‚virtuelle‘ (Mehr‑)Werte zu verwandeln – eine Strategie, die im Jahr 2003 in einen Finanzcrash des Konzerns mündete (Abb. 11).94

Abb. 11: Parmalat als Drei-Ebenen-Netzwerk ‚flexibler‘ Kapitalakkumulation Quelle  : Ploeg, Peasantries, 94.

Drittens durchdrang die Biotechnologie immer mehr Bereiche der Nahrungsproduktion  ; im Extrem geht dies bis zur gentechnischen Manipulation von Feldfrüchten und Nutztieren. Die Folge sind weitere Verluste an genetischer Vielfalt, wie sie seit der „Grünen Revolution“ verzeichnet wurde  ; so etwa verringerten sich die in Sri Lanka angebauten Reissorten von etwa 2.000 Ende der 1950er-Jahre auf gegenwärtig weniger als hundert.95 Gleichzeitig wuchs die Nachfrage nach „frischen“ und „biologischen“ – das heißt regional und ohne Chemieeinsatz hergestellten – Nahrungsmitteln. In diesen gegenläufigen Trends äußert sich die Segmentierung des Nahrungsmittelmarktes in agro-industriell produzierte Massenware für die „neo-fordistischen“, mit erhöhter Kaufkraft ausgestatteten Konsumentengruppen in den Schwellenländern des Südens und den Transformationsländern des ehemaligen „Ostblocks“ einerseits, in regionale und „Bio-Produkte“ für die noch kaufkräf160

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 160

22.09.2010 07:50:20



Landwirtschaft

tigeren, ‚postmaterialistische‘ Lebensstile pflegenden Mittel- und Oberschichten in den Industrieländern des Nordens andererseits.96 Viertens wurden im Zuge der Liberalisierungsbestrebungen der WTO in den meisten Industrieländern, so auch in der Europäischen Union, die Preisstützungen abgebaut, um die Produktion vom Einkommen zu entkoppeln  ; an ihre Stelle traten (supra-)staatliche Transferzahlungen für außerökonomische Leistungen. Damit kamen zur Produktionsfunktion der Landwirtschaft weitere Funktionen wie die Kulturlandschaftspflege, die Förderung der Nachhaltigkeit oder die Garantie gesellschaftlich anerkannter Werte wie Gesundheit und Regionalität hinzu.97 Im veränderten politisch-ökonomischen Rahmen bildeten unternehmerisch und bäuerlich orientierte Familienbetriebe Patchworks „produktivistischer“ und „post-produktivistischer“ Wirtschaftsstile aus.98 Dennoch verzerren die Agrarsubventionen der Industrieländer weiterhin die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel  ; das raubt vor allem den Entwicklungsländern mit ihren hohen Anteilen ländlicher Bevölkerung Export- und damit Entwicklungschancen (Tab. 1).99 Das „neoliberale“ Versprechen, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert öffnende Preisschere von Agrar- und Industrieprodukten würde sich auf dem liberalisierten Weltmarkt schließen, hat sich nicht erfüllt  ; während in den Jahren 1980 bis 2000 die Agrarpreise im Schnitt um 55 Prozent fielen, stiegen die Preise ausgewählter Industrieprodukte in den fünf führenden Industriestaaten (G5) um 40 Prozent.100 Tab. 1: Anteil der Landbevölkerung an der Weltbevölkerung 1950–2030 (Prozent) 1950

1970

1990

2010

2030

Entwicklungsländer

83

76

66

54

43

Schwellenländer

62

47

36

30

23

Industrieländer

38

27

24

21

16

Welt

70

63

57

48

39

Quelle  : Buckland, Ploughing, 18.

Rück- und Ausblick Dieser Beitrag unterscheidet vier Phasen der globalen Agrarentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert  : die Protoglobalisierung (ca. 1800–1870/90), die kolonialstaatlich regulierte Globalisierung (1870/90–1930/50), die industriestaatlich regulierte Globalisierung (1930/50–1970/90) und die marktregulierte („neoliberale“) Globalisierung (seit 1970/90). Diese Phasen lassen sich anhand vorherrschender Merkmale von161

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 161

22.09.2010 07:50:20

Landwirtschaft

einander unterscheiden  : Stoffwechsel, Agrarwachstum, Sozialorganisation, Leitprodukte, Produktketten, Regulationsebene sowie Agrardiskurs und -politik. Aus den Beziehungen dieser Merkmale formieren sich Entwicklungsweisen von Agrarsystemen, die mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsweisen – liberal-kapitalistischen, fordistisch-kapitalistischen und neoliberal-kapitalistischen101 – korrespondieren (Tab. 2). Freilich müssen wir dabei beachten, dass diese Entwicklungsweisen zeitlich und räumlich unterschiedlich ausgeprägt waren  ; zudem unterliegt diese Perspektive der eurozentrischen Gefahr, das Aktionspotenzial der (post‑)kolonial abhängigen Länder zu unterschätzen. Sehen wir darin ein Modell, das unseren Blick zu orientieren vermag, zugleich aber für Korrekturen und Ergänzungen offen bleibt. Tab. 2: Globale Entwicklungsweisen von Agrarsystemen 1800–2010 Proto­ globalisierung (1800–1870/90)

kolonialstaatlich regulierte ­Globalisierung (1870/90–1930/50)

industriestaatlich regulierte ­Globalisierung (1930/50–1970/90)

marktregulierte („neoliberale“) ­Globalisierung (seit 1970/90)

Stoffwechsel

solarenergetischagrarisch

Übergang zum industriellen Regime

fossilenergetischindustriell

Übergang zum ‚postindustriellen‘ ­Regime (  ?)

Agrar­ wachstum

arbeitsintensiv

extensiv (weiße Siedlerkolonien)

kapitalintensiv- (land/arbeits­sparend)

flexibel

Sozial­ organisation

unternehmerisch (Agrarkapitalismus)

bäuerlich (ohne econo­mies of scale)

bäuerlich (mit econo­ mies of scale)/ kollektiviert

unter­nehmerisch/ bäuerlich

Leitprodukte

Getreide

Getreide, Fleisch

Getreide, Fleisch, Fertig- und Haltbarprodukte

industriell ver­arbeitete und Bio-Pro­dukte

Produktkette

Grundversorgung urban-industrieller Zentren

Exporte von weißen Siedlerkolonien nach Europa

subventionierter Überschussexport aus Industriestaaten

Segmentierung des Weltmarktes nach Quantität/Qualität

Regulationsebene

regional-nationalstaatlich

nationalstaatlichinternational

nationalstaatlichinternational

supranational (EU) und global (TNCs und WTO)

protektionistisch

dirigistisch

(neo-)liberal

Agrardiskurs/ liberal -politik

Quelle  : Eigene Darstellung.

Dieser Beitrag erzählt die „Erfolgsgeschichte“ der Landwirtschaft, des Ausbrechens aus der von Thomas Robert Malthus an die Wand gemalten Hungerfalle, und ihre weniger glanzvollen Episoden in den letzten zwei Jahrhunderten. Ob die Ernäh162

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 162

22.09.2010 07:50:20



Landwirtschaft

rungskrise des Jahres 2008, als die Grundnahrungsmittelpreise weltweit emporschnellten und Hungerproteste auslösten, ein ‚Ausreißer‘ oder eine Trendwende war, ist umstritten. ‚Neo-malthusianische‘ Kommentatoren, die das End of Food im Zuge einer globalen Hungerkrise prophezeien, sind bereits auf den Plan getreten.102 In ‚neo-boserupianischer‘ Weise versprechen andere Food for All im Zuge einer „Grünen Revolution“ des 21. Jahrhunderts.103 Differenziertere Stimmen halten das Ernährungsproblem der bis zur Jahrhundertmitte auf neun bis zehn Milliarden anwachsenden Weltbevölkerung allein auf der Produktionsseite, etwa durch Produktivitätssteigerungen mittels Biotechnologie, für nicht lösbar  ; dazu bedürfte es auch Maßnahmen aufseiten der Distribution, etwa durch mehr Handelsgerechtigkeit für die Entwicklungsländer, und des Konsums, etwa durch die Reduktion des Verbrauchs an Fleisch, dessen Produktion ein Vielfaches der Fläche einer gleichwertigen Getreidemenge erfordert, in den Schwellen- und Industrieländern.104 Eines scheint gewiss  : Eine gleichermaßen ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltige Lösung der „Agrarfrage(n)“ des 21. Jahrhunderts105 stellt eine der Nagelproben der „Weltrisikogesellschaft“106 dar.

Anmerkungen 1 Vgl. Food and Agriculture Organization (FAO), The State of Food Insecurity in the World, Rom 2000. 2 Vgl. Thomas Robert Malthus, Das Bevölkerungsgesetz, München 1977 [1798]. Zur daran anschließenden Theoriedebatte vgl. Ran Abramitzky/Fabio Braggion, Malthusian and Neo-Malthusian Theories, in  : Joel Mokyr, Hg., The Oxford Encyclopedia of Economic History, Bd. 3, Oxford 2003, 423–427. 3 Vgl. Giovanni Federico, Feeding the World. An Economic History of Agriculture, 1800–2000, Princeton/Oxford 2005, 1. 4 Zur Konzeption von Landwirtschaft als „Agrarsystem“ vgl. Ernst Langthaler, Agrarsysteme ohne Akteure  ? Sozialökologische und sozialökonomische Modelle in der Agrargeschichte, in  : Andreas Dix/ders., Hg., Grüne Revolutionen. Agrarsysteme und Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 3), Innsbruck/Wien/Bozen 2006, 216–238  ; ders., Ökotypen, in  : Friedrich Jaeger, Hg., Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 9, Stuttgart 2009, Sp. 419–423  ; Erich Landsteiner/ders., Agrosystems and Labour Relations, in  : dies., Hg., Agrosystems and Labour Relations in European Rural Societies (Middle Ages–Twentieth Century) (Rural History in Europe 3), Turnhout 2010, 13–29. 5 Vgl. David Grigg, The Agricultural Systems of the World. An Evolutionary Approach, Cambridge 1974, 24 ff.  ; Alfred W. Crosby, Ecological Imperialism. The Biological Expansion of Europe, 900– 1900, Cambridge 1986. 6 Vgl. Grigg, Systems, 45 ff. 7 Zum Begriff der „Globalisierung“ vgl. Peter E. Fäßler, Globalisierung. Ein historisches Kompendium, Köln/Weimar/Wien 2007, 29 ff. Der Autor unterscheidet, nach der „Protoglobalisierung“

163

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 163

22.09.2010 07:50:20

Landwirtschaft

(1500–1840), eine „erste“ (1840–1914), „zweite“ (1945–1989/90) und „dritte Globalisierungsphase“ (seit 1990). Diese Periodisierung liegt, mit einigen gegenstandsbedingten Anpassungen, auch diesem Beitrag zugrunde.   8 Zu den Entwicklungstrends der globalen Agrarentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert vgl. Federico, Feeding, 221 ff.   9 Vgl. Eric Vanhaute, The End of Peasantries  ? Rethinking the Role of Peasantries in a World-Historical View, in  : Review of the Fernand Braudel Center, 31 (2008) H. 1, 39–59, http  ://mpra.ub.uni-muen chen.de/13291/ (11.3.2010)  ; ders., Who is afraid of global history  ? Ambitions, pitfalls and limits of learning global history, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 20 (2009), 22–39. 10 Einen der gängigsten Interpretationsansätze des weltweiten Booms der Agrarproduktion im späten 19. und im 20. Jahrhundert bietet das entwicklungsökonomische Konzept der induzierten Innovation (induced innovation) (Yujiro Hayami/Vernon W. Ruttan, Agricultural Development. An International Perspective, 2. Aufl., Baltimore/London 1985). Das an liberale Modernisierungstheorien (Walt W. Rostow, The Stages of Economic Growth  : A Non-Communist Manifesto, Cambridge 1960) angelehnte Konzept besagt, dass das Wachstum der Agrarproduktion nur regional und kurzfristig auf der Ausdehnung der Landwirtschaftsfläche beruhte (extensives Wachstum)  ; global und langfristig gesehen, war die steigende Produktivität – die Produktionsmenge pro Arbeitskraft oder Fläche – durch den Einsatz moderner Technologien die entscheidende Triebkraft (intensives Wachstum). Welche Art von Technologie (organisch-landsparend oder mechanisch-arbeitssparend) vorrangig eingesetzt wird, wird durch die jeweiligen Knappheiten an Land und Arbeit bestimmt („induziert“). 11 Einen Interpretationsansatz, der auf die vor- und nachgelagerten Verflechtungen des Agrarsektors im späten 19. und im 20. Jahrhundert fokussiert, bietet das politisch-ökonomische Konzept der Nahrungsregimes (food régimes). Es beschreibt drei Phasen der internationalen Agrarentwicklung seit den 1870er-Jahren  : die erste bis zum Zeitalter der Weltkriege, die zweite von den 1940er- bis zu den 1970er-Jahren und die dritte seit den 1980er Jahren. Das an die neomarxistische Regulationstheorie (Robert Boyer/Yves Saillard, Hg., Régulation Theory. The State of the Art, London/New York 2002  ; Gilles Allaire/Robert Boyer, Hg., La Grande Transformation de l’agriculture, Paris 1995) angelehnte Konzept behauptet, dass jede Form der Akkumulation als Zusammenhang von Produktion, Distribution und Konsumtion von Waren einer darauf abgestimmten Form der Regulation als Zusammenhang von formalen und informellen Regeln bedarf  ; dieses Zusammenspiel hält das Nahrungsregime, das sich in einer vorangegangenen Krise formiert hat, so lange aufrecht, bis es in einer kommenden Krise aufgelöst wird. Als ein Schlüsselakteur erscheint der Nationalstaat  : Einerseits vermittelt er im Inneren zwischen rivalisierenden Klasseninteressen  ; andererseits bestimmen die internationalen Beziehungen die Agrarentwicklung entscheidend mit (Peter Atkins/Ian Bowler, Food in Society. Economy, Culture, Geography, London 2001, 23 ff.  ; Harriet Friedmann/Philipp McMichael, Agriculture and the state system  : the rise and decline of national agriculture, 1870 to present, in  : Sociologia Ruralis 29 (1989), 93–117  ; Richard Le Heron, Globalized agriculture  : political choice, Oxford 1993). 12 Das sozialökologische Konzept des sozialmetabolischen Regimes fokussiert auf den Stoffwechsel („Metabolismus“) – die Material- und Energieflüsse – zwischen Natur und Gesellschaft, die durch die vorherrschende Produktions- und Konsumtionsweise quantitativ und qualitativ bestimmt werden. Davon abgeleitet werden drei große Phasen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse mit revolutionären Übergängen unterschieden  : das Regime der Jäger- und Sammlergesellschaften, das aus der Neo­ lithischen Revolution hervorgehende Regime der Agrargesellschaften und das aus der Industriellen Revolution hervorgehende Regime der Industriegesellschaften. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Jäger- und Sammler- sowie dem agrarischen Regime auf der einen Seite und dem industriellen Regime auf der anderen Seite besteht in der hauptsächlichen Nutzung der auf Sonnenenergie

164

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 164

22.09.2010 07:50:20



Landwirtschaft

basierenden Fotosynthese bzw. von fossilen Energieträgern (Kohle, Erdöl, Erdgas usw.) Vgl. Rolf Peter Sieferle u. a., Das Ende der Fläche. Zum gesellschaftlichen Stoffwechsel der Industrialisierung, Köln/Weimar/Wien 2006, 7 ff. 13 Siehe das Kapitel 1 (Gesellschaftliche Naturverhältnisse) dieses Bandes. 14 Diesem Konzept folgt auch ein auf die Globalisierungsära bezogener Aufsatz, den der vorliegende Beitrag um die Zeit der Protoglobalisierung seit 1800 erweitert  : Ernst Langthaler, Landwirtschaft in der Globalisierung (1870–2000), in  : Markus Cerman/Ilja Steffelbauer/Sven Tost, Hg., Agrarrevolutionen. Verhältnisse in der Landwirtschaft vom Neolithikum zur Globalisierung, Innsbruck/Wien/ Bozen 2008, 249–270. 15 Vgl. Michael Turner, Cereals, in  : Mokyr, Hg., Encyclopedia, Bd. 1, 383–386. 16 Vgl. Grigg, Systems, 1 ff  ; ders., Agricultural Production Systems, in  : Mokyr, Hg., Encyclopedia, Bd. 1, 85–88. 17 Vgl. Michael Mitterauer, Warum Europa  ? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003, 17 ff.  ; ders., Roggen, Reis und Zuckerrohr. Drei Agrarrevolutionen des Mittelalters im Vergleich, in  : Cerman/Steffelbauer/Tost, Hg., Agrarrevolutionen, 152–172. 18 Vgl. Folke Dovring, The Transformation of European Agriculture, in  : H. J. Habakkuk/M. Postan, Hg., The Cambridge Economic History of Europe, Bd. 4  : The Industrial Revolutions and After, Cambridge 1965, 604–672. 19 Zur Forschungsgeschichte vgl. Erich Landsteiner, Landwirtschaft und wirtschaftliche Entwicklung 1500–1800  : Eine Agrarrevolution in der Frühen Neuzeit  ?, in  : Cerman/Steffelbauer/Tost, Hg., Agrarrevolutionen, 173–205, hier 181 ff. 20 Vgl. Mark Overton, Agricultural Revolution in England. The Transformation of the Agrarian Economy 1500–1850, Cambridge 1996  ; Robert C. Allen, Agriculture during the industrial revolution, 1700–1850, in  : R. Floud/P. Johnson, Hg., The Cambridge Economic History of Modern Britain, Bd. 1, Cambridge 2004, 95–116. 21 Vgl. Jean-Marc Moriceau, Les fermiers de l’Île-de-France, XVe–XVIIIe siècles, Paris 1994   ; Philip T. Hoffman, Growth in a Traditional Society. The French Countryside 1450–1815, Princeton 1996. 22 Vgl. Michael Kopsidis, Marktintegration und Entwicklung der westfälischen Landwirtschaft 1780– 1880. Marktorientierte ökonomische Entwicklung eines bäuerlich strukturierten Agrarsektors, Münster 1996  ; ders., Agrarentwicklung. Historische Agrarrevolutionen und Entwicklungsökonomie, Stuttgart 2006, 277 ff. 23 Vgl. A. J. H. Latham, Rice Farming, in  : Mokyr, Hg., Encyclopedia, Bd. 4, 378–380. 24 Vgl. James C. McCann, Agriculture  : Africa, in  : Peter N. Stearns, Hg., The Oxford Encyclopedia of the Modern World. 1750 to the Present, Bd. 1, Oxford 2008, 66–70  ; Penelope Francks, Agriculture  : East Asia, in  : ebd., 70–73  ; Erick D. Langer, Agriculture  : Latin America, in  : ebd., 73–76  ; Peter Robb, Agriculture  : South Asia, in  : ebd., 79–83  ; Jonathan D. Rigg, Agriculture  : Southeast Asia, in  : ebd., 83–87. 25 Vgl. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 318 f. 26 Vgl. Grigg, Systems, 56. 27 Vgl. Ester Boserup, The Conditions of Agricultural Growth. The Economics of Agricultural Change under Population Pressure, London 1965. 28 Vgl. Grigg, Systems, 45 ff., 168 ff. 29 Vgl. Stefan Brakensiek/Gunter Mahlerwein, Agrarreformen, in  : Friedrich Jaeger, Hg., Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart 2005, Sp. 122–131. 30 Vgl. Ernst Bruckmüller, Eine „grüne Revolution“ (18.–19. Jahrhundert), in  : Cerman/Steffelbauer/ Tost, Hg., Agrarrevolutionen, 206–226, hier 215 ff. 31 Vgl. Kopsidis, Agrarentwicklung, 136 ff.

165

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 165

22.09.2010 07:50:20

Landwirtschaft

32 Vgl. Michael Kopsidis, Agrarindividualismus, in  : Friedrich Jaeger, Hg., Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart 2005, Sp. 105–107. 33 Vgl. Robert C. Allen, Agricultural Revolution  : Europe, in  : Mokyr, Hg., Encyclopedia, Bd. 1, 42–45  ; Frank Konersmann, Agrarrevolution, in  : Friedrich Jaeger, Hg., Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart 2005, Sp. 131–136. 34 Vgl. Dovring, Transformation, 647 f., 654 f.  ; Smil, Enriching, 39 ff. 35 Zur entwicklungsökonomischen Diskussion über arbeits- und kapitalintensive Pfade des Agrarwachstums vgl. Kopsidis, Agrarentwicklung, 64 ff. 36 Zum Zusammenhang von Stickstoffkreislauf und Landwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert vgl. Vaclav Smil, Enriching the Earth. Fritz Haber, Carl Bosch, and the Transformation of World Food Production, Cambridge/London 2001. 37 Die „Norfolker Vierfelderwirtschaft“ war nur eine, wenn auch die bekannteste Variante der Fruchtwechselwirtschaft  ; zu weiteren Varianten vgl. Marcel Mazoyer/Laurence Roudart, A History of World Agriculture from the Neolithic Age to the Current Crisis, New York 2006, 323 ff. 38 Vgl. Liam Brunt, Crop Rotation, in  : Mokyr, Hg., Encyclopedia, Bd. 2, 47–50  ; ders., Mixed Farming, in  : Mokyr, Hg., Encyclopedia, Bd. 3, 527–529  ; Gunter Mahlerwein, Fruchtfolgen, in  : Friedrich Jaeger, Hg., Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, Stuttgart 2006, Sp. 77–79  ; Werner Troßbach, Landwirtschaft, in  : Friedrich Jaeger, Hg., Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 7, Stuttgart 2008, Sp. 580–605, hier Sp. 588 ff.  ; Ulrich Pfister, Nutzungssystem, in  : Friedrich Jaeger, Hg., Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 9, Stuttgart 2009, Sp. 282–285. 39 Vgl. Kopsidis, Agrarentwicklung, 250 f. 40 Vgl. Michael Turner, Crop Yields, in  : Mokyr, Hg., Encyclopedia, Bd. 2, 49–52. 41 Vgl. Landsteiner, Landwirtschaft, 186. 42 Vgl. Cormac O’Grada/Richard Paping/Eric Vanhaute, Hg., When the Potato Failed. Causes and Effects of the Last European Subsistence Crisis, 1845–1850 (CORN Publication Series 9), Turnhout 2007. 43 Vgl. Niek Koning, The Failure of Agrarian Capitalism. Agrarian politics in the UK, Germany, the Netherlands and the USA, 1846–1919, London/New York 1994, 11 ff., 40 ff. 44 Vgl. Werner Conze, Bauer, Bauernstand, Bauerntum, in  : Otto Brunner/ders./Reinhart Koselleck, Hg., Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, 407–439. 45 Vgl. Frank Konersmann, Agrarkapitalismus, in  : Friedrich Jaeger, Hg., Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart 2005, Sp. 107–109. 46 Vgl. Fäßler, Globalisierung, 74 ff. 47 Vgl. Grigg, Systems, 48. 48 Vgl. Atkins/Bowler, Food, 25. 49 Eigene Berechnungen nach F. Lange, Landwirtschaftlich Statistischer Atlas, Berlin 1917, Karte 70. Die Angaben erfassen nur ausgewählte Länder  ; zudem ist der Reisanbau und -handel nicht erfasst. 50 Vgl. Kevin O’Rourke, The European Grain Invasion, 1870–1923, in  : Journal of Economic History 57 (1997), 775–801. 51 Vgl. Grigg, Systems, 45, 261. 52 Vgl. Atkins/Bowler, Food, 25 f. 53 Eigene Berechnungen nach Lange, Atlas, Karte 70. Die deutschen Netto-Importe bestanden großteils aus Futtergetreide  ; bei Brotgetreide war das Deutsche Reich relativ autark. 54 Vgl. Landsteiner, Landwirtschaft, 197 ff.  ; Zu unterschiedlichen Logiken bäuerlichen Wirtschaftens aus entwicklungsökonomischer Perspektive vgl. Frank Ellis, Farm Economics. Farm Households in Agrarian Development, Cambridge 1993, 61 ff.

166

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 166

22.09.2010 07:50:20



Landwirtschaft

55 Vgl. Langthaler, Landwirtschaft, 249 ff. 56 Vgl. Hans-Jürgen Puhle, Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften (Kri­ tische Studien zur Geschichtswissenschaft 16), Göttingen 1975, 28 ff. 57 Vgl. Koning, Failure, 71 ff. 58 Vgl. Brian Ilbery/Ian Bowler, From agricultural productivism to post-productivism, in  : Brian Ilbery, Hg., The Geography of Rural Change, London 1998, 57–84, hier 61. 59 Vgl. Koning, Failure, 84 ff. 60 Vgl. Rita Aldenhoff-Hübinger, Agrarpolitik und Protektionismus  : Deutschland und Frankreich im Vergleich 1879–1914, Göttingen 2002. 61 Vgl. Koning, Failure, 113 ff. 62 Vgl. Alexander Nützenadel, A Green International  ? Food Markets and Transnational Politics, c. 1850–1914, in  : ders./Frank Trentmann, Hg., Food and Globalization. Consumption, Markets and Politics in the Modern World, Oxford/New York 2008, 153–171, hier 160 ff. 63 Vgl. Hayami/Ruttan, Development, 73 ff. 64 Vgl. Hayami/Ruttan, Development, 467 ff. 65 Vgl. Hayami/Ruttan, Development, 117 ff.  ; David Grigg, The Transformation of Agriculture in the West, Oxford 1992. 66 Zur wirtschaftshistorischen Debatte über die Effekte der Agrarentwicklung auf die Entwicklung der Gesamtwirtschaft vgl. Federico, Feeding, 222 ff. 67 John H. Davis/Ray A. Goldberg, A Concept of Agribusiness, Boston 1957, 2. 68 Dieses Forschungsproblem war Gegenstand der internationalen Konferenz Rural Change in Europe between 1935 and 1955 in Leuven/Belgien 2009, deren Ergebnisse demnächst publiziert werden. 69 Am Beispiel Ost- und Westdeutschlands vgl. Arnd Bauerkämper, Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Eine Bilanz der Jahre 1945–1965, in  : Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 38/97, 12. September 1997, 25–37. 70 Vgl. John Martin, The Development of Modern Agriculture. British Farming since 1931, London 2000, 67 ff. 71 Zum „Produktivismus“ vgl. Ilbery/Bowler, productivism. 72 Vgl. Hayami/Ruttan, Development, 117 ff. 73 Vgl. Sieferle u. a., Ende, 104 ff. 74 Vgl. Willard W. Cochrane, The Development of American Agriculture  : A Historical Analysis, 2. Aufl., Minneapolis 2003. 75 Vgl. Atkins/Bowler, Food, 27 f.  ; Sarah Whatmore, From Farming to Agri-Business. The Global Agro-Food-System, in  : R. J. Johnston/Peter J. Taylor/Michael J. Watts, Hg., Geographies of Global Change, Oxford 1995, 36–49  ; David Goodman/Michael Watts, Hg., Globalising Food. Agrarian Questions and Global Restructuring, London/New York 1997  ; David Goodman/Bernardo Sorj/ John Wilkinson, From Farming to Biotechnology. A Theory of Agro-Industrial Development, Oxford/New York 1987. 76 Vgl. Atkins/Bowler, Food, 28. 77 Vgl. Atkins/Bowler, Food, 28 f.  ; Guido Thiemeyer, Vom „Pool Vert“ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Europäische Integration, Kalter Krieg und die Anfänge der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik 1950–1957, München 1999  ; Ann-Christina L. Knudsen, Farmers on Welfare. The Making of Europe’s Common Agricultural Policy, Ithaca/London 2009  ; Kiran Klaus Patel, Hg., Fertile Ground for Europe  ? The History of European Integration and the Common Agricultural Policy since 1945, Baden-Baden 2009  ; Carmen Sarasúa/Peter Scholliers/Leen Van Molle, Hg., Land, shops and kitchen. Technology and the food chain in twentieth century Europe, Turnhout 2005  ;

167

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 167

22.09.2010 07:50:20

Landwirtschaft

Andreas Dix/Ernst Langthaler, Hg., Grüne Revolutionen. Agrarsysteme und Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 3), Innsbruck 2006. 78 Vgl. Hayami/Ruttan, Development, 164 ff. 79 Vgl. Hayami/Ruttan, Development, 163 ff. 80 Vgl. Federico, Feeding, 143 ff. 81 Vgl. Hayami/Ruttan, Development, 208 ff.  ; Cochrane, Development. 82 Vgl. Hayami/Ruttan, Development, 231 ff.  ; Yujiro Hayami/Saburo Yamada, Hg., The Agricultural Development of Japan, Tokyo 1991. 83 Vgl. Hayami/Ruttan, Development, 138 ff.  ; Robert McC. Netting, Smallholders, Householders. Farm Families and the Ecology of Intensive, Sustainable Agriculture, Stanford 1993.   84 Vgl. Boserup, Conditions.   85 Als Überblick vgl. Peter B. R. Hazell, Green Revolution, in  : Mokyr, Hg., Encyclopedia, Bd. 2, 478–480  ; Felicia Wu, Green Revolution, in  : Stearns, Hg., Encyclopedia, Bd. 3, 506–508  ; Murray J. Leaf, Green Revolution, in  : Shepard Krech III u. a., Hg., Encyclopedia of World Environmental History, Bd. 1, London/New York 2004, 615–619.   86 Vgl. Hayami/Ruttan, Development, 255 ff.  ; Carl K. Eicher/ John M. Staatz, Hg., International Agricultural Development, 3. Aufl., Baltimore/London 1998.   87 Vgl. Hayami/Ruttan, Development, 299 ff.   88 Vgl. Hayami/Ruttan, Development, 294 ff.   89 Vgl. Kenneth A. Dahlberg, Beyond the Green Revolution  : The Ecology and Politics of Global Agricultural Development. New York 1979  ; Keith Griffin, The Political Economy of Agrarian Change  : An Essay on the Green Revolution. London 1979.   90 Vgl. Christian Gerlach, Die Welternährungskrise 1972–1975, in  : Geschichte und Gesellschaft 31 (2005), 546–585.   91 Vgl. Atkins/Bowler, Food, 29 ff.   92 Vgl. Jan Willem van Gelder/Jan Maarten Dros, Corporate actors in the South American soy production chain (2003), http  ://www.profundo.nl/downloads/soy1.pdf (5.1.2008).   93 Vgl. Whatmore, Farming.   94 Vgl. Jan Douwe van der Ploeg, The New Peasantries. Struggles for Autonomy and Sustainability in an Era of Empire and Globalization, London 2008, 87 ff.   95 Vgl. Jerry Buckland, Ploughing Up the Farm. Neoliberalism, Modern Technology and the State of the World’s Farmers, London/New York 2004, 40.   96 Vgl. Goodman/Watts, Food.   97 Vgl. Atkins/Bowler, Food, 29 ff.  ; Ilbery/Bowler, productivism  ; Philipp McMichael, Hg., The Global Restructuring of Agro-Food-Systems, Ithaca 1995  ; Nick Evans/Carol Morris/Michael Winter, Conceptualizing agriculture  : a critique of post-productivism as the new orthodoxy, in  : Progress in Human Geography 26 (2002), 313–332  ; Terry Marsden/Paul Lowe/Sarah Whatmore, Hg., Rural Restructuring. Global Processes and their Responses, London 1990.   98 Vgl. Ploeg, Peasantries, 261 ff.   99 Vgl. Buckland, Ploughing, 97 ff. 100 Vgl. Buckland, Ploughing, 68. 101 Siehe die Einleitung dieses Bandes. 102 Vgl. Paul Roberts, The End of Food. The Coming Crisis in the World Food Industry, London/Berlin/New York 2009. 103 Vgl. Gordon Conway, The Doubly Green Revolution. Food for All in the Twenty-First Century, Ithaca 1997.

168

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 168

22.09.2010 07:50:20



Landwirtschaft

104 Vgl. Wilfried Bommert, Kein Brot für die Welt. Die Zukunft der Welternährung, München 2009  ; Smil, Enriching, 214 ff. 105 Einen Überblick über aktuelle Zukunftsszenarien der Agrarentwicklung bieten die Analysen folgender supranationaler Organisationen  : der Weltbank (Weltbank, Hg., Weltentwicklungsbericht 2008  : Agrarwirtschaft für Entwicklung, Düsseldorf 2008), der FAO (Jelle Bruinsma, Hg., World agriculture  : towards 2015/30. An FAO perspective, London 2003) und des Herausgebergremiums des Weltagrarberichts (Bevery D. McIntyre u. a., Hg., Agriculture at a Crossroads. Global Report, Washington 2009). 106 Vgl. Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft, Frankfurt am Main 2007.

169

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 169

22.09.2010 07:50:20

Ford Model T, ab 1908 produziert. Massenproduktion und -konsum von Personenkraftwagen geben dem ­K apitalismus ein neues Gesicht. So entsteht – zunächst in den USA – eine konsumorientierte (fordistische) Arbeitsmoral. Ein „Ford Model T“ auf einer Ausfahrt des Model T Ford Club of America im Jahr 2008. Foto: Skip Peterson, Bildrechte: Skip Peterson/Polaris/laif

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 170

22.09.2010 07:50:22

Kapitel 5

Wirtschaft: Wachstum und Struktur Gerd Hardach

Der Durchbruch zum wirtschaftlichen Wachstum 1800–1913 Die ungleiche Entwicklung

In der vorindustriellen Gesellschaft wechselten Expansionsphasen mit Zeiten der Stagnation oder auch des Rückgangs der wirtschaftlichen Aktivität, und die Produktion stieg langfristig nur langsam an. Die Industrielle Revolution löste im 19. Jahrhundert einen langfristigen wirtschaftlichen Wachstumsprozess aus. Die gesamtwirtschaftliche Produktion nahm mit zyklischen Schwankungen, im Trend aber nachhaltig zu.1 Das wirtschaftliche Wachstum war mit einem Strukturwandel der Wirtschaft verbunden. Mit steigenden Einkommen verschoben sich seit dem 19. Jahrhundert die Beschäftigung, die Investitionen und die Produktion vom primären zum sekundären Sektor, und seit dem späten 20. Jahrhundert vom sekundären zum tertiären Sektor. Wachstum und Strukturwandel der Wirtschaft waren ungleich über die Welt verteilt. In vielen Regionen gab es Abhängigkeit, Unterentwicklung und Armut. Eduardo Galeano schrieb in den 1970er-Jahren, die Entwicklung sei eine Reise mit mehr Schiffbrüchigen als Seefahrern.2 Paul Bairoch beschrieb die Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit mit dem Gegensatzpaar von „Siegen“ und „Enttäuschungen“.3 Die ungleiche wirtschaftliche Entwicklung in den verschiedenen Weltregionen ist ein zentrales Thema der Globalisierungsdebatte.4 Das Bevölkerungswachstum

In der vorindustriellen Welt nahm die Bevölkerung nur langsam zu. Die meisten Menschen lebten in Familien, und die Familien hatten viele Kinder. Die Geburtenraten waren daher in den vorindustriellen Gesellschaften hoch. Viele Menschen starben aber einen vorzeitigen Tod, oft schon in ihrer frühen Kindheit. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt war daher gering. Deshalb waren auch die Sterberaten hoch. Zwischen vielen Geburten und frühem Sterben blieb nur ein bescheidenes Bevölkerungswachstum.5 171

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 171

22.09.2010 07:50:22

Wirtschaft

Seit dem späten 18. Jahrhundert führten steigende Realeinkommen, effizientere Transportmöglichkeiten, die bei lokalen Ernährungskrisen einen wirksamen Ausgleich ermöglichten, und die Verbesserung der Gesundheitsvorsorge und der medizinischen Behandlung allmählich zu einem Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung, auch wenn Armut und Krisen immer wieder zu Rückschlägen führten. Die Geburtenrate blieb zunächst hoch und stieg in einigen Regionen sogar an, weil das Wirtschaftswachstum und die Differenzierung der Wirtschaftsstruktur die Familiengründung erleichterten. Durch das Bevölkerungswachstum nahm das Angebot an Arbeitskräften zu, und es gab eine wachsende Zahl von Konsumenten und Konsumentinnen. Der Schwerpunkt des Bevölkerungswachstums lag in ­Europa. Außerdem trug eine starke Auswanderung aus Europa zum Bevölkerungswachstum in anderen Regionen bei, vor allem in Amerika. 1820 lebten ungefähr eine Milliarde Menschen auf der Welt  ; bis 1913 stieg die Zahl auf 1,8 Milliarden. Im Durchschnitt nahm die Weltbevölkerung in dieser Zeit um 0,6 Prozent im Jahr zu.6 Die Verteilung der Bevölkerung auf die Weltregionen zeigt zu Beginn des 20. Jahrhunderts das große Gewicht der nicht industrialisierten Länder. 1913 lebten in den Industrieländern, zu denen man die europäischen Staaten, die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Japan zählte, 37 Prozent der Weltbevölkerung, in den nicht industrialisierten Ländern 63 Prozent.7 Wirtschaftliches Wachstum

Das Konzept des wirtschaftlichen Wachstums hat zwar in den Wirtschaftswissenschaften seit dem späten 18. Jahrhundert erhebliche Bedeutung. Die empirische Erfassung der gesamtwirtschaftlichen Produktion als Sozialprodukt, Inlandsprodukt oder Volkseinkommen begann aber erst Anfang des 20. Jahrhunderts, breitete sich seit den 1920er-Jahren aus und wurde seit den 1950er-Jahren weltweit standardisiert. Alle Versuche, das Wirtschaftswachstum zu quantifizieren, beruhen für weiter zurückliegende Epochen auf Schätzungen, und für viele Entwicklungsländer gilt diese Unsicherheit auch für das 20. Jahrhundert.8 In den ersten Jahrzehnten der Industriellen Revolution von 1820 bis 1870 nahm das reale Bruttoinlandsprodukt je Einwohner weltweit nur um bescheidene 0,5 Prozent im Jahr zu. In der Zeit von 1870 bis 1913 stieg die Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts je Einwohner auf 1,3 Prozent.9 Die Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Produktion beruhte auf der steigenden Zahl von Beschäftigten, auf dem vermehrten Einsatz von Kapital und Boden und auf einer allgemeinen Effizienzsteigerung, die mit dem Begriff des technischen 172

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 172

22.09.2010 07:50:22

Wirtschaft

Fortschritts bezeichnet wird. Der Beitrag des technischen Fortschritts zum wirtschaftlichen Wachstum bestand nicht allein in technischen Neuerungen im engeren Sinne, sondern ganz allgemein in Innovationen durch neue Produkte, neue Produktionsverfahren oder organisatorische Verbesserungen. Innovationen und Investitionen hingen eng zusammen, da die Einführung der Neuerungen erhebliche Investitionen erforderte. In den Industriegesellschaften wurde ein wesentlich größerer Teil der Produktion in die Erhaltung und Erweiterung des Kapitalstocks investiert als in den Agrargesellschaften. In den USA machten in den Jahren 1839 bis 1848 die Bruttoinvestitionen 14 Prozent des Bruttosozialprodukts aus  ; in der Zeit von 1899 bis 1909 stieg die Investitionsquote auf 22 Prozent des Bruttosozialprodukts.10 Tabelle 1: Das Wirtschaftswachstum in den Industrieländern (Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts je Einwohner in Prozent) 1820–70

1870–1913

1913–50

1950–73

1973–2003

USA

1,3

1,8

1,6

2,5

1,9

Westeuropa

1,0

1,4

0,8

4,1

1,9

Japan

��� 0,2

1,5

0,9

8,1

2,1

Quelle  : Angus Maddison, Contours of the world economy, 1–2030. Essays in macro-economic history, Oxford 2007, 383.

Die wirtschaftliche Entwicklung war in den verschiedenen Regionen der Welt sehr unterschiedlich. In den Industrieländern lebte zwar nur ein kleiner Teil der Weltbevölkerung, aber sie prägten wesentlich den Rhythmus der weltweiten wirtschaftlichen Entwicklung. Bereits in der Phase von 1820 bis 1870 wiesen die USA und Westeuropa ein relativ starkes Wirtschaftswachstum auf, das sich im Zeitraum von 1870 bis 1913 noch beschleunigte. Die nicht industrialisierten Länder verharrten in der Zeit von 1820 bis 1870 noch in der traditionellen Beschränkung. In der Expansionsphase von 1870 bis 1913 schloss sich Lateinamerika aber durch die steigenden Exporte von Lebensmitteln und Rohstoffen an das Wachstum der Industrieländer an. Dagegen nahm in den nicht industrialisierten Ländern Afrikas und Asiens die Produktion in dieser Zeit nur langsam zu.

173

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 173

22.09.2010 07:50:22

Wirtschaft

Tabelle 2: Das Wirtschaftswachstum in den Entwicklungsländern (Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts je Einwohner in Prozent) 1820–70

1870–1913

1913–50

1950–73

1973–2003

Indien

0

0,5

–0,2

1,4

3,1

Lateinamerika

0

1,9

1,4

2,6

0,8

��� 0,4

0,6

0,9

2,2

0,3

Afrika

Quelle  : Maddison, Contours of the world economy, 383.

Durch das unterschiedliche Wachstumstempo verschoben sich die Einkommensrelationen zwischen den verschiedenen Regionen der Welt. 1820 standen die USA nach dem Bruttoinlandsprodukt je Einwohner bereits an führender Stelle, gefolgt von Westeuropa, während Lateinamerika, China, Indien und Afrika im Pro-KopfEinkommen bereits deutlich zurücklagen. 1913 hatten die USA ihren Vorsprung gegenüberWesteuropa vergrößert, und die Industrieländer waren insgesamt den nichtindustrialisierten Ländern wirtschaftlich weit davongeeilt.11 Tabelle 3: Das Niveau des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner (USA = 100) 1820

1913

1950

2005

Westeuropa

96

65

48

69

Lateinamerika

55

28

26

20

Russland/SU

55

28

30

19

China

48

10

 � 5

17

Indien

42

13

 � 6

 � 7

Afrika

33

10

 9

 5

Quelle  : Maddison, Contours of the world economy, 382.

Krisen

Das wirtschaftliche Wachstum war nicht stetig, sondern folgte dem konjunkturellen Rhythmus von Aufschwungsphasen und Krisen. Wichtigste Krisenindikatoren waren eine nachlassende Wachstumsrate oder ein absoluter Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion und steigende Arbeitslosigkeit. Die gesamtwirtschaftlichen Fluktuationen verbanden sich in der Regel mit Bankzusammenbrüchen und Börsenkrisen.12 174

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 174

22.09.2010 07:50:22

Wirtschaft

Im liberalen Kapitalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts galt der Konjunk­ turzyklus als Normalität. Krisen wurden als notwendig erachtet, um Fehlinvestitionen zu korrigieren und ineffiziente Unternehmen aus dem Markt zu drängen. Damit wurden nach herrschender Auffassung die Voraussetzungen für einen neuen Aufschwung geschaffen. Es galt nicht als Aufgabe des Staates, den Krisen durch eine aktive Konjunkturpolitik entgegenzuwirken. Die meisten Krisen waren nach kurzer Zeit überwunden. Einige Krisen fielen aber durch einen ungewöhnlich scharfen Rückgang der Produktion und der Beschäftigung aus dem Rahmen und prägten so die Erinnerung. Der Konjunkturzyklus wurzelte im nationalen Markt, aber durch den Welthandel und die internationalen Kapitalbewegungen konnten sich stärkere Fluktuationen auf andere Länder ausweiten, im Aufschwung wie in der Krise. Die Krise von 1857 gilt als die erste Weltwirtschaftskrise. Seitdem kamen Weltwirtschaftskrisen häufiger vor, und sie nahmen an Intensität zu. Die Krisen von 1873, 1893 und 1907 hatten nach zeitgenössischen Begriffen weltweites Ausmaß.13 Der Strukturwandel der Wirtschaft

Im Prozess der Industrialisierung verschob sich der Schwerpunkt von Beschäftigung und Produktion von der Landwirtschaft zur Industrie und zum Dienstleistungssektor. Es wird geschätzt, dass in Europa um 1800 der primäre Sektor einen Anteil von 75 Prozent an den Beschäftigten hatte, der sekundäre Sektor 14 Prozent und der tertiäre Sektor 11 Prozent. Bis 1900 ging der Anteil des primären Sektors auf 61 Prozent zurück, während der Anteil des sekundären Sektors auf 21 Prozent und der Anteil des tertiären Sektors auf 18 Prozent stieg.14 Tabelle 4: Die Struktur der Beschäftigung in Großbritannien 1820–2005 Primärer Sektor

Sekundärer Sektor

Tertiärer Sektor

1820

37

33

30

1890

16

43

41

1950

 5

47

48

2005

 1

22

77

Quelle  : Maddison, Contours of the world economy, 76  ; International Labour Office, Yearbook of labour ­s tatistics 2007, Genf 2007, 187.

Der Strukturwandel verlief in den verschiedenen Ländern nicht gleichmäßig. In Großbritannien wurde die Beschäftigung in der Landwirtschaft schon im 19. Jahr175

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 175

22.09.2010 07:50:22

Wirtschaft

hundert stark zurückgedrängt. In den USA und in Westeuropa geschah der Wandel langsamer. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatten Industrieländer wie die USA, Deutschland oder Frankreich immer noch eine bedeutende Landwirtschaft. Tabelle 5: Die Struktur der Beschäftigung in den USA 1820–2006 Primärer Sektor

Sekundärer Sektor

Tertiärer Sektor

1820

70

15

15

1890

38

24

38

1950

13

33

54

2006

 � 2

21

77

Quelle  : Maddison, Contours of the world economy, 76  ; International Labour Office, Yearbook, 123.

Ganz anders verlief die Entwicklung in den Ländern der Peripherie. Im 19. Jahrhundert wurden die traditionellen Gewerbe durch die Importe aus den Industrie­ ländern verdrängt. In der Landwirtschaft entstand dagegen neben der Subsistenzwirtschaft ein exportorientierter Sektor, der viele Arbeitskräfte benötigte. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in den Ländern der Peripherie einzelne moderne Betriebe in der Textilindustrie, der Eisen- und Stahlindustrie und anderen Branchen gegründet. Die neuen Unternehmen blieben aber lange Zeit isoliert und führten nicht zu einer allgemeinen Expansion des Industriesektors.15 Tabelle 6: Die Struktur der Beschäftigung in den Entwicklungsländern 1900–1970 Primärer Sektor

Sekundärer Sektor

Tertiärer Sektor

1900

78

10

12

1950

73

10

17

1970

66

13

21

Quelle  : Paul Bairoch, The economic development of the third world since 1900, London 1977, 160.

Der Lebensstandard

Das Wachstum des Sozialprodukts war die Grundlage für eine langfristige Verbesserung des Lebensstandards. Es nahmen jedoch keineswegs alle Menschen am Anstieg der Realeinkommen teil. Die Einkommensverteilung wies große Unterschiede nach den sozialen Klassen, den Geschlechtern, den Generationen und den Regionen auf. 176

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 176

22.09.2010 07:50:22

Wirtschaft

Die kapitalistische Entwicklung führte zu einer Polarisierung von Kapital und Arbeit. Die Unternehmer und die Arbeiterklasse wurden die bestimmenden Klassen der Gesellschaft. Die Bedeutung der alten Mittelklasse der selbstständigen Bauern und Handwerker ging zurück. Zwischen Kapital und Arbeit entstand aber die neue Mittelklasse der Angestellten und Beamten. Eine Besonderheit in der kapitalistischen Weltwirtschaft des 19. Jahrhunderts war die Sklaverei. Der Sklavenhandel wurde zwar zu Beginn des 19. Jahrhunderts unterbunden. Die Sklavenarbeit blieb aber in den USA, in der Karibik und in Brasilien noch längere Zeit bestehen und gewann durch die Expansion des Weltmarktes sogar an Bedeutung. Sklaven produzierten in den Südstaaten der USA Baumwolle für den Export, auf Kuba Zucker, in Brasilien Zucker und Kaffee. Die Sklaverei wurde in den USA 1865 aufgehoben, in Kuba 1886 und in Brasilien 1888.16 In den Industrieländern wurden die Löhne und Gehälter die wichtigste Grundlage des Lebensstandards. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stiegen die Reallöhne in den Industrieländern insgesamt nur langsam an. Der Zunahme der Löhne in einigen Sektoren oder Regionen stand eine Abnahme in den Krisengebieten gegenüber, etwa in der Heimindustrie, die durch die Fabriken verdrängt wurde. Der Verbrauch gehobener Konsumgüter war ein bürgerliches Privileg. In den Haushalten der Arbeiterklasse dominierten die Ausgaben für die Lebensnotwendigkeiten. Auch in einem reichen Land wie den USA entfielen 1870 im Durchschnitt aller Haushalte 74 Prozent der Konsumausgaben auf Lebensmittel, Kleidung und Wohnung.17 Seit dem späten 19. Jahrhundert nahmen die Reallöhne mit dem Wachstum des Sozialprodukts stetig zu.18 Parallel zum Anstieg der Reallöhne wurde in den Industriegesellschaften seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die moderne Sozialpolitik entwickelt. Sie umfasste die Regulierung der Arbeitsbeziehungen und die sekundäre Einkommensverteilung durch den Staat. Die Markteinkommen aus Erwerbstätigkeit oder Vermögen wurden durch öffentliche Transferleistungen ergänzt.19

Kriege und Krisen 1914–1945 Der Erste Weltkrieg

Im August 1914 unterbrach der Beginn des Ersten Weltkriegs die lange wirtschaftliche Expansionsphase. Die führenden Industriestaaten stellten ihre Wirtschaft auf die Kriegsproduktion um. In den europäischen Ländern ging das Bruttoinlandsprodukt stark zurück, weil ein großer Teil der Arbeiter zum Militär einberufen wurde. Ein zunehmender Teil der reduzierten Produktion wurde für den Unterhalt der 177

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 177

22.09.2010 07:50:22

Wirtschaft

Streitkräfte, für Waffen und Munition verbraucht. Der private Konsum und die Investitionen gingen stark zurück. Die USA, die 1917 in den Krieg eintraten, konnten ihre Produktion dagegen weiter steigern. Die wachsende Staatsverschuldung, mit der die Krieg führenden Länder die Rüstung finanzierten, führte zu einer Inflation, die auch die neutralen Länder erfasste.20 Im Sommer 1918 neigte sich die Widerstandskraft der Mittelmächte dem Ende zu. Bulgarien schloss im September 1918 einen Waffenstillstand mit den Alliierten, die Türkei im Oktober 1918, Österreich-Ungarn und Deutschland im November 1918. Der Krieg brachte Tod und Verwüstung. Man schätzt, dass zehn Millionen Soldaten umkamen. Wenn man die Todesfälle in der Zivilbevölkerung, die Opfer des türkischen Völkermords an den Armeniern, den russischen Bürgerkrieg und alle anderen Kriegsfolgen berücksichtigt, steigt die Zahl der Opfer auf 20 Millionen. Zu den Opfern gehörten auch die vielen Kriegsverletzten.21 In den umkämpften Gebieten in Belgien, Nordfrankreich und Polen wurden Produktionsanlagen, Verkehrswege und Wohnungen zerstört, und im Seekrieg wurden zahlreiche Schiffe versenkt.22 Der Erste Weltkrieg brachte eine Dezentralisierung der Weltwirtschaft mit sich. In Lateinamerika gab es einen Exportboom für Lebensmittel und Rohstoffe. Zudem begann eine erste Phase der Importsubstitution. Da die Industrieländer als Anbieter zeitweilig ausfielen, wurden importierte Industriewaren durch Produkte der eigenen Industrien ersetzt.23 Die Stabilisierung

Auf den Ersten Weltkrieg folgte ein kurzer Aufschwung der Weltwirtschaft. Er wurde vor allem von der aufgestauten Nachfrage nach Konsumgütern und Investitionsgütern getragen. In der Weltwirtschaftskrise von 1920/21 brach der Nachkriegsaufschwung zusammen. In den USA und in Großbritannien trat die Krise ungewöhnlich heftig auf. In einigen mitteleuropäischen Ländern wie Deutschland, Österreich, Polen und Ungarn wurde die Nachkriegswirtschaft durch die Inflation geprägt, die Krise von 1920/21 wurde deshalb kaum wahrgenommen.24 Die Krise war bald vergessen, als 1922 eine wirtschaftliche Expansion von ungewöhnlicher Dynamik einsetzte. In den USA waren die führenden Sektoren des Aufschwungs die Autoindustrie, die Elektroindustrie und der Wohnungsbau. Der Lebensstandard wurde deutlich verbessert. Industrielle Konsumgüter wie Autos, Radiogeräte und elektrische Haushaltsgeräte fanden weiten Absatz.25 Der republikanische Präsidentschaftskandidat Herbert Hoover stellte in seinem Wahlkampf im Sommer 1928 optimistisch die Fortdauer der Prosperität und das Ende der Armut 178

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 178

22.09.2010 07:50:22

Wirtschaft

in Aussicht. Der Optimismus der Prosperität drückte sich in den USA in den späten 1920er-Jahren in steigenden Börsenkursen aus.26 In den nicht industrialisierten Ländern setzte bereits seit der Mitte der 1920erJahre durch die Überproduktion von Lebensmitteln und manchen Rohstoffen eine Strukturkrise ein, die durch die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 verschärft wurde.27 Die Weltwirtschaftskrise

Im Frühjahr 1929 erreichte der Aufschwung in den USA seinen Höhepunkt. Produktion und Beschäftigung gaben seitdem nach. Die fehlerhafte Wirtschaftspolitik der Regierung und der Zentralbank, des Federal Reserve Board, verschärfte die Krise.28 Die Stimmung an der Börse blieb nach der Konjunkturwende vom Frühjahr 1929 zunächst optimistisch, da man mit einer raschen konjunkturellen Erholung rechnete. Am 24. Oktober 1929, einem Donnerstag, setzte jedoch ein dramatischer Kurssturz ein. Kurze Stabilitätsphasen gaben immer wieder Hoffnung auf eine Wende auf dem Aktienmarkt. Aber schließlich sank das Kursniveau bis 1932 auf 17 Prozent des Niveaus vom September 1929. Die Börsenkrise ruinierte nicht nur die Spekulanten, sondern auch viele Banken, die in der Erwartung hoher Zinserträge die Börsenspekulation sorglos finanziert hatten. Die Wirtschaftskrise führte in Verbindung mit dem Börsenkrach zu einer anhaltenden Bankenkrise  ; von 1930 bis 1933 mussten zahlreiche Banken schließen.29 Anfang 1933 erreichten Produktion und Beschäftigung in den USA einen Tiefpunkt.30 Auch in anderen Ländern schlug der Aufschwung Anfang 1929 in eine Krise um. Insofern ist die verbreitete Vorstellung, dass die Krise in den USA einsetzte und von dort in alle Welt ausstrahlte, nicht richtig. Die USA als weltwirtschaftliche Führungsmacht waren aber gleichwohl das Epizentrum der Krise. Der Außenhandel, der Kapitalmarkt und die Wirtschaftspolitik der USA waren von großer Bedeutung für das Weltwirtschaftssystem.31 Die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 erschütterte das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Marktes. Schon während der Krise griff in vielen Ländern der Staat ein, um die Großbanken zu stützen. In Österreich gab es 1931 eine staatliche Rettungsaktion für die größte Bank des Landes, die Österreichische Creditanstalt. In Deutschland wurden die wichtigsten Banken im Juni 1931 durch den Staat gestützt. In den USA erhielten insolvente Banken seit 1932 durch die Reconstruction Finance Corporation staatliche Kredite, und mit dem Glass-Steagall-Act von 1932 wurde eine Trennung von Geschäftsbanken und Investitionsbanken durchgeführt, um die Stabilität des Bankwesens zu erhöhen.32 179

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 179

22.09.2010 07:50:22

Wirtschaft

Über die Sanierung der Banken hinaus gab es in den demokratischen Staaten Ansätze zu einer allgemeinen Stabilisierungspolitik. In den USA versprach der demokratische Präsident Franklin D. Roosevelt, der im März 1933 sein Amt antrat, einen New Deal. Die Politik des New Deal enthielt allerdings noch kein systematisches Konjunkturprogramm, sondern bestand aus verschiedenen Projekten zur Reform des Wirtschaftssystems und zur Arbeitsbeschaffung.33 Der britische Ökonom John Maynard Keynes begründete 1936 die Notwendigkeit einer aktiven Konjunkturpolitik. Das zentrale Problem der Krise sah er nicht in den verschlechterten Angebotsbedingungen, sondern in der fehlenden Nachfrage nach Investitionsgütern und Konsumgütern. Traditionell versuchten die Regierungen, der fehlenden Inlandsnachfrage durch eine Forcierung der Exporte zu begegnen. Dies führte aber nur zu einem allgemeinen Protektionismus, da die Staaten mit hohen Zöllen und mit der Abwertung ihrer Währungen konkurrierten. Deshalb sollte der Staat nach Keynes’ Empfehlung die fehlende private Nachfrage mit massiven öffentlichen Ausgaben kompensieren, die nicht durch Steuern, sondern durch Kredite zu finanzieren waren.34 Die konjunkturelle Erholung wurde durch die Krise von 1937 unterbrochen. Sie war jedoch milder als die vorangegangene Weltwirtschaftskrise. 1938 setzte ein neuer Aufschwung ein. Die aktive Konjunkturpolitik, die sich inzwischen in den demokratischen Industrieländern allgemein durchgesetzt hatte, förderte die wirtschaftliche Erholung.35 Die Diktaturen in Deutschland, Italien und Japan betrieben eine aggressive Außenpolitik. Die Wirtschaft wurde zunehmend durch die Aufrüstung beherrscht und gegenüber der Weltwirtschaft isoliert.36 In vielen nicht industrialisierten Ländern führte die Weltwirtschaftskrise zu einer Neuorientierung der Wirtschaftspolitik. Wirtschaftliches Wachstum wurde nicht mehr durch die enge Verflechtung mit dem Weltmarkt angestrebt, sondern durch eine Politik der Importsubstituierung.37 Die Sowjetunion

Das sozialistische Wirtschaftssystem, das seit der Oktoberrevolution von 1917 in Russland entstand, begann unter großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. 1918 wurde die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik gegründet  ; 1922 ging daraus die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken hervor. Die Revolution versprach die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft. Im Widerspruch zur demokratischen Tradition des Sozialismus wurde aber eine Diktatur errichtet, die alle Lebensbereiche erfasste.38 Während des Bürgerkriegs von 1917 bis 1921 wurde die zentralistische Planwirtschaft des „Kriegskommunismus“ durchgesetzt. 180

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 180

22.09.2010 07:50:22

Wirtschaft

Die Wirtschaft litt unter den Verheerungen des Bürgerkriegs, aber auch unter der Zwangswirtschaft. 1921 folgte ein Kurswechsel zur „Neuen Ökonomischen Politik“. Die neue Wirtschaftspolitik nahm auf die große Bedeutung des Agrarsektors für die sowjetische Wirtschaft Rücksicht. Landwirtschaft und Industrie sollten sich im Gleichgewicht entwickeln. Die Großindustrie und die Banken blieben verstaatlicht, in der Landwirtschaft und in kleinen und mittleren Gewerbebetrieben wurde jedoch unter staatlicher Kontrolle wieder mehr private Initiative erlaubt.39 Nachdem die Industrialisierung des Landes hinter den Zielen der Partei- und Staatsführung zurückblieb, wurde 1928 eine zentralistische Planwirtschaft eingeführt. Die Produktionsmittel wurden verstaatlicht, alle privaten Initiativen wurden unterdrückt, und in der Landwirtschaft wurde eine Zwangskollektivierung durchgeführt. Die Planwirtschaft und die Zwangskollektivierung führten zu einer schweren Krise der Landwirtschaft. Getreide und andere Lebensmittel wurden gewaltsam für die städtische Bevölkerung requiriert. 1932/33 gab es eine Hungersnot mit zahlreichen Opfern. Dennoch nahm durch die beschleunigte Industrialisierung die gesamtwirtschaftliche Produktion zu, und die neuen Industrien wurden die Grundlage der Rüstungsproduktion im Zweiten Weltkrieg.40 Der Zweite Weltkrieg

Mit dem deutschen Angriff auf Polen begann im September 1939 der Zweite Weltkrieg. Italien trat 1940 auf deutscher Seite in den Krieg ein. Japan eröffnete im Dezember 1941 mit dem Angriff auf den amerikanischen Flottenstützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii den Pazifischen Krieg gegen die USA. Deutschland, Italien und Japan waren seit 1940 im „Dreimächtepakt“ verbunden, der 1942 zu einem Militärbündnis ausgebaut wurde. Sowohl in Europa als auch in Ostasien wurde unter Einsatz aller Ressourcen gekämpft. Die Kriegswende begann im Pazifischen Krieg im Juni 1942 mit der Seeschlacht bei Midway, in Europa mit der Schlacht um Stalingrad im Winter 1942/43 und der alliierten Landung in Sizilien im Juli 1943. Die alliierten Gegenoffensiven, gestützt auf eine große Überlegenheit an Menschen und wirtschaftlichen Ressourcen, führten zur unausweichlichen Niederlage der Aggressoren. Italien schloss bereits im September 1943 einen Waffenstillstand mit den Alliierten. Deutschland kapitulierte im Mai 1945, Japan im September 1945. Die Verluste an Menschen waren im Zweiten Weltkrieg wesentlich größer als im Ersten Weltkrieg. Es wird geschätzt, dass 45 bis 50 Millionen Menschen durch den Krieg und seine Folgen und durch den Völkermord an den Juden umgekommen sind.41 Deutschland und Japan und deren Verbündete richteten in den angegriffenen Ländern erhebliche Schäden an. 181

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 181

22.09.2010 07:50:22

Wirtschaft

Der Seekrieg zerstörte auf beiden Seiten zahlreiche Handelsschiffe. Der Luftkrieg verwüstete vor allem in Deutschland und Japan Städte, Fabriken und Produktionsanlagen.42

Die lange Expansion 1945–2010 Der Wiederaufbau

Die USA konnten sich rasch von der Kriegsproduktion auf die Friedensproduktion umstellen. In den europäischen Industrieländern, in Japan und in der Sowjet­ union dauerte der Wiederaufbau nach den großen Zerstörungen der Kriegszeit aber länger, und die chinesische Wirtschaft wurde bis 1949 durch den Bürgerkrieg gelähmt. In der unruhigen Zeit von 1913 bis 1950 gab es weltweit im Jahresdurchschnitt nur eine Zunahme des realen Bruttoinlandsprodukts je Einwohner um 0,9 Prozent.43 Die Wachstumsdifferenzen zwischen den Ländern verstärkten sich. 1950 war der wirtschaftliche Vorsprung der USA größer als je zuvor. Sogar Westeuropa war im Vergleich zu den USA relativ arm. Auch unter den sozialistischen Ländern gab es zwischen der Sowjetunion und China ein erhebliches Einkommensgefälle.44 Wachstum und Stagnation der Bevölkerung

Seit dem späten 19. Jahrhundert gingen in Europa die Geburtenraten zurück, in einzelnen Ländern auch schon früher. Die europäische Bevölkerung nahm nur noch langsam zu. Der Schwerpunkt des Bevölkerungswachstums verschob sich zu den anderen Weltregionen. 1950 hatten die entwickelten kapitalistischen Länder einen Anteil von 22 Prozent an der Weltbevölkerung, die Entwicklungsländer 45 Prozent und die sozialistischen Länder von Osteuropa bis China 32 Prozent.45 Trotz der demografischen Katastrophen, die es durch Krieg und Verfolgung gab, war das Bevölkerungswachstum im 20. Jahrhundert wesentlich stärker als im 19. Jahrhundert. Bis 2003 stieg die Weltbevölkerung auf 6,3 Milliarden. Von 1913 bis 2003 betrug die durchschnittliche Wachstumsrate der Weltbevölkerung 1,4 Prozent. Den stärksten Anteil am Bevölkerungswachstum hatten die Entwicklungsländer und die Schwellenländer, die durch eine erfolgreiche Industrialisierung in einen wirtschaftlichen Wachstumsprozess eintraten Auf die entwickelten kapitalistischen Länder entfielen 2003 nur noch 14 Prozent der Weltbevölkerung, auf die Entwicklungsländer und Schwellenländer 59 Prozent, auf die Transformationsgesellschaften, die seit den 1990er-Jahren aus den sozialistischen Ländern hervorgingen, 27 Prozent.46 182

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 182

22.09.2010 07:50:22

Wirtschaft

Technologische Lücke und Innovationstransfer

Zu Beginn der 1950er-Jahre ging der Wiederaufbau ohne Unterbrechung in eine lange Expansionsphase über. Von 1950 bis 1973 nahm das weltweite reale Bruttoinlandsprodukt je Einwohner um 2,9 Prozent im Jahr zu.47 Besonders ausgeprägt war das wirtschaftliche Wachstum in Westeuropa und in Japan. In den USA war das Wachstum dagegen deutlich geringer. Die Diskrepanz wird dadurch erklärt, dass die Arbeitsproduktivität in den westeuropäischen Ländern seit dem Ersten Weltkrieg und in Japan seit dem Zweiten Weltkrieg langsamer gestiegen war als in den USA. Diesen Produktivitätsrückstand konnten Westeuropa und Japan durch die Übernahme der fortgeschrittenen Technologie aus den USA aufholen. Das Wachstum in den USA entsprach dagegen ungefähr dem langfristigen Wachstumstrend des Kapitalismus. In den Industrieländern setzte sich der Grundsatz durch, dass der Staat in einer Wirtschaftskrise mit einer aktiven Konjunkturpolitik intervenieren und das wirtschaftliche Gleichgewicht wiederherstellen sollte. In den USA wurde dieser Grundsatz im Employment Act von 1946 verankert.48 Die aktive Konjunkturpolitik kam aber kaum zur Anwendung, da der Konjunkturzyklus durch das kräftige wirtschaftliche Wachstum geglättet wurde. Im Konjunkturabschwung kam es meistens nur zu einer Abschwächung der Wachstumsrate, nicht aber zu einer Stagnation oder gar zu einem Rückgang der Produktion. Die Beschäftigung blieb daher auch in Rezessionen auf einem hohen Niveau. Die neue Form des Konjunkturzyklus wurde als Wachstumszyklus bezeichnet.49 Die Entwicklungsländer wiesen in der Expansionsphase von 1950 bis 1973 zwar ein stärkeres Wirtschaftswachstum auf als in früheren Zeiten. Das ungewöhnlich starke Wachstum in Westeuropa und in Japan hatte aber zur Folge, dass der Abstand zwischen den Industrieländern und den Entwicklungsländern größer wurde. Als strukturelles Problem in vielen Entwicklungsländern sticht die Diskrepanz zwischen der marktorientierten Produktion und der Subsistenzwirtschaft hervor. Zum wirtschaftlichen Wachstum trug nur der Marktsektor bei, der überwiegend für den Export produzierte. In der ländlichen Subsistenzwirtschaft, die in vielen Ländern Afrikas und Asiens erhebliche Bedeutung hatte, gab es im 20. Jahrhundert nur geringe Produktivitätsfortschritte und ein schwaches wirtschaftliches Wachstum.50 In der Sowjetunion folgte auf die großen Verluste und Zerstörungen des Kriegs ein mühsamer Wiederaufbau.51 In den osteuropäischen Ländern wurde nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Einfluss der Sowjetunion eine staatssozialistische Wirtschaftsordnung eingeführt, und 1949 siegte die Revolution in China. Die ost183

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 183

22.09.2010 07:50:22

Wirtschaft

europäischen Länder und die Volksrepublik China übernahmen das zentralistische Planungsmodell der Sowjetunion. In der Expansionsphase von 1950 bis 1973 gab es in den sozialistischen Ländern ein relativ starkes Wirtschaftswachstum. Allerdings sind die offiziellen Daten für diese Länder umstritten  ; möglicherweise wird das Wirtschaftswachstum überschätzt. Tabelle 7: Das Wirtschaftswachstum in den sozialistischen Ländern ­( Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts je Einwohner in Prozent) 1913–50

1950–73

1973–2003

1,8

3,4

–0,4

Osteuropa



3,8

0,9

China



2,8

6,0

Sowjetunion/Russland

Quelle  : Maddison, Contours of the world economy, 383.

Die Abschwächung des wirtschaftlichen Wachstums

Seit der Krise von 1974–1975 schwächte sich das wirtschaftliche Wachstum ab. In der Zeit von 1973 bis 2003 wuchs das reale Bruttoinlandsprodukt je Einwohner weltweit nur um 1,6 Prozent im Jahr. Ein wichtiger Grund für die weltweite Abschwächung des Wirtschaftswachstums war die nachlassende wirtschaftliche Dynamik in den entwickelten kapitalistischen Ländern.52 In den 1990er-Jahren gingen fast alle sozialistischen Länder zu einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung über. Russland und die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie die osteuropäischen Staaten gerieten in eine schwere Transformationskrise, von der sie sich erst allmählich erholten. China wies dagegen ein starkes Wirtschaftswachstum mit einer ausgeprägten Exportorientierung auf.53 Die Abschwächung des wirtschaftlichen Wachstums hatte zur Folge, dass die Wirtschaftskrisen alter Art zurückkehrten. Der Konjunkturzyklus führte regelmäßig zu Krisen, in denen die gesamtwirtschaftliche Produktion zurückging und die Arbeitslosigkeit zunahm. Stärkere Krisen traten 1974/1975, 1981/1982, 1991/1993 und 2001/2002 ein.54 2008 löste der Zusammenbruch des Immobilienmarktes in den USA eine weltweite Finanzkrise aus, die sich mit dem Konkurs der Lehman Bank im September 2008 verschärfte. Die Finanzkrise und die Wirtschaftskrise verstärkten sich wechselseitig. Produktion und Beschäftigung gingen weltweit stark zurück. Die Regierungen und die Notenbank griffen mit umfangreichen Stabilisierungsprogrammen ein.55 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es in 184

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 184

22.09.2010 07:50:23

Wirtschaft

einigen Teilen der Welt einen Aufholprozess, in manchen Regionen wurde aber der Rückstand gegenüber den reichsten Ländern der Welt größer.56 Der Strukturwandel der Wirtschaft

In allen Industrieländern gab es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ausgeprägte Landflucht. 2006 war der Anteil des primären Sektors an den Beschäftigten in Großbritannien auf 1 Prozent zurückgegangen, in den USA auf 2 Prozent, in Deutschland ebenfalls auf 2 Prozent und in Österreich auf 6 Prozent.57 Seit den 1970er-Jahren trat in den entwickelten kapitalistischen Ländern ein Strukturwandel von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft ein. Nur noch eine Minderheit der Beschäftigten war in der Industrie tätig, die große Mehrheit arbeitete im Dienstleistungssektor.58 2006 war der Anteil des tertiären Sektors an den Erwerbstätigen in den USA und in Großbritannien auf 77 Prozent gestiegen, in Deutschland auf 68 Prozent und in Österreich auf 66 Prozent.59 Der tertiäre Sektor war in seiner Zusammensetzung äußerst heterogen. Im Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung gab es weniger Hausangestellte, aber es gab eine wachsende Zahl von Beschäftigten im Verkehrswesen, in Handel und Finanzen, in kleinen Dienstleistungsbetrieben jeder Art und im Staatsdienst. In den Entwicklungsländern begann in den 1970er-Jahren ein massiver Strukturwandel. Viele Länder traten als Schwellenländer in eine rasche Industrialisierung ein. Die Bedeutung der Landwirtschaft ging stark zurück. Agrargesellschaften, in denen die Mehrheit der Bevölkerung ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft erwarb, wurden auch in der Dritten Welt selten. Der Anteil des primären Sektors an den Beschäftigten war in Ägypten 2005 auf 31 Prozent zurückgegangen, in Brasilien 2004 auf 21 Prozent, in Indonesien 2006 auf 44 Prozent. Auch in China, das in der Zweiten Welt früher ein ausgeprägtes Agrarland war, beschäftigte der primäre Sektor 2002 nur noch 44 Prozent der Erwerbstätigen.60 Der Lebensstandard

In den postindustriellen Gesellschaften stiegen trotz der Abschwächung des wirtschaftlichen Wachstums die Realeinkommen weiter an. Die Standards der Ernährung, Kleidung und Wohnung wurden deutlich angehoben. Waren und Dienstleistungen des gehobenen Bedarfs wurden auch für die Arbeiterklasse zugänglich.61 In den USA beanspruchten 1989 die Ausgaben für Lebensmittel, Kleidung und Wohnung nur noch 37 Prozent der Konsumausgaben.62

185

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 185

22.09.2010 07:50:23

Wirtschaft

Auch in den sozialistischen Ländern schlug sich das wirtschaftliche Wachstum in einer Verbesserung des Lebensstandards nieder. Aufgrund des schwächeren Wirtschaftswachstums blieb der Konsumstandard aber hinter dem Niveau der entwickelten kapitalistischen Länder zurück. Auch in der ostdeutschen Wirtschaft, die unter den staatssozialistischen Ländern die höchste Produktivität aufwies, erreichte die Versorgung mit gehobenen Konsumgütern nach Umfang und Qualität nie das angestrebte westdeutsche Vorbild.63 Als die Transformationsländer sich zum kapitalistischen Weltmarkt öffneten, wurden die industriellen Konsumgüter der kapitalistischen Welt trotz ihrer in Relation zu den bescheidenen Einkommen sehr hohen Preise zu begehrten Symbolen einer neuen Lebensweise. In den Entwicklungsländern blieb eine große Kluft zwischen Arm und Reich bestehen. Das wirtschaftliche Wachstum kam vor allem der Oberklasse und Teilen der Mittelklasse zugute. In den Haushalten der Bauern und Arbeiter drückten dagegen die niedrige Produktivität und eine extrem ungleiche Einkommensverteilung auf den Lebensstandard. Im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert lebt immer noch ein großer Teil der Bevölkerung der Dritten Welt in Armut. Viele Menschen leiden unter unzureichender Ernährung, mangelnder Kleidung, dürftigen Wohnverhältnissen, fehlender Gesundheitsversorgung und Ausschluss von Bildungsmöglichkeiten. Unter den vielfältigen Dimensionen der Armut war der Hunger besonders drückend.64 Nach Schätzungen der Food and Agriculture Organization (FAO) der Vereinten Nationen waren 2001 bis 2003 weltweit 854 Millionen Menschen von Unterernährung betoffen, davon 820 Millionen Menschen in der „Dritten Welt“, zu der bei dieser Definition auch China gezählt wurde.65 Eine Bewertung des wirtschaftlichen Wachstums hängt sehr davon ab, auf welche Weltregion sich die Perspektive richtet. Nach zwei Jahrhunderten, in denen die Produktivität, die Realeinkommen und der Konsum insgesamt erheblich zunahmen, ist die Not in vielen Teilen der Welt noch nicht gebannt.

Anmerkungen 1 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 909–957. 2 Eduardo Galeano, Die offenen Adern Lateinamerikas. Die Geschichte eines Kontinents von der Entdeckung bis zur Gegenwart, Wuppertal 1976, 197. 3 Paul Bairoch, Victoires et déboires. Histoire économique et sociale du monde du XVIe siècle à nos jours, 3 Bde., Paris 1997. 4 Peer Vries, Global economic history  : a survey, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 20 (2009), Bd. 2, 133–169. 5 Massimo Livi-Bacci, A concise history of world population, Oxford 2006.

186

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 186

22.09.2010 07:50:23

Wirtschaft

  6 Angus Maddison, Contours of the world economy, 1–2030. Essays in macro-economic history, Oxford 2007, 379.   7 Maddison, Contours of the world economy, 376.   8 Reinhard Spree, Wachstum, in  : Gerold Ambrosius/Dietmar Petzina/Werner Plumpe, Hg., Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, München 2006, 155–183.   9 Maddison, Contours of the world economy, 383. 10 Robert E. Gallman, Economic growth and structural change in the long nineteenth century, in  : Stanley Engerman/Robert E. Gallman, Hg., The Cambridge economic history of the United States, Bd. 2, Cambridge University Press 2000, 1–55, hier 39. 11 Maddison, Contours of the world economy, 382. 12 Charles P. Kindleberger, Manias, panics and crashes, Hoboken 2005  ; Michael J. Oliver, Financial crises, in  : Michael J. Oliver/Derek H. Aldcroft, Hg., Economic disasters of the twentieth century, Cheltenham 2007  ; Elmar Wicker, Banking panics of the gilded age, Cambridge 2000. 13 Reinhard Spree, Konjunktur, in  : Gerold Ambrosius/Dietmar Petzina/Werner Plumpe, Hg., Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, München 2006, 185–212. 14 Paul Bairoch, Commerce extérieur et développement économique de l’Europe au XIXe siècle, Paris 1976, 26. 15 Paul Bairoch, The economic development of the third world since 1900, London 1977. 16 Stanley L. Engerman, Slavery and its consequences for the South in the nineteenth century, in  : Stan­ ley L. Engerman/Robert E. Gallman, Hg., The Cambridge economic history of the Unitd States, Bd. 2, Cambridge 2000, 329–366  ; Reinhard Wendt, Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500, Paderborn 2007, 264–265. 17 Moses Abramovitz/Paul A. David, American macroeconomic growth in the era of knowledge-based progress  : The long-rung perspective, in  : Stanley L. Engerman/Robert E. Gallman, Hg., The Cam­ bridge economic history of the United States, Bd. 3, Cambridge 2000, hier 31. 18 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, 253–354. 19 Bairoch, Victoires et déboires, Bd. 3, 464–530. 20 Gerd Hardach, Der Erste Weltkrieg. Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 2, München 1973  ; John Singleton, „Destruction … and misery“  : The First World War, in  : Michael J. Oliver/ Derek H. Aldcroft, Hg. Economic disasters of the twentieth century, Cheltenham 2007, 9–50. 21 J. M. Winter, The Great War and the British people, London 1985, 75. 22 S. Broadberry/Mark Harrison, Hg., The economics of World War I, Cambridge 2005  ; Gerd Hardach, Die Kriegswirtschaft 1914–1918, in  : Historicum. Zeitschrift für Geschichte, 2001, 32–36. 23 Hardach, Der Erste Weltkrieg, 266–291. 24 Derek H. Aldcroft, Die zwanziger Jahre. Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 3, München 1978. 25 Gary Cross, An all-consuming century. Why commercialism won in modern America, New York 2000  ; Stanley Lebergott, Pursuing Happiness. American consumers in the twentieth century, Princeton 1993. 26 Gary M. Walton/ Hugh Rockoff, History of the American economy, San Diego 1989, 470–495. 27 Aldcroft, Die zwanziger Jahre, 251–273. 28 Charles P. Kindleberger, Die Weltwirtschaftskrise. Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 4, München 1973. 29 Elmar Wicker, The banking panics of the great depression, Cambridge 2000  ; G. E. Wood, Stock market crashes, in  : Michael J. Oliver und Derek Aldcroft, Hg., Economic disasters of the twentieth century, Cheltenham 2007, 243–246. 30 Ben S. Bernanke, Essays on the great depression years, Princeton 2000  ; Thomas E. Hall/ David Fer-

187

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 187

22.09.2010 07:50:23

Wirtschaft

guson, The Great Depression. An international disaster of perverse economic policies, Ann Arbor 1998. 31 Kindleberger, Weltwirtschaftskrise, 153–208. 32 Barry Eichengreen, Golden fetters. The gold standard and the Great Depression, Oxford 1992, 258– 347. 33 Michael Bernstein, The Great Depression. Delayed recovery and economic change in America, 1929–1939, Cambridge University Press 1987  ; W. R. Garside, The Great Depression, 1929–33, in  : Michael J. Oliver/Derek H. Aldcroft, Hg. Economic disasters of the twentieth century, Cheltenham 2007, 51–82  ; Gerd Hardach, Die Große Depression in den USA 1929–1939, in  : Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939. Beiträge zur historischen Sozialkunde 30 (2000), 8–16. 34 John Maynard Keynes, The general theory of employment interest and money (1936). Collected writings, Bd. 7, London 1973. 35 Kindleberger, Weltwirtschaftskrise, 273–289. 36 Mark Harrison, Hg., The economics of World War II. Six great powers in international comparison, Cambridge 1998. 37 A. J. H. Latham, The depression and the developing world, 1914–1939, London 1981. 38 M. Hildermeier, Die Sowjetunion 1917–1991, München 2001. 39 Paul R. Gregory, Before command. An economic history of Russia from emancipation to the First Five Year Plan, Princeton 1994. 40 R. W. Davies/Mark Harrison/S. G. Wheatcroft, Hg., The economic transformation of the Soviet Union, 1913–1945, Cambridge 1994. 41 Herman van der Wee, Der gebremste Wohlstand. Wiederaufbau, Wachstum und Strukturwandel der Weltwirtschaft seit 1945. Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 6, München 1984, 15. 42 Niall Ferguson, The Second World War as an economic disaster, in  : Michael J. Oliver/Derek H. Ald­ croft, Hg. Economic disasters of the twentieth century, Cheltenham 2007, 83–132  ; Alan Milward, Der Zweite Weltkrieg. Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 5, München 1977. 43 Maddison, Contours of the world economy, 383. 44 Ebd., 382. 45 Ebd., 376. 46 Ebd., 376–377. 47 Ebd., 383. 48 Hugh S. Norton, The quest for economic stability. From Roosevelt to Bush, Columbia 1991, 72– 104. 49 Van der Wee, Der gebremste Wohlstand, 58–79. 50 Bairoch, Economic development of the third world  ; Bairoch, Victoires et déboires, Bd. 3, 788–845. 51 Davies/Harrison/Wheatcroft, Economic transformation  ; Paul R. Gregory, The political economy of Stalinism, Cambridge 2004. 52 Maddison, Contours of the world economy, 383. 53 Steven Morewood, The demise of the command economies in the Soviet Union and its outer empire, in  : Michael J. Oliver/Derek Aldcroft, Hg., Economic disasters of the twentieth century, Cheltenham 2007, 558–311. 54 Bairoch, Victoires et déboires, Bd. 3, 171–183  ; United Nations, World economic and social survey 2008. Overcoming economic insecurity, New York 2008, 9–30. 55 Michael Bloss/Dietmar Ernst/Joachim Häcker/Nadine Eil, Von der Subprime-Krise zur Finanzkrise, München 2009. 56 Maddison, Contours of the world economy, 382.

188

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 188

22.09.2010 07:50:23

Wirtschaft

57 International Labour Office, Yearbook of labour statistics 2007, Genf 2007, 93–191. 58 Bairoch, Victoires et déboires, Bd. 3, 378–384. 59 Yearbook of labour statistics 2007, 93–191. 60 Ebd. 61 Van der Wee, Der gebremste Wohlstand, 264–286. 62 Abramovitz/David, American macroeconomic growth, 31. 63 Annette Kaminsky, Kleine Konsumgeschichte der DDR, München 2001. 64 United Nations, World economic and social survey, 16–19. 65 United Nations Food and Agriculture Organization, The state of food insecurity in the world 2006. Eradicating world hunger – taking stock ten years after the World Food Summit, Rom 2006, 8.

189

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 189

22.09.2010 07:50:23

Chinesische Arbeiter bauen Changan Ford: Fertigungsstraße von Changan und Ford in Chonqing, der chinesischen Millionenstadt mit vielen Autofabriken – ein neues Detroit –, im Jahr 2008. Foto: Jing Aiping, Bildrechte: Jing Aiping /Imagechina/laif.

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 190

22.09.2010 07:50:24

Kapitel 6

Internationale Arbeitsteilung Gerd Hardach

Expansion und Integration 1800–1914 Zentrum und Peripherie

In der frühkapitalistischen Ära vom 16. bis zum späten 18. Jahrhundert bauten europäische Kaufleute mit Unterstützung ihrer Regierungen ein weltweites Handelsnetz auf. Europa war das kommerzielle Zentrum dieser Weltwirtschaft, das den Handel organisierte und zum großen Teil auch finanzierte. Im Zuge der kommerziellen Expansion unterwarfen europäische Mächte in der außereuropäischen Welt Kolonialgebiete und legten zahlreiche Handelsstützpunkte an. Weite Teile der Welt wurden vom europäischen Handel aber nur am Rande berührt. Viele außereuropäische Gesellschaften bewahrten ihre autonomen Produktionsverhältnisse. Die Regierungen Chinas, Japans und anderer asiatischer Staaten verfolgten eine restriktive Außenwirtschaftspolitik. Sie unterwarfen den Außenhandel einer strikten Kontrolle, um keine Abhängigkeiten entstehen zu lassen. Manche kleine Gesellschaften in der außereuropäischen Welt kannten keine Europäer und vermissten sie auch nicht.1 Die Industrielle Revolution, die im späten 18. Jahrhundert in Großbritannien begann und sich seit dem 19. Jahrhundert rasch ausbreitete, eröffnete eine neue Ära der Weltwirtschaft. Sie verwandelte die Agrargesellschaften Europas und einiger außereuropäischer Regionen zu Industriegesellschaften. Dadurch leitete sie die Transformation der kommerziellen Weltwirtschaft in eine industrielle Weltwirtschaft ein, in der die internationale Verflechtung sehr viel intensiver wurde.2 In der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Industrielle Revolution Belgien, Deutschland, damals in der Gestalt des Deutschen Bundes, Frankreich und die Schweiz sowie jenseits des Atlantiks die USA erreicht, und weitere Länder sollten bald in den Wandel eintreten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren der größte Teil Europas, die USA und Kanada, Japan, Australien und Neuseeland Industriegesellschaften geworden oder befanden sich auf dem Weg dorthin. Die Industrie­ länder bildeten das gewerbliche Zentrum der Weltwirtschaft. Ihre Produkte, zu niedrigen Kosten hergestellt und zu billigen Preisen angeboten, verdrängten über191

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 191

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

all in der Welt die ältere, noch auf Handarbeit beruhende Produktion. Die nicht industrialisierten Länder wurden als Peripherie in die kapitalistische Weltwirtschaft einbezogen. Sie lieferten Lebensmittel und Rohstoffe und importierten Industriewaren, aber auch Kohle.3 Eisenbahnen und Dampfschiffe senkten die Transportkosten und unterstützten damit die Ausdehnung des Welthandels.4 Das Bevölkerungswachstum förderte die Steigerung der Produktion und die Expansion der Märkte.5 Ein Zeichen der weltweiten wirtschaftlichen Verflechtung war die Standardisierung der Zeit. Traditionell definierte an allen Orten der Welt der höchste Stand der Sonne die lokale Zeit von 12 Uhr und damit den Tageslauf. 1884 wurde die Welt in 24 Zeitzonen eingeteilt. Der Meridian von Greenwich wurde als Greenwich mean time definiert. Die Mitteleuropäische Zeit wurde eine Stunde früher angesetzt.6 Kolonialismus

Die Industrieländer nutzten ihre wirtschaftliche und technologische Überlegenheit, um viele Länder der Peripherie in politische Abhängigkeit zu bringen. Im Zuge der frühkapitalistischen Expansion hatten mehrere europäische Mächte die Herrschaft über außereuropäische Stützpunkte und abhängige Gebiete erlangt. Durch die Revolutionen in Nordamerika 1776 bis 1783 und in Lateinamerika von 1810 bis 1825 wurde ein großer Teil der Kolonien unabhängig. Der Kolonialismus war damit aber nicht grundsätzlich erschüttert. Die europäischen Mächte konnten einige Kolonien behaupten, und im 19. Jahrhundert brachten die Industrieländer weitere Gebiete unter ihre Kontrolle. In der Zeit des Imperialismus, die in den 1880er-Jahren begann, erreichte die Aufteilung der Welt in rivalisierende Einflussgebiete ihren Höhepunkt. Zu den alten Kolonialmächten Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Portugal, Spanien und in geringem Umfang Dänemark traten Belgien, Deutschland, Italien, Japan und die USA als neue Kolonialmächte.7 Die koloniale Expansion des 19. Jahrhunderts hatte sowohl wirtschaftliche als auch politische Motive. Das Streben nach Prestige und Macht führte auch dann zum Erwerb von Kolonien, wenn die wirtschaftlichen Vorteile ungewiss waren. Dass man dem Rest der Welt die nationale Identität verweigerte, die man im eigenen Land anstrebte, wurde mit der kulturellen Überlegenheit der Herrschenden über die Beherrschten begründet. 1913 lebten 560 Millionen Menschen, 31 Prozent der Weltbevölkerung, unter kolonialer Herrschaft. Großbritannien kontrollierte 70 Prozent der weltweiten Kolonialbevölkerung. Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, die Niederlande, Portugal, Spanien und die USA herrschten über die übrigen 30 Prozent der kolonialen Bevölkerung.8 Auch auf die 192

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 192

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

formal selbstständigen Staaten der Peripherie übten die großen Mächte des Zentrums erheblichen Druck aus. Freihandel und Schutzzoll

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschte in Europa ein allgemeiner wirtschaftlicher Protektionismus, der aus der merkantilistischen Ära übernommen worden war. Zölle sollten nicht nur zu den Staatseinnahmen beitragen, sondern auch einheimische Produzenten vor der internationalen Konkurrenz schützen. Großbritannien ging 1846 mit der Aufhebung der Getreidezölle zum Freihandel über. Nach der Freihandelsdoktrin sollte es allen Ländern nützen, wenn sie sich auf die Produkte spezialisierten, die mit der gegebenen Ausstattung an Arbeit, Kapital und natürlichen Ressourcen am günstigsten produziert werden konnten. Die meisten Länder zögerten jedoch, dem britischen Beispiel zu folgen. Vor allem die neuen Industrien forderten Zollschutz vor der überlegenen britischen Konkurrenz.9 Mit der Erstarkung der nationalen Industrien gewannen die Anhänger des Freihandels in vielen Ländern an Einfluss. Der internationale Wettbewerb sollte die Produktivität steigern, und von einer allgemeinen Reduzierung der Zölle versprach man sich auch bessere Exportchancen für die nationale Wirtschaft. Frankreich schloss 1860 einen Handelsvertrag mit Großbritannien, in dem die französischen Zölle herabgesetzt wurden und die wechselseitige Meistbegünstigung vereinbart wurde. Die Meistbegünstigung war ein wichtiges Instrument der Handelsliberalisierung. Sie bedeutete, dass Zollsenkungen, die zwischen zwei Staaten bilateral vereinbart wurden, auch auf alle anderen Handelspartner anzuwenden waren. Der britisch-französische Handelsvertrag leitete eine allgemeine Freihandelsära ein. Außerhalb der allgemeinen Handelsliberalisierung blieben die USA, die am Protektionismus festhielten. Der Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 stärkte noch die Schutzzollinteressenten, die im Norden stark vertreten waren, gegenüber den freihändlerisch orientierten Südstaaten.10 Die Große Depression von 1873 bis 1895 führte zu einem Umschwung in der internationalen Handelspolitik. Zölle galten als eines der wenigen Instrumente, über die der Staat verfügte, um die Wirtschaft zu fördern. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs hielt von den größeren Welthandelsnationen allein Großbritannien am Freihandel fest.11 Außerhalb des Zentrums der Weltwirtschaft herrschten im frühen 19. Jahrhundert unterschiedliche Außenhandelsdoktrinen. China, Japan, Korea und einige weitere asiatische Länder ließen nur einen geringen, strikt kontrollierten Außenhandel zu.12 Das Osmanische Reich unterhielt dagegen intensive Außenwirtschaftsbezie193

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 193

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

hungen. Neben Exporten und Importen gab es einen regen Transithandel.13 In Afrika litten viele der kleinen Staaten noch unter dem Sklavenhandel. Die eigene Wirtschaft beruhte weitgehend auf der Subsistenzproduktion, die durch den Handel mit benachbarten Regionen ergänzt wurde.14 Durch die koloniale Expansion wurden die abhängigen Gebiete in den Weltmarkt gezwungen. Die formal selbstständigen Staaten Asiens, die ihre Außenwirtschaftsbeziehungen lange Zeit strikt reguliert hatten, gerieten durch das Interesse der Industrieländer an fernen Produkten und neuen Absatzmärkten unter Druck und wurden gezwungen, sich dem Welthandel zu öffnen, so Burma und Siam 1826, China 1842, Japan 1854, Annam 1862 und Korea 1876.15 Internationaler Handel und Kapitalbewegungen

In der Expansionsphase des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nahm der Welthandel schneller zu als die Produktion. Von 1820 bis 1870 wuchs das reale Bruttoinlandsprodukt im Durchschnitt um 0,9 Prozent im Jahr und der reale Welthandel um 4,2 Prozent. Im Zeitraum von 1870 bis 1913 stieg die Wachstumsrate des realen Brutto­ inlandsprodukts auf 2,1 Prozent. Der Welthandel expandierte mit 3,4 Prozent im Jahr etwas langsamer als in den vorangegangenen Dekaden, aber doch deutlich schneller als die Produktion.16 Ein großer Teil des Welthandels bestand in Lebensmitteln für die wachsende Bevölkerung und Rohstoffen für die Industrie. Lebensmittel und Rohstoffe wurden nicht nur aus den Ländern der Peripherie, sondern in erheblichem Umfang auch aus den Industrieländern geliefert. Zu den Rohstoffen gehörte die Kohle als wichtigster Energieträger des Industriezeitalters.17 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam Erdöl als neuer Energieträger auf. Der Beitrag des Öls zur gesamten Energieversorgung blieb bis zum Ersten Weltkrieg aber bescheiden.18 1913 machten Lebensmittel und Rohstoffe 63 Prozent der weltweiten Exporte aus, Industriegüter 37 Prozent.19 Mit der Expansion des Welthandels nahmen die internationalen Kapitalbewegungen zu. Es gab eine intensive Kapitalverflechtung sowohl innerhalb des Zentrums der Weltwirtschaft als auch zwischen Zentrum und Peripherie. Das Kapital aus den Industrieländern finanzierte in den Ländern der Peripherie Bergbauunternehmen und landwirtschaftliche Großbetriebe ebenso wie Eisenbahnen und Hafenanlagen. Wichtigster Kapitalgeber war Großbritannien, mit großem Abstand gefolgt von Frankreich, Deutschland und den USA. Genaue Statistiken fehlen  ; nach ungefähren Schätzungen betrugen 1913 die Auslandsanlagen in laufenden Preisen in Großbritannien 20 Mrd. Dollar, in Frankreich 9 Mrd. Dollar, in Deutschland 6 194

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 194

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

Mrd. Dollar und in den USA 4 Mrd. Dollar. Dies sind Bruttowerte, die Auslandsschulden, die in den USA wesentlich größer waren als die Anlagen, wurden nicht berücksichtigt. Die europäischen Länder und die USA waren nicht nur Kredit­ geber, sondern nahmen auch erhebliche Auslandsinvestitionen auf. Ein großer Teil der Auslandsinvestitionen floss jedoch in die Länder der Peripherie. 1913 waren in Europa 26 Prozent des Auslandskapitals angelegt, in den USA 16 Prozent und in der Peripherie 42 Prozent.20 Der Goldstandard

Der internationale Handel benötigte stabile Währungen, die überall akzeptiert wurden.21 In der Frühen Neuzeit entwickelte sich der spanische Peso, der aus latein­ amerikanischem Silber geprägt wurde, zur führenden Welthandelswährung. Er floss in den europäischen Zahlungsverkehr und finanzierte auch die Handelsdefizite, die Europa gegenüber Asien aufwies.22 Großbritannien führte als erstes Land 1816 eine reine Goldwährung ein. Frank­ reich und die USA hatten Doppelwährungen, in denen sowohl Gold als auch Silber als Währungsreserven dienten. Andere Länder hatten Silberwährungen. Da das Wertverhältnis zwischen Gold und Silber keine großen Schwankungen aufwies, waren die internationalen Währungsparitäten relativ stabil. Einige europäische Länder hatten als Zahlungsmittel Papiergeld, das flexible Kurse gegenüber den Gold- und Silberwährungen aufwies. Die Konvertierbarkeit der Währungen zu festen Wechselkursen galt als wichtige Grundlage für den internationalen Handel. John Stuart Mill prognostizierte 1848 mit liberalem Optimismus, dass eines Tages alle Länder die gleiche Währung haben würden. Nationale Währungen wären ein Relikt barbarischer Zeiten und brächten für die Länder selbst, wie für die Nachbarn, nur Unannehmlichkeiten.23 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdrängte das Gold allmählich das Silber aus dem internationalen Zahlungsverkehr. Gold hatte einen wesentlich höheren Preis als Silber und war daher zur Finanzierung der wachsenden Warenströme besser geeignet. Das Deutsche Reich führte 1871 eine Goldwährung, die Mark, als neue Reichswährung ein. Seitdem gingen fast alle Welthandelsnationen zum Goldstandard über. Die Verbreitung der Goldwährung wurde durch neue Goldfunde in Australien, in Kalifornien und später in Südafrika gefördert. Der Goldstandard kam dem Ideal einer Weltwährung nahe. Da die wesentlichen Währungen zu festen Paritäten in Gold konvertierbar waren, ergab sich indirekt zwischen den Währungen ein System freier Konvertierbarkeit zu festen Wechselkursen.24

195

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 195

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

Die Desintegration der Weltwirtschaft 1914–1945 Der Erste Weltkrieg

Während des Ersten Weltkriegs wurde der Außenhandel stark reduziert. Die Alliierten zogen einen Blockadering um die Mittelmächte Deutschland, ÖsterreichUngarn, Bulgarien und die Türkei. Deutschland versuchte, die atlantischen Handelsbeziehungen der Alliierten durch den Einsatz von Unterseebooten zu stören. Die privaten internationalen Kapitalbewegungen kamen zum Erliegen. In Groß­ britannien, Frankreich und Deutschland wurden unter staatlicher Kontrolle private Auslandsanlagen liquidiert, um Devisen für kriegswichtige Importe zu erhalten. Großbritannien und Frankreich unterstützten die russische Regierung mit umfangreichen Kriegskrediten, und die USA gewährten seit ihrem Kriegseintritt den europäischen Verbündeten Kredite zur Importfinanzierung. Der Goldstandard zerfiel mit dem Beginn des Krieges.25 Die Alliierten schlossen 1919 Friedensverträge mit Deutschland, Österreich und Bulgarien, 1920 mit Ungarn und der Türkei. Die neue türkische Regierung leistete gegen den Friedensvertrag Widerstand und erreichte 1923 günstigere Friedensbedingungen. Das revolutionäre Russland schloss 1920/1921 Friedensverträge mit Finnland, mit den drei baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen und mit Polen. In den Friedensverträgen wurden mehrere Staaten entweder nach längerer Fremdherrschaft wiederhergestellt, wie Polen, oder neu geschaffen. Die deutschen Kolonien in Afrika und im Pazifik und die arabischen Provinzen des Osmanischen Reichs wurden unter den siegreichen Mächten aufgeteilt. Als Zugeständnis an das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das von den Alliierten als Kriegsziel deklariert worden war, wurden die früheren deutschen Kolonien und türkischen Provinzen unter den neuen Herrschern als Treuhandgebiete definiert. Die Mandate sollten unter der Aufsicht des Völkerbundes im Einklang mit ihrer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zur Unabhängigkeit geführt werden, ohne dass allerdings eine bestimmte Zeit genannt wurde.26 Die Rekonstruktion der internationalen Arbeitsteilung

Der Krieg und seine Folgen hatten eine Zunahme des Protektionismus zur Folge, und die Weltwirtschaftskrise von 1920/1921 verstärkte diese Tendenz noch. Die USA führten trotz ihrer wirtschaftlichen Überlegenheit 1922 einen hoch protektionistischen Zolltarif ein. Eine internationale Wirtschaftskonferenz, die 1922 in Genua tagte, kritisierte den herrschenden Protektionismus und empfahl den Abschluss von Handelsverträgen, um die Wiederbelebung des Welthandels zu fördern. Große Er196

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 196

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

wartungen richteten sich auf die Weltwirtschaftskonferenz des Völkerbundes 1927 in Genf. Der wiederholte Aufruf zur Liberalisierung des Handels zeigte jedoch wenig Wirkung. Der Kern des Problems waren die USA, die trotz anhaltender Exportüberschüsse an dem protektionistischen Tarif von 1922 festhielten. Aber auch in anderen Ländern waren die Zollsätze höher als in der Vorkriegszeit. Dennoch folgte der Welthandel mit einer zeitlichen Verzögerung dem Aufschwung der Produktion. Seit der Mitte der 1920er-Jahre erreichte der internationale Handel wieder das Volumen der Vorkriegszeit. Die Export- und Importquoten blieben allerdings unter dem Vorkriegsniveau, da das Bruttoinlandsprodukt weiter zunahm.27 In den internationalen Kapitalbewegungen gewannen die USA gegenüber Großbritannien an Bedeutung. Vor dem Ersten Weltkrieg waren die USA noch ein Nettoschuldnerland gewesen  ; das in den USA angelegte fremde Kapital überstieg die amerikanischen Anlagen im Ausland. Im Krieg änderte sich die Situation, weil die europäischen Gläubigerländer, vor allem Großbritannien, Kapitalanlagen in den USA liquidierten, um Rüstungsimporte zu finanzieren. 1919 waren die USA ein Nettogläubigerland geworden. In den 1920er-Jahren erzielte die amerikanische Wirtschaft anhaltende Exportüberschüsse und gewährte erhebliche Auslandskredite, vor allem nach Europa und Lateinamerika. Trotz der amerikanischen Kapitalexporte blieb Großbritannien nach dem Gesamtvolumen der Auslandsanlagen der wichtigste Kapitalgeber. 1938 betrugen die britischen Auslandsanlagen 23 Mrd. Dollar, die amerikanischen Auslandsanlagen 12 Mrd. Dollar  ; die Auslandsanlagen aller anderen Länder waren wesentlich geringer. In der Verteilung der Auslandsauslagen nach den Empfängerländern zeigte sich das wachsende Gewicht der Peripherie. In Europa waren 19 Prozent des Auslandskapitals angelegt, in den USA 13 Prozent und in der Peripherie der Weltwirtschaft 46 Prozent.28 In der Peripherie der Weltwirtschaft gewannen seit den 1920er-Jahren die Unabhängigkeitsbewegungen an Einfluss. Die Kolonialmächte reagierten in einigen Fällen, indem sie die einheimische Bevölkerung an der Verwaltung beteiligten, ohne aber ihren Machtanspruch aufzugeben. Von den britischen Herrschaftsgebieten im Nahen Osten wurden in den 1930er-Jahren nur der Irak und Ägypten unabhängig.29 Russland, das nach der Revolution vom Oktober 1917 einen schwierigen Weg zu einer sozialistischen Wirtschaft einschlug, zog sich weitgehend aus der internationalen Arbeitsteilung zurück.30 Der zweite Goldstandard

Als eine wichtige Voraussetzung für die Rückkehr zur wirtschaftlichen Normalität galt die Wiederherstellung des Goldstandards. Die USA kehrten bereits 1919 zum 197

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 197

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

Goldstandard zurück. Die Konferenz von Genua empfahl 1922 die Wiederherstellung des Goldstandards in der Form eines Gold-Devisen-Standards. Nur einige Kernwährungen sollten ihre Reserven in Gold halten, die anderen Länder sollten die goldgesicherten Kernwährungen als Währungsreserven nutzen. Mit dem neuen Währungssystem sollte ein allgemeiner Run auf die Goldreserven vermieden werden. Vor der Rückkehr zum Gold müssten in vielen Ländern, darunter Deutschland, Frankreich und Großbritannien, die Währungen stabilisiert werden. Für die Übergangszeit wurden konvertible Währungen mit flexiblen Wechselkursen empfohlen  ; Devisenkontrollen wurden ausdrücklich abgelehnt.31 Der Weg zur Währungsstabilisierung verlief unterschiedlich. Einige Länder, darunter Großbritannien, stellten durch eine restriktive Währungspolitik die Vorkriegsparität zum Dollar wieder her. Andere, darunter Frankreich und Italien, entschieden sich für eine deutliche Abwertung ihrer Währung. Und schließlich gab es Länder wie Deutschland, Österreich, Polen und Ungarn, in denen die alte Währung durch eine massive Inflation völlig entwertet wurde, sodass sie eine neue Währung einführen mussten. Deutschland und Österreich kehrten 1924 zur Goldwährung zurück, Großbritannien 1925, Frankreich 1926 bis 1928, Japan erst 1930.32 Eine strukturelle Belastung des zweiten Goldstandards stellten die politischen Schulden dar. Die USA erwarteten die Rückzahlung der Kredite, die sie während des Kriegs ihren europäischen Verbündeten gewährt hatten. Die Alliierten verlangten von den ehemaligen Kriegsgegnern Reparationen für die erlittenen Kriegsschäden. Die Forderung richtete sich vor allem an Deutschland, da die anderen Länder als zahlungsunfähig galten. 1923 wurde die Reparationsforderung auf 132 Mrd. Goldmark festgelegt. Im Dawes-Plan von 1924 und im Young-Plan von 1930 wurden die Zahlungsverpflichtungen stark herabgesetzt.33 Da Deutschland nicht die notwendigen Exportüberschüsse erzielte, wurden die Devisen für den Reparationstransfer durch die Kapitalimporte aufgebracht, die nach der Währungsstabilisierung vor allem aus den USA nach Deutschland flossen. Einige Jahre herrschte ein prekäres Gleichgewicht im internationalen Zahlungsverkehr. Die Devisen aus den amerikanischen Kapitalexporten finanzierten nicht nur die Importüberschüsse der Handelspartner der USA, sondern auch die Zinsen und Tilgungsraten für die deutschen Reparationsschulden und für die interalliierten Kriegsschulden. Als seit 1928 die Börsenspekulation in den USA zunehmend Kapital an sich zog und die Bereitschaft zu Kapitalexporten zurückging, drohte das internationale Zahlungssystem zusammenzubrechen.34

198

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 198

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

Die Weltwirtschaftskrise

In der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 ging der Welthandel stark zurück. Viele Länder verschärften ihre protektionistische Außenwirtschaftspolitik, um dem Rückgang von Produktion und Beschäftigung durch Exportüberschüsse entgegenzuwirken. In den USA wurden trotz der anhaltenden Ausfuhrüberschüsse 1930 die Zollmauern noch erhöht. Ein anderes protektionistisches Instrument waren gezielte Währungsabwertungen, um die Exporte künstlich zu verbilligen und Importe zu verteuern. Frankreich hatte bereits 1926 bis 1928 durch eine Unterbewertung des Franc eine aktive Handelsbilanz erreicht. Der allgemeine Protektionismus trug wesentlich zum Niedergang des multilateralen Welthandels bei.35 Der weltweite Kursverfall an den Aktienbörsen und der Zusammenbruch vieler Banken eskalierten zu einer Finanzkrise, die in kurzer Zeit die internationalen Kapitalbewegungen zum Erliegen brachte.36 Unter dem Einfluss der Krise wurde 1931 ein Moratorium für die politischen Schulden erlassen, und schließlich wurden die Zahlungen ganz eingestellt. Dies reichte aber nicht aus, um das Vertrauen in den internationalen Kapitalmarkt wiederherzustellen.37 Nach dem Zusammenbruch des Welthandels und der internationalen Kapitalbewegungen konnten und wollten die wichtigen Welthandelsländer die Konvertierbarkeit ihrer Währungen zu festen Wechselkursen nicht mehr aufrechterhalten. Der zweite Goldstandard brach daraufhin zusammen. Einige Länder entschieden sich für Währungsabwertungen, so Großbritannien 1931 und die USA 1933. Andere Länder führten eine Devisenbewirtschaftung ein, zum Beispiel Deutschland 1931. Österreich hielt als eines der wenigen Länder am Goldstandard fest.38 Stabilisierung und Konflikt

Nach der Überwindung der Weltwirtschaftskrise blieb die Rekonstruktion der internationalen Arbeitsteilung hinter der konjunkturellen Erholung zurück. In der Wirtschaftspolitik hatte die Binnenkonjunktur Priorität, die Wiederherstellung der Außenwirtschaftsbeziehungen schien weniger wichtig. Dies galt für die USA, die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt, und auch für die meisten anderen Länder.39 Die Weltwirtschaftskonferenz von 1933, auf der Wege zur Wiederherstellung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen beraten werden sollten, war daher ein Misserfolg.40 Großbritannien verstärkte die wirtschaftlichen Beziehungen innerhalb des Com­ monwealth, um einen Ausgleich für den Zusammenbruch der Weltwirtschaft zu finden. In Lateinamerika wurde die Exportorientierung aufgegeben, die Wirt199

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 199

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

schaftspolitik konzentrierte sich stattdessen auf die Förderung einer autonomen Entwicklung durch Industrialisierung und Importsubstitution. Der Aufbau eigener Industrien sollte importierte Industrieprodukte verdrängen.41 In den USA leitete die Erkenntnis, dass der Protektionismus letztlich auf die eigene Wirtschaft zurückfiel, eine vorsichtige Revision der Außenwirtschaftspolitik ein. Der Reciprocal Trade Agreements Act von 1934 ermächtigte die Regierung, bilaterale Abkommen zum Abbau der Zollschranken auszuhandeln. Die USA schlossen auf dieser Basis Handelsverträge mit Kanada, mit lateinamerikanischen Ländern und mit europäischen Ländern, darunter auch 1938 Großbritannien.42 Die Rekonstruktion der internationalen Arbeitsteilung scheiterte letztlich an der aggressiven Politik der Diktaturen in Japan, Italien und Deutschland. Japan griff 1931 China an und errichtete in der Mandschurei den Marionettenstaat Mandschukuo, 1937 wurde der Krieg auf ganz China ausgeweitet. Italien führte 1935/36 einen Eroberungskrieg gegen Äthiopien. Deutschland annektierte 1938 Österreich und 1938/1939 die Tschechoslowakei.43 Der Zweite Weltkrieg

Im Zweiten Weltkrieg wurde der Welthandel ähnlich wie im Ersten Weltkrieg stark eingeschränkt. Die Importe wurden von den Krieg führenden Mächten nach den Prioritäten der Rüstungswirtschaft gelenkt. Deutschland wurde durch eine alliierte Blockade isoliert. Das nationalsozialistische Regime organisierte eine kontinentaleuropäische Kriegswirtschaft, in die nicht nur die besetzten Gebiete, sondern auch die schwächeren Verbündeten einbezogen wurden. Japan besetzte bis Mitte 1942 einen großen Teil Chinas, Südostasien bis Burma und Niederländisch-Indien sowie im Südpazifik die melanesischen Inseln bis zur Nordküste Neuguineas. Thailand blieb formal unabhängig, wurde aber von Japan abhängig. Rohstoffe und Lebensmittel aus den besetzten Gebieten wurden in die japanische Kriegswirtschaft einbezogen.44 Die Alliierten konnten im Unterschied zu Deutschland, Italien und Japan auf umfangreiche weltweite Ressourcen zurückgreifen.45 Politik und Wirtschaft gingen in den Kriegszielen der Aggressoren eine enge Verbindung ein. Das Ziel war die Errichtung von politisch beherrschten Wirtschaftsräumen, die eine Alternative zur offenen Weltwirtschaft darstellen sollten. Das nationalsozialistische Deutschland plante die Errichtung eines europäischen „Großwirtschaftsraums“, so der ideologische Begriff. Auch für den italienischen Bündnispartner war in diesen Plänen nur ein untergeordneter Status vorgesehen.46 Japan propagierte nach der Besetzung eines großen Teils Chinas 1940 die „Daitoa Kyoeiken“, eine „Groß-Ostasiatische Wohlstandssphäre“. 200

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 200

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

Auf dem Höhepunkt des Pazifischen Krieges wurden Vertreter der besetzten Gebiete 1943 nach Tokio eingeladen, um die „Groß-Ostasiatische Wohlstandssphäre“ zu gründen.47 Die USA und Großbritannien vereinbarten dagegen bereits in der „Atlantic Charta“ von 1941 die Rekonstruktion einer multilateralen Weltwirtschaft.48 Von 1943 bis 1945 verhandelten die USA, die Sowjetunion und Großbritannien über eine neue Weltordnung, die kapitalistische wie kommunistische Länder umfassen sollte.

Wirtschaftliche Integration in der geteilten Welt 1945–1990 Getrennte Wege zur Stabilisierung

Ein Rückblick auf die Phase der weltwirtschaftlichen Turbulenzen zeigt die nachlassende Intensität der weltweiten Handelsverflechtung. Von 1913 bis 1950 nahm das reale Bruttoinlandsprodukt um 1,8 Prozent im Jahr zu, der reale Welthandel nur um 0,9 Prozent im Jahr.49 Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte eine neue Weltwirtschaftsordnung geschaffen werden. Die Verhandlungen über die neue Weltordnung führten 1945 zur Gründung der Vereinten Nationen. Die USA zogen aus den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 die Lehre, dass eine stabile Weltwirtschaft auch für die wirtschaftliche Entwicklung im eigenen Land von Bedeutung war, und ergriffen daher die Initiative zur Wiederherstellung des internationalen Währungssystems und zur Wiederbelebung des Welthandels. Schon vor dem Ende des Kriegs begannen Planungen für eine Rekonstruktion des internationalen Währungssystems. 1944 wurde in dem kleinen Ort Bretton Woods in den USA ein neues Währungssystem beschlossen. Das Ziel war, wie schon beim Goldstandard des 19. Jahrhunderts und dem Gold-Devisen-Standard der 1920er-Jahre, die allgemeine Konvertierbarkeit der Währungen zu festen Wechselkursen. Die Stabilität der Währungen sollte aber nicht mehr auf dem Gold, sondern auf dem Dollar beruhen. Alle Währungen sollten in Relation zum Dollar definiert werden. Nur für den Dollar war, um seine Stabilität zu gewährleisten, die Konvertierbarkeit zu einer festen Parität in Gold vorgesehen. Die Bedingung für die Funktionsfähigkeit des geplanten Währungssystems war, dass die Mitgliedsstaaten ihre Wirtschaftspolitik vorrangig an der Stabilität des Wechselkurses orientierten. Allerdings waren umfangreiche Kreditmöglichkeiten vorgesehen, um einzelne Mitgliedsländer bei temporären Währungskrisen zu unterstützen. 1947 wurde in Genf das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) vereinbart. Ziel des Abkommens war die Liberalisierung des Welthandels. Das wichtigste Instrument war eine allgemeine Meistbegünstigungsklausel, zu der sich die Teilneh201

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 201

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

merländer verpflichteten. Ausgenommen waren die Agrarmärkte sowie regionale Zusammenschlüsse. Die Gestaltung einer einheitlichen Weltwirtschaft scheiterte an der Systemkonkurrenz, die 1947 zum „Kalten Krieg“ eskalierte. Kapitalistische und kommunistische Länder gingen bei der Rekonstruktion der internationalen Arbeitsteilung getrennte Wege.50 Die Liberalisierung des Handels und das internationale Währungssystem

Das 1947 vereinbarte GATT wurde zur Grundlage einer allgemeinen Liberalisierung des Handels im kapitalistischen Teil der Weltwirtschaft. In den verschiedenen Verhandlungsrunden des GATT, der Genf-Runde 1947, der Annecy-Runde 1949, der Torquay-Runde 1951, der zweiten Genf-Runde 1956, der Dillon-Runde 1961 und der Kennedy-Runde von 1964 bis 1967, wurden die Zölle ermäßigt und die quantitativen Handelsbeschränkungen, die in den Nachkriegsjahren eine große Rolle spielten, abgebaut. In der Tokio-Runde von 1973 bis 1979 wurden erstmals die Barrieren für den Handel mit Dienstleistungen reduziert. Die internationale Handelspolitik reagierte damit auf den Trend, dass Dienstleistungen, zum Beispiel von Banken und Versicherungen, in wachsendem Umfang über die Grenzen hinweg angeboten und nachgefragt wurden.51 Das Währungssystem von Bretton Woods trat 1945 in Kraft. Der Kreis der aktiven Mitglieder war zunächst klein. Die westeuropäischen Länder und Japan beharrten einstweilen auf der Devisenbewirtschaftung. Der große Importbedarf und die geringe Exportfähigkeit gegenüber den USA begründeten eine Dollarlücke, die eine Währungskonvertibilität zu festen Wechselkursen nicht zuließ. Die USA empfahlen den westeuropäischen Ländern, gemeinsam einen Ausgleich der Zahlungsbilanzen anzustreben und dann als Block dem internationalen Währungssystem beizutreten. Diese Überlegungen führten zu dem European Recovery Program (ERP), in dem die USA und zahlreiche westeuropäische Länder von 1948 bis 1952 zusammenarbeiteten. Die USA gewährten ihren europäischen Partnern im Rahmen des Marshallplans, wie das Europäische Wiederaufbauprogramm allgemein genannt wurde, Auslandshilfe zum Ausgleich der Handelsbilanzdefizite.52 Auch nach dem Ende des Marshallplans dauerte es noch mehrere Jahre, bis die westeuropäischen Länder 1958 zur Währungskonvertibilität übergingen  ; Japan folgte 1964. Seitdem setzte sich das Bretton-Woods-System für kurze Zeit im Zentrum der Weltwirtschaft durch. Seit dem Ende der 1960er-Jahre erschütterten aber wiederkehrende Währungskrisen das internationale Währungssystem. 1968 schränkten die USA die Konvertierbarkeit des Dollar ein. Schließlich wurde das System fester Wechselkurse 1973 aufgegeben. Seitdem beruhte das internationale 202

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 202

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

Währungssystem auf der Konvertierbarkeit der Währungen zu flexiblen Wechselkursen.53 Die europäische Integration

Eine bedeutende Veränderung im Zentrum der Weltwirtschaft war die europäische Integration. Im Rahmen des Marshallplans vereinbarten die westeuropäischen Staaten konkrete Schritte zur wirtschaftlichen Integration wie die Senkung von Zöllen, die Reduzierung nichttarifärer Handelshindernisse und die Gründung der Europäischen Zahlungsunion 1950. Danach kam der Integrationsprozess jedoch ins Stocken, weil die wirtschaftliche Diskrepanz zwischen den vielen Teilnehmerländern zu groß war. Die Zusammenarbeit wurde daraufhin in einem kleineren Kreis von Staaten und auf einem beschränkten Feld weitergeführt. 1951 gründeten Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die 1952 in Kraft trat. Die Gemeinschaft schuf für den Bergbau und die Stahlindustrie der Teilnehmerländer einen gemeinsamen Markt, in dem es keine Zölle oder quantitativen Handelsbeschränkungen gab.54 Nach dem Vorbild der EGKS gründeten die sechs Teilnehmer 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom). Von den drei Institutionen ging ein mächtiger Impuls für einen gemeinsamen Markt und für eine gemeinsame Wirtschaftspolitik aus. Die EWG wurde 1968 zu einer Zollunion mit einem gemeinsamen Außenzoll ausgebaut. Seit den 1970er-Jahren dehnte sie sich aus. Die Vorteile des größeren Marktes überzeugten auch Länder, die bis dahin skeptisch waren. 1973 traten Dänemark, Großbritannien und Irland der EWG bei, 1981 folgte Griechenland, 1986 Portugal und Spanien. Aus dem Europa der Sechs wurde das Europa der Zwölf.55 Die geteilte Welt

Die Länder in der Peripherie der Weltwirtschaft blieben in den 1950er- und 1960erJahren weiterhin auf die Produktion und den Export von Lebensmittel und Rohstoffen fixiert. Dadurch entgingen ihnen die Wachstumschancen, die in der Expansion des industriellen Sektors lagen. In den 1970er-Jahren trat eine Umorientierung ein. Viele Entwicklungsländer begannen einen Industrialisierungsprozess, der sie zu „Schwellenländern“ im Übergang zu einer größeren Differenzierung der Wirtschaft und einem stärkeren Wirtschaftswachstum machte.56 Die Ära des Kolonialismus ging ihrem Ende entgegen. Von 1945 bis 1975 erlangten fast alle Kolonien 203

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 203

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

ihre Unabhängigkeit. Letzte Überreste des Kolonialismus blieben einige Inseln in der Karibik, im Südatlantik, im Indischen Ozean und im Südpazifik.57 Der sozialistische Teil der Weltwirtschaft breitete sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf die osteuropäischen Länder im Einflussbereich der Sowjetunion und auf China aus. Die sozialistischen Länder nahmen weder am GATT noch am Währungs­ system von Bretton Woods teil. Sie gründeten 1949 den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) als eigenes Wirtschaftssystem. Die Intensität der Handelsverflechtung war wesentlich geringer als im kapitalistischen Teil der Weltwirtschaft.58 Zu Beginn der 1950er-Jahre wurde das Modell der drei Welten eingeführt, die sich durch ihre Wirtschaftsordnung, ihr Einkommensniveau und die unterschiedlichen Grade von Autonomie und Abhängigkeit unterscheiden. Zur „Ersten Welt“ gehören die entwickelten kapitalistischen Länder. Die „Zweite Welt“ besteht aus den sozialistischen Ländern. Als „Dritte Welt“ werden die nicht industrialisierten Länder in der Peripherie der kapitalistischen Weltwirtschaft bezeichnet. Der Begriff der „Dritten Welt“ erinnerte an die Ständeversammlung am Beginn der Französischen Revolution, als der „Dritte Stand“ die große Mehrheit der Bevölkerung vertrat, aber politisch wenig Einfluss hatte.59 Die Expansion des Welthandels

Die institutionellen Rahmenbedingungen förderten die rasche Expansion des Welthandels. Von 1950 bis 1973 nahm der Welthandel real um 7,9 Prozent im Jahr zu, weit stärker als das weltweite reale Bruttoinlandsprodukt, das mit einer jährlichen Rate von 4,9 Prozent wuchs.60 Seit den 1970er-Jahren stieg die Außenhandelsverflechtung, gemessen an der weltweiten Exportquote, über das Niveau hinaus, das am Vorabend des Ersten Weltkriegs erreicht worden war.61 Ein wachsender Teil des Welthandels bestand in Industriewaren. Die Bedeutung von Lebensmitteln und von Rohstoffen, mit Ausnahme der Energieträger Öl und Gas, ging zurück. 1980 entfielen auf Primärgüter nur noch 43 Prozent der weltweiten Exporte, auf Industriewaren 57 Prozent.62 Der Expansion des Außenhandels folgte mit einer Verzögerung von einigen Jahren eine Zunahme der internationalen Kapitalverflechtung. Neben langfristigen und kurzfristigen Krediten gewannen die Direktinvestitionen im Ausland an Bedeutung. Eine neue Form von internationalem Kapitaltransfer war die Entwicklungshilfe, die von den entwickelten Ländern in Form von Schenkungen oder verbilligten Krediten an die Länder der Dritten Welt gegeben wurde.63

204

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 204

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

Die Öffnung der Systemgrenzen seit 1990 Globalisierung

Seit den 1990er-Jahren öffneten sich die Systemgrenzen. Die meisten sozialistischen Länder gingen zu einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung über. Nach dem Ende der Sowjetunion wurde 1991 der RGW aufgelöst. Russland und die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie die osteuropäischen Länder suchten Anschluss an die kapitalistische Weltwirtschaft.64 China bewahrte die politische Fassade des Kommunismus, führte aber ebenfalls eine kapitalistische Wirtschaftsordnung ein und wandte sich mit rasch wachsenden Exporten dem Weltmarkt zu. Indien und andere Länder der Dritten Welt gaben ihre protektionistische Politik auf und integrierten sich in die internationale Arbeitsteilung. In den 1990er-Jahren kam der Begriff der „Globalisierung“ auf, um die zunehmende weltweite Verflechtung der Märkte für Waren und Dienstleistungen, für Kapital und für Arbeit zu charakterisieren. In einem weiteren Sinne ist die „Globalisierung“ inzwischen zu einem wichtigen Forschungsparadigma geworden, um das langfristige Zusammenwachsen der Wirtschaft, der Politik und der Kultur rund um den Globus zu untersuchen.65 Die Zölle und nichttarifären Handelsbarrieren wurden im Rahmen des GATT weiter abgebaut. Die Uruguay-Runde der multilateralen Verhandlungen zur Förderung des Welthandels begann 1986 und wurde 1994 abgeschlossen. Ein wichtiges Ergebnis war, dass eine neue Organisation gegründet wurde, die World Trade Organization (WTO), um die Einhaltung der Freihandelsabkommen zu überwachen. Parallel zum GATT, das den Freihandel mit Waren regelte, wurde ein neues General Agreement on Trade in Services (GATS) vereinbart, das den Freihandel mit Dienstleistungen fördern sollte.66 Eine neue Runde der Handelsliberalisierung, die 2001 in Doha in dem kleinen Golfstaat Katar eingeleitet wurde, zieht sich bisher ohne Ergebnis hin. Die entwickelten Länder wie die USA und die Mitgliedsländer der Europäischen Union weigern sich, ihre Agrarmärkte zu öffnen. Die Schwellenländer bestehen auf Schutzzöllen für ihre Industrien. Ein weiterer Streitpunkt sind Patente und Urheberrechte, da sie häufig zum Nachteil der Entwicklungsländer ausgelegt werden.67 Regionale Kooperation

Die regionalen Wirtschaftszusammenschlüsse nahmen seit den 1990er-Jahren zu. Die Mitgliedsstaaten strebten mit der regionalen Kooperation nicht nur einen größeren Markt an, sondern wollten auch ihre gemeinsame Position in den multi­ lateralen Verhandlungen um den Abbau von Zöllen und anderen Handelshemm­ 205

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 205

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

nissen verbessern. Die lateinamerikanischen Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay gründeten 1991 die Freihandelszone MERCOSUR. Als assoziierte Mitglieder traten 1996 Chile und 1997 Bolivien dem südamerikanischen Gemeinsamen Markt bei. Die größte Wirtschaftsmacht der Welt, die USA, schloss 1992 ein Freihandelsabkommen mit Kanada und Mexiko, das North American Free Trade Agreement (NAFTA). Auch die europäische Integration wurde ausgebaut. Mit dem Vertrag von Maastricht wurden die Europäischen Gemeinschaften, die bis dahin noch formal drei unterschiedliche Institutionen waren, 1992 zur Europäischen Union (EU) zusammengeschlossen. Die EU übte eine große Anziehungskraft aus. 1995 traten Finnland, Österreich und Schweden bei, 2004 Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn zusammen mit den mediterranen Kleinstaaten Malta und Zypern, 2007 folgten Bulgarien und Rumänien. Die EU war damit auf 27 Mitgliedsstaaten angewachsen.68 Im Vertrag von Maastricht wurde ein Integrationsmodell der zwei Geschwindigkeiten beschlossen. Die Länder, die den eng definierten Anforderungen an monetäre und finanzpolitische Stabilität entsprachen, sollten innerhalb der Wirtschaftsgemeinschaft eine Währungsgemeinschaft bilden. 1995 wurde für die neue europäische Währung der Name „Euro“ beschlossen. 1999 wurde der Euro in den damals elf Mitgliedsländern der Wirtschafts- und Währungsunion als Rechnungswährung eingeführt. Die Währungspolitik wurde der „Europäischen Zentralbank“ mit Sitz in Frankfurt am Main übertragen. Für die Währungen der Mitgliedsländer wurden feste Paritäten eingeführt, so in Deutschland 1,96 Mark, in Frankreich 6,56 Francs, in Italien 1936,27 Lire und in Österreich 13,76 Schilling für den Euro. Die nationalen Währungen blieben für eine Übergangszeit bestehen. Seit 2002 löste der Euro aber auch im Geldumlauf die nationalen Währungen ab. Die Eurozone, die 2002 zwölf Mitgliedsländer umfasste und 2009 auf 16 Mitglieder angewachsen war, bildet eine engere Währungs- und Wirtschaftsgemeinschaft innerhalb der EU.69 Welthandel und Weltkrisen

Parallel zur weltweiten Öffnung der Märkte näherten sich die Produktionsbedingungen in den verschiedenen Regionen der Welt an. Das Qualifikationsniveau der Beschäftigten in der Zweiten und Dritten Welt wurde erheblich verbessert. Sowohl einheimische Unternehmen als auch Auslandsniederlassungen multinationaler Konzerne nutzten das niedrige Lohnniveau, um an Standorten in der Zweiten und Dritten Welt Industrieprodukte herzustellen, die auf dem Weltmarkt mit guter Qualität zu niedrigen Preisen konkurrierten. Durch den Wettbewerb auf den Märkten für Waren und Dienstleistungen entwickelte sich ein globaler Arbeitsmarkt, 206

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 206

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

auf dem Produzenten in weit voneinander entfernten Weltregionen in Konkurrenz zueinander traten. Das hohe Einkommensniveau in den Ländern der Ersten Welt kann nur durch einen ständigen Produktivitätsvorsprung gegenüber den Standorten in der Dritten Welt bewahrt werden.70 Der Welthandel nahm weiterhin stärker zu als die Produktion. Von 1973 bis 2003 nahm der Welthandel real um 5,4 Prozent im Jahr zu, die weltweite Produktion um 3,2 Prozent.71 2005 entsprach die Exportquote 22 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts.72 Der Anteil der Industriegüter am Welthandel nahm trotz der zentralen Bedeutung der Energieträger Öl und Gas weiter zu. 2005 bestanden die weltweiten Exporte 2005 nur noch zu 28 Prozent aus Primärgütern und zu 72 Prozent aus Industrieprodukten.73 Die internationalen Kapitalbewegungen expandierten schneller als der Handel. Ein erheblicher Teil der Kapitalexporte bestand in kurzfristigen Krediten. Die Volatilität des internationalen Kapitalmarktes war eine Ursache für die Krisen neuer Art, die als „Globalisierungskrisen“ bezeichnet werden.74 Die erste Globalisierungskrise war die Lateinamerikakrise von 1982/1983. Vorangegangen war eine Phase wirtschaftlichen Wachstums, in der viele lateinamerikanische Staaten umfangreiche Auslandskredite aufgenommen hatten. 1982 kam es in mehreren Ländern zu einer Schuldenkrise, die eine drastische Abwertung der Währung mit sich brachte und mit einem längeren Rückgang von Produktion und Beschäftigung auch die reale Ökonomie erreichte. Seit den späten 1980er-Jahren erholte sich die Wirtschaft, aber die Auslandsverschuldung blieb hoch, und die Gefahr von Währungskrisen war nicht gebannt. 1994 brachen neue Währungskrisen in Mexiko und Brasilien aus.75 Die latente Instabilität der Weltwirtschaft wurde durch die Asienkrise von 1997 bestätigt. Eine Abschwächung des wirtschaftlichen Wachstums und ein Zusammenbruch der Immobilienspekulation führten 1997 zunächst in Thailand, dann auch in Indonesien, Malaysia, den Philippinen, Singapur, Südkorea und Hongkong zu einem Ende der Auslandskredite, zu Kapitalflucht und zu fallenden Wechselkursen. Die ausländischen Kreditgeber erlitten empfindliche Verluste. Im Inland verschärfte die Schuldenkrise die Wirtschaftskrise und führte zu einem Rückgang des Sozialprodukts und steigender Arbeitslosigkeit. Nicht nur die Schwellenländer Südostasiens, sondern auch Japan wurde von der Krise erreicht.76 Der Zusammenbruch des Immobilienmarktes in den USA löste 2008 eine weltweite Finanzkrise aus, die zu einem allgemeinen Rückgang der Produktion und Beschäftigung, des Welthandels und der internationalen Kapitalbeziehungen führte.77

207

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 207

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

Anmerkungen   1 Paul Bairoch, Victoires et déboires. Histoire économique et sociale du monde du XVIe siècle à nos jours, 3 Bde., Paris 1997  ; Rolf Walter, Geschichte der Weltwirtschaft, Köln 2006  ; Reinhard Wendt, Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500, Paderborn 2007.   2 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009  ; Kenneth Pomeranz, The Great Divergence. China, Europe, and the making of the modern world, Princeton 2000.   3 Paul Bairoch, The economic development of the third world since 1900, London 1977  ; Bairoch, Victoires et déboires, Bd. 2, 639–682.   4 Hans Pohl, Aufbruch der Weltwirtschaft. Geschichte der Weltwirtschaft von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1989.   5 Massimo Livi-Bacci, A concise history of world population, Oxford 2006.   6 Wendt, Vom Kolonialismus zur Globalisierung, 266.   7 David K. Fieldhouse, Die Kolonialreiche seit dem 18. Jahrhundert. Fischer Weltgeschichte Bd. 29, Frankfurt am Main 1965  ; Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen, München 1995.   8 Paul Bairoch, Mythes et paradoxes de l’histoire économique, Paris 1994, 118  ; Angus Maddison, The world economy. Historical statistics, Paris 2003, 256.   9 Gerold Ambrosius, Internationale Wirtschaftsbeziehungen, in  : Gerold Ambrosius/Dietmar Petzina/Werner Plumpe, Hg., Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, München 2006, 303–327. 10 Paul Bairoch, Commerce extérieur et développement économique de l’Europe au XIXe siècle, Paris 1976. 11 Albert G. Kenwood/Alan L. Lougheed, The growth of the international economy 1820–2000, London 1999, 61–77  ; Pohl, Aufbruch der Weltwirtschaft, 45–67. 12 Marianne Bastid, Les mondes asiatiques, in  : Pierre Léon, Hg., Histoire économique et sociale du monde, Bd. 4, Paris 1978, 529–558  ; Erich Pilz/Rainer Dormels/Sepp Linhart, Ostasien von 1600 bis 1900  : Ein Überblick, in  : Sepp Linhart/Susanne Weigelin-Schwiedrzik, Hg., Ostasien 1600 bis 1900, Wien 2004, 15–54. 13 Elias Kolovos, Hg., The Ottoman Empire, the Balkans, the Greek Islands, Istanbul 2007. 14 Yves Person, Économies et sociétés en Afrique Noire, in  : Pierre Léon, Hg., Histoire économique et sociale du monde, Bd. 4, Paris 1978, 473–500  ; Lucette Valensi, Pays avancés et pays dominés, in  : ebd., Bd. 3, 557–586. 15 Bastid, Mondes asiatiques, 534  ; Pilz/Dormels/Linhart, Ostasien, 23, 38, 47. 16 Angus Maddison, Contours of the world economy, 1–2030. Essays in macro-economic history, Oxford 2007, 81. 17 Maddison, Contours of the world economy, 348. 18 Alessandro Roncaglia, La corsa al petrolio, in  : Valerio Castronovo, Hg., Storia dell’economia mondiale, Bd. 4, Milano 2000, 267–281. 19 Kenwood/Lougheed, Growth of the international economy, 83. 20 Bairoch, Victoires et déboires, Bd. 2, 317–324. 21 Gerd Hardach, Internationale Währungssysteme, in  : Gerold Ambrosius/Dietmar Petzina/Werner Plumpe, Hg., Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, München 2006, 329–345. 22 Walter, Weltwirtschaft, 113–115. 23 John Stuart Mill, Principles of Political Economy (erstmals 1848), Bd. 2, Toronto 1965, 625–626.

208

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 208

22.09.2010 07:50:24

Internationale Arbeitsteilung

24 Barry Eichengreen, Vom Goldstandard zum Euro. Die Geschichte des internationalen Währungssystems, Berlin 2000, 21–68. 25 Gerd Hardach, Der Erste Weltkrieg. Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert Bd. 2, München 1973  ; John Singleton, „Destruction…and misery”  : The First World War, in  : Michael J. Oliver/ Derek H. Aldcroft, Hg. Economic disasters of the twentieth century, Cheltenham 2007, 9–50. 26 Margaret MacMillan, Peacemakers. The Paris Conference of 1919 and its attempt to end the war, London 2001. 27 Derek H. Aldcroft, Die zwanziger Jahre. Von Versailles nach Wall Street, 1919–1929. Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert Bd. 6, München 1978, 117–146, 216–250. 28 Bairoch, Victoires et déboires, Bd. 3, 317–324. 29 David K. Fieldhouse, Western imperialism in the Middle East, 1914–1958, Oxford 2006. 30 Derek H. Aldcroft, Die zwanziger Jahre, 24–71. 31 Marta Petricioli, Hg., Une occasion manquée  ? 1922  : La reconstruction de l’Europe, Bern 1995. 32 Eichengreen, Goldstandard, 69–104. 33 Albrecht Ritschl, Deutschlands Krise und Konjunktur 1924–1934, Berlin 2002. 34 Gerd Hardach, Weltmarktorientierung und relative Stagnation. Währungspolitik in Deutschland 1924–1931, Berlin 1976  ; Harold James, The Reichsbank and public finance in Germany 1924–1933, Frankfurt am Main 1985. 35 Thomas E. Hall/David Ferguson, The Great Depression. An international desaster of perverse economic policies, Ann Arbor 1998  ; Charles P. Kindleberger, Die Weltwirtschaftskrise. Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert Bd. 4, München 1973, 179–182. 36 Charles P. Kindleberger, Manias, panics and crashes, Hoboken 2005  ; Michael J. Oliver, Financial crises, in  : ders./Derek H. Aldcroft, Hg. Economic disasters of the twentieth century, Cheltenham 2007, 182–235. 37 Barry Eichengreen, Golden fetters. The gold standard and the Great Depression, Oxford 1992, 100– 221. 38 Eichengreen, Goldstandard, 113–131. 39 Eric Rauchway, The Great Depression and New Deal, Oxford 2008. 40 Bairoch, Victoires et déboires, Bd. 3, 207–210  ; Eichengreen, Golden fetters, 317–347. 41 A. J. H. Latham, The depression and the developing world, 1914–1939, London 1981. 42 W. R. Garside, The Great Depression, 1929–33, in  : Michael J. Oliver/Derek H. Aldcroft, Hg. Economic disasters of the twentieth century, Cheltenham 2007, 51–82. 43 Takafusa Nakamura, A history of Showa Japan, 1926–1989, Tokyo 1998, 83–202  ; Nicola Labanca, Oltramare. Storia dell’espansione coloniale italiana, Bologna 2002, 184–197  ; J. Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007, 380– 775. 44 Nakamura, History of Showa Japan, 203–255. 45 Mark Harrison, Hg., The economics of World War II. Six great powers in international comparison, Cambridge 1998  ; Alan Milward, Der Zweite Weltkrieg. Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert Bd. 5, München 1977. 46 Milward, Der Zweite Weltkrieg, 129–165. 47 Nakamura, History of Showa Japan, 208–210. 48 Milward, Der Zweite Weltkrieg, 382–383. 49 Maddison, Contours of the world economy, 81. 50 Herman van der Wee, Der gebremste Wohlstand. Wiederaufbau, Wachstum und Strukturwandel 1945–1980. Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert Bd. 6, München 1984.

209

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 209

22.09.2010 07:50:25

Internationale Arbeitsteilung

51 Bernard Hoekman/Michael M. Kalecki, The political economy of the world trading system, Oxford 2001. 52 Gerd Hardach, Der Marshall-Plan. Auslandshilfe und Wiederaufbau in Westdeutschland 1948–1952, München 1994. 53 Eichengreen, Goldstandard, 132–248. 54 John Gillingham, Coal, steel, and the rebirth of Europe 1945–1955, Cambridge 1991. 55 Gerold Ambrosius, Wirtschaftsraum Europa. Vom Ende der Nationalökonomien, Frankfurt am Main 1996. 56 Bairoch, Economic development of the third world, 194–199. 57 Osterhammel, Kolonialismus, 119–124. 58 Van der Wee, Der gebremste Wohlstand, 439–450. 59 Silke Hensel, Die Entstehung einer Dritten Welt. Die Ursachen von Unterentwicklung am Beispiel Lateinamerikas, in  : Friedrich Edelmayer/Erich Landsteiner/Renate Pieper, Hg., Die Geschichte des europäischen Welthandels und der wirtschaftliche Globalisierungsprozess, München/Wien. 2001, 182–206, hier 182. 60 Maddison, Contours of the world economy, 81. 61 Bernhard Roth, Weltökonomie oder Nationalökonomie. Tendenzen des Internationalisierungsprozesses seit Mitte des 19. Jahrhunderts, Marburg 1984, 137–142. 62 Kenwood/Lougheed, Growth of the international economy, 303. 63 Kenwood/Lougheed, Growth of the international economy, 253–263. 64 Steven Morewood, The demise of the command economies in the Soviet Union and its outer empire, in  : Michael J. Oliver/Derek Aldcroft, Hg., Economic disasters of the twentieth century, Cheltenham 2007,   258–311. 65 Peter E. Fässler, Globalisierung, Köln/Weimar/Wien 2007  ; Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung, München 2003  ; Peer Vries, Global economic history  : A survey, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 20 (2009), H. 2, 133–169. 66 Stephen D. Cohen/Joel R. Paul/Robert A. Blecker, Fundamentals of U.S. foreign trade policy, Boulder 1996. 67 Ross P. Buckley, The WTO and the Doha round. The changing face of world trade, Den Haag 2003  ; Dilip K. Das, The Doha round of multilateral trade negotiations. Arduous issues and strategic responses, Basingstoke 2005. 68 Kenneth Dyson/Kevin Featherstone, The road to Maastricht. Negotiating economic and monetary union, Oxford 1999  ; John Gillingham, Design for a new Europe, Cambridge 2006. 69 Chris Mulhearn/Howard R. Vane, The Euro. Its origins, development and prospect, Cheltenham 2008 ; Europäische Zentralbank, Jahresbericht 2009, 194. 70 Richard B. Freeman, Hg., Inequality around the world, Basingstoke 2002  ; Richard B. Freeman/ Remco H. Oostendorp, Wages around the world, Cambridge 2000. 71 Maddison, Contours of the world economy, 81. 72 United Nations, Statistical Yearbook 2007, New York 2007, 133, 599. 73 United Nations Conference on Trade and Development, Handbook of Statistics 2006, Genf 2007, 72. 74 Peter Feldbauer/Gerd Hardach/Gerhard Melinz, Hg., Von der Weltwirtschaftskrise zur Globalisierungskrise 1929–1999, Wien/Frankfurt am Main 1999. 75 Vittorio Corbo, Latin America and the external crisis of the second half of the 1990s, in  : Enrique Bour/Daniel Heymann/Fernando Navajas, Hg., Latin American economic crises, Basingstoke 2004, 24–39  ; Martin Feldstein, Hg., Economic and financial crises in emerging market economies, Chicago 2003  ; Christian Suter, Weltwirtschafts- und Globalisierungskrise in Lateinamerika, in  : Peter

210

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 210

22.09.2010 07:50:25

Internationale Arbeitsteilung

Feldbauer/Gerd Hardach/Gerhard Melinz, Hg., Von der Weltwirtschaftskrise zur Globalisierungskrise 1929–1999, Wien/Frankfurt am Main 1999, 145–159. 76 Graham Bird/Alistair Milne, Miracle to meltdown. A pathology of the East Asian financial crisis, in  : Graham Bird, Hg., International finance and the developing economies, Basingstoke 2004, 74–91. 77 Michael Bloss/Dietmar Ernst/Joachim Häcker/Nadine Eil, Von der Subprime-Krise zur Finanzkrise. Immobilienblase  : Ursachen, Auswirkungen, Handelungsempfehlungen, München 2009  ; Richard Posner, A failure of capitalism. The crisis of ’08 and the descent into depression, Cambridge MA 2009.

211

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 211

22.09.2010 07:50:25

Der U.N. High Commissioner for Refugees (UNHCR) hat im Jahr 2001 Zelte  für Flüchtlinge außerhalb der ­Grenzstadt Chaman im Südwesten Pakistans errichtet. Ein afghanischer Knabe zieht einen Sack mit Hilfsgütern.  Quelle: The New York Times/Redux/laif

212

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 212

22.09.2010 07:50:25

Kapitel 7

Internationale Politik1 Ulrich Brand

Internationale Politik (im Folgenden  : IP) ist ein intergouvernementaler, d. h. zwischen nationalen und supranationalen Herrschaftsträgern verhandelter Prozess. Sie findet im Modus der Diplomatie und bilateralen Verträge, über internationale politische Institutionen (formelle Organisationen, Netzwerke oder Vertragswerke) und über offene Gewalt bis hin zu Kriegen statt. Einige der im 20. Jahrhundert gegründeten Institutionen haben tendenziell globale Reichweite und sind thematisch offen wie der Völkerbund oder die UNO  ; andere wirken regional wie der Gemeinsame Markt des Südens (Mercosur) in Lateinamerika oder sind auf bestimmte Themen ausgerichtet wie die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO).2 Organisationen der IP wie UNO oder Weltbank werden häufig selbst zu internationalen Akteuren, häufig aber sind sie Terrains, auf denen v. a. Nationalstaaten Konflikte austragen und Vereinbarungen treffen wie die Klimarahmenkonvention. IP erschöpft sich nicht in staatlichen Politiken und internationalen politischen Institutionen, sondern ist ein umfassendes Netz von Machtbeziehungen, in denen auch Unternehmen und Konzerne, Medien, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und soziale Bewegungen, Denkfabriken und Stiftungen tätig sind.3 Privatkapitalistische und staatliche Firmen agieren seit den Anfängen des modernen Kapitalismus international gegenüber ‚ihren‘ Regierungen oder auf internationaler Ebene. Um Strukturen, Dynamiken und Prozesse, Akteure und Konfliktlinien der IP in globalgeschichtlicher Perspektive zu verstehen, dürfen also nicht nur die politischen Ereignisse im engeren Sinne dargestellt werden. IP ist integraler Teil sich dynamisch entwickelnder und widersprüchlicher, oft krisenhafter sozioökonomischer und kultureller Strukturen und Prozesse sowie damit verbundener Akteure. Der Geograf David Harvey4 spricht von einer kapitalistischen und einer politisch-territorialen Logik der Macht in der IP. Einmal spielen beide Logiken zusammen, dann dominiert die eine über die andere. Ein geeignetes Ordnungsprinzip für die Analyse der IP der letzten 200 Jahre ist m. E. die kapitalistische Produktions- und Lebensweise.5 Industrielle Warenproduktion und das sich verallgemeinernde kapitalistische Konkurrenzprinzip, Lohnarbeit als dominante Form der Arbeitsorganisation (längst nicht als einzige) und damit ver213

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 213

22.09.2010 07:50:26

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

bunden eine spezifische Form der Mehrwertaneignung wurden zu wesentlichen Strukturprinzipien. Diese Produktions- und Lebensweise wird unter Bedingungen von Weltmarktkonkurrenz und innergesellschaftlichen wie internationalen Widersprüchen – v. a. jenen zwischen sozialen Klassen bzw. der gesellschaftlichen Produktion und deren privater Aneignung – politisch-institutionell abgesichert. In Territorialkonflikten kommt es zu Kriegen um die Verschiebung staatlicher Grenzen oder die Bildung neuer Staaten. Ethnisch kodierte Zugehörigkeiten (wie zur ‚Nation‘) oder Vorstellungen von ‚Fortschritt‘ und ‚Entwicklung‘ bestimmen ebenfalls die IP. Ihre Probleme variieren  : In bestimmten historischen Phasen ist die Bearbeitung menschenrechtlicher Fragen wie das Verbot des Sklavenhandels im 19. Jahrhundert vorrangig (eines der Themen auf dem Wiener Kongress 1814/15), in den 1920er-Jahren war es die Ächtung des Kriegs, am Ende des 20. Jahrhunderts waren es v. a. Umweltprobleme und Klimawandel. Die (retrospektive) Analyse von IP soll hier im Sinne akzeptierter Normen, Regeln und Institutionen im Kontext der internationalen politischen Ökonomie, politischer (inklusive militärischer) Kräftekonstellationen sowie dominanter Diskurse vorgenommen werden. Sind diese Konstellationen breit akzeptiert und führen sie zu sozioökonomischen Dynamiken, kann von einer Entwicklungsweise gesprochen werden.6 Damit soll deutlich werden  : IP ‚steuert‘ nicht die Weltgesellschaft, sie ist nicht ihr Zentrum. Selbst hinter der Frage von Krieg oder Frieden stehen nicht nur Regierungen, sondern auch gesellschaftliche Akteure wie nationalistische bzw. Friedensgruppen oder die Rüstungsindustrie. Hinzu kommt, dass in den letzten 200 Jahren die öffentliche Meinung in Bezug auf IP immer wichtiger wurde und den Handlungsspielraum ihrer Akteure beeinflussen konnte.7 Die Stabilisierung widersprüchlicher und tendenziell krisenhafter gesellschaftlicher Verhältnisse ist Teil der IP. Dies umfasst eine spezifische und herrschaftliche internationale Arbeitsteilung und Akkumulationsdynamik, die Sicherung von Eigentumsrechten und von kapitalistischen Produktions- und Klassenverhältnissen, von Geschlechter-, ethnischen oder Naturverhältnissen, spezifischen Formen von Staat und Politik sowie die Vermeidung von Krisen.8 Diese Entwicklungsweisen, die lokale und regionale Krisen und Kriege nicht ausschließen, gehen mit Weltordnungen einher, deren Machtkonfigurationen mehr oder weniger stabil sind. Im 19. und 20. Jahrhundert bestanden zwei relativ stabile Weltordnungen  : die Pax Britannica in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die für weite Teile der Welt galt, und die Pax Americana in der Mitte des 20. Jahrhunderts, die einer Pax Sovjetica gegenüberstand (der Schwerpunkt des Kapitels liegt auf der westlichen Welt). Stabilisierung und Veränderung sozialer Verhältnisse tendieren nicht automatisch zu ‚Ordnung‘, sondern finden durch soziale Auseinandersetzungen statt und bleiben herrschaftlich. 214

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 214

22.09.2010 07:50:26

Internationale Politik

Stabilisierung kann auch misslingen und es kommt zu kleineren oder größeren Krisen. Dies rechtfertigt, unterschiedliche Phasen globalhistorischer Entwicklung darzustellen. Sie haben eher heuristischen Charakter, denn sie vollziehen sich in verschiedenen Bereichen auch zeitversetzt, lokal unterschiedlich und diskontinuierlich. Gleichwohl gibt es synchrone Entwicklungen.9 Diese hängen v. a. mit Dynamiken der globalen politischen Ökonomie und weltweit dominierenden Orientierungen (nach dem Zweiten Weltkrieg etwa jene von ‚Entwicklung‘) zusammen, aber auch mit territorialen Expansions- und Kontrollbestrebungen mächtiger Staaten. Die Orientierung an wirtschaftlichem Wachstum, an Gewinnen und Akkumulation von Kapital ist zentraler Bezugspunkt staatlichen und intergouvernementalen Handelns. Eine Gefahr bei dem Versuch, die globale Geschichte der IP zu schreiben, liegt nicht nur darin, Vollständigkeit vorzutäuschen, sondern, insbesondere wenn sie das 19. und 20. Jahrhundert umfasst, eine eurozentrische Perspektive einzunehmen. Damit würde nicht nur die Einheit kolonialer und neokolonialer Herrschaft suggeriert, sondern die außereuropäischen Regionen, ihre Entwicklungen und Akteure blieben ohne Eigengewicht, innere Machtverhältnisse und Dynamiken würden übergangen, die Gesellschaften erschienen als passiv  ; ihre Modernisierung schiene nur von außen (von Europa aus) möglich.10 Andererseits würden Gewalt und Zwang, die von Europa ausgingen, und viele Entwicklungen in außereuropäischen Regionen unsichtbar gemacht. Es bedarf daher einer „multizentrischen Interaktionsgeschichte“11, in der auch außereuropäische Regionen als Kompetenzzentren, Machtfaktoren und Akteure wahrgenommen werden. Exemplarisch soll dies in diesem Beitrag an Europa und Lateinamerika gezeigt werden. Es interessiert auch, wie und warum in den letzten Jahrzehnten Prozesse politischer regionaler Integration wichtiger werden. Politisch-praktische Kritiken an herrschenden Entwicklungen, Widerstände und lokale Gegebenheiten können nur knapp erwähnt werden. Dennoch wird in gewissem Sinn auch hier „eurozentrisch“ argumentiert, da die strukturierende Macht in der IP seit dem 19. Jahrhundert vom europäischen (Post-) Kolonialismus und Imperialismus ausging, dessen Zentrum sich nach dem Ersten Weltkrieg von Europa in die USA verlagerte. Schließlich  : Das hier entwickelte globalgeschichtliche Verständnis stützt sich nicht auf vermeintliche ‚Kausalitäten‘ und ‚notwendige‘ Entwicklungen, sondern berücksichtigt Kontingenzen und Brüche, offene Auseinandersetzungen und eingeschliffene Handlungsroutinen, Dominanzen und Marginalisierungen bzw. ausgeschlossene Alternativen (Ausschlüsse, die über die Geschichtsschreibung und die Politikwissenschaft oft nochmals bestätigt werden).12 Geschichte wird gemacht und bleibt daher immer verbunden mit Interessen und Werthaltungen, Macht und Herrschaft 215

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 215

22.09.2010 07:50:26

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

sowie Strategien ihrer Durchsetzung. Entsprechend haben sich in historischen Auseinandersetzungen, Kompromissen und Möglichkeiten strukturierende Dynamiken als Handlungsbedingungen tief verankert – wie eben der Staat und IP, die Ausrichtung ökonomischen Handelns am Profit und die Orientierung an ‚moderner Rationalität‘, an Fortschritt und Entwicklung, aber auch an bestimmten Vorstellungen von Emanzipation.

Nach dem Wiener Kongress  : Europäisches Gleichgewicht und der Übergang zum liberalen Kapitalismus In vielen Teilen der Welt bildete sich erst im späten 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Nationalstaat als Basiseinheit von Politik und damit auch von IP heraus. Bis dahin waren das Habsburgerreich, Russland und das Osmanische Reich durch ihre Dynastien zusammengehalten und „Vielvölkerstaaten“.13 Großbritannien baute im 19. Jahrhundert ein Empire auf, in dem 1913 ein Viertel der Menschheit lebte, im chinesischen Reich, das auch kein moderner Nationalstaat war, lebte ein weiteres Viertel.14 Zwar zeichnete sich auf dem Wiener Kongress ab, dass Nationalstaaten die anerkannten politischen Subjekte der IP wurden. Doch waren sie nicht das Gegenstück zu Imperien und Dynastien, die ja durch den Wiener Kongress restauriert wurden. Vielmehr gab das nationalstaatliche Prinzip diesen die Form, in der IP auf komplexe Art handlungsfähig zu werden.15 Die Territorialstaaten entstanden aus feudalen Formen und erwiesen sich als erfolgreich  : Offenbar vermochte der dynastische oder imperiale Nationalstaat als Territorialstaat ökonomische, politische und ideologische Ressourcen besser zu mobilisieren. Er ermöglichte Wachstum und Konkurrenzfähigkeit, flächen­ deckende Durchsetzung politischer Herrschaft auf seinem Territorium sowie die Loyalität der Bevölkerung. Genau hierin hatte der bereits früh konsolidierte und konstitutionalisierte britische Nationalstaat Vorteile. Die Entwicklung der Territorialstaaten fand in einem konkurrierenden internationalen Umfeld statt. Die IP wurde im 19. Jahrhundert durch fünf Großmächte (Russland, Österreich-Ungarn, Preußen, Frankreich, Großbritannien), nicht jedoch durch das Osmanische Reich bestimmt. Wenn es in diesem Beitrag später um Lateinamerika geht, wird deutlich werden, dass auch dessen junge Nationalstaaten IP betrieben, dabei jedoch auf den Kontinent beschränkt blieben. Dort dominierte Großbritannien als internationale Macht (zu Beginn des Jahrhunderts Spanien und Portugal ablösend, gegen Ende in einigen Teilen in Konkurrenz mit den USA). 216

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 216

22.09.2010 07:50:26

Internationale Politik

In der Französischen Revolution und ab 1815 gewannen die Nation bzw. das nationalstaatliche Prinzip an Bedeutung. Die Nation umfasst alle auf dem Gebiet der staatlichen Administration Lebenden, wenngleich diese sehr oft unterschiedlichen, wesentlich über Sprache zugeschriebenen Nationalitäten angehören. Die Kraft der Nationalstaatlichkeit wurde u. a. in Österreich-Ungarn und im Osmanischen Reich deutlich. Diese beiden Vielvölkerstaaten gingen bei mangelnder wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit in der Phase des liberalen, industriellen Kapitalismus zugrunde, weil ihre Zentralregierungen immer weniger in der Lage waren, zwischen den Völkern zu vermitteln und die Herrschaft bestimmter Bevölkerungsgruppen (der deutschsprachigen Österreicher in Österreich-Ungarn bzw. der Muslime im Osmanischen Reich) zu stabilisieren.16 Bevölkerungsgruppen wie die Tschechen oder die Ungarn hatten ihre eigenen nationalen Eliten, forcierten das sprachlich-nationale Dispositiv und ihre eigenen Nationalstaaten – die sie dann vielfach auch durchzusetzen vermochten.17 Der Wiener Kongress – Anfang internationaler Diplomatie

Bereits im 18. Jahrhundert stieg Großbritannien zur führenden Wirtschaftsmacht auf und löste darin die Niederlande ab. Unterbrochen wurde dieser Prozess durch die französischen Revolutionskriege bzw. die napoleonischen Eroberungskriege. Sie waren nicht nur territoriale und damit politisch-militärische Auseinandersetzungen, sondern stellten eine „klassenspezifische, säkulare und nationale Bedrohung […] für die alten Regime“ dar.18 Am Ende stand die Einsicht, dass viele Regierungen finanziell und personell mit dem Militarismus des 18. Jahrhunderts (teuren stehenden Heeren und Söldnerheeren), überfordert waren. Der Wiener Kongress (September 1814 bis Juni 1815) war notwendig geworden, um die durch die Napoleonischen Kriege verletzten Prinzipien des Westfälischen Friedens von 1648 bzw. des Friedens von Utrecht 1713 zu restaurieren  : das Gleichgewicht der Mächte und die gegenseitig anerkannte Souveränität der Nationalstaaten bzw. Dynastien. Die siegreiche Viererallianz aus Großbritannien, Preußen, Österreich und Russland und der Verlierer Frankreich, der mit am Verhandlungstisch saß, bestimmten die Nachkriegsordnung, wobei insbesondere Großbritannien mit seinen wirtschaftlichen Ressourcen und der Bereitschaft, gegenüber Frankreich Konzessionen zu machen, ein „Gleichgewicht der Mächte“ einschließlich Frankreich installierte. Die britische Regierung und der Wiener Kongress förderten eine aktive Gleichgewichts- und Bündnispolitik zur Vermeidung von Kriegen, ein multilaterales Konsultationssystem zur Bearbeitung von Territorialkonflikten sowie die Ausarbeitung eines europäischen öffentlichen Rechts, um dem Arrangement der fünf Großmächte rechtsbasierte Legitimität und 217

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 217

22.09.2010 07:50:26

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

Autorität zu verleihen.19 Vor allem vier Neuerungen brachte der Wiener Kongress, die dann in der IP wichtig blieben  : Erstens, die Interessen kleiner Staaten wurden anerkannt, wenn auch nicht sonderlich berücksichtigt (1815 nahmen 200 Staaten, Städte und Gebietskörperschaften aller Art am Kongress teil). Zweitens, der Mechanismus internationaler Konsultationen  : Sie fanden im 19. Jahrhundert immer nur ad hoc statt und wurden nicht zwingend von Regierungen initiiert, sondern manchmal auch von einflussreichen Persönlichkeiten. Zudem fanden zunächst Vorkonferenzen von Experten und Fachleuten statt, und erst danach kamen Regierungsvertreter zu diplomatischen Hauptkonferenzen zusammen. Drittens entstand in Ansätzen, was heute als „transnationales Lobbying“ bezeichnet wird  : Interessengruppen wie die deutschen Verleger oder Anti-Sklaverei-Gruppen traten für ihre Anliegen der Pressefreiheit bzw. der Abschaffung der Sklaverei ein. Viertens wurde die Anwesenheit von Journalisten üblich.20 Dieser neue Modus der IP musste erst gelernt werden. Gleichwohl waren die internationalen Konferenzen das 19. Jahrhundert hindurch eine Angelegenheit der Großmächte. Die unabhängigen Nationalstaaten Latein­ amerikas spielten hier keine wichtige Rolle. Entstehung der liberalkapitalistischen sowie kolonialen Produktionsund Lebensweise und Pax Britannica

Nach dem Wiener Kongress begannen sich die weltwirtschaftlichen Verhältnisse dramatisch zu verschieben  : Die industrielle Produktion und der Welthandel unter Führung von Großbritannien dehnten sich aus. Der Übergang vom Handels- zum Industriekapitalismus setzte ein (vgl. das Kapitel Arbeit). Dazu bedurfte es einer Infra­struktur (Eisenbahn, Dampfschifffahrt etc.) und des Zugangs zu Kohle und später zu Eisenerz, aber auch der Ausbildung konkurrenzfähiger ökonomischer und sozialer Organisationen. Karl Polanyi nannte dies The great transformation, die Entbettung der ‚freien Marktwirtschaft‘ aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben.21 Sie erfolgte u. a. über die Abschaffung der an den Geburtsort gebundenen Armenfürsorge ab 1834 und die Schaffung nationaler Arbeitsmärkte. Großbritannien zog weltweit Finanzkapital an und kontrollierte Ressourcen und Absatzmärkte. Der Bankenplatz London und der Pfund Sterling als internationales Zahlungsmittel dominierten.22 Ab ca. 1830 entwickelte Großbritannien eine liberale Wirtschaftspolitik (u. a. Abschaffung der Getreidezölle ab 1846). Der Staat war wirtschaftspolitisch aktiv, sicherte die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse und die öffentliche Ordnung. Parlamente dienten eher der Kontrolle der Regierung als der Gesetzgebung. Es gab kein genuin wirtschaftspolitisches Instrumentarium, um in wirtschaftlichen Krisen zu intervenieren. 218

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 218

22.09.2010 07:50:26

Internationale Politik

Großbritannien hatte nicht nur ein starkes Wirtschaftsbürgertum, ein effizientes Regierungssystem, eine konstitutionelle Monarchie und die stärksten privatwirtschaftlichen Innovationen in Manufakturen und Fabriksindustrien. Auch die Kolonien wurden – nach den Erfahrungen der Amerikanischen und der Französischen Revolution – als stramm autokratisches Regime organisiert, mit gewissem Spielraum in den „weißen Siedlerkolonien“, aus denen nach dem Ersten Weltkrieg durch die zweite Entkolonialisierung Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika als eigenständige Staaten hervorgingen.23 Die Gründung von Gewerkschaften und die in den 1830er- und 1840er-Jahren bedeutende chartistische Bewegung zwangen die Bourgeoisie zudem zu Kompromissen. Von 1849 bis zur Krise des Jahres 1873 entstand – ausgehend von Nordeuropa – eine starke wirtschaftliche Dynamik. Sie löste die erste Phase der Globalisierung aus, die bis zum Ersten Weltkrieg anhielt. Während zuvor der Besitz an Grund und Boden die feudale Grundlage ökonomischer und politischer Macht gewesen war, entstand nun eine neue Form von lokaler, nationaler und internationaler Macht in den sich industrialisierenden Ländern, die vorrangig am Industrie- und Finanzkapital hing. Großbritannien stieg zur politischen und ökonomischen Weltmacht auf. Eine stabile (Welt-)Wirtschaftsordnung wurde zentrales Desiderat der IP. Für diese Zeit kann insofern von einer Pax Britannica gesprochen werden, als die britische Regierung in der Lage war, die internationalen Verkehrsregeln und Finanz-, Produktions- und Austauschnormen zu bestimmen. Andere Länder übernahmen diese Regeln und Normen unter dem Druck der Konkurrenz oder ihre Übernahme wurde bilateral ausgehandelt. Die Transportkosten verbilligten sich nach dem Bau der Eisen­bahnen erheblich, was die Intensivierung der internationalen Arbeits­teilung ermöglichte, lange zugunsten Großbritanniens. Die Weltbevölkerung stieg von 900 Millionen auf 1.600 Millionen (der Großteil lebte in Asien). Eine kurze Wirtschaftskrise 1847/48, die autoritären, sozial enorm polarisierten politischen Verhältnisse sowie das Drängen bürgerlicher Kräfte auf Demokratisierung führten 1848 zu einer europäischen Revolutionsbewegung, in der neben politischen Forderungen wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit und der Einführung politischer Verfassungen auch soziale Forderungen wie das Recht auf Arbeit erhoben wurden. In Polen, Böhmen, Italien und Ungarn wurde auch nationale Unabhängigkeit resp. nationale Einigung gefordert. Diese Bewegung nahm in Paris ihren Ausgang und breitete sich rasch über einige deutsche Staaten (v. a. Baden) nach Wien und in andere Teile des Habsburgerreichs aus. Nach kurzer Verunsicherung der Herrschenden, die zu enormen Zugeständnissen führte (v. a. zur Einsetzung liberaler Regierungen), begann die Reaktion. Dauerhaft siegreich blieb die Revolution von 1848/49 einzig in der Schweiz. Bis 1849 wurden die radikalen 219

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 219

22.09.2010 07:50:26

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

wie die liberalen Bewegungen von reaktionären Kräften erfolgreich unterdrückt. Verfassungen wurden eher von oben erlassen als von demokratischen Kräften erkämpft. In Österreich wurde die ohnehin konservative Verfassung von 1849 im Jahr 1851 aufgehoben und die Rückkehr zum Absolutismus betrieben. Auch die um 1848 verstärkten Bemühungen einzelner ethnischer Gruppen um nationale Unabhängigkeit wurden unterdrückt. Die Entwicklung der liberalkapitalistischen und kolonialen Produktions- und Lebensweise kann nicht ohne jenen Rassismus verstanden werden, der im 19. Jahrhundert noch weitgehend biologisch begründet wurde. ‚Das Andere‘ wirkte in den modernen Gesellschaften integrierend. Das galt auch für den Ende des 19. Jahrhunderts stärker werdenden Antisemitismus, insbesondere in den europäischen Gesellschaften. Das Andere und Fremde – im Antisemitismus wird es gar als das heimlich weltweit Herrschende gesehen – mobilisierte Massen, führte zur Stärkung von Nationalismus, Rassismus und Chauvinismus und mitunter zu offener Gewalt gegen die ‚Anderen‘. Aus globalgeschichtlicher Perspektive scheint entscheidend, dass Großbritannien zwar die zentrale Seemacht und modernste Wirtschaftsmacht in Europa war und Produktions- und Distributionsnormen vorgab, weltweit gesehen aber der westliche Kapitalismus als globale Wirtschafts-, Finanz- und Handelsstruktur dominierte. „Die Herrschaft war westlich, christlich und weiß und stützte sich im Wesentlichen auf die gleichen Machtinstitutionen. Aus globaler Perspektive konnten die Kämpfe zwischen Frankreich, England und Deutschland durchaus als Sekundärerscheinungen angesehen werden. Denn wer immer siegte, es waren die Europäer (oder ihre kolonialen Vettern), die auf kaum unterscheidbare Weise die Welt regierten. Der Ausgangspunkt der Vorherrschaft dieser Vielmächte-Zivilisation lag nicht in erster Linie beim einzelnen Staat.“24

Großbritannien selbst hatte den höchsten Industrialisierungsgrad, und britische Wirtschaftsgesellschaften betrieben um 1880 knapp ein Viertel der weltweiten Industrieproduktion. (Um 1800 waren es erst etwa vier Prozent gewesen.) Der Anteil Europas (inklusive des British Empire) an der weltweiten Industrieproduktion stieg von 23 Prozent im Jahr 1750 auf über 61 Prozent im Jahr 1880. Der Anteil der USA stieg von 0,1 Prozent auf fast 24 Prozent. Dem wirtschaftlichen Aufstieg einiger europäischer Länder und der USA stand der relative und absolute Abstieg der Industrieproduktion in China und in Indien gegenüber. Um 1800 hatte China ein Drittel der weltweiten Industriegüter produziert, 1880 noch 12,5 Prozent  ; danach sank der Anteil stetig. China wurde durch die beiden Opiumkriege 220

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 220

22.09.2010 07:50:26

Internationale Politik

(1839–1842 und 1856–1860) zur (handels-)wirtschaftlichen Öffnung gezwungen.25 Der Anteil Indiens an der weltweiten Produktion von Industriegütern fiel von fast 20 Prozent auf knapp 2 Prozent.26 Nahezu die ganze Welt wurde nach europäischen Vorstellungen und Bedingungen ‚pazifiziert‘. Mehr noch  : Der westliche Industriekapitalismus zerstörte viele lokale Produktionen in abhängigen Ländern. Die Ausbeutung wirtschaftlich und politisch schwacher Regionen war eine Entstehungsbedingung der wirtschaftlich starken kapitalistischen Gesellschaften Europas und Nordamerikas. Von 1840 bis zur Krise 1873, teilweise auch noch während der Krise, dominierte die liberalkapitalistische Entwicklungsweise auch in den lateinamerikanischen Staaten, obwohl sich dort keine Bourgeoisie ausbildete, sondern eher eine „Kompradorenbourgeoisie“, die vollständig von ausländischem Kapital abhängig war. Der liberale Kapitalismus entwickelte sich in Lateinamerika eher durch Zwänge von außen. Russland und Österreich-Ungarn mit ebenfalls schwachem Wirtschaftsbürgertum stellten sich den liberalkapitalistischen Entwicklungen entgegen. Die politisch-territoriale Logik dominierte hier die kapitalistische Logik. Völkerrechtliche Subjekte waren die politisch unabhängigen Dynastien und Nationalstaaten. An der sich herausbildenden IP nahm neben den europäischen Mächten lediglich die USRegierung teil. Dabei dominierte weiterhin der Modus der Diplomatie. Die Kolonien waren keine Subjekte der IP, sondern deren Objekte. Europa und die Staaten Lateinamerikas

Die von Großbritannien und Europa ausgehende Durchsetzung des liberalen Kapitalismus hatte erhebliche Auswirkungen auf die jungen lateinamerikanischen Länder. Auch für sie stellten die europäischen Kriege wichtige Einschnitte dar. Viele spanische Kolonien erlangten die (politische) Unabhängigkeit vom spanischen Königreich, Brasilien wurde von Portugal unabhängig. Spaniens Handelsmonopol über die Vizekönigreiche Río de La Plata, Peru, Neu-Granada und Mexiko war längst aufgeweicht, insbesondere durch das aufstrebende Großbritannien. Dass Spanien auch seine militärische Vormachtstellung nicht mehr halten konnte, zeigte die Niederlage seiner Armada in der Seeschlacht bei Trafalgar gegen die Briten 1804. Spanien war zudem immer weniger in der Lage, die Ressourcenflüsse aus den Kolonien effektiv zu organisieren. Es wurde zum gut verdienenden Vermittler nach Nordwesteuropa.27 Portugal, das bereits stark in den britischen Handelsblock integriert war, stellte nur noch eine Art Umschlagplatz für das brasilianische Gold dar. Entscheidender Anlass für die Unabhängigkeitskämpfe in Lateinamerika war die Besetzung der Iberischen Halbinsel durch Napoleons Truppen im Jahr 1808. Spa221

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 221

22.09.2010 07:50:26

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

nien war so schwach wie nie seit der Eroberung der Neuen Welt. In den Kolonien forderten Intellektuelle und die kreolische Oberschicht das Ende des spanischen Handelsmonopols, die Verteilung von Land, das der spanischen Krone gehörte, und politische Freiheiten. Denn durch Verwaltungsreformen durch die spanische Krone Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Kreolen gegenüber der aus Spanien stammenden Oberschicht schlechter gestellt. Die in den Kolonien lebenden Spanier sollten ihre Herrschaft über Handel und Verwaltung aufgeben. Entsprechend wurde die politische Unabhängigkeit insbesondere von den z. T. aus europäischen Ländern stammenden Kreolen organisiert (José de San Martín im Süden, Simón Bolívar im Norden Südamerikas), wobei insbesondere Bolívar anschließend die politische Führungsmacht in einigen ehemaligen Kolonien übernahm.28 Bereits während der Vertreibung der Spanier aus Lateinamerika – die Aufständischen wurden meist indirekt von Großbritannien unterstützt, und die USA stellten sich nicht dagegen – und nach vielen internen Auseinandersetzungen bildeten sich Nationalstaaten heraus, meist mit republikanischen Verfassungen. Das 1822 unabhängig gewordene Brasilien blieb hingegen bis 1889 ein Königreich. 1825 hatte Portugal keine Kolonien mehr in Lateinamerika, und Spanien waren lediglich Kuba und Puerto Rico geblieben. Bemühungen, nach US-Vorbild eine Konföderation autonomer Provinzen zu bilden, scheiterten, und es entstand eine Art Regionalpatriotismus29, der um Städte herum organisiert wurde. Die neuen kreolischen Herrschaftsgruppen griffen auf die kolonialen Verwaltungen zurück. Mit Ausnahme von Chile, Kuba und später Mexiko blieben die Staaten schwach und im „Widerspruch zwischen der durchaus ernst genommenen Orientierung an europäischer Staatlichkeit einerseits, vormoderner politischer Kultur des Klientelismus und Partikularismus andererseits“.30 Auch die Zivilgesellschaften blieben wenig entwickelt, was – im Unterschied zu den USA – mit großen Eigentums- und Einkommensunterschieden in den heterogenen Gesellschaften zu tun hatte. Erst die Staatsbildung provozierte vielfach ein politisches Bekenntnis zur Nation. Die meisten Gesellschaften waren sprachlich und ethnisch inhomogen. Umso wichtiger schien es den Eliten, bald nach Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit eigene Nationalgeschichten zu erfinden. Die jungen Staaten waren international noch nicht anerkannt, als der damalige Präsident der USA, James Monroe, in der nach ihm benannten Monroe-Doktrin 1823 verkündete, die amerikanischen Staaten sollten künftig nicht mehr von europäischen Mächten kolonisiert werden. De facto erklärten die USA damit den lateinamerikanischen Kontinent zu ihrer Einflusszone.31 Im Gegenzug würden die USA nicht in europäische Auseinandersetzungen eingreifen. Langwierige Kriege zwischen den jungen südamerikanischen Staaten schwächten die Ökonomien, mit Ausnahme des davon verschont gebliebenen Brasilien. Bis 222

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 222

22.09.2010 07:50:26

Internationale Politik

Mitte des 19. Jahrhunderts kam es in den jungen Nationalstaaten zu teils erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Konservativen und Liberalen um die politischwirtschaftliche Macht. Das Jahr 1848 ist in Lateinamerika mit einem anderen Ereignis verbunden als in Europa  : In einem zwischenstaatlichen Krieg (1845–1848) verlor Mexiko die Hälfte seines Territoriums an die USA. Das Militär wurde politisch einflussreich, aber auch kostspielig. Großgrundbesitzer blieben ökonomisch und politisch dominant  ; die jungen Staaten setzten weiterhin auf den Export von Edelmetallen, Zucker und Rinderhäuten. Die Produktion von Lebensmitteln für den Binnenkonsum und für den Weltmarkt wuchs. Großbritannien ließ sich die Anerkennung der neuen Staaten mit Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsverträgen bezahlen, „wobei es selbst die Bedingungen diktierte“.32 Allerdings mischte es sich als neue Weltmacht nur indirekt in die innenpolitischen Verhältnisse ein. Die Hinwendung zur britischen Weltmacht und dem nach und nach durchgesetzten Freihandelssystem brachte den jungen lateinamerikanischen Staaten kaum Vorteile. Kapital wurde in die Industrialisierung Europas und der USA investiert, die jungen Nationen dienten den hoch produktiven metropolitanen Ökonomien als Bezugsquelle für Edelmetalle und andere Rohstoffe sowie zunehmend als Absatzmärkte für westliche Industrieprodukte, was die lokale Wirtschaft gefährdete oder sogar zerstörte. Die ersten Jahrzehnte der jungen lateinamerikanischen Staaten nach Erlangung der Unabhängigkeit waren daher von ökonomischer Stagnation und politischer Instabilität geprägt. Stabilisierung der neokolonialen Entwicklungsweise in Lateinamerika (1850–1930)

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in den kapitalistischen Zentren unter Groß­ britanniens Vorherrschaft expandierte der Weltmarkt, und eine relativ stabile „neo­ koloniale Ordnung“33 entstand. Lateinamerika produzierte weiterhin Rohstoffe und Nahrungsmittel für die Zentren, woraus sich insbesondere für die Länder des Cono Sur eine auf Exporten basierende Wirtschaftsdynamik ergab. Doch wurde es nun selbst Abnehmer nicht nur von Konsumgütern, sondern auch von Kapitalgütern wie Maschinen. Kapitalimporte führten zu einer Modernisierung des Bergbaus, der sich in der Hand ausländischer Unternehmen befand. Die Goldfunde in Kalifornien trugen dazu bei, dass auch die lateinamerikanische Pazifikküste verstärkt in den Weltmarkt integriert wurde. Die dominanten Freihandelspolitiken schienen trotz einzelner Krisen zu funktionieren und führten zur kapitalistischen Durchdringung Lateinamerikas. Zwar gab es weiterhin nicht-kapitalistische Produk223

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 223

22.09.2010 07:50:26

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

tionsformen (v. a. in den Andenländern, Mittelamerika und im Süden Mexikos). Doch entwickelte die neokoloniale Ordnung eine starke strukturierende Kraft inklusive Vorstellungen von Fortschritt und Stabilität. Nach kurzen Reformperioden Mitte des Jahrhunderts herrschte in den meisten Ländern ein von Großgrundbesitzern, Exporthändlern und Militärs getragener „autoritärer Progressismus“, d. h. eine autoritäre politische Ordnung sollte wirtschaftlichen Fortschritt ermöglichen. Ein Sinnbild dafür wurde später mit der Gründung der Republik 1889 die bis heute existierende Nationalflagge Brasiliens mit der Aufschrift Ordem e Progresso (Ordnung und Fortschritt). Die Konsolidierung der neokolonialen Weltordnung ging mit Kriegen einher wie jenem der Dreierallianz von Argentinien, Brasilien und Uruguay gegen das autoritäre, sich ökonomisch rasch entwickelnde Paraguay (1865–1870) oder dem Salpeterkrieg Chiles gegen Bolivien und Peru (1879–1884), in dem Bolivien die Atacama-Wüste an Chile und damit den Zugang zum Meer verlor. Ab 1880 war die sich ungleichzeitig entwickelnde neokoloniale Ordnung etabliert und sollte sich etwa 50 Jahre halten können. Lateinamerika wurde immer wichtiger in der internationalen Rohstoff- und Nahrungsmittelproduktion, deren Nachfrage in den Zentren stark zunahm (Vieh, Zucker, Kaffee, Getreide). Der Eisenbahnbau wurde vorangetrieben, der Bergbau stark modernisiert, bis zur Entwicklung des Kunstdüngers gab es große Nachfrage nach Salpeter, die Entwicklung des Automobils führte zur Nachfrage nach Kautschuk aus der Amazonasregion und nach dem neuen Schmiermittel der Weltwirtschaft, dem Erdöl. Insbesondere der Süden des Subkontinents erlebte eine historisch einmalige Einwanderung aus Europa. Die Stadt São Paulo wuchs von 1890 bis 1905 durch den Kaffee-Boom von 65.000 auf 350.000 EinwohnerInnen, Buenos Aires von einer halben Million BewohnerInnen (1880) auf 1,6 Millionen (1918), das Eisenbahnnetz Argentiniens nahm von 1.500 km im Jahr 1880 auf 33.000 km im Jahr 1914 zu.34 Politisch etablierten sich Ende des 19. Jahrhunderts in einigen Ländern liberal-demokratische, in anderen Ländern oligarchisch-autoritäre Regime. Einen Einschnitt stellte die Mexikanische Revolution ab 1910 dar. Der Bürgerkrieg mit einer Million Toten stärkte bis 1914/1915 radikale Kräfte um Emiliano Zapata und Pancho Villa, die zeitweise sogar Mexiko-Stadt besetzt hielten. Zapata wurde mit der Forderung nach Tierra y Libertad (Boden und Freiheit) enorm populär. In die Mexikanische Verfassung von 1917 wurden progressive Elemente wie eine Agrarreform, gewerkschaftliche Organisierungsfreiheit, Arbeitsgesetze und die Verstaatlichung der Bodenschätze aufgenommen.35 Insgesamt kam es wie in Europa zu einem Niedergang der liberal kapitalistischen Ordnung und, bedingt durch die aufholenden 224

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 224

22.09.2010 07:50:26

Internationale Politik

Konkurrenten, zu einer Schwächung des britischen Einflusses. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 war auch für die lateinamerikanischen Gesellschaften ein Desaster. Die neokoloniale Weltordnung war an ihr Ende gelangt. Internationale Wirtschaftskooperation

Das sich im 19. Jahrhundert dynamisch entwickelnde internationale Privatrecht führte zur Verringerung der Transaktionskosten. Es sollte auch Wettbewerbsnachteile bei der Einführung von Standards durch einzelne Länder verringern. Dazu wurden keine eigenständigen supranationalen Organisationen geschaffen, sondern die Regierungen der Nationalstaaten blieben bestimmend. Dennoch entstanden internationale Kooperationsmuster. Eine wichtige politische Begleiterscheinung des sich entwickelnden Weltmarktes war die zunehmende technische Kooperation zwischen Ländern.36 Hierzu zählte die Ermöglichung des freien Warenverkehrs. Wegweisend war die Errichtung der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt zur Sicherung des freien Warenverkehrs und der Gleichbehandlung der Verkehrsteilnehmer im Jahr 1815, an der anfangs neben Frankreich, Holland und Preußen vier weitere deutsche Länder teilnahmen. Es dauerte sechzehn Jahre, bis die Kommission ihre Arbeit aufnahm  ; ein „Lernprozess“ der verhandelnden Diplomaten.37 Zur Regulierung der (Hoch-)Seeschifffahrt wurden 1889 internationale Regulierungen eingeführt, insbesondere um die Schuldfrage bei Schadensfällen zu klären. 1890 wurde ein internationales Abkommen zur Zugfracht im damals dynamisch expandierenden Sektor abgeschlossen, das festlegte, dass der Transport von Waren nicht abgelehnt werden kann. Andere internationale Abkommen vereinheitlichten den expandierenden Weltmarkt technisch, so Abkommen im Bereich der Telegrafen- und Postsysteme, zur Koordination der Erdvermessung (ab 1864), der Aufzeichnung des Wetters (ab 1878)  ; Abkommen setzten Standards für Maße, Gewichte (ab 1875) und Zeit (ab 1884, jedoch erst 1925 weltweit akzeptiert). Diese Abkommen umfassten auch private Firmen. Standardisierung war jedoch kein rein technischer Prozess, sondern eingebettet in Auseinandersetzungen um technologische Führerschaft. Exemplarisch ist die 1865 von zwanzig Regierungen und Experten gegründete Internationale Telegraphen Union (ITU), ein Mechanismus, um den rasanten Anstieg der telegrafischen Kommunikation international zu koordinieren  ; in den USA gab es 1868 etwa 20 Millionen Telegrafen, 1885 bereits deren 132 Millionen  ; im Rest der Welt stieg die Zahl von knapp 6 Millionen auf über 13 Millionen. Die privaten US-Telegrafenunternehmen nahmen entscheidenden Einfluss auf die Standardsetzung38 (vgl. die Kapitel Verkehr und Kommunikation). 225

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 225

22.09.2010 07:50:26

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

Ein anderes wichtiges Element der IP waren Freihandelsabkommen (das erste wurde 1860 zwischen Großbritannien und Frankreich abgeschlossen) mit der von Beginn an wichtigen Meistbegünstigungsklausel, die besagt, dass Handelsvorteile auch an andere Länder weitergegeben werden müssen. Großbritannien und die Niederlande hielten ihre Freihandelsorientierung auch in der Wirtschaftskrise ab 1873 bei. Die zunehmenden Erfindungen drohten u. a. über die seit 1851 stattfindenden Weltausstellungen kopiert und dann in anderen Ländern vermarktet zu werden. Daher wurde ab 1883 ein System zum Schutz industrieller Erfindungen qua Patenten und Warenzeichen (Pariser Konvention) sowie 1886 zum Schutz literarischer und künstlerischer Leistungen qua Copyright (Berner Konvention) geschaffen. Diese internationalen Organisationen hatten große Bedeutung für die Entwicklung des liberalen Kapitalismus und dessen permanente Umwälzung, so für die Entwicklung der Eisenbahnen, später der Automobile und Flugzeuge  ; für die Telegrafie, das Telefonsystem und in den letzten Jahren für die mikroelektronischen Kommunikationsmedien.39 Schon Ende des 19. Jahrhunderts zeichnete sich ab, was sich in den 1970er-Jahren wiederholen sollte  : Die internationalen Organisationen sicherten Märkte und profitable Investitionen in neue Technologien. Sie wurden Teil der Bearbeitung von Konflikten und trugen dazu bei, dass das nationalstaatliche System selbst gestärkt wurde. Als die Hegemonialmacht Großbritannien gegen Ende des 19. Jahrhunderts schwächer wurde, setzte sie auf die Etablierung multilateraler politischer Institutionen.40 Um die gleiche Zeit nahmen in Lateinamerika Initiativen zu, um Handelsfragen und vor allem -streitigkeiten koordiniert anzugehen und gemeinsame Standards für den Postverkehr, Kommunikation, geistige Eigentumsrechte und Hygienevorschrif­ ten zu entwickeln. Der US-Vorschlag für eine Zollunion im Jahr 1889 scheiterte am Widerstand einiger südamerikanischer Regierungen, die ein Übergewicht der USA befürchteten. Dennoch wurden in einem langsamen Prozess Konventionen zu unterschiedlichen handelspolitischen Themen entwickelt. Das 1890 gegründete Internationale Büro der Amerikanischen Republiken (ab 1910 in Büro der Pan-Amerikanischen Union umbenannt) stand unter starkem Einfluss des US-Außenministeriums. Dominant wurde eine anderen Form der IP  : Ab 1900 kam es zur konsequenteren Anwendung der Monroe-Doktrin (s. o.) durch die aufstrebenden USA  ; im Jahr 1904 unterstrich Präsident Theodore Roosevelt, dass im Rahmen der bereits seit 80 Jahren existierenden Monroe-Doktrin nur die USA in Lateinamerika intervenieren dürften. Zwischen 1901 und 1921 kam es zu 27 bewaffneten US-Interventionen in Lateinamerika, es war aber auch die Zeit der „Dollar-Diplomatie“, d. h. der offensichtlichen Verfolgung der Interessen von US-Unternehmen in Lateinamerika durch die US-Regierung.41 226

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 226

22.09.2010 07:50:26

Internationale Politik

Der historische Imperialismus und die Entwicklung transnationaler sozialer Bewegungen Die sicherheitspolitischen Allianzen gerieten in Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Wanken, als zuerst die russische und dann die preußische Regierung doch wieder territoriale Ambitionen hatten und dadurch v. a. das instabile Habsburgerreich weiter schwächten. Das Concert of Europe hielt bis zum KrimKrieg 1853–56, in dem das Osmanische Reich, Großbritannien und Frankreich erfolgreich den Zugang Russlands zum Mittelmeer verhinderten. Anschließend kam es zu Kriegen zwischen Frankreich und Österreich (1859), Österreich und Preußen gegen Dänemark (1865), Preußen gegen Österreich (1866) und schließlich Preußen gegen Frankreich (1870). Nach der Gründung des Deutschen Reichs im Jahr 1871 bildeten sich neue Allianzen heraus – Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien auf der einen Seite, Frankreich und Russland auf der anderen – und der Kampf um die Kolonien wurde verstärkt. Insbesondere das Deutsche Reich verstand sich als „verspätete Nation“ (siehe unten zur Berliner Kongokonferenz von 1884/85). Trotz der genannten Kriege bestand von 1815 bis 1914 sicherheitspolitisch eine relative Stabilität in Europa.42 Sie wurde – neben geopolitischen Interessen der Großmächte – durch klassenspezifische Interessenkongruenzen der alten Regime (aus denen die Politiker kamen) begünstigt  : der entstehenden Bourgeoisie und des Kleinbürgertums. „An die Stelle der Revolution von unten und von außen“, so Michael Mann in Bezug auf das 19. Jahrhundert, „trat eine Mischung aus Repression und sanfter Reform von oben.“43 Die Konflikte im 19. Jahrhundert waren insofern weniger solche zwischen Großmächten um Territorien als vielmehr innerstaatliche Konflikte im Zuge der Nationenbildung. Je nach Traditionen und Kräftekonstellationen kam es – in den einzelnen Ländern ungleichzeitig – zur Herausbildung sozialstaatlicher Elemente ; meist durch Reformen von oben wie die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung in Deutschland. Es deutete sich in diesem Zusammenhang aber bereits ein „Einbruch der Massen in die Politik“ an,44 d. h. größere Gruppen der Bevölkerung wurden durch Parteien, Gewerkschaften oder Verbände repräsentiert.45 Auf die demokratischen Forderungen antworteten europäische Eliten angesichts der imperialen Konkurrenz mit der nationalistischen Mobilisierung der Massen und fanden damit Anklang.46 Die Krise von 1873 bis 1895, zeitgenössisch als Große Depression bezeichnet, war zugleich der Beginn des historischen Imperialismus ab etwa 1880. Nach einer Phase der Expansion und eher freihändlerischen Denkens und wirtschaftspolitischen Handelns Mitte des Jahrhunderts wurden protektionistische Politiken in der Krise wichtiger. Einige Regierungen sicherten die Rohstoff- und Absatzmärkte ihrer 227

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 227

22.09.2010 07:50:26

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

Volkswirtschaften verstärkt über Kolonien. In Zeiten der Krise und einer allmählich erstarkenden ArbeiterInnenbewegung erhofften sich die herrschenden Kräfte aus den kolonialen Unternehmungen Vorteile. Doch auch die ArbeiterInnen stellten sich nicht massiv gegen den Kolonialismus.47 Noch nicht kolonisierte Terri­ torien in Afrika, Asien und Ozeanien wurden militärisch okkupiert. Zwischen 1876 und 1900 besetzten Großbritannien, Frankreich, Belgien und das Deutsche Reich mehr als 25 Millionen Quadratkilometer Land vor allem in Afrika mit einer Bevölkerung von ca. 190 Millionen Menschen.48 Politisch abgesichert wurde der Imperialismus durch die Kongokonferenz in Berlin im dortigen Winter 1884/85, in der die koloniale und zu kolonisierende Welt unter zwölf europäischen Mächten, dem Osmanischen Reich und den USA aufgeteilt wurde (die Konferenz mit ­ihrem Charakter der Absteckung von Einflusssphären für die europäischen Mächte stand in gewisser Weise noch in der Tradition des Wiener Kongresses). Bis dahin war Afrika in vielen Teilen nur an den Küsten kolonisiert, nun wurde zunehmend das ressourcenreiche Binnen­land – und hier v. a. das Kongobecken – attraktiv. Durch den Bau des Suezkanals in den 1860er-Jahren war zudem Ostafrika von Europa aus besser zugänglich geworden. Da bis dahin vor allem Frankreich und Groß­britannien in Afrika aktiv gewesen waren, wurde über die Berliner Konferenz der Kreis der kolonialen Interes­senten ausgeweitet – v. a. um Deutschland und ­Belgien. Gleichzeitig wurden Riva­litäten eingehegt und die bis heute währende sozioökonomische Schwäche und damit verbundene politische Instabilität in vielen afrikanischen Ländern festgeschrie­ben.49 Ein eher informeller Imperialismus bestand im verstärkten Kapitalexport, was mit der Krise in den kapitalistischen Zentren zusammenhing. In den Kolonien wie auch in China und in den lateinamerikanischen Ländern waren umfassende Investitionen in die Infrastruktur notwendig. Diese wurden von Banken, Konzernen und Kartellen finanziert und errichtet. Protektionistische Politiken wurden – mit Ausnahme Großbritanniens – zur Abwehr ausländischer Konkurrenz eingesetzt. Internationale Friedenspolitik und das Entstehen transnationaler Arbeitspolitiken

Die Friedensfrage wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen internationalen Thema  ; Friedenspolitik war naturgemäß international und wurde von sozialen Bewegungen betrieben. Auch in Fragen der Arbeits-, Umwelt- und Geschlechterpolitik vernetzten sich soziale Bewegungen, schufen Öffentlichkeit, setzten Regierungen unter Druck, machten Vorschläge und bemühten sich um Einfluss auf nationale wie internationale Politikprozesse. Friedenspolitisch bedeu228

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 228

22.09.2010 07:50:26

Internationale Politik

tend war die Gründung des Internationalen Roten Kreuzes. Sie ging auf die Initiative des Kaufmanns Henri Dunant zurück, der von der Schlacht bei Solferino im österreichisch-französischen Krieg 1859 schockiert war. Neben Privaten und Organisationen nahmen 16 Regierungen an der Gründungskonferenz des Roten Kreuzes 1863 in Genf teil und vereinbarten die Gründung privater Gesellschaften in ihren Ländern und die Einrichtung des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes. Symbol wurde die farblich umgekehrte Schweizer Flagge. Diese Bemühungen führten auch zu den Genfer Konventionen über Kriegführung und den Umgang mit verwundeten Soldaten und Gefangenen sowie zum Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegen.50 1868 wurde die Internationale Frauenassoziation gegründet. Ihre Ziele waren neben der Förderung von Frauen in allen sozialen Klassen das allgemeine Wahlrecht, gleiche Bezahlung, Verbesserung der Bildung, Freiheit und Ächtung des Kriegs. Erfolge waren das Verbot des Frauen- und Kinderhandels zu Beginn des 20. Jahrhunderts und das nach dem Ersten Weltkrieg in vielen Ländern eingeführte Wahlrecht für Frauen.51 Die Internationale Liga für Frieden und Freiheit wurde 1867 zur Verhinderung eines Kriegs zwischen Frankreich und Preußen gegründet, worin sie zunächst nicht erfolgreich war. Gleichwohl blieb neben der Demokratisierung der Gesellschaften die Friedenspolitik ein zentrales Thema nicht-staatlicher Akteure. Die Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 schufen Grundlagen für den später gegründeten Völkerbund und markierten einen Umschwung  : Friedenspolitik wurde multilateral und zivilgesellschaftliche Akteure wurden wichtiger. An der zweiten Konferenz nahmen auch die lateinamerikanischen Länder teil. Die Konferenz war Ausdruck der damals starken internationalen Friedensbewegung. Nach den Kriegen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und angesichts der Aufrüstungsdynamiken wurden internationale Standards für Konfliktregelung ausgearbeitet. Der bis heute bestehende, aber nach dem Ersten Weltkrieg wenig wichtige Ständige Schiedsgerichtshof wurde gegründet  ; er regelte Konflikte zwischen Staaten, wenn dies auf bilateralem Weg unmöglich schien. Allerdings war die deutsche Regierung mit ihren Verbündeten gegen konkrete Abrüstungsmaßnahmen. Auseinandersetzungen um sozialstaatliche Standards fanden v. a. auf nationalstaatlicher Ebene statt. Dennoch spielte IP bei der Regulierung des Lohnverhältnisses – Arbeitszeiten, Fabrikgesetze, Verbot von Kinderarbeit, Vereinigungsrecht etc. – eine Rolle. 1900 wurde die Internationale Assoziation für Arbeitsgesetzgebung (IALL) gegründet und 1901 das Internationale Arbeitsbüro in Basel eingerichtet. Beide kämpften gegen die Nachtarbeit von Frauen in Industriebetrieben und die Verwendung giftiger Substanzen in industriellen Prozessen. Zu beiden Themen wurden in den folgenden Jahren internationale Konventionen entwickelt. Die 229

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 229

22.09.2010 07:50:26

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

IALL war eine NGO, in der weder Arbeitgeberverbände noch Gewerkschaften oder Regierungen vertreten waren.52 Staatliche Interventionen in die Lohnarbeitsverhältnisse wurden darüber als legitim anerkannt, was später zur Durchsetzung des Sozialstaates beitrug. Gleichzeitig bewirkte die einsetzende Sozialgesetzgebung, dass die Lohnabhängigen und ihre Organisationen relativ offene Märkte unterstützten. Die Lohnabhängigen organisierten sich international ab Ende des Jahrhunderts über ihre Fachgewerkschaften, die internationale Büros einrichteten. Die nationalen Dachverbände koordinierten sich ab 1901 und gründeten 1913 die International Federation of Trade Unions (IFTU). Die internationale Selbstorganisation von Unternehmen begann ab den 1870erJahren und führte 1900 zu Konferenzen zur Zollregulierung. Ab 1905 wurde die Gründung einer Internationalen Handelskammer (ICC) vorbereitet, die nicht nur einheitliche Zollstatistiken erstellen, sondern auch als Sprachrohr von Industrie und Handel auf internationalen Konferenzen agieren sollte. Verspätet durch den Krieg wurde 1919 die ICC mit Sitz in Paris gegründet. Neben der politikrelevanten Dimension war sie auch wichtig zur Konfliktbearbeitung zwischen Unternehmen. Die erste Initiative der Internationalisierung der ArbeiterInnenbewegung fand bereits mit der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) 1864 in London statt, die von Karl Marx mitbegründet und politisch geprägt wurde.53 Die IAA verlor aufgrund politischer Differenzen 1872 zwischen kommunistischen (Marx) und anarchistischen Strömungen (Michail Bakunin) ihre Dynamik und löste sich 1876 auf. 1889 wurde die Zweite, bis heute bestehende Sozialistische Internationale in Paris gegründet. 1900 errichtete sie in Brüssel ein Büro. Der Erste Weltkrieg unterbrach die Arbeit der Organisation, und die neuerliche Gründung erfolgte 1923 unter Ausschluss der anarchistischen Strömungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie 1951 wiederbegründet und umfasst heute etwa 170 politische Parteien. Sie war zwar in den Forderungen (etwa nach Transformation der Eigentumsrechte) anfangs radikal, ihre Mitglieder – die sozialdemokratischen Parteien überwiegend europäischer Länder – aber eher sozialreformerisch an der Verbesserung von Arbeitsgesetzen, Verkürzung der Arbeitszeiten und der Bildung von Genossenschaften interessiert. Bedeutend wurde eine Demonstration am 1. Mai 1890 mit der Forderung nach dem Acht-Stunden-Tag. An der Zweiten Internationalen zeigte sich von Beginn an ein Problem, das dann im Ersten Weltkrieg offensichtlich wurde  : Die Lohnabhängigen fühlen sich nicht nur ihrer Klasse, sondern auch ihrer Nation und Gesellschaft zugehörig. Nationalistische Orientierungen waren möglich, auch in der Annahme, die Lebensverhältnisse verbesserten sich über den ökonomischen und politischen Erfolg der „eigenen“ Gesellschaft in der Konkurrenz mit anderen. Klassenübergreifende Bündnisse können Lohnabhängigen, 230

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 230

22.09.2010 07:50:26

Internationale Politik

insbesondere in den kapitalistischen Zentren, funktional erscheinen.54 Das größte Desaster für den Internationalismus der ArbeiterInnenbewegung war zweifellos die Zustimmung der meisten sozialdemokratischen Parteien zum Ersten Weltkrieg im August 1914. Lenin initiierte 1919 die Gründung einer Dritten, der Kommunistischen Internationale (Komintern), der auch radikale sozialistische Parteien Westeuropas angehörten. Unter Stalin wurde die Dritte Internationale zum Instrument des sowjetischen Staates und 1943 aufgelöst. Leo Trotzki begründete 1938 im mexikanischen Exil die antistalinistische und bis heute existierende – allerdings in verschiedene Strömungen aufgesplitterte – Vierte Internationale trotzkistischer Parteien. Seit den 1920er-Jahren war die anarchosyndikalistische Internationale Arbeiterassoziation mit deutlich mehr als einer Million und unter Führung des spanischen Nationalen Arbeitsverbandes (CNT) bedeutsam. Durch die Verfolgung der CNT-Mitglieder im spanischen Faschismus wurde sie entscheidend geschwächt. Die genannten internationalen Organisationen haben neben ihren deklarierten Zielen eine Funktion, die im 20. Jahrhundert noch wichtiger werden sollte  : Sie wurden zu Bezugspunkten sich international vernetzender sozialer Bewegungen, die um bürgerliche und soziale Rechte kämpften. Schon um 1900 wurde aber auch deutlich, dass soziale Bewegungen keineswegs per se progressive Anliegen verfolgen, sondern reaktionär und rückwärtsgewandt und auch eng an herrschende Kräfte gebunden sein können. Das Zeitalter der Katastrophen, Völkerbund und Zwischenkriegszeit

Das „lange 19. Jahrhundert“ (von 1789 bis 1914, Eric Hobsbawm) ging mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende.55 Dieser markiert den Zusammenbruch des liberalen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, der sich in den 1920er-Jahren in Europa nur sehr labil, in Lateinamerika etwas stärker weiterwirkte. Der Kriegseintritt der USA im April 1917 entschied den Ausgang des Ersten Weltkriegs, da das Deutsche Reich kurz vor einem Sieg stand, im Osten die russische Armee besiegte und den Frieden von Brest-Litowsk im März 1918 abschloss. Gefördert wurde dies durch die Russische Revolution, denn die siegreichen Bolschewiki versprachen der erschöpften Bevölkerung neben Land und Brot auch den Frieden. Der Krieg mit etwa 9 Millionen Toten und 15 Millionen Verwundeten war für die Gestaltung der IP von höchster Bedeutung. Schon während des Krieges trafen sich Frauenfriedensgruppen aus allen Krieg führenden Ländern und aus allen sozialen Schichten, traten für Frieden ein und betrieben kräftiges Lobbying für Friedensverhandlungen.56 Durch die Pariser Friedensverträge57 wurde das Deutsche Reich zum Alleinverant231

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 231

22.09.2010 07:50:27

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

wortlichen erklärt. Neben dem Verlust der Kolonien wurde es mit hohen, anfangs ungenauen Reparationszahlungen belegt, die mit dem Dawes- und Young-Plan (1924 bzw. 1929) präzisiert wurden. Die Kriegswirtschaft hatte die internationalen Handels- und Finanzbeziehungen erheblich verändert  : Sie hatte die liberal-kapitalistische Produktions- und Lebensweise und weltwirtschaftliche Dominanz von Großbritannien weiter geschwächt. Großbritannien und Frankreich waren durch den Krieg wirtschaftlich ruiniert und stark verschuldet (v. a. bei den USA). Gestärkt gingen die USA aus dem Weltkrieg hervor, die nun zum weltweit größten Gläubiger und zur produktivsten Wirtschaft der Welt wurden.58 Die Auflösung Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches führte zu einer territorialen Neuordnung, die sich am Prinzip ethnisch-linguistisch konstituierter Nationalstaaten orientierte. Das Prinzip der Nationalstaatlichkeit (mit einer bis maximal drei ethnischen Gruppen) setzte sich ab 1918 durch und blieb auch bei späteren Entkolonialisierungen gültig. Der Erste Weltkrieg und die anschließenden Entwicklungen führten also zur Aufwertung des nationalstaatlichen Prinzips in der IP. Auf der siebenten Konferenz Amerikanischer Staaten 1933 in Montevideo unterzeichneten 19 amerikanische Staaten eine Konvention zu den Rechten und Pflichten von Staaten. Dieser Vertrag stellt eine international beispielgebende Definition der Staaten als internationale Völkerrechtssubjekte dar, wie sie schon im Völkerbund festgelegt war und später in der UNO  : „The state as a person of international law should possess the following qualifications  : (a) a permanent population  ; (b) a defined territory  ; (c) government  ; and (d) capacity to enter into relations with the other states.“ (Artikel 1 der Convention on Rights and Duties of States)

Staaten sind international handlungsfähig, haben grundlegend Anspruch auf das Interventionsverbot (Artikel 8) und sind dem Friedensgebot verpflichtet (Artikel 10). Zudem wird in Artikel 4 das Prinzip der rechtlichen Gleichheit der Staaten festgelegt. Zwei weitere Entwicklungen prägten die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg  :59 die Gründung des Völkerbundes und die Russische Revolution mit ihren enormen Auswirkungen in Westeuropa und in der Welt (vgl. das Kapitel Revolutionen). Die Novemberrevolution in Deutschland wurde zwar niedergeschlagen und die Sozial­ demokratische Partei Deutschlands (SPD) stellte die bestehenden Herrschaftsstrukturen nicht grundsätzlich infrage. Doch die Revolution führte zur Abschaffung der Monarchie und zur Einführung der parlamentarischen Demokratie und des Frauenstimmrechts. Die Ansätze zu sozialistischen Revolutionen (Rätebewegungen gab 232

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 232

22.09.2010 07:50:27

Internationale Politik

es in Ungarn, Bayern und kurze Zeit auch in Österreich) wurden spätestens in den frühen 1920er-Jahren gebannt und führten eher zu einer Integration sozialistischer Anliegen in die bürgerlichen Gesellschaften sowie zum Aufstieg sozialdemokratischer Parteien in einigen Ländern und Städten wie Wien. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatten private Gruppen in Großbritannien und den USA Pläne für ein System der kollektiven Friedenssicherung entworfen. Die Regierungen übernahmen die Idee, und US-Präsident Woodrow Wilson präsentierte als letzten Vorschlag in seinem 14-Punkte-Plan im Jänner 1918 ein solches System. 1919 wurde der Völkerbund als Teil des Versailler Friedensvertrages von 32 Gründungsmitgliedern – den Siegermächten des Krieges – gegründet. Er sollte durch friedliche Konfliktaustragung neuerliche Kriege verhindern und die Einhaltung der bestehenden Friedensverträge gewährleisten.60 Der Völkerbund brachte eine Neuerung in die IP  : Er sollte die Geheimdiplomatie beenden, mit der im 19. Jahrhundert mehrere Gebietsaufteilungen ohne Rücksicht auf die BewohnerInnen vorgenommen worden waren. Staatsverträge sollten öffentlich verhandelt werden. Im Unterschied zur später gegründeten UNO verpflichteten sich die Mitglieder des Völkerbundes, im Fall eines militärischen Angriffs auf eines der Mitglieder dem angegriffenen Land direkt Hilfe zu leisten. Der Völkerbund nahm einige Elemente der UNO vorweg. Er hatte einen Generalsekretär, eine jährliche Völkerbundversammlung und einen Rat mit zwölf nicht ständigen und zunächst vier ständigen Mitgliedern, nämlich Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan, 1926 kam Deutschland hinzu (das zusammen mit Japan 1933 wieder austrat) und ab 1934 die Sowjetunion (die 1939 wegen des Krieges gegen Finnland wieder ausgeschlossen wurde). Der Völkerbund hatte einige kleinere Erfolge, etwa in der Flüchtlingspolitik oder bei Hungerkrisen. Er verwaltete das Saargebiet sowie die ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika und Asien und die vom Osmanischen Reich abzugebenden arabischen Gebiete, die dann von anderen Staaten als Mandatsgebiete verwaltet wurden.61 Er scheiterte aber letztlich am amerikanischen Isolationismus (die USA wurden nicht Mitglied) und am Dauerthema der 1920er-Jahre, dem Streit um die Reparationszahlungen Deutschlands, an der Wirkungslosigkeit bei einigen militärischen Auseinandersetzungen der 1930er-Jahre wie der Besetzung der Mandschurei durch Japan. Fazit  : nationale Interessen obsiegten. 1946 wurde der Völkerbund offiziell aufgelöst. Auch während seines Bestehens blieben Außen(wirtschafts-)politik und bilaterale wie multilaterale Diplomatie die wichtigsten Mittel der IP. Die Isolierung der Sowjetunion war eine wesentliche Handlungsorientierung der westlichen Staaten (die USA erkannten die Sowjetunion erst 1933 an). 1919 kam es zur Gründung der International Labour Organization (ILO), die auf den oben skizzierten politischen Prozessen aufbaute. Sie wurde zur ersten spe233

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 233

22.09.2010 07:50:27

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

zialisierten intergouvernementalen Organisation, die bis heute eine Besonderheit aufweist, nämlich den Tripartismus  : Neben den 42 Gründungsregierungen (die Sowjetunion und die USA wurden erst 1934 Mitglieder) waren auch Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften Teilnehmer. Die Gewerkschaften hatten sich also nicht nur in vielen Nationalstaaten Anerkennung verschafft – was auch mit ihrem Pragmatismus und der sozialdemokratischen Regierungsbeteiligung in Ländern wie Frankreich, Großbritannien oder Deutschland zusammenhing –, sondern nun auch international. Zweifellos war auch die Angst vor revolutionären Unruhen und vor der Nachahmung der Oktoberrevolution maßgeblich dafür, dass Regierungen und Arbeitgeber zu einem derartigen Zugeständnis bereit waren. Die ILO machte zudem das konkurrierende Verhältnis zivilgesellschaftlicher Organisationen zueinander deutlich. Die Arbeitsseite wurde vom Internationalen Gewerkschaftsbund IFTU vertreten. Dort waren die sozialdemokratisch orientierten nationalen Gewerkschaftsverbände organisiert, was de facto zum Ausschluss der christlichen und kommunistischen Gewerkschaften führte.62 Eine Entwicklungsmöglichkeit brach in den Pariser Friedensverhandlungen abrupt ab, und dennoch entstand hier der Keim für die Entkolonialisierungen nach dem Zweiten Weltkrieg. US-Präsident Wilson unterstrich in seinem 14-PunktePlan von 1918 das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung der Völker, das in Ländern wie Indien, Ägypten und Korea, aber auch im formell unabhängigen, jedoch durch ungleiche Handelsverträge geknebelten China große Hoffnungen bei den antikolonialen Kräften weckte.63 Dieser „Wilsonsche Augenblick“ wurde zwar von den europäischen Kolonialmächten zurückgewiesen, stellte jedoch „den Anfang vom Ende des Projektes des europäischen Imperialismus“ dar.64 Eine zentrale Veränderung nach dem Ersten Weltkrieg war der „Einbruch der Massen in die Politik“, der dazu beitrug, dass die liberalkapitalistische Ordnung nicht mehr hergestellt werden konnte und gesellschaftliche Kompromisse notwendig wurden. Waren im 19. Jahrhundert Krisen ohne Staatsintervention auf dem Rücken der Lohnabhängigen und der Bauern und Bäuerinnen ausgetragen worden, änderte sich das nun  : In den demokratisierten politischen Systemen gehörten Krisen nicht mehr zum kapitalistischen Normalgeschäft, sondern minderten die Legitimität des politisch-wirtschaftlichen Systems. Wirtschaftlich kam es ab 1920 bei hoher Arbeitslosigkeit zu einer gewissen Erholung. Doch blieb die Lage instabil, und in einigen Ländern entstanden Inflationskonjunkturen, die zu keiner nachhaltigen Konsolidierung führten.65 Der Welthandel erlangte erst Ende der 1920er-Jahre wieder den Umfang des Jahres 1913. Die wirtschaftspolitischen Instrumente des liberalen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts griffen nicht mehr. Die USA kümmerten sich kaum um die Strukturierung der 234

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 234

22.09.2010 07:50:27

Internationale Politik

internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Um ihre Exporte zu steigern, werteten Regierungen ihre Währungen wiederholt ab, was zu Instabilitäten führte. Dennoch deutete sich in den 1920er-Jahren eine Entwicklung an, die der italienische Publizist, Politiker und Theoretiker Antonio Gramsci hellsichtig als Amerikanismus und Fordismus66 bezeichnete. Die USA waren nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur der größte Gläubiger, sondern ihr Anteil an der Weltindustrieproduktion stieg von einem Drittel im Jahr 1913 auf 42 Prozent unmittelbar vor der Weltwirtschaftskrise. Eine sich entwickelnde fordistische Produktions- und Lebensweise – in Anlehnung an die avancierten Produktionsmethoden des Autoherstellers Ford, insbesondere das Fließband  ; aber auch die damit verbundene rationalisierte und disziplinierte, auch konsumorientierte Lebensweise – kündigte den Aufstieg einer neuen sozioökonomischen, politischen und kulturellen Großmacht an, welche Großbritannien abzulösen in der Lage war. Gleichwohl wurde in den 1920er-Jahren der Versuch unternommen, die liberalkapitalistische Ordnung wiederherzustellen, insbesondere in Lateinamerika, wo der Erste Weltkrieg zwar durch die Schwankungen auf dem Weltmarkt spürbar war, die sozioökonomischen und politischen Verhältnisse – mit der wichtigen Ausnahme Mexiko – jedoch weitgehend unberührt ließ. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 bewirkte dann aber definitiv das Ende der liberalkapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Der dramatische Nachfragerückgang betraf auch die Rohstoffe und Nahrungsmittel exportierenden Länder der kapitalistischen Peripherie. Eine internationale koordinierte Wirtschaftspolitik fand in der Krise nicht statt. Die Krise wurde so tief und dauerte so lang, da die Staaten jeweils „nationale Interessen“ verfolgten und es keine Stabilisatoren gab. Die Handelspolitiken der Regierungen waren protektionistisch. Es wurde international kein Geld mehr verliehen und die Weltwirtschaft zerfiel in mehrere Währungsblöcke. In den meisten Ländern entstand hohe Arbeitslosigkeit. Auch nach 1932 gab es keine wirtschaftliche Erholung, und 1937/38 kam es zu einer neuerlichen Depression. Liberale Wirtschaftspolitiken waren diskreditiert, und überall wurden die Staatsinterventionen verstärkt. Da es aber das Instrument der Nachfragestimulation noch nicht gab, kam es zu Überproduktion und Spekulation. Entsprechend hoch waren die Zinsen auf Verbraucherkredite, die mit Hypotheken gesichert wurden.67 Die Versuche, die Wirtschaftskrise zu beenden, waren Anfang der 1930er-Jahre vielfältig. Insgesamt wurde unter dem Eindruck der Krise in vielen Ländern die liberale Demokratie zurückgedrängt. In einigen lateinamerikanischen Ländern kamen national-populistische Regierungen oder Militärdiktatoren an die Macht (von zwölf Regierungswechseln 1930/31 erfolgten zehn durch Militärputsch mit teilweise linker, teilweise rechter Ausrichtung). Die US-Regierung propagierte 235

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 235

22.09.2010 07:50:27

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

e­ inen New Deal mit starker Staatsintervention. Hohe Produktivität und positive Erfahrungen der Immigration und Integration machten hier faschistische Strategien aussichtsloser. Auch in Kanada und Schweden fanden Linksentwicklungen statt. Eine dritte Alternative war der Kommunismus, der zu dieser Zeit trotz des Stalinismus in der Sowjetunion vielen noch attraktiv schien. In einigen Ländern wie in Frankreich oder Spanien bildeten sich linke Volksfront-Regierungen. Die brutalsten Formen der Krisenlösung waren in Europa der Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich, der Faschismus in Italien und die Franco-Diktatur in Spanien. Der Nationalsozialismus gipfelte als rassistisches und expansives Wahnprojekt im Holocaust mit schätzungsweise sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden und in einem ebenfalls rassistisch begründeten Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. In Ostasien agierte ein nationalistisch-militaristisches und expansionistisches japanisches Regime (1931 marschierten japanische Truppen in der Mandschurei ein), das durch eine schnelle Industrialisierung auch über die notwendigen Ressourcen verfügte. Die deutsche NS-Regierung war international hoch aktiv  : 1933 trat sie (wie Japan) aus dem Völkerbund aus, 1935 kündigte sie den Versailler Friedensvertrag, 1936 wurde das Rheinland militärisch besetzt, 1938 Österreich und Teile Tschechiens annektiert. Ein zentrales Ereignis internationaler Politik waren die Münchener Konferenz und das gleichnamige Abkommen im September 1938, in dem Deutschlands Annexion der sudentendeutschen Teile Tschechiens von den Westmächten akzeptiert wurde. Davon ermuntert, wurde der Rest Tschechiens im März 1939 besetzt und im August 1939 der folgenschwere Hitler-Stalin-Pakt abgeschlossen. Der Völkerbund erwies sich in dieser Situation als zu schwach, und die Westmächte lehnten weiterhin Bündnisse mit der Sowjetunion ab. Am 1. September 1939 überfiel die Deutsche Wehrmacht Polen, womit der Zweite Weltkrieg begann. Italien blieb im ersten Kriegsjahr neutral, trat aber später dem deutsch-japanischen Militärbündnis bei (und wechselte nach der Invasion der Alliierten 1943 die Seite). Die deutschen Truppen hatten in kurzer Zeit große Teile Europas direkt besetzt, und der unbesetzte Teil Frankreichs war ein willfähriger Staat. Der einzige europäische Kriegsgegner NS-Deutschlands war Großbritannien. Durch den Hitler-Stalin Pakt bekam die Sowjetunion die meisten 1918 verlorenen Territorien zurück. Hitler begann einen anfangs erfolgreichen Feldzug in Afrika und auf dem Balkan. Zur selben Zeit besetzten japanische Truppen große Teile Südostasiens. Die ressourcenarmen Kriegsländer Deutschland und Japan waren auf die Ausbeutung der besetzten Gebiete angewiesen, um den „totalen Krieg“ weiter zu führen. Wendepunkte des Krieges in Europa stellten der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion im Juni 1941 (der Win236

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 236

22.09.2010 07:50:27

Internationale Politik

ter 1942/43 erwies sich als kriegsentscheidend), die militärisch unverständliche Kriegserklärung der NS-Regierung an die USA Ende 1941, der Angriff der japanischen Luftwaffe von Pearl Harbor im Dezember 1941 und der darauf folgende Kriegseintritt der USA in Asien dar.68 Die internen Wider­standsbewegungen gegen die Besetzungen blieben mit Ausnahme Russlands, des Balkans und Italiens militärisch unbedeutend. Unglaubliches Leid mit 55 bis 60 Millionen Toten, 35 Millionen Verwundeten, etwa sechs Millionen ermordeten Juden, Roma und Sinti und bis zum Mai 1945 allein in Europa schätzungsweise 40 Millionen Toten waren die Folge. Die Kapitulationen Deutschlands im Mai 1945 und der japanischen Regierung nach Zündung von zwei Atombomben in Hiroshima und Nagasaki führten zum Ende des Krieges. Noch während des Krieges verständigten sich die Alliierten in Teheran (1943), Moskau (1944), Jalta (Februar 1945) und Potsdam (August 1945) auf eine Nachkriegsordnung. 1944–49 kam es zu einer Welle von kommunistischen Machtübernahmen in Osteuropa unter der Kontrolle Moskaus – einzig in der Tschechoslowakei war die Kommunistische Partei bereits vorher eine relevante Kraft – wie auch zu den Entkolonisierungen Indiens und Pakistans. China hatte ab 1949 eine kommunistische Regierung. Vereinte Nationen, Kalter Krieg und internationale Politik während der (peripher-)fordistischen und postkolonialen Entwicklungsweise

1945 brachte das Ende des „Zeitalters der Katastrophen“ in der westlichen Welt. Doch die nächsten vierzig Jahre standen im Zeichen des Ost-West-Konflikts, der bald von der dritten Welle der Entkolonialisierung überlagert werden sollte. Die Kolonialmächte leisteten teils großen Widerstand gegen die Entkolonialisierung. Angesichts der überragenden Rolle der USA und der von dort aus sich verallgemeinernden fordistisch-kapitalistischen Entwicklungsweise, nach der Erfahrung zweier Weltkriege, dem Scheitern des Völkerbundes, der sich abzeichnenden Blockkonfrontation und einsetzenden Entkolonialisierung wurde die IP restrukturiert. Eine Pax Americana bildete sich aus. Bedingung dafür war, dass die relevanten Kräfte in den USA und die US-Regierung im Gegensatz zu den 1920er-Jahren nun bereit waren, sich international zu engagieren. Die USA verzichteten im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg auf hohe Reparationszahlungen und unterstützten den Wiederaufbau Europas mit dem Marshallplan. Dieser war auch gegen die Erweiterung des Einflusses der Sowjetunion in Europa gerichtet. Unterstrichen wurde die Notwendigkeit internationalen Engagements der USA durch die Tatsache, dass sich 1949 in China eine kommunistische Regierung unter Mao Zedong etablieren konnte. 237

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 237

22.09.2010 07:50:27

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

Somit lebte ein Drittel der Weltbevölkerung unter kommunistischer Herrschaft und ein Drittel in Kolonien. Nach der bis 1945 vorherrschenden imperialistischen Konkurrenz bildeten sich nun zwei „Block-Staaten“ unter Führung der Sowjetunion und den USA heraus.69 Innerhalb dieser beiden politisch-ökonomischen und ideologischen Blöcke wurden eigenständige Organisationen wie 1949 die North Atlantic Treaty Organization (NATO) und 1955 der Warschauer Pakt gegründet. Doch es gab auch politische Strukturen, die für beide „Block-Staaten“ relevant waren. Noch 1945 wurde die United Nations Organization (UNO) in San Francisco von 51 Regierungen gegründet  ; ihre Charta trat am 24. Oktober 1945 in Kraft. Von Beginn an trat die UNO mit universalem Anspruch in Kriegsprävention, Abrüstung und Friedenssicherung, soziale und wirtschaftliche Entwicklung, Schutz der Menschenrechte sowie die Setzung internationaler Standards auf. Gleichberechtigung der völkerrechtlichen Subjekte, nationale Selbstbestimmung und der Verzicht auf Gewalt sind zentrale Prinzipien. Am 10. Dezember 1948 wurden die 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO verabschiedet. Die UNO besteht aus dem organisatorischen Kern des Sekretariats sowie der Generalversammlung, dem Wirtschafts- und Sozialrat, dem Sicherheitsrat und dem Internationalen Gerichtshof.70 (Peripher-)fordistische Entwicklungsweise

Die in den 1950er und 1960er-Jahren breit akzeptierte Produktions- und Lebensweise kann, wie gesagt, abkürzend als Fordismus bezeichnet werden.71 Es entstand eine an tayloristischer Massenproduktion und Massenkonsum ausgerichtete Lebensweise der Lohnabhängigen, die in vielen Ländern auf dem männlich-weißen Familienernährermodell basierte (vgl. die Kapitel zu Familie und GenderPolitik). Technologische Innovationen in den Bereichen Chemie, Landwirtschaft, Telekommunikation, Maschinenbau, Elektronik und Transport waren Voraussetzungen der fordistischen Dynamik. Am Auto als emblematischem Vehikel der fordistisch-kapitalistischen Produktions- und Entwicklungsweise lassen sich deren Grundzüge verdeutlichen  : Die taylorisierte Produktion von Autos in innovativen Großunternehmen hatte Auswirkungen auf Lebensweise und Arbeitsmoral der Lohnabhängigen, auf staatliche (Infrastruktur-)Politiken sowie auf die gesellschaftlichen Naturverhältnisse (v. a. in Form der Verwandlung der Städte). Im Unterschied zur liberal-kapitalistischen Entwicklungsweise des 19. Jahrhunderts wurden nun Forderungen der ArbeiterInnenbewegung berücksichtigt. Ein relativ stabiler Klassenkompromiss bestand darin, dass Gewerkschaften anerkannt, Kollektivver238

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 238

22.09.2010 07:50:27

Internationale Politik

handlungen institutionalisiert und Reallohnsteigerungen (im Interesse des Massenkonsums) erreicht wurden. Dementsprechend dominierte in Westeuropa das sozialdemokratische Paradigma. Zentral schien die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums durch den Staat und staatsnahe Organisationen. Mit der Ausdehnung der Lohnarbeit ging einher, dass private Haushalte und Familienleben immer stärker der Konsumtion unterworfen und produzierende Subsistenzwirtschaft (Bauern, Kleinbauern, m/w) zurückgedrängt wurden. Diese fordistisch-kapitalistische Produktions- und Entwicklungsweise hatte starke Konsenselemente, verallgemeinerte sich in der westlichen Welt und auch in einigen westlich orientierten Ländern des globalen Südens, wo sich eine peripher-fordistische Produktions- und Lebensweise herausbildete. Sie wurde von der UNO und anderen internationalen Organisationen vorangetrieben. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit Sitz in Paris diente der Entwicklung des westlichen Kapitalismus. Sie wurde 1948 als Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) von 16 westeuropäischen Ländern gegründet, um die Verteilung der Gelder des Marshallplans zu koordinieren. 1961 verwandelte sie sich in eine weltweite Organisation für wirtschaftspolitische Koordination, der heute 31 Industrieländer angehören – jüngstes Mitglied ist seit Jänner 2010 als erstes südamerikanisches Land Chile. Die Tätigkeitsfelder der OECD weiteten sich schon in den 1960er-Jahren auf sozial- und bildungspolitische Fragen aus. In der Sowjetunion und deren Vasallen-Staaten dominierte der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Trotz der enormen Rüstungsanstrengungen gab es auch hier ökonomisches Wachstum und Produktivitätsfortschritte. In der maßgebenden Sowjetunion fand nach der gesellschaftlich repressiven Zeit unter Stalin eine gewisse Öffnung unter Nikita Chruschtschow Mitte der 1950er-Jahre statt, bis er von den Hardlinern abgesetzt wurde. In diesem Kontext war auch der österreichische Staatsvertrag von 1955 möglich.72 Unter Breschnew wurden die Verhältnisse wieder in eine bürokratische Diktatur mit enormer wirtschaftlicher Ineffizienz und proportional sehr hohen Sicherheits- und Rüstungsausgaben eingefroren. Eine wesentliche Funktion der internationalen Wirtschaftspolitik bestand im Unterschied zum liberalen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts darin, die nationalen Entwicklungen zu fördern und abzusichern sowie Krisen vorzubeugen und effizient zu bekämpfen. Es gab breiten Konsens, dass Wechselkurse stabil und der Kapitalverkehr kontrolliert sein sollten. Vollbeschäftigung wurde zu einer international zu koordinierenden Aufgabe. Der Dollar wurde zum Weltgeld in der kapitalistischen Welt, die maßgebliche Strategie war eine schrittweise Liberalisierung und damit Expansion des Welthandels, damit die kapitalistischen Zentren mit 239

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 239

22.09.2010 07:50:27

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

günstigen Rohstoffen versorgt werden konnten und sichere Absatzmärkte hatten. Der Politikwissenschaftler John G. Ruggie spricht daher für diese Phase von einem „eingebetteten Liberalismus“.73 Die USA setzten dabei ihre Interessen nicht einseitig durch, auch die wirtschaftlich und politisch schwächeren Staaten hatten an der Stabilisierung der fordistischen bzw. (peripher-)fordistischen Entwicklungsweise Interesse. In der sowjetischen Einflusssphäre wurde unter Führung der Schwerindustrie eine Spielart des Fordismus durchgesetzt. Allerdings waren die Ausgangsbedingungen durch die enormen Kriegszerstörungen ungünstiger. Aber auch hier gab es in den 1950er- und 1960er-Jahren hohe Wachstumsraten (vgl. das Kapitel Wirtschaftswachstum). Die Ost-West-Konfrontation wirkte innerhalb der Blöcke integrierend. Staaten und Regierungen „betrieben zudem im Sinne der Abschreckungslogik ein insgesamt rationales internationales Konfrontations- bzw. Deeskalationsmanagement.“74 In die Phase von Nachkriegsaufbau und Wirtschaftswachstum fiel durch den Abschluss der zwei Römischen Verträge 1957/58 – zwischen den Regierungen Belgiens, der BRD, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs und den Niederlanden – die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM). 1965 wurden ihre Organe sowie die der bereits 1951/52 gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zusammengelegt.75 Entkolonialisierung, das Zeitalter der Entwicklung und die Bewegung der Blockfreien

Die zweite wichtige Konfliktlinie der IP nach dem Zweiten Weltkrieg stellt die Entkolonialisierung dar. Ausgangspunkt waren in manchen Regionen der Erste Weltkrieg und der Niedergang des Habsburger und des Osmanischen Reiches. Aber auch das britische Empire musste einige Gebiete in die nationalstaatliche Unabhängigkeit entlassen. In anderen Regionen machten die Weltwirtschaftskrise ab 1929 die ökonomische Abhängigkeit und der Zweite Weltkrieg die politische Schwäche der Kolonialländer deutlich und vergrößerten den Keim der antikolonialen Kämpfe.76 Dieser wurde kriegsbedingt gefördert. Wie schon Wilsons 14Punkte-Plan versprach die Atlantik-Charta der britischen und US-amerikanischen Regierungen von 1941 den Kolonien Selbstbestimmung, um sie zur Unterstützung der Alliierten zu bewegen.77 Doch nun war vieles anders als 1918/19. Die USA und die Sowjetunion hatten aufgrund ihrer Machtstellung weit weniger Probleme, auf den formellen Kolonialismus zu verzichten als zunächst Großbritannien. Doch selbst die britische Labour-Regierung war nicht nur kritischer gegenüber der Ko240

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 240

22.09.2010 07:50:27

Internationale Politik

lonialpolitik eingestellt, sondern merkte angesichts der Probleme in Indien, dass eine Verständigung mit den Eliten um politische Unabhängigkeit der Kolonien angebracht war. Frankreich und Portugal blieben angesichts ihrer weit weniger wettbewerbsfähigen Ökonomien weiterhin an der direkten Ausbeutung der Kolonien interessiert. In Asien war mit Ausnahme Indochinas (Vietnam, Laos, Kambodscha) die Entkolonialisierung um 1950 abgeschlossen. In Afrika kam es nach der 1957 erlangten Unabhängigkeit der Goldküste (Ghana) zwischen 1960 und 1962 zu ‚prophylaktischen Dekolonisierungen‘78 mit Ausnahme Kenias (wo die Mau-Mau-Bewegung militärisch kämpfte) und Belgisch-Kongos, wo nach Erlangung der Unabhängigkeit der erste demokratisch gewählte Präsident Lumumba 1961 ermordet wurde und ein Bürgerkrieg entbrannte.79 In Südafrika und Südrhodesien widersetzten sich die weißen Siedler der Unabhängigkeit und errichteten Apartheidregime. Die in vielen Ländern breiten popularen Mobilisierungen für die Befreiung von kolonialer Herrschaft tendierten häufig nach links, während die Eliten eher westlich orientiert blieben. Dabei wurden postkoloniale Herrschaft und eine mehr oder weniger gelingende ökonomische Modernisierung stark von den neuen Eliten bestimmt.80 Auf der politisch-institutionellen Ebene bedeutete Entkolonialisierung die Übernahme des westlichen Staatenmodells durch die ehemaligen Kolonien – exemplarisch in den ehemals französischen Kolonien Westafrikas, in denen Frankreich eine Zone privilegierten Zugangs mit eigener Währung einrichtete.81 Mit der Antrittsrede des US-Präsidenten Harry Truman im Jänner 1949 begann das Zeitalter der Entwicklung. Fortan wurden entwickelte und unterentwickelte Länder unterschieden. Leitbegriff wurde nachholende Entwicklung. Es bildeten sich Entwicklungsstaaten heraus, die zwar bündnispolitisch westlich-kapitalistisch, östlich-sozialistisch oder „blockfrei“ waren (s. u.), sich aber alle der nachholenden Entwicklung verschrieben. Ihr Ziel war die Ruhigstellung des kritischen Potenzials in der Bevölkerung, „anfangs im Interesse der kolonialen Verwaltung, später in dem der ihr nachfolgenden Staatsklasse“.82 Die neuen Staaten wurden auf asymmetrische Weise in den Weltmarkt integriert und blieben dabei an die ehemaligen Kolonialstaaten gebunden. Die sog. Entwicklungshilfe geriet über Projektfinanzierung und Kreditvergabe zu einer neuen Form der Kontrolle. Sicherheitspolitisch, aber auch wirtschaftspolitisch versuchten die USA wie die Sowjetunion, die postkolonialen Staaten mittels Propaganda und Wirtschaftshilfe auf ihre Seite zu ziehen oder mittels direkter militärischer Hilfe jene Kräfte zu stärken, die in ihrem Sinn agierten. Überlagert wurde die Entkolonialisierung in einigen Regionen durch offene Kriege und gefährliche Konfrontationen  : den Koreakrieg (1950–53), den Suezkrieg 1956, den Krieg in Algerien 1954–1962, die Kubakrise (1962) und den zuerst von 241

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 241

22.09.2010 07:50:27

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

Frankreich (ab 1945–54), dann von den USA geführten Vietnamkrieg (1965–1973). In Ländern des globalen Südens fanden zwischen 1945 und 1983 Kriege statt, die schätzungsweise 19 bis 20 Millionen Menschen das Leben kosteten, die meisten in den beiden einzigen Kriegen, an denen die USA direkt beteiligt waren  : in Korea und in Vietnam.83 In der kommunistischen Welt herrschte bis 1956 der Stalinismus. Dieser wurde durch eine breite Bewegung in Ungarn und Polen, durch die Selbstkritik der Kommunistischen Partei und bald darauf durch China und dessen Bruch mit der Sowjetunion infrage gestellt. Auch die „Dritte Welt“ versuchte sich in internationaler Politik. Nach einem ersten Treffen asiatischer Staaten 1947 war die asiatisch-afrikanische Konferenz von Bandung (1955), bei der zwischen Regierungen und radikaleren gesellschaftlichen Akteuren Differenzen sichtbar wurden, ein Meilenstein. Aus dem größeren Teil heraus formten 1961 die Staatschefs Ägyptens, Abdel Nasser, Indiens, Jawaharlal Nehru, und Jugoslawiens, Josip Broz (Tito), die Bewegung der Blockfreien, die einen Dritten Weg zwischen Realsozialismus und Kapitalismus gehen wollte. 1964 formierte sie die Gruppe der 77 (G77), zu der später auch lateinamerikanische Länder hinzukamen (heute mit 130 Mitgliedern). Beide Gruppen blieben bis in die 1970er-Jahre wichtig. Um den Anliegen der G77 Gehör zu verschaffen, wurde 1964 die Conference on Trade and Development gegründet, die noch im selben Jahr als UNCTAD eine offizielle UNO-Organisation wurde. Sie arbeitete Vorschläge für eine Neue Weltwirtschaftsordnung aus, die das Recht auf Verfügung über die eigenen natürlichen Ressourcen, die Enteignung ausländischer Unternehmen, die politische Stabilisierung der Weltmarktpreise sowie günstige Kredite vorsah. Die Forderungen wurden zwar 1974 von der UNO offiziell verabschiedet, jedoch von kapitalistischen Zentren unwirksam gemacht und in den 1980er-Jahren von anderen Entwicklungen überholt.84 Nach Abschluss der Entkolonialisierung war der formelle Imperialismus (als Kontrolle fremden Territoriums) wirtschaftlich unwichtig geworden. Wirtschaftliche und kulturelle Herrschaft wurde nun informell über den Weltmarkt, die sogenannte Entwicklungshilfe und das internationale politische System, dominiert von zwei fest strukturierten ‚Blockstaaten‘ (USA und Sowjetunion), ausgeübt. Letztere beanspruchten ihre Einflusssphären, die USA v. a. Lateinamerika mit Ausnahme Kubas ab 1959. Nur wenige Länder, vor allem China, bewahrten ihre politische Unabhängigkeit. Was seit dem Zweiten Weltkrieg durch die Bildung der Blockstaaten stattfand, war also nicht weniger als eine neue Form der Internationalisierung von Politik. IP fand nun neben bilateraler Diplomatie stärker über die UNO, die NATO und über die mächtigen und inter-hierarchisch organisierten Blockstaaten statt. 242

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 242

22.09.2010 07:50:27

Internationale Politik

Im Kontext des Ost-West-Konflikts und der Entkolonialisierung entstanden in vielen Ländern soziale Bewegungen, v. a. antikoloniale Bewegungen. Eine starke internationale Friedensbewegung entstand Mitte der 1960er-Jahre gegen Atombewaffnung und gegen den Algerien- und den Vietnamkrieg, die mit der StudentInnenbewegung zusammenging.85 „1968“ wurde zur Chiffre für vielfältige Aufbrüche.86 Auch in Umweltpolitik und Geschlechterpolitik bildeten sich neue, international vernetzte soziale Bewegungen. Peripherer Fordismus in Lateinamerika

In Lateinamerika nahm die peripher-fordistische Entwicklung etwas andere Züge an. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg setzte sich aufgrund der negativen Erfahrungen in der Weltwirtschaftskrise von 1929 ein starker Wirtschaftsnationalismus durch. Auch hier intervenierte nach der Krise von 1929 der Staat stärker in das wirtschaftliche Geschehen, einige Schlüsselindustrien wurden verstaatlicht (u. a. die Ölindustrie in Mexiko 1938 unter Lázaro Cárdenas). Wirtschaftspolitische Leitidee war importsubstituierende Industrialisierung, d. h. durch den Aufbau eigener Industrien sollte die Abhängigkeit von Importen verringert werden. Ein anderes Leitbild stellte der desarrollismo dar, ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den Metropolen im Rahmen der Entwicklungspolitik unterstützt wurde. Gleichzeitig wurden in einigen Ländern sozialstaatliche Elemente eingeführt, v. a. in Uruguay. In den 1930er-Jahren kamen wiederholt linkswie rechtsgerichtete populare Regierungen an die Regierungsmacht (1930 Getúlio Vargas in Brasilien nach verlorener Wahl und einem anschließenden Militärputsch, nach gewonnenen Wahlen 1934 Lázaro Cárdenas in Mexiko, 1946 Juan Domingo Perón in Argentinien). In Bolivien kam es ab 1952 zu einer linksgerichteten Revolution, die Landreformen und Verstaatlichungen durchführte und den Indigenen politische Rechte zuerkannte. Damit fand der „Einbruch der Massen in die Politik“ auch in Lateinamerika statt, auch wenn es zwischen den links- und rechtspopularen Regierungen immer wieder zu Militärdiktaturen kam. Der Einfluss der neuen westlichen Weltordnungsmacht USA, in Lateinamerika schon seit der Jahrhundertwende enorm, stieg nach 1945 nochmals beträchtlich an. Die panamerikanischen Konferenzen wurden nach dem Krieg in eine UNO-Organisation überführt, die Organisation Amerikanischer Staaten (s. o.). Die USA wollten mit der von John F. Kennedy initiierten Allianz für den Fortschritt die linken Kräfte schwächen und die kommunistische Gefahr bannen, empfahlen Agrarreformen, schnellere Industrialisierung, eine Ausweitung der ökonomischen Staatstätigkeit und die Stabilisierung der formalen Demokratien. Gleichzeitig boten sie zunehmend Militärberatung an. Das 243

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 243

22.09.2010 07:50:27

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

überragende politische Ereignis in Lateinamerika in dieser Zeit aber war die Kubanische Revolution von 1959, angeführt von Fidel Castro und Ernesto Che Guevara. Aufgrund des Drucks und vor allem des Wirtschaftsembargos der USA näherte sich Kuba der Sowjetunion an. Ein erster Höhepunkt des Konflikts war die Kubakrise 1961, als die Sowjetunion Raketen auf der Karibikinsel stationieren wollte. Das neue peripher-fordistische Entwicklungsmodell wurde von den Dynamiken der kapitalistischen Zentren gesteuert. Insgesamt konnten die Abhängigkeit vom Weltmarkt und insbesondere von Kapitalimporten sowie die soziale Heterogenität nur begrenzt verringert werden.87 Aufgrund ihrer relativen Schwäche spielten die Länder des Kontinents in der IP in den 1950er und 1960er-Jahren eine untergeordnete Rolle. Sie standen in großer Abhängigkeit von den USA. Dennoch entwickelten sich in dieser Phase des peripheren Fordismus eine urbane Mittelklasse und eine Industriearbeiterschaft. In Mexiko, Brasilien, teilweise in Argentinien, Uruguay und Chile fanden Industrialisierungsprozesse statt. Ab Mitte der 1960er-Jahre wurden die Armeen in vielen lateinamerikanischen Staaten zu Protagonisten der Entwicklung. Es begann 1964 in Brasilien und 1965 in der Dominikanischen Republik ein Zyklus von mehr oder weniger blutigen Militärdiktaturen (Paraguay hatte bereits Mitte der 1950er-Jahre eine Militärdiktatur). In Argentinien und Uruguay war dies eine Antwort auf stärker werdende linke Kräfte, die sich aus Teilen der Gewerkschaften, der Theologie der Befreiung, Studierenden und radikalen Bewegungen zusammensetzten. In vielen Ländern bildeten sich Koa­ litionen aus Militär, Oligarchie und Mittelstand, die die gesellschaftliche Ordnung gefährdet sahen.88 Die wirtschaftspolitischen Orientierungen der Militärregierun­ gen waren durchaus unterschiedlich  : In Brasilien wurde die Importsubstitution vorangetrieben, in Uruguay, Chile und Argentinien zugunsten eines neoliberalen Kurses aufgegeben. In Mexiko kam es zwar nicht zur Militärdiktatur, aber ab 1968 zu einer starken Repression radikaler und zur Kooptation gemäßigter linker Kräfte. Die Diktaturen endeten in den 1980er-Jahren. In Mittelamerika, das die USA direkt zu ihren Einflusszonen zählten, gab es auch sehr lange dauernde Diktaturen wie jene der Somoza-Familie in Nicaragua von 1937 bis 1979.

Krise des Fordismus und Entspannungspolitik Die (peripher-)fordistische Entwicklungsweise kam Anfang der 1970er-Jahre an ihr Ende. Sinkende Produktivitätssteigerungen und schrumpfende Gewinne verallgemeinerten sich zu einer Wirtschaftskrise. Der Widerstand von ArbeiterInnen 244

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 244

22.09.2010 07:50:27

Internationale Politik

gegen die entfremdenden tayloristischen Produktionsmethoden nahm zu, soziale Bewegungen wie jene der Studierenden formulierten demokratische und emanzipatorische Ansprüche an die Gesellschaft, das politische System und die IP. Das Ost-West-Verhältnis war in den 1970er-Jahren von einer gewissen Entspannung gekennzeichnet, was sich in der ‚Ostpolitik‘ Willy Brandts in Deutschland und in der Einrichtung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, 1973/1975) niederschlug. Diese Entspannungspolitik wurde Ende der 1970er-Jahre von konservativen Kräften in den USA und der Sowjetunion beendet. Der NATODoppelbeschluss im Jahr 1979, Gespräche mit der UdSSR fortzuführen und gleichzeitig Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren, läutete eine neue Runde des Wettrüstens ein. Ein Zweiter Kalter Krieg begann, der Proteste einer starken Friedensbewegung hervorrief, insbesondere in Westdeutschland. Weltwirtschaftlich fanden in den 1950er- und 1960er-Jahren Aufholbewegungen in Westeuropa und Japan gegenüber den USA statt. Mehrere Abwertungen des US-Dollars Ende 1971 und die ökonomische Schwäche der USA führten zum Ende des Systems der Wechselkurse und des bislang die kapitalistische Weltwirtschaft stabilisierenden Systems von Bretton Woods. In der damit ausgelösten Krise der fordistisch-kapitalistischen Produktions- und Entwicklungsweise bildete sich eine politische Institution heraus, die zur eher informellen Koordination der Wirtschafts- und Entwicklungspolitiken beitragen wollte  : eine Gruppe der sechs Regierungen von Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan und USA, die sich im November 1975 erstmals traf, ein Jahr später durch den Beitritt Kanadas zur G7 und 1998 durch den Beitritt Russlands zur G8 wurde. Neben der Trilateralen Kommission – bestehend aus hochrangigen Vertretern Nordamerikas, Westeuropas und Japans – zur Beratung möglicher politischer Strategien wurde 1971 das Weltwirtschaftsforum gegründet. Neben seinen jährlichen Treffen in Davos ist daraus inzwischen ein dichtes Netzwerk zur Koordination von Wirtschaftspolitik und Forschungsaktivitäten entstanden. Weitere Meilensteine der IP waren Weltkonferenzen wie die erste UNO-Konferenz zu menschlicher Umwelt 1972 in Stockholm, woraufhin das Umweltprogramm der Vereinten Nationen UNEP gegründet wurde, und die erste Weltfrauenkonferenz 1975 in Mexiko-Stadt. Wieder wurde deutlich, dass zivilgesellschaftliche Gruppen sich auch auf internationale Politikprozesse beziehen, um ihren Anliegen Geltung zu verschaffen. Dieses Politikmuster gewann in den 1990er-Jahren an Bedeutung. Wie schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als Großbritannien seine politische und ökonomische Vormachtstellung nach und nach einbüßte, erhielten multilaterale politische Institutionen mehr Gewicht.

245

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 245

22.09.2010 07:50:27

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

Die post-fordistische Entwicklungsweise als Ergebnis neoliberal-imperialer Globalisierung Ende der 1970er-Jahre nahmen einige Regierungen ausdrückliche wirtschafts- und sicherheitspolitische Kehrtwenden vor, v. a. jene der USA unter Ronald Reagan und die britische Regierung unter Margaret Thatcher. Die USA versuchten im Verbund mit den anderen OECD-Staaten und in enger Kooperation mit den eigenen Kapitalgruppen, die nordwestliche politische und ökonomische Vorherrschaft wiederherzustellen. Das wirtschaftspolitische Gedankengut des Neoliberalismus, schon seit den 1940er-Jahren entwickelt, wurde nun von den ökonomischen und politischen Eliten übernommen.89 Die konservativen Regierungen in den USA und in England begannen ein strategisches Projekt des Neoliberalismus. Es führte bereits vorher in Chile 1973 zu einem blutigen Militärputsch unter Pinochet und in Argentinien zu einer Militärjunta (1976–1983), die ca. 30.000 Opfer (desaparecidos) kostete. Damit begann, was wir heute als neoliberal-imperiale Globalisierung bezeichnen.90 International trieben einige Regierungen und ökonomische Kräfte die Liberalisierung der Finanzmärkte und von Handel und Investitionen voran. Es folgten Privatisierungen und die Schwächung der Gewerkschaften. Der Mangel an Arbeitskräften wurde durch Migration, durch wirtschaftliche Strukturveränderungen und eine partielle Liberalisierung der Arbeitsmärkte in einen ‚Überschuss‘ verwandelt. Eine interessenpolitische Polarisierung wurde in Kauf genommen. Es entstand eine transnationale Kapitalistenklasse, der es immer häufiger gelang, Regierungen und Gewerkschaften gegeneinander auszuspielen. Der Aufstieg neoliberaler Strategien war also kein reiner Marktprozess, sondern wurde von nationalen und internationalen Politiken vorangetrieben. Das geschah teilweise offen gewaltförmig durch Militärdiktaturen, wurde rechtlich abgesichert über nationale Regulierungen, supranational im Rahmen der EU und international im Kontext der Welthandelsorganisation. IP diente zunehmend der Absicherung der liberal-kapitalistischen Globalisierung. Wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit wurde zum überragenden Kriterium staatlicher Politik. Auf dem Weltmarkt dominierte insgesamt developmentalism. Dabei differierten die Entwicklungsstrategien durchaus, sie waren entweder merkantilistisch, freihandelsorientiert oder selektiv offen.91 Das hing von den historischen Entwicklungen, naturräumlichen Gegebenheiten und spezifischen Kräfteverhältnissen ab. Dies ermöglichte einen neuen Wachstumsschub, der auf neuen Technologien und Organisationsformen und auf einer intensiveren Ausbeutung von Arbeitskraft und Natur basierte. Zudem wurden neue gesellschaftliche und sozial-ökologische Bereiche verstärkt für die Kapitalakkumulation erschlossen wie Teile der biologischen 246

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 246

22.09.2010 07:50:27

Internationale Politik

Vielfalt als genetische Ressourcen oder bislang öffentlich organisierte Bereiche wie die Pensionsversicherung. Es entstand eine post-fordistische Produktions- und Entwicklungsweise, die zunehmend auch für die (semi-)peripheren Länder bestimmend wurde.92 Die internationalen Wirtschaftsagenturen IWF, Weltbank, GATT und OECD blieben über die Krise der 1970er-Jahre hinweg funktionsfähig und wurden in den 1980er-Jahren noch wichtiger. Sie machten unter dem Druck der mächtigsten Mitglieder einen Schwenk in Richtung neoliberal-imperialer internationaler Wirtschaftspolitik. Insbesondere die OECD (mit Sitz in Paris) ist heute mit ihrer marktliberalen Orientierung in Arbeitsmarkt-, Umwelt-, Sozial- und Bildungspolitik involviert. In der OECD arbeiten neben den 31 Mitgliedsregierungen etwa 40 weitere Länder in unterschiedlichen Arbeitsgruppen mit. Nicht zufällig wurden die UNCTAD und die mit ihr verbundenen Forderungen der G7 nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung in den 1980er-Jahren stark zurückgedrängt. Einen Schub erfuhr die aktuelle neoliberale Globalisierung durch den Fall der Berliner Mauer 1989 und die Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991. Die Sowjetunion konnte ihre hohen Rüstungsausgaben in den 1980er-Jahren (schätzungsweise ein Drittel des Bruttosozialprodukts gegenüber sieben Prozent in den USA) und ihre Innovationsschwäche nicht mehr kompensieren. Die Gesellschaft war politisch und sozioökonomisch erstarrt. Ab 1985 versuchte Michail Gorbatschow mit seinen Strategien von Transparenz und Transformation (Glasnost und Perestroika) neue Dynamiken zu schaffen. Das führte ins Gegenteil  : Die politische Offenheit brachte angesichts der Unreformierbarkeit des Systems dessen Ende.93 Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung der Sowjetunion wurde die militärische Macht der USA konkurrenzlos, was sich darin spiegelt, dass das Land seit 20 Jahren jeweils knapp die Hälfte der weltweiten Rüstungsausgaben tätigt. Es kam zur Auflösung der ‚drei Welten‘.94 Die Friedensoperationen der UNO wurden aufgewertet und gleichzeitig komplexer. Das betrifft etwa den Friedenserhalt nach offenen Konflikten (post-conflict peacekeeping). Um das Jahr 1990 herum gab es erfolgreiche Friedensmissionen in Namibia, Mosambik und El Salvador. Mitte der 1990er-Jahre geriet die UNO jedoch angesichts ihrer Misserfolge in Somalia, Ruanda und Bosnien unter Druck. Insbesondere die US-Regierung wollte für bestimmte militärische Einsätze lieber auf die NATO zurückzugreifen. Die Ausweitung der NATO nach Osteuropa – 1999 begonnen mit Polen, Tschechien und Ungarn, inzwischen mit zwölf Mitgliedsländern aus dem ehemaligen sowjetischen Einflussgebiet – und die ab 1999 geltende NATO-Strategie der „out of area“-Einsätze und damit die Aufgabe ihres Charakters als Verteidigungsbündnis waren markante Veränderungen. Dass Krieg wieder zu einem Mittel der IP wurde, zeigte sich bereits in der Endphase der Ost-West-Konfrontation nicht nur an der 247

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 247

22.09.2010 07:50:27

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

desaströs gescheiterten Kriegführung sowjetischer Militärs in Afghanistan 1979, sondern auch an den US-Militäroperationen in Grenada (1983), Libyen (1986) und Panama (1989). Im Irakkrieg 1991, als der damalige US-Präsident George Bush das Entstehen einer „Neuen Weltordnung“ verkündete, unterstrich die US-Regierung ihren militärischen Führungsanspruch. Nach dem Ende der Blockkonfrontation werden Kriege anders begründet  : In den 1990er-Jahren im Namen von globalem Recht und internationaler Gerechtigkeit,95 seit dem 11. September 2001 als Kriege gegen den Terrorismus. Die staatlichen Rüstungsetats sind weltweit zwischen 1999 und 2008 um 45 Prozent auf etwa 1.500 Milliarden US-Dollar pro Jahr gestiegen, wobei die US-Regierung einen Anteil von mehr als 40 Prozent hat (gefolgt mit jeweils zwischen 4 und 6 Prozent von China, UK, Frankreich und Russland  ; vgl. www.si-pri.org). Es kommt gleichzeitig zu einer Privatisierung von Gewaltaus­ übung durch private Militärfirmen.96 Sicherheit wird damit zu einem Produkt, auf dem Markt, das privaten Militärfirmen enorme Gewinne einbringt und Verantwortung von ­Regierungen nimmt. Neben den internationalen Kriegen nehmen in einigen Ländern, insbesondere in Afrika, Neue Kriege97 zu, die innerstaatlich ausgetragen werden und nichtstaatliche Akteure beteiligen. Die Verfügung über natürliche Ressourcen und deren Verkauf auf dem Weltmarkt bilden neben ethnischen und religiösen Konflikten ein häufiges Motiv, die Kriege werden zu einem Reproduktionsmodus bestimmter Bevölkerungsgruppen. Die Staaten, in denen diese Neuen Kriege stattfinden, werden geschwächt und z. T. zu Quasistaaten,98 in denen Warlords, NGOs oder die UNO Staatsfunktionen übernehmen und immer wieder wirtschaftspolitische und militärische Interventionen von außen erfolgen. Seit den 1990er-Jahren nahm die Bedeutung multilateraler Politik trotz der überragenden militärpolitischen Position der USA deutlich zu. Zwar stand der „Westblock-Staat“ konkurrenzlos da und versuchte zunehmend, die weltweiten Regeln in seinem Sinne zu setzen. Doch der Modus war in vielen Fällen multilateral, so auch bei der Festschreibung freihändlerischer Politiken im Rahmen der GATT-Verhandlungen von 1986 bis 1994, die 1995 zur Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) führten. Neben Zollsenkungen und anderen Handelserleichterungen für privat hergestellte Güter umfasste das WTO-Mandat auch Dienstleistungen, geistige Eigentumsrechte und das öffentliche Beschaffungswesen.99 Dies führte einige Jahre später zu massiven Protesten von sozialen Bewegungen und zur Kritik von Südregierungen, die eine Neuverhandlung von jenen WTO-Bestimmungen forderten, durch die sie sich benachteiligt fühlten. Die Bedeutung der Umwelt- und Menschenrechtspolitiken nahm zu. Auf der „Konferenz zu Umwelt und Entwicklung“ im Jahr 1992 in Rio de Janeiro wurden 248

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 248

22.09.2010 07:50:27

Internationale Politik

mit der Konvention über die biologische Vielfalt und die Klimarahmenkonvention zwei völkerrechtlich verbindliche Vertragswerke unterzeichnet. Allerdings mangelt es an politischer Effektivität, da derartige Abkommen immer stärker dem Standortwettbewerb untergeordnet werden.100 In den ‚weichen‘ Politikfeldern gewannen NGOs an Gewicht. Sie stellen eine neue Form politischer Interessenartikulation und -repräsentation auf internationaler Ebene dar.101 NGOs können über kluge Kampagnen die Öffentlichkeit mobilisieren, etwa gegen die Nutzung von Landminen.102 Die mikroelektronisch basierten Technologien erzeugen neuen Kooperationsbedarf, denn einheitliche Standards sind Bedingung weltweiter Kommunikation. Prominent ist hier die Standardsetzung im Internet über das 1994 gegründete World Wide Web Consortium (W3C) und die 1998 gegründete Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN). Im Standardisierungsprozess wurde die technologische Vorreiterrolle von US-Unternehmen festgeschrieben, der sich auch die EU unterwarf. Seit den 1970er-Jahren und v. a. nach 1989 wurde das nationalstaatliche Prinzip der Organisierung internationaler Politik einerseits bestätigt, andererseits unterlaufen. Im Auflösungsprozess der sowjetischen Einflusssphäre und auch in Jugos­ lawien mobilisierten die politischen und ökonomischen Eliten für die Schaffung nationaler Unabhängigkeit. Die neuen Nationalstaaten wurden Akteure der IP. Über ihre Regierungen versuchten Unternehmen weiterhin, ihre Interessen abzusichern. Gleichzeitig jedoch kam es zu einer Internationalisierung des Staates, d. h. die vermeintlich objektiven Sachzwänge internationaler Wettbewerbsfähigkeit wirkten unvermittelter als zuvor in den nationalstaatlichen Politiken.103 Der „eingebettete Liberalismus“ (Ruggie, s. o.) des Fordismus wurde entbettet. Dies betrieben vom Weltmarkt profitierende Kapitalgruppen, sozialstaatskritische politische Kräfte und die von der neoliberalen Globalisierung profitierenden oberen Mittelschichten. Lohnsenkungen und staatliche Einsparungen wurden mit dem Geschehen auf dem Weltmarkt gerechtfertigt. Aufstieg einiger Schwellenländer und die Rolle Lateinamerikas

Der Globalisierungsprozess führte ab den 1970er-Jahren zu einer Differenzierung der Dritten Welt. In der Textil- und Stahlproduktion fanden v. a. aufgrund von niedrigeren Arbeitskosten Standortverlagerungen in semiperiphere Länder (Südkorea, Thailand, Indonesien, Malaysia u. a.) statt. Die Wirtschaftsstrategien dieser Länder orientierten sich auf den Weltmarkt. China bewegte sich ab Ende der 1970er-Jahre hin zu einer industriebasierten Weltmarktintegration unter Kontrolle von Staat und Partei. Lateinamerika hingegen wurde zum Laboratorium neoliberaler Politiken. 249

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 249

22.09.2010 07:50:27

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

Der Militärputsch in Chile bildete den Ausgangspunkt, es folgten Argentinien und Uruguay. In Mexiko kam es in den 1980er-Jahren unter formal-demokratischen Bedingungen zu einem Schwenk neoliberaler Politiken. Deren Kernelemente waren  : Privatisierungen, die Öffnung der Binnenmärkte durch starke Zollsenkungen, der Rückbau sozialpolitischer Positionen des Staates, eine Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse hin zu den Kapital- und Vermögensbesitzern, eine Schwächung der Gewerkschaften. All dies wurde unter Militärdiktaturen rascher durchgesetzt als unter zivilen Regierungen. Die Auslandsverschuldung vieler Länder trug zur Durchsetzung neoliberaler Politiken bei. Sie hatte in den 1970er-Jahren durch günstige Kreditkonditionen enorm zugenommen, führte jedoch meist nicht zur gewünschten ‚verschuldeten Industrialisierung‘.104 Durch die Hochzinspolitik der USA gerieten viele Länder in die Schuldenfalle. Sie erhielten nur neue Kredite, wenn sie sich Strukturanpassungsprogrammen unterwarfen, was de facto eine Durchsetzung neoliberaler Politik in diesen Ländern bedeutete. Da diese Strategie von der US-Regierung und den in Washington ansässigen Organisationen Weltbank und IWF ausgearbeitet wurde, nannte man sie später den Washington Consensus.105 Es war eine neue Art der (informellen) Kolonisierung schwächerer Länder.106 Auch in Lateinamerika bzw. in den Amerikas wurden regionale Integrationsprozesse vorangetrieben, allerdings mit einer ungleich geringeren Intensität als in der EU. Am 1. Jänner 1994 trat das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) zwischen Kanada, Mexiko und den USA in Kraft. Trotz der Nebenabkommen zu Arbeitsrechten und Umwelt handelt es sich v. a. um ein Freihandelsabkommen. Erweitert wurde NAFTA 2007 durch die Sicherheits- und Prosperitätspartnerschaft für Nordamerika (SPP), die von Bürgerrechtsorganisationen scharf kritisiert wird, da sie auf die Kontrolle der Bevölkerung und Migration abziele. Sicherheitspolitisch hat Mexiko seine ab 1939 bestehende Neutralität in internationalen Konflikten aufgegeben und bindet sich eng an die USA. Dem 1991 gegründeten Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) gehören Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay an, Venezuela hat 2006 den Beitritt unterschrieben und mehrere andere lateinamerikanische Länder sind assoziiert. Es ist dies derzeit eine Freihandelszone. Bemühungen zu einer politischen Integration werden jedoch unternommen, etwa durch die Gründung eines Parlaments (2007). Seit 2000 erfolgte der Aufstieg der zuvor semiperipheren Länder China, Indien, Brasilien, Indonesien, Russland und Südafrika zu ökonomisch wichtigen Schwellenländern mit hohem Wirtschaftswachstum. Eine Folge ist ein hoher Ölpreis, der Mitte 2008 – auch aufgrund von Spekulationen mitten in der Wirtschaftskrise – auf mehr als 140 Dollar pro Fass anstieg, um dann als Folge der Krise deutlich zu 250

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 250

22.09.2010 07:50:28

Internationale Politik

sinken. Im Gegensatz zu früher scheinen die Schwellenländer aufgrund eigenständiger Wirtschaftspolitiken weniger krisenanfällig. Der Aufstieg von Schwellenländern im wirtschaftlichen Globalisierungsprozess spiegelt sich auch, wenngleich noch schwach, in der IP. Während die Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung in den 1970er-Jahren noch erfolgreich zurückgewiesen wurden und es dann in den 1980er-Jahren zu einer neuerlichen Schwächung semi-peripherer Länder wie Brasilien oder Indien kam, haben ­diese nun ökonomisch erheblich an Macht gewonnen. Durch die Finanz- und Wirtschafts­ krise seit 2007/2008 wurde auch den G8-Regierungen klar, dass sie den sich verändernden Gewichten in der Weltwirtschaft Rechnung tragen müssen. Daher wurde die Gruppe der 20 gegründet. Die G20 besteht aus der G8 plus den Regierungen von Australien, Argentinien, Brasilien, China, Indien, Indonesien, Mexiko, SaudiArabien, Südafrika, Südkorea und der Türkei ; die EU ist das 20. Mitglied. Ob es sich hier nur um ein krisenbedingtes Zugeständnis der alten G8 handelt oder um einen dauerhaften Koordinationsmechanismus, wird sich zeigen. Auch die UNCTAD als wichtiges UNO-Terrain der Regierungen des Globalen Südens (s. o.) scheint in den letzten Jahren wieder an Bedeutung zu gewinnen. War Lateinamerika seit den 1970er-Jahren und insbesondere seit den 1980ern ein Laboratorium neoliberaler Politik, formierte sich seit den 1990er-Jahren der Widerstand sozialer Bewegungen, der ab 1999 u. a. zu vielen linken und postneo­ liberalen Regierungen führte.107 In einigen Ländern kam es zu konflikthaften Nationalisierungen vormals privater Betriebe, etwa im Bereich von Öl und Gas. 2007 wurde auch eine Bank des Südens gegründet, die in Lateinamerika als Gegengewicht zu IWF und Weltbank fungieren soll. Auch die erwähnten Integrationsprozesse mit Ausrichtung auf Freihandel riefen den Widerstand von sozialen Bewegungen und Regierungen schwächerer Staaten hervor. So scheiterte die Initiative von US-Präsident George Bush von 1991 zu einer Gesamtamerikanischen Freihandelszone, die einige Jahre vorangetrieben wurde, im Jahr 2005 an diversen Widerständen. Stattdessen wird nun eine alternative und auf Lateinamerika beschränkte regionale Integration betrieben. Damit stehen sich unterschiedliche Projekte gegenüber  : Die USA haben als Verbündete die Regierungen und die dortigen dominanten politischen und ökonomischen Eliten von Mexiko, Kolumbien, Peru und die meisten zentralamerikanischen Länder auf ihrer Seite, Brasilien hingegen bildet den Kern eines um sich herum organisierten Integrationsprojekts in Form des Mercosur und der 2008 von den Regierungen aller zwölf südamerikanischen Staaten gegründeten Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR). Venezuela ist Teil dieser beiden Projekte, verfolgt jedoch mit der 2004 gegründeten „Bolivarianischen Allianz für die Völker unseres Amerika“ 251

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 251

22.09.2010 07:50:28

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

(ALBA), die inzwischen neun Länder und unter anderem Kuba, ­Bolivien und Ekuador umfasst, ein davon etwas abgesetztes Projekt. ALBA ist stärker an solidarischen Handelsbeziehungen, insbesondere im Energiesektor, orientiert. Bei allen Unterschieden überwiegt dennoch ein auf den Weltmarkt ausgerichteter neo-desarrollismo, der sich zuvorderst an der Kapazität der Länder als ­Edelmetall-, Brennstoff- oder Agrarexporteur orientiert. Grundlegende Alternativen werden eher innerhalb von sozialen Bewegungen vorangetrieben.

Ausblick Die Folgen der aktuellen Wirtschaftskrise sind nicht absehbar. Angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise scheint die exklusive G8 nicht mehr der geeignete Modus wirtschaftspolitischer Konsultationen. Ob es zu Kontinuität oder zu einer Veränderung neoliberaler Politiken kommt, bleibt abzuwarten.108 Ein sicherheitspolitischer Einschnitt in der IP waren die Terroranschläge am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York. Die US-Regierung erklärte einen „Krieg gegen den Terrorismus“ und die NATO zum ersten Mal in ihrer Geschichte den „Bündnisfall“. Nicht nur die Kriege gegen den bzw. im Irak (durch eine von den USA und Groß­ britannien angeführte „Koalition der Willigen“) und Afghanistan (durch die NATO, genehmigt durch den UN-Sicherheitsrat), sondern auch eine starke Zunahme von Antiterror-Politiken scheinen die IP dauerhaft zu prägen. In den letzten Jahren hat sich ein heterogener transnationaler politischer Akteur entwickelt  : die Bewegung für globale Gerechtigkeit,109 die jedoch in den einzelnen Gesellschaften, sozialen Feldern und Politikbereichen unterschiedlichen Einfluss hat. Die oben erwähnten vier Internationalen wurden Mitte der 1990er-Jahre durch eine nicht organisierte „Internationale der Hoffnung“ erweitert, zu deren Einrichtung die mexikanischen Zapatistas – der Name verweist auf den radikalen mexikanischen Revolutionsführer Emiliano Zapata (s. o.) – aufriefen und 1996 zu einem „Ersten Interkontinentalen Treffen gegen den Neoliberalismus und für eine menschliche Gesellschaft“ einluden.110 Dieses Treffen gilt als Anfang dessen, was heute Bewegung für globale Gerechtigkeit genannt wird. Deutlichster Ausdruck ist das inzwischen alle zwei Jahre stattfindende Weltsozialforum, auf dem alternative Vorschläge präsentiert und Erfahrungen reflektiert werden.111 In Lateinamerika war die Bewegung derart erfolgreich, dass in Argentinien, Bolivien, Uruguay und Brasilien politisch progressive Regierungen an die Macht kamen. Im Global Justice Movement – das zeigte die Ende 2009 in Kopenhagen abgehaltene 15. Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention – scheint eine 252

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 252

22.09.2010 07:50:28

Internationale Politik

Konstante angelegt zu sein, die internationale soziale Bewegungen seit dem 19. Jahrhundert auszeichnet  : Zum einen beziehen sie sich kritisch auf die herrschaftlichen internationalen politischen Institutionen. Zum anderen wird von einigen dieser Institutionen gefordert, dazu beizutragen, globale politische, sozio-ökonomische und kulturelle Prozesse demokratischer, gerechter und ökologisch verträglich zu gestalten. Anmerkungen 1 Für vielfältige Hinweise und Unterstützung danke ich Frank Deppe, Joachim Becker, Helmut Kramer, Helmut Krieger, Josef Melchior, Benjamin Opratko, Jan Pospisil, Petra Purkarthofer, Thomas Schmidinger, Rudolf Walther, Markus Wissen sowie den beiden Herausgebern dieses Bandes. Die Verantwortung für den Inhalt liegt ausschließlich beim Autor. 2 Volker Rittberger/Bernhard Zangl, Internationale Organisationen – Politik und Geschichte. Europäische und weltweite internationale Zusammenschlüsse, Opladen 2003, 15–32  ; Peter Filzmaier u. a., Internationale Politik. Eine Einführung, Wien 2006, 275 ff. 3 Insofern folge ich nicht der Definition von Patel, für den internationale Politik weitgehend Diplomatie- und Außenpolitikgeschichte ist (vgl. Kiran Klaus Patel, Überlegungen zu einer transnationalen Geschichte, in  : Jürgen Osterhammel, Hg., Weltgeschichte Stuttgart 2008, 67–89). Eine akteurszentrierte Betrachtung von internationaler (rein zwischenstaatlicher) Politik oder transnationaler Politik (unter Beteiligung nicht-staatlicher Akteure), wie sie prominent von Keohane und Nye vertreten wird, unterschätzt wesentliche Strukturmomente (vgl. Robert O. Keohane/Joseph S. Nye, Transnational Relations and World Politics, Cambridge 1971). 4 David Harvey, Der neue Imperialismus, Hamburg 2005, 36 f. 5 Ich verwende den Begriff der Produktions- und Lebensweise in Kombination mit dem der Entwicklungsweise. Letzterer kommt aus der politökonomisch und historisch orientierten Regulationstheorie, synonym  ; zu Begrifflichkeiten mit ähnlicher Bedeutung in der Weltsystemtheorie vgl. Giovanni Arrighi/Jason W. Moore, Kapitalismus in welthistorischer Sicht, in  : Das Argument 239 (2001), 43–58. 6 Sabah Alnasseri u. a., Raum, Regulation und die Periodisierung des Kapitalismus, in  : Das Argument 239 (2001), 23–42. 7 Czempiel wies bereits zu Beginn der 1990er-Jahre darauf hin, dass IP und Außenpolitik nicht mehr aus einer rein staatszentrierten Perspektive zu verstehen seien  ; vgl. Ernst-Otto Czempiel, Weltpolitik im Umbruch, München 1991. 8 IP ist demzufolge kein festgelegter Bereich. Sie besteht weder darin, öffentliche Angelegenheiten und Probleme mittels kollektiv verbindlicher Entscheidungen zu regeln (so der Institutionalismus), noch ist es ein mit einer eigenen Logik ausgestattetes Subsystem (so die Systemtheorie), noch hat sie die Funktion, die kapitalistische Ökonomie oder Klassenverhältnisse zu sichern (so die orthodoxe marxistische Theorie). 9 Sebastian Conrad/Andreas Eckert, Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen. Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in  : Sebastian Conrad/Andreas Eckert/Ulrike Freitag, Hg., Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt am Main/New York 2007, 7–49  ; Jürgen Osterhammel, Auf der Suche nach einem 19. Jahrhundert, in  : Conrad/Eckert/Freitag, Hg., Globalgeschichte, 109–130. Zur Diskussion der Gründe des Aufstiegs Europas vgl. Peer Vries  : Global eco-

253

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 253

22.09.2010 07:50:28

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

nomic history. A survey, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 20/2 (2009), 133–169. 10 Zu postkolonialen Theorien vgl. Petra Purkarthofer, Rassismus, Maskulinismus und Eurozentrismus als materielle Praxen postkolonialer Hegemonie, in  : Eva Hartmann/Caren Kunze/Ulrich Brand, Hg., Globalisierung, Macht und Ökonomie. Perspektiven einer kritischen Internationalen Politischen Ökonomie, Münster 2009, 43–69  ; Birgit Englert/Ingeborg Grau/Andera Komlosy, Globale Ungleichheit in historischer Perspektive, in  : dies., Hg., Nord-Süd-Beziehungen. Kolonialismen und Ansätze zu ihrer Überwindung, Wien 2006, 13–28. 11 Ebd., 19. 12 Zu einer Geschichte „von unten“ und ausgehend von sozialen Kämpfen um Emanzipation vgl. etwa Immanuel Ness, Hg., The International Encyclopedia of Revolution and Protest. 1500 to the Present, Malden/Oxford 2009. 13 Osterhammel unterscheidet vier Wellen der „postimperialen Entstehung von Nationalstaaten“  : 1. die Unabhängigkeit der 13 nordamerikanischen Kolonien bis 1825, 2. die Ausbildung der Nationalstaaten aus dem Zerfall des Habsburgerreichs und des Osmanischen Reichs nach 1918, 3. die Entkolonialisierung in Afrika und Asien zwischen 1946 und 1962 und 4. die Bildung von Nationalstaaten durch Zerfall der Sowjetunion 1991  ; vgl. Osterhammel, Suche, 126. 14 Ebd. Zum theoretischen Zusammenhang der Entwicklung des modernen Kapitalismus einerseits und des fragmentierten und plurinationalen Staatensystems andererseits vgl. Benno Teschke, Mythos 1648. Klassen, Geopolitik und die Entstehung des europäischen Staatensystems, Münster 2006  ; Joachim Hirsch/John Kannankulam, Die Räume des Kapitals. Die politische Form des Kapitalismus in der „Internationalisierung des Staates“, in  : Eva Hartmann/Caren Kunze/Ulrich Brand, Hg., Globalisierung, Macht und Ökonomie. Perspektiven einer kritischen Internationalen Politischen Ökonomie, Münster 2009, 181–211. 15 Die Nationalstaaten waren nie „Container“ mit klaren Grenzen zwischen innen und außen, sondern sehr unterschiedlich in translokale und transnationale sozioökonomische, kulturelle und politische Zusammenhänge eingebunden (vgl. Conrad/Eckert, Globalgeschichte, 34 f.). Staatsregierungen gehorchten nie einem quasiobjektiven nationalen Interesse, sondern dieses wurde in innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen konstituiert, in denen die Macht der Unternehmen – auch in internationalen Konstellationen – eine Rolle spielte. 16 Nach dem Verlust des europäischen Teiles des Osmanischen Reichs bildeten sich im arabischen Teil jedoch, unter dem Banner des arabischen Nationalismus, relativ stabile Verhältnisse heraus. 17 Jörg Fisch, Europa zwischen Wachstum und Gleichheit 1850–1914, Stuttgart 2002  ; Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München 1995, 180. 18 Michael Mann, Geschichte der Macht. Bd. 3/I. Die Entstehung von Klassen und Nationalstaaten, Frankfurt am Main/New York 1998, 171. 19 Rittberger/Zangl, Internationale Organisationen, 50 f. 20 Bob Reinalda, Routledge History of International Organizations. From 1815 to the Present Day, London/New York 2009. 21 Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt am Main 1978. 22 Hans-Jürgen Bieling, Internationale Politische Ökonomie. Eine Einführung, Wiesbaden 2007, 55– 69. 23 Wolfgang Reinhard, Europäische Staatsmodelle in kolonialen und postkolonialen Machtprozessen, in  : Jürgen Osterhammel, Hg., Weltgeschichte, Stuttgart 2008, 239–259. 24 Mann, Geschichte, 166. 25 Der erste Opiumkrieg wurde von Großbritannien, der zweite von Großbritannien und Frankreich

254

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 254

22.09.2010 07:50:28

Internationale Politik

gegen China geführt. Anlass des ersten Krieges war ein über die East India Company verhängtes Verbot der Einfuhr von Opium. Die britische Regierung reagierte darauf mit der Besetzung von Teilen Chinas. Das ostasiatische Land verlor in der Folge neben der wichtigen Hafenstadt Hongkong seine Handelsbilanzüberschüsse und Silberreserven und damit seine dominante wirtschaftliche Position in Asien. Es wurde in einen Kolonialstatus gezwungen. 26 Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, Frankfurt am Main 1989, 237  ; Mann, Geschichte, 163. 27 Tulio Halperin Donghi, Geschichte Lateinamerikas von der Unabhängigkeit bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 1991, 19–87. 28 Eine Ausnahme stellte Mexiko dar, wo sich auch rebellierende Mestizen und Indigene an den Auseinandersetzungen beteiligten  ; Kreolen und Spanier agierten in dem bevölkerungsreichsten und ökonomisch für Europa mit Abstand wichtigsten Land lange Zeit gemeinsam. 29 Reinhard, Staatsmodelle, 245. 30 Ebd. 31 Allerdings hatten die USA während des 19. Jahrhunderts noch keinen überragenden Einfluss in Lateinamerika (mit Ausnahme Mexikos), sondern stiegen erst an der Wende zum 20. Jahrhundert zur imperialen Macht auf. 32 Donghi, Geschichte, 176. 33 Ebd., 239–408. 34 Ebd., 342–408. 35 Adolfo Gilly, La Revolución Interrumpida, Mexiko-Stadt 1974. 36 Vgl. Reinalda, Routledge History, 83–135  ; Craig Murphy, International Organization and Industrial Change. Global Governance since 1850, Cambridge 1994. 37 Reinalda, Routledge History, 29. Es folgten Abkommen zur Elbe, Weser und Maas (1821–1830) und im Jahr 1856 folgte ein Abkommen zur freien Flussschifffahrt auf der Donau, 1885 für den Kongo und den Niger auf der Berliner Kolonialkonferenz. 38 Ebd., 85–89. 39 Murphy, International Organization. 40 100 Jahre später, in der Krise des Fordismus bzw. der Pax Americana, war es weniger die Etablierung multilateraler Institutionen, sondern ihre partielle Aufwertung und ihr Funktionswandel. 41 Reinalda, Routledge History, 131–135. 42 Polanyi, Transformation, 19–41. 43 Mann, History, 179. 44 Frank Deppe, Politisches Denken im 20. Jahrhundert. Die Anfänge, Hamburg 1999, 96 ff. 45 Zur Rolle der ArbeiterInnenbewegung und der Gewerkschaften in verschiedenen historischen Phasen vgl. Beverly Silver, Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870, Berlin/ Hamburg 2005  ; Bernd Röttger, Gramsci, Gewerkschaften und kritische IPÖ. Formbestimmungen und Formwandel des Klassenkonflikts, in  : Eva Hartmann/Caren Kunze/Ulrich Brand, Hg., Globalisierung, Macht und Ökonomie. Perspektiven einer kritischen Internationalen Politischen Ökonomie, Münster 2009, 92–121. 46 Bieling, Internationale Politische Ökonomie, 66. 47 Reinhart Kößler, Imperialismus und Globalisierung. Anmerkungen zu zwei Theoriekomplexen, in  : Prokla 133 (2003), 521–544  ; Jan Otto Andersson, Imperialismus, in  : Wolfgang Fritz Haug, Hg., Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 6/I, Hamburg 2004, 848–864. 48 Hansgeorg Conert, Vom Handelskapital zur Globalisierung, Münster 1998, 191 f. Das von Großbritannien kontrollierte Territorium wuchs um 10,2 Mio. qkm von vorher 22,5 Mio. qkm und von 252 auf 368 Millionen Menschen in den Kolonien  ; Frankreichs Kolonien nahmen von 1 auf 11 Mio. qkm

255

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 255

22.09.2010 07:50:28

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

und von 6 auf 50 Mio. Menschen zu, Deutschland war vorher ohne Kolonien und kontrollierte dann 2,6 Mio. qkm mit 12 Mio. Menschen. Belgien wurde eine neue Kolonialmacht mit dem Kongostaat (2,4 Mio. qkm und 19 Mio. Menschen). Dazu kamen die Niederlande, Russland und USA als Kolonialmächte mit kleineren Kolonien. 49 Helmut Bley, Künstliche Grenze, natürliches Afrika  ? Um die Berliner Kongokonferenz von 1884/85 ranken sich allerhand Mythen, in  : Blätter des iz3w 282 (2005), 14–17. Das Kongobecken wurde zunächst zu einer Freihandelszone, die von einer privaten Gesellschaft des belgischen Königs Leopold II. verwaltet wurde. Das funktionierte nicht, weshalb das Gebiet 1908 vom belgischen Staat als Kolonie übernommen wurde. 50 Reinalda, Roudledge History, 52–56. 51 Ebd., 150 ff. 52 Ebd., 162–9. 53 Vgl. Karl Marx, Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation. Die provisorischen Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation, in  : Marx-Engels-Werke, Bd. 16, Berlin 1964, 5–16. 54 Joachim Hirsch, Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen, Hamburg 2002, 35–51. 55 Fünfzig Jahre später entwickelte sich, ausgehend von den Forschungen Fritz Fischers, eine Diskussion um die Kriegsschuld der deutschen Regierung. Die deutsche Regierung ist demzufolge nicht durch eine Verknüpfung unglücklicher Umstände und politischer Krisen in den Krieg geraten (diese Deutung herrschte lange Zeit vor), sondern hat bereits in den Jahren vorher systematisch eine imperialistische Machtpolitik betrieben und dafür auch einen Krieg in Kauf genommen  ; vgl. Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 2000. 56 Reinalda, Routledge History, 193 ff. 57 Der Vertrag betreffend Deutschland wurde in Versailles verhandelt und abgeschlossen, mit Österreich in Saint-Germain, mit Ungarn in Trianon, mit Bulgarien in Neuilly und mit der Türkei in Sèvres. 58 Bieling, Internationale Politische Ökonomie, 69 f. 59 Eine weitere, weltgeschichtlich weniger einschneidende, wissenschaftlich aber bedeutsame Entwicklung war die Etablierung von Forschungsinstitutionen, um die Bedingungen von Frieden zu erforschen. Die Gründung unterschiedlicher Forschungsinstitute wie das Londoner Royal Institute of International Affairs im Jahr 1920, der Council of Foreign Relations in New York im Jahr 1922 oder das ein Jahr später gegründete und in Hamburg ansässige Institut für Auswärtige Politik gilt als die Geburtsstunde des politikwissenschaftlichen Faches der Internationalen Beziehungen. 60 Reinalda, Routledge History, 179–202. 61 So Syrien, Libanon (französisch bis zur Unabhängigkeit), Palästina (britisch bis zur Gründung Israels und Jordaniens) bei den ehemals osmanischen Gebieten und Kamerun oder Togo (beide französisch, Togo auch ein Teil britisch) bei den deutschen Kolonien. 62 Reinalda, Routledge History, 240 f. 63 Erez Manela, Die Morgenröte einer neuen Ära. Der „Wilsonsche Augenblick“ und die Transformation der kolonialen Ordnung der Welt, 1917–1920, in  : Sebastian Conrad/Andreas Eckert/Ulrike Freitag, Hg., Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen. Frankfurt am Main/New York 2007, 282–312. 64 Ebd., 288. 65 Bieling, Internationale Politische Ökonomie. 66 Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 9, Hamburg 1999. 67 Hobsbawm, Zeitalter, 133. 68 Zur Dritten Welt im Zweiten Weltkrieg vgl. den materialreichen Überblick in  : Rheinisches Journa-

256

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 256

22.09.2010 07:50:28

Internationale Politik

listInnenbüro/Recherche International e.V, Hg., „Unsere Opfer zählen nicht“. Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg, Hamburg/Berlin 2005. 69 Zum „Westblock-Staat“ vgl. Martin Shaw, Theory of the Global State. Globality as an Unfinished Revolution, Cambridge 2000. Der Begriff des Block-Staates soll im Unterschied zum Staatenblock anzeigen, dass es eben nicht nur um einen asymmetrischen Zusammenschluss eigentlich selbstständiger Staaten ging, sondern um eine massive Einflussnahme und Gestaltung der innergesellschaftlichen Verhältnisse in den abhängigen Ländern durch das dominante Land und seine gesellschaftlichen Kräfte, vor allem der Firmen. 70 Der Treuhandrat als sechstes Organ, dem bis Mitte der 1990er-Jahre Gebiete ohne volle staatliche Souveränität unterstellt waren, ist seither funktionslos. 71 Hirsch, Herrschaft. 72 Vgl. Helmut Kramer, Strukturentwicklung der Außenpolitik (1945–2005), in  : Herbert Dachs u. a., Hg., Politik in Österreich. Das Handbuch, Wien 2006, 807–837. 73 John G. Ruggie, International regimes, transactions, and change. Embedded liberalism in the postwar economic order, in  : International Organization 36/2 (1982), 379–415. 74 Bieling, Internationale Politische Ökonomie, 93. 75 1973 traten Großbritannien, Dänemark und Irland bei, 1981 Griechenland, 1986 Portugal und Spanien und 1995 Finnland, Österreich und Schweden. 76 Hobsbawm, Zeitalter, 253 ff. 77 Der Repräsentant des Freien Frankreich, Charles de Gaulle, sprach 1944 zwar von einer „fortschrittlichen Kolonialpolitik“, dachte aber nicht an die Gewährung der Unabhängigkeit. Vgl. Walter Schicho, Vom Atlantic Charter zu den Millennium Development Goals. Afrika und das Aid Business seit dem Zweiten Weitkrieg, in  : Birgit Englert/Ingeborg Grau/Andrea Komlosy, Hg., Nord-Süd-Beziehungen. Kolonialismen und Ansätze zu ihrer Überwindung, Wien 2006, 99–121, 99. 78 Hobsbawm, Zeitalter, 280. 79 Bewaffnete antikoloniale Bewegungen gab es auch in den portugiesischen Kolonien, die aber erst Mitte der 1970er-Jahre unabhängig wurden. 80 Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt am Main/New York 2002, 247 ff. 81 Rudolf Walther, In Frankreichs Armen  : Ende der Kolonialzeit, in  : Die Zeit, 5/2010, http  ://www. zeit.de/2010/05/A-Afrika-Unabhaengigkeiten (25.03.2010) 82 Schicho, Atlantic Charter, 110. 83 Hobsbawm, Zeitalter, 539. 84 Lothar Brock, Nord-Süd-Beziehungen. Handlungsfelder und Kontroversen, in  : Manfred Knapp/Gerd Krell, Hg., Einführung in die Internationale Politik. München/Wien 2004, 616–650, hier 618–629. 85 Zur Geschichte des Internationalismus vgl. Josef Hierlmeier, Internationalismus. Eine Einführung in die Ideengeschichte des Internationalismus – von Vietnam bis Genua, Stuttgart 2002. 86 Jens Kastner/David Mayer, Hg., Weltwende 1968  ? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive, Wien 2008. 87 Fernando Henrique Cardoso/Enzo Faletto, Abhängigkeit und Entwicklung in Lateinamerika, Frankfurt am Main 1976  ; Brock, Nord-Süd-Beziehungen, 622 f.  ; Joachim Becker, Der kapitalistische Staat in der Peripherie. Polit-ökonomische Perspektiven, in  : Journal für Entwicklungspolitik 24/2 (2008), 10–32. 88 Guillermo O’Donnell, Modernization and Bureaucratic Autoritarianism. Studies in Southern American Politics, Berkeley 1973. 89 Dieter Plehwe/Gisela Neunhöffer/Bernhard Walpen, Hg., Neoliberal Hegemony. A Global Critique, London 2006.

257

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 257

22.09.2010 07:50:28

Internationale Internationale Arbeitsteilung Politik

  90 Mitunter wird von einer ‚zweiten‘ Globalisierung gesprochen, nach der ersten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Analogien der beiden Globalisierungsprozesse sollten jedoch nicht übertrieben werden. Wenngleich in beiden Phasen die wirtschaftliche Verflechtung stark zunahm, ging die erste Phase mit Kolonialisierung und Nationalismus einher, während die aktuelle Globalisierung unter postkolonialen Bedingungen stattfindet und dem Nationalismus kulturelle und politische Globalisierung gegenüberstehen  ; vgl. Arif Dirlik, Globalisierung heute und gestern. Widersprüchliche Implikationen eines Paradigmas, in  : Sebastian Conrad/Andreas Eckert/Ulrike Freitag, Hg., Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt am Main/New York 2007, 162–187, hier 166 f.   91 Birgit Englert/Ingeborg Grau/Andrea Komlosy, Globale Ungleichheit in historischer Perspektive, in  : dies., Hg., Nord-Süd-Beziehungen. Kolonialismen und Ansätze zu ihrer Überwindung, Wien 2006, 13–28, hier 24 ff.   92 Vgl. Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf, Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft, 4. Auflage, Münster 1999  ; Mario Candeias, Neoliberalismus, Hochtechnologie, Hegemonie. Grundrisse einer transnationalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, Hamburg 2004  ; Hirsch, Herrschaft  ; Ulrich Brand/Werner Raza, Hg., Fit für den Postfordismus  ? Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes, Münster 2003.   93 Hobsbawm, Zeitalter, Kap. 16.   94 Conrad/Eckert, Globalgeschichte, 8.   95 Hardt/Negri Empire, 180.   96 Schätzungen vor einigen Jahren ergaben weltweit etwa 500.000 Söldner von privaten Militärfirmen, deren Auftraggeber in der Regel staatliche Regierungen sind  ; vgl. Rolf Uesseler, Neue Kriege, neue Söldner. Private Militärfirmen und globale Interventionsstrategien, in  : Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/2005, 323–333.   97 Mary Kaldor, Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt am Main 2000.   98 Shaw, Theory.   99 Bereits 1967 wurde die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) gegründet, die die Berner und die Pariser Konvention aus den 1880er-Jahren formell ersetzte. Allerdings blieb die WIPO recht schwach und wurde 1995 durch das TRIPS-Abkommen ergänzt (s. u.). Sie existiert aber weiter und scheint angesichts der Schwäche des TRIPS-Abkommens wieder an Bedeutung zu gewinnen. Vgl. Markus Wissen, Contested terrains. Politics of scale, the national state and struggles for the control over nature, in  : Review of International Political Economy 16/5 (2009), 883–906. 100 Christoph Görg/Ulrich Brand, Hg., Mythen globalen Umweltmanagements. Rio+10 und die Sackgassen „nachhaltiger Entwicklung“, Münster 2002. 101 Ulrich Brand u. a., Hg., Nichtregierungsorganisationen in der Transformation des Staates, Münster 2001. 102 Thomas Gebauer, „… von niemandem gewählt  !“ Über die demokratische Legitimation von NGO, in  : Brand u. a., Hg., Nichtregierungsorganisationen, 95–119. 103 Hirsch, Herrschaft  ; Hirsch/Kannankulam, Räume  ; Ulrich Brand, Die Internationalisierung des Staates als Rekonstitution von Hegemonie. Zur staatstheoretischen Erweiterung Gramscis, in  : Sonja Buckel/Andreas Fischer-Lescano, Hg., Hegemonie gepanzert mit Zwang. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis, Baden-Baden 2007, 161–180. 104 Elmar Altvater, Sachzwang Weltmarkt. Verschuldungskrise, blockierte Industrialisierung, ökologische Gefährdung – der Fall Brasilien, Hamburg 1987. 105 John Williamson, Hg., What Washington Means by Policy Reform, in  : ders., Hg., Latin American Adjustment  : How Much Has Happened  ?, Washington, D.C. 1990, 7–38.

258

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 258

22.09.2010 07:50:28

Internationale Politik

106 Schicho, Atlantic Charter  ; Brock, Nord-Süd-Beziehungen, 629–632. 107 Emir Sader, Postneoliberalism in Latin America, in  : Ulrich Brand/Nicola Sekler, Hg., Postneoliberalism – A beginning debate, Development Dialogue 51, Uppsala 2009, 171–180  ; Stefan Thimmel, Die Zukunft von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Lateinamerika vor dem Hintergrund der neuen linken Regierungen. Studie zur Diskussionsgrundlage für die Vorbereitung der Vollversammlung des Fachverbundes Good Governance in Lateinamerika, Eschborn 2009. Unklar ist Anfang 2010, ob die Wahlniederlage der Präsidentin Bachelet in Chile gegen einen rechten Kandidaten einen neuerlichen Wendepunkt darstellt. Einiges deutet eher auf eine Ausnahme hin, zumal die linksliberale Koalition in Chile schon seit 1990 regierte. Die antineoliberalen Bewegungen, die größtenteils politisch links stehen, sollten aber nicht auf ihren Anteil an Regierungswechseln reduziert werden  ; ihre Rolle ist viel größer und komplexer  ; vgl. Brand/Sekler, Hg., Postneoliberalism. 108 Brand/Sekler, Post-Neoliberalism. 109 Ben Trott, Global justice movement and resistance, in  : Immanuel Ness, Hg., The International Encyclopedia of Revolution and Protest. 1500 to the Present, Malden/Oxford 2009, 1395–1404. 110 ReDaktion, Hg., Chiapas und die Internationale der Hoffnung, Köln 1997. 111 Vgl. Ulrich Brand/Bettina Lösch/Stefan Thimmel, Hg., ABC der Alternativen, Hamburg 2007  ; zu den Weltsozialforen Pierre Rousset, World Social Forums, in  : Ness, Hg., The International Ency­clo­ pedia of Revolution and Protest, 3640–3644.

259

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 259

22.09.2010 07:50:28

Waldviertler Heimweberstube (o. J.): eine Spulerin und ein Heimweber bei der Arbeit. Quelle: Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Inv. Nr. 80709.

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 260

22.09.2010 07:50:28

Kapitel 8

Arbeitsverhältnisse Weltumspannende Kombination und ungleiche Entwicklung Andrea Komlosy

In der bürgerlich-liberalen und in der marxistischen Geschichtsschreibung gilt die Ausbreitung moderner Lohnarbeit als Ausdruck für die Modernisierung von Arbeitsverhältnissen in der kapitalistischen Gesellschaft. Dieses Narrativ wird hier infrage gestellt. Um es zu überprüfen, soll die Verbindung sogenannter freier Lohnarbeit mit anderen freien und unfreien, bezahlten, unterbezahlten und unbezahlten, gesetzlich oder vertraglich geregelten und ungeregelten Arbeitsverhältnissen herausgearbeitet werden. Dies erfordert einerseits die räumliche und zeitliche Differenzierung und andererseits die Rekonstruktion der gleichzeitigen Existenz und Verbindung unterschiedlicher Arbeitsverhältnisse. Damit wird ein weiter Kapitalismusbegriff befürwortet, der Kapitalakkumulation nicht in erster Linie und nicht allein aus dem Mehrwert (Karl Marx) begründet, sondern auch aus der Kombination von Standorten mit unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen, die es einem Unternehmer ermöglicht, unterschiedliche Lohn-, Preis- und Produktivitätsunterschiede einschließlich der im Haushalt unbezahlt verrichteten Arbeit zur Gewinnerzielung auszunützen.1 Wenn nicht nur die von Lohnarbeitern für Unternehmer geleistete Arbeit, sondern auch sämtliche andere Arbeitsverhältnisse als konstitutiv für die kapitalistische Produktionsweise angesehen werden, muss auch das in der europäischen Wirtschaftsgeschichte vorherrschende Ablaufmodell infrage gestellt werden, das zwischen einer vorindustriell-handwerklichen, einer protoindustriellmanufakturellen, einer industriell-fabriksmäßig proletarischen und einer postindustriell-wissensbasierten Produktionsweise unterscheidet. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass dieses Ablaufmodell, das in Auseinandersetzung mit westlichen Industriegesellschaften gewonnen wurde, nicht einmal hier der vielfältigen Koexistenz und synchronen Verknüpfung unterschiedlicher Arbeitsverhältnisse gerecht wird. Es ist zu erwarten, dass es in anderen Weltregionen noch weniger passt. Zunächst sollen die Arbeitsverhältnisse analytisch bestimmt werden. Grundsätzlich muss zwischen der Arbeit für den Lebensunterhalt im Haushalt (Subsistenzarbeit) und der Arbeit für den Markt (Verkauf von Produkten und von Arbeitskraft) 261

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 261

22.09.2010 07:50:28

Internationale Arbeitsverhältnisse Arbeitsteilung

unterschieden werden. Darüber hinaus gibt es auch öffentliche Institutionen (wie die Grundherrschaft im Mittelalter, die Dorfgemeinschaft, Genossenschaften oder Vereine), die mit Arbeitsleistung und/oder Arbeitsprodukten versorgt werden. Da der Marktpreis maßgeblich davon abhängt, in welchem Ausmaß der Lebensunterhalt der Produzenten durch deren eigene Subsistenzarbeit oder durch Subsistenzarbeit naher Angehöriger gesichert ist, lässt sich die (unbezahlt geleistete) Subsistenzarbeit nicht aus der Betrachtung ausklammern  ; im Gegenteil  : Sie stellt geradezu den Ausgangspunkt dar, von dem aus bezahlte Arbeitsverhältnisse in den Blick genommen werden können, denn niemand überlebt vom Geldeinkommen allein, und keine Arbeitskraft kann allein aus der Lohnarbeit erhalten werden. Typischerweise wird Arbeit für den Markt von selbstständigen Unternehmern, die allein, mit Familienangehörigen oder mit familienfremden Arbeitskräften operieren, von freien Lohnarbeitern oder in erzwungener Weise Arbeitenden verrichtet. Ein selbstständiger Unternehmer zeichnet sich dadurch aus, dass er über Produktionsmittel verfügt  ; seine Entwicklungsperspektive hängt davon ab, wie groß sein Kapital (Real- und Geldkapital) ist und wie viele Arbeitskräfte er beschäftigt (Humankapital). Ein Kleinstunternehmer, der gar keine oder nur wenige Arbeitskräfte beschäftigt, hat mit einem Kapitalisten nicht viel gemeinsam  ; er stellt zwar Waren her, die auf dem Markt verkauft werden, hat aber keinen bzw. kaum Zugriff auf den ‚Mehrwert‘ – also jenen Teil des Ertrages, der laut Marx’scher Definition dem Unternehmer aus der Beschäftigung eines Lohnarbeiters über die Lohnkosten als Wertüberschuss verbleibt. Marx unterscheidet zwischen absolutem und relativem Mehrwert  : „Die Verlängerung des Arbeitstages über den Punkt hinaus, wo der Arbeiter nur ein Äquivalent für den Wert seiner Arbeitskraft produziert hätte, und die Aneignung dieser Mehrarbeit durch das Kapital – das ist die Produktion des absoluten Mehrwerts. Sie bildet die allgemeine Grundlage des kapitalistischen Systems und den Ausgangspunkt für die Produktion des relativen Mehrwerts. (…) Um die Mehrarbeit zu verlängern, wird die notwendige Arbeit verkürzt durch Methoden, vermittelst deren das Äquivalent des Arbeitslohns in weniger Zeit produziert wird. Die Produktion des absoluten Mehrwerts dreht sich nur um die Länge des Arbeitstags  ; die Produktion des relativen Mehrwerts revolutioniert durch und durch die technischen Prozesse der Arbeit und die gesellschaftlichen Gruppierungen.“2

Die Freiheit der LohnarbeiterInnen liegt einerseits in der Tatsache, dass sie über keine Produktionsmittel verfügen und daher gezwungen sind, ihre Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen, andererseits im Vertragsverhältnis, das Pflichten und 262

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 262

22.09.2010 07:50:28

Arbeitsverhältnisse

Leistungen des Arbeiters (also des Arbeit Gebenden) und des Unternehmers (des Arbeit Nehmenden) festhält. Die Entlohnung kann in Naturalien, in Geld oder in Verkaufsanteilen erfolgen. Zwangsarbeit wird demgegenüber nicht aus der materiellen Not, sondern aufgrund eines außerökonomischen Druckmittels heraus verrichtet, das der Unternehmer zum Beispiel als Gutsherr mit Ansprüchen auf Arbeitsleistung eines Fronpflichtigen oder als Plantagenbesitzer über Leib und Leben eines Sklaven ausübt. In der Praxis sind Menschen nicht einem einzigen Arbeitsverhältnis zuzuordnen, sondern sie verbinden verschiedene Arbeitsverhältnisse miteinander. Wenn der Lohn nicht ausreicht, ist es gängig, zwei oder mehr Lohnarbeitsverhältnisse gleichzeitig einzugehen. Aber die einzelnen Typen mischen sich auch untereinander. Selbstständige sind zum Beispiel auch als Lohnarbeiter tätig  ; Fronbauern erzeugen in unbezahlter Arbeit Produkte, die ihre Herren auf dem Markt verkaufen  ; Sklaven werden gegen Geld verliehen – ihren Lohn erhält der Herr. Sklaven wurde gestattet, Küchengärten anzulegen und die Erzeugnisse nicht nur für den Eigenbedarf zu verwenden, sondern auch auf dem Markt zu verkaufen  ; mitunter traten Sklaven sogar als selbstständige Unternehmer in Erscheinung, die Freie als Lohnarbeiter beschäftigten. Solche Kombinationen von Erwerbsformen treten nicht nur zum selben Zeitpunkt auf, sondern variieren im Lauf eines Arbeitslebens  : Phasen selbstständiger und unselbstständiger, bezahlter und unbezahlter, gesicherter und ungesicherter Beschäftigung wechseln mit dem Lebenszyklus, den familiären Pflichten sowie den Angeboten des Arbeitsmarktes. Welche dieser Tätigkeiten als Arbeit angesehen werden, hängt vom vorherrschenden Arbeitsbegriff ab, der normativ von Religion, Moral, Wertvorstellungen, Status und Gesetzeslagen bestimmt wird. Entsprechen Tätigkeiten dem Arbeitsbegriff nicht, werden sie auch nicht als Arbeit anerkannt. Am stärksten betrifft dies die unbezahlte Subsistenzarbeit im Haushalt, die hauptsächlich von Frauen geleistet wird, sowie die mannigfaltigen Tätigkeiten, die Schlechtverdienende oder Erwerbslose unternehmen, um sich recht und schlecht – etwa durch allerlei Gelegenheitsarbeiten als Selbstständige oder Unselbstständige, durch Nachbarschaftshilfe oder durch Almosensammeln – durchzubringen. Dieses Durchwursteln, das auch als Prekariat,3 als informeller Sektor4 oder als Ökonomie des Notbehelfs, englisch  : Makeshifts,5 in die wissenschaftliche Kategorisierung von Arbeit eingegangen ist, ist in den Peripherien der Weltwirtschaft Normalität  ; in den Zentren kennzeichnet es die Frühphase des wilden und ungeregelten Industrie-Kapitalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit der staatlichen Regulierung der Arbeitsverhältnisse am Ende des 19. Jahrhunderts verliert es an Bedeutung  ; im Zuge der Deregulierung am Ende des 20. Jahrhunderts erleben Prekariat und Informalität auch in den Zentren ein Revival. 263

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 263

22.09.2010 07:50:28

Internationale Arbeitsverhältnisse Arbeitsteilung

Es gibt eine ausufernde und immer wieder neu aufflammende Debatte darüber, ab welchem Zeitpunkt und unter welchen Bedingungen von Kapitalismus gesprochen werden kann. Hier wird diese Frage nicht aus der Perspektive des Verhältnisses zwischen Kapital und Lohnarbeit, sondern aus der Perspektive der Verknüpfung unterschiedlicher Arbeitsverhältnisse – als Voraussetzung für den Zugriff des Kapitals – angegangen. Von kapitalistischer Produktionsweise lässt sich bereits dann sprechen, wenn diese unterschiedlichen Arbeitsverhältnisse so miteinander verbunden werden, dass ein Werttransfer aus un- bzw. unterbezahlten Tätigkeiten, meistens vermittelt über die Einsparung bei den Lohnkosten, den Ertrag des Verkaufs von produzierten Gütern auf dem Markt verbessert und damit Kapitalakkumulation ermöglicht. Dafür bedarf es einer Unternehmensorganisation mit einer Arbeitsteilung, die unterschiedliche Arbeitsverhältnisse bei der Herstellung eines Produkts zusammenwirken lässt  : Dies kann innerhalb eines Haushalts erfolgen, dessen Angehörige in Subsistenzarbeit, in erzwungener Arbeit und in freier Lohnarbeit, am Wohnort oder in verschiedenen Formen von Arbeitsmigration tätig sind und durch diese Kombination überleben. Eine solche Kombination von Arbeitsverhältnissen findet sich häufig bei den Angehörigen eines Haushalts, die die Erträge resp. den Nutzen der verschiedenen Arbeitsformen teilen  ; sie kann aber auch bei einer einzelnen Person auftreten, die regelmäßig zwischen verschiedenen Arbeitsformen wechselt. Die Möglichkeit des Unternehmers, über die Beschäftigung eines Lohnarbeitenden auch auf un- und unterbezahlte Leistungen dieses Lohnarbeiters oder von dessen/deren Angehörigen (sehr oft von dessen Ehefrau im Haushalt, von landwirtschaftlicher Subsistenzarbeit u. a.) zuzugreifen, erlaubt ihm die Aneignung von Arbeit, über die Aneignung des klassischen Mehrwerts der Lohnarbeit hinaus. Unterschiedliche Arbeitsverhältnisse kombinieren sich nicht nur über Haushalte, sondern auch innerhalb und zwischen Regionen, sodass Werttransfer nicht nur auf sozialer, sondern auch auf regionaler Ungleichheit beruht. Die überregionale Anordnung von Arbeitsverhältnissen in Waren- oder Standortketten ist charakteristisch für die kapitalistische Produktionsweise  ; diese kombiniert kleinräumig, regional und global verschiedene Arbeitsverhältnisse und gewährleistet, dass die Kapitalakkumulation in den Unternehmenszentralen stattfindet.6 Die auf der ungleichen Arbeitsteilung zwischen Standorten mit unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen beruhende, zusammengesetzte Produktion unterscheidet das kapitalistische Tauschverhältnis von Handelsformen, in denen Finalprodukte – wie unterschiedlich die Bedingungen ihrer Produktion auch sein mögen – gegeneinander getauscht werden. Mit der europäischen Expansion begann der Kapitalismus als weltweite Produktionsweise, die anfänglich als punktuelles, globales Netzwerk funktionierte, 264

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 264

22.09.2010 07:50:28

Arbeitsverhältnisse

das weite Lebens- und Arbeitsbereiche unberührt ließ, ehe im Lauf des 18. Jahrhunderts ein weltweiter Verdichtungsprozess einsetzte, der schließlich sämtliche Arbeitsverhältnisse der Kapitalverwertung unterwarf. Von kapitalistischer Produktionsweise kann daher schon ab dem Moment gesprochen werden, an dem ein Arbeitsverhältnis den Werttransfer zur Kapitalakkumulation gewährleistet, auch wenn einzelne, damit kombinierte Arbeitsverhältnisse für sich genommen nicht kapitalistisch bzw. vorkapitalistisch organisiert sind.

Zeitrahmen und Zäsuren Dieser Beitrag über weltweite Arbeitsverhältnisse setzt um 1800 ein  ; als entscheidende Zäsuren werden die Jahre um 1880 und um 1980 herausgegriffen, die den Beginn und das Ende einer arbeitsrechtlich und sozialpolitisch regulierten, proletarisierten Form der Lohnarbeit markieren, die von Industrie, Staat und Arbeiterbewegung als Inbegriff moderner Lohnarbeit im industriellen Kapitalismus angesehen wurde. 1800 steht für den Zeitpunkt, als der britische Vorsprung in Sachen Industrieproduktion insbesondere im Leitsektor der Baumwollerzeugung aufgrund der Einführung des Fabriksystems sämtliche anderen industriell-gewerblichen Produzenten vor eine neue Herausforderung stellte. Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde der Vorsprung durch die nachholende Industrialisierung in weiteren europäischen Staaten, insbesondere in Frankreich und Deutschland, sowie in den USA von einem Vorsprung Englands zu einem Vorsprung des „Westens“. Industrialisierung wurde im Gefolge der Industriellen Revolution mit dem Fabriksystem gleichgesetzt und als Voraussetzung für (industriellen) Kapitalismus angesehen  ; die Übernahme des Fabriksystems nach englischem bzw. westlichem Vorbild gilt seither als Norm und Maßstab für eine erfolgreiche ‚Industrialisierung‘ und als Voraussetzung für die ‚Modernisierung‘ von Gesellschaften. Andere Optionen der industriell-gewerblichen Modernisierung, etwa quantitative und qualitative Verbesserungen im Rahmen des Manufaktur- und Verlagssystems,7 das um 1800 die meisten Exportgewerberegionen der Welt charakterisiert, wurden vom Fabriksystem an den Rand gedrängt. Gleichzeitig mit dem Aufstieg der Fabrikindustrie wurde im Britischen Empire der Sklavenhandel (1807) und bald darauf auch der Einsatz von Sklaven (1833) verboten.8 In den meisten europäischen Staaten wurden Leibeigenschaft und Unter­tänigkeitsverhältnis in den Jahren nach der Französischen Revolution abgeschafft oder erheblich eingeschränkt, sodass die Selbstständigkeit der Bauern und freie Arbeitsverträge zunahmen. Es sah also tatsächlich so aus, als ob das Indust­ 265

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 265

22.09.2010 07:50:29

Internationale Arbeitsverhältnisse Arbeitsteilung

riesystem mit Fronarbeit und Sklaverei nicht kompatibel wäre. Die Gewinnung von Rohstoffen und Nahrungsmitteln aus der Plantagenwirtschaft, bis dahin mit Sklaven betrieben, wurde in den britischen Kolonien von bezahlten Arbeitskräften übernommen. Andere europäische Kolonialmächte zogen unter dem Druck Großbritanniens sowie des Abolitionismus, der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei, nach. Aus Mangel an Arbeitskräften auf den Plantagen wurden anstelle der Sklaven KontraktarbeiterInnen, auch Kulis genannt, mobilisiert, die zwar entlohnt, durch Abzahlung der Reisekosten und langfristige Arbeitsverträge jedoch an den Arbeitsplatz gebunden wurden.9 Dieser neue Typus von halbfreien Arbeitskräften kam in erster Linie aus Indien, wo die einheimische Wirtschaft durch britische Exportinteressen unter Druck gesetzt wurde, und aus China, wo nach Inkrafttreten der ungleichen Verträge mit den europäischen Industriestaaten die staatliche Regulierung der Wirtschaft zusammenbrach und dies der Arbeitskräfteanwerbung Tür und Tor öffnete. In manchen britischen Kolonien überstieg die Zahl der Kulis jene der Einheimischen und begründete ein Konkurrenzverhältnis zwischen Plantagenwirtschaft und traditioneller Landwirtschaft, das sich bis heute – zum Beispiel in Fidschi – in vordergründig ethnischen, im Grunde jedoch sozialen Spannungen entlädt.10 Von der Durchsetzung freier Lohnarbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu sprechen ist freilich trügerisch. Selbst in den westlichen Industrieländern machte der industriell-gewerbliche Sektor, in dem Lohnarbeit in der Fabrikindustrie wiederum nur einen geringen Anteil einnahm, um 1820 erst 26 Prozent (Niederlande) bzw. 33 Prozent (United Kingdom) der Beschäftigten aus  ;11 Landwirtschaft und Gewerbe überwogen  ; im Dienstleistungssektor stellten Dienstboten einen beträchtlichen Teil der Beschäftigten. Sie unterstanden patriarchalischen Hausordnungen, sodass ihr Status allenfalls als ‚halbfrei‘ angesehen werden kann. In Russland erlebte die bäuerliche Unfreiheit durch die Notwendigkeit, die für die massiven Investitionen in die Metall- und Rüstungsindustrie erforderlichen Export­ einnahmen zu erwirtschaften, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen neuen Höhepunkt .12 In Afrika wurden Sklaven nicht mehr ‚exportiert‘, sondern auf den einheimischen Plantagen eingesetzt. In den USA, den spanischen Kolonien sowie in Brasilien blieb die Sklaverei trotz der britischen Bemühungen, die unliebsame Konkurrenz durch abolitionistische Forderungen auszuschalten, bis 1865 (USA), 1888 (Brasilien) und 1898 (Kuba) in Kraft. Sobald die Fabrikindustrie als die künftige industrielle Produktionsweise anerkannt war (ohne sich jedoch weltweit durchgesetzt zu haben), lautete die indus­ t­riepolitische Devise „nachholende Industrialisierung“, sei es durch Imitation des westeuropäischen Weges oder durch regional angepasste Methoden, die dasselbe 266

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 266

22.09.2010 07:50:29

Arbeitsverhältnisse

Ziel verfolgten. Mit mehr oder weniger zeitlicher Verzögerung wurde die nachholende Industrialisierung überall auf der Welt zum universellen Entwicklungsziel erklärt  ; dazu trug nicht zuletzt die Tatsache bei, dass führende sozialistische Kritiker des Kapitalismus zwar dessen Eigentumsverhältnisse, die dem Lohnarbeiter (Proletarier) den Mehrwert vorenthielten, anklagten, nicht aber die mit der Industriearbeit verbundene Entfremdung und Ausbeutung, geschweige denn die Aneignung von Arbeitsleistungen aus Subsistenz-, Zwangs- und selbstständiger Arbeit durch den Kapitalisten. Als Hindernis auf dem Weg der nachholenden Industrialisierung in weiten Teilen der kolonialen und halbkolonialen Welt erwies sich, dass die erfolgreichen europäischen bzw. westlichen Formen der Industrialisierung auf einer ungleichen internationalen Arbeitsteilung basierten, die die industriellen Zentralräume mit abhängigen Zuliefer-, Absatz-, Erschließungs- und Erweiterungsgebieten verband. Diskutiert man nachholende Industrialisierung, muss auch gefragt werden, ob ein Hinterland oder eine Peripherie besteht, die den Aufstieg der Industrie im Zentrum ermöglicht  ; der nachholende deutsche oder der belgische Kolonialismus in Afrika, die Erweiterungspolitik der USA in Nordamerika und die Hinterhofpolitik in Lateinamerika dienten diesem Ziel ebenso wie die russische Expansion im Kaukasus und in Zentralasien. Staaten und Regionen, die über keine Erweiterungs- und Expansionsgebiete verfügten oder selbst – formell oder informell – von der von den westeuropäischen Industriestaaten beherrschten internationalen Arbeitsteilung abhängig waren, taten sich mit der Nachahmung schwer. In ihrem Fall rückte der Bruch mit der Abhängigkeit, die nationale Befreiung, als Garant für eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung in den Vordergrund. Dabei geriet leicht in Vergessenheit, dass die westeuropäischen Wege der industriell-gewerblichen Modernisierung nicht (nur) aus eigener – nationaler – Kraftanstrengung, sondern auch aufgrund der dominierenden Rolle dieser Staaten als Zentren der internationalen Arbeitsteilung möglich geworden waren. Unterschiedliche Industrialisierungswege kommen nicht nur in der Entwicklung der Technik, dem Innovationspotenzial und der institutionellen Ausstattung zum Ausdruck, sondern auch in der Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse sowie der Rolle, die eine Region in der internationalen Arbeitsteilung einnimmt. Die Dominanz freier, zunehmend auch sozial gesicherter Lohnarbeit erweist sich nur in den Zentren als charakteristische Arbeitsform des Kapitalismus – und auch hier beschränkt auf die Periode des Industriekapitalismus zwischen ca. 1880 und ca. 1980. Die Peripherien der Weltwirtschaft hingegen waren, je nach Zeitpunkt, durch Sklaverei oder Kontraktarbeit, kleine, in Teilzeit betriebene Landwirtschaft, prekäre Selbstständigkeit im informellen Sektor und ungesicherte Erwerbskombinationen 267

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 267

22.09.2010 07:50:29

Internationale Arbeitsverhältnisse Arbeitsteilung

gekennzeichnet, während eine geregelte, das Überleben sichernde Lohnarbeit nur für verhältnismäßig wenige Frauen und Männer möglich und oft auf die produktivsten Lebensjahre beschränkt war und ist. Im Idealfall teilen diese LohnarbeiterInnen ihren Lohn mit den anderweitig bezahlt und unbezahlt arbeitenden Familienmitgliedern, von denen sie ihrerseits im Fall von Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter mitversorgt werden. Wenn diese Ergänzung der Kräfte zerbricht, weil die Subsistenzressourcen austrocknen oder die familiären Beziehungen in Brüche gehen, ist das Überleben im peripheren Kapitalismus extrem gefährdet. 1880 steht für den Moment, als in den meisten europäischen Industrieländern Arbeits- und Sozialgesetze eingeführt wurden. Diese Gesetze gewährleisteten, dass die Reproduktion der IndustriearbeiterInnen in der modernen Industriegesellschaft sichergestellt war, die ArbeiterInnen durch ihre Konsum-Nachfrage Absatz und Kapitalverwertung erzeugten und weitergehenden Forderungen nach Gesellschaftsveränderung der Wind aus den Segeln genommen wurde. Während nachholende Industrialisierung dazu führte, dass Lohnarbeit punktuell in die Peripherien der Weltwirtschaft einzog, blieb die rechtliche und soziale Absicherung auf die Kernarbeiterschichten in den entwickelten Industrieländern beschränkt. Hier wurden nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg weitere Gruppen von ArbeiterInnen in die Sozialversicherung einbezogen, Sozialleistungen sowie die Lohnquote (d. h. der Anteil der Einkommen aus Lohnarbeit am gesamten Volkseinkommen) erhöht. Ausschlaggebend dafür war nicht nur der Wachstumseffekt, der von der Konsum-Nachfrage der Lohnabhängigen ausging, sondern auch die Existenz eines alternativen ordnungspolitischen Systems in den Ländern des sogenannten realen Sozialismus. Diese Länder übten mit der sozialistischen Industrialisierung und der damit verbundenen Integration der gesamten Bevölkerung in bezahlte Arbeit und soziale Versorgung für Länder der Dritten Welt auch Vorbildwirkung und Anziehungskraft als Modell nachholender Entwicklung aus. 1980 steht für das Ende der ‚fordistischen‘ Industrialisierung, die ihren Ausgangspunkt in der US-amerikanischen Automobilindustrie der 1920er-Jahre hatte und in der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa zum gesellschaftlich vorherrschenden Modell wurde. Sie war gekennzeichnet durch industrielle Massenproduktion, Wohlfahrtsstaat, soziale und regionale Ausgleichsziele in den entwickelten Industriestaaten, verbunden mit dem Versprechen bzw. dem Glauben an deren weltweite Verallgemeinerbarkeit. Die Verlagerung der industriellen Massenproduktion in Länder und Regionen mit niedrigeren Produktionskosten begünstigte Bemühungen um nachholende Industrialisierung, auch wenn diese weitgehend von multinationalen Konzernen bestimmt wurde, die ihre Unternehmenszentralen, Forschung und Entwicklung (F&E) und Logistik in den alten In268

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 268

22.09.2010 07:50:29

Arbeitsverhältnisse

dustriestaaten beließen. Gleichzeitig setzte der Übergang auf sogenannte postindus­ t­rielle Wachstumsbranchen in den alten Industriestaaten neue Maßstäbe, an denen in Hinkunft wirtschaftliche Modernisierung gemessen wird. Als „postindustriell“ gelten dabei jene Branchen, in denen nicht die Produktion materieller Güter im Vordergrund steht, sondern die Produktion von Wissen und Kommunikation.13 Der Begriff verschleiert freilich die Tatsache, dass auch das Informationszeitalter eine materielle, industrielle Grundlage hat, die keineswegs zur Gänze in Newly Industrializing Countries (NIC’s) im globalen Süden verlagerbar ist.

Die Rahmenhandlung: Antworten auf die britische Herausforderung Bis ins 18. Jahrhundert wurden die in Europa so beliebten Baumwollstoffe vor allem aus den Exportgewerberegionen in indischen Küstenregionen bezogen. Die Verbindungen zu den Textilregionen im östlichen Mittelmeerraum hingegen waren durch die Türkenkriege in Mitleidenschaft gezogen. Um 1700 setzten in den westeuropäischen Staaten einheimische Textilproduzenten Importverbote für bedruckte Baumwollstoffe durch. Sie standen damit nicht nur im Gegensatz zu den indischen und osmanischen Produzenten, sondern auch zu den Händlern, die die asiatischen Stoffe (als Re-Exporte) auf anderen europäischen, im Tausch gegen Sklaven auf afrikanischen sowie auf amerikanischen Märkten verbreitet hatten. Die Importsubstitution, d. h. der Aufbau inländischer Produktionskapazitäten anstelle von Importen, stellte das einheimische Gewerbe bald vor das Problem, dass kein ausreichendes Potenzial an Arbeitskräften für eine wachsende Produktion zur Verfügung stand. Die Folge war die Einführung arbeitssparender Maschinen beim Spinnen, Weben und beim Stoffdruck. Die Erfindungen, die die Baumwollerzeugung revolutionierten, fanden alle innerhalb von zwanzig Jahren in Großbritannien statt. Mechanisierung und Zentralisierung der Produktion in Fabriken unter Einsatz von FabriksarbeiterInnen, die für Lohn arbeiteten, begründeten ein völlig neues Arbeitsverhältnis  : die durch Zerstückelung der Arbeitsprozesse, Kontrolle und Entfremdung geprägte Fabriksarbeit. Das unter den neuen Bedingungen erzeugte Maschinengarn bewirkte eine Preisrevolution. Wer Baumwolle immer noch auf dem Spinnrad erzeugte, geriet unter Zugzwang.14 Dennoch war es nicht so, dass nun sämtliche Textilproduzenten das englische Fabriksystem eingeführt hätten. Die nachholende Industrialisierung war im 19. Jahrhundert auf west- und zentraleuropäische Staaten sowie die USA beschränkt. Textilproduzenten in asiatischen Textilregionen hingegen hatten zunächst keine Veranlassung, ihre bewährten Formen von Produktion und Arbeitsorganisation 269

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 269

22.09.2010 07:50:29

Internationale Arbeitsverhältnisse Arbeitsteilung

zu verändern. Die durch politischen Druck und militärische Präsenz verstärkte Markt­­eroberungsstrategie der europäischen Exportindustrie, die die asiatische Kon­­ kurrenz auf Binnen- und Exportmärkten auszuschalten trachtete, konnte aller­dings nicht ohne Konsequenzen bleiben. Sie trug dazu bei, dass Textilien aus asiatischen Gewerbezentren ihre bis dahin führende Marktposition einbüßten. Das einheimische Gewerbe in diesen asiatischen Ländern wurde zerstört, und es kam zur Deindustrialisierung mit weitreichenden Folgen für die Bevölkerung. Die Kapazitäten verlagerten sich auf jene Bereiche der Exportökonomie, für die in den sich industrialisierenden Staaten Nachfrage bestand, vor allem auf Rohstoffe, bei deren Gewinnung und Aufbereitung selektiv auch Mechanisierung stattfand. Die Textilproduktion für den Binnenmarkt, die neben den Importwaren weiter bestand, behielt die handwerklich-industriöse15 Produktionsweise bei, bezog jedoch aus Europa importiertes Maschinengarn in die Produktionskette ein. So entstanden in Indien und im Osmanischen Reich Stoffe, in deren Herstellung die Fabriksarbeit englischer MaschinenspinnerInnen (im Folgenden „Maschinengarn“ oder „Industrie­ garn“) und die Handarbeit lokaler Weber einfloss. Letztere zogen entlohnte und nicht entlohnte HelferInnen (Ehefrauen, Kinder, Geschwister) heran.16 Im Folgenden werden mit der österreichischen Monarchie, dem Osmanischen Reich und dem indischen Subkontinent drei Fallbeispiele präsentiert. Diese Staaten, Wirtschaftsräume und Gesellschaften haben auf die Herausforderung durch das britische Fabriksystem (Zentralisierung, Mechanisierung und Einsatz indus­t­ri­eller Lohnarbeit in Fabriken) in unterschiedlicher Weise reagiert. Während in der Habsburgermonarchie und im Osmanischen Reich Maßnahmen staatlicher Wirtschaftspolitik zum Schutz des Binnenmarktes und zur Unternehmensförderung möglich waren, erfolgten in Indien, das unter Verwaltung der britischen Ostindien-Kompagnie (EIC) stand, bevor es 1857 zur Kronkolonie erklärt wurde, die wirtschaftspolitischen Weichenstellungen im Interesse des Mutterlandes. Um die thematische Bandbreite einzuschränken, steht die Textilerzeugung, der Leitsektor der Industriellen Revolution, exemplarisch im Vordergrund. In der österreichischen Monarchie war die Baumwollerzeugung im 18. Jahrhundert mit dem Manufaktur- und Verlagssystem (auch  : Protoindustrie) in großem Maßstab eingeführt worden  ; ausländische Konkurrenz und vor allem britische Re-Exporte aus asiatischer Erzeugung wurden mit rigorosem Binnenmarktschutz (Zollschutzpolitik) ferngehalten. Die Einführung des fabriksindustriellen Maschinensystems in England setzte seit den 1780er-Jahren fieberhafte Industriespionage, Abwerbung von englischen Technikern sowie Innovationsförderung und Patentschutz für einheimische Erfindungen im Bereich der mechanischen Textilerzeugung in Gang, die zum Niedergang der Manufakturen und zur Ausbreitung maschinellen 270

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 270

22.09.2010 07:50:29

Arbeitsverhältnisse

Spinnens in Fabriken führten. Die Habsburgermonarchie führte also als Antwort auf die britische Herausforderung ebenfalls das Fabriksystem ein.17 Die Regierung des Osmanischen Reichs verfolgte im 18. Jahrhundert weder eine merkantilistische Politik der Entwicklung des Binnenmarktes noch schuf sie die Rahmenbedingungen für Industrialisierung. Das Interesse der Zentralmacht an einem hochwertigen Warenangebot (Provisionismus) und die Konzentration auf Steuereinnahmen aus der bäuerlichen Landwirtschaft (Fiskalismus) führten zur massiven Einfuhr indischer Baumwolltextilien, die die traditionellen einheimischen Produzenten an den Rand drängte.18 Die Provinzen Syrien und Ägypten wurden in Baumwollanbauregionen für west- und zentraleuropäische Textilfabrikanten verwandelt. Nachdem diese ihrerseits das Fabriksystem eingeführt hatten, konkurrierten französische und österreichische mit britischen Exporteuren um die Märkte im Osmanischen Reich. Eine eigenständige Baumwolle verarbeitende Industrie entstand lediglich in Ägypten, wo Statthalter Mehmed Ali (1805–1849) Baumwollspinnereien aufbaute und eine importsubstituierende Industrialisierung in Gang setzte. Die auf eine eigenständige Entwicklung der ägyptischen Industrie gerichteten wirtschaftspolitischen Gehversuche scheiterten jedoch mit der militärischen Niederlage Mehmed Alis gegen die von Großbritannien unterstützten osmanischen Truppen (1840). Das anglo-osmanische Handelsabkommen (1838), dem die Habsburgermonarchie 1839 beitrat,19 besiegelte die ungleiche Arbeitsteilung zwischen Fertigwarenexporteuren und Rohstofflieferanten. Nach dem gleichen Muster wie die Baumwollanbaugebiete verwandelte sich der Libanon, wo die Seidenverarbeitung hoch entwickelt war, in einen Zulieferer von Rohseide für die französische Industrie.20 Indien hatte durch die Importverbote für bedruckte indische Baumwollstoffe, auch Kalikos genannt, im Laufe des 18. Jahrhunderts seine Funktion als führende Exportgewerberegion verloren. Die Textilproduktion für einheimische Märkte basierte fortan auf britischem Maschinengarn als Vorleistung für die Weberei, die in Indien bis ins 20. Jahrhundert auf Handwebstühlen (hand looms) besorgt wurde. Britisch-Indien war für das Mutterland in erster Linie als Absatzmarkt für britische Fabrikstextilien sowie als Produzent von Indigo, Baumwolle und Opium interessant, die in China gegen Tee für Großbritannien getauscht wurden.21 Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass die verschiedenen Entwicklungswege, die auf der unterschiedlichen Stellung Großbritanniens, der Habsburgermonarchie, des Osmanischen Reichs und des indischen Subkontinents in der internationalen Arbeitsteilung beruhten, nicht auf der gesamtstaatlichen Ebene erklärt werden können. Vielmehr ist es notwendig, einzelne Regionen innerhalb der Staaten und deren spezifische Rolle in der innerstaatlichen und internationalen Arbeitsteilung in den 271

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 271

22.09.2010 07:50:29

Internationale Arbeitsverhältnisse Arbeitsteilung

Blick zu nehmen. Die nachfolgende Übersicht konzentriert sich in exemplarischer Absicht auf Niederösterreich, den Libanon und den Nordwesten Indiens, unter der britischen Kolonialherrschaft die Bombay Presidency, die den 1956 eingerichteten Bundesstaaten Gujarat und Maharashtra entspricht. Auch Großbritannien vollzog keinen einheitlichen Übergang zum Industriestaat  ; vielmehr erfolgte die Industrialisierung regional spezifisch, uneinheitlich und zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Die weiter oben beschriebenen Entwicklungen in der Baumwollindustrie waren in erster Linie auf Lancashire, die Region um Manchester, konzentriert. Das südöstliche Niederösterreich, seit damals auch Industrieviertel genannt, kann in der frühen Industrialisierung als das Manchester der Habsburgermonarchie betrachtet werden, während andere Regionen lange Zeit gar nicht von der Industrialisierung erfasst wurden und wieder andere, wie zum Beispiel das Waldviertel, ähnlich wie indische und osmanische Regionen, bis ins 20. Jahrhundert Handweberei unter Verwendung von Maschinengarn betrieben. Im Osmanischen Reich und in Indien, die im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre vielfältige Binnen- und Exportökonomie zugunsten einer einseitigen Ausrichtung als Rohstofflieferanten für den Weltmarkt einbüßten, gab es nur wenige Regionen, in denen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fabriksmäßige Produktion eingeführt wurde  : die Rohseidenindustrie im Libanon und die Spinnfabriken in Bombay und Ahmedabad. Im Gegensatz zu europäischen Industrieregionen stand die Fabriksindustrie hier jedoch unverbunden mit den anderen Sektoren der Wirtschaft im Raum. Niederösterreich „industrieller Kapitalismus“ 1800–1880 Gründung mechanischer Spinnfabriken nach englischem Vorbild im südöstlichen Niederösterreich  ; Ausweitung der Heimweberei in ehemaligen Waldviertler Verlagsregionen bis zur Gründung mechanischer Webfabriken  ; Handwerk wie Heimweber unter zunehmendem Druck der Fabriksproduktion  ; Selbstversorgungs-Landwirtschaft zum Ausgleich niedriger Löhne und Auftragsschwankungen in ländlichen Industrieregionen.

Syrien & Libanon „peripherer Kapitalismus“

Gujarat & Maharashtra „kolonialer bzw. postkolonialer Kapitalismus“

Nach einer Phase der Aufnahme indischer Re-Exporte folgte die Eroberung des osmanischen Marktes durch britische (und kontinentaleuropäische) Fabrikstextilien, während sich syrische und libanesische Arbeitskräfte auf den Export von Rohbaumwolle und Rohseide spezialisierten. Nach dem Scheitern der importsubstituierenden Industralisierung unter Mehmed Ali (1805–1849) wurde Ägypten zum Hauptlieferanten von Rohbaumwolle für die westeuropäische Textilindustrie.

Mit der Mechanisierung der britischen Baumwollindustrie, verbunden mit dem Schutz des Binnenmarktes und dem Verlust von Exportmärkten, erlebte die indische Textilindustrie – Deindustrialisierung, daher Übergang auf Roh- und Halbfertigwaren (Indigo, Baumwolle, Opium für China) – Industriösität der indischen Produzenten erlaubt Produktionsund Produktivitätssteigerung der Handweber (auf Basis britischen Industriegarns) für den Binnenmarkt.

272

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 272

22.09.2010 07:50:29

Arbeitsverhältnisse Niederösterreich „industrieller Kapitalismus“ 1880–1980 Sektorale und regionale Ausweitung der Fabriksindustrie sowie staatliche Arbeits- und Sozialgesetze für FabriksarbeiterInnen  ; Heimarbeit und Handwerk verlieren im Zuge produktivitätssteigernder Innovationen in der Industrie an Bedeutung  ; Subsistenzarbeit verlagert sich vom produktiven auf den reproduktiven Bereich (Haushalt, Beziehungsarbeit).

1980 bis heute Mit der Verlagerung arbeitsintensiver Produktionsschritte in Newly Industrializing Countries (NIC‘s) werden industrielle durch postindustrielle Arbeitsplätze ersetzt  ; regionale und soziale Ungleichgewichte bei der Transformation führen zu Arbeitslosigkeit, Ausdehnung des Prekariats und der Erwerbskombinationen (mit wachsender Bedeutung un- und unterbezahlter Arbeit).

Syrien & Libanon „peripherer Kapitalismus“

Gujarat & Maharashtra „kolonialer bzw. postkolonialer Kapitalismus“

Mit den Textilfabriken in den europäischen Industriestaaten steigt die Nachfrage nach Rohmaterialien und Garnen. Mont Liban wird zum Seidenlieferant der Lyoner Seidenindustrie, Syrien Baumwolllieferant der NÖ. Textilfabriken. Der SeideNachfrageboom bewirkt Veränderungen in der Zusammensetzung und den Kräfteverhältnissen zwischen Drusen und Maroniten. Nach Gründung der Türkei 1922 ff. und der Unabhängigkeit Syriens 1946 ff. nachholende Industrialisierung  ; im Libanon seit der Mandatszeit Übergang von der Serikultur (d. h. Seidenproduktion) zu einer Handels- und Finanzdrehscheibe im Nahen Osten.

In Gujarat und Maharashtra, dem Emporium des China-Handels, ab 1860 Entstehung lokaler mechanischer Spinn- und Webfabriken, Exporte nach China bis zur Verdrängung durch japanische Fabriktextilien. Mit Gandhi werden einheimische Baumwollstoffe zum Symbol der Unabhängigkeitsbewegung. Nach Erlangung der Unabhängigkeit (1947) nachholende Industrialisierung mit staatlicher Industrieförderung und Marktschutz.

In der Türkei und in Syrien Eingliederung der Textil- und Bekleidungsindustrie in die Auftrags- und Standortketten der globalisierten Modeunternehmen.

Während die alten Textilregionen im Nordwesten den Rückgang der Industriearbeit und die Ausbreitung informeller Beschäftigungsverhältnisse in der Bekleidungsindustrie (verbunden mit der Ethnisierung sozialer Konflikte) erleben, besetzt die südindische IT-Branche Nischen in der internationalen Arbeitsteilung und Indien wird zum Global Player. Der Aufstieg der Mittelschicht geht an den Bauern vorbei  : fallende Baumwollpreise treiben verschuldete Baumwoll-Bauern massen­ weise in den Verzweiflungstod.

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Die drei Beispielsregionen werden in je drei Zeitschnitten mit den für sie charakteristischen Entwicklungen der Arbeitsverhältnisse vorgestellt. Dabei wird deutlich, dass Arbeitsverhältnisse, die normalerweise aufeinander folgenden Phasen der industriellen Entwicklung zugeordnet werden, aufeinander bezogen und zur glei273

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 273

22.09.2010 07:50:29

Internationale Arbeitsverhältnisse Arbeitsteilung

chen Zeit auftreten. Dies lässt sich mit Ernst Bloch auch als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen fassen.22 Niederösterreich um 1800  :23 Zwischen 1790 und 1811 ging die Zahl der HandspinnerInnen, die als Mägde, Inwohnerinnen, Kleinhäuslerinnen oder Bäuerinnen in den Wintermonaten sponnen, von 120.000 auf 14.500 zurück. Kompensiert wurde der Rückgang der Aufträge durch eine Ausweitung der Handweberei, die zusätzliche häusliche Arbeitskräfte benötigte (Waldviertel), sowie die Lohnarbeit in den nun entstehenden Textilfabriken (Industrieviertel). Dies setzte Arbeitsmigration in die neuen Industrieorte im südöstlichen Niederösterreich in Gang, wo für das zuwandernde Industrieproletariat Fabriksiedlungen errichtet wurden. Zu Beginn waren vor allem die Kinder und Frauen, die als Hilfskräfte neben den männlichen Facharbeitern arbeiteten, dem industriellen Verschleiß ausgeliefert. Vierzehnstündige Arbeitstage waren die Regel. Küchengärten, Fabriksläden und Ausspeisungen sollten das soziale Elend stabilisieren, schufen aber auch ein zusätzliches Element der unternehmerischen Kontrolle und Zugriffsmöglichkeit auf die ArbeiterInnen. Im Gegensatz zu den FabriksarbeiterInnen im Industrieviertel waren die Waldviertler Heimweber selbstständige Kleinproduzenten, denen Familienmitglieder als Helfer zur Verfügung standen  : am Spulrad, am Webstuhl, im Haus, in Feld und Garten, wo Nahrungsmittel zur Selbstversorgung erzeugt wurden. Reichten die Aufträge zum Überleben nicht aus, nahmen Familienmitglieder Taglohn, Dienst und Wanderarbeit an. Libanon um 1800  :24 Die Seidenerzeugung im Mont Liban, das als Emirat mit mehrheitlich christlicher Bevölkerung im Osmanischen Reich Autonomiestatus genoss, erfolgte im Wesentlichen so wie in den vorangegangenen Jahrhunderten. Maulbeerbaumkultur, Seidenraupenzucht und Abhaspeln des Fadens vom Kokon wurde vor allem von christlichen Untertanen betrieben, die den Inhabern der Steuerpfründe einen Teil der Ernte ablieferten  ; damit leisteten jene ihre Tribute an die Zentralmacht in Istanbul. Die Seidenraupenzucht war in den landwirtschaftlichen Arbeitszyklus integriert  ; die Gewinnung des Garns vom Kokon erfolgte in Anlagen, die von Grundbesitzern oder Händlern mit Fronarbeitern oder Taglöhnern betrieben wurden. Das Weben besorgten spezialisierte Handwerker in den Städten. Aufgrund der ersten Seidenexportkonjunktur im 16. Jahrhundert waren christliche Bauern und Handwerker auch in die von Drusen beherrschten Bergregionen im südlichen Libanon vorgedrungen, wo die kriegerischen Stammesgesellschaften an Seidenraupenzucht nicht interessiert waren. Die Seidenhändler lieferten an Damaszener Weber ebenso wie an italienische Stadtstaaten. Mit der Spaltung in Landbesitzer und Krieger auf der einen, Seidenbauern, Handwerker und Händler auf der anderen Seite war der Keim für die konfessionelle Parallelgesellschaft ge274

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 274

22.09.2010 07:50:29

Arbeitsverhältnisse

legt worden, welche die politische und wirtschaftliche Entwicklung des Libanon bis heute lähmt. Zu einer Eskalation der Konflikte in Pogromen, Überfällen und konfessionell motivierten Vertreibungen kam es um 1860, als der Mont Liban unter direkter Einmischung der europäischen Großmächte von einer tributären Pfründewirtschaft25 zu einer peripheren Enklave der Weltwirtschaft geworden war, in der französische und britische Interessen konkurrierten. Das einheimische Handwerk unterlag den aus Großbritannien eingeführten Industriewaren, die über Beirut den gesamten östlichen Mittelmeerraum, die sogenannte Levante, infiltrierten. Stattdessen verwandelte sich der Libanon, wo immer es die Landschaft zuließ, in eine Seidenraupenzuchtregion für den Export von Rohseide an die französische Seidenindustrie. Gujarat und Maharashtra um 1800  :26 Die Jahre 1800 bis 1820 stellen für Gujarat und Maharashtra, das mit Bombay (seit Kurzem  : Mumbai) über ein zentrales Emporium (Umschlagplatz für Handel und textiles Verlagswesen) der britischen East India Company (EIC) verfügte, eine entscheidende Wende dar. Die Exporte, die bereits das ganze 18. Jahrhundert hindurch unter Einfuhrverboten und der aufkommenden Konkurrenz europäischer Baumwolltextilien litten, kamen mit der Exportoffensive, die von der Einführung des Fabriksystems getragen war, endgültig zum Erliegen. Bald nach 1800 war die einstige Exporthochburg zum Nettoimporteur von Textilien geworden. Die heimischen Weber produzierten nur noch für den Binnenmarkt. Sie arbeiteten auf einfachen Handwebstühlen, die im Wohnhaus oder in kleinen Werkstätten aufgestellt waren. Eine Veranlassung, die in Europa so fieberhaft angestrebte Mechanisierung nachzuvollziehen, bestand angesichts der vorhandenen Arbeitskräftereserven nicht. Aufgrund des hohen Anteils an landwirtschaftlicher Selbstversorgung waren die Lebenshaltungskosten der Handweber relativ niedrig. Die handwerkliche Produktionsweise wurde beibehalten. Im Unterschied zum Weben ging das Spinnen von Baumwollgarn von Hand mit der Verfügbarkeit britischen Fabriksgarns jedoch zurück. Damit war die Spinnfabrik in Lancashire mit dem indischen hand loom in einer Standortkette integriert. Normalerweise stammte die Baumwolle, die dabei zum Einsatz kam, aus den amerikanischen Südstaaten oder aus Ägypten, den beiden Hauptlieferregionen für die englischen spinning mills. Indische Baumwolle hingegen gelangte in der neuen internationalen Arbeitsteilung, die die Industrielle Revolution in Großbritannien mit sich brachte, in rohem Zustand oder gesponnen nach China, wo sie eine aufstrebende Hausindustrie verarbeitete. Die früheren Exportmärkte der indischen Kalicos, von der Ostindischen Handelskompanie weltweit vertrieben, wurden nun mit britischen Fabrikstextilien beliefert  ; die Konkurrenz west- und zentraleuropäischer Textilfabrikanten nahm allmählich zu. 275

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 275

22.09.2010 07:50:29

Internationale Arbeitsverhältnisse Arbeitsteilung

Etwa achtzig Jahre später Niederösterreich um 1880  :27 Die Fabrik erfasste alle Fertigungsschritte der textilen Produktion, die zuvor kleinräumig spezialisiert von Spinnern, Webern, Färbern, Textildruckern etc. durchgeführt worden waren. Mechanisierungslücken sowie Konjunkturschwankungen erzeugten aber weiterhin eine Nachfrage nach HeimarbeiterInnen. In ländlichen Regionen sicherten Küchengärten der Arbeiterwohnsiedlungen und Kleinhäusler das Überleben mit knappen Löhnen. In der Hauptund Residenzstadt Wien, wo sich der wachsende Sektor der Konfektionsindustrie in einem komplizierten System von Kleinwerkstätten, Zulieferern und SubauftragnehmerInnen entfaltete, spielte die Verbindung der Textilarbeiter zur Herkunftsfamilie in Notzeiten eine wichtige Rolle. Das Industrieproletariat behielt vielfach seine familiären Verbindungen zur Subsistenzwirtschaft. Ab den 1880er-Jahren erfuhr es durch Arbeitsgesetze, staatliche Sozialleistungen und politische und gewerkschaftliche Organisation eine Regulierung und Stabilisierung seiner Verhältnisse. Besitzlose Handwerker, HeimarbeiterInnen und TaglöhnerInnen blieben davon ausgenommen, gingen oft prekäre Arbeitsverhältnisse ein und litten zeitweise unter Lebensmittel- und Brennstoffmangel, desolaten Wohnverhältnissen u. a. m. Dies trug ihnen die Bezeichnung „Lumpen“ (auch „Lumpenproletariat“) ein. Libanon um 1880  :28 Nur vier Prozent des gebirgigen Landes waren kultivierbar  ; fast die Hälfte davon war um 1880 mit Maulbeerbäumen bepflanzt. Getreide und Vieh wurden fast zur Gänze aus Syrien, Palästina oder dem Irak bezogen  ; es blieb kaum Platz für Subsistenzwirtschaft, was Tausende Landlose und Rentenbauern trotz der nun einsetzenden Seidenkonjunktur in die Emigration trieb. Die Hälfte der Bevölkerung lebte von der Seidenzucht  : als Maulbeerbauern, Raupenzüchter oder von Seidenspulereien, die teilweise zu Fabriken ausgebaut wurden. Die Kohle für die Dampfmaschinen kam aus England. 1885 gab es 85 Seidenspulereien in der Provinz, von den 14.500 Beschäftigten waren 12.000 weiblich  ; 8.500 waren maronitische Christen, 2.500 griechisch-orthodox, 1.000 drusisch. Das größte Seidenspulunternehmen befand sich im Besitz der Familien Pharaon-Chiha, die über ihre Familienbank den Seidenexport nach Frankreich ebenso beherrschten wie die Einfuhr von Industriewaren und Kohle aus England. Diese Familien gehörten der einheimischen Handels- und Finanzbourgeoisie an, die den Mont Liban auf die Zulieferung von Rohseide spezialisierten, die in europäischen Fabriken verarbeitet wurde. Diese Funktion endete, nachdem der Libanon 1920 als Mandatsgebiet unmittelbarer französischer Kontrolle unterstellt wurde. Gujarat und Maharashtra um 1880  :29 Mit der Errichtung mechanischer Spinnfabriken in Ahmedabad und Bombay in den Jahren nach 1860 wurden die Regionen 276

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 276

22.09.2010 07:50:29

Arbeitsverhältnisse

im Nordwesten neben Bengalen, wo sich eine mechanische Juteindustrie entwickelte, zur Ausnahme in Britisch-Indien. Während das ganze Land die handwerklich-industriöse Produktionsweise beibehielt, vollzog die britischste aller indischen Regionen die Einführung des Fabriksystems nach englischem Vorbild. Die Initiative ging von britischen Investoren aus. Von Anfang an waren aber auch indische Textilhändler als Partner beteiligt. Nun wurden auch an indischen Standorten Fabriksgarne gefertigt, die im bäuerlichen Haushalt oder in lokalen Handwebereien verarbeitet oder nach China exportiert wurden. Neben den Handwebereien entstand für bestimmte Produkte eine fabriksindustrielle Fertigung von Stoffen. Damit trat neben den Baumwollbauer, den Plantagenarbeiter, den Handweber und dessen häusliche Hilfskräfte ein neuer Typus  : der Arbeiter in der Textilfabrik. Industriearbeiter gehörten unterschiedlichen Kasten und Religionen an  ; sie kamen aus den umliegenden, später auch aus entfernteren Regionen und bildeten in der Stadt wie im Unternehmen Herkunftsgruppen. Frauen kamen in der Regel mit ihren Männern  ; im Unternehmen arbeiteten sie in untergeordneten Positionen. Um 1900 war die Fabrikarbeiterschaft von Bombay auf 80.000 angewachsen, davon waren ein Viertel bis ein Fünftel Frauen. Die IndustriearbeiterInnen stellten aber immer noch eine Minderheit in der indischen Gesellschaft dar. Dies änderte sich erst, als Fab­riksarbeit nach dem Ersten Weltkrieg und insbesondere nach Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1947 im Zuge der nachholenden und importsubstituierenden Industrialisierung weiter verbreitet wurde. Seit den 1920er-Jahren bildeten sich gewerkschaftliche Organisationen. Um insbesondere während der Weltwirtschaftskrise Lohnkürzungen abzuwenden, riefen sie in den Jahren 1919 bis 1940 acht Mal den Generalstreik aus.

Hundert Jahre später  : An der Schwelle zum „postindustriellen“ Kapitalismus Niederösterreich um 1990  :30 1990 waren nur mehr neun Prozent der Berufstätigen des verarbeitenden Gewerbes und der Industrie in der Textil- und Bekleidungsindustrie tätig  ; nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ging ihr Anteil weiter zurück. Wo Textil und Bekleidung wie im Wiener Umland durch neue Wachstumsbranchen ersetzt wurden, konnte der Rückgang der industriellen Massenproduktion verlangsamt bzw. durch neue Arbeitsplätze kompensiert werden. In regionalen Problemlagen und Single Factory-Dörfern, in denen sich kein neuer Investor findet, bleibt hingegen nur das Auspendeln, das Wegziehen oder die Arbeitslosigkeit. In der Waldviertler Textilregion zeichnet sich für jene, die nicht abwandern wollen 277

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 277

22.09.2010 07:50:29

Internationale Arbeitsverhältnisse Arbeitsteilung

oder können, die Rückkehr zu Erwerbskombinationen ab  : Kleingartenwirtschaft, Heimwerkerei, Nachbarschaftshilfe und sozialstaatliche Transferleistungen sichern hier in Kombination eine postindustrielle Existenz. Libanon, Syrien und die Türkei um 1990  :31 Im Gegensatz zum Libanon, der 1943 seine politische Souveränität erlangte und die in der Mandatszeit erfolgte Spezialisierung auf Zwischenhandel und Finanzdienstleistungen fortsetzte, wurde in Syrien und in der Türkei die Produktion von Textilien und Bekleidung zentral. Beide Staaten verfügen über sämtliche Glieder der Standortkette  : Baumwollanbau, Seidenzucht, fabriksindustriell betriebene Spinnerei und Weberei, Konfektionierung und größere und kleinere Sweat-Shops mit Zulieferungen aus Heimarbeit werden hier betrieben. Unter dem Schutz von staatlichen Arbeitsgesetzen und Gewerkschaften stehen lediglich die Industriebetriebe  ; deren Belegschaftszahlen sind jedoch rückläufig. Bei den zahlreichen kleinen Nähereien und Trikotage-Betrieben,32 die oft in ländlichen Regionen angesiedelt sind oder vom Land Zugewanderte beschäftigen, geht es ohne Schutz und Rechte zu. Sie beziehen ihre Vorprodukte zunehmend aus Indien oder Pakistan und sind über Händler und Kontrakte direkt am Puls der Abnehmer in den metropolitanen Endverbrauchszentren, die ihre Aufträge an den kostengünstigsten Anbieter vergeben. Istanbul und Aleppo unterhalten jedoch auch eigene Fashion-Distrikte, wo Verträge abgeschlossen werden, Labels verhandelt werden und Wiederverkäufer aus Osteuropa und Zentralasien ihre Lager füllen. Ein neues Standbein eröffnet seit einigen Jahren die islamische Mode, die neue Käuferschichten anspricht, neue Vertriebswege aufbaut und in den Zulieferbetrieben auf die Einhaltung islamischer Verhaltensregeln bedacht ist.33 Gujarat und Maharashtra um 1990  :34 Die FabriksarbeiterInnen von Mumbai (ehe­­­­­­ mals Bombay) waren in den Arbeitskämpfen, die die Textilbranche 1982/83 ­e rfasste, an vorderster Front aktiv. Sie waren diejenigen, die nach dem Abgehen der indischen Regierungspolitik von Wirtschaftsplanung und Protektionismus den wirtschaftlichen Strukturwandel sogleich am eigenen Leib erfuhren. Still­legungen und Rationalisierungen in der Textilindustrie stand eine Verlagerung der Beschäftigung in die informalisierte Konfektionsindustrie gegenüber. Damit einher ging die Verschiebung von männlichen zu weiblichen Arbeitskräften und von Städten in ländliche Regionen. Vor diesem Hintergrund betrieb die hindu-nationalistische Shiv-Sena-Partei in Maharashtra eine Ethnisierung der sozialen Konflikte. Ihre Agitation drang weit in die krisengeschüttelte Arbeiterschaft vor und ersetzte die Gewerkschaften durch ihre Organisationsstrukturen. Waren die Aktivitäten in den 1980er-Jahren vorwiegend gegen ländliche ArbeitsmigrantInnen aus Südindien gerichtet, fügte sich der Konflikt nach der Jahrtausendwende zunehmend in die Auseinandersetzungen zwischen Hindu-Nationalisten und radikalen Mos278

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 278

22.09.2010 07:50:29

Arbeitsverhältnisse

lems ein. Im Frühjahr 2002 wurde Gujarat durch anti-muslimische Pogrome zum Symbol der Gewalt zwischen Hindus und Muslimen. Die Aufstiegshoffnungen der jungen InderInnen verlagerten sich in den 1990er-Jahren in andere Branchen und Regionen. Das indische IT-Wunder hält allerdings nur für eine Minderheit Traumjobs bereit  ; die hoch qualifizierte Ausbildung ist außenorientiert und hat einen enormen Brain-drain in westliche Staaten zur Folge  ; die Verlagerung von Kommunikation (Call Centers) und Informationsverarbeitung an indische Standorte wiederum bringt neue Formen von entfremdender Gleichförmigkeit sowie sozialer Abhängigkeit und Unsicherheit hervor.

Zusammenspiel der Arbeitsverhältnisse auf dem Weltmarkt Abschließend werde ich nun das über- und zwischenregionale Zusammenspiel der Arbeitsverhältnisse in den drei exemplarischen Regionen aufzeigen. Dabei wird deutlich, dass wirtschaftliche Globalisierung kein neues Phänomen darstellt, sondern zumindest seit 1800 wirksam war. Wirtschaftliche Globalisierung bedeutet zunächst, dass Weltmarktproduktion in überregional ausgebreiteten Waren- und Standortketten mit unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen erfolgt, deren Lohnund Preisdifferenzen dem organisierenden Zentrum Kapitalakkumulation erlauben. Für die in die überregionale Arbeitsteilung eingebundenen Regionen bedeutet dies die ungleiche Teilhabe an Wertschöpfung und Einkommen. In den Zentren entsteht eine breit gefächerte Unternehmenslandschaft mit Rückkopplungseffekten der Leitsektoren auf vor- und nachgelagerte Branchen sowie Aufstiegs- und Partizipationsmöglichkeiten für einen wachsenden Teil der Bevölkerung. Peripherien kompensieren ihre Abhängigkeit als Zulieferer von Rohstoffen bzw. als verlängerte Werkbänke durch ein viel größeres Ausmaß an Subsistenzarbeit und – wenn dies nicht möglich ist – durch finanzielle Transfers aus der Arbeitsmigration. Was im regionalen Kontext einer Peripherie destabilisierend wirkt, stellt im globalen Gesamtzusammenhang einen stabilisierenden Faktor dar. Die konkreten Aufgaben der Regionen in der internationalen Arbeitsteilung und ihr Zusammenspiel unterliegen im historischen Verlauf tief greifenden Veränderungen  : Zentren und Peripherien können neue Ausprägungen erfahren, ohne dass damit die Abhängigkeit zwischen Zentren und Peripherien überwunden wird. Die Erfolge der nachholenden Industrialisierung im Fall der niederösterreichischen Textilindustrie, die auf vor- und nachgelagerte Sektoren ausstrahlten und Teilen Niederösterreichs zu einem breiten industriellen Branchenmix verhalfen, bedurften der Baumwolle aus dem Osmanischen Reich. Umgekehrt drangen nieder­ 279

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 279

22.09.2010 07:50:29

Internationale Arbeitsverhältnisse Arbeitsteilung

österreichische Industriewaren als Verursacher und Nutznießer einer Peripherisierung, die das Osmanische Reich erlebte, im Laufe des 19. Jahrhunderts sukzessive in frühere osmanische Binnenmärkte vor. Ihre Erzeuger profitierten vom Niedergang der Gewerbe und der Entfaltung des peripheren Kapitalismus. Zum Libanon, der unter der Hohen Pforte unterschiedliche Ausmaße an Autonomie genoss, hatte die niederösterreichische Textilindustrie keinerlei Bezug. Der Mont Liban war im 19. Jahrhundert vielmehr ökonomisch eng an Frankreich angelehnt, das die christliche Bevölkerung im Libanon protegierte und als Sprungbrett für französische Interessen im Nahen Osten nutzte. Im 19. Jahrhundert war der Libanon der Lieferant von Rohseide für die französische Seidenindustrie. Die einzigen fabriksmäßigen Betriebe im Libanon waren Seidenspulereien  : eine quasi koloniale Abhängigkeit, die mit der Errichtung des französischen Protektorats 1920 zementiert wurde, verbunden mit dem Ende der Serikultur und dem Übergang zu einer neuen Stellung des Libanon als Handels- und Finanzdrehscheibe im westasiatischen Hinterland. Gujarat und Maharashtra verloren mit dem Aufstieg Großbritanniens zur führenden Textilmacht ihre Weltexportmärkte, nicht zuletzt im Osmanischen Reich, das bis um 1800 indische Baumwolltextilien bereitwillig aufnahm, bevor diese von britischen – in Konkurrenz mit österreichischen – verdrängt wurden. Was blieb, waren Textilien für die indischen Binnenmärkte, die handwerklich erzeugt wurden. Die Errichtung von Spinn- und Webfabriken im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war die Antwort auf die Mechanisierung in England, getragen von einheimischen Eliten, die britische Standards auch für die Kolonialgesellschaft einforderten. Die Fabriken blieben allerdings auf Nordwestindien (Baumwolle) und Kalkutta (Jute) beschränkt. Britisch-Indien war zu dieser Zeit ein Agrarexportland, dessen indus­ triös-handwerkliche Produktion für den lokalen Bedarf eng mit der Landwirtschaft verbunden war. Eine textile Verbindung zu Niederösterreich bestand nicht, denn indische Baumwollexporte wurden nach dem Niedergang als Exportgewerberegion von britischen Händlern im Gegengeschäft mit Teeimporten für Großbritannien nach China dirigiert. Die neue internationale Arbeitsteilung, die für die alten Industrieländer den Startschuss für das postindustrielle Zeitalter bedeutete, positionierte die Newly Industrializing Countries (NIC’s) als Anbieter standardisierter Massenartikel.35 Textil und Bekleidung waren Sektoren mit geringer Rendite, die die Konzerne in den Zentren gerne an Peripherien abgaben. Das 1974 abgeschlossene und bis 2005 wirksame Welttextilabkommen gewährleistete allerdings, dass die Kontrolle über die Produktionsketten in den Händen der in den entwickelten Ländern verbliebenen Konzernzentralen blieb und nur die Verarbeitung ausgelagert wurde.36 Bewerkstelligt wurde die neue Ungleichheit durch Verteilung der Wertschöpfung 280

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 280

22.09.2010 07:50:29

Arbeitsverhältnisse

über das Instrument der Ursprungsregeln, die die Auslagerung von einzelnen Fertigungsschritten, nicht aber ein komplett im Ausland gefertigtes Konkurrenzprodukt von der Importverzollung ausnahmen. Dies begünstigte vor allem in der Konfektionsindustrie ein System der mehrstufigen Verlagerung der Produktion durch Handelsketten und reine Markenhalter (hohle Konzerne) an Auftragnehmer, die ihre Arbeitskräfte schrankenlos und ohne jede Regel fertigen lassen. Die neue internationale Arbeitsteilung eröffnete einzelnen Staaten und Konzernen allerdings auch Aufstiegschancen, die mit der Festlegung auf textile Auftragsfertigung brachen und neue Wachstumsbranchen einführten. In den letzten Jahren mehren sich Fälle, in denen indische Konzerne westliche Unternehmen übernehmen, darunter indische Textil(maschinen)erzeuger, die marode europäische Textilunternehmen aufkaufen, um an deren Restrukturierung zu verdienen. Sind das die Vorboten für eine Verschiebung der weltwirtschaftlichen Zentren nach Süd- und Ostasien, die der alten Welt ihre Zukunft nicht nur in Form deregulierter Arbeitsverhältnisse aufdrängen, sondern die Kapitalakkumulation auch als Eigentümer und Drahtzieher von weltweiten Standortketten beherrschen  ?

Anmerkungen 1 Karl-Heinz Roth/Marcel van der Linden, Hg., Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, Berlin/ Hamburg 2009  ; Marcel van der Linden, Workers of the World. Essays toward a Global Labor History, Leiden/Boston 2008  ; Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem, Bd. 1 – Die Anfänge der kapitalistischen Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, Wien 2004  ; Claudia von Werlhof/Maria Mies/Veronika Bennholdt-Thomsen, Frauen, die letzte Kolonie, Reinbek bei Hamburg 1983  ; Veronika Bennholdt-Thomsen/Maria Mies, Eine Kuh für Hillary. Die Subsistenzperspektive, München 1997. 2 Karl Marx , Das Kapital, Bd. 1 (verfasst 1867), Marx Engels Werke Bd. 23, Berlin/DDR 1953, 532 f. 3 Karl-Heinz Roth, Das Multiversum. Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven, Hamburg (2010 in Druckvorbereitung)  ; Karl-Heinz Roth /Marcel van der Linden, Über Marx hinaus.  4 Andrea Komlosy/Christof Parnreiter/Irene Stacher/Susan Zimmermann, Hg., Ungeregelt und unterbezahlt. Der informelle Sektor in der Weltwirtschaft, Frankfurt am Main/Wien 1997. 5 Steven King/Alannah Tomkins, Hg., The Poor in England 1700–1850. An Economy of Makeshifts, Manchester/New York 2003  ; vgl. auch Sigrid Wadauer, Ökonomie und Notbehelfe in den 1920er und 1930er Jahren, in  : Peter Melichar/Ernst Langthaler/Stefan Eminger, Hg., Niederösterreich im 20. Jahrhundert, Bd. 2.  : Wirtschaft, Wien 2008, 537–573. 6 Gary Gereffi/M. Korzebiewicz, Hg., Commodity chains and global capitalism, Westport/CT 1994  ; Review Fernand Braudel Center, Commodity Chains in the World Economy, vol. XXIII, 1 ( 2000). 7 Vgl. die Debatte um etwaige capitalist sprouts in China, die unabhängig von westlichem Einfluss keimten  : Xu Dixin/Wu Chengming, Hg., Chinese Capitalism, 1522–1840, Basingstoke/London 2000.

281

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 281

22.09.2010 07:50:29

Internationale Arbeitsverhältnisse Arbeitsteilung

  8 Arno Sonderegger, Sklaverei und Sklavenhandel. Zum Beziehungswandel zwischen Europa und Afrika im 18. und 19. Jahrhundert, in  : Birgit Englert/Inge Grau/Andrea Komlosy, Hg., Nord-SüdBeziehungen. Kolonialismen und Ansätze zu ihrer Überwindung, Wien 2006, 33.   9 Lydia Potts, Weltmarkt für Arbeitskraft. Von der Kolonisation Amerikas bis zu den Migrationen der Gegenwart, Hamburg 1988  ; vgl. auch Dirk Hoerder, Cultures in Contact. World Migrations in the Second Millennium, London 2002. 10 Hermann Mückler, Fidschi. Das Ende eines Südseeparadieses, Wien 1991. 11 Angus Maddison, The World Economy. A Millennial Perspective, Paris  : OECD 2001, 95. 12 Hans-Heinrich Nolte, Kleine Geschichte Russlands, Stuttgart 2003, 139 f. 13 Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft (= Das Informationszeitalter Teil 1). Opladen 2001. 14 Andrea Komlosy, Chinesische Seide, indische Kalikos, Maschinengarn aus Manchester. „Industrielle Revolution” aus globalhistorischer Perspektive, in  : Margarete Grandner/Andrea Komlosy, Hg., Vom Weltgeist beseelt. Globalgeschichte 1700–1815, Wien 2003, 103–134. 15 Von industriös, betriebsam, fleißig. Industriös bezieht sich auf Produktions- und Produktivitätssteigerungen, die auf einer Intensivierung und Ausweitung der Arbeitsleistung beruhten, im Gegensatz zur „industriellen“ Produktionsweise jedoch nicht auf der Einführung des Fabriksystems – vgl. Jan de Vries, The Industrious Revolution. Consumer Behaviour and the Household Economy. Cambridge, Mass. 2008. 16 Andrea Komlosy, Textile Produktionsketten. Arbeitsverhältnisse und Standortkombinationen in der globalen Textilerzeugung 1700–2000, in  : Zeitschrift für Weltgeschichte, 9, 1 (2008), 91. 17 Herbert Matis, Protoindustrialisierung und „Industrielle Revolution“ am Beispiel der Baumwollindustrie Niederösterreichs, in  : Andrea Komlosy, Hg., Spinnen – Spulen – Weben, Krems/Horn 1991, 15–48. 18 Halil Inalcık, When and How British Cotton Goods Invaded the Levant Markets, in  : Huri Islamoglu-Inan, Hg., The Ottoman Empire and the World Economy, Cambridge/UK 1987, 374–383. 19 Robert-Tarek Fischer, Österreich im Nahen Osten. Die Großmachtpolitik der Habsburgermonarchie im Ararabischen Orient 1633–1918, Wien u. a. 2006, 95. 20 Fawwaz Traboulsi, A History of Modern Lebanon, London 2007. 21 Dietmar Rothermund, Europa und Asien im Zeitalter des Merkantilismus, Darmstadt 1978  ; Tirthankar Roy, Rethinking Economic Change in India. Labour and Livelihood, London, New York 2005. 22 Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Zürich 1953. 23 Komlosy, Hg., Spinnen, 1991  ; Matis, Protoindustrialisierung, 1991. 24 Traboulsi, History, 2007. 25 Es gab im Osmanischen Reich keinen dem europäischen Feudalismus vergleichbaren autonomen Adel, sondern lokale Amtsträger, die in ihren Herrschaftsbereichen (Pfründe oder timar) im Auftrag der Zentralmacht Steuern eintrieben – vgl. Suraiya Faroqui, Kultur und Alltag im Osmanischen Reich, München 1995. 26 Tirthankar Roy, Artisans and Industrialization  : Indian Weaving in the 20th century, Delhi 1993  ; Roy, Rethinking, 2005  ; Michael Mann, Geschichte Indiens. Vom 18. zum 21. Jahrhundert, Paderborn 2005. 27 Komlosy, Hg., Spinnen, 1991  ; Zimmermann Susan, Frauenerwerbsarbeit und Haushalt im Wien der Jahrhundertwende, in  : Archiv. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung, 6 (1990), 92–122. 28 Traboulsi, History, 2007 29 Morris D. Morris, The Growth of Large-Scale Industry to 1947, in  : Dharma Kumar, Hg., The Cam­ bridge Economic History fo India, vol. 2  : c. 1757–1970, Cambridge 1982, 553–676  ; Eric R. Wolf,

282

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 282

22.09.2010 07:50:29

Arbeitsverhältnisse

Die Völker ohne Geschichte. Europa und die andere Welt seit 1400, Frankfurt am Main/New York 1991. 30 Andrea Komlosy, Austria and Czechoslovakia, in  : Lex Heerma van Voss/Els Hiemstra/Elise van Nederveen Meerkerk, Hg., The Ashgate companion to the history of textile workers, 1650–2000, Aldershot 2010, 43–73. 31 Regina Barendt/Bettina Musiolek, Workers’ Voices. The Situation of Women in the Eastern European and Turkish Garment Industries, Meißen 2005. 32 Trikotagen (von französisch tricoter, stricken) sind Stoffe, deren Fläche durch Maschen (Stricken, Wirken) gebildet werden. Im Gegensatz dazu beruht die Flächenbildung beim Weben aus dem Verkreuzen von Längs- und Querfäden (Kette und Schuss). 33 Ein Bespiel für einen „Anatolian Tiger“ im Bereich der Islamic Fashion ist die Firma Tekbir, vgl. ‘Turkey’s Tigers’. Wide Angle. Public Broadcasting Service (PBS). By Jon Alpert and Matthiew O’Neill. August 22, 2006 – http  ://www.pbs.org/wnet/wideangle/epidodes/turkeys-tigers/full-episode/649 (15.1.2009) 34 Bernhard Imhasly, Abschied von Gandhi  ? Eine Reise durch das neue Indien, Freiburg u. a. 2006  ; Clemens Six, Hindi – Hindu – Hindustan. Politik und Religion im modernen Indien, Wien 2006. 35 Volker Fröbel/Jürgen Heinrichs/Otto Kreye, Die neue internationale Arbeitsteilung, Reinbek bei Hamburg 1977. 36 Sabine Ferenschild/Ingeborg Wick, Globales Spiel um Kopf und Kragen. Das Ende des Welttextilabkommens verschärft soziale Spaltungen, Siegburg/Neuwied 2004, 10–15.

283

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 283

22.09.2010 07:50:30

Eine indigene Mutter (Ticos) mit ihren vier Kindern im Eingang ihrer Hütte, Costa Rica, Sixaola, Karibikküste. Foto: Hauser, Bildrechte: LAIF.

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 284

22.09.2010 07:50:31

Kapitel 9

Haus und Familie Regime der Reproduktion in Lateinamerika, China und Europa Reinhard Sieder

Wie kapitalistische Warenproduktion, Distribution und Konsumtion durch staatliche und suprastaatliche Regelungen akkordiert und gesteuert werden, fasst die sogenannte Regulationstheorie.1 Im Folgenden wird das Konzept der Regulation auf ‚Reproduktion‘ ausgedehnt. Darunter verstehe ich das Zusammenspiel von staatlichen und kommunalen Regulierungen (mittels Gesetzen, aber auch materieller Familien- und Bevölkerungs-, Sozial- und Geschlechterpolitik) einerseits und der Geburt, Erziehung und Regeneration arbeitstüchtiger Menschen (m/w) in privaten Haushalten andererseits. Staaten und Kommunen regulieren Heiraten, Geburten, Erziehung, Schulbildung, Pflege und Versorgung der Kinder – kurz  : die Reproduktion der Arbeitskräfte und jener, die als Arbeitskräfte ausgeschieden sind. Das, was als privates Familienleben hoch geschätzt und vielfältig gewürdigt, ja oft geheiligt wird, ist also in die politisch-ökonomische Regulation des zunehmend globalisierten Kapitalismus integriert. In Europa, China und Lateinamerika waren daran Staaten und Städte, Grund- und Gutsherren, Großgrundbesitzer, Kolonialverwaltungen, militärische Eliten, politische Parteien sowie christliche und andere Kirchen, Konfessionen und Philosophien beteiligt. Zwischen den genannten Weltregionen sind nicht nur vielfältige ökonomische, sondern auch politisch-ideologische, rechtsphilosophische, religiöse und kulturindustrielle Transfers und Vernetzungen zu finden. Wie kapitalistische Wirtschaft, politische und religiöse Herrschaft und das Familienleben in den letzten zweihundert Jahren als Zusammenhang reguliert und entwickelt wurden, ist das Thema dieses Kapitels.

Lateinamerika Als die Spanier in Südamerika eintrafen, folgten sie noch mittelalterlichen und germanischen Rechtsvorstellungen, u. a. dem Modell der informellen Ehe „zur linken Hand“ zwischen Personen verschiedenen Standes. Solche Bindungen gingen sie 285

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 285

22.09.2010 07:50:31

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

nun mit indigenen Frauen ein  ; die Kinder galten als legitim und waren erbberechtigt. Erst allmählich setzten die katholischen Missionare unter den Conquistadoren, den Encomenderos2 und einem Teil der Indigenen das christliche Modell der Ehe und Familie durch. Im Aztekenreich trafen sie auf Formen männlicher Dominanz und einen Jungfräulichkeitskult  ; hingegen fanden sie im Andenraum Gesellschaften mit legitimer vorehelicher Sexualität und Probehen (sirvinacuy).3 Indigene Oberschichten und lokale Eliten (Kaziken und Notabeln, principales) lebten polygam, die gemeinen Leute monogam.4 Die Inkagesellschaft hatte eine entwickelte Staatsbürokratie, die das Exogamiegebot5 für das gemeine Volk überwachte, während die Eliten auch innerhalb der nahen Verwandtschaft, einschließlich der eigenen Schwestern, heirateten (Endogamie).6 Doch wie Susan Kellogg an der Unterwerfung der Azteken gezeigt hat, entstand durch die christliche Missionierung keine Kopie der west-christlichen patriarchalen Familie, sondern ein indigen-christlicher Synkretismus.7 Nach dem Schock der ersten Missionswelle gewannen schon im 17. Jahrhundert indigene Werte, Riten und Praktiken wieder an Geltung und hielten sich in vielen Regionen bis heute.8 Ehe die ‚Missionierung‘ indigener Formen der Reproduktion – eine Spielart des kulturellen Transfers – erörtert wird, muss gesagt werden, dass die Conquista zu einem ungeheuren Bevölkerungsverlust in gesamt Spanisch-Amerika führte, primär durch den biologischen Schock für die Indigenen, deren Immunsystem keine Abwehrkräfte gegen die eingeschleppten Epidemien hatte. Zudem erlitten sie ein kollektives Trauma, das zu massenhaftem Suizid, Abtreibung und Kindsmord führte. Der Tod in kriegerischen Auseinandersetzungen kam erst an dritter Stelle. In der Region von Oaxaca (Mexiko) waren nach der großen Epidemie von 1576 mehr als die Hälfte der Häuser verlassen  ; in den noch bewohnten Häusern sank die Zahl der Bewohner auf die Hälfte.9 Die kriegerische Eroberung des Kontinents setzte sich in der ‚Eroberung‘ lateinamerikanischer Frauen durch spanische Männer fort. Heiraten zwischen Spaniern und Indigenen aus der Oberschicht waren zunächst erwünscht und sollten die spanische Herrschaft legitimieren, blieben aber selten. Heiraten von spanischen Frauen mit indigenen Männern kamen fast nie zustande. In vielen Dörfern der Indigenen (die formalrechtlich frei, aber de facto unfreie, sklavenähnliche Arbeitskräfte der spanischen Herren waren) setzten die Missionare und ihre Helfer zwar das Ritual der römisch-katholischen Eheschließung durch, doch integrierten die „Indios“ indigene Elemente in das Zeremoniell, welche wiederum die Missionare nur bedingt verstanden. Über das Institut der Beichte versuchten sie den „Indios“ die diesen völlig fremde Körper- und Lustfeindlichkeit aufzuzwingen. Schon seit der Gregorianischen Kirchenreform10 machte sich die katholische Kirche in Europa und nun 286

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 286

22.09.2010 07:50:31

Haus und Familie

auch in Lateinamerika für strenge Regeln der Eheschließung und für Heiraten aus dem freien Willen der Brautleute stark. In eherechtlicher und sexualmoralischer Hinsicht stellte vor allem Mexiko mit seinen Ethnien ein ‚Übungsgelände‘ für die durch das Tridentinische Konzil angeleitete römisch-katholische Evangelisierung in Europa dar. Es kam zu massiven Tauf- und Trauungskampagnen gegenüber den Indigenen. Polygame Gewohnheiten wurden formell verboten, von den Indigenen aber de facto in das Institut des von ihnen etwas weniger geachteten Konkubinats (Konkubine = manceba) ‚übersetzt‘. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts sollen fast alle mexikanischen „Indios“ „im Gesetze der Ehe“11 gelebt haben  ; doch blenden die Missionsberichte aus, dass sich die Indigenen dem katholischen Gesetz unterwarfen, ohne ihre eigenen Deutungen vollends aufzugeben. Die kirchenrechtliche Verregelung der Ehe änderte auch nichts daran, dass in den Städten sexuelle Beziehungen zwischen nicht miteinander verheirateten spanischen Männern und indigenen Frauen häufig wurden. Die Kinder aus diesen Beziehungen waren an ihrer Hautfarbe leicht zu erkennen. Nach christlich-spanischem Familienrecht galten sie als unehelich und ethnisch-rassial als Mestizen. Nach Ankunft von Zehntausenden Sklaven aus dem subsaharischen Afrika begannen auch diese sich mit Weißen zu vermischen. Am wenigsten vermischten sich Indigene und Schwarze. Die phänotypisch sichtbare biologische und kulturelle Vermischung (‚Mestizisierung‘) wurde fortan zu einem der Charakteristika des Halbkontinents. Die mestizisch-kreolische Mehrheitsbevölkerung, aber auch weiße Spanier tendierten im 17. und 18. Jahrhundert zum Konkubinat. Viele teilten „dasselbe Bett und denselben Tisch“, weil sie die für die kirchliche Trauung verlangten Dokumente nicht vorlegen konnten  ; andere waren schon verheiratet und hatten sich von ihren Ehepartnern getrennt. In der Anonymität der Städte und Bergbauzentren konnten Tausende verheiratete Indigene, aber auch Weiße ein neues Eheleben beginnen (aus katholischer Sicht „Bigamie“). ‚Schwarze‘ und ‚Mulatten‘, der Sklaverei entronnen, waren ebenfalls ohne Papiere und gingen in den städtischen Slums „wilde Ehen“ ein. Schwarze Frauen und Mestizinnen verbanden sich mit ‚weißen‘ Spaniern, die sie nicht hätten heiraten können, und gebaren Kinder von ihnen. In diesem Zusammenhang entstand die ironische und eigen-sinnige Umkehrung eines spanischen Sprichworts  : „Besser eine gute Beziehung als eine schlechte Ehe.“ („Mejor bien amancebado que mal casado.“)12 So wurde das Konkubinat ein wichtiges Institut der ethnisch-rassialen Integration. Dass viele Kinder außerhalb der kirchlichen – und nach Gründung der postkolonialen Staaten – auch außerhalb der zivilen Ehe geboren wurden, ist zunächst auf die Anerkennung des Konkubinats in der indigenen und mestizischen Bevölkerung 287

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 287

22.09.2010 07:50:31

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

zurückzuführen. Eine zweite Ursache war die relativ geringe Beteiligung der Männer am Familienleben. Die den Unterschichten zum Teil abgepresste geschlechterspezifische Arbeitswanderung entzweite viele Paare  : Männer mussten für Jahre in die Bergbauregionen oder auf Plantagen und landwirtschaftliche Güter ziehen, ohne Gewissheit, ob sie jemals wieder zurückkehren würden  ; ledige junge, indigene und mestizische, schwarze und mulattische Frauen zog der Überlebenskampf hingegen in die kolonialen Städte, wo sie als Dienstmädchen und Köchinnen, Ammen und Kindermädchen in den Haushalten der Ober- und Mittelschichten Arbeit fanden. In den meisten Städten Lateinamerikas entstand ein großer Überschuss an Frauen zwischen ca. 15 und 30 Jahren, der informelle sexuelle Beziehungen zwischen ihnen und weißen Männern begünstigte. Im 19. Jahrhundert stieg die Zahl der außerehelichen Geburten drastisch an. Dies hatte aber vor allem damit zu tun, dass einige postkoloniale Staaten (z. B. Guatemala 1879) die zivile Eheschließung als alleinige Form einführten. Christianisierte Indigene sahen darin für sich keinen Sinn und verzichteten auf die zivile Trauung. Sie mischten weiterhin indigene Institutionen wie die Probeehe und christliche Rituale, die sie mit indigenen Symbolen durchsetzten. Nur für die staatliche Administration galten ihre Beziehungen und ihre Kinder als „unehelich“. Von der offiziellen „Illegitimitätsrate“ (ca. 70 Prozent) ist also nicht auf einen ähnlich hohen Anteil der Mutter-Kinder-Familien zu schließen. Der größere Teil der Indigenen lebte (und lebt) in Eltern-Kinder-Gruppen – mit und ohne kirchliche Trauung des Paares  ; oft wurden auch Großeltern oder verwitwete Großelternteile einige Jahre betreut. Ökonomisch gesehen bildeten diese Familien kleinbäuerliche Hauswirtschaften. Sie zogen Mais, Quinoa, Bohnen, Kürbisgewächse, Paprika, Peperoni und Kartoffel (300 bekannte Arten13). Aus dem Mais wurde ein leichtes Bier (die chicha) gebraut und zum Abschluss der Mahlzeiten getrunken. Lamas wurden als Lasttiere benutzt. Alpacas lieferten die begehrte dicke Wolle. Von Lama und Alpaca, Meerschweinchen und Hund wurden Häute verarbeitet und das Fleisch gekocht. Werkzeug und Tongeschirr stellten die „Indios“ selber her  ; die Frauen webten auf Handwebstühlen gemusterte Stoffe.14 In einigen Gebieten der peruanischen Anden gewannen die Familien der Salzbauern (salineros) aus Salzstöcken im Inneren der Felsen Salz.15 Obwohl mit Salz und anderen Produkten lokaler Handel getrieben wurde und wird, war und ist die Ökonomie der indigenen Bauernfamilien im Grunde darauf ausgerichtet, ihre Mitglieder zu ernähren (Subsistenzwirtschaft). Viele Indigene nahmen die katholische Institution der Patenschaft an, da sie Ähnlichkeit mit prähispanischen Sitten hatte. Im 16. und 17. Jahrhundert waren der Pate und sein Patenkind vor allem religiös verbunden. Im 18. Jahrhundert wurde daraus mehr und mehr eine Verbindung zwischen Paten und Eltern resp. der Mutter und 288

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 288

22.09.2010 07:50:31

Haus und Familie

begründete die Gevatterschaft, den compadrazgo, die sich im 19. Jahrhundert stark ausbreitete und in allen Schichten an sozialer Bedeutung gewann. Anthropologen sprechen von einer „rituellen Verwandtschaft“, welche die aufgrund hoher Mobilität und oft unterlassener Heirat begrenzte Zahl der Verwandten vor Ort erweitert.16 In den matrifokalen, besitzlosen Klassen wählen Mütter den männlichen Taufpaten (compadre) und die weibliche Taufpatin (comadre) ihres Kindes so aus, dass sie ein wenig materielle Hilfe und sozialen Schutz von ihm/ihr erwarten können. Die solidarische Beziehung wirkt großteils unausgesprochen, beruht auf wechselseitigem Vertrauen und sieht vor, dass sich Mutter und compadre/comadre jederzeit um Hilfe und Unterstützung – Arbeitsleistung, Geld, Pflege, Geschirr, Nahrungsmittel etc. – bitten dürfen. Auch in den großstädtischen Slums (in Brasilien portug. favelas) werden Verwandte oder Nachbarn und Nachbarinnen als Paten und Patinnen gewählt. Com­ padres unterliegen einem von der katholischen Kirche durchgesetzten, erweiterten Inzestverbot. Das compadrazgo ist hier ähnlich wichtig wie die Solidarität der leiblichen Verwandten der Frau.17 Unter ganz anderen Bedingungen wurden in den Ober- und Mittelschichten viele Kinder außerhalb und neben der Ehe gezeugt und aufgezogen. Autobiografische Erzählungen berichten, dass sich die Ehefrau mitunter verpflichtet fühlte, ein uneheliches Kind des Ehemannes, von dem sie oft per Zufall erfuhr, anzuerkennen und gewissermaßen zur Familie zu rechnen, auch wenn es nicht im Haushalt lebte.18 Im besten Fall sorgte der Vater für seine Schulbildung und beteiligte es (nachrangig) am Erbe. Viele Männer unterhielten neben der ersten Familie eine zweite Familie mit einer Frau aus einer sozial unterlegenen Schicht, oft mit dunklerer Hautfarbe. In einigen Regionen Mexikos galt dies als normal und wurde mit den Begriffen casa grande (großes Haus) und casa chica (kleines Haus) semantisch anerkannt. Doch wurde diese doppelte Haushaltsführung nur Männern zugestanden. Frauen wurden zur Treue verpflichtet und setzten sich im Fall der Entdeckung einer sexuellen Affäre beträchtlichen Risiken und Gefahren aus. Ehemänner, die sich selbstverständlich zweite und dritte Frauen und auch häufige Kontakte mit Prostituierten leisteten, sahen (und sehen bis heute) durch eine sexuelle Affäre der Ehefrau ihre persönliche Ehre und die Ehre ‚des Hauses‘ verletzt. Die Verstoßung der Frau und die Scheidung, aber auch Gewalt und körperliche Verletzung, in extre­ mis die Ermordung der Frau sollen die Ehre wiederherstellen.19 Besitzende Familien bildeten im 19. Jahrhundert Familienallianzen oder Clans (solidarische Verbindungen zwischen verwandten ‚Häusern‘), die v. a. durch dynastische Heiratspolitik und wirtschaftliche Kooperationen von Brüdern hergestellt und ausgedehnt wurden. Bis ins 20. Jahrhundert wurden die Kinder von den Eltern 289

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 289

22.09.2010 07:50:31

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

nach Kriterien der wirtschaftlichen Vernunft verheiratet. Das schloss die Zustimmung der Söhne und Töchter keineswegs aus, konnte aber auch zu Konflikten führen. Der hausväterlichen Gewalt entkamen Kinder erst mit ihrer Verheiratung. Nicht nur wenn die extensiv betriebene Hacienda oder das Handelshaus sinkende Erträge abwarfen, war die Verheiratung eines Kindes mit dem Erben eines europäischen Handels- oder Bankhauses höchst willkommen. Viele Wirtschaftsbürger hingen von europäischem Kapital ab. Sie nützten Verwandtschaftsbeziehungen, um beiderseits des Atlantiks Niederlassungen zu errichten. Als vertrauenswürdig galten vor allem Verwandte in korrespondierenden Betrieben beiderseits des Atlantiks. Hier erfolgten familial-soziale, kulturelle und ökonomische interkontinentale Transfers und Vernetzungen, die sich oft über mehrere Generationen reproduzierten oder auch erweiterten. Seit dem 16. Jahrhundert wurde Finanzkapital von der katholischen Kirche verliehen  ; nach „Säkularisation“ und „Desamortisation“ (d. h. der Überführung von kirchlichem Eigentum in jenes des Staates sowie der folgenden Privatisierung, um die Bewirtschaft der oft brach gelegenen Ländereien zu fördern und daraus Steuern einzunehmen) kam es aus den Tresoren reicher Unternehmer- und Großgrundbesitzerfamilien in Spanien und in Lateinamerika, die es vornehmlich zwischen den Familienzweigen verliehen und borgten. Sie kon­ trollierten auf diese Weise nicht nur ihre eigenen Wirtschaftsbetriebe, sondern auch die wirtschaftlichen und politischen Vorgänge im Land und in der Region.20 Erst in den 1860er-Jahren eröffneten erstmals europäische Banken in Lateinamerika Filialen, und ein überregionales Kreditsystem entstand. Wirtschaftsfamilien und Clans wurden öffentlich von Familienoberhäuptern und Clanchefs repräsentiert. Die ökonomisch und politisch „unsichtbaren“ Frauen tüftelten die günstigsten (teils transatlantischen) Heiratsverbindungen aus, lenkten die Erziehung der Erben und führten das herrschaftliche Haus.21 Ein Zweig des Familienclans zog dann oft in die (oft neu gegründete) Hauptstadt, um deren Kommunikationsvorteile zu nutzen und sich der Staatsmacht anzunähern oder sich an ihr zu beteiligen. Das besondere Gewicht, das der Nepotismus 22 in Lateinamerika erlangte, hängt mit den familiendynastischen Strategien der besitzenden Familien und auch mit ihrer Klientelbildung und den Patenschaften zusammen. Die Patinnen und Paten der eigenen Kinder wurden fast ausschließlich aus dem eigenen Clan gewählt, jedoch übernahmen der Herr und seine Ehefrau auch zahlreiche Patenschaften für Kinder von Angestellten, Arbeitern, Bauern und häuslichem Personal. Dies stärkte zum einen die Loyalitätsbindungen innerhalb der Clans und schaffte zum anderen Klientelbeziehungen über Klassengrenzen hinweg. Je höher das Sozialprestige des Patrons, desto größer die Ausdehnung seines compadrazgo-Netzwerks. Um die hundert Patenkinder sollen nicht selten gewesen sein. Die Eltern der Patenkinder 290

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 290

22.09.2010 07:50:31

Haus und Familie

und diese selbst blieben dem Paten, der Patin und deren Nachfolgern verpflichtet und stets in ihrer Schuld. Das Patron-Klientel-System ‚ersetzte‘ zunächst Formen der staatlichen Sicherung für die Armen. Mit der politischen Unabhängigkeit der jungen Nationalstaaten im frühen 19. Jahrhundert gewann es noch weiter an Bedeutung, da zahlreiche postkoloniale Kriege und schwache Staatsadministrationen erhöhte Unsicherheit erzeugten. Kommunalpolitische Strukturen und sogar die politischen Parteien der jungen Nationalstaaten gingen mittelbar aus den PatronKlientel-Systemen hervor.23 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand in den großen Städten ein neues Bildungsbürgertum  : Aus den Wirtschaftsfamilien, aber auch aus den Familien der Offiziere, der gehobenen Beamten und der besser situierten Kaufleute gingen qua Universitätsstudium die Träger neuer selbstständiger oder beamteter akademischer Berufe hervor  : Anwälte, Notare, Ärzte, Apotheker, Professoren, Journalisten, Künstler (m/w). Als junge Frauen und Männer wählten sie ihre Intim- und Ehepartner zunehmend nach Kriterien der romantischen Liebe. Machten zunächst nur Männer, im späteren 20. Jahrhundert auch immer öfter Frauen Karrieren im Militär, in der staatlichen und kommunalen Verwaltung oder im Gesundheitswesen, fügten sie sich mit ihren beruflichen Kompetenzen in das Netzwerk der nützlichen Beziehungen der Familienclans. Daneben wurden auch laterale Cliquen der Brüder und Schwäger, Schwestern und Schwägerinnen sowie ausgewählter Schul- und Studienkollegen einflussreich.24 Die jungen Mittelschichtfamilien sahen sich im frühen 20. Jahrhundert den von Europa und Nordamerika ausgehenden Diskursen der Hygienebewegung, der Eugenik (mit teils rassistischen Zügen) und der Pädagogisierung und Psychologisierung der Elternschaft ausgesetzt. Einige Cholera- und Gelbfieberepidemien in den schnell wachsenden Städten führten zu einer medizinisch-pädagogischen Kampagne, die die alte Dienstbotenkultur der Semi-Bourgeoisie desavouierte (die meist mestizischen oder schwarzen Ammen galten nun als Krankheitsüberträger und störten die erwünschte Intimität der „Kleinfamilie“). Mütter wurden durch Gesundheits- und Schwangerenberatung auf das Stillen und die kompetente Pflege ihrer Babys und Kleinkinder hin orientiert, Männer an ihre Pflichten als väterliche Erzieher gemahnt. Doch ähnlich wie in Europa und oft noch stärker blieben die Doppelmoral und das Nebeneinander von formellen und informellen Intimbeziehungen und Elternschaften verbreitet. In den 1970er- und 1980er-Jahren vollzog sich eine neue Welle der Missionierung, diesmal durch protestantische Missionare. Mehr als 40 Millionen Menschen wechselten zu regionalen protestantischen Kirchen und bemühten sich – entgegen den mestizischen Traditionen – ein monogames Eheleben zu führen.25 291

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 291

22.09.2010 07:50:31

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

Mädchen und junge Frauen profitierten ab den 1980er-Jahren vom Ausbau und von der Demokratisierung der öffentlichen Erziehung in einigen lateinamerikanischen Ländern, nahezu ausschließlich aber in den Städten. Berufe wie Lehrerin (maestra), Ärztin oder Anwältin schienen zunächst nur für ledige Frauen passend, wurden dann aber auch für verheiratete Frauen möglich. Dies erzeugte die Doppelbelastung der städtischen Mittelschichtfrauen durch Erwerbsarbeit und Familienarbeit, machte sie aber auch unabhängiger vom Erwerbseinkommen des Mannes und ließ im Fall von schweren Konflikten und Unzufriedenheit Trennungen eher zu. Allerdings haben Chile und Argentinien, bedingt durch die autoritär-patriarchale Ideologie ihrer Militärdiktaturen und gesellschaftlichen Eliten, die Scheidung im Vergleich zu anderen Ländern Lateinamerikas, zu China und Europa erst sehr spät – Argentinien 1986 und Chile als letzter Staat Lateinamerikas erst 2003 – eingeführt.26 In städtischen Mittelschichtfamilien mit berufstätigen Elternpaaren wurde und wird ein erheblicher Teil der Hausarbeit und der Kinderbetreuung an häusliches Personal (großteils aus der ländlichen Umgebung) delegiert. Auch dieses Dienstverhältnis hat eine spezifisch lateinamerikanische Ausprägung, die auf die spanische Kolonialherrschaft zurückgeht, da in ländlichen Gebieten, etwa von Peru und Ecuador, „Indio“-Mädchen verpflichtet waren, eine gewisse Zahl von Tagen in spanischen Familien Dienst zu tun. Heute nehmen städtische Mittelschichtfamilien Mädchen aus kleinbäuerlichen Familien umliegener Dörfer auf. Kleinbauern versuchen, ihre Töchter bei angesehenen Familien in der Stadt unterzubringen  ; dazu wird auch der compadrazgo genützt. Da Töchter in kleinbäuerlichen Familien kräftig arbeiten müssen und von Eltern und Brüdern oft schlecht behandelt werden, kann der Wechsel in einen städtisch-bürgerlichen Haushalt für sie emanzipatorisch sein. Wenn Kleinbauerntöchter den Halbkontinent verlassen und nach Nordamerika oder Europa emigrieren, warten hier ähnlich prekäre Jobs in privaten Haushalten oder in der Altenpflege auf sie. Sie bilden eine Art transkontinentale Haushaltsarmee, die im eigenen wie im fremden Land die Reproduktion der Mittel- und Oberklassen sicherstellt. Familienleben im portugiesisch dominierten Teil Lateinamerikas

In Brasilien und in der Karibik (inklusive der Nordostflanke Südamerikas) bildeten nicht Indigene die Unterschicht, sondern afrikanische Sklaven und deren Nachkommen. Sie lebten und arbeiteten auf den Zuckerrohrplantagen im Nordosten Brasiliens und in der Karibik sowie als Arbeiter, Handwerker und Hauspersonal in den großen Städten der Ost- und der Südküste Brasiliens. Noch in der Diaspora waren 292

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 292

22.09.2010 07:50:31

Haus und Familie

sie von afrikanischen Kulturen geprägt. Sie schufen kreative religiöse Synkretismen wie Voodoo, eine kreolische Religion auf Haiti und Jamaika, oder Candomblé in Brasilien. Die Organisation der Sklavenarbeit auf den Zuckerrohrplantagen zerstörte afrikanische Familientraditionen, begünstigte die Auflösung von Paarbeziehungen und die Bildung von Mutter-Kinder-Familien. Die meisten Geburten erfolgten auch hier nicht-ehelich  ; der Kindesvater sorgte selten dauerhaft für das Kind. Nach dem Verbot der Sklavenwirtschaft förderten Bergbau, Eisenbahnbau und die exportorientierte Plantagenwirtschaft eine geschlechterspezifische Mobilität der afrokreolischen Unterschicht  : Männer zog es in die Bergbauminen v. a. im Süden Brasiliens  ; Frauen hingegen wanderten in die rasch wachsenden Städte (wie São Paulo), wo sie als Wäscherinnen, Näherinnen und in diversen Heimindustrien Arbeit fanden. Ledige Frauen (oft mit einem Kind oder mehreren Kindern) schlossen sich zu Gruppen zusammen und führten gemeinsame Haushalte  : agregados (auch allegados). Andere nahmen Untermieter und Schlafgänger in ihren Haushalt auf (vergleichbar den „Aftermietern“ und „Bettgehern“ in Arbeiterhaushalten westund mitteleuropäischer Städte, s. u.). Für viele, die eben erst vom Land zugewandert waren, stellte ein solcher Gruppenhaushalt oft die einzige Möglichkeit dar, in der Stadt Fuß zu fassen.27 Auch viele Saisonarbeiterinnen der landwirtschaftlichen Betriebe bildeten derartige Wohngemeinschaften. Das rasche Wachstum großer Städte an den Küsten Brasiliens führte in der zugewanderten besitzlosen Bevölkerung zur Verbreitung der vaterlosen, mutterzen­ trierten Familien mit Bindungen an Verwandte und Freunde. Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden etwa die Hälfte der Haushalte in den Städten und etwa ein Drittel aller Haushalte auf dem Land von Frauen geleitet.28 In den favelas überwog diese Familienform ebenso wie in den Slums von Mexiko-Stadt. Wie alle Lebenswelten haben favelas ihre eigenen Regeln. Organisation und Verteilung von Lebensmitteln und Mahlzeiten beziehen nahe Verwandte, aber mitunter auch Nachbarn und Nachbarinnen ein. Ledige und alleinstehende Jugendliche und Erwachsene konsumieren reproduktive Leistungen eines Familienhaushalts, mit dem sie verwandt oder befreundet sind.29 In den Millionenstädten Brasiliens (São Paulo, Rio de Janeiro u. a.) wachsen inzwischen fast zwei Drittel der Kinder, in Porto Alegre ein Viertel in Mutter-Kinder-Haushalten auf. Sie werden von der Mutter und zeitweise von der Großmutter aufgezogen. Nur etwa zehn Prozent aller Eltern sind verheiratet.30 Die Frauen können von einer Eheschließung und dem legalisierten Zusammenleben mit einem Mann wenig Stabilität erhoffen. Auch ihre Intimbeziehungen sind von wirtschaftlicher Not, Gewalt, sexueller Untreue und Drogenmissbrauch bedroht und oft kurzlebig. Infolge der halboffenen Haushalte und der hohen Wohndichte in den favelas ist das Scheitern vieler ehelicher und uneheli293

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 293

22.09.2010 07:50:31

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

cher Beziehungen unübersehbar  ; für romantische Illusionen ist hier kaum Platz. Zwei zentrale Momente des west-christlichen Ehe- und Familienmodells haben im weitaus größten Teil der Bevölkerung keine handlungsbestimmende Geltung  : das Rollenmodell des Mannes als verantwortlicher, zuverlässiger Familienvater und die Unterwerfung von Frau und Kindern unter seine Herrschaft.31 Männer üben Herrschaft nicht als religiös und staatlich legitimiertes Institut des pater familias aus, sondern situativ und kraft ihrer körperlichen Überlegenheit  ; ihre Herrschaft ist nicht patriarchal, sondern phallokratisch. Wie auf allen Kontinenten sind auch in Lateinamerika die Regime der Reproduktion mit den Regimen der wirtschaftlichen Produktion und Distribution und der staatlichen Politik verbunden. Es sind Unternehmen, Bürokratien und staatliche Politik- und Rechtssysteme, die Arbeitsplätze schaffen oder vernichten, Arbeitszeiten und Lohnverhältnisse regeln und ungleiche Geschlechterlöhne bezahlen resp. erlauben. Und es sind die politischen Regime, die bestimmte familien-, bevölkerungs-, bildungs- und gesundheitspolitische Maßnahmen setzen oder unterlassen. Beispielsweise wurde die Mexikanische Revolution (1910 ff.) zwar u. a. von einer international orientierten, feministischen Bewegung mit getragen, konnte aber am geringen Ausmaß männlicher Beteiligung am Familienleben wenig ändern. Eheund Familienrecht sind seither Angelegenheit der mexikanischen Bundesstaaten, die sich sehr uneinheitlich verhalten. 2003 wurden in Chiapas, einem der wirtschaftlich ärmsten Bundesstaaten Mexikos, die sog. Caracoles gegründet, fünf regionale Verwaltungszentren, in denen die „Juntas der Guten Regierung“ der Zapatistischen Bewegung32 ihren Sitz haben. Zu ihrer Autonomie gehören der Aufbau eines regierungsunabhängigen Gesundheits- und Bildungssystems, einkommenschaffende Projekte sowie Infrastrukturprojekte. Eine eigene Gesetzgebung erließ u. a. ein „Revolutionäres Recht für Frauen“, darunter das Recht, sich gegen eine ihnen von Eltern aufgezwungene Ehe zu wehren.33 Der sozialistische Staat Kuba erließ 1975 ein neues Familiengesetz, das vollständige Gleichberechtigung von Frauen und Männern und ihre gleiche Verpflichtung zur aktiven Elternschaft und zur Hausarbeit vorsah. Das Zusammenleben als unverheiratetes Paar wurde rechtlich anerkannt. Die Kategorie des Familienoberhauptes ( jefe de familia) wurde aus statistischen Gründen beibehalten, doch ist es Frauen und Männern überlassen, ob sie sich so definieren. 1995 erklärten 36 Prozent aller kubanischen Haushalte und knapp mehr als die Hälfte aller Haushalte in Havanna, jefe de familia sei die Frau.34 Offensichtlich sind sehr viele Familien weiterhin frau- und mutterzentriert, und dies unabhängig davon, ob die Frau mit einem Mann in intimer Beziehung zusammenlebt oder nicht. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der wirtschaftliche Boykott durch die USA brachten das auf we294

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 294

22.09.2010 07:50:31

Haus und Familie 6

RU RU

RU

Scheidungen pro Jahr auf 1.000 Einwohner/-innen

5

4

3

2

1

0

UY

UY PR, UA

KR, UY AU, GB AT, DE JP CU, FR

KR AU, DE AT CU FR JP

GB AU DE AT, CU JP FR

PL ES CN MX, IT

PL ES CN IT MX

GT

GT

2002

PR UA

PR, UA KR

2003

PL CN ES

RU RU PR UA

AU, KR FR AT, DE CU JP PL ES CN

UA

KR AT DE, FR JP PL

IT MX

IT MX

MX

GT

GT

CL GT

2004

2005

2006

Abbildung 1: Grobe Scheidungsraten (Scheidungen pro Jahr auf 1000 Einwohner/innen in ausgewählten Staaten 2002–2006 Legende: Australien (AUS), Chile (CL), China (CN), Deutschland (DE), Frankreich (FR), Guatemala (GT), Italien (It), Japan (JP), Kuba (CU), Mexiko (MX), Österreich (AT), Polen (PL), Puerto Rico (PR), Republik Korea (KR), Russland (RU), Spanien (ES), Ukraine (UA), Großbritannien (GB), Uruguay (UY); Quelle: Eigene Darstellung nach UN Demographic Yearbook 2006, Tabelle 25

nige Exportgüter angewiesene Kuba in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten. Drückende Wohnungsnot zwingt seither viele junge Paare, bei ihren Eltern zu leben  ; oft steht ihnen nicht einmal ein eigenes Zimmer zur Verfügung. Geschiedene Frauen kehren mangels Alternativen in den elterlichen Haushalt zurück. Aus Wohnungsnot entsteht eine hohe Zahl von Dreigenerationenhaushalten. Auch sie sind nicht patriarchal, sondern frau- und mutterzentriert. In Brasilien dürfte die große Zahl informeller (eheloser) Mutter-Kinder-Familien dazu beigetragen haben, dass der Gesetzgeber 2001 das Institut des männlichen ‚Familienoberhauptes‘ aus dem Ehe- und Familienrecht tilgte. Ganz anders sind die Familienverhältnisse in Chile und Argentinien. Hier stärkten die Militärdiktaturen das „weiße“, patriarchale und christlich geprägte Familienmodell und die Vorherrschaft des Mannes in Ehe und Erziehung  ; die Demokratisierung der Ehe- und Familienpolitik und die Einrichtung der gerichtlichen Scheidung wurden hier erst sehr spät in Angriff genommen. Bis heute gibt Argentinien keine offiziellen Scheidungsziffern bekannt. Chile teilte nach Einführung der Scheidung 2003 den Vereinten Nationen erstmals für das Jahr 2006 eine sehr niedrige Scheidungsrate mit (s. Abb. 1). 295

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 295

22.09.2010 07:50:31

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

Resümee  : Vier Regime der Reproduktion in Lateinamerika

Aus dem Kulturkontakt und Kulturkonflikt indigener Völker, afrikanischer Sklaven und südwesteuropäischer Eroberer entstanden zumindest vier35 gut unterscheidbare Regime der Reproduktion  : (1) die mutterzentrierte und oft ehelose Familie der mestizischen Unterschicht, (2) das offiziell häufig ehelose Familienleben der indigenen Kleinbauern, bei denen einer christlichen Eheschließung in einigen Andenregionen eine legitime Probeehe vorausgeht, (3) die patriarchale und paternalistische Wirtschaftsfamilie der grundbesitzenden und semi-bourgeoisen Oberschicht, und (4) die bildungsbürgerliche Familie der postkolonialen städtischen Mittelschicht. Der Großteil der Bevölkerung, der ethnisch vermischt und in verschiedenen Tönungen ‚farbig‘ ist, lebt bis heute überwiegend in (1) mutterzentrierten Familien, meist ohne die dauernde Teilnahme eines Mannes und aktiv sorgenden sozialen oder leiblichen Vaters der Kinder. Das ‚Haus‘ oder besser  : die Hütte ist halboffen und in informell-genossenschaftliche Systeme integriert, in den Nachbarschaften der Dörfer ebenso wie in den großstädtischen Slums und Favelas. Die Mütter der Frauen, Nachbarinnen, Freundinnen, Brüder und Paten bilden soziale Netzwerke und „rituelle Verwandtschaften“. Davon unterscheiden sich (2) die Familienverhältnisse der Indigenen, die ihre Rituale und Bedeutungssysteme (wie u. a. jene der Probeehe/sirvinacuy in den Anden) mit jenen der katholischen Kirche, zuletzt auch diverser protestantischer Neukirchen synkretistisch verbinden und der zivilen Eheschließung nur wenig abgewinnen können. Ihre Kinder gelten der staatlichen Administration als unehelich, werden aber in der Bevölkerung als hijos naturales anerkannt. Gänzlich anders, ja in vieler Hinsicht konträr, ist (3) die patriarchale, patrilineale und paternalistische, politisch oft einflussreiche Wirtschaftsfamilie der Ländereien und Unternehmen besitzenden, semi-bourgeoisen Oberschicht. Sie ist durch die Zweckrationalität der Partnerwahl geprägt, unterwirft die Ehefrau einem strengen Sexualregime und gewährt nur dem Mann sexuelle Freiheiten. Alle Hausarbeiten und ein Großteil der Kleinkinderbetreuung delegiert sie an eine funktional ausdifferenzierte (indigene, mestizische oder schwarze) Diener- und Arbeiterschaft. Die in sich verschränkte („intersektionale“36) Hierarchie der Geschlechter, Hautfarben, Klassen und Religionen ist in ihren herrschaftlichen Häusern wie unter dem Brennglas zu sehen. Die Ehefrau wird von körperlicher Arbeit völlig entlastet und beherrscht das social networking und die dynastische Familien- und Heiratspolitik. Partnerwahl, Heirat, Elternschaft, Erziehungsstil, Schul- und Universitätskarriere folgen möglichst der ratio des jeweiligen Familienunternehmens. Über die Klassengrenze hinweg bilden Wirtschaftsfamilien die herrschende Seite in Patron-Klientel-Systemen. Sie gewinnen daraus treue Dienstboten, Arbeitskräfte und leitende Angestellte (m/w) und, sofern 296

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 296

22.09.2010 07:50:32

Haus und Familie

sie in politische Funktionen treten, auch politische Verbündete und Anhänger (m/ w). Clans, Cliquen und Klientel nützen den landwirtschaftlichen, kaufmännischen und industriellen Unternehmen  ; ab dem frühen 19. Jahrhundert und nach Transformation in ‚nationale‘ Eliten helfen sie auch dazu, politische und ökonomische Macht (v. a. Grund- und Immobilienbesitz) im Land, in Stadtverwaltungen und im Staat zu erlangen und zu vermehren. – Erst im späten 19. und 20. Jahrhundert entstand unter starker Einwirkung kultureller Transfers aus Westeuropa und Nordamerika (4) die bildungsbürgerliche Familie urbaner Mittelschichten, oft mit mittlerer oder akademischer Bildung und im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zunehmend häufiger mit gleichen oder ähnlichen Bildungsgraden von Mann und Frau. Junge Männer und Frauen übernahmen das Konzept der romantischen Liebe  ; eine protestantische Mission in den 1970er- und 1980er-Jahren machte sich für die christliche Familie und die Treue der Ehegatten stark. Auch pädagogische und psychotherapeutische Diskurse (letztere v. a. in Buenos Aires und anderen großen Städten) forcierten die verantwortliche Elternschaft von Frau und Mann. Doch blieben auch in den städtischen Mittelschichten viele Männer in der postkolonialen Gemengelage von Kulturkomponenten anfälliger für Doppelmoral, machismo und häusliche Gewalt.

China Über Jahrhunderte lebte die Mehrzahl der Bevölkerung Chinas als Bauern, BauernHandwerker37 und Kleinkaufleute auf dem Land. Die meisten chinesischen Bauern bewirtschafteten nur etwa einen Hektar Land  ; größerer Grundbesitz war – nach langen Serien von Grundteilungen ausschließlich unter den Söhnen – relativ selten. Die typische Bauernfamilie ernährte sich von selbst erzeugten Lebensmitteln und verkaufte Anbauprodukte und selbst gefertigte Textilien und Werkzeuge auf dem lokalen Markt.38 Frauen und Mädchen arbeiteten (von klein auf ) in der Seidenraupenzucht, beim Spinnen und Weben und im Haushalt, doch fast nie auf dem Feld. Männer und Buben verrichteten Feldarbeit, gingen zum Fischen und Angeln. Während Töchter meist schon um das 13. bis 16. Lebensjahr aus dem Haus gegeben und von den Müttern der Ehemänner in deren Haus erzogen und nach späteren Maßstäben häufig misshandelt wurden, blieben Söhne meist über den Tod des Vaters im Elternhaus. Viele warteten den Tod der Mutter ab, um dann das Anwesen unter den Brüdern zu teilen. Auch wenn sie danach mit ihren Ehefrauen und Kindern jeweils in getrennten Haushalten lebten, blieben sie doch unter einem Dach (baulich meist ein Komplex von mehreren aneinander gekoppelten Häusern mit einem gemeinsamen Hof und einem Hofeingang, die Felder ringsum). Sie trafen 297

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 297

22.09.2010 07:50:32

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

einander regelmäßig, um Fragen der Haus- und Landwirtschaft zu besprechen. Die Führungsautorität lag beim ältesten Mann, der der Vater der mitlebenden Söhne oder der Älteste unter den Brüdern war. Familiensoziologie und Historische Familienforschung sprechen von einer patriarchalen und patrilinealen joint family  : mehrere Eltern-Kinder-Gruppen lebten unter einem gemeinsamen Dach und unter der Autorität eines Ältesten der männlichen Linie. (Sehr oberflächlich gesehen ist es dieselbe Haushaltsstruktur, die wir auch bei leibeigenen Bauern in Zentralrussland, in Gebieten des Balkans und in Teilen Südeuropas kennenlernen werden, s. u.) Die chinesische joint family soll mitunter durch unverheiratete oder verwitwete Brüder, Großväter oder Onkeln und – in reicheren Haushalten – auch durch eine Konkubine des Patriarchen (s. u.) erweitert gewesen sein. Der Patriarch stellte die Verbindung zu den verstorbenen (männlichen) Ahnen her und gründete darauf seine weltlich-spirituelle Autorität. Dies gilt als die ‚klassische‘ oder ‚feudale‘, weil auf Grundbesitz und patriarchales Recht gegründete altchinesische Familie.39 Während der Mann nur eine Ehefrau haben konnte und Bigamie nach dem Rechtssystem der Qing-Dynastie (1644–1911) mit 90 Bambusschlägen bestraft wurde, waren ihm Nebenfrauen (Konkubinen) bis zum Ende der Monarchie gestattet. Allerdings konnten sich das nur größere Bauern, wohlhabende Händler und kaiserliche Beamte leisten. Die Konkubine lebte in einem der gekoppelten Häuser und die Ehefrau hatte sie zu respektieren. Ihre Kinder waren ebenso legitim wie die Kinder der Ehefrau. Der Ehefrau wurde absolute Treue abverlangt, selbst nach dem Tod des Ehemannes. Unter der Herrschaft der Qing (Mandschu) bestand ein Kult um die „keusche Witwe“  ; viele Witwen folgten (ähnlich dem indischen sati 40) ihren Ehemännern in den Tod. Um die Söhne auf ihre Seite zu ziehen, intrigierten Mütter gegen die Schwiegertöchter. Die Ehe war in China (im Unterschied zu Europa und dem hispanischen Amerika) immer eine weltliche Angelegenheit. Scheidung war bis zur Gründung der Volksrepublik (1949) ein Privileg der Männer  ; sie wurde (relativ selten) von Männern beantragt und aus folgenden Gründen anerkannt  : Versäumnisse der Frau bei der Sorge um die Eltern des Mannes, Tratschsucht der Frau, Eifersucht der Frau auf die Konkubine.41 Das Rechtssystem der Qing-Dynastie kannte aber auch – einzigartig in der Welt – die obligatorische Scheidung im Fall der Misshandlung von Schwiegereltern (durch die Frau), von Inzest und dem Verkauf von Mädchen und Frauen zu Zwecken der Prostitution.42 Wurde die Ehefrau auf Betreiben des Mannes geschieden, stand sie vor dem Nichts, da sie nicht in ihr Elternhaus zurückkehren konnte  ; geschiedene Frauen begingen häufig Selbstmord. Die Ehe war ein weltlicher Vertrag, der v. a. die Verpflichtungen der Frau im Haus regelte. Das feudal-chinesische Haus war regulierte Gewaltherrschaft über die Ehefrau, die der Ehemann und die Schwiegermutter arbeitsteilig ausübten. 298

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 298

22.09.2010 07:50:32

Haus und Familie

Die europäische Expansion erreichte China erst im 19. Jahrhundert – also viel später als Lateinamerika – und betraf vornehmlich die Küstengebiete und Hafenstädte.43 Allerdings durften sich west-christliche Missionare und Reisende aufgrund der „ungleichen Verträge“, welche die Kolonialmächte diktiert hatten, auch im Landesinneren bewegen. Die Rebellion der Taiping (1850–1865), unmittelbar nach dem ersten Opiumkrieg der Briten, erfasste Mittelchina und Teile von Süd- und Nordchina. Ihr Anführer war mit der christlichen Lehre in Berührung gekommen und hielt sich, nach Visionen, für den jüngeren Bruder von Jesus und dazu auserwählt, die Welt zu retten. Anfang 1851 rief er das „Himmlische Reich des Großen Friedens“ (tai-ping tian-guo) aus. Die Taiping eroberten 16 Provinzen und 600 Städte und hielten sich 15 Jahre lang. Sie formulierten ein revolutionäres Sozialprogramm, das die Kollektivierung von Grund und Boden vorsah, aber auch die Gleichstellung von Mann und Frau, Eltern und Kindern. Sie verboten das Füßebinden,44 die Vergewaltigung und das Einsperren der Frau im „Inneren des Hauses“, Mädchenhandel und Polygamie. Ehen sollten auf der freien Wahl der Ehepartner und auf Zuneigung beruhen. Dieses sozialrevolutionäre Programm war Bezugspunkt für alle folgenden emanzipatorischen Bewegungen  : die „Selbststärkungsbewegung“ der 1860er- und 1870er-Jahre, mehrere Gesellschaften gegen das Füßebinden, die „Hundert-TageReform“ 1898, revolutionäre republikanische Geheimgesellschaften und vor allem die „Bewegung des 4. Mai“.45 Nach dem Sturz der Qing-(Mandschu)-Dynastie 1911 und dem Beginn der republikanischen Ära (1912–1949) gerieten die konfuzianischen Familienideale und -praktiken in die Kritik der Intellektuellen und Studenten der „Bewegung des 4. Mai“ – eine ausgesprochen kosmopolitische Generation, allesamt Söhne von Grundbesitzern, Beamten und Gelehrten.46 Sie orientierten sich an westlicher Wissenschaft und lehnten den Konfuzianismus47 ab. Sie forderten eine „Kulturrevolution“ in einem unabhängigen China, richteten sich also gegen die imperialistischen Interessen Japans und westlicher Mächte. Sie verlangten die Befreiung der Frau und das Recht auf Liebesheirat. Immer noch wurden Mädchen sehr jung und oft gegen ihren Willen verheiratet  ; keineswegs nur in bäuerlichen Familien, wo die Frauen seit Jahrhunderten von der wichtigsten Ressource, dem Besitz an Boden, ausgeschlossen waren. Eine 1912 geborene Frau war im Alter von 13 Jahren mit einem Eisenbahnarbeiter verheiratet worden. Sie erzählt  : “I was married at the age of 13. Most girls married around this age. The marriage was arranged by both of our parents. At that time I knew nothing about marriage, and my periods had not come. I met my husband for the first time at the wedding. For the first week of my marriage, I cried continuously. My husband was five years older then me. He beat me every day for fun, and my mother-in-law praised him for doing it.[…] I 299

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 299

22.09.2010 07:50:32

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

was not allowed to eat at the table, so I just ate in a corner. Women had no freedom, I was just like a slave in the house.”48

Häusliche Gewalt gegen die Ehefrau galt als funktional, romantische Liebe als gefährlich für Haus und Familie. Intellektuelle machten sich zum Anwalt der Frauen. Henrik Ibsens Nora wurde ins Chinesische übersetzt und ein Bestseller. 1931 erschien der Roman Die Familie, die teils fiktive, teils autobiografische Chronik einer chinesischen „feudalistischen Großfamilie“.49 Viele Frauen sollen in diesem literarisch erzeugten Boom ihre Männer verlassen haben. Unter dem Eindruck der russischen Oktoberrevolution wurde aus Teilen der StudentInnen- und Intellektuellen-Bewegung des 4. Mai 1919 eine politische Bewegung unter kommunistischer Führung (Gründung der KP Chinas 1921).50 Sie propagierte den Kampf gegen die von den Eltern arrangierte Ehe, den Frauenkauf, die Kinderheirat und das Konkubinat.51 Die Nationale Volkspartei (Guomindang) und ihr nationalistischer Führer Chiang Kai-shek52 gerieten durch die Popularität dieser Forderungen in den gebildeten städtischen Schichten unter Druck. Sie erließen daher 1931 ein Ehegesetz, das einige dieser Forderungen aufnahm und bis 1950 galt. Es sah vor, dass die Ehe nur von den Partnern selbst zu schließen sei. Es nahm Anleihen beim deutschen und Schweizer Familienrecht (!) und gestand dem Ehemann und Vater das Recht zu, den Wohnort, die Erziehung der Kinder etc. zu bestimmen. Auch das Bürgerliche Gesetzbuch von 1934 nahm dieselben westlichen Normen auf, soll aber, abgesehen von einer gewissen Orientierung der gebildeten Schichten, wirkungslos geblieben sein.53 Die Nationalisten strebten nach einem starken Staat auf der Grundlage des von der Neuen Kulturbewegung forcierten anti-konfuzianischen Individualismus. Sie attackierten die „feudale“ chinesische Familie aus der individualistischen und nationalistischen Position. Die eben erst zu Kommunisten gewordenen Intellektuellen hingegen bekämpften die „feudale“ chinesische Familie vor allem, weil sie eine Hälfte der Bevölkerung von der produktiven Arbeit ausschloss und der häuslichen Herrschaft des Ehemannes und der Schwiegermutter unterwarf. So schien das Ende der feudal-chinesischen Familie bei jedem Ausgang des Bürgerkriegs besiegelt. Freilich mischten sich die Kommunisten schon während des Bürgerkriegs in den von ihnen kontrollierten Gebieten und dann in der Volksrepublik ungleich stärker in das Familienleben ein, als es die westlich-individualistisch orientierten Nationalisten jemals getan hätten und es nach ihrem Rückzug auf Taiwan taten.54 Nach 20 Jahren Bürgerkrieg gründeten die Kommunisten unter der Führung von Mao Tse-tung 1949 die Volksrepublik China. Zum ersten Mal seit 1911 gab es wieder eine politische Zentralgewalt, die das gesamte Staatsgebiet kontrollierte.55 1950 erließ die Regierung gleichzeitig mit der Landreform ein neues Ehegesetz. Sie 300

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 300

22.09.2010 07:50:32

Haus und Familie

plante zunächst die Neuordnung der bäuerlichen Verhältnisse, um die Ernährung der Bevölkerung zu sichern. Untersuchungskommissionen registrierten die Opfer des alten feudalen Familiensystems  : Frauen, die als junge Mädchen gegen ihren Willen verheiratet worden waren, und Konkubinen sagten in Gerichtsverfahren gegen Großgrundbesitzer und größere Bauern aus. Das Regime verknüpfte die Bodenreform mit der Familienrechtsreform, die eine Welle von Scheidungen auf Antrag von Frauen nach sich zog. In den folgenden Jahren stieg das durchschnittliche Heiratsalter der Mädchen kontinuierlich an, wovon sich die chinesische Führung nicht nur eine Befreiung der Mädchen und jungen Frauen aus dem feudalen Familiensystem, sondern auch eine Senkung der Geburtenrate im Kampf gegen Hungersnöte versprach. Das Ehegesetz von 1950 ähnelt stark jenem der Nationalisten von 1931. Im Artikel 1 dekretiert es ein „neues demokratisches Ehesystem“ mit freier Partnerwahl und den gleichen Rechten für Mann und Frau  ; Artikel 2 verbietet die arrangierte Ehe, die Kinderheirat, den Kauf und Verkauf von Töchtern und Frauen, Bigamie und Konkubinat, auch den Transfer von Vermögen im Zuge der Heirat  ; Artikel 7 weist Ehemann und Ehefrau denselben Status im Haushalt zu  ; Artikel 9 gibt Mann und Frau gleichermaßen das Recht, „produktive Arbeit“ resp. einen Beruf auszuüben und am öffentlichen Leben teilzunehmen.56 Die Bodenreform setzte eine maximale Grundgröße fest, verbot das Zupachten von Grundstücken und führte zur Ausbildung von Haushalten mit durchschnittlich 4,2 Mitgliedern. 1958 begann die KP auf dem Land sog. Volkskommunen einzurichten  ; die Familienhaushalte wurden in Genossenschaften von einigen Tausend Frauen, Männern, Kindern und Jugendlichen integriert. Volkskommunen betrieben kollektiv Landwirtschaft, mit handwerklichen Betrieben, Schulen, Kindergärten und Wohnsiedlungen. Dabei berief sich die kommunistische Führung ausdrücklich auf die religiöse (quasichristliche) Taiping-Revolution (s. o.). Die Einrichtung der Volkskommunen sollte die Kosten der Reproduktion senken und die Erziehung radikal verändern. Häuser, Möbel, Küchengeräte, Werkzeuge wurden in Gemeinschafts­ eigentum überführt. Für Säuglinge und Kleinkinder der arbeitenden Mütter wurden Stillräume und Kinderkrippen geschaffen. Die Kommune machte die Familie als Institut der Reproduktion und der Erziehung keineswegs überflüssig, doch sollten genossenschaftliche Formen der Betreuung von Kleinkindern und pflegebedürftigen Alten sicherstellen, dass Frauen genauso wie Männer für „produktive Arbeiten“ auf dem Feld (wo sie im alten China selten gearbeitet hatten) und in den Werkstätten zur Verfügung standen. Diese Politik, als der „Große Sprung nach vorn“ propagiert, erregte in der betroffenen Bevölkerung teilweise passiven Widerstand. In einigen Landregionen blieb der erhoffte ökonomische Erfolg aus, v. a. in Reisanbaugebieten kam es zu Missernten und Hungersnöten. Der Plan der kommunistischen Führung, 301

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 301

22.09.2010 07:50:32

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

das Projekt der Volkskommunen in analoger Form auf die Städte und Industriebezirke auszuweiten, wurde fallengelassen. 1961 wurden die Kommunen ein erstes Mal reformiert. Jeder Haushalt erhielt – neben dem gemeinsam bewirtschafteten Land – eine Parzelle zur alleinigen Bebauung zugewiesen, deren Größe sich nach der Zahl der Familienmitglieder bemaß, was ersten Kampagnen zur Geburtenbeschränkung zuwiderlief. Jedoch blieben der Absatz der Produkte, die Zuteilung von Saatgut, die Vergabe von Punkten für Arbeitsleistungen, die Betreuung von Kleinkindern und alten Menschen etc. weiterhin kollektiv organisiert. Insofern waren die chinesischen Bauern und Bäuerinnen weiterhin landwirtschaftliche Arbeiterinnen und Arbeiter. 1973 besuchte eine amerikanische Delegation eine Landkommune nahe der Stadt Sian. Hier waren ca. 5.000 Personen organisiert. Die Kommune gliederte sich in mehrere Brigaden von etwa 1.000 Personen, diese bildeten mehrere Mannschaften von ca. 200 bis 300 Personen, die jeweils in etwa 40 Häusern (teilweise Mehrfamilienhäuser) eines Dorfes oder eines Flecken wohnten. In den kleinen, zwei- oder dreiräumigen Wohnungen lebten durchschnittlich vier bis fünf Personen. Ein junges Ehepaar hatte in der Regel ein Kind, manchmal zwei Kinder. Oft lebten Großeltern im selben Haushalt, manchmal auch ein verwitweter Urgroßelternteil. In anderen Fällen wohnten Großeltern gleich nebenan oder in Gehweite. Großeltern besorgten einen erheblichen Teil der Hausarbeit im Haushalt der verheirateten Kinder, unabhängig davon, ob sie hier oder in der Nähe wohnten. Sie gingen täglich einkaufen und bereiteten sehr häufig die Hauptmahlzeiten zu, sie brachten Schulkinder von und zur Schule und betreuten Kleinkinder. Mann und Frau der mittleren Generation gingen zur Arbeit in der Landwirtschaft oder im angeschlossenen handwerklichen Betrieb, der beispielsweise Werkzeug oder Kleider für die Angehörigen der Kommune herstellte. Zwischen den verheirateten Kindern und den Großeltern beobachteten die soziologisch und psychologisch geschulten Mitglieder der amerikanischen Delegation ein weitgehend freundliches und solidarisches Klima. Die Großeltern wurden respektiert und fühlten sich von Kindern und Enkelkindern wertgeschätzt. Großväter übten in keiner Weise autoritäre Führungsmacht aus, wie es der alten ‚feudalen‘ Familie nachgesagt wird. Großmütter zeigten nichts mehr von der grausamen Macht über ihre Schwiegertöchter. In der Kommunikation mit ihren Enkelkindern und Kindern wurde ihnen nicht zuletzt die Aufgabe zugeteilt, von der „Zeit der Bitterkeit“ im alten China zu erzählen.57 Auch die Industriepolitik folgte ab den 1950er-Jahren Konzepten der Verstaatlichung und der Kollektivierung. Innerhalb weniger Jahre wurden Großunternehmen verstaatlicht und zahlreiche halbstaatliche Betriebe errichtet, Handwerksund Handelsbetriebe in Genossenschaften umgewandelt. Der privatwirtschaftliche Sektor verschwand fast zur Gänze. Der Zugang zu industriellen Arbeitsplätzen, 302

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 302

22.09.2010 07:50:32

Haus und Familie

Wohnungen, Kindergärten und Schulen wurde fortan von den Verwaltungseinheiten (danwei) des Betriebes und „der Straße“ (des Wohnblocks oder -viertels) bestimmt. Sie kontrollierten Ausbildung, Studium und Arbeitsplatz, griffen sogar in die Partnerwahl58 und bei ehelichen Konflikten ein und diskutierten Fragen der Schwangerschaft, Abtreibung und Sterilisation. Die Diskussion über Familienplanung in der danwei war Voraussetzung für eine erlaubte Schwangerschaft.59 Die von Mao Tse-tung propagierte „Große Proletarische Kulturrevolution“ (1966– 1977) richtete sich gegen Überreste „feudaler“ Denk- und Lebensweise.60 Die von Jugendlichen gebildeten „Roten Garden“ misshandelten Personen, denen man solche Verfehlungen nachsagte. Aus heutiger westlicher Sicht inszenierte die Parteiführung einen Generationenkonflikt, der Millionen Familien vorübergehend oder endgültig zerriss. Arbeitslose Jugendliche, StudentInnen und Intellektuelle, denen die Kader misstrauten, wurden zu manueller Arbeit auf das Land verschickt, um bei den armen Bauern „zu lernen“. Zwischen 1966 und 1978 sollen insgesamt 20 Millionen Jugendliche – jeder zweite Jugendliche – für drei bis sieben Jahre die Stadt verlassen haben.61 Manche sollen dem Arbeitsdruck und der politischen Kontrolle nicht standgehalten haben, erkrankt sein oder Selbstmord begangen haben.62 Nach dem Tod Maos (1976) und dem verordneten Ende der Kampagne wurden die Roten Garden aufgelöst und die radikalsten ihrerseits zur „Erziehung“ auf das Land geschickt. Genau zu dieser Zeit (1976) entwickelte die Regierung auch ein neues Programm für eine „quantitative Bevölkerungskontrolle und qualitative Verbesserung der chinesischen Bevölkerung“. Durch den drastischen Rückgang der Säuglingsund Kindersterblichkeit (gewiss ein Erfolg der Regierung) war in den 1950er- und 1960er-Jahren die durchschnittliche Kinderzahl der Frauen von drei auf mehr als fünf Kinder angewachsen. Erste Kampagnen zur Geburtenkontrolle hatten keinen Erfolg. Nun wollte die Regierung die Norm der „Ein-Kind-Familie“ durchsetzen, um der befürchteten Verarmung von Millionen Menschen, Hungersnöten, sozialen Unruhen und innenpolitischen Krisen vorzubeugen. Wie schon im Ehegesetz von 1950 formuliert, sollten Frauen und Männer später heiraten und erst einige Jahre nach der Hochzeit das erste und einzige Kind auf die Welt bringen. Diese Leitlinie hatten die Provinzregierungen nach regionalen Besonderheiten umzusetzen, und so kam es zu zahlreichen Ausnahmeregelungen. In der Mandschurei und in einigen anderen Provinzen wurde ein zweites Kind erlaubt. Im Durchschnitt soll anfangs nur jede fünfte Familie eine Einzelkindfamilie gewesen sein. Positive Anreize, sich an die Norm zu halten, setzten die Provinzregierungen mit Prämien (eine Umkehrung des Kindergeldes in westeuropäischen Sozialstaaten), erhöhtem Urlaubsanspruch, garantiertem Kindergartenplatz, größeren Parzellen zur eigenen Bewirtschaftung, höheren Getreiderationen und Zuschüssen für die Versorgung und Ausbildung des 303

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 303

22.09.2010 07:50:32

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

Kindes. Eine besondere Polizei sorgte für zwangsweise Abtreibungen, führte Akten über Verhütungspraktiken der Frauen und entdeckte illegale Schwangerschaften. Aus dem Ziel, das Heiratsalter anzuheben und die Fruchtbarkeit zu senken, entstand moralischer Druck gegen vorehelichen Geschlechtsverkehr. In den Städten setzte sich die Ein-Kind-Norm – begleitet von wachsendem Leistungs- und Bildungsdruck – annähernd durch, auf dem Land jedoch nicht. Unterschiede im Familienleben in den Provinzen des riesigen Staates und dessen verschiedenen Ethnien können hier – aus Platzgründen und auch mangels Daten und Informationen – nicht dargestellt werden. In einigen überwiegend ländlichen Provinzen und außerhalb der Kommunen wurden im Durchschnitt noch immer vier Kinder geboren. Das konfuzianische Stammhalterdenken und der feudale Ahnenkult blieben hier weiter handlungsorientierend. Die materielle und soziale Versorgung alter Eltern durch erwerbstätige Kinder bei nicht ausreichenden Altersrenten bildete ein starkes sozial-ökonomisches Motiv für mehr Kinder. Diese konfuzianische Last trugen die Frauen, die sich gezwungen sahen, die Geburt eines Mädchens zu verheimlichen und Schwangerschaften mit weiblichen Föten abzubrechen. Die Regierung verbot deshalb, das Geschlecht vor der Geburt zu bestimmen. Ultraschalluntersuchungen zu diesem Zweck fanden in der Folge heimlich statt.63 Die Ein-Kind-Politik führte in Verbindung mit der Tradition, die männliche Erblinie zu erhalten, zu einem Ungleichgewicht zwischen den Geburtenzahlen von Jungen und Mädchen  : Kamen 1982 bereits 108,5 geborene Jungen auf 100 geborene Mädchen, ist das Verhältnis bis 2009 auf gut 120 zu 100 angestiegen. Derzeit hat China einen Männerüberschuss von ca. 50 Millionen. Ein Folgeproblem ist, dass viele Männer keine Frau finden. Fälle von Kidnapping (z. B. von vietnamesischen Frauen, die nach China verkauft werden) und der verbotene Kauf von Mädchen und Frauen im Land werden berichtet.64 Es wäre zu kurz gegriffen, dies nur auf die Armut oder die geringe Bildung der Landbevölkerung in China zurückzuführen. Dieselben Praktiken finden sich auch in den Mittel- und Oberschichten Südkoreas und Taiwans. Privatisierung der Ehe, wirtschaftliche Öffnung und Konsumorientierung

Ein 1981 verabschiedetes neues Eherecht rückte erstmals die Ideale der Partnerliebe und der freien Partnerwahl in den Vordergrund. Der Mangel oder der Verlust von Liebe zwischen den Ehegatten wurden ausdrücklich als Scheidungsgründe anerkannt. Anders als frühere, westlich beeinflusste Ehegesetze (s. o.), die den mentalen und sozialen Verhältnissen weit vorauseilten, anerkannte dieses Gesetz die bereits vollzogene Privatisierung und Intimisierung der ehelichen Beziehungen im Vergleich zu den 1950er bis 1970er-Jahren. Dementsprechend wurde die Ein-Kind304

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 304

22.09.2010 07:50:32

Haus und Familie

Politik gelockert, wo das Glück der Elternschaft gefährdet schien. Seit 2004 dürfen in Schanghai Geschiedene und wiederverheiratete Partner Nachwuchs bekommen, auch wenn sie schon ein Kind aus einer früheren Ehe haben. Auch Paare, die selbst Einzelkinder sind, dürfen seither ein zweites Kind haben. Scheidungen nehmen zu, obwohl ihre relative Häufigkeit infolge der enormen Bevölkerungsmassen auf dem scheidungsfeindlichen Land noch immer weit unter jener in Japan, in Korea, Russland, den USA und den meisten westeuropäischen Ländern liegt (s. Abb. 1). Nicht zufällig fiel die ‚Privatisierung‘ der Heirat und der ehelichen Intimbeziehung Anfang der 1980er-Jahre mit der sukzessiven „Öffnung“ der chinesischen Wirtschaft zusammen. Für die Bauern, die noch immer drei Viertel der Bevölkerung ausmachten, bedeutete die Abschaffung der Volkskommunen 1982 die faktische Rückkehr zum Familienbetrieb, auch wenn genossenschaftliche Strukturen mental wirksam blieben. Industriepolitisch schwenkte China auf einen marktwirtschaftlichen Wachstumspfad ein. Es importierte westliches industrielles Know-How durch den Einzug großer Konzerne (Thyssen-Krupp, BASF, Volkswagen, BMW, Siemens, Nokia, Addidas u. v. a.), und der Export in China erzeugter Industriewaren nahm von Jahr zu Jahr zu. Dies wirkte sich vor allem auf die Familien in den etwa 50 Millionenstädten und in den Industrieregionen aus. Erhöhte Bildungs- und Leistungsanforderungen, die verstärkte Konsumorientierung und ein zunehmend ausgeprägtes Freizeitleben veränderten den Familienalltag. Das typische abendliche Familienleben bestand nun aus einer gemeinsam eingenommenen Mahlzeit und zwei bis drei Stunden Fernsehen. Das staatlich kontrollierte TV-Programm transportierte neben Berichten aus der kommunistischen Politik auch westliche Konsumideale und Lebensstile in Spielfilmen, Werbespots und popkultureller Unterhaltung. Erstmals arbeiteten Chinesinnen und Chinesen nicht primär, um zu überleben, sondern um sich begehrte Konsumgüter zu leisten. Damit entstand eine Arbeitsmoral, die trotz aller mentalitätsgeschichtlichen Unterschiede mit jener der fordistisch-kapitalistischen Produktionsweise in Nordamerika und in Westeuropa (hier bis in die 1970er-Jahre) einige Ähnlichkeiten hatte. Auch in Chinas Großstädten stand die Konsumrevolution der letzten Jahre vor allem im Zeichen des privaten Personenkraftwagens, der nicht nur das Straßenbild, sondern auch den Horizont der Stadtbevölkerungen veränderte. Intellektuelle und künstlerische Avantgarden in Beijing plädierten in den 1990er-Jahren in qualitativen Interviews dafür, alternative Lebensstile, die ihnen v. a. aus internationalen TV-Programmen bekannt waren – wie jene der Singles, der schwul-lesbischen Beziehungen oder der Mutter-Kind-Familien –, auch in China zuzulassen.65 Doch für die allermeisten Chinesen blieben Ehelosigkeit oder schwul-lesbische Lebensweisen weiterhin undenkbar. Mit dem neuen Konsumismus in Chinas großen Städten ist vorerst keine Liberalisierung der heterosexuellen Ordnung verbunden. 305

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 305

22.09.2010 07:50:32

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

In den bevorzugten Wirtschaftsregionen dominieren inzwischen die Niederlassungen internationaler Konzerne mit geringer Kontrolle durch Staat und kommunistische Partei. Wohl auch deshalb nehmen hier Diskriminierungen von Frauen wieder zu. Unternehmensleitungen bemühen das alte patriarchale Argument vom Mann als Familienerhalter. Der kommunistische Staat akzeptiert weiterhin ein familienökonomisches Modell, in welchem die Frau etwa zehn Jahre vor dem Mann in die Alterspension geht, um dann Enkelkinder, Kinder ihrer erwerbstätigen Kinder, zu betreuen, wie dies schon in den Landkommunen und in den Industrievierteln zur Zeit der Kulturrevolution (s. o.) der Fall war. Viele pensionierte Frauen übernehmen nach wie vor einen erheblichen Teil der Hausarbeit im Haushalt eines verheirateten Kindes, v. a. den täglichen Einkauf, die Herstellung von Mahlzeiten und die Betreuung der Kleinkinder. In jedem fünften Haushalt leben drei oder sogar vier Generationen zusammen.66 Dies erleichtert es den jungen Müttern und Vätern erheblich, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Versorgungsleistungen gegenüber Kindern und Enkelkindern erbringen pensionierte Frauen auch dann, wenn sie nicht im selben Haushalt, aber in der Nähe leben. Pensionierte Großväter kümmern sich um Enkelkinder, bringen sie in den Kindergarten und in die Schule. Durch die Integration in genossenschaftliche Systeme der danwei, der Nachbarschaft, der überaus engen Kooperation mit Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen und nicht zuletzt durch die Erwerbsarbeit der ledigen wie der verheirateten Frauen (die Erwerbsquote der Frauen liegt angeblich um die 90 Prozent) hat die älteste Generation die autoritäre Führungsmacht in Haus und Familie längst – offenbar schon in den 1950er- und 1960er-Jahren – verloren. Sind die Großeltern pflegebedürftig, werden sie im Haushalt eines Kindes oder in ihrem eigenen Haushalt von einem Kind betreut. Kinderlose alte Menschen sind auf die Pflege in städtischen Altenheimen angewiesen. Resümee  : Zuerst Sozialisierung, dann Diversifizierung

Schon die junge chinesische Republik, vor allem aber die kommunistische Familien- und Gesellschaftspolitik haben die feudal-chinesische Familie, die Frauen unterdrückte und im Haus einschloss, indem sie ihre Füße verstümmelte, überwunden. Das altchinesische Patriarchat wurde ebenso wie die innerhäusliche Herrschaft der Schwiegermutter über die Frau durch egalitäre Verhältnisse zwischen den zusammenlebenden und -arbeitenden Generationen abgelöst. Der Kampf gegen die „feudale“ Familie war ein Kampf für die Sozialisierung der Produktion und für die Egalität von Mann und Frau  ; nicht für westliche individualistische Ehe- und Liebesideale, die als „kapitalistisch“ und „bourgeois“ galten. Die danwei kontrollierte Partnerwahl, Schwangerschaft und Haushaltsführung, die Zuweisung von Schul-, 306

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 306

22.09.2010 07:50:32

Haus und Familie

Studien- und Arbeitsplätzen. Der Wohnungsbau in den großen Städten Chinas ermöglichte den jungen Ehepaaren erstmals die Gründung von Haushalten unabhängig vom Haushalt der Eltern, doch zeigt der chinesische Zensus für die letzten Jahrzehnte und bis heute, dass jeweils etwa ein Fünftel der Bevölkerung in Dreiund Vier-Generationen-Haushalten lebt. Die Ursachen liegen zum einen in der Reproduktion der produktiv arbeitenden Jungen durch ihre Eltern, zum anderen in der Versorgung kranker und pflegebedürftiger Eltern durch ein erwachsenes Kind. Nur kurze Zeit verfolgte das kommunistische Regime in den Volkskommunen auf dem Land das Ziel, Hausarbeit zu sozialisieren  ; ab ca. 1960 beschränkte es sich auf die technische Verbesserung der Haushalte (Zentralheizungen und Gasöfen in Wohnanlagen) und die Einrichtung von Kinderkrippen, Kindergärten und Ganztagsschulen, um die jungen Mütter für produktive Arbeit freizusetzen. Seit den 1980er-Jahren diversifiziert die wirtschaftskapitalistische Entwicklung (bei strikter Aufrechterhaltung der kommunistischen Diktatur) das Familienleben. In den besser gebildeten und ausgebildeten städtischen Milieus gewann das Konzept der Liebesehe an Geltung  ; hier wurde die Ein-Kind-Politik am häufigsten realisiert, doch scheint die aktuelle Tendenz zur Zwei-Kinder-Familie zu gehen. Auf dem Land kehrte die Mehrheit der Bevölkerung nach genossenschaftlichen Formen der Landwirtschaft (Kommunen) zur kleinbäuerlichen Familienwirtschaft zurück. Den relativ armen Familien der Landbevölkerung und den zunehmend konsumund erwerbsorientierten großstädtischen Kleinfamilien stehen die Haushalte und Familien der neuen Wirtschaftseliten in den neuen Metropolen Chinas gegenüber. Sie haben häusliche Bedienstete und ungleich höhere Konsumstandards bis hin zu den Luxusvillen und Lofts einer rasch wachsenden Zahl von Dollarmillionären, die sich der Kontrolle des politischen Regimes aufgrund ihrer wirtschaftlichen Erfolge offenbar weitgehend entziehen können.

Europa Jede Geschichte der Familie in Europa geht von John Hajnals These von einem „european marriage pattern“ aus.67 Sie besagt, dass sich Europa entlang einer fiktiven Linie von St. Petersburg bis Triest in ein west- und ein osteuropäisches Heiratsmuster unterteilen lasse. Das westliche kannte etwa seit dem 16. Jahrhundert eine relativ späte Heirat. Nur ihren Vätern oder Vorgängern nachfolgende Söhne von Bauern, Kleinbauern, Handwerkern und Kaufleuten sowie die erbberechtigten (meist die erstgeborenen) Söhne des Adels konnten heiraten und legitime Kinder haben. Somit blieb ein Teil der Bevölkerung ledig. Viele dieser Frauen und Männer 307

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 307

22.09.2010 07:50:32

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

hatten kürzer oder länger dauernde außereheliche Intimbeziehungen, aus denen – regional unterschiedlich zahlreich – außerehelich geborene Kinder hervorgingen. Östlich der Hajnal-Linie war das Heiratsalter deutlich niedriger. Fast alle Burschen und Mädchen heirateten, gründeten aber oft bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ‚nur‘ Sub-Haushalte unter dem Dach des Hausältesten und Familienpatriarchen. – Das ist eine sehr grobschlächtige Unterteilung, und Hajnals Fehler, das nordwesteuropäische als „das europäische“ Muster, alle anderen Formen aber als „nichteuropäisch“ zu bezeichnen, ist zu Recht scharf kritisiert worden.68 Weitere Forschungen haben das Bild überdies erheblich differenziert. In Nord-, West- und Mitteleuropa ist das Verwandtschaftssystem seit dem Frühmittelalter bilinear und ego-fokussiert. D. h., die Verwandtschaft bestimmt sich von jeder einzelnen Person neu und immer in zwei Richtungen  : in die beiden Abstammungslinien des Vaters und der Mutter („kognatisch“). Beide Linien haben Großeltern, Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen, Neffen und Nichten usw., und ihre nach erfolgter christlicher (später auch ziviler) Heirat geborenen Kinder sind zu allen verwandt. Auch die Begriffe Tante, Onkel usw. sind für beide Abstammungslinien dieselben. Dieses „kognatische“ Verwandtschaftssystem setzte die katholische Kirche ab den Gregorianischen Reformen im 11. und 12. Jahrhundert mittels ihrer Ehepolitik mühsam durch und ‚exportierte‘ es im 16. Jahrhundert, wie schon gezeigt, über die Mission u. a. nach Lateinamerika. In Teilen Ost- und Südosteuropas hingegen galt ein agnatisches, patrilineales Verwandtschaftssystem, d. h. Verwandte wurden hier nur in männlicher Linie gedacht und führten auf einen gemeinsamen Ahnherrn zurück. Das römische Christentum verdrängte ältere Formen des Ahnenkults  ; wo es sich nicht durchsetzen konnte, blieb der Ahnenkult und damit das Gewicht der Abstammung von einem Ahnherrn bis ins 20. Jahrhundert bestehen.69 In Ost- und Südosteuropa lebten bei vergleichsweise niedrigem Heiratsalter und hohen Geburtenraten in vielen Regionen mehrere Brüder mit ihren Ehefrauen und Kindern in relativ großen und komplexen Haushalten, denen der hausälteste Mann vorstand. Solche multiple (aus mehreren Eltern-Kinder-Gruppen zusammengesetzte) Hausgemeinschaften unter Führung eines hausältesten Mannes ähneln der altchinesischen ‚feudalen‘ Familie (s. o.)  ; sie wurden bisher für Zentralrussland und Teile des Balkans, aber auch für die Toskana (hier bei florentinischen Großbürgern ebenso wie bei Bauern auf dem Land), für eine Gemeinde in Osttirol, die Abruzzen und zwei Regionen Südwestfrankreichs (Languedoc und Gascogne) nachgewiesen. (Es ist also unzutreffend, die „Kleinfamilie“ als das Familienmodell des „römischen“ Europa zu bezeichnen.) In Osteu­ropa hielten sich multiple und dreigenerationale Hauswirtschaften bis in die 1860er-Jahre in einigen, oft erst spät verkehrstechnisch erschlossenen Regi308

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 308

22.09.2010 07:50:32

Haus und Familie

onen zwischen Elbe und Ural, Ostsee und Donau. In Russlands zentralen Regionen herrschte bis zur russischen Revolution die landgestützte Aristokratie der Bojaren und Magnaten. Sie unterwarf die auf ‚ihrem‘ Land lebenden Menschen als Leibeigene – bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft durch den russischen Zaren im Jahr 1861. Da die Gutsherren Interesse an zahlreichen (für sie kostenlosen) Arbeitskräften in ‚ihren‘ Dörfern hatten, wurde hier relativ früh geheiratet  ; die meisten Kinder heirateten um das 16. bis 18. Lebensjahr und bekamen selber Kinder. Für das Landgut Mišino, 175 Kilometer südöstlich von Moskau, liegt eine genaue Untersuchung vor.70 Es bestand aus vier Dörfern. Im Jahr 1800 verrichtete die Mehrzahl der Bauern Frondienste für den Fürsten, einen Magnaten und Regierungsbeamten, der bei seinem Tod auf mehreren Gütern, von denen Mišino nur eines war, über 27.000 Leibeigene verfügte. Die Untersuchung zeigt, dass die typische Hauswirtschaft der leibeigenen Bauern aus mehreren Eltern-Kinder-Gruppen von Brüdern unter der Autorität des Vaters oder des Ältesten der Brüder zustande kam. Nach dem Tod des Vaters übernahm der älteste der verheirateten Brüder die Rolle des Vorstandes. Die Gründe dafür lagen in der politisch-ökonomischen Logik der erblichen Leibeigenschaft und der Gutsherrschaft einerseits und in den Arbeitsund Lebensbedingungen der Leibeigenen andererseits  : Die einzige Möglichkeit, die dem Einzelnen aufgezwungene Arbeitslast zu verringern, bestand darin, die Arbeit auf viele Arbeitskräfte zu verteilen  ; daher das niedrige Heiratsalter und die infolgedessen hohe Kinderzahl. Diese Arbeitslogik der Bauern traf sich mit der Unternehmenslogik des Gutsherrn, die Arbeitskraft möglichst vieler unbezahlter Arbeitskräfte in der Gutswirtschaft einzusetzen. Je personenreicher die Gehöfte der Bauern, desto höher die Frondienste (russ. barščina), die in den letzten Jahren vor Aufhebung der Leibeigenschaft in Zinszahlungen (russ. obrok) umgewandelt wurden  ; desto höher somit auch der wirtschaftliche Ertrag der Gutswirtschaft. Der Gutsherr legte deshalb der frühen Verheiratung der Bauernkinder nichts in den Weg, band sie aber über die vererbte Leibeigenschaft an ‚seine‘ Dörfer und ‚seinen‘ Boden und verbot die manchmal von ihnen gewünschte Teilung der Haushalte (i. e. die Neugründung von Haushalten anlässlich einer Heirat). Die Bevölkerung zerfiel in zwei Gruppen  : Das Hofgesinde (dvorovye ljudi) lebte auf dem Gutshof in Hütten nächst dem Herrenhaus, das ein Verwalter des Gutsherrn (mit Frau, Kindern und Dienstboten) bewohnte. Das Hofgesinde soll in Familien gelebt haben, doch ist darüber nichts Genaues bekannt. Die leibeigenen Bauern (krest’jane) hingegen bildeten die Mehrheit der Bevölkerung und lebten auf den Gehöften der Dörfer. Wenn sie nicht für Frondienste in der Gutswirtschaft gebraucht wurden, arbeiteten sie hier, um sich aus ihren land- und viehwirtschaftlichen Erzeugnissen zu ernähren (bäuerliche Subsistenzwirtschaft). Einige handel309

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 309

22.09.2010 07:50:32

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

ten überdies mit Werkzeugen, Pech, gegerbten Häuten u. a. Die Gehöfte lagen dicht aneinandergedrängt entlang eines See- oder Flussufers oder entlang einer Straße. Die traditionelle russische Dorfgemeinschaft (mir) organisierte die Fronarbeit bzw. in der letzten Phase der Gutsherrschaft auch die Ablieferung des Zinses an den Gutsverwalter. Das durchschnittliche Heiratsalter lag für Männer und Frauen um das 16. bis 18. Lebensjahr, war also deutlich niedriger als in Nord-, West- und Mitteleuropa. Die Ehefrauen waren oft um wenige Jahre älter als ihre Ehemänner. Auch das unterschied die leibeigenen Bauernpaare von Bauernpaaren in den anderen Teilen Europas und in Asien (s. China), wo die Männer oft deutlich älter waren als ihre Ehefrauen. Man vermutet, dass die Eheschließung der meist sehr jungen Männer mit etwas älteren Frauen als wirtschaftlich günstig galt, da die Frau dann schon kräftiger war und mehr Erfahrung in der bäuerlichen Hauswirtschaft hatte. Das Ackerland wurde periodisch neu verteilt und an die aktuelle Zahl der auf dem Gehöft verfügbaren Arbeitskräfte angepasst. Neben den Eltern mischten sich der Gutsverwalter und indirekt auch der Gutsherr in die Heiratspolitik ein. Viele Heiraten wurden arrangiert und irgendeine Art von Liebe der Ehegatten war, so vorhanden, wahrscheinlich eher ein Neben- oder Folgeaspekt. Witwen und Witwer verheirateten sich meist sehr bald wieder, was sowohl im Interesse der Gutsherrschaft als auch der verwitweten Bauern und Bäuerinnen gewesen sein muss. Die Geburtenziffern waren hoch. Der bäuerliche Haushalt umfasste in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im statistischen Mittel zwischen acht und zehn Personen. Die größten Haushalte wurden von 18 bis 25 Personen gebildet. Kleine Haushalte waren selten und bestanden nur vorübergehend. Die Hausgemeinschaften setzten sich aus zwei bis drei (durchschnittlich 2,2) Eltern-Kinder-Gruppen (conjugal family units) zusammen. Viele waren aus verschieden strukturierten Eltern-KinderGruppen mit teils verheiraten, teils verwitweten Eltern zusammengesetzt (complex households). Peter Czap jun. beschreibt einen solchen Fall  : „Als Beispiel für ein an der oberen Grenze […] gelegenes Hauswesen möchte ich den Haushalt des 58-jährigen Tichon Ignatev anführen, der mit seiner Frau und seinen beiden verheirateten Kindern, Enkelkindern, einem ledigen Sohn, einem verheirateten Bruder und einer verwitweten Schwägerin, die selbst Kinder hatten, unter einem Dach wohnte.“71

Landreform und Aufhebung der Leibeigenschaft (1861) brachten hier eine entscheidende Veränderung. Russische Großgrundbesitzer gründeten in den 1880er- und 1890er-Jahren größere Textilfabriken. (Vereinzelt hatte es Spinnereien auch schon 310

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 310

22.09.2010 07:50:32

Haus und Familie

auf Gutsherrschaften zur Zeit der Leibeigenschaft gegeben.) Ab 1861 wurden Millionen von leibeigenen Bauern zu „freien“ Arbeitern. Die Landreform teilte einen Teil der Latifundien unter (aus der Leib­eigenschaft entlassenen) Bauern auf. Doch viele zogen lieber in die Städte, wo ihnen das Leben mehr Vorteile versprach. Beides führte tendenziell zur Auflösung der komplexen Hausgemeinschaften. Am Ende des 19. Jahrhunderts war die neolokale Kleinfamilie in Russland die vorherrschende Familienform, allerdings übernahm jeweils eine der verheirateten Töchter für einige Jahre die Pflege der alten Eltern.72 Die am Fall des Gutes Mišino beschriebene komplexe und multiple „Großfamilie“ leibeigener russischer Bauern darf jedoch nicht für das gesamte Osteuropa verallgemeinert werden. Zwar waren die Haushalte von Serbien über Polen und Russland bis Estland im Norden Europas durchschnittlich personenreicher als die Haushalte in Nord-, West- und Mitteleuropa, und auch multiple und dreigenerationale Hausgemeinschaften waren hier deutlich häufiger. Doch finden sich auch in Osteuropa Regionen mit verschiedenen Haushaltsformen nebeneinander. So waren beispielsweise in Estland Kernfamilien die häufigste Haushaltsform neben einer Minderzahl von multiplen Haushalten verheirateter Brüder und einer noch geringeren Zahl von Drei-Generationen-Haushalten.73 Für Südosteuropa werden komplexe und multiple Haushaltsformen unter dem – allerdings jüngeren – serbischen Namen zadruga diskutiert. In einigen südlichen Regionen des Balkans wurde für das 18. bis frühe 20. Jahrhundert das Zusammenleben von mehreren Eltern-Kinder-Gruppen von Brüdern und Vettern sowie ledigen und verwitweten Verwandten unter einem Dach nachgewiesen.74 Sie waren oft noch personenreicher als die Gehöfte der russischen leibeigenen Bauern  : 20 bis 90 Angehörige sollen hier unter der Autorität eines Familienoberhauptes, des Vaters der verheirateten Brüder, oder, nach dessen Tod, des ältesten der Brüder gelebt und gearbeitet haben.75 Die im Bereich der Militärgrenze des Habsburgerreichs geltenden Rechtstraditionen und die personalintensive Weidewirtschaft begünstigten die Bildung derart komplexer Haushalte. Doch war die Zadruga nicht die Haushaltsform des Balkans schlechthin.76 Auch hier gab es eine Vielfalt an Haushalts- und Familienformen. Die Zadruga ist auch keineswegs „nicht-europäisch“, wie Hajnal und andere Autoren behauptet haben.77 Sie hat strukturelle und kulturelle Ähnlichkeiten mit den multiplen Hauswirtschaften der leibeigenen Bauern in Zentralrussland (s. o.), aber auch mit den bäuerlichen Hausgemeinschaften von verheirateten Brüdern in Südwestfrankreich (frerèche)78 und mit multiplen bäuerlichen Hausgemeinschaften der Toskana und der Abruzzen, wo mehrere Brüder mit ihren Ehefrauen und Kindern die sog. fraterna79 bildeten, wie auch mit „Kommunhaushalten“ in Osttirol. 311

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 311

22.09.2010 07:50:32

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

Auf der iberischen Halbinsel und auf Teilen der Apenninen-Halbinsel entstand in der frühen Neuzeit die Abhängigkeit kleinerer Bauern von wenigen Großgrund­ besitzern. Eine Form der Abhängigkeit war die Halbpacht (ital. mezzadria)  : Bauern bewirtschafteten den Boden eines Grundherrn und lieferten die Hälfte der Ernte an ihn ab. Schon für das 15. Jahrhundert wurde aus dem Florentiner catasto berechnet, dass etwa die Hälfte der mezzadria-Haushalte erweitert und/oder multipel waren, d. h. Großeltern und Seitenverwandte mitlebten oder mehrere Brüder mit Frauen und Kindern zusammenlebten, oder beides. Die Gemeinschaft der verheirateten Brüder (ital. fraterna) bildete v. a. eine Wirtschaftsgemeinschaft und stand zunächst für einige Jahre unter der Vorherrschaft des Vaters. Nach seinem Tod blieben die Söhne mit ihren Ehefrauen und Kindern weiter im Haus. Erst in der nächsten Generation wurde der komplexe Haushalt oft aufgelöst, und einige der erwachsen gewordenen Vettern und Cousinen gründeten neue Haushalte.80 In Andalusien und Süditalien hingegen entstand Großgrundbesitz (ital. latifundia, kastil. latifundio). Zahlreiche verschuldete Kleinbauern sahen sich hier gezwungen, nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch ihre kleinen Gründe an einen Großgrundbesitzer zu veräußern („Refeudalisierung“). Mezzadria und latifundia resp. latifundio hielten sich in Teilen Italiens und Spaniens bis ins frühe 20. Jahrhundert. Hier führte der Entwicklungspfad daher nicht – wie in England – vom Großgrundbesitz zur (Textil-)Industrialisierung und auch nicht zu vergleichbarem Wirtschaftswachstum. Als umfassend wirksames sozial-ökonomisches Regime begünstigte der Großgrundbesitz vielmehr die materielle und kulturelle ‚Rückständigkeit‘, gemessen an Kriterien der industriekapitalistischen Gesellschaften. Ein Teil der landlosen Bevölkerung wanderte nach Nordund Südamerika, v. a. nach Argentinien aus, wo zwischen 1860 und 1932 etwa fünf Millionen Auswanderer (m/w) aus dem Süden Europas eintrafen. Das nord-, west- und mitteleuropäische Bauernhaus

Hier lebten in der Regel ein verheiratetes Paar, dessen Kinder, eventuell Groß­ eltern bzw. verwitwete Elternteile und Seitenverwandte (meist Geschwister des Bauern) sowie das Gesinde  : ledige Burschen und Mädchen, die teils mit dem Bauern verwandt, teils nicht verwandt waren und als Knechte und Mägde in der Haus-, Land- und Viehwirtschaft arbeiteten. Zwei Merkmale machen den gravierenden Unterschied zu vielen Regionen in Ost-, Süd- und Südosteuropa aus  : Das Bauernhaus und die mit ihm verbundenen Gründe wurden meist schon zu Lebzeiten, spätestens nach dem Tod des Bauern, an einen einzigen Erben übergeben. Die Mehrzahl der Nachkommen blieb somit von der Hoffolge ausgeschlossen. Viele von ihnen rückten in das Gesinde des Tales oder der Region ein  ; einige blieben 312

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 312

22.09.2010 07:50:33

Haus und Familie

ein Leben lang ledig  ; andere wurden Taglöhner und lebten, verheiratet oder im Konkubinat, als Inwohner in Bauernhäusern und Kleinhäusern. Ab dem 18. Jahrhundert arbeiteten viele Inwohner und Häusler heimindustriell (s. u.). Weichende Erben (Söhne wie Töchter) heirateten aber auch in andere Bauernhäuser und Kleinbauernhäuser ein und wurden auf diesem ‚zweiten‘ Weg Bauern und Kleinbauern.81 Über Jahrhunderte nahm das Bauernhaus in väterlicher und mütterlicher Linie verwandte, aber auch nichtverwandte Personen als Gesinde auf. Die Laufbahnen der Knechte und Mägde begannen vor Durchsetzung der Schulpflicht im späten 19. Jahrhundert um das zehnte bis zwölfte Lebensjahr am untersten Ende der Dienstbotenhierarchie. Allerdings hatten viele schon ab dem fünften oder sechsten Lebensjahr in ihrem Elternhaus oder im Haus des bäuerlichen oder kleinbäuerlichen Quartiergebers leichtere Hilfsdienste (wie das Gänsehüten) verrichtet. Die Jüngsten wurden denn auch schon ab dem achten bis zehnten Lebensjahr von ihren Eltern anderen Bauern zum Dienst angeboten. So brachten die armen Bauern des Bregenzer Waldes ihre acht- bis sechzehnjährigen Kinder im Frühjahr auf den Markt des bayrischen Ravensburg, wo sie von Großbauern als Dienstboten „aufgedungen“ wurden.82 Von einigen Sprachgrenzen Europas ist überliefert, dass Eltern ihre Kinder in den Dienst auf die andere Sprachseite schickten, damit sie Sprache und Kultur kennenlernten. Flämische Bauern zum Beispiel schickten ihre Söhne für ein oder zwei Jahre zu Bauern ins benachbarte französische Artois.83 Knechte und Mägde blieben unterschiedlich lange im Haus, um dann zu einem anderen Bauern zu wechseln. Der regelmäßig wiederkehrende Termin des Dienstbotenwechsels wurde von den älteren und tüchtigen Dienstboten benutzt, um sich Leistungen des Bauern und der für das eminent wichtige Essen und die Anleitung der Mägde zuständigen Bäuerin auszuhandeln. Wenn die Bedingungen über das Jahr „stimmten“, blieben sie manchmal auch zwei oder mehr Jahre. Es war unmöglich, als Knecht oder als Magd zu heiraten. Die Kirche und die örtliche Bauernschaft gaben dazu keine Erlaubnis (Ehekonsens), um die Vermehrung der Besitzlosen in Grenzen zu halten. Dennoch hatten Knechte und Mägde unterschiedlich lang dauernde Intimbeziehungen und auch außerehelich geborene Kinder. Geschickt entzogen sie sich den Kontrollversuchen der Bauern und Pfarrer. Dass sie am Beginn des 19. Jahrhunderts einem in Liedern, Sprichworten und Reimen kolportierten, milieuspezifischen Diskurs von Liebe folgten, zeigt etwa die genaue Textanalyse der Talbeschreibung eines herrschaftlichen Beamten aus dem Jahr 1803.84 Entgegen den patriarchalen und völkischen Fantasien vom „Ganzen Haus“ (s. u., Anm. 92) reichte die Macht des Bauern bei Weitem nicht aus, um Liebesaffären und sexuelle Beziehungen des Gesindes auf seinem Hof oder – in den Sommermonaten – auf den Almen zu unterbinden. 313

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 313

22.09.2010 07:50:33

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

Grundherrschaft, Bürgerliches Recht, Ausgedinge, Inwohner

In der Habsburgermonarchie galt bis 1848 die Verfassung der Grundherrschaft. Nicht die Bauern selbst, sondern adelige, kirchliche und bürgerliche Grundherren hatten das Obereigentum des von Bauern bewirtschafteten Landes inne. Ein in der frühen Neuzeit entstandenes Erbzinsrecht gab dem Bauern aber relative Sicherheit, auf dem Hof bleiben zu dürfen und diesen an einen Nachfolger seiner Wahl weiterzugeben – die Zustimmung des (weltlichen oder geistlichen) Grundherrn vorausgesetzt. Ab 1848 machten Rechtsreformen Bauern zu rechtmäßigen Eigentümern ihrer Wirtschaften. In den meisten Regionen galt das Anerbenrecht. Es sah vor, dass vorzugsweise einer der Söhne, ansonsten eine der Töchter, den Hof von den Vorgängern übernehmen sollte. In einigen Regionen sollte der jüngste, in anderen der älteste Sohn übernehmen. In Teilen Vorarlbergs, Westtirols und Westungarns (heute großteils Burgenland) galt hingegen die Konvention, die bewirtschafteten Flächen unter den Kindern zu teilen (Realteilung). In Weinbaugebieten lässt sich häufig eine Kombination beider Formen beobachten  : Die „Hausgründe“ wurden ungeteilt übergeben, die „Überländgründe“ konnten unter den Erbberechtigten aufgeteilt werden.85 Nach 1868 verloren diese Regeln ihren Rechtscharakter, wirkten aber als Konventionen fort. Nach dem allgemeinen Erbrecht (ABGB 1811) erging nach dem Tod eines Ehegatten ein Teil von dessen Eigentumshälfte an den überlebenden Ehegatten, die andere Hälfte sollte unter den erbberechtigten Kindern aufgeteilt werden, unabhängig von Alter und Geschlecht. Dieses seinem Ursprung nach bürgerliche (und aufgeklärte) Erbrecht geriet mit der Konvention des bäuerlichen Anerbenrechts und dessen primär hauswirtschaftlicher Logik in Konflikt. Wenn der Hoffolger alle anderen berechtigten Erben „ausbezahlt“ hätte, wären viele Höfe zugrunde gegangen. Daher fand dies nicht oder nur teilweise statt oder das Anwesen wurde mit Hypotheken zugunsten der weichenden Erben belastet. In Regionen mit Anerbenrecht wurde den weichenden Erben ein Teil ihres künftigen Erbes bei der Hochzeit als sogenannte Mitgift ausbezahlt. Erbgang und Hoffolge sind also spätestens seit 1811 zu unterscheiden. In Regionen mit Realteilung hingegen begann mit der ersten Heirat eines Kindes eine Reihe von Eigentumsübertragungen, die erst mit dem Tod des überlebenden Elternteils abgeschlossen wurde. Fand die Hofübergabe bei Lebzeiten des Bauern statt, blieb das sog. Altbauernpaar fast immer auf dem Hof. Es bezog einen Raum im Bauernhaus (AustragStube u. Ä.) oder ein kleines Nebenhaus. Ein Ausgedingevertrag hielt den Wert des transferierten Besitzes fest und regelte die Rechte der Austrager und die Pflichten der Hoferben. Anders als in der „feudalen chinesischen Familie“ (s. o.) ging die Autorität an den Jungbauern und dessen Ehefrau über, sodass geflügelte Worte 314

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 314

22.09.2010 07:50:33

Haus und Familie

davor warnten, den Hof zu früh zu übergeben („Auf der Altenbank ist hart sitzen  !“ u.  a. m.).86 Bauernwirtschaften waren in der Habsburgermonarchie verschieden groß. Sie reichten von drei Hektar (Kleinbauer) bis zu 40 oder mehr Hektar.87 Seit dem Mittelalter waren große Wirtschaften immer wieder geteilt worden. So entstand im 16. und 17. Jahrhundert eine soziale Klasse von Landarmen („Häusler“, „Gärtner“ u. a.), die sich (subsistenzwirtschaftlich) von Kleinlandwirtschaft und wenigen Stück Vieh und Kleinvieh (Hühner, Gänse) ernährten und damit in einigen Regionen ein Landhandwerk oder eine heimindustrielle Erwerbsarbeit (im Auftrag von Verlegern) kombinierten. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wuchs diese landarme Bevölkerung in Ober- und Niederösterreich, aber auch in Bayern88 und anderen mitteleuropäischen Regionen stark an. Eine nahezu völlig besitzlose soziale Klasse bildeten die sog. Inwohner. Sie bewohnten einen einzelnen Wohnraum oder ein Nebengebäude des Hofes – gegen Arbeitsleistung und/oder Miete. In vielen Pfarren89 betrug der Anteil der Inwohner bis zu 30 Prozent der Bevölkerung. Sie waren oft verheiratet und hatten Kinder. Meist lebten sie zusammengedrängt in einem einzigen kleinen Raum. Kamen Kinder der Inwohner ins arbeitsfähige Alter, wurden sie Knechte und Mägde und wechselten an den Tisch des Bauern oder an einen eigenen Gesindetisch  ; andere verdingten sich bei Bauern in der Umgebung und traten in deren Haushalte ein. In einigen Regionen bildeten sich zwischen Bauern und Inwohnerfamilien PatronKlientel-Verhältnisse aus, wie sie für lateinamerikanische Regionen schon beschrieben wurden. Inwohnerfamilien schickten ihre Kinder nach und nach zum selben Bauern in den Dienst, der eine gewisse Schutzfunktion, manchmal auch die christliche Tauf- oder Firmpatenschaft für sie übernahm. Entgegen der von der frühen Volkskunde,90 Agrarsoziologie91 und Sozialgeschichte92 behaupteten Prominenz der sogenannten „Hofidee“ tauschten, kauften und verkauften Bauern häufig Landstücke und auch Häuser nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Dennoch schafften sie es, sich über Generationen in der bäuerlichen Elite des Tales oder der Gegend zu halten.93 Dies v. a. in Gegenden mit Freiteilbarkeit, aber auch in Gegenden mit Anerbenrecht. In diesem Fall galten die Höfe zwar als unteilbar und nur eines der Kinder konnte den Hof übernehmen, doch auch hier zeigen jüngere Forschungen eine weitaus vielfältigere Wirklichkeit. In der Umgebung der Stadt Osnabrück (Nordwestdeutschland) wurden die Höfe zwar überwiegend von Eltern an Kinder weitergegeben und nur wenige Höfe wurden verkauft. Doch nur in 38 Prozent aller Fälle wurde der Hof vom Vater an einen Sohn (Stiefsöhne eingeschlossen) übergeben. In 13 Prozent aller Fälle übernahm eine Tochter des Bauern den Hof, meist dann, wenn kein Sohn vorhanden war, 315

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 315

22.09.2010 07:50:33

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

aber in einem von vier Fällen übernahm eine Tochter den Hof, obwohl ein Bruder im Haus lebte. 36 Prozent aller Hofübergaben erfolgten nicht im direkten Erbgang, sondern durch Wiederverheiratung entweder des Mannes oder der Frau. Witwer und Witwe waren diesbezüglich gleichberechtigt.94 Auch in dieser Anerbenregion erfolgte die Hoffolge also nicht durchwegs patrilinear. Studien zu ober- und nieder­ österreichischen Pfarren im späten 18. und 19. Jahrhundert zeigen ebenfalls, dass nur etwa die Hälfte aller Hofübergaben entsprechend dem hier geltenden Anerbenrecht durchgeführt wurde. Je größer die bäuerliche Wirtschaft, umso eher. Oft aber wurde der Hof an Töchter und deren Ehemänner übergeben, obwohl Söhne im Haus waren. Bäuerliche wie kleinbäuerliche Hauswirtschaften wurden auch von Witwen und deren zweiten oder dritten Ehemännern übernommen.95 Die lange vertretene Lehrmeinung, in jeder ländlichen Region sei ein bestimmtes Hoffolge-Recht über Jahrhunderte obligatorisch gewesen, erweist sich als legalistische Fiktion. Am Ende des 18. Jahrhunderts war Europa in seinen Familienverhältnissen in höchstem Maße divers. Während ganz im Westen, in England, Belgien, den Niederlanden, Eltern-Kinder-Haushalte („Kernfamilien“) überwogen, lebte in europäischen Teilen Russlands, in Teilen des Balkans, aber auch in der Toskana, in den Abruzzen, in Osttirol und in Südwestfrankreich ein Teil der Bevölkerung in komplexen Haushaltsverbänden, die mehrere Eltern-Kinder-Gruppen und Seitenverwandte umfassten. Erhebliche Veränderungen wurden ab dem 18. Jahrhundert durch die korrelierenden Prozesse der Agrarrevolution, die regionale Ausbreitung der Heimindustrie, Varianten der Industrialisierung des Landes (z. B. in Bergbau­ regionen) und der Verstädterung ausgelöst. Diese Prozesse sollten die großen Unterschiede im europäischen Familienleben teils verstärken, teils abschwächen. Proto-Industrialisierung  : die Familien der Heimarbeiter

Kaufleute und Unternehmer verteilten Rohstoffe (Garne) an Kleinbauern und Handwerker in den Dörfern, die sie in ihren Hütten und Kleinhäusern an Webstühlen zu Stoffen verarbeiteten („Heimindustrie“, auch „Hausindustrie“). Dieselben Kaufleute und Unternehmer („Verleger“) nahmen den Heimarbeiterfamilien die Halbfertig- und Fertigprodukte gegen Stücklöhne ab. Auch in England bildeten Industriestädte wie Manchester und Liverpool im 18. und frühen 19. Jahrhundert zentrale Handelsplätze für die Textilprodukte der auf dem umliegenden Land lebenden Heimweber.96 Die Stücklöhne der Heimweber waren so niedrig, dass die gesamte Familie lange Arbeitstage hatte, um ihr Überleben zu sichern. Viele Kinder bedeuteten viele helfende Hände. Erste industrielle Textilfabriken und Heimarbeiterfamilien bestanden nebeneinander. Aus Nordfrankreich ist bekannt, dass sich 316

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 316

22.09.2010 07:50:33

Haus und Familie

die Textilfabriken in Amiens auf eine große Zahl von heimindustriellen Webern (ca. 4.000) in den umliegenden Dörfern stützten.97 Was veränderten Verlagsindustrie und Heimarbeit am Familienleben – ver­gli­ chen mit Bauern und Kleinbauern  ? Vor allem die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau. Mann und Frau arbeiteten hier oft Seite an Seite im selben Raum, etwa wenn die Frau spann und der Mann webte. Mitunter kam es aber auch zum Rollentausch. In der Dauphiné, wo Frauen Handschuhe heimindustriell vorfertigten, übernahmen es Männer, zu kochen und Kleinkinder zu betreuen. In einigen Gegenden sollen die Frauen auch die Verhandlungen mit dem Verleger geführt haben.98 Der Besitz des eigenen Webstuhls und spezielle Kenntnisse führten dazu, dass Weber bevorzugt unter sich heirateten. Als die Löhne unter der Konkurrenz des Fabriksystems sanken, sahen sich viele gezwungen, in eine der Textilfabriken zu wechseln. Industriearbeit und Familienleben

England hatte die besten Voraussetzungen für die Industrialisierung der Textilproduktion, die hier schon im 18. Jahrhundert begann.99 Die neuen Textilfabriken beschäftigten ehemalige Heimweber, Kleinbauern, Landarbeiter und Dienstboten (m/w). In einigen Grafschaften (Lancashire u. a.) zogen beide Eltern mit ihren halbwüchsigen Kindern in Textilfabriken zur Lohnarbeit ein. Wie Michael Anderson zeigt, arbeiteten Kinder ab dem achten, nach ersten Schutzgesetzen ab dem zwölften Lebensjahr – wie zuvor in der Heimindustrie – mit ihren Eltern in der Fabrik.100 Die Großeltern beaufsichtigten in Abwesenheit der Eltern Säuglinge und Kleinkinder (wie wir das auch in den Landkommunen der Volksrepublik China gefunden haben). Eltern und Großeltern sahen sich daher sehr häufig gezwungen, in einer Wohnung zusammenzuziehen oder zumindest in Gehweite zueinander zu wohnen. Bis in die 1970er-Jahre ist die Hilfe der Großeltern im Haushalt der Textilarbeiter (m/w) von Lancashire bezeugt.101 In der frühen Eisen-, Metall- und Maschinenindustrie differenzierte sich die Arbeiterschaft ganz erheblich, nicht zuletzt, was ihre Haushaltsformen, ihr Familienleben und die Elternschaft betraf. „Proletarische“ Milieus wurden von angelernten Arbeitern und Hilfsarbeitern (m/w) geprägt, die sehr oft vom Land und aus landwirtschaftlichen Tätigkeiten (Gesinde, Tagelöhner) in die Stadt oder in die Industrieregion zugezogen waren  ; Frauen arbeiteten in den Fabriken unter der Aufsicht von männlichen Werkmeistern und Gehilfen. Das am wenigsten angesehene „subproletarische“ Milieu bildeten Frauen und Männer, die als Gelegenheitsarbeiter auf Großbaustellen, in Ziegeleien, im Eisenbahnbau und dergleichen tätig waren und 317

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 317

22.09.2010 07:50:33

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

wiederholt Phasen der saisonalen Arbeitslosigkeit, manchmal auch der Obdachlosigkeit durchstehen mussten. Ihren Kindern gegenüber sollen sie häufig „sorglos“ gewesen sein. Diese besuchten selten Schulen, streunten herum oder arbeiteten früh mit den Eltern auf Baustellen, in Ziegeleien usw. Exzessiver Alkoholkonsum vor allem der Männer und körperliche und sexuelle Gewalt zwischen Lebenspartnern führten häufig zu Trennungen und zu einem matrifokalen Familienleben. Facharbeiter hingegen bildeten die durchaus angesehene, relativ gut bezahlte Stammbelegschaft vieler Industriebetriebe. Für sie ließen Unternehmer in Frankreich und England, im Deutschen Reich, in der Habsburgermonarchie und anderswo Familienwohnhäuser errichten. Ihre Kinder wurden bei der Zuteilung von Lehrstellen im Unternehmen privilegiert. Mitunter mussten die Facharbeiter akzeptieren, in diesen Wohnhäusern von philantropisch gesinnten Unternehmern sozial und religiös kontrolliert zu werden.102 Viele zählten zum Kern der jungen Arbeiterbewegung und waren in Gewerkschaften organisiert. Selber bildungsorientiert, widmeten sich Väter in diesen Milieus ihren Kindern bereits in einer ausgesprochen pädagogischen Haltung. Sie heirateten relativ spät und meist erst, wenn sie eine relativ sichere Arbeitsstelle hatten. Ihre Ehefrauen waren ehemalige Dienstmädchen, Schneiderinnen, Köchinnen, selten angelernte Fabrikarbeiterinnen. Nach den ersten Geburten blieben viele im Haushalt, wo sie sich bemühten, mit geringen Mitteln ein „kleinbürgerliches“ Familienleben zu organisieren.103 Für sozialdemokratisch und kommunistisch orientierte Facharbeiter konnte der Diskurs der ersten Frauenbewegung orien­tierend sein  ; in der Mehrzahl aber fühlten sich verheiratete Facharbeiter – ganz im Unterschied zu vielen proletarischen und subproletarischen Männern – als „Familien­ oberhäupter“, die „ihre Familien“ mit ihrer Lohnarbeit ernährten und denen die Ehefrauen aufmerksam dienen und die Kinder gehorchen mussten.104 Das Ziel stabiler Familienverhältnisse war freilich nicht leicht zu erreichen. Bis ins frühe 20. Jahrhundert litten Arbeiterfamilien in europäischen Industriestädten unter akutem Wohnungsmangel, hohen Wohnungsmieten, schlechter Ausstattung der Mietwohnungen und Überbelegung. Ungelernte Arbeiter und Arbeiterinnen hatten deutlich niedrigere Löhne und entsprechend noch schlechtere Wohnverhältnisse. Im Jahr 1840 lebten in der Industriestadt Manchester 15.000 Arbeiterfamilien (meist ungelernte Arbeiterinnen und Arbeiter und ihre Kinder) in Kellerwohnungen.105 Auch in Berlin, Frankfurt am Main und Essen, in Roubaix, Lyon und Wien waren feuchte und schlecht belichtete Kellerwohnungen für ungelernte und subproletarische Gelegenheitsarbeiter oft das einzige erschwingliche Wohnungsangebot.106 In den großen städtischen Miethäusern privater Hausherren wohnten Arbeiter und kleine Angestellte (m/w) in den kleinsten, dunkelsten und am schlechtesten belüfteten Wohnungen. Die durch den Zuzug erhöhte Nachfrage 318

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 318

22.09.2010 07:50:33

Haus und Familie

trieb die Mieten für die kleinsten Wohnungen in die Höhe. Als Faustregel galt bis etwa 1918, dass zumindest ein Wochenlohn für die Wohnungsmiete aufging. Familien, die den Mietzins schuldig blieben, wurden mit ihren wenigen Habseligkeiten auf die Straße gesetzt („delogiert“). Un- und angelernte Arbeiter kamen ohne ein Lohneinkommen der Ehefrauen nicht aus. Hier entstand die moderne Double-Income-Familie. Dass sie dennoch oft materielle Not litt, hing ihr noch lange an. Viele Arbeiterpaare sahen sich gezwungen, trotz ihrer Raumnot Untermieter aufzunehmen. In Wien z. B. vermieteten Arbeiterfamilien, darunter auch ­MutterKinder-Familien, häufig das sogenannte Kabinett (mit ca. zehn bis zwölf Quadrat­ metern Grundfläche halb so groß wie das Zimmer) oder einen oder mehrere Schlafplätze in der Küche, die aus Strohsäcken, Klappbetten oder Matratzen bestan­ den. Bis zum Ersten Weltkrieg schliefen hier mehrere „Bettgeher“ abwechselnd für einige Stunden. Wurden Frauen und Mütter von Ehemännern verlassen, drohte ihnen nicht nur Delogierung, sondern auch Hunger  ; manche fanden in der Prostitution eine letzte Einkommensquelle. Haushalte von alleinstehenden Frauen und Kindern zählten zu den ärmsten und befanden sich in den schlechtesten Wohnungen. Weil sie keine Heiratserlaubnis erhielten, die erforderlichen Papiere nicht hatten oder die Kosten der Trauung sparen wollten, lebten viele ungelernte und arbeitslose, subproletarische und heimindustrielle Arbeiterinnen und Arbeiter in wilden Ehen (Konkubinat), innerhalb der betroffenen Milieus war dies aber ebenso anerkannt (legitim) wie etwa in weiten Teilen Lateinamerikas. Ihre Kinder wurden außerehelich geboren. In Mühlhausen war die Hälfte der Weberkinder außerehelich, jedoch nur 2,5 Prozent der Kinder von Werkmeistern.107 Kinder hatten weder in den proletarischen und subproletarischen Familien noch in den Facharbeiterfamilien jemals ein Bett für sich allein. Sie schliefen fast immer zu zweit oder zu dritt in den Betten und in nur tagsüber errichteten Schlafstellen, das Neugeborene im Wäschekorb, das zweit- und das drittjüngste Kind im Bett zwischen den Eltern. Den Tag verbrachten kleine Kinder ab dem gehfähigen Alter und auch schulpflichtige Kinder nach wenigen Schulstunden überwiegend „auf der Gasse“.108 Hier bildeten sie informelle Spielgruppen, die das Terrain um das Wohnhaus genau kannten  ; ältere Kinder und Jugendliche gründeten Banden. Pädagogen und Psychologen, Fürsorgerinnen, Polizei und Gerichte erblickten darin eine strukturelle „Erziehungsschwäche“ der Arbeiterfamilien und insbesondere der Arbeiterväter. Fürsorge und Kommunalpolitik  : politische Regime intervenieren

Die nach dem Ersten Weltkrieg in einigen europäischen Städten eingerichtete „Familienfürsorge“ und andere kommunalpolitische Maßnahmen (wie der kommunale 319

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 319

22.09.2010 07:50:33

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

Wohnungsbau, die Einrichtung von Kindergärten, Schülerhorten u.  a. m.) sollten Abhilfe schaffen  : Arbeiterkinder wurden in neu errichtete Kindergärten, Horte und Tagesheime aufgenommen  ; in Fällen schwerer Mängel in der Haushaltsführung oder nach körperlicher und sexueller Misshandlung wurden sie ihren Eltern „abgenommen“ und in Kinderheimen oder bei Pflegeeltern (oft auf dem Land) untergebracht.109 Siedlungsgenossenschaften und Stadtverwaltungen errichteten Arbeiterwohnsiedlungen und große Wohnbaukomplexe – berühmt wurde dafür das Rote Wien  ; aber Stuttgart, Hamburg, Berlin und andere Städte bauten ähnliche, manchmal architektonisch modernere Wohnbauten. Wie Untersuchungen zeigen, rückte hier mit der Zeit das Familienleben der Arbeiter näher an das bürgerliche Familienmodell (s. u.) heran. Das Eheleben wurde intimer, die Erziehung der Kinder und schulische Leistungen fanden zunehmend Beachtung, die Frauen orientierten sich stärker auf die Führung des Haushalts und die Kindererziehung. Nur kleine Eliten experimentierten mit Formen der Sozialisierung von Hausarbeit in wenigen Einküchenhäusern, wo professionelle Köchinnen und Wäscherinnen einen Großteil der Hausarbeit für die erwerbstätigen Paare erledigten (so in Zürich, Amsterdam und Wien).110 Für die Masse der Arbeiterinnen und Arbeiter hingegen bildet die Teilnahme der Männer an der Hausarbeit bis heute entweder gar kein Thema (d. h. die Frau übernimmt die Hausarbeit als „natürliche“ Pflicht, unabhängig davon, ob sie selber erwerbstätig ist), oder ihre Aufteilung ist umkämpft.111 Verwandte bildeten soziale Netzwerke aus, auch für Familien und Personen, die in die Stadt oder in die Industrieregion zugewandert waren. Der Kontakt zur Herkunftsgemeinde hielt oft über Generationen. Kinder besuchten Großeltern auf dem Land. Nachwandernde fanden Arbeit und Wohnung in der Stadt hauptsächlich über die Vermittlung durch Verwandte vor Ort. – Diese Verhältnisse hielten sich im Grunde bis zum Zweiten Weltkrieg. Die bürgerliche Familie  : ein Modell für alle ?

Etwas früher als die industrielle Arbeiterschaft entstand ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts aus städtischen Kaufleuten, Bankiers, ersten industriellen Unternehmern, selbstständigen Akademikern (Ärzten, Apothekern, Notaren, Advokaten), Professoren und höheren Beamten ein sich kulturell distinguierendes, männerdominiertes Bürgertum und mit ihm auch ein bürgerlicher Familientypus.112 Bei allen Verschiedenheiten wurden das bürgerliche Haus und die bürgerliche Wohnung zur architektonischen Hülle eines zwar nach innen gewandten, nach außen aber ‚repräsentativen‘ Familienlebens, welches die Geschäfte und die beruflichen Interessen und sozialen Netzwerke des Mannes unterstützte (die Familie als Kno320

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 320

22.09.2010 07:50:33

Haus und Familie

ten im Netzwerk). Mit dem kulturellen und wirtschaftlichen Aufstieg des städtischen Bürgertums – zunächst bei politischer Unterdrückung in absolutistisch und neoabsolutistisch regierten Ländern – wurde die bürgerliche Art, Familie zu leben, zu einem zentralen Ort „bürgerlicher Kultur“. Da aus der bürgerlichen Klasse auch die Mehrzahl der Wissenschaftler, der selbstständigen beratenden Berufe und am Ende des 19. Jahrhunderts auch viele Funktionäre der sozialdemokratischen Arbeiterparteien kamen, wurde das bürgerliche Familienleben gewissermaßen aus seiner Selbstbespiegelung vorbildhaft. Mit den bürgerlichen Geschlechtscharakteren,113 der sorgsamen Erziehung der Kinder und der Entwicklung einer Familienkultur, die vom Familientisch über den Sonntagsausflug bis zum Strandurlaub reicht, umreißt es weniger eine Norm als ein Begehren, das mit der zunehmend entfremdeten kapitalistischen Arbeitswelt kontrastiert  : Im als privat gestalteten häuslichen Leben soll sich die Sehnsucht nach Liebe zwischen Mann und Frau und zwischen Eltern und Kindern erfüllen. In den semi-öffentlichen und öffentlichen Bereichen der Politik, des Krieges, der Geschäfte und der Erwerbsarbeit hingegen gilt das Gesetz der Konkurrenz und des Profits. Im 19. Jahrhundert wurden die bürgerlichen Frauen von körperlicher Hausarbeit weitgehend durch v. a. weibliche Dienstboten, im 20. Jahrhundert auch durch die Technisierung und Rationalisierung des Haushalts und der Hausarbeit entlastet. Die Technisierung des Haushalts kompensierte jene (relativ billigen) Dienstboten, die es in die industrielle Lohnarbeit oder in die eigenen Familien zog. Da die Ausstattung des bürgerlichen Haushalts mit technischen Geräten, modernen Küchen u. a. vollends im Sinn der fordistischen Industrieproduktion war, wurde das bürgerliche Familienleben selbst zum Design-Objekt der kapitalistischen Werbewirtschaft. Fürsorglichkeit, Empfindsamkeit und Treue wurden zu Eigenschaften des weiblichen Geschlechts verallgemeinert und ‚naturalisiert‘. Bürgerliche Autoren (m/w) entwarfen das komplexe Anforderungsprofil für die Frau als Organisatorin des Haushalts, als Gastgeberin, als Mutter und Erzieherin ihrer Kinder und als verständnisvolle Gefährtin ihres Ehemannes. Bürgerliche Männer hingegen sollten sich der kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft anpassen. So wurden die sogenannten „Geschlechtscharaktere“ des Mannes und der Frau diskursiv hergestellt.114 Seit Ende des 18. Jahrhunderts war die „romantische Liebe“ ein v. a. in bildungsbürgerlichen Milieus viel besprochenes Thema. Sie setzte neue Maßstäbe für die Partnerwahl, die dem literarisch formulierten Gefühl der Liebe folgen sollte  ; der Einfluss der Eltern auf die Partnerwahl wurde zurückgedrängt, die bürgerliche Vernunft der Partnerwahl aber zugleich verinnerlicht. Ehefrauen wurden abhängig von ihren Ehemännern und von deren wirtschaftlichen und beruflichen Erfolgen. Was als romantische Liebe begann, endete für sie oft in einem „goldenen Käfig“, aus 321

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 321

22.09.2010 07:50:33

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

dem sie höchstens mit Raffinesse und nur für Stunden entkamen. Entdeckte der Ehemann eine heimliche Affäre seiner Frau, begehrte er in der Regel Trennung und Scheidung, was nicht nur den sozialen Abstieg der Frau, sondern auch ihre Erkrankung und „seelische Zerrüttung“ bewirken konnte. Hingegen nahmen sich bürgerliche Männer Geliebte (sehr oft aus der von ihnen dominierten Geschäftsund Berufswelt) und besuchten Prostituierte. Die Doppelmoral entstand im ökonomisch leistungsstarken, männerdominierten Bürgertum, ehe sie allmählich in alle anderen sozialen Klassen diffundierte. Das Kleinbürgertum setzte sich überwiegend aus (kleinen) Kaufleuten, Handwerkern, Gewerbetreibenden, Lehrern und niedrigen Beamten zusammen. In Kaufmannsfamilien wurde das Kapital teilweise über die Heirat und die Mitgift der Frau und ein Erbe des Mannes aufgebracht. Mann und Frau arbeiteten fleißig, um das Geschäft aufzubauen und zu erhalten. Die Frau saß im Kontor, stand im Laden oder an der Kasse, versorgte die Kinder und führte den Haushalt. Kleine Kinder wurden eventuell von Hauspersonal betreut. Den größten Teil des städtischen Kleinbürgertums machten im 18. und 19. Jahrhundert Handwerker, Gewerbetreibende und städtische Dienstleister (Friseure, Flickschuster, Schneider etc.) aus.115 Sie beschäftigten Lehrlinge und Gesellen  ; Lehrlinge wohnten bis ins 19. Jahrhundert oft im Haushalt der Meister und Meisterinnen. Sie wurden zumindest ebenso streng diszipliniert wie deren eigene Kinder. Sie lernten das Handwerk, aber auch die moralischen und religiösen Prinzipien ihrer Arbeitgeber. Körperliche Strafen waren die Regel. Ein Goldschmiedelehrling sollte später treffend formulieren  : „Ich wusste nur zu gut, daß die Lehrlinge besonders in den kleinen Läden die Sklaven Europas waren.“116 Dennoch blieb im kollektiven Gedächtnis weiter bedeutsam, dass Handwerksmeister einmal eine hoch angesehene Stellung in der Stadt, Bürgerrechte und Privilegien besessen hatten. Meisterbrief und Gewerbeschein blieben symbolisches Kapital, selbst dann, wenn ihr Einkommen nach Abzug aller Betriebskosten nicht viel höher war als das eines Facharbeiters in der Industrie. Weltkriege und Nachkriegszeiten

Die vom Ersten und vom Zweiten Weltkrieg unmittelbar betroffenen europäischen Gesellschaften erfuhren jeweils eine beträchtliche Erschütterung des Familienlebens. Der Verlust an Familienmitgliedern durch direkte und indirekte Kriegseinwirkungen, die Beschädigung und Zerstörung von Hunderttausenden Familienwohnungen und Häusern, die Versorgungsschwierigkeiten, der weitgehende Zusammenbruch öffentlicher Dienstleistungen (Schulen, Krankenhäuser etc.) und des öffentlichen Verkehrs führten während und unmittelbar nach den beiden Welt322

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 322

22.09.2010 07:50:33

Haus und Familie

kriegen zu einer vorübergehenden Rückentwicklung  : Frauen und Kinder mussten (in Abwesenheit der Väter und Söhne) erhöhten Aufwand betreiben, um Lebensmittel, Brennstoff und Kleider zu organisieren. Ihre Arbeitsleistung spiegelt keine offizielle Arbeitsstatistik. Andererseits gewannen viele Frauen, die in die Kriegswirtschaft gezwungen wurden, an Selbstbewusstsein. Die Problematik der Kriegsheimkehrer ist relativ gut erforscht. Sie bestand nach beiden Kriegen hauptsächlich in der oft starken Entfremdung der Ehepartner, auch der Eltern und Kinder, aber auch in der Unfähigkeit vieler Männer, aus den totalen Institutionen des Militärs, paramilitärischer Verbände und der Kriegsgefangenschaft kommend in ein ziviles Familienleben zurückzufinden. Schwere Konflikte zwischen den Eheleuten und Autoritätsprobleme zwischen den heimgekehrten Vätern und ihren Kindern werden berichtet. Während der beiden Weltkriege und auch in den Jahren danach waren viele Familien frau- und mutterzentriert  : „Sie sorgt umsichtig und energisch für die Kinder. Im Winter 1946/47 hat ihre Energie erheblich nachgelassen, die Lebenshaltung der Familie war abgesunken, Wohnung und Kleidung vernachlässigt. […] lag eine Apathie über der Familie. Doch blieb die Mutter der Halt und Mittelpunkt für die Kinder. Auch der 19jährige Wilhelm ließ sich von ihr leiten. Im Gedanken an die baldige Heimkehr des Mannes raffte sich die Frau immer wieder zusammen.“117

Viele der in den Kriegsjahren oft übereilt geschlossenen Ehen zerbrachen. Unter den unsicheren Bedingungen der Nachkriegszeit gingen Frauen Liebschaften ein, die nicht zu Eheschließungen führten. Die Zahl der außerehelichen Geburten stieg an.118 Kinder und Jugendliche beteiligten sich am „Organisieren“ von Nahrungsmitteln und Brennstoffen und sammelten Edelmetall und Kupferdraht in den Schutthalden der zerbombten Städte, um es an Händler zu verkaufen. Sie genossen, notgedrungen, ein ungewöhnlich hohes Maß an Selbstständigkeit, das auch die Neigung der um 1940 geborenen „Kriegskinder“ zur rebellischen Attitüde als „Halbstarke“ in den späten 1950er-Jahren erklären könnte.119 Heimlich und nicht ohne Gefahr hatten sich zuvor schon im Dritten Reich wie in den von der Deutschen Wehrmacht besetzten Ländern Jugendliche aus dem Bürgertum und aus der Arbeiterschaft für „Swing“ und US-amerikanische Spielfilme begeistert. Von Erwachsenen, Schule und Jugendschutz heftig bekämpft, signalisierten die ersten konsumorientierten Jugendkulturen den Anbruch der Produktionsweise des fordistischen Kapitalismus und die zunehmende Orientierung am US-amerikanischen way of life.

323

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 323

22.09.2010 07:50:33

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

1950er- und 1960er-Jahre  : Fordisierung der Industriearbeit und der privaten Haushalte

Da der Massenkonsum überwiegend in den privaten Haushalten erfolgte, wurde die Gestaltung des Familienlebens zu einem wichtigen Faktor für die rasant wachsende Konsumindustrie. Der Haushalt war die Konsumeinheit der fordistisch-kapitalistischen Produktionsweise. Nach dem notgedrungenen Zusammenziehen ausgebombter Familien in den Städten im Zweiten Weltkrieg und in der ersten Nachkriegszeit war es in Nord-, West- und Mitteleuropa wieder überwiegend ein Kleinfamilienhaushalt. Eben dies machte das von Werbewirtschaft und Kulturindustrie (Illustrierte, Radiound Fernsehserien, Spielfilme, Popmusik) dargestellte und stilisierte Zusammenleben von Mann und Frau mit zwei Kindern zur Ikone „häuslichen Glücks“. Die Heiratsneigung war hoch, die Scheidungen gingen wieder zurück. In vielen Ländern Europas zeichnete sich ein Babyboom ab. Eltern setzten vermehrt auf die Erziehung ihrer Kinder und waren zuversichtlich, dass ihnen gute Bildung und Ausbildung entsprechende Arbeitsplätze und Karrieren bescheren würden. Der teils öffentliche, teils genossenschaftliche Wohnungsbau der 1950er- und 1960er-Jahre und die Errichtung von Einfamilienhäusern (oft in sog. Eigenheimsiedlungen und finanziert über Bausparkassen) schufen die Architektur für ein konsumorientiertes Familienleben mit Kinderzimmer, Sitzecke, Wandverbau, Kühlschrank und „amerikanischer Küche“. Der Personenkraftwagen – in der Werthaltung großer Teile der Bevölkerung erstmals der zentrale, prestigeträchtige Konsumgegenstand der fordistischen Periode – sorgte für den Wochenendausflug und bei den zugezogenen Städtern für den regelmäßigen Besuch der Verwandten auf dem Land. Die erste Nachkriegswelle der Automobilisierung erfolgte werbetechnisch folgerichtig im Namen der Familie. So warb man für einen Kleinwagen der Type Goggomobil mit dem Werbeslogan „Vati hat’s geschafft  ! Goggomobil – Stolz der Familie  !“120 In den 1960er-Jahren wurden die allgemeinen Bildungschancen auf dem Land und in den Städten vor allem für Mädchen durch Gründung von Schulen und die Einführung von Koedukation verbessert. Immer mehr junge Frauen genossen eine bessere Berufsvorbildung und -ausbildung und nahmen ihre Erwerbsarbeit – teils durch ihre Konsumorientierung, teils durch eine neue Bewertung des Berufs – als sinn- und identitätsstiftend wahr. Nach der „Babypause“ kehrten sie immer öfter ins Erwerbsleben zurück. Dies erst hob das Problem der „Doppelbelastung“ von erwerbstätigen Frauen ins Bewusstsein. Sozialwissenschaftlerinnen rechneten vor, dass ihre durchschnittliche Arbeitswoche Ende der 1960er-Jahre um etwa 26 Stunden länger war als jene der Männer.121 Erstmals wurde die etablierte Arbeitsteilung des Paares im Haushalt und in der Elternschaft infrage gestellt. Die zweite Frauenbewegung artikulierte die 324

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 324

22.09.2010 07:50:33

Haus und Familie

Forderung nach gleicher („gerechter“) Aufteilung der Arbeitsbelastung im Haushalt und in der Kindererziehung auf Mann und Frau. Da sich viele Männer weigerten, dieser Forderung nachzukommen, stieg auch aus diesem Grund das Konfliktpotenzial im Eheleben  ; Trennungen und Scheidungen nahmen wieder zu. Sie waren durch eigene Einkommen von Frauen ökonomisch leichter möglich geworden. Eine Reihe von europäischen Ländern reformierte in den 1970er- und 1980erJahren das Ehe- und Familienrecht mit der Zielsetzung, die Geschlechter im Hinblick auf ihren Zugang zu Erwerbsarbeit und die Teilung der häuslichen und elterlichen Verpflichtungen gleichzustellen. Die skandinavischen Länder waren darin dem Rest Europas schon ab den 1910er-Jahren vorausgegangen. Auch in der DDR und in osteuropäischen Ländern wurde in den 1960er und 1970er-Jahren unter kommunistischen Regimen auf die Integration der Frauen in die Erwerbsarbeit geachtet. Die Übernahme dieser Politik von der Sowjetunion, die damit schon in den 1930er-Jahren begonnen hatte, aber auch das niedrigere Lohnniveau führten dazu, dass bis zu 90 Prozent der Frauen erwerbsfähigen Alters in der DDR und anderen Ländern des sowjetischen Einflussbereichs – und damit ähnlich viele wie in der Volksrepublik China, s.o. – erwerbstätig waren.122 Rezente Entwicklungen  : Transformation oder Krise des Familienlebens  ?

Umfragen aus den 1990er- und 2000er-Jahren in nord-, west- und mitteleuropäischen Ländern zeigen einerseits, dass viele Männer ihre Privilegien (v. a. das Privileg, im Haushalt von der Ehefrau bedient zu werden) bewahren wollten, andererseits mochten sie sich als Väter stärker engagieren. Zwar sahen sich viele durch ihre Erwerbsarbeit daran gehindert, doch übernahmen sie zumindest an arbeitsfreien Wochenenden Aufgaben, die wenige Jahrzehnte zuvor noch als typisch „weibliche Aufgaben“ gegolten hatten (das Wickeln und Füttern von Babys, das Fahren des Kinderwagens, das Spielen mit Babys und Kleinkindern etc.). In den meisten europäischen Ländern – am deutlichsten in den romanischen und in den ost- und südosteuropäischen Ländern – zeichnete sich eine Spaltung der Emanzipationsbereitschaft von Männern ab  : verstärktes Engagement als Väter, aber weiterhin wenig Neigung, sich an Hausarbeit zu beteiligen. Als hypothetische Erklärung kann angeführt werden, dass das Spiel mit Kindern aller Alterstufen Vergnügen, narzisstische Befriedigung und temporäre Aufhebung von Entfremdung (die vornehmlich in der Berufswelt erlitten wird) bedeuten kann, während Hausarbeit aus derselben beruflichen Belastung und Entfremdung bei vielen Männern das Begehren nach einem ganz privaten Bedientwerden evoziert.123 Sofern dies Männer auch bei annähernd gleicher Erwerbsbeteiligung der Ehefrau (resp. der Lebenspartnerin) erwar325

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 325

22.09.2010 07:50:33

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

Scheidungen pro 100 Heiraten (Dreijahresdurchschnitte)

70 60

50 40 30

BRD DDR Großbritannien Frankreich Italien Polen Schweden Europäischer Durchschnitt

20

10 0

1935 1940 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995

Abbildung 2: Scheidungen pro 100 Heiraten (Dreijahresdurchschnitte). Quelle: UN Demographic Yearbook.

ten, kann von einem sekundär-patriarchalen System gesprochen werden. Es ist die Verlängerung eines Privilegs, das seine ökonomische Grundlage verloren hat. Mit dem starken Anstieg der Trennungen und Scheidungen in fast allen euro­ päischen Ländern (s. Abb. 2) ab den 1970er-Jahren wurde die Möglichkeit des Scheiterns einer Ehe oder auch einer Lebens­partnerschaft ohne Trauschein offen­kundig. Niemand konnte mehr ernsthaft annehmen, dass er keinerlei Scheidungsrisiko hätte. Damit nahm die Neugierde für alternative Lebensformen zu. Eine wachsende Minderheit von Frauen und Männern glaubte, ihre Hoffnungen auf ein gelingendes Zusammenleben eher in Lebensgemeinschaften, in Mutter-Kind-Familien, in Intimbeziehungen ohne gemeinsamen Haushalt (living apart together), als Singles mit exklusiven oder promisken Intimbeziehungen oder in schwul-lesbischen Paarbeziehungen und Familien (s. u.) realisieren zu können. Zugleich stieg aber auch der Anspruch an die sexuelle und kommunikative Qualität der Intimbeziehung des Paares und – gegebenenfalls – an das gemeinsame Erleben der Elternschaft. Frauen scheinen ihre Ansprüche noch stärker erhöht zu haben als Männer, was angesichts der oben skizzierten sekundär-patriarchalen Konstitution vieler Familien nicht erstaunt. 326

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 326

22.09.2010 07:50:34

Haus und Familie

Für Elternpaare, die sich trennen und scheiden, entstand eine neue Herausforderung  : Wie kann eine verantwortliche, hoch emotionalisierte und mit höchsten Ansprüchen besetzte Elternschaft nach der Trennung des Paares in zwei oder mehr separaten Haushalten fortgesetzt werden  ? Dies ist die Kernfrage einer eben erst begonnenen öffentlichen Diskussion in Nordamerika und in Europa.124 In der Mehrzahl der Fälle bleiben die Kinder bei der Mutter und sehen den Vater zu vereinbarten (in etwa jedem zehnten Fall gerichtlich verfügten) Besuchszeiten. In den höher gebildeten Schichten geht die Tendenz zum mehr oder minder regelmäßigen Wechsel der Kinder zwischen den Haushalten der getrennten Elternteile (Modell der „Doppelresidenz“ bzw. two homes). Treten die getrennten Elternteile in neue Intimbeziehungen oder Ehen ein, entsteht für die Kinder ein bi- oder multilokales Familienleben, das unter dem Sammelbegriff „Patchwork-Familien“ besprochen wird. Von „Stieffamilien“ will angesichts dieser neuen Normalität fast niemand mehr reden  ; dieser Begriff erinnert an frühkapitalistische Zeiten des Hungers und der Benachteiligung von nichtleiblichen Kindern in häuslichen Ökonomien des Mangels. Überdies entstehen durch die Trennung des Elternpaares ganz andere psychosoziale und ökonomische Familienverhältnisse als durch den Tod eines Elternteils.125 Die von Demografen produzierten Datenreihen zeigen nur einige messbare Effekte der qualitativen Veränderungen im europäischen Familienleben der letzten Jahrzehnte. Die Zahl der Mutter-Kind-Familien hat sich von 1970 bis heute in etwa verdoppelt und macht etwa ein Viertel aller Haushalte aus. (Allerdings weiß die Statistik nicht, in wievielen dieser Familien neue Intimpartner der Mutter beteiligt sind.) Ein Teil der Mutter-Kinder-Familien ist die ungewollte Folge von Trennungen und von Todesfällen, ein anderer aber die gewählte Lebensform. Feministisch inspirierten Frauen erschien in den 1990er-Jahren die Familie ohne mitlebenden Vater, die Mutter-Kind-Familie, eine Möglichkeit, sich aus der Herrschaft des Mannes zu befreien. „Kein Herr im Haus“ war nicht nur eine Zustandsbeschreibung, sondern auch ein feministisches Postulat.126 Geschätzte zehn Prozent aller Kinder leben eine Zeit lang mit einem nicht leiblich verwandten Erwachsenen in mehr oder minder komplexen Patchworkfamilien zusammen. (Auch hier unterschätzt die Haushaltsstatistik die Zahl der Fälle, da keineswegs alle Angehörigen von Patchworkfamilien bereit sind, sich gegenüber der zählenden Behörde zu „outen“.) Homosexuelle Paare sind in westlichen Großstädten weitgehend akzeptiert, in osteuropäischen Metropolen hingegen noch nicht. Nicht selten betreuen sie in westeuropäischen Ländern mit ihnen lebende Kinder aus vorherigen heterosexuellen Beziehungen. Lesbische Paare haben auch Kinder aus heterogen inseminierten Schwangerschaften und teilen soziale und leibliche Elternschaft.127 In der Schweiz leben Kinder bei rund einem Drittel der lesbischen und bei einem Fünftel der schwulen Paare.128 Journalisten (m/w) schlagen für 327

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 327

22.09.2010 07:50:34

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

schwul-lesbische Paare, die mit Kindern zusammenleben, den Term „Regenbogenfamilie“ vor. Die Möglichkeit, als gleichgeschlechtliche Partner ein Kind aufzuziehen, lässt auch die Binarität der Geschlechter im Eltern-Subsystem der Familie nicht mehr unabdingbar erscheinen. In Regenbogen- wie in Patchworkfamilien wird bei einem der beiden Partner die psychosoziale von der biologischen Elternschaft entkoppelt  : praktisch und allmählich auch normativ. Die Liberalisierung des Ehe- und Familienrechts, des Scheidungsrechts und des Kindschaftsrechts ab den 1970er-Jahren und die nun schon mehrjährige Diskussion über geeignete Rechtsformen für schwul-lesbische Paare in vielen europäischen Ländern tragen diesen Veränderungen meist nur verspätet und nicht ohne erhebliche Widersprüche Rechnung. Angesichts der weiter schwindenden Legitimität des westlichen Patriarchats geraten auch jene Frauen und Männer, die in ersten Kleinfamilien leben, unter Druck, ihr Zusammenleben nicht mehr wie bisher zu gestalten. Der prominenteste Leitbegriff kommt aus der Ökonomie  : Partnerschaft. Er wird auf heterosexuelle wie auf gleichgeschlechtliche Paare angewandt. Die Auseinandersetzung um die faire Teilung der Arbeit in der Elternschaft und im Haushalt ist die Kampfzone im privaten Regime der Reproduktion in der westlichen Welt. Dafür gibt es eine wahrhaft historische Erklärung  : Männer und Frauen befinden sich zur selben Zeit in verschiedenen Epochen ihrer Emanzipation  : Während Männer schon im frühen liberalen Kapitalismus für die Erwerbsarbeit freigesetzt wurden und nach Bildungs- und Ausbildungsgängen höhere Mehrwerte erzeugten und Löhne erhielten, sind Frauen erst im Lauf des späten 19. und des 20. Jahrhunderts für qualifizierte Berufe ausgebildet und zugelas­ sen worden. Viele Generationen von erwerbstätigen Männern waren aber bereits von Hausfrauen reproduziert worden, und dies war als „Normalität“ längst in die Kollektivgedächtnisse129 eingegangen. Im Übergang von der fordistischen zur neoliberalen kapitalistischen Produktionsweise ab den 1970ern waren Mann und Frau daher in gegensätzlicher und oft wenig kompromissfähiger Weise an der ihnen nun abverlangten ‚Demokratisierung‘ ihres Zusammenlebens interessiert. Ihr insofern historischer Interessenkonflikt ist eine der Ursachen für die starke Zunahme der Trennungen und Scheidungen, auffällig stark in osteuropäischen Staaten wie Russland und Ukraine (s. Abbildungen 1 u. 2). Die ab den 1990er-Jahren intensivierte Diskussion um Rolle, Funktion und Wirkung der Männer als Väter artikulierte  : Weder der autoritäre Patriarch des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, noch der (fordistische) Konsumpatriarch der 1950er und 1960er-Jahre, sondern der im Familienalltag präsente „Partner“ und „Miterzieher“ der Frau ist im neoliberalen Regime der Reproduktion gefragt.130 Man kann dies gewiss mit der Tendenz zur weiteren ‚Individualisierung‘ der Arbeitskräfte – d. h. zu ihrer potenziell selbständigen Reproduktion, die sie auch für den Produktionsprozess 328

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 328

22.09.2010 07:50:34

Haus und Familie

flexibler macht – in Zusammenhang bringen. Nur verhältnismäßig kleine Minoritäten verzichten von vornherein auf dieses Modell, unterbieten es (wollen in einer hierarchischen, patriarchalen Paarbeziehung leben) oder gehen noch darüber hinaus  : Letzteres firmiert u. a. als „neue Vaterschaft“, was in etwa meint, dass engagierte Väter der Berufsrolle eine Zeit lang keinen Vorrang mehr vor der Vaterrolle und dem Erwerbsleben keinen Vorrang mehr vor dem Familienleben einräumen. Männer, die den Rollenmodellen des präsenten Ehe- oder Lebenspartners und Miterziehers oder gar des engagierten („neuen“) Vaters entsprechen wollen, gehören vorwiegend der noch breiter gewordenen Mittelschicht an, sind Facharbeiter, Angestellte, Lehrer und Gemeinde-, Landes- und Staatsbeamte (m/w) mit höherer allgemeiner, beruflicher und akademischer Bildung, mittleren Lohneinkommen, aber hoher Arbeitsplatzsicherheit. Das von ihnen erreichte Konsumniveau kann für ihre Kinder am ehesten durch erfolgreiche Erziehung und Ausbildung gesichert werden. Dies erklärt auch den verstärkten Einstieg der Väter in die Erziehungsarbeit. Das Rollenmodell des engagierten („neuen“) Vaters hingegen, der über die Assistenz der Mutter (als „Miterzieher“ neben der Haupterzieherin) hinausgelangt und Vaterarbeit eine Zeit lang beinahe professionell und nach den von ihm erlernten beruflichen Mustern – planvoll, wissend, reflektierend – betreibt, scheint unter den gegenwärtigen Arbeits- und Lebensbedingungen nur für Minoritäten möglich und attraktiv. Nicht zuletzt kulminiert der Anspruch von Frauen und Männern an die Qualität ihrer intimen Beziehungen in einer Verlängerung des Anspruchs auf (romantische) Liebe in der ehelichen Beziehung oder in der Lebenspartnerschaft. Diese sollen nicht nur alltagspragmatisch funktionieren und ein halbwegs gutes Leben sichern. Auch wo sich die Liebe des Paares mit der Zeit beinahe von selbst in eine weniger aufgeregte Gefährtenliebe verwandelt, sollen doch zumindest Elemente der romantischen Liebe erhalten bleiben, vor allem eine erregende Sexualität. Dieser Anspruch erfüllt sich häufig nicht. Das vor etwa zweihundert Jahren erstmals in Europa literarisch ausformulierte Konzept der Liebesehe wird jedoch weiterhin propagiert. Es wurde zu einer vielfach unerfüllten, jedoch umso besser vermarktbaren Hoffnung, aus der kapitalistische Kulturindustrie Gewinne zieht (in China wurde die Liebesehe erst mit der wirtschaftskapitalistischen Öffnung in den großen Städten zu einem political issue). Die v. a. in Europa (und Nordamerika) ungebrochene Sehnsucht nach romantischer Liebe führt zu häufigeren Liebesepisoden und motiviert Frauen und Männer zu Trennungen und Scheidungen. Andererseits wächst angesichts des damit verbundenen Leids und der materiellen Kosten allmählich die Skepsis. Möglichkeiten zu pragmatischeren und offeneren Formen der Ehe resp. der intimen Beziehungen werden, ähnlich wie schon in den 1920er-Jahren,131 aber unter neuen Begriffen wie „polyamory“132 und in der psychotherapeutischen Literatur diskutiert. 329

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 329

22.09.2010 07:50:34

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

Konvergenz oder Regionalisierung  ? Vergleiche und Kulturtransfers William Goode hat 1963 in seinem berühmt gewordenen Buch Word Revolution and Family Patterns133 die Entwicklung der Familien als weltweite Konvergenz beschrieben. Seine These war, das in Westeuropa dominante Familienmodell der „Kernfamilie“ (nuclear family) habe sich im Lauf der letzten Jahrhunderte weltweit durchgesetzt. Auch nach einem halben Jahrhundert weiterer Forschungen ist diese These ein interessanter Ausgangspunkt, jedoch um sie zu revidieren. Ihr widerspricht zunächst die starke Zunahme von Mutter-Kinder-Familien in Europa  ; in Lateinamerika dominiert diese Familienform in der mestizischen Bevölkerungsmehrheit seit dem 16. und 17. Jahrhundert und bis heute. In der Volksrepublik China unterstützen Großeltern ihre Kinder bei der Haushaltsführung und der Betreuung kleiner Kinder, hinfällig gewordene Eltern werden überwiegend im Haushalt eines verheirateten Kindes versorgt. Schließlich widerspricht der These auch die starke Zunahme der Singles und der informellen Beziehungen ohne gemeinsamen Haushalt in vielen Metropolen der Welt, die Häufung der Patchworkfamilien nach Trennung und Scheidung in Nordamerika und Europa, jüngst auch die Entstehung der Regenbogenfamilien. Kurz  : Ein wachsender Anteil der Weltbevölkerung wandert im Lauf des Lebens durch mehrere und verschiedene Haushalts- und Lebensformen  ; die „Kernfamilie“ ist nur eine von mehreren. Aber selbst wenn sich Haushaltsformen ähnlicher würden, bedeutete dies keineswegs die gleiche Art und Qualität von Familienleben. Die Zusammenlebenden bilden ja weitaus mehr und Komplexeres als eine „Haushaltsstruktur“. Sie bilden und reproduzieren ein niemals still stehendes ökonomisches, soziales, psychisches und kulturelles System, in das sie materiell und sozial investieren, in dem sie Dienstleistungen füreinander erbringen und affektive und soziale Bindungen eingehen, die sich stets verändern. Um nur wenige Vergleiche anzustellen  : Die Familiensysteme in den chinesischen Millionenstädten unterscheiden sich von jenen in den chinesischen Dörfern auch bei z. T. ähnlicher Haushaltsstruktur, und weder die einen noch die anderen sind mit westeuropäischen oder nordamerikanischen Kleinfamilien gleichzusetzen. Auch was eine mutterzentrierte, vaterlose Familie in Nord­ amerika, in Lateinamerika oder in Westeuropa ausmacht, bestimmt sich aus der Qualität ihrer internen Beziehungen und aus Art und Grad ihrer Integration in die sozialen Netzwerke der Nachbarn, Verwandten und Freunde, und die sind in brasilianischen favelas oder in den Slums von Mexiko City qualitativ anders als in BerlinKreuzberg, in einem Pariser Vorort oder am westlichen Ende von Long Island. Und zuletzt Europa  : Kann jemand noch ernsthaft behaupten, es gäbe „die europäische Familie“  ? Haus und Familie waren und sind in Europa von unüberbietbarer Vielfalt, 330

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 330

22.09.2010 07:50:34

Haus und Familie

vorausgesetzt man beschränkt sich nicht auf das haushaltsstatistische Zählen von Fliegenbeinen. In den letzten Jahrzehnten führten neue Migrationsströme in vielen Metropolen zur Koexistenz von verschiedenen Formen und Qualitäten des Familien­ lebens. Großhaushalte der Zuwanderer aus Ostanatolien und aus dem Maghreb, Kleinfamilien, Familienreste und Singles aller Weltregionen, Konfessionen und Lebensphilosophien leben in den europäischen Metropolen sozusagen Tür an Tür. William Goode sah in der Industrialisierung (nach englischem Vorbild), in der Verstädterung (Urbanisierung) und in der Verbreitung der westlich-aufgeklärten Ideologie der Gleichheit der Menschen und der Geschlechter die Ursachen für die von ihm behauptete weltweite Konvergenz der Familiensysteme. Diese Annahme schwingt auch in aktuellen Vorstellungen von Globalisierung mit. Sowohl für China als auch für Lateinamerika habe ich hier einige Religions-, Ideen- und Wertetransfers aus Europa skizziert. Doch haben sie ein westliches Familienleben durchgesetzt, wie manche behaupten  ? Die Durchsetzung von Elementen westlichen Ehe- und Familienrechts in der Volksrepublik China sollte zu einer „sozialistischen“ Reproduktion führen, nicht zur Privatisierung von Ehe und Familie westlich-kapitalistischer Art. Auch der seit den 1980er-Jahren eingeschlagene Kurs der Ein-Kind-Politik und die Strategien, die vor allem auf dem Land dagegen entwickelt werden, weisen Chinas Familienkultur (ein Komplex aus Praktiken und Diskursen, Werten und Emotionen) trotz formalrechtlicher Ähnlichkeiten als dezidiert nicht-westlich aus. Wenn die jüngste Wirtschaftsliberalisierung einen spezifisch chinesischen Kapitalismus, einen Boom an Pkws, Computerindustrien und Liebesheiraten in Hongkong, Schanghai, Beijing oder Chongqing und auch neoliberale Lebensstile der Superreichen erzeugt, ist es es doch keine westliche Moderne, die hier entsteht. Plausibler scheint es da schon, von verschiedenen, ungleichzeitigen (,multiplen‘) Modernen zu reden.134 Auch in Lateinamerika ist keine Vereinheitlichung der Familienverhältnisse auf den Typus der Kernfamilie hin erfolgt, nicht einmal in den durch europäische Emigration „europäischsten“ Ländern wie Chile und Argentinien, am allerwenigsten in der großen Mehrheit der mestizischen Bevölkerung des Halbkontinents. Darauf weisen auch die enorm großen Unterschiede bei statistischen Indikatoren wie der Illegitimitätsrate und der Scheidungsrate hin. Während Chile erstmals für das Jahr 2006 eine sehr niedrige grobe Scheidungsrate (0,2 auf 1.000 Personen) ausweist, sind die groben Scheidungsraten in Uruguay und Puerto Rico fast doppelt so hoch wie in Westeuropa (s. Abb. 1). Nur in den nicht überall vorhandenen städtischen Mittelschichten führte ab den 1980er-Jahren eine protestantische Mission zur Übernahme einer streng monogamen Eheform. Doch wie die Skizze der katholischen Missionierung Lateinamerikas ab dem 16. Jahrhundert gezeigt hat, erzeugt religiöse Mission nirgends Vereinheitlichung, sondern wachsende synkretistische Vielfalt. 331

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 331

22.09.2010 07:50:34

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

Industrialisierung hatte in Europa sehr verschiedene und insgesamt andere Voraussetzungen und auch andere Folgen für das Familienleben als in China und in Lateinamerika. Die Plantagenrevolution an den Küsten Chinas, im Nordosten Brasiliens und in der Karibik war zunächst wichtiger als die Entstehung vereinzelter Betriebe nach dem britischen Fabriksmuster. Die Plantagenwirtschaft wurde in Brasilien und in der Karibik anfangs mit schwarzen Sklaven, dann mit Kontraktarbeitern für den europäischen Markt betrieben. Sklavenarbeit führte zu MutterKind-Familien, weitgehend ohne Teilnahme der Väter. Auch im Umfeld der Minen und Bergwerke im Süden Brasiliens entstanden vorwiegend Mutter-Kind-Familien. In China fand Industrialisierung nach britischem Vorbild zunächst nur in der Textilwirtschaft statt  ; sie löste bei einem Teil der jungen ledigen Frauen im KantonDelta die Weigerung aus, nach dem Muster der alten „feudalen“ Familie unter der Herrschaft des Ehemannes und der Schwiegermutter zu leben.135 Hingegen zogen im britischen Lancashire ganze Familien in die Textilfabriken ein. Aber auch die wirtschaftskapitalistische Reform Chinas ab 1980, die von außen oft als Verwestlichung wahrgenommen wird, erzeugt keine Kleinfamilien westlichen Typs. Das Gros der 1,3 Milliarden Chinesen wechselt zwischen dem Kleinfamilienhaushalt und dem oft um Großeltern erweiterten Dreigenerationenhaushalt, die in genossenschaftliche Strukturen eingebettet sind, in den Industriebezirken und Großstädten ebenso wie auf dem Land. Die Globalisierung der massenmedialen Kommunikation ist in ihren Auswirkungen auf das Familienleben ambivalent. Zunächst sticht freilich die Macht weltweit agierender Medienkonzerne in die Augen, die Senderechte, Internetzugänge, Filmlizen­ zen etc. verteilen. Man kann globalisierende Effekte, aber auch Regionalisierungsprozesse beobachten  : Telenovelas in Spanien, Portugal und in Südamerika, eine sehr spezifische indische Filmwirtschaft, chinesische Fernsehserien etc. spiegeln die regionalen Ausprägungen der Familien- und Liebeskulturen. Eine orientierende Wirkung westlicher Genres kann v. a. für die Verbreitung eines seinem Ursprung nach westeuropäischen Ideals der Liebesehe unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen angenommen werden. Doch wie die Analyse der Jugendkulturen in China, in schwarzafrikanischen Ländern und anderswo zeigt, wird auch dies nicht zu Kopien westlicher Ehepaare führen, sondern zur Ausbildung weiterer Synkretismen.136 Anmerkungen 1 Vgl. Robert Boyer/Yves Saillard, Hg., Régulation Theory. The State of the Art, London/New York 2002. 2 1503 wurde von Königin Isabella von Kastilien das sogenannte Encomienda-System (span. für Auftrag) geschaffen. Konquistadoren wurden sehr große Landgüter mitsamt der darin lebenden in-

332

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 332

22.09.2010 07:50:34

Haus und Familie

digenen Bevölkerung treuhänderisch übertragen. Lehensherr der indigenen Bevölkerung war das spanische Königspaar. Es beauftragte den Encomendero (den Beauftragten) damit, für den Schutz und die christliche Missionierung der dort lebenden Indigenen zu sorgen. Das Encomienda-System wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts abgeschafft.   3 El sirvinacuy (vom span. servirse, sich gegenseitig dienen, in das Quechua integriert) war und ist bis heute (!) eine voreheliche Form des Zusammenlebens, deren Anfänge in der Andenregion bis in die Zeit vor den Inkas zurückreichen. Sie überdauerte die spanische conquista, die christliche Mission und die Kolonialzeit (16.–18. Jahrhundert). Sie wird bis heute von den Indigenen in Peru, Bolivien und im nördlichen Argentinien praktiziert. In Bolivien ist sie der christlichen Hochzeit gleichgestellt. Eine Übereinkunft zwischen dem Mann und dem Vater seiner Frau liegt der Probeehe zugrunde. Wenn sich das Paar trennt, ist der Vater verpflichtet, die Tochter (gegebenenfalls mitsamt Kind/ern) wieder in sein Haus zurückzunehmen. El sirvinacuy dauert von drei Monaten bis zu drei Jahren und endet oft mit einer Heirat, es kann aber auch mit der Trennung beendet werden  ; eine nächste Probeehe kann folgen. Kinder aus Probeehen sind legitim und werden später in einer Ehe geborenen Kindern erbrechtlich gleichgestellt. Die katholische Kirche bekämpfte diese Institution erfolglos. Vgl. Miriam E. Berger, Trial Marriage. Harnessing the Trend Constructively, in  : The Family Coordinator, vol. 20 (1971), No. 1, 38–43. Roberto Mac-Lean y Estenos, El Sirvinacuy. Matrimonio de Prueba entre los Aborigenes Peruanos, in  : Revista Mexicana de Sociología, vol. 3 (1941), 1, 25–33.   4 Carmen Bernand/Serge Gruzinski, Die Kinder der Apokalypse  : Die Familie in Mittelamerika und den Anden, in  : André Burguière u. a., Hg., Geschichte der Familie. Neuzeit, Frankfurt am Main 1997, 195–268.   5 Exogamie (griech. exo = außen, gamos = Heirat) ist die Verpflichtung, außerhalb der eigenen Abstammungsgruppe (z. B. der Lineage oder der Sippe) zu heiraten  ; im Gegensatz zu Endogamie, der Verpflichtung zur Binnenheirat (griech. endo = innen). Der Partner/die Partnerin muss innerhalb der Abstammungsgruppe oder innerhalb der sozialen Gruppe (soziale Endogamie) gewählt werden. Lineage ist eine Verwandtschaft, deren Angehörige von einem Ahnen resp. einer Ahnin in direkter Linie abstammen. Sippe und brit. clan werden von Ethnologen resp. Anthropologen (m/w) meist synonym gebraucht und bedeuten Abstammungsgruppen. Der Unterschied zu Lineage ist, dass Sippe und clan weniger zuverlässig auf eine geklärte Abstammungslinie verweisen.   6 Bernand/Gruzinski, Die Kinder der Apokalypse, 202.   7 Susan Kellogg, Law and the Transformation of Aztec Culture, 1500–1700, Norman/London 1995. Synkretismus bedeutet die Vermischung von in Kontakt geratenen verschiedenen Philosophien, Religionen, Lebensstilen etc., durch welche ein Neues entsteht, das sich von den vermischten Elementen deutlich unterscheidet.   8 Barbara Potthast-Jutkeit, „Jetzt denk ich nicht ans Heiraten“. Die Entwicklung in Amerika, in  : Michael Mitterauer/Norbert Ortmayr, Hg., Familie im 20. Jahrhundert. Traditionen, Probleme, Perspektiven, Frankfurt am Main 1997, 65–85, hier  : 71.   9 Bernand/Gruzinski, Die Kinder der Apokalypse, 209 f. 10 Die Gregorianische Reform schuf im 11. und 12. Jahrhundert einen ordo der Ehe. Zwar galt der geistliche ordo (der Eintritt in einen Orden) der weltlichen Ehe überlegen. Dies wird auch vom Konzil von Trient noch bestätigt. Doch wies die römische Kirche der Ehe neben ihrem Charakter als Vertrag auch den Status eines Sakraments zu. Die Ehe galt nur, wenn Mann und Frau sie aus freiem Willen vor einem Priester geschlossen hatten  ; sie galt als unauflösbar. Sogar der Tod eines Ehepartners löste sie nicht auf  ; zugleich zeigen regionale Quellen aus Europa, dass Wiederverheiratung dennoch häufig vorkam – besonders nach Epidemien (Pest, Cholera), wenn junge Frauen Witwen geworden waren. Die Reformatoren Luther und Calvin fochten die katholische Eheauffassung an. Sie akzeptierten die Scheidung nach Ehebruch und im Fall des fortgesetzten Fernbleibens vom ehelichen

333

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 333

22.09.2010 07:50:34

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

Haushalt (desertio maliciosa)  ; die Möglichkeit der Scheidung wurde aber bis zum 20. Jahrhundert nur selten genutzt. Das katholische Konzil von Trient wandte sich entschieden gegen die Auffassung der Protestanten und hielt an der Unauflösbarkeit der Ehe fest. Vgl. André Burguière/François Lebrun, Der Priester, der Fürst und die Familie, in  : Burguière u. a., Hg., Geschichte der Familie. Neuzeit, Essen 2005, 119–194, hier  : 121 f. 11 Toribio de Benavente Motolinía, Memoriales, Mexiko 1971, zit. n. Bernand/Gruzinski, Die Kinder der Apokalypse, 223. 12 Das spanische Sprichwort lautete  : “mejor mal casado que bien amancebado”  ; vgl. Robert McCaa, Marriage Ways in Mexico and Spain, 1500–1900, in  : Continuity and Change 9/1 (1994), 11–44. 13 Die nach Europa exportierte Kartoffel stammte wahrscheinlich aus der südperuanischen Region um den Titicaca-See. 14 Oft weben die indigenen Frauen eines Dorfes auch heute noch alle dasselbe Stoffmuster für Hemden und Kleider, das sie mit ihrem Dorf identifiziert. 15 Z. B. in den Salinen von Maras, im Hochland der peruanischen Anden, ca. 3000 Meter über dem Meer  ; „Salzbauern“ (salineros) besitzen hier seit Generationen jeweils fünf bis zehn Terrassenbecken an den steilen Abhängen der Anden. Aus einem Salzstock im Inneren des Berges wird das Salzwasser über einen Hauptkanal in die Becken geleitet, wo es, nur ca. zehn Zentimeter hoch stehend, in der Sonne verdunstet und zarte Salzblumen (große Salzkristalle mit Restfeuchte) zurückbleiben. Salzbauer, -bäuerin und deren Kinder haben mehrere Salzernten im Jahr, transportieren das Salz auf Tragtieren auf Wegen ins Tal, die schon die Inkas nutzten, und verkaufen es an Großhändler, die das „Gold der Anden“ nach Europa und nach Nordamerika exportieren. 16 Vgl. Hugo Nutini/Betty Bell, Ritual Kinship. The Structure and Historical Development of the Compadrazgo System in Rural Tlaxcala, Princeton 1980. 17 Ebd. 18 Exemplarisch Gabriel García Márquez, Leben, um davon zu erzählen, 4. Auflage, Köln 2003. Der Kolumbianer Márquez erzählt in dieser Autobiografie u. a., wie seine Mutter nach und nach von unehelichen Kindern ihres Ehemannes erfährt und diese rituell in die Familie aufnimmt. 19 Ann Twinam, Public Lifes, Private Secrets. Gender, Honor, Sexuality, and Illegitimacy in Colonial Spanish America, Stanford 1999. 20 Vgl. Diana Balmori u. a., Notable Family Networks in Latin America, Chicago 1984  ; Dain Borges, The Family in Bahia, Brazil, 1870–1945, Stanford 1992. 21 Larissa Lomnitz/Marisol Pérez-Lizaur, Dynastic Growth and Survival Strategies. The Solidarity of Mexican Grand-Families, in  : Elisabeth Jelin, Hg., Family, Household and Gender Relations in Latin America, London/Paris 1991, 129. 22 Nepotismus (von lat. Nom. nepos, Gen. nepotis für Enkel, Nachkomme, Neffe), auch Vetternwirtschaft genannt, ist die Besetzung von Posten, Ämtern und Arbeitsplätzen nach dem Kriterium der Verwandtschaft zu Entscheidungsträgern in privatwirtschaftlichen Unternehmen, aber auch in der öffentlichen Verwaltung des Staates und der Gemeinden. 23 Balmori u. a., Notable Family Networks, 5. 24 Dain Borges, The Family in Bahia, Brazil, 1870–1945, Stanford 1992. 25 Vgl. David Martin, Tongues of Fire. The Explosion of Protestantism in Latin America, Oxford 1990. 26 S. Torrado, Procreación en Argentina, Buenos Aires 1993, 277 ff.  ; Marifran Carlson, Feminismo. The Woman’s Movement in Argentina From Its Beginnings to Eva Peron, Chicago 1988. 27 Vgl. Barbara Potthast-Jutkeit, „Paradies Mohammeds“ oder „Land der Frauen“  ? Zur Rolle der Frau und der Familie in der paraguayischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Köln/Wien/Weimar 1994, 96 f., 129 f.  ; Barbara Potthast, Von Müttern und Machos. Eine Geschichte der Frauen Lateinamerikas, Wuppertal 2003.

334

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 334

22.09.2010 07:50:34

Haus und Familie

28 Elizabeth Dore, Gender Politics in Latin America. Debates in Theory and Practice, New York 2000. 29 Vgl. Claudia Fonseca, Spouses, Siblings, and Sex-Linked Bonding. A Look at Kinship Organization in a Brazilian Slum, in  : Elisabeth Jelin, Hg., Family, Household and Gender Relations in Latin America, London/Paris 1991, 133–160. 30 Ebd. 31 Helen Safa, The Myth of the Male Breadwinner. Women and Industrialization in the Caribbean, Boulder u. a. 1995, 116 ff. 32 Die Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN, deutsch  : „Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung“) ist eine indigene und mestizische Guerillaorganisation in Chiapas, die im Jänner 1994 einen bewaffneten Aufstand durchführte und sich seitdem mit politischen Mitteln für die Rechte der indigenen und mestizischen Bevölkerung Mexikos, aber auch generell gegen neoliberale Politik und für autonome Selbstverwaltung einsetzt. Der Name ist eine Referenz an Emiliano Zapata, einen der Führer der Mexikanischen Revolution, in dessen Tradition sich die EZLN sieht. Daher werden die Anhänger der Bewegung auch Zapatistas genannt. 33 L. Stephen, Women and Social Movements in Latin America, Austin 1997. 34 Vgl. M. E. Benítez Perez, Familia Cubana, La Habana  : Editorial de Ciencias Sociales 1999, 6, 77  ; zit. n. Göran Therborn, Between Sex and Power. Family in the world, 1900–2000, New York 2004, 104. 35 Barbara Potthast unterscheidet nur „zwei Familienmodelle“  : das patriarchalische der Oberschicht und das informelle, mutterzentrierte und matrifokale der Unterschichten. Vgl. dies., Familienstrukturen und Genderbeziehungen, in  : Friedrich Edelmayer/Bernd Hausberger/Barbara Potthast, Hg., Lateinamerika 1492–1850/70, Wien 2005, 244–263, hier  : 258. 36 „Intersektionalität“ ist ein Konzept in den rezenten Kultur- und Geschlechterforschungen und meint das je und je verschiedene Ineinanderwirken von Differenzen des Geschlechts, der sozialen Klasse, der Hautfarbe, der Religion u. a.  ; vgl. Leslie McCall, The Complexity of Intersectionality, in  : Signs 30 (2005), 1771–1800. 37 Über die Bauern-Handwerker im ländlichen China des 19. Jahrhunderts zitiert Karl Marx einen Vertreter Großbritanniens in Kanton  : „Wenn die Ernte eingebracht ist, machen sich im Bauernhaus alle zusammen, ob jung oder alt, ans Kämmen, Spinnen und Weben dieser Baumwolle  ; und mit diesem selbstgesponnenen Zeug, einem schweren und haltbaren Stoff, wie geschaffen für die grobe Behandlung, der er zwei oder drei Jahre lang ausgesetzt wird, kleiden sie sich, und den Überschuß bringen sie in die nächste Stadt, wo der Krämer es für die Stadtbevölkerung und die Bootmenschen auf den Flüssen kauft. Mit diesem selbstgesponnenen Zeug kleiden sich neun von zehn Menschen in diesem Lande […] Der Bauer aus Fukien ist somit kein bloßer Landwirt, sondern Ackerbauer und Handwerker in einer Person. Die Herstellung dieses Stoffes kostet ihn buchstäblich nichts weiter als das Rohmaterial. Er produziert es, wie gezeigt wurde, unter seinem eigenen Dache mit seinen Frauen und seinem Gesinde. Es kostet ihn weder zusätzliche Arbeitskräfte noch zusätzliche Zeit. Er läßt seine Leute spinnen und weben, während die Feldfrüchte reifen und nachdem sie geerntet sind und wenn die Außenarbeiten wegen Regenwetters unterbrochen werden müssen.“ Karl Marx, Der Handel mit China (New-York Daily Tribune Nr. 5808 vom 3. Dezember 1859, in  : Karl Marx Friedrich Engels Werke Band 13, Berlin 1975, 540–547, hier  : 543. Die im Zitat erwähnten „Bootmenschen“ kamen um 1500 aus dem Norden auf dem Perlfluss nach Kanton, wurden dort aber nicht an Land gelassen und lebten auf ihren Booten. Sie wurden erst nach der Errichtung der Volksrepublik 1949 vollberechtigte Bürgerinnen und Bürger. 38 Michel Cartier, Der lange Marsch der Familie in China, in  : André Burgière u. a., Hg., Geschichte der Familie. Neuzeit, Frankfurt am Main 1997, 269–303, hier  : 279. 39 Arthur P. Wolf, Chinese Family Size. A Myth Revitalized, in  : Hsieh Jih-chang/Chuang Yin-chang, Hg., The Chinese Family and its Ritual Behavior, Taipei 1985.

335

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 335

22.09.2010 07:50:34

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

40 Sati ist die rituelle Verbrennung von Frauen in einigen indischen Religionsgemeinschaften nach dem Tod des Mannes auf demselben Scheiterhaufen, auf dem zuvor der Leichnam des Mannes verbrannt worden war. Besonders häufig war die Witwenverbrennung bei den Kshatriya-Kasten, wie z. B. den Rajputs in Nordindien, wo sie bis heute vereinzelt vorkommt. 41 Arthur P. Wolf/Chieh-shan Huang, Marriage and Adoption in China, 1845–1945, Stanford 1980, 185. 42 Tai Yen-hui, Divorce in Traditional Chinese Law, in  : D. Buxbaum, Hg., Chinese Family Law and Social Change, Seattle/London 1978. 43 Einen sehr guten, knappen Überblick über die Geschichte Chinas im 19. und 20. Jahrhundert bietet Erich Pilz, von der Kolonialmacht zur Halbkolonie. China, in  : Michael Mann, Hg., Die Welt im 19. Jahrhundert, Wien 2009, 64–91  ; sowie ders., Von Konfuzius zu Marx. China und die Moderne Welt, in  : Walther L. Bernecker/Hans Werner Tobler, Hg., Die Welt im 20. Jahrhundert bis 1945, Wien 2010, 192–221. 44 Das Füßebinden war Tradition in den Ober- und Mittelschichtfamilien. Je kleiner der Fuß („Lilienoder Lotusfuß“), desto attraktiver das Mädchen, desto höher das Ansehen und die Heiratschancen. Ein früher Versuch (1642) der Mandschu-Regierung, es zu verbieten, scheiterte am Widerstand der chinesischen Ober- und Mittelschichten  ; er wurde als Eingriff des ethnisch fremden Herrscherhauses (der Qing-Dynastie) gesehen und mobilisierte den Widerstand der chinesischen Bevölkerung. Nach der Taiping-Bewegung bekämpfte die erste chinesische Frauenbewegung, die aus der Reformbewegung von 1898 hervorging, das Füßebinden. 45 Am 4. Mai 1919 demonstrierten Tausende Studenten in Beijing gegen die Verhandlungsführung der republikanisch-chinesischen Regierung in Vorbereitung des Versailler Vertrags und beschuldigten sie der Kapitulation vor den Forderungen Japans. Die friedliche Demonstration wurde von der Armee gewaltsam aufgelöst. Dies löste eine Protest- und Streikwelle aus, die alle großen Städte Chinas ergriff. 46 Nach Abschaffung des kaiserlichen Prüfungswesens 1905 nahm die Bedeutung der von Missionaren in den großen Hafenstädten des Südens gegründeten Elite-Schulen zu. Ein anderer Weg zu höherer Bildung führte über Auslandsaufenthalte in Europa, Amerika oder Japan. Tausende von Jugendlichen aus der Oberschicht wurden nach Übersee geschickt. Darüber kamen sie mit Diskursen der westlichen Moderne und mit revolutionären und reformistischen Gruppen und Geheimgesellschaften im Exil in Kontakt, die den Sturz der Mandschu vorbereiteten. Vgl. Cartier, Der lange Marsch der Familie in China, 276. 47 Konfuzianismus  : Konfuzius (Kongzi, Kongfuzi), 551 v. Chr. geboren, Sohn eines Heerführers aus einem verarmten Adelsgeschlecht. Er war als Lehrer und Berater tätig, auch als Minister des Staates Lu, verbrachte lange Jahre im Exil. Ab 496 v. Chr. zog Konfuzius 13 Jahre lang mit seinen Schülern durch das Land, studierte Musik und Bräuche. In dieser Zeit soll er auch Laozi getroffen haben, einen anderen Philosophen des alten China, Begründer des Daoismus. Konfuzius starb um 480 v. Chr. Nach seinem Tod erlangte er höchste staatliche Ehren  ; er erhielt die Würde eines chinesischen Kaisers und wurde Gottheiten gleichgestellt. Ziel von Konfuzius’ Lehren war es, die mythologischen und religiösen Wertesysteme des chinesischen Feudalreiches zu erneuern. – Konfuzianismus ist heute der Begriff für Philosophien und politische Vorstellungen, die sich in die Tradition des Konfuzius und seiner Schüler stellen. Er gehört neben Buddhismus und Daoismus zu den „Drei Lehren“ und beeinflusst den Alltag in China, Japan, Korea, Singapur, Taiwan und Vietnam. Vgl. auch Kap. 16, Religionen. 48 Weiyan Farmer, Attitudes towards Marriage and Divorce among Women in Modern China, in  : Daniel Bertaux/Paul Thompson, Hg., Between Generations. Family Models, Myths, and Memories, Oxford 1993, 81–97, hier  : 81. 49 Als „feudalistische Großfamilie“ beschrieb Ba Jin in kritischer Distanz, die er u. a. seinem Aufenthalt in Frankreich verdankte, ein Haus, das mehrere familiale Einheiten umfasst. Was sie trotz starker Konflikte und Aggressionen zusammenhält, ist die Tradition und der ererbte Besitz (Haus und

336

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 336

22.09.2010 07:50:34

Haus und Familie

Grund). Die beiden jüngeren Brüder sind von der „Bewegung des 4. Mai“ (s. o.) fasziniert. Sie versuchen sich einer arrangierten Heirat zu entziehen und bevorzugen eine Partnerwahl aus Liebe. Doch bleibt nur die Flucht vor dem Familienregime in die Großstadt Schanghai. Vgl. Gudula Linck, Frau und Familie in China, München 1988, 110 f.  ; Cartier, Der lange Marsch, 278. 50 Als Überblick vgl. Jürgen Osterhammel, Die Chinesische Revolution, München 1997. 51 Wolf/Huang, Marriage and Adoption in China. 52 Chiang Kai-shek (auch  : Tschiang Kai-schek  ; 1887–1975) war Generalissimus und Militärdiktator während der Zeit der chinesischen Bürgerkriege und dann Präsident der Republik China in Taiwan. 53 Therborn, Between Sex and Power, 87. 54 Susan L. Glosser, Chinese Visions of Family and State, 1915–1953, Berkeley u. a. 2003, 200. 55 Siehe den Überblick über die Entwicklung des Staatsgebiets bei Pilz, Von Konfuzius zu Marx. 56 Therborn, Between Sex and Power, 94. 57 Dieser US-amerikanischen Delegation gehörten renommierte Psychologen, Soziologen und Mediziner (m/w) an. Sie reiste 1973 in China ein und besuchte mehrere Landkommunen und städtische Industriesiedlungen, wo sie Interviews mit Eltern, Lehrerinnen und Kadern führte und Kinder in Familien, Kindergärten und Schulen beobachtete. Der danach von Uri Bronfenbrenner verfasste Teilbericht „Die chinesische Familie“ bezieht sich auf ungefähr zwanzig Familien, die in zwei Kommunen und zwei Arbeitersiedlungen lebten. Er verzeichnet eine Reihe von genauen Beobachtungen und Gesprächseindrücken. Bronfenbrenner  : „Im Alter scheinen die Eltern allgemein bei einem ihrer verheirateten Kinder zu leben. Für ihre Hilfe bei der Pflege der Kinder und bei Arbeiten im Hause erhalten sie ökonomische Unterstützung. […] Die alten Leute arbeiten, solange sie dazu in der Lage sind, weiter auf den Gemeinschaftsfeldern mit und verdienen dabei ihren Leistungen entsprechend Arbeitspunkte. Auf der Fen-huo Brigade wurde uns eine aus sechs Siebzigjährigen bestehende ‚AlteLeute-Arbeitsgruppe‘ gezeigt, die die Obstgärten der Brigade pflegte. Alte Bauern, die nicht mehr auf den Gemeinschaftsfeldern arbeiten können, erhalten natürlich nicht diese Einkünfte und sind, so wie in früherer Zeit, auf die Unterstützung der jüngeren Verwandten angewiesen oder, falls sie keinen Verwandten haben, auf die kommunale Fürsorge.“ Vgl. Uri Bronfenbrenner, Die chinesische Familie, in  : William Kessen, Hg., Kindheit in China (1975), München/Wien 1976, 22–68, hier  : 26. 58 „The cadres from my workplace said that I was corrupting a son of a working-class family. We were told that there was only love with a class base. If I married him, it would be an insult to the working class. We had to be parted.“ – Farmer, Marriage and Divorce, 89. 59 Linck, Frau und Familie in China, 135. 60 Der Besitz von Kunstgegenständen, Bibliotheken oder teuren Möbeln galt als Indiz für eine bürgerlich-feudale Lebensweise. 61 Die Verschickung von Jugendlichen auf das Land zur politisch-ideologischen „Umerziehung“ war schon in den Anfängen der Volksrepublik, z. B. in einer „Anti-Rightist“-Kampagne Ende der 1950er Jahre, üblich  ; vgl. Weieyan, Marriage and Divorce, 87  ; Stig Thøgersen, Secondary Education in China After Mao. Reform and Social Conflict, Aarhus 1990  ; Zahlenangaben nach Cartier, Der Lange Marsch, 298. 62 José Reinoso, Mao todavía da miedo. Pekín empieza a sacar a la luz, tímidamente, los archivos secretos de la Revolución Cultural, in  : El País, Domingo 04.04.10, 14. 63 Ungefähr 100.000 Ultraschallgeräte sollen um 1990 – in Autos montiert – durch China unterwegs gewesen sein. Vgl. Norbert Ortmayr, Faktoren des außereuropäischen Familienwandels, in  : Michael Mitterauer/Norbert Ortmayr, Hg., Familie im 20. Jahrhundert. Traditionen, Probleme, Perspektiven, Frankfurt am Main 1997, 165–181, hier  : 170. Ortmayr weist auch auf ganz ähnliche Praktiken in Indien hin. 64 http  ://www.de-cn.net/dis/dem/de4792988.htm Führt die Zwei-Kind-Politik ein – und zwar schnell  !,

337

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 337

22.09.2010 07:50:34

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

Interview mit dem Präsidenten der Volksuniversität Peking, Ji Baocheng, Deutsch-chinesisches Kulturnetz, Juli 2009. 65 Gudula Linck, „Unter dem Schatten der Ahnen“ – Die Entwicklung in China, in  : Mitterauer/Ortmayr, Hg., Familie im 20. Jahrhundert, 105–124, hier  : 116. 66 Vgl. Michel Cartier, Three Generation Families in Contemporary China  : the Emergence of the Stem Family  ? in  : Antoinette Fauve-Chamoux/Emiko Ochiai, Hg., The Stem Familiy in Eurasian Perspective. Revisiting House Societies, 17th–20th centuries, Bern u. a. 2009, 479–495. 67 John Hajnal, European Marriage Pattern in Perspective, in  : D. V. Glass/D. E. C. Eversley, Hg., Population and History, London 1965, 101–145. 68 Ausführlich dazu Maria Todorova, Zum erkenntnistheoretischen Wert von Familienmodellen. Der Balkan und die ‚europäische Familie‘, in  : Josef Ehmer u. a., Hg., Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen, Frankfurt am Main 1997, 283–300. 69 Michael Mitterauer, Sozialgeschichte der Familie. Kulturvergleich und Entwicklungsperspektiven, Wien 2009, 17 ff. 70 Peter Czap jun., „Eine zahlreiche Familie – des Bauern größter Reichthum“. Leibeigenenhaushalte in Mišino, Rußland 1814–1858, in  : Michael Mitterauer/Reinhard Sieder, Hg., Historische Familienforschung, Frankfurt am Main 1982, 192–240. 71 Czap jun., „Eine zahlreiche Familie – des Bauern größter Reichthum“, 213. 72 Andrejs Plakans, Family and Kinship, in  : Peter N. Stearns, Hg., Oxford Encyclopedia of the Modern World. 1750 to the Present, Bd. 3, Oxford 2008, 246–251. 73 André Burguière/François Lebrun, Die Vielfalt der Familienmodelle in Europa, in  : Burguière u. a., Hg., Geschichte der Familie. Neuzeit, Essen 2005, 13–118, hier  : 43. 74 Für die Viehzuchtgebiete der Gebirgsregionen Mazedoniens, der Herzegowina, Nord- und Zentralmazedoniens und Mittelalbaniens  ; vereinzelt werden multiple Haushalte auch für den nordwestlichen Balkan in Bulgarien, Teile von Montenegro und Nordalbanien berichtet  ; vgl. Todorova, Zum erkenntnistheoretischen Wert von Familienmodellen, 288. 75 Vgl. Basile Kerblay, Sozialistische Familien, in  : Burguière u. a., Hg., Geschichte der Familie. 20. Jahrhundert, 91–136, hier  : 102. 76 Ebd., 289 f. 77 Karl Kaser, The Balkan family pattern. Unveröffentlichter Beitrag zur PECO-Konferenz “Where does Europe end  ?”, Budapest 1994, 1, 10, zit. n. Todorova, Zum erkenntnistheoretischen Wert, 296. 78 Für die Regionen Gascogne und Languedoc. Hier legten seit dem 15. und 16. Jahrhundert die Familienoberhäupter fest, dass ihre Kinder vor ihrem Tod heiraten, aber im Haus bleiben sollten. Dies aufgrund des landwirtschaftlich zu bewirtschaftenden Bodens, dem durch Erbteilung Zersplitterung drohte. Die Familienoberhäupter verfügten auch, dass „die Erben“ auf Lebenszeit die Landwirtschaft (in den Bergen Schaf- und Ziegenzucht, sonst Obstbau und Weinbau) gemeinsam führen sollten  ; d. h. nach ihrem Tod blieben mehrere verheiratete Brüder mit ihren Frauen und Kindern im Elternhaus und im elterlichen bäuerlichen Betrieb. 79 Christiane Klapisch-Zuber/David Herlihy, Les Toscans et leurs familles, Paris 1978. 80 Ebd. 81 Vgl. Reinhard Sieder/Michael Mitterauer, The reconstruction of the family life course  : theoretical problems and empirical results, in  : Richard Wall, Hg., Family Forms in Historic Europe, Cambridge 1983, 309–345. 82 Burguière/Lebrun, Die Vielfalt der Familienmodelle in Europa, 48. 83 Ebd., 49. Artois (ndl. Artesië  ; dt. auch Artesien) ist eine frühere Provinz im Norden Frankreichs und liegt im Inneren des Département Pas-de-Calais. 84 „Beschreibung des sittlichen und politischen Zustandes der Bewohner des Thales Neuberg im Mürz­-

338

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 338

22.09.2010 07:50:34

Haus und Familie



thale Steyermarks“ (1803), analysiert bei Reinhard Sieder, Die Liebe der Ledigen auf dem Land. Intime Beziehungen der Dienstboten um 1800, in  : ders., Die Rückkehr des Subjekts in den Kulturwissenschaften, Wien 2004, 95–126.   85 Erich Landsteiner/Ernst Langthaler, Ökotypus Weinbau  : Taglöhner- oder Smallholder-Gesellschaft  ?, in  : Franz Eder u. a., Hg., Wiener Wege der Sozialgeschichte, Wien u. a., 1997, 183–224.   86 David Gaunt, Formen der Altersversorgung in Bauernfamilien Nord- und Mitteleuropas, in  : Michael Mitterauer/Reinhard Sieder, Hg., Historische Familienforschung, Frankfurt am Main 1982, 156–191.   87 Die wirtschaftliche Größe hing allerdings nicht nur von der Grundfläche, sondern auch von der Art der Landnutzung ab  ; so sind 3 Hektar Grünland ‚klein‘, während 3 Hektar Weingarten ‚groß‘ sind.   88 Vgl. Rainer Beck, Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993.   89 Pfarren bilden jeweils die Grundgesamtheit der kirchlichen Seelenbeschreibungen/lat. status animarum, auf deren quantifizierender Analyse die meisten hier zitierten Untersuchungen beruhen.   90 Vgl. Wilhelm Heinrich Riehl, Die Familie, 1856. 4. Auflage Stuttgart 1885  ; Frédéric Le Play, L’organisation de la famille selon le vrai modèle signalé par l’histoire de toutes les races et de tous les temps, Tours 1871.   91 Vgl. Peter von Blankenburg, Einführung in die Agrarsoziologie, Stuttgart 1962.   92 Der Sozialhistoriker Otto Brunner erhob das „ganze Haus“ zur Kerninstitution der abendländischen Kulturtradierung. Es sei die grundlegende soziale Form aller Bauern- und Adelskulturen, vom Neolithikum bis ins 19. Jahrhundert. Der entscheidende Vorzug schien Brunner (wie vor ihm Riehl und Le Play) die Integration von Produktion und Reproduktion im Bauernhaus sowie die Neutralisierung des sozialen Konflikts in der patriarchalen Ordnung des Hauses. U. a. dieses Gedankengut fügte sich in den 1930er-Jahren in die Bauern- und Hofideologie der Nationalsozialisten. Vgl. Otto Brunner, Das ganze Haus und die alteuropäische ‚Ökonomik‘, in  : ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Auflage, Göttingen 1968, 103–127.   93 David Sabean, Property, Production, and Family in Neckarhausen, 1700–1870, New York 1990.   94 Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückschen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650–1860, Göttingen 1994  ; ders., Strong Myths and Flexible Practises  : House and Stem Family in Germany, in  : Antoinette Fauve-Chamoux/Emiko Ochiai, Hg., The Stem Family in Eurasian Perspective. Revisiting House Societies, 17th–20th centuries, Bern 2009, 81–102.   95 Sieder/Mitterauer, The reconstruction of the family life course.   96 Zur synchronen Verknüpfung derart unterschiedlicher Arbeitsverhältnisse in frühen industriekapitalistischen Regimen vgl. das Kapitel 8, Arbeitsverhältnisse, in diesem Band.   97 Vgl. P. Pierrard, La Vie quotidienne dans le Nord au XIXe siècle, Paris 1976.   98 Vgl. Martine Segalen, Die Industrielle Revolution  : vom Proletarier zum Bürger, in  : André Burguière u. a., Hg., Geschichte der Familie. 20. Jahrhundert, Essen 2005, 13- 58, hier  : 20.   99 Vgl. Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt am Main 1995, 68. Polanyi folgt weitgehend der berühmten Darstellung von Karl Marx. 100 Michael Anderson, Household Structure and the Industrial Revolution. Mid-nineteenth Century Preston in Comparative Perspective, in  : Peter Laslett, Hg., Household and Family in Past Time, Cambridge 1972, 215–235. 101 Vgl. Elizabeth Roberts, Women and Families. An Oral History, 1940–1970, Oxford 1995, 175 ff.  ; Roberts betont die gewichtige Hilfe durch Großeltern, auch wenn sie oft nicht im Haushalt eines verheirateten Kindes, aber „nearby“ lebten, nahe genug, um täglich Leistungen im Haushalt der erwerbstätigen Töchter und Schwiegertöchter zu erbringen. Die wechselseitige Verpflichtung zur Hilfe sei in Arbeiterfamilien der Grafschaft bis in die 1970er-Jahre weit verbreitet gewesen.

339

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 339

22.09.2010 07:50:35

Internationale Haus undArbeitsteilung Familie

102 Segalen, Die Industrielle Revolution, 36 ff. 103 Als Überblick Reinhard Sieder, Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt am Main 1987, Kapitel V, 146 ff.  ; auch Heidi Rosenbaum, Proletarische Familien. Arbeiterfamilien und Arbeiterväter im frühen 20. Jahrhundert zwischen traditioneller, sozialdemokratischer und kleinbürgerlicher Orien­ tierung, Frankfurt am Main 1992. 104 Vgl. Reinhard Sieder, „Vata, derf i aufstehn  ?“ Kindheitserfahrungen in Wiener Arbeiterfamilien um 1900, in  : Hubert C. Ehalt u. a., Hg., Glücklich ist, wer vergißt…  ? Das andere Wien um 1900, Wien u. a. 1986, 39–89. 105 Segalen, Die Industrielle Revolution, 24. 106 Vgl. Peter Feldbauer, Stadtwachstum und Wohnungsnot. Determinanten unzureichender Wohnungsversorgung in Wien 1848 bis 1914, Wien 1977. 107 J. Sandrin, Enfants trouvés, enfants ouvriers, Paris 1982, 156, zit. n. Segalen, Die Industrielle Revolution, 28. 108 Vgl. Reinhard Sieder, Das Volk und seine Meister. Alltagsleben und Kommunalpolitik im Roten Wien, bes. d. Kapitel „Gassenkinder“ (Druck in Vorbereitung). 109 Gudrun Wolfgruber, Zwischen Hilfestellung und sozialer Kontrolle. Jugendfürsorge im Roten Wien, dargestellt am Beispiel der Kindesabnahme, Wien 1997. 110 Günter Uhlig, Kollektivmodell „Einküchenhaus“, Gießen 1981. 111 Vgl. Gottfried Pirhofer/Reinhard Sieder, Zur Konstitution der Arbeiterfamilie im Roten Wien. Familienpolitik, Kulturreform, Alltag und Ästhetik, in  : Mitterauer/Sieder, Hg., Historische Familienforschung, 326–368. 112 Als Überblick vgl. Sieder, Sozialgeschichte der Familie, Kapitel IV, 125 ff. 113 Grundlegend Karin Hausen, Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in  : Werner Conze, Hg., Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, 363–393. 114 Ebd. 115 Zu den städtischen Dienstleistungsgewerben im 18. Jahrhundert vgl. Helmut Möller, Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert. Verhalten und Gruppenkultur, Berlin 1969. 116 So der gelernte Goldschmied Klöden im Rückblick auf seine Lehrzeit Ende des 18. Jhs., zit. n. Möller, Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert. Kursivierung von mir. 117 Hilde Thurnwald, Gegenwartsprobleme Berliner Familien, Berlin 1948, 235. 118 Vgl. Peter Flora, State, Economy, and Society in Western Europe, 1815–1975, 2 Bde., Band 2, Frankfurt am Main 1987, 160 f. 119 Vgl. Ulrich Preuss u. a., Hg., Kriegskinder – Konsumkinder – Krisenkinder, Weinheim 1983  ; Hellmut Lessing, Hg., Kriegskinder, Frankfurt am Main 1984. 120 Funk und Film, 14. Jg. (1958), Nr. 10, 8. März 1958. Das Titelbild zeigt eine Mittelschichtfamilie, die Frau im Kostüm, der Mann mit Anzughose, weißem Hemd und Krawatte, zwei adrett gekleidete kleine Buben. Der rote Kleinwagen würde auch nicht mehr als zwei Kinder fassen. Selbstredend steht der Mann an der Seite des Volants, die Frau an der Beifahrerseite, die kleinen Kinder sitzen auf dem Dach des Kleinwagens, der ein Wiener Kennzeichen trägt. 121 Vgl. Marina Fischer-Kowalski, Sozialer Wandel in den 1970er Jahren, in  : Reinhard Sieder u. a., Hg., Österreich 1945–1995. Gesellschaft – Politik – Kultur, 2. Auflage, Wien 1996, 200–212, hier  : 204. 122 Vgl. Jutta Gysi, Familienleben in der DDR. Zum Alltag von Familien mit Kindern, Berlin-Ost 1989  ; Therborn, Between Sex and Power, 227 ff. 123 Reinhard Sieder, Besitz und Begehren, Erbe und Elternglück. Familien in Deutschland und Öster­ reich, in  : Burguière u. a., Hg., Geschichte der Familie. 20. Jahrhundert, 211–284, Essen 2005, 211– 284  ; ders., From Patriarchy to New Fatherhood  ? Private Life and the Process of Modernization in

340

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 340

22.09.2010 07:50:35

Haus und Familie

Twentieth-Century Austria, in  : Günter Bischof/Anton Pelinka, Hg., The Americanization/Westernization of Austria. New Brunswick/London 2004, 186–198. 124 Reinhard Sieder, Kinder nach der Trennung und Scheidung ihrer Eltern, in  : Integrative Therapie. Zeitschrift für vergleichende Psychotherapie und Methodenintegration, 35, Nr. 2/3, Oktober 2009, 169–193  ; ders., Männer in Patchworkfamilien, in  : Karin Jurcyk/Andreas Lange, Hg., Vaterwerden und Vatersein heute. Neue Wege – neue Chancen  ! Gütersloh 2009, 289–307. 125 Vgl. Reinhard Sieder, Patchworks – Das Familienleben getrennter Eltern und ihrer Kinder, Stuttgart 2008. Dort zahlreiche Literaturhinweise. 126 Anita Heiliger, Allein erziehen als Befreiung. Mutter-Kind-Familien als positive Sozialisationsform und als gesellschaftliche Chance, 2. Auflage, Pfaffenweiler 1993  ; Ruth Simsa, Kein Herr im Haus. Alleinerziehen – Eine Auseinandersetzung, Frankfurt am Main 1994. 127 Lisa Herrmann-Green/Monika Herrmann-Green, Familien mit lesbischen Eltern in Deutschland, in  : Zeitschrift für Sexualforschung, Jg. 21 (2008), Heft 4, 319–340. 128 Susanne Bühler, Elternschaft gleichgeschlechtlicher Paare  ?, in  : Familienfragen. Informationsbulletin der Zentralstelle für Familienfragen am Bundesamt für Sozialversicherung, Gleichgeschlechtliche Paare  : Auf dem Weg zur Gleichstellung, Heft 2/2000, Bern 2000, 17–20  ; Sushila Mesquita, Homo.Ehe.Norm. Ambivalenzen der (Hetero-)Normalisierung im Schweizer Partnerschaftsgesetz, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften ÖZG 20 (2009), Band 3, Ehe.Norm, hg. v. Maria Mesner, 134–144. 129 Das Kollektivgedächtnis (im Sinne von Maurice Halbwachs) wird durch Kommunikation in diversen Arenen des Alltagslebens, der Künste, der Wissenschaften, der Religionen etc. aufrechterhalten. Es bestimmt die individuellen Gedächtnisse, wie es umgekehrt aus den Gedächtnissen der Personen genährt wird. 130 Alan J. Hawkins/David C. Dollahite, Hg., Generative Fathering. Beyond Deficit Perspectives, Thousand Oaks/CA 1997  ; Heinz Walter, Hg., Männer als Väter. Sozialwissenschaftliche Theorie und Empirie, Gießen 2002. 131 Vgl. Bertrand Russel, Marriage and Morals, London 1929. Russel sprach sich für Probeehen (s. o. die Probeehen einiger indigener Völker in den Anden) und für die „companionate marriage“ aus  ; unter beidem verstand er formalisierte Beziehungen, die es jungen Leuten ermöglichen sollten, legitimen Sexualverkehr zu haben mit der Aussicht, bei hinreichender Passung zu heiraten und Kinder zu bekommen – etwa das, was die peruanischen Andenbewohner (m/w) seit Jahrhunderten auch gegen den Willen der christlichen Missionare mit einigem Erfolg praktizieren. 132 Dossie Easton/Janet W. Hardy, The Ethical Slut  : A Guide to Infinite Sexual Possibilities, Emeryville/CA 1998 (ursprünglich unter dem Pseudonym Catherine A. Liszt). Das Buch ist in 2. Auflage unter dem Titel Ethical Slut  : A Roadmap for Relationship Pioneers neu erschienen. Berkeley/CA 2009. Siehe auch Anthony Ravenscroft, Polyamory. Roadmaps for the Clueless & Hopeful, Santa Fe, New Mexico 2004. 133 William Goode, World Revolution and Family Patterns, New York 1963. 134 Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, New Jersey 2002. 135 Vgl. Linck, Frau und Familie in China  ; Linck erzählt die Geschichte von jungen Textilarbeiterinnen im Kanton-Delta, die sich nach Eröffnung von Seidenfabriken weigerten, weiter mit ihren Ehemännern zu leben oder zu heiraten und dann den Lohn an den Ehemann abzuliefern  ; stattdessen lebten sie in klösterlichen Genossenschaften zusammen und nutzten ihre Freizeit, um gemeinsam buddhistische Schriften zu lesen und so an Selbstbewusstsein zu gewinnen. 136 Vgl. Dirk Villányi u. a., Hg., Globale Jugend und Jugendkulturen. Aufwachsen im Zeitalter der Globalisierung, Weinheim u. München 2007  ; s. auch das Kapitel 12, Jugend und Jugendkulturen, in diesem Band.

341

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 341

22.09.2010 07:50:35

US-Plakat aus dem Zweiten Weltkrieg, das mit neuen Bildern von Weiblichkeit für die Übernahme von männlich konnotierten Arbeitsplätzen durch Frauen warb. Grafik: J. Howard Miller, 1942, Auftraggeber: Westinghouse War Production Coordinating Committee, Quelle: National Archives, Washington, D. C.

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 342

22.09.2010 07:50:35

Kapitel 10

Geschlechterpolitik Österreich und die USA im Vergleich Maria Mesner

Geschlecht gilt den Gesellschaftswissenschaften spätestens seit den 1970er-Jahren als eine der drei zentralen differenzierenden und hierarchisierenden Kategorien, die in allen bekannten Gesellschaften Wirkmacht entfaltet, Identitäten konstituiert, soziale Positionen zuweist. Gender Studies sind seitdem zu einem nicht unumstrittenen, aber unverzichtbaren Teilgebiet vieler Disziplinen bzw. zu einer eigenen, sich meist transdisziplinär verstehenden Forschungsrichtung geworden.1 Fragt man danach, welche spezifischen Perspektiven der geschlechterforschende Blick auf die Geschichte der Globalisierung erschließen kann, sind grundsätzlich zumindest zwei Richtungen möglich  : nach Transfers zu suchen zum einen und zu vergleichen zum anderen. Im ersten Fall wäre danach zu fragen, welche geschlechtsspezifischen Wirkungen Globalisierungsprozesse im weitesten Sinn entfalteten, welche speziellen Machtverhältnisse Geschlecht z. B. in den Prozessen globaler Migration konstituierte oder in welcher Weise Kolonisierungen geschlechtsspezifische Effekte erzeugten. Im Sinne einer Geschichte des Transfers und der damit in Zusammenhang stehenden Verschiebungen könnte man auch den Weg des Konzeptes „Geschlecht“ etwa im 19. Jahrhundert vom viktorianischen Großbritannien in andere Teile des Commonwealth of Nations verfolgen oder im 20. Jahrhundert aus der zweiten Frauenbewegung der USA über transnationale Organisationen beispielsweise in afrikanische oder asiatische Länder „des Südens“. Als zweite Möglichkeit eröffnet sich ein weites Feld des Vergleichs. Dieses wird der folgende Text einer ersten Exploration unterziehen  : Schon die Auswahl des zu Vergleichenden ist von methodischen und inhaltlichen Überlegungen geleitet, auf die noch einzugehen sein wird. Dennoch beibt die Auswahl letztlich immer auch pragmatischen Zwängen der eigenen und der allgemeinen Forschungslage geschuldet. Die Feststellung, dass Geschlecht in allen bekannten Gesellschaften wirksam ist, lässt nicht darauf schließen, dass das immer auf dieselbe Art und Weise geschieht. Im Folgenden geht es darum, mehrere Gesellschaften auf die Effekte von Geschlecht hin zu untersuchen. Im Zentrum der Analyse stehen Österreich und 343

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 343

22.09.2010 07:50:35

Internationale Geschlechterpolitik Arbeitsteilung

die USA. Die Vergleichsauswahl soll die Hypothese belegen, dass Geschlecht zwar in allen Gesellschaften wesentliche Effekte entfaltet, dass diese aber stark voneinander abweichen können. Daher werden Gesellschaften in den Blick genommen, die auf unterschiedlichen Wegen in die Moderne gelangt sind,2 über weite Strecken des Untersuchungszeitraums differierende Lebensstandards, unterschiedliche soziale Schichtungen, ein anderes Verhältnis von Religionsgemeinschaften und Staat sowie andere religiöse Gliederungen der Bevölkerung aufweisen. Der Vergleich geht kontrastierend vor.3 Nicht ein Geschlechterverhältnis wird vorausgesetzt, sondern es wird nach verschiedenen Vergeschlechtlichungen gesucht. Allerdings existieren die Vergleichseinheiten nicht ohne gegenseitige Wechselwirkungen nebeneinander. Eben dies meint ja die These von der ökonomischen und kulturellen Globalisierung. Auf gegenseitigen Transfers wird im Folgenden aber nicht das Hauptaugenmerk liegen, einzelne Hinweise dazu müssen genügen.

Konzepte und Rahmen Die Historikerin Joan W. Scott hat bereits zu Beginn der 1970er-Jahre ein umfassendes Konzept von Geschlecht vorgelegt, das den folgenden Überlegungen den Rahmen gibt.4 Scott schlägt die radikale Historisierung des binären Geschlechtergegensatzes vor. Um diesen in seiner Komplexität in den Blick zu bekommen, entwirft sie ein zweiteiliges Modell mit mehreren Unterteilungen, die zwar miteinander verbunden seien, aber analytisch getrennt werden müssten  : Demnach ist Geschlecht zum einen als konstitutives Element von gesellschaftlichen Beziehungen zu denken und gründet als solches auf wahrgenommenen Unterschieden zwischen den physisch existenten Menschen. Geschlecht ist aber auch eine wesentliche Weise, wie sozialen Machtbeziehungen Bedeutung verliehen wird. Das theoretische Modell Scotts bietet den Vorteil, verschiedene gesellschaftliche Ebenen, in denen Geschlecht unter Umständen wirksame Kategorie der Differenzierung wird, zu berücksichtigen. Es verweist auch auf die changierende, oft doppeldeutige Funktion von Geschlecht zwischen Differenzierung und Hierarchisierung. Aus heutiger Sicht muss das Konzept allerdings in zweifacher Weise ergänzt werden. Erstens ist der Forderung der queer theory Rechnung zu tragen und die Binarität des Geschlechtergegensatzes selbst als historisch kontingent, also als variabel und gestaltbar zu fassen.5 Zweitens wird besonders darauf zu achten sein, dass auch andere soziale Strukturkategorien wie Klasse oder race6 soziale Positionen und Handlungsspielräume zuweisen. Geschlecht wird immer nur in Verbindung mit diesen Kategorien wirksam. Die Prämissen von Intersektionalitätskonzepten,7 344

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 344

22.09.2010 07:50:35

Geschlechterpolitik

die auf die Verschränkungen von diversen Ungleichheiten achten, sind auch im konkret Empirischen umzusetzen. Geschlecht ist eine zu vielschichtige Kategorie, als dass sie in einem Text wie dem Folgenden ausreichend skizziert werden könnte. Daher werde ich meine Ausführungen weiter konzentrieren und auf Analysen der dritten Dimension Scotts, also die Bezüge zu politischen und anderen gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen, beschränken. Im Zentrum meiner Überlegungen wird das reproduktive Arrangement stehen  : Es kann als zentraler Bereich der Geschlechterverhältnisse gelten, sind doch die reproduktiven Rollen das paradigmatische Modell für das heterosexuelle Paar als Inbegriff der Geschlechterordnung und der in sie eingebetteten Dichotomisierungen wie öffentlich/privat oder Natur/Kultur. Angelehnt ist der Begriff des reproduktiven Arrangements an jenen des Geschlechter-Arrangements der Soziologin Birgit Pfau-Effinger, die damit das Ergebnis von Aushandlungsprozessen bezeichnet, das sowohl institutionelle Regeln, allgemeine Normen, Leitbilder etc. („Geschlechterkultur“) als auch die lebensweltliche Praxis von Institutionen ebenso wie von Individuen („Geschlechterordnung“) umfasst.8 Parallel dazu schwingen in meinem Konzept des reproduktiven Arrangements auch lebensweltliche Aspekte, Lebensweisen von Individuen und konkreten Gruppen von Menschen mit, auch wenn sich die folgenden Betrachtungen vor allem auf institutionelle bzw. politische Arrangements beziehen.

Industrialisierung und die Vergeschlechtlichung gesellschaftlicher Sphären In ihrem grundlegenden Aufsatz aus dem Jahr 1976 beschrieb Karin Hausen9 die „Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“ und setzte diese in Zusammenhang mit einer Polarisierung der Geschlechtscharaktere. Die zunehmende Arbeitsteiligkeit sowie die industrielle Trennung von Produktion und Reproduktion ließ das agrarische Geschlechter-Arrangement brüchig werden. Reproduktions- und Erwerbsarbeit entwickelten sich als zwei voneinander getrennte, wenn auch stark interdependente Sphären. Die Trennung war einmal eine örtliche  : Die Stätten der industriellen Erwerbsarbeit waren zwar nicht durchgängig, aber in steigendem Maße von den Orten der Reproduktion räumlich getrennt (siehe auch den Beitrag zu Arbeit von Andrea Komlosy in diesem Band). Die Trennung verlief aber auch entlang der Scheidelinie öffentlich/privat und war zudem geschlechtlich codiert  : Die außerhäusliche, ‚öffentliche‘ Erwerbsarbeit war in diesem Konzept ‚männlich‘, die ‚private‘ Reproduktion ‚weiblich‘. Hausen rekonstruierte eine normative Vor345

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 345

22.09.2010 07:50:35

Internationale Geschlechterpolitik Arbeitsteilung

gabe, die Allgemeingültigkeit vorgab. Schließlich wurde mit Natur begründet, was gesellschaftlich bedingt war  : Frauen verhielten sich typisch weiblich, waren gefühl- und liebevoll, hielten sich im Haus auf und kümmerten sich aufopfernd um Mann und Kinder, weil ihnen das so gegeben war, Männer verhielten sich ebenso sicher „wie ein Mann“, waren nach außen gewandt, intelligent, aktiv. Durch die Trennung von Produktion und Reproduktion entstand spätestens Ende des 19. Jahrhunderts ein Dilemma  : Da Frauen die reproduktiven Aufgaben qua Geschlechtszugehörigkeit zugeordnet wurden, kam es zu Kollisionen mit den Anforderungen durch außerhäusliche Erwerbsarbeit. Die entstehenden Widersprüche waren die Grundlage für die Wahrnehmung eines politischen Regelungsbedarfs. Die Resultate, die dieser Bedarf erzeugte, sind, so wird unten gezeigt, signifikant für die normative Ausgestaltung der Geschlechterverhältnisse und der vergeschlechtlichten reproduktiven Arrangements. In Bezug auf die hier zu vergleichenden Gesellschaften und Staaten Österreich und USA sind diese Resultate sehr unterschiedlich  : In den USA wurden für Frauen als schwache, daher schutzbedürftige Gruppe eine Reihe von Schutzbestimmungen und Arbeitsverboten erlassen, Vorkehrungen für Schwangere oder Frauen mit Kleinkindern gab es nicht. In Österreich war das Ergebnis heterogener  : Zwar gab es nach dem Ende der liberalen Ära unter der katholisch-slawischen Regierungskoalition Eduard Graf Taaffes ab den 1880er-Jahren Schutzbestimmungen für erwerbstätige Frauen generell. Es wurden aber auch Bestimmungen erlassen, die Arbeitsfreistellungen und besonderen Schutz für Schwangere und Wöchnerinnen vorsahen. Um diese Differenz kreisen die folgenden Ausführungen auf der Suche nach Motiven und Entwicklungslinien. Ein erster Blick über Europa hinaus zeigt, dass Hausens Modell zeitlich, geografisch und in Bezug auf die Klasse stark kontingent war. Es ist zu verorten in den bürgerlichen Schichten Europas ab dem 18. Jahrhundert. Frauen aus den Arbeiterschichten der europäischen Gesellschaften mussten häufig einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit nachgehen.10 Das galt in geringerem Maße auch für verheiratete Frauen mit Kindern. In Gesellschaften anderer Kontinente setzte sich die Industrialisierung wesentlich später durch, sodass die Trennung zwischen Produktion und Reproduktion Gesellschaft und Geschlechterrollen in geringerem Ausmaß prägte. Betrachtet man Staaten des „Südens“, so stellt sich heraus, dass eine vergleichbare Trennung zwischen Produktion und Reproduktion häufig bis ans Ende des 20. Jahrhunderts nicht vollzogen ist, was die Wirkungen von Geschlecht im Geflecht der Ungleichheiten differenziert.11 Die USA waren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein von landwirtschaftlicher Produktion geprägt. Der Anteil der Frauen an den in der Industrie Beschäftigten war wesentlich geringer als in den europäischen Gesellschaften.12 Allerdings waren 346

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 346

22.09.2010 07:50:35

Geschlechterpolitik

die Geschlechternormen stark segregiert, und zwar nach sozialer Klasse in starker Verwobenheit mit der Strukturkategorie race. Immigrantinnen waren wesentlich häufiger erwerbstätig als schon im Land Geborene. Im Jahr 1900 waren nur 3,2 Prozent aller weißen Ehefrauen erwerbstätig, während über ein Viertel aller nichtweißen, nämlich 26 Prozent, einen Beruf ausübten. Das heißt, Afroamerikanerinnen beispielsweise waren häufig außerhalb ihres Haushalts erwerbstätig, auch wenn sie Kinder bzw. einen eigenen Haushalt hatten. In den für die weiße US-Bevölkerung geltenden Geschlechternormen waren berufstätige Ehefrauen nicht vorgesehen  : Diese Tatsache prägte den US-amerikanischen Sozialstaat nachhaltig. Er kannte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein keinerlei Vorkehrungen für den Fall, dass eine berufstätige Frau schwanger wurde und Kinder bekam. Seinem Entstehen liegt der Versuch zugrunde, gerade diesen Fall zu vermeiden. Daher wurden Renten für Kriegerwitwen mit abhängigen Kindern gewährt, allerdings unter der Voraussetzung, dass deren Lebensführung „moralisch“ und anständig sei, eine Bedingung, die auch regelmäßig überprüft wurde.13 Damit sollte das reproduktive Arrangement der weißen protestantischen Einwanderer abgestützt und hegemonial werden  : In diesem Arrangement stand ein wirtschaftlich autonomer und selbstverantwortlicher Ehemann einer abhängigen Frau gegenüber  : „Whereas the Protestant work ethic as applied to income-producing work was a moral and economic principle for man, ecnonomic dependency was a moral, Godgiven principle for women.“14 Dabei ist bemerkenswert, dass dieses Geschlechterund Familienkonzept nicht auf individuelle Lebensumstände und Rollen Bezug nahm, sondern in Bezug auf die Geschlechtszugehörigkeit essenzialistisch war  : So verdienten Männer einen „Familienlohn“, auch wenn sie alleinstehend waren, während Alleinerzieherinnen ein solcher nicht zukam.15 Aufgabe des Staates wurde es, dieses Geschlechter-Arrangement abzusichern  : Fiel der Ehemann als Familienerhalter aus, z. B. weil der Bürgerkrieg viele Männer tötete oder zu Invaliden machte, sprang der Staat mit Pensionen ein. Die weiblichen und männlichen Sphären waren deutlich in Reproduktion und Erwerb getrennt. Um 1900 waren nur knapp sechs Prozent aller verheirateten Frauen erwerbstätig, aber etwa 20 Prozent aller Frauen.16 Dabei waren Ehe und Familie in den USA im Vergleich zu Österreich die wesentlich dominantere Lebensform  : 1890 beispielsweise waren mehr als 90 Prozent aller Frauen über 35 Jahren verheiratet.17 Von den Frauen, die vor 1900 ein College absolvierten, blieben aber mehr als drei Viertel ledig18 – ein weiterer Hinweis darauf, in welch hohem Ausmaß sich in der weißen Mittelschichtsbevölkerung der USA weibliche Erwerbsorientierung und Reproduktion ausschlossen. Davon deutlich verschieden waren die Geschlechter- und reproduktiven Arrangements in Österreich an der Wende zum 20. Jahrhundert, vor allem, was die ge347

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 347

22.09.2010 07:50:35

Internationale Geschlechterpolitik Arbeitsteilung

schlechtsspezifische Zuschreibung von Erwerbs- und Reproduktionsaufgaben anlangt. In Österreich war die Ehe zwar auch die dominante Lebensform, allerdings war der Anteil lediger Frauen wesentlich höher. Um die Wende zum 20. Jahrhundert war etwa ein Fünftel aller Frauen nie verheiratet.19 Etwa 42 Prozent aller Frauen waren berufstätig.20 Käthe Leichter gab in ihrer bahnbrechenden Studie über die weiblichen Arbeitskräfte an, dass der Anteil der Verheirateten unter den berufstätigen Frauen vor 1914 bei 44,7 Prozent lag, und stellte daher fest, dass in der Monarchie „Frauenarbeit […] überwiegend die Arbeit verheirateter Frauen“ gewesen sei, und zwar in einem viel höheren Ausmaß als beispielsweise im Deutschen Reich.21 Berufstätig und Ehefrau zu sein schlossen sich in Österreich zur Jahrhundertwende weder lebensweltlich noch normativ aus. Wenn es die ökonomische Situation einer Familie nicht anders zuließ, war Erwerbstätigkeit für beide Geschlechter notwendig und akzeptiert. Daraus lässt sich allerdings noch keine ‚Gleichheit‘ ableiten. „Bis zum Zweiten Weltkrieg arbeiteten entweder ledige Frauen als Angestellte oder ledige und verheiratete Frauen der ärmeren Schichten in Fabriken und Haushalten.“22 In bürgerlichen und kleinbürgerlichen Milieus war die Ehe mit einem männlichen Versorger Norm im Doppelsinn des Wortes  : als Zielvorgabe und als gelebte Praxis, deren Realisierung allerdings durch Verarmung häufig verhindert wurde. Diskussionsverlauf und Argumentationsmuster, die in Österreich schließlich in der Einführung eines Nachtarbeitsverbots für Frauen qua Geschlecht sowie eines Beschäftigungsverbots für Frauen von vier Wochen rund um den Geburtstermin resultierten, waren wesentlich offener und direkter als in den USA an wirtschaftlichen Gruppen-Interessen orientiert. Die politischen Koalitionen, die entsprechende Sonderbestimmungen befürworteten beziehungsweise ablehnten, formierten sich vor allem auf der Basis ihrer ökonomischen Position, als Repräsentation von industriellen oder kleingewerblich-bäuerlichen Interessen beispielsweise. Fragt man nach den Gründen für diese relativ hohe Relevanz von durch ein Klassenkonzept strukturierten Konflikten, ist ein Argument Göran Therborns interessant  : Konflikte seien in Europa deshalb in hohem Maße als Klassenkonflikte angelegt, weil ‚Klasse‘ auf die inneren Spaltungen der Gesellschaft entlang unterschiedlicher Positionen sozialer Gruppen im Verhältnis zur Moderne verweise.23 Das ohnehin hohe Gewicht von Klasse würde in Europa durch die im Vergleich zu den USA große Bedeutung des industriellen Kapitalismus und durch dessen polarisierte Arbeitsteilung noch unterstützt.24 In den USA waren Arbeitnehmervertretungen, Gewerkschaften beispielsweise, vergleichsweise schwach und agierten fragmentiert, was sich auch in unterschiedlichen, heterogenen politischen Standpunkten äußerte. Ähnliches gilt für die politischen Parteien, denen in der politischen Arena, in der geschlechtsspezifische 348

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 348

22.09.2010 07:50:36

Geschlechterpolitik

Bestimmungen über die Arbeitsbeziehungen diskutiert und beschlossen wurden, keine nachvollziehbare Rolle zukam. Die Rolle der Entscheidungsfindung und der Klärung von inhaltlichen Konflikten, die in Österreich der – wenn auch nicht allgemein gewählten – Legislative zukam, übernahmen in den USA oft die Gerichtshöfe, die aber höchstens sehr vermittelt als Ausdruck aggregierter gesellschaftlicher Interessen verstanden werden können. Wesentliche AkteurInnen waren Netzwerke von SozialreformerInnen, die ihre Forderungen mit moralischen Argumenten untermauerten. Thesenhaft lässt sich formulieren, dass der spezielle (Erwerbs-)Arbeitsschutz für Frauen Ausdruck von und Vehikel zur Durchsetzung eines konkreten Geschlechter-Arrangements war. Dieses beruhte auf einem Konzept, das die Geschlechterbeziehungen ordnete und eine Familienform mit klar umrissenen geschlechtsspezifisch zugeschriebenen Aufgaben vorsah. Die Diskussion, die zu generellen Arbeitsverboten und Schutzbestimmungen für Frauen führte, war stark von moralischen Vorstellungen geprägt. Für die USA als Einwanderungsland, in dem Sprache, Herkunft, ethnische Zugehörigkeit, Religion, Dynastie, Staat und Ähnliches keine tragfähige Basis für die Bildung einer nationalen Einheit waren, war – so lautet meine These – die Herstellung einer solchermaßen definierten und etablierten gemeinsamen Basis der Lebensform und Geschlechterordnung als identitätsstiftender Faktor von besonderer Bedeutung. Geprägt ist dieser Prozess vom Bestreben der anglosächsischen Bevölkerungsgruppe, ihre Gesellschaftsentwürfe und -normen als allgemeine zu etablieren beziehungsweise zu erhalten. Stimmen von Personengruppen, die nicht auf höheres Einkommen durch längere Arbeit verzichten konnten, also solche aus den Unterschichten und von ImmigrantInnen,25 waren in der Debatte höchstens marginal und wurden nicht politikmächtig. Durch die weiße Mittelschicht-Hegemonie erklärt sich die US-amerikanische Situation, in der einer stark geschlechtssegregierten Erwerbsarbeitswelt und ebensolchen Schutzbestimmungen die völlige Abwesenheit von besonderen Regelungen für schwangere Frauen und Wöchnerinnen gegenüber stand. Frauen wurden mit Hinweis auf ihre Gebärfähigkeit als generative Ressource, als besondere Klasse von BürgerInnen behandelt. Ihre individuellen Rechte konnten auf dieser Grundlage zugunsten eines allgemeinen Wohls eingeschränkt werden. Gleichzeitig verweigerten die Gesetzgeber die Rücksichtnahme im Bereich der Erwerbsarbeit vollständig, wenn Frauen schwanger wurden oder gebaren. Die normdefinierenden Bevölkerungsgruppen stimmten darin überein, dass Erwerbsarbeit und reproduktive Aufgaben eigentlich inkompatibel seien, dass (werdende) Mütter nicht erwerbstätig sein sollten. Aus dieser Perspektive sind Regulierungen der Arbeitsbeziehungen, die Personen mit reproduktiven Aufgaben im Blick haben, tatsächlich überflüssig. Wie die historische Evidenz zeigt, konnte diese normative Vorgabe bei Weitem 349

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 349

22.09.2010 07:50:36

Internationale Geschlechterpolitik Arbeitsteilung

nicht von allen erfüllt werden. Die sich daraus ergebenden Bedürfnis- und Problemlagen der „Arbeitnehmerinnen-Mutterschaft“26 wurden nicht Gegenstand öffentlicher Politiken. Auch in Österreich galten Frauen am Ende des 19. Jahrhunderts qua Geschlecht auf dem Arbeitsmarkt als schutzwürdig, wie beispielsweise das Nachtarbeitsverbot der Gewerbeordnung 1885 zeigt. Damit wurden ebenfalls Vorstellungen über die ‚richtige‘ Geschlechterkultur festgeschrieben  : Eine klare Hierarchisierung der Geschlechter war die Grundlage der besonderen Schutzwürdigkeit und der daraus abgeleiteten Arbeitsverbote für Frauen. Vor dem Ersten Weltkrieg existierte aber kein so eindeutiges Familienmodell mit derartig klar getrennten Sphären, das sich in diesen Regelungen hätte abbilden können. Zu unterschiedlich waren offenbar die Möglichkeiten verschiedener sozialer Gruppen, was sich auch in der Struktur der politischen Organisierung und entsprechenden inhaltlichen Positionierungen zeigte. Die ökonomische Tatsache, dass Erwerbsarbeit von Frauen und entsprechendes Einkommen in großen sozialen Gruppen zur Sicherung der schieren Familienexistenz nötig war, verhinderte, dass ein nach Geschlechtern segregiertes, Reproduktions- und Erwerbsaufgaben klar trennendes Familienmodell, das in den bürgerlichen Schichten durchaus die Norm bildete, zur allgemein gültigen Vorgabe werden konnte. In diesem Sinne wurde „Arbeitnehmerinnen-Mutterschaft“ eine politisch zu berücksichtigende Möglichkeit.

Die Zeitspanne zwischen den Weltkriegen Die wirtschaftliche Lage in Österreich ließ die Durchsetzung von „Familienlöhnen“ weiterhin nicht zu. Der im Vergleich mit Mittel- und Westeuropa sowie Nordamerika untypische Konjunkturverlauf in Österreich führte zur Verarmung von Gruppen der Mittelschicht. Dazu trug auch der massive Abbau von Beamten im Zuge der Genfer Sanierung und von Angestellten während des Anpassungsprozesses des auf die Bedürfnisse der Monarchie ausgelegten Dienstleistungsbereichs an die Verhältnisse des Kleinstaates bei.27 Die von ‚Proletarisierung‘ bedrohten Gruppen gaben zwar ihre normativen Vorstellungen im Hinblick auf die Geschlechterordnung nicht auf, die politische Option, Frauen mit reproduktiven Aufgaben aus der Erwerbsarbeit zu verdrängen, musste aber unrealistisch bleiben. Erst nach Abschaffung der Demokratie kam es zu ersten gesetzlichen Maßnahmen zur Verdrängung von verheirateten Frauen aus dem Arbeitsmarkt. Bis dahin wurden die allgemeinen Schutzbestimmungen und Arbeitsrestriktionen für Frauen vereinheitlicht, ihr Geltungsbereich erweitert. Der spezielle Mutter- und Schwangerenschutz wurde eben350

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 350

22.09.2010 07:50:36

Geschlechterpolitik

falls ausgebaut. Die Unentschiedenheit in Bezug auf das favorisierte reproduktive Arrangement, die bereits in der Monarchie zu bemerken war, setzte sich also fort. In der sozialdemokratischen, der stark marginalisierten und politisch nur wenig einflussreichen kommunistischen sowie in der bürgerlich-liberalen Frauenbewegung Österreichs war Erwerbstätigkeit für beide Geschlechter und unabhängig vom Familienstand zumindest akzeptiert. Allerdings nahm seit der Jahrhundertwende der Einfluss eugenischer Argumente vor allem in der SDAP zu, die Forderungen nach Schutzbestimmungen für erwerbstätige Schwangere und Wöchnerinnen gewannen dadurch an Gewicht. Den handelnden Funktionärinnen war bereits Anfang der 1920er-Jahre klar, dass die Schutzbestimmungen für die Frauen auf dem Arbeitsmarkt Nachteile bringen konnten  : Adelheid Popp schrieb 1922, dass Unternehmer Frauen als „unbequem“ empfänden, weil ihnen die Gesetzgebung größeren Schutz gewähre.28 Trotzdem wurden in der politischen Debatte keine ausgleichenden Maßnahmen, sondern nur erhöhter Kündigungsschutz diskutiert  : Das kann einerseits als Naivität gegenüber den Marktmechanismen interpretiert werden, andererseits als klare Prioritätensetzung. Auch in den sozialdemokratischen Geschlechterkonzepten waren im Konfliktfall reproduktive Aufgaben für Frauen prioritär. Die Forderungen nach stärkerem Arbeiterinnenschutz qua Geschlecht stießen hingegen innerhalb der stark vom Katholizismus beeinflussten Christlichsozialen Partei auf Zustimmung. In deren Gesellschaftsinterpretation war zwar weibliche Erwerbsarbeit nicht wünschenswert, sie musste aber die ökonomischen Gegebenheiten als Rahmenbedingungen für realisierbare Politiken zur Kenntnis nehmen und setzte daher auf Schutzbestimmungen, die allerdings mit den Interessen ihrer bäuerlichen und gewerblichen Klientel verhandelt und abgestimmt werden mussten. Es gab also in Österreich hohe Übereinstimmung darin, dass weibliche Erwerbsarbeit – egal ob akzeptiert, begrüßt oder kritisiert – ein hinzunehmendes Fakt war. Frauen sollten aber (zumindest) am Ende der Schwangerschaft und nach der Geburt keine Erwerbsarbeit verrichten. Trotzdem blieben die Mutterschutzleistungen in Österreich zu diesem Zeitpunkt hinter dem westeuropäischen Durchschnitt zurück.29 Es wurde keine entsprechende Kompensation für Verdienstentfall übernommen  : Aufgrund der politischen Weichenstellungen ab 1920 war die Übernahme von höheren Leistungen durch den Staat ausgeschlossen. Die Interessenvertretungen der gewerblichen und industriellen Unternehmer waren dazu ebenfalls nicht bereit. Viele Frauen konnten es sich daher nicht leisten, die ihnen zustehenden Rechte in Anspruch zu nehmen. Zwar deutete sich 1919 eine Koalition von ‚Fraueninteressen‘ für den Ausbau der Mutterschutzleistungen an, löste sich aber in der Parteienlandschaft der Zwischenkriegszeit wieder auf und wurde kaum politisch wirksam. 351

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 351

22.09.2010 07:50:36

Internationale Geschlechterpolitik Arbeitsteilung

In den USA hingegen waren Familienlöhne ab den 1920er-Jahren zum gesamtgesellschaftlichen Standard geworden.30 Entsprechend dem Geschlechter-Arrangement blieb weibliche Erwerbstätigkeit ein Mangel- und Unterschichtenphänomen, das heißt auch, eher afroamerikanisch als weiß. Während der Weltwirtschaftskrise jedoch mussten auch die Ehefrauen von (weißen) erwerbslosen Arbeitern die Ernährerrolle, die ihre Ehemänner temporär nicht erfüllen konnten, übernehmen. Das führte zu einem ersten Gipfel in der Erwerbsquote von verheirateten Frauen  : Während der Weltwirtschaftskrise waren 15,2 Prozent aller Ehefrauen erwerbstätig.31 Es gab aber auch zahlreiche Versuche, Frauen als unbeliebte Konkurrenz für Männer aus dem Arbeitsmarkt zu verdrängen. Entsprechende Maßnahmen und Gesetze wurden in einem demokratisch-parlamentarischen System durchgesetzt, was darauf verweist, dass sich das hegemoniale Geschlechter-Arrangement zumindest beim Elektorat entsprechender Zustimmung erfreute – und dazu gehörten auch nach 1920 wenige Nichtweiße. Insgesamt wurde die Erwerbstätigkeit von weißen verheirateten Frauen in der Zwischenkriegszeit als nicht erwünschter Ausnahmefall gesehen – in der Akzeptanz dieser Norm gab es in den weißen Mittelschichten immer noch eine hohe Übereinstimmung. Die US-amerikanischen Frauenbewegungen waren vor allem in einer Frage gespalten  : Waren Frauen – implizit gemessen an männlichen Standards – als ‚anders‘ und daher als besonders schutzwürdig zu definieren, oder sollte der Konstruktion der Frauen als ‚gleich‘ der Vorrang gegeben werden  ? Diese Frage blieb in der gesamten Zwischenkriegszeit ungelöst. Spezifische Schutzpolitiken für Frauen und die Gründung eines speziellen Women’s Bureau als Regierungsbehörde standen neben Kampagnen für einen Verfassungszusatz, der Frauen gleichen Status als Staatsbürgerinnen sichern sollte (Equal Rights Amendment, ERA), aber alle speziellen Schutzbestimmungen für Frauen außer Kraft gesetzt hätte. Insgesamt verzeichnet die Historiografie für die Zwischenkriegszeit einen geringen Zuspruch zu den USFrauenbewegungen.32 Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass das dominante Geschlechter-Arrangement bei den entscheidenden gesellschaftlichen Gruppen, also jenen mit politischem und medialem Einfluss, auf Zustimmung traf. Widerspruch dagegen blieb punktuell und vereinzelt. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den politischen Kulturen der beiden Länder besteht – es wurde bereits darauf hingewiesen – im Stellenwert, den politische Parteien bei der Festlegung von politischen Agenden, Prioritäten und Entscheidungen einnahmen. Das führte im konkreten Fall dazu, dass die Frauenbewegungen in Österreich zu einem großen Teil in den an Bedeutung noch zunehmenden Parteien fragmentiert wurden. Innerhalb der Parteien nicht konsensuale, unterlegene Positionen verstummten meist an der Parteigrenze nach ‚außen‘. Das 352

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 352

22.09.2010 07:50:36

Geschlechterpolitik

gilt auch für feministische Interventionen beziehungsweise Interventionsversuche. In den USA war dieser ‚Filter‘ der Parteidisziplin nicht vorhanden. Möglicherweise ist es darauf zurückzuführen, dass Initiativen, die auf die Geschlechterdifferenz verwiesen beziehungsweise daran ansetzten, die öffentlichen politischen Diskurse leichter erreichten und im konkreten Fall sogar zu entsprechenden Prozessen der Institutionenbildung führten. Zwar war das Women’s Bureau bürokratischer Ausdruck des weiblichen ‚Anders-‘, also ‚Schwächer‘-Seins, der weiblichen Marginalisierung. In Österreich scheint aber ein völliges Verschwinden weiblicher Realitäten aus Politikkonzepten – von Regelungen für besondere Lebenslagen abgesehen – die Norm gewesen zu sein. Auf einen Vernetzungs- und Transferaspekt verweist, dass sich innerhalb von inter- und transnational agierenden Organisationen eine Interferenz zwischen der US-amerikanischen und der österreichischen Entwicklung zeigte, z. B. rund um die 1919 gegründete International Labour Organization oder im Zusammenhang mit Aktivitäten der National Women’s Party (NWP), deren Anspruch zumindest rhetorisch global war  : Der Gleichheitsgrundsatz sollte durch die Gründung eines „International Parliament of Women“ „weltweit“ durchgesetzt werden. Bei den entsprechenden Feierlichkeiten in Washington, D. C., waren auch Vertreterinnen der österreichischen Frauenbewegung anwesend.33 Der Fokus der Aktivitäten der NWP lag – entlang der zeitgenössisch dominanten US-amerikanischen geopolitischen ‚Blickachsen‘ – auf Europa sowie Mittel- und Südamerika.

Zweiter Weltkrieg, Erwerbsarbeit und reproduktive Arrangements Sowohl in den USA als auch in Österreich resultierte die Kriegführung in einer Verschiebung der staatlichen politischen Ziele  : Erwerbsarbeit von Frauen mit Betreuungspflichten war nun erwünscht, ja im Sinn der Kriegswirtschaft erforderlich. In beiden Ländern übernahm der Staat in diesem Zusammenhang zumindest symbolisch die Verantwortung für Betreuungsaufgaben, was in beiden Gesellschaften eine politische Innovation darstellte. Durch Medienkampagnen, die Aufhebung von Arbeitsverboten und eine wenn auch nur halbherzig umgesetzte Richtlinie, die geschlechtsspezifische Lohnungleichheiten beseitigen sollte, versuchte die US-Regierung, Frauen für die Kriegsproduktion zu rekrutieren. Im NS-Reich wurde eine Dienstverpflichtung für Frauen mit keinem oder nur einem noch nicht schulpflichtigen Kind bzw. zwei unter 14-jährigen Kindern erlassen, die aber in vielen Fällen umgangen wurde.34 In beiden Ländern waren während des Zweiten Weltkriegs wesentlich mehr Frauen erwerbstätig, als das vorher der Fall gewesen war. 353

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 353

22.09.2010 07:50:36

Internationale Geschlechterpolitik Arbeitsteilung

Während aber auf dem Gebiet des heutigen Österreich viele Frauen versuchten, der zwangsweisen Aufnahme von Erwerbsarbeit zu entgehen, waren die Rekrutierungsversuche in den USA wesentlich erfolgreicher. Der Zweite Weltkrieg brachte – nach der Weltwirtschaftskrise – einen zweiten Gipfel in der Erwerbsquote von Frauen. Die geschlechts- und race-spezifische Segregation des Arbeitsmarktes, die dazu führte, dass Frauen vor allem im boomenden Dienstleistungssektor Arbeit fanden, wurde erstmals im 20. Jahrhundert durchbrochen. Viele Frauen nahmen die Arbeitsplätze von Männern in der Industrie ein. Drei Viertel der neu rekrutierten weiblichen Arbeitskräfte waren verheiratet,35 sodass bei Kriegsende mehr verheiratete als ledige Frauen erwerbstätig waren.36 „[…] the emergency presented itself as an opportunity to get ahead. […] Black women, older women, and professional women all took advantage of a reduction in discrimination to enter well-paying jobs.“37 Zusammenfassend sei auf eine entscheidende Differenz in den beiden Gesellschaften hingewiesen  : Einer zwangsweisen, häufig umgangenen Dienstverpflichtung im NS-Staat stand der Sog des Arbeitskräftemangels der US-Industrie gegenüber. Diese benötigte dringend Arbeitskräfte und nahm daher – dezentral und ohne politische Intervention – Adaptierungen im Produktionsprozess gemäß spezifischen Bedürfnissen weiblicher Arbeitskräfte vor. Es ist zu vermuten, dass das Bild von und die Erfahrung mit Erwerbsarbeit, die die jeweils Betroffenen in den beiden Gesellschaften machten, für die Entwicklung in der Nachkriegszeit von maßgeblicher Bedeutung waren.

Nachkriegszeit und Wirtschaftsboom Nach Ende des Zweiten Weltkriegs zeigte sich, dass die Verschiebung im Geschlechterverhältnis nur temporärer Natur war  : In den meisten US-amerikanischen Indus­ t­riezweigen wurden während der ‚Normalisierung‘ nach dem Zweiten Weltkrieg Gesetze, die Frauen generell diskriminierten oder überhaupt von Beschäftigung ausschlossen, mit dem Argument, Frauen seien vor gesundheitsschädlicher Belastung zu schützen, wieder in Kraft gesetzt. Trotzdem zeichnete sich eine Veränderung der Geschlechterbilder und -normen ab. Ausgehend von einem relativ hohen Niveau stiegen die Heiratsraten weiter und ließen die Ehe in der Nachkriegszeit zu der Norm werden. Die Frauen und Männer, die während des Zweiten Weltkriegs volljährig wurden, bildeten in den USA „the most marrying generation on record“.38 Statt des bisher hegemonialen Modells der männlichen „breadwinner“ und der weiblichen „homemaker“ setzte sich nun aber eines aus männlichem „breadwinner“ und weiblicher „cakewinner“ durch.39 Nicht politische Maßnahmen führten dazu, 354

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 354

22.09.2010 07:50:36

Geschlechterpolitik

dass verheiratete und ältere Frauen verstärkt berufstätig waren. Die Zunahme weiblicher Erwerbstätigkeit war eine im Privaten getroffene Entscheidung, die vor allem durch erhöhte Konsummöglichkeiten und -erwartungen motiviert war. Gleichzeitig bahnte sich in politischen Institutionen wie dem Women’s Bureau und unter den sie bestimmenden politischen Eliten eine wesentliche Haltungsänderung an. Der Schwerpunkt in Bezug auf die politische Geschlechterdebatte verschob sich in Richtung „Gleichheit“. Im Juni 1963 unterzeichnete Präsident Kennedy den Equal Pay Act, der festhielt, dass Gehaltsunterschiede bei „gleicher Arbeit“ in Bezug auf Menschen unterschiedlichen Geschlechts nur gerechtfertigt seien, wenn sie auf einem Senioritätsschema, einem leistungsbezogenen Schema, einem Schema, das Qualität oder Quantität der Produktion berücksichtige, oder irgendeinem anderen Unterscheidungsmerkmal als dem Geschlecht beruhten. Eine präsidentielle Commission on the Status of Women sollte geschlechtsspezifische Diskriminierung benennen und bekämpfen. Deren Gründung war das Ergebnis von Lobbying durch gut ausgebildete, institutionell eingebundene und erfahrene Frauen, nicht das einer politischen Bewegung. Weiße Mittelschichtfrauen wollten die gesellschaftliche Benachteiligung, die sie daran hinderte, mit den Männern derselben Schicht in Position und Einkommen gleichzuziehen, überwinden. Die geschlechtsspezifischen Zuordnungen im Bereich der Reproduktion wurden nicht infrage gestellt, die Verpflichtung zur Erwerbsarbeit wurde aber zunehmend geschlechtsneutral formuliert. Das zeigte sich auch in den sozialstaatlichen Programmen, die vom Anspruchskriterium der Nicht-Erwerbstätigkeit von Personen mit Betreuungspflichten abrückten. Das Spannungsverhältnis zwischen den Erfordernissen von Erwerbsarbeit und reproduktiven Aufgaben bildete den Hintergrund für das Entstehen eines Phäno­ mens, das in der gegenwärtigen Diskussion „global care chain“ genannt wird  : Migran­tinnen stellten sicher, dass Kinder (und pflegebedürftige ältere Personen) betreut werden. Reproduktive Aufgaben in den Herkunftsländern dieser Migran­ tinnen werden wiederum von Frauen in den weiblich dominierten familialen Netzwerken übernommen. Damit wurden die Handlungsspielräume von US-Mittelschichtfrauen erweitert und die Kompabilität mit den Erfordernissen der Erwerbsarbeit erhöht, ohne die gesellschaftlich dominante geschlechtsspezifische Arbeitsteilung infrage zu stellen. Während die Öffnung des Arbeitsmarktes für Frauen in den USA das säkular sehr langsame Ansteigen der Arbeitsmarktpartizipationsrate von Frauen beschleunigte, verlief die Entwicklung in Österreich etwas anders  : Die Erwerbsbeteiligung von Frauen blieb – auf im internationalen Vergleich hohem Niveau – nahezu gleich. Die Quote der berufstätigen Frauen in Bezug auf die weibliche Bevölkerung sank, 355

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 355

22.09.2010 07:50:36

Internationale Geschlechterpolitik Arbeitsteilung

und zwar während des gesamten 20. Jahrhunderts bis in die 1960er-Jahre, sieht man von kurzfristigen Schwankungen als Folge von Kriegen ab. Insgesamt dürften sich aber lebensweltliche Verhaltensmuster in Bezug auf die geschlechtsspezifische Zuschreibung von Betreuungsaufgaben und Erwerbsarbeit kaum verändert haben. Im Bereich der Geschlechterverhältnisse zeichnete sich nach Kriegsende auch in Österreich eine entscheidende Re-Konfiguration ab, die zur nahezu vollständigen Durchsetzung der Lebensform Kleinfamilie, die aus Ehemann und Ehefrau sowie deren Kindern besteht, führte. Die Durchsetzung des Kleinfamilienmodells bedeutete eine sozial- und kulturhistorisch neuartige Homogenisierung der Gesellschaft, die zur Auflösung oder wenigstens Ausgrenzung abweichender Lebensentwürfe führte. In Bezug auf das öffentlich repräsentierte Rollenrepertoire für Frauen bedeutete das eine nahezu durchgängige „Hausfrauisierung“. „Hausfrau“, also Ehefrau und Mutter, zu sein wurde in den öffentlichen Diskursen zur „ersten Natur“ der Frau (ohne Unterschied der sozialen Zugehörigkeit), obwohl sich die gesellschaftliche Praxis davon durchaus und beträchtlich unterschied.40 Gleichzeitig wurde „Familienpolitik“ als neues Politikfeld etabliert  : Als Antwort auf einen als bedrohlich empfundenen Geburtenrückgang wurden erstmals in demokratischen Zeiten Familien als solche zum Objekt politischer Förderung.41 Damit wurden „Familien“ als spezifische Lebensform ohne vorrangige Beachtung des sozialen und des ethnischen Aspekts finanziell unterstützt.42 Parallel wurden die gesetzlichen Bestimmungen, die – strikt geschlechts-, also frauenspezifisch – die zumindest prinzipielle Vereinbarkeit von Erwerbs- und Reproduktionsarbeit gewährleisten sollten, ausgebaut. Österreich wurde so am Ende der 1950er-Jahre „im Kreise der westlichen Industriestaaten [das] Land mit den großzügigsten Mutterschutzbestimmungen“,43 mit Arbeitsverbot für Schwangere und Wöchnerinnen, mit Einkommensersatz und Karenzurlaub. Dieser wurde auch bezahlt, allerdings nie in der Höhe des Erwerbseinkommens. Damit fiel auch eine wesentliche politische Entscheidung zugunsten einer familiären Kleinkinderbetreuung, in der Praxis durch die Mütter. Allerdings stellt diese Weichenstellung keinen Bruch in den reproduktiven Arrangements dar, sie stärkte, unterstützte und „belohnte“ bereits weit verbreitete und etablierte Praktiken und nahm eine geschlechtsspezifische Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt bewusst in Kauf. Der Ausbau des Mutterschutzes war von einem breiten Konsens getragen, der sehr differente Geschlechterbilder und -normen integrierte. Katholische Familien- und Geschlechtervorstellungen fanden sich darin ebenso wieder wie sozialdemokratische  : Diese argumentierten vor allem in Kategorien der „Volksgesundheit“ und der Bevölkerungspolitik. Weibliche Berufsarbeit war zwar unwidersprochen Teil der sozialdemokratischen Gesellschaftsentwürfe, wurde aber als zumindest temporär sekundär gegenüber den reproduktiven Aufgaben definiert. 356

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 356

22.09.2010 07:50:36

Geschlechterpolitik

Die „zweite Welle“ der Frauenbewegungen und das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts Die Frauenbewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre stellten zwar Fragen der Reproduktion, z. B. im Zusammenhang mit der Liberalisierung der Abtreibungsgesetze, ins Zentrum ihrer Aktivität. Das Verhältnis zwischen Erwerbs- und Reproduktionsaufgaben spielte aber in ihrer Problemdefinition eine marginale Rolle. Trotzdem war es der Druck der Frauenbewegungen, der in den USA 1978 zur Verabschiedung eines Pregnancy Discrimination Act führte. Künftighin war es ArbeitgeberInnen verboten, Angestellte aufgrund von Schwangerschaft, Geburt und damit zusammenhängenden Umständen gegenüber kranken MitarbeiterInnen zu benachteiligen. In diesem Ansatz bildete sich einerseits die Fokussierung auf individuelle Rechte und darauf gründende Diskriminierungsverbote ab, die die „zweite Welle“ der Frauenbewegungen aus der Sprache der Bürgerrechtsbewegungen übernommen hatte. Schwangere Arbeitnehmerinnen wurden aber weiterhin nicht als Gruppe mit speziellen, gesellschaftlich anzuerkennenden Bedürfnissen definiert. Das sollte sich erst mit dem Family Medical Leave Act (FMLA) 1993 ändern  : ArbeitnehmerInnen hatten nun Anspruch auf bis zu zwölf Wochen Karenz, wenn sie Betreuungsaufgaben für Kinder oder pflegebedürftige Angehörige übernahmen. Damit war der Family Leave Act das erste Bundesgesetz in der Geschichte der USA, das ArbeitgeberInnen zumindest im Grundsatz verpflichtete, ArbeitnehmerInnen Elternkarenz zuzugestehen.44 Die Formulierung unterscheidet nicht nach geförderten Formen des Zusammenlebens, weder in Hinblick auf das Geschlecht – eine Differenzierung, die verfassungsrechtlich nicht möglich wäre – noch im Hinblick auf die sexuelle Orientierung der Betroffenen. Die relevante Differenzierung des Gesetzes erfolgt aber im Hinblick auf die soziale Lage der potenziell Betroffenen, weil kein finanzieller Ausgleich des Einkommensentfalls erfolgt. Auch wenn die gesellschaftlichen Haltungen der formal geschlechtsspezifisch neutralen Formulierung nicht entsprechen, findet damit „Arbeitnehmerinnen-Mutterschaft“ als Teil eines legitimen reproduktiven Arrangements Ende des 20. Jahrhunderts erstmals hohe symbolische Akzeptanz. Die entsprechende gesellschaftliche Position ist in einem Gesetzestext repräsentiert. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts änderte sich also in den USA das Verhältnis zwischen Erwerbs- und Reproduktionsaufgaben deutlich, was die normativen Vorgaben in Bezug auf reproduktive Arrangements betrifft. In Österreich hingegen wurden in den sozialdemokratisch geprägten 1970er-Jahren etablierte Politiken im Wesentlichen bestätigt und verstärkt. Direkte Transferleistungen wurden erhöht, der Kreis der Anspruchsberechtigten ausgeweitet. Berufstä357

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 357

22.09.2010 07:50:36

Internationale Geschlechterpolitik Arbeitsteilung

tige Mütter erhielten längere Arbeitsfreistellungen und höhere Zahlungen, die nun unabhängig von der Höhe des Haushaltseinkommens waren. Damit wurden Konzepte, die bereits um die Jahrhundertwende im Bereich der Sozialdemokratie beziehungsweise der Gewerkschaften entwickelt wurden, in etwas erweiterter Form umgesetzt, ohne dass deren inhärentes Dilemma adressiert worden wäre  : Das Postulat der „Gleichheit“ im Bereich der Arbeitswelt, also des Nachvollzugs männlich konnotierter Lebensmuster, wurde konterkariert durch eine sehr ungleiche Zuschreibung reproduktiver Aufgaben, die durch entsprechende sozialstaatliche Regelungen nochmals festgeschrieben wurde. Neu war allerdings, dass ledige und alleinstehende Mütter eine wesentliche „Zielgruppe“ staatlicher Sozialpolitik wurden  : Sie erhielten seit 1974 höheres Karenzgeld und hatten bis zum dritten Geburtstag ihres Kindes Anspruch auf eine eigene Zahlung, wenn sie ihr Kind überwiegend selbst betreuten. Weil diese Zahlung aber nicht existenzsichernd konzipiert war, blieben private Abhängigkeiten bestehen. Am generell gesamtgesellschaftlich und politisch bevorzugten und beförderten reproduktiven Arrangement änderte sich daher nichts  : Die „Arbeitnehmerinnen-Mutterschaft“ konstituierte Erwerbsarbeit geschlechtsspezifisch gegenüber reproduktiven Aufgaben als zweitrangig. Reproduktive Aufgaben blieben vorrangig privat, ihre Erfüllung fest an weibliche Geschlechtszugehörigkeit geknüpft. Die ‚zweite‘ Frauenbewegung stellte diese Zuschreibungen zwar infrage, konnte sich aber gegen die anhaltende Dominanz von sozialpartnerschaftlichen Institutionen, in denen Frauenbewegungen kaum Einfluss hatten, nicht durchsetzen. Die gesetzlichen Grundlagen spiegelten bis 1990 die klare geschlechtsspezifische Zuschreibung wider, indem (sieht man von der Formulierung des Anspruchs auf Pflegeurlaub ab) nur Frauen als Betreuerinnen ihrer Kinder vorgesehen wurden.

Resümee Die vergleichende Analyse zeigt, dass die Entwicklung in den USA von einem dominanten Geschlechter-Arrangement ausging, das auf nach Geschlechtern getrennten Sphären der Arbeit und auf entsprechend geschlechtsspezifischen Rollen beruhte. Die „männliche Versorgerehe“45 schien der adäquate reproduktive Ort. Dieses Arrangement fußt auf einer entsprechenden „Geschlechterkultur“. Das bedeutet allerdings nicht, dass die tatsächlich gelebte „Geschlechterordnung“ nicht wesentlich heterogener war, als es die geschlechterkulturellen Regeln vorgaben. In den USA war die „Geschlechterordnung“ während des gesamten untersuchten Zeitraums entlang ethnischer Differenzen tief gespalten,46 eine Spaltung, die sich allerdings nicht in den staatlichen Normen widerspiegelte. Diese waren zumindest bis in die 1960er-Jahre 358

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 358

22.09.2010 07:50:36

Geschlechterpolitik

von einer geschlechtsspezifischen Spaltung geprägt  : Einer „Bürgerin als Mutter“ stand das Konzept des „Bürgers als Vater und Ehemann“ dichotom und komplementär gegenüber.47 Während das männliche Konzept durch das Erfordernis der wirtschaftlichen Autonomie und Selbstverantwortung gekennzeichnet war, verband sich die den Frauen zugeschriebene Rolle genauso untrennbar mit der Abhängigkeit von der Erwerbsarbeitsleistung des Ehemannes (und nur ersatzweise vom Staat). Dieses Geschlechter-Arrangement blieb bis in den Kalten Krieg eng mit der US-Nation verbunden, bildete die Grundlage der Integration von immigrierten nicht-weißen, nicht-protestantischen Gruppen und sollte die Legitimität des politisch-ökonomischen Systems der USA in der Systemkonkurrenz mit der Sowjetunion sichern.48 In Österreich war die männliche Versorgerehe – schon aufgrund der ökonomi­ schen Gegebenheiten – bis in die 1950er-Jahre keine gesamtgesellschaftlich durchsetzbare Norm, obwohl verschiedene politische Akteursgruppen wie Christlich­ soziale beziehungsweise Katholisch-Konservative sie kontinuierlich vertraten. Zur geschlechterkulturellen Regel konnte dieses Lebensmodell aus verschiedenen Gründen nicht werden  : Erstens waren die Bevölkerungsgruppen, in denen eine abweichende Geschlechterordnung lebensweltlich vorherrschte, nummerisch – im Vergleich zu den USA – bedeutsam. Zudem verfügten diese Gruppen – vor allem in Gestalt sozialdemokratischer Organisationen – über eine politische Reprä­sentation. Schon in den ersten gesetzlichen Regelungen, die auf die Schnittstelle zwischen Erwerbs- und Betreuungsaufgaben zielten, spiegelt sich daher ein Konzept der „Arbeitnehmerinnen-Mutterschaft“. Das heißt, neben einem formal geschlechtsneutralen, implizit aber überwiegend männlichen Arbeitnehmer-Bild, in dem reproduktive Obliegenheiten nicht angelegt sind, zeigten sich in den entsprechenden Konzepten auch Lebenszusammenhänge von Arbeitnehmerinnen mit Betreuungspflichten. Allerdings stand der „Arbeitnehmerinnen-Mutterschaft“ keine „ArbeiternehmerVaterschaft“ gegenüber, die die Übernahme von Betreuungsaufgaben vorgesehen hätte. Trotzdem war „Arbeitnehmerinnen-Mutterschaft“ nicht als ledige Existenz gedacht. Der Einkommensersatz für Verdienstausfall blieb zu niedrig. Auch die „Arbeitnehmerinnen-Mutter“ blieb also von einem Versorger abhängig. Deutliche Anzeichen einer Verschiebung der jeweiligen Geschlechter-Arrangements zeigen sich in beiden Gesellschaften während des Zweiten Weltkriegs und danach. Der Krieg führte in beiden Gesellschaften zu einer stärkeren Integration von Frauen in den Bereich der Erwerbsarbeit und zu einer (weiteren) Verschiebung der Geschlechterkultur in Richtung „Arbeitnehmerinnen-Mutterschaft“. Die Folgen dieser Entwicklung waren aber gegenläufig  : In den USA wurde dadurch ein Prozess eingeleitet, der zu einer mittelfristigen Zunahme von weiblicher Erwerbsarbeit, auch in Bezug auf verheiratete und weiße Frauen, und zu einer langfristigen 359

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 359

22.09.2010 07:50:36

Internationale Geschlechterpolitik Arbeitsteilung

Normverschiebung führte. „Arbeitnehmerinnen-Mutterschaft“ wurde zur hegemonialen Norm. Die Veränderung schlug sich bereits ab Mitte der 1950er-Jahre in den staatlichen Wohlfahrtsprogrammen49 und ab den 1970er-Jahren in Diskriminierungsverboten wie dem Pregnancy Discrimination Act nieder. Am Ende des 20. Jahrhunderts kam es schließlich zur hegemonialen Durchsetzung einer neuen Norm, die Erwerbsarbeit zur geschlechtsneutralen BürgerInnen-Pflicht machte.50 In Bezug auf Österreich ist das Bild, das die Nachkriegsgesellschaft bietet, ambivalent  : Der vergleichsweise großzügige Ausbau der Mutterschutzgesetzgebung, der bis ins 21. Jahrhundert anhält, erfolgte weiterhin nach dem Konzept der „Arbeitnehmerinnen-Mutterschaft“. In der Geschlechterordnung verlor dieses Konzept hingegen an Bedeutung, wenngleich die boomende Nachkriegswirtschaft auf die Arbeitskraft von verheirateten Frauen mit Betreuungspflichten nicht verzichten konnte. Auf der diskursiven Ebene, in den öffentlichen Bildern und Reden gewann ein Familienbild die Oberhand, in dem die „Familie“ für breite, auch nichtbürgerliche Bevölkerungsschichten den privaten Gegenentwurf zur und Rückzugsraum von einer bedrohlich empfundenen „Außenwelt“ darstellte und daher als von unmittelbaren Erwerbsaufgaben entlastet fantasiert wurde. Möglich wurde das durch die Vorstellung einer strikten, zweigeschlechtlich strukturierten Aufgabenteilung zwischen Familien- und Erwerbsarbeit. Diese nahezu allgegenwärtige Fantasie deckte zweifellos vorhandene Widerstände und Brüche des Modells mit der täglich geübten Praxis fortbestehender weiblicher Berufsarbeit zu und ließ diese aus den öffentlichen Bildern und Reden verschwinden. Gleichzeitig sank die Erwerbsbeteiligung von Frauen bis in die 1960er-Jahre. Es kann zwar nicht davon gesprochen werden, dass sich das Modell der männlichen Versorgerehe gesamtgesellschaftlich durchsetzte  : In die Konjunkturphase der Nachkriegszeit fällt in Österreich die Durchsetzung des Fordismus, dessen „Konsumseite“51 den familiären Verzicht auf weibliche beziehungsweise ehefrauliche Erwerbseinkommen nicht nahelegte.52 Erst unter dem Einfluss der ‚zweiten‘ Frauenbewegung differenzierten sich weibliche Rollenbilder aus, sodass die Erfordernisse von „Arbeitnehmerinnen-Mutterschaft“, nun auch in einer alleinerziehenden Form, in öffentlichen Diskursen und Politiken deutlicher Repräsentation fanden. Ansätze zur Konzeptionalisierung einer reziproken „Arbeitnehmer-Vaterschaft“ blieben aber weiterhin höchst marginal. Die AkteurInnen, die an den Verhandlungsprozessen in den jeweiligen Politiken maßgeblich beteiligt waren, verhielten sich in beiden Fallbeispielen sehr konstant  : Im europäischen Beispiel wurden die sozialstaatlichen Anfänge stark entlang ökonomischer Positionen verhandelt. In diesem Sinne war Status beziehungsweise Klassenzugehörigkeit von großer Bedeutung, wenn es um sozialstaatliche Gesetze und Praktiken ging. Politische Parteien, die ihre Klientel nach Schichtzugehörigkeit re360

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 360

22.09.2010 07:50:36

Geschlechterpolitik

krutierten, und Interessenvertretungen waren in Österreich bis in die 1960er-Jahre die wichtigsten Teilnehmer an entsprechenden Aushandlungsprozessen. In diesem Sinne war Geschlecht eine untergeordnete Kategorie. Die Beschäftigten waren generell explizit geschlechtsneutral definiert, implizit aber tendenziell männlich gedacht, weil in der großen Mehrheit der Regelungen unabhängige Subjekte ohne persönliche Betreuungspflichten unterstellt wurden. Im Unterschied dazu waren US-Regelungen, die auf die Schnittstelle zwischen Erwerbs- und Betreuungsarbeit zielten, in einem Umfeld entstanden, in dem Geschlecht explizit eine wesentlich größere Bedeutung hatte. Die US-Frauenbewegungen waren nahezu während des gesamten hier zur Debatte stehenden Zeitraums wesentliche Akteurinnen, was die Problemdefinition sowie darauf replizierende gesetzliche Regelungen betraf. Damit stand Geschlecht und die entsprechende Normdefinition in der Diskussion über die Rahmenbedingungen von Reproduktion explizit zur Debatte. Implizit waren die Debatten allerdings stark von ethnisch und klassenspezifisch definierten Hie­rarchien durchzogen. Nach 1945 änderten sich zwar nicht die Gruppen, die an der Normdefinition teilhatten. Es verschoben sich aber die Normen der entscheidenden Gruppen zwischen 1945 und 1996 vor allem im Zuge der welfare reform unter Präsident Clinton signifikant. Die männliche Versorgerehe wurde ab Mitte der 1950er-Jahre langsam infrage gestellt durch ein Modell, das vorerst vor allem über Sozialtransfers „Arbeit­ nehmerinnen-Mutterschaft“ als Lebensmodell durchsetzen sollte. Bis dahin war „Abhängigkeit“ ein inhärentes Merkmal der Geschlechterverhältnisse gewesen und hatte die weibliche Position beschrieben, entweder im Verhältnis zum EhemannVersorger oder ersatzweise zum Staat. In den 1950er-Jahren wurde „Abhängigkeit“ zu einem Problem definiert, das vorderhand vor allem durch Sozialstaatsprogramme zu bekämpfen sei. Ab den 1950er-Jahren änderten sich die Voraussetzungen für sozialstaatliche Hilfe  : Erwerbsarbeit war nicht mehr Hindernis, sondern wurde vorderhand nahegelegt. Am Ende des 20. Jahrhunderts wurde sie sogar Voraussetzung dafür, dass eine Person sozialstaatliche Unterstützung ‚verdiente‘.53 Wiederum waren also die Lebensweisen der weißen Mittelschicht zum Parameter der Integration, zum Prüfstein dessen geworden, was es hieß, „amerikanisch“ zu sein. Nur hatten sich diese Lebensweisen inzwischen gewandelt, für alle BürgerInnen galt die Pflicht zur Erwerbsarbeit, während die Zuschreibung der Reproduktion eine ausschließlich weibliche blieb. Diese Konzeption fand in den Reformen des Sozialwesens Ende der 1990er-Jahre ihren klarsten Ausdruck. Die Verhaltensänderung, die sich nach 1945 an der Schnittstelle zwischen Erwerbs- und Reproduktionsarbeit bei den weißen, protestantischen Mittelschichten der USA zeigte, führte letztlich auch zu einer Verschiebung der dominanten und von staatlichen Politiken gesetzten Norm. 361

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 361

22.09.2010 07:50:36

Internationale Geschlechterpolitik Arbeitsteilung

Im Unterschied dazu sind die österreichischen Politiken, die auf die Schnittstelle von Erwerbs- und Reproduktionsarbeit zielen, sowohl in der Ersten als auch in der Zweiten Republik das Ergebnis eines Kompromisses von sozialdemokratischen und katholisch-konservativen Konzepten. Wiewohl für Katholisch-Konservative der adäquate Ort der Reproduktion zweifellos die männliche Versorgerehe war, stellte diese Option bis in die 1950er-Jahre hinein aus ökonomischen Gründen keine gesamtgesellschaftlich durchsetzbare Alternative dar. Das heißt, dass Bestimmungen, die Erwerbsarbeit von Frauen beschränken sollten, nicht die Regelungen der Wahl waren. Es wurden daher – mit sozialdemokratischer Zustimmung – bereits in den 1920er-Jahren, in umfassenderem Ausmaß in der zweiten Hälfte der 1950er und in den frühen 1960er-Jahren Bestimmungen beschlossen, die relativ großzügige Unterbrechungen der Erwerbsarbeit für Arbeitnehmerinnen vorsahen, wenn sie Kinder gebaren. Diese Regelungen projizierten eine „richtige“ Reproduktion auf eine Kernfamilie, die wirtschaftlich nicht ausschließlich auf männlicher Erwerbsarbeit beruhte, in der diese aber gegenüber der weiblichen als vorrangig galt. In den 1950er-Jahren wurde die Präferenz für die Betreuung von Kleinkindern durch die eigene Mutter gegenüber öffentlichen Formen der Kinderbetreuung – in einem breiten politischen Konsens, der keinen Widerspruch erlaubte – festgeschrieben. Seither wurde dieses Modell sozial- und arbeitsrechtlich abgesichert. Die letzte grundsätzliche Änderung der Regelungen, die im Jänner 2002 unter dem Namen „Kinderbetreuungsgeld“ wirksam wurde und die sowohl den Kreis der Anspruchsberechtigten ausdehnte als auch die mögliche Karenzierungsdauer noch einmal verlängerte, stellt einen bisherigen Höhepunkt dieser politischen Prioritätensetzung dar.54 Im Unterschied zu den USA waren autonom organisierte Frauenbewegungen nicht sehr einflussreich in der Politikformulierung. Die Dominanz von politischen Parteien hatte autonome Organisationen seit der Einführung des allgemeinen (also auch Frauen-)Wahlrechts am Beginn der Ersten Republik bereits deutlich geschwächt, sodass sie in der eskalierenden Auseinandersetzung am Ende der Ersten Republik kaum politische Wirkmacht erlangen konnten. Der Nationalsozialismus zerriss die entsprechenden Traditionsstränge endgültig. Die Mutterschutzgesetze der Zweiten Republik, ebenso wie diejenigen der Ersten, wurden daher zwar vor allem von Frauen, die sich als politische Vertretung von ‚frauenspezifischen‘ Interessen verstanden, präsentiert und argumentiert. Es gab aber in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten keine autonomen Organisationsformen von Frauen. Etwaige Interessendifferenzen mussten immer in männlich majorisierten politischen Organisationen und Gremien ausgetragen werden. Es scheint konsequent, dass diese Differenz in der politischen Kultur und Struktur der beiden Länder die Formulierung von politischen Strategien und Forderungen wesentlich beeinflusste. 362

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 362

22.09.2010 07:50:36

Geschlechterpolitik

Empirische Hinweise darauf, welche Politiken dabei als Alternativen denk- und diskutierbar waren, aber dem Zwang zur Bildung einer einheitlichen Parteimeinung zum Opfer fielen, sind spärlich.55 Die ‚zweite‘ Frauenbewegung verschob die entsprechenden Normen nur mittelbar, langfristig und nicht grundsätzlich, was auf die starke politische und lebensweltliche Verankerung dieser Norm verweist. Das bereits in den 1950er-Jahren festgeschriebene normative Arrangement, in dem Reproduktion stattfinden sollte, wurde durch die österreichischen Frauenbewegungen der 1970er-Jahre nicht verändert  : Ein formal geschlechtsneutraler Arbeitnehmer-Begriff konnte auch Aspekte von „Arbeitnehmerinnen-Mutterschaft“ inkludieren. Weil aber in der dominanten Geschlechterkultur die mütterliche Obsorge in der Kindererziehung prioritär ist, zerfällt das augenscheinlich einheitliche geschlechtsneutrale Konzept zumindest in zwei verschiedene. Die Trennlinie verläuft im Wesentlichen entlang der Geschlechtszugehörigkeit  : Arbeitnehmer ohne Betreuungspflichten stehen Arbeitnehmerinnen mit Betreuungspflichten gegenüber. Während Geschlecht in den USA im Lauf des 20. Jahrhunderts bei der Zumessung von Handlungsspielräumen an Gewicht einbüßte, ist die Entwicklung in Österreich umgekehrt  : Geschlecht fungiert nahezu unverändert als wesentlicher Platzanweiser in den reproduktiven Arrangements und definiert damit die Handlungsspielräume der Personen.

Anmerkungen 1 Siehe Sabine Hark, Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt am Main 2005. 2 Göran Therborn, European Modernity and Beyond  : The Trajectory of European Societies, 1945– 2000, London/Thousand Oaks/New Delhi 1995. 3 Dietmar Rothermund, Globalgeschichte und Geschichte der Globalisierung, in  : Margarete Grandner/Dietmar Rothermund/Wolfgang Schwentker, Hg., Globalisierung und Globalgeschichte, Wien 2005, 19. 4 Joan W. Scott, Gender  : Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse, in  : Nancy Kaiser, Hg., Selbst bewusst. Frauen in den USA, Leipzig 1994, 27–75. 5 Nur stellvertretend sei hier Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991, genannt. 6 Weil der deutschsprachige Begriff „Rasse“ historisch zu stark belastet ist, ziehe ich es vor, die englischsprachige Bezeichnung race zu verwenden. 7 Regina Becker-Schmidt, „class“, „gender“, „ethnicity“, „race“  : Logiken der Differenzsetzung, Verschränkungen von Ungleichheitslagen und gesellschaftliche Strukturierung, in  : Cornelia Klinger/ Gudrun-Axeli Knapp/Birgit Sauer, Hg., Achsen der Ungleichheit, Frankfurt am Main/New York 2007, 56–83.

363

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 363

22.09.2010 07:50:36

Internationale Geschlechterpolitik Arbeitsteilung

  8 Birgit Pfau-Effinger, Macht des Patriarchats oder Geschlechterkontrakt  ? Arbeitsmarktintegration von Frauen im internationalen Vergleich, in  : Prokla, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 1993/4, 633–663  ; dies., Analyse internationaler Differenzen in der Erwerbsbeteiligung von Frauen. Theoretischer Rahmen und empirische Ergebnisse, in  : Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1996/3, 462–492.   9 Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in  : Werner Conze, Hg., Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, 363–393. 10 Siehe dazu als Überblick Reinhard Sieder, Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt am Main 1987  ; exemplarisch Josef Ehmer, Familienstruktur und Arbeitsorganisation im frühindustriellen Wien, Wien 1980. 11 Siehe z. B. die Analyse zu Mosambik in Maria Mesner u. a., Das Geschlecht der Politik, Wien 2004. 12 Linda Gordon, U. S. Women’s History, o. O. 1990, 11. 13 Gwendolyn Mink, The Lady and the Tramp  : Gender, Race, and the Origins of the American Welfare State, in  : Linda Gordon, Hg., Women, the State, and Welfare, Madison, Wisconsin/London 1990, 92–122. 14 Virginia Sapiro, The Gender Basis of American Social Policy, in  : Gordon, Hg., Women, the State, and Welfare, 43. 15 Alice Kessler-Harris, In Pursuit of Equity. Women, Men, and the Quest for Economic Citizenship in 20th-Century America, New York 2001, 7. 16 Nancy M. Thornborrow/Marianne B. Sheldon, Women in the Labor Force, in  : Jo Freeman, Hg., Women. A Feminist Perspective, Mountain View, California/London/Toronto, 5. Aufl. 1995, 204. 17 Alice Kessler-Harris, Out to Work. A History of Wage-Earning Women in the United States, New York/Oxford 1982, 109. 18 Ebd., 113. 19 Richard Gisser u. a., Familiale Wirklichkeit aus demographischer und soziologischer Sicht, in  : Lebenswelt Familie. Familienbericht 1989, hg. vom Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie, Wien o. J., 59. 20 Gertrude Weitgruber, Das Bild der Frau in der Öffentlichkeit in Österreich, Deutschland und Amerika in den Nachkriegsjahren (1945–1953), phil. Diss. Univ. Salzburg 1982, 169. 21 Käthe Leichter, Frauenarbeit und Arbeiterinnenschutz in Österreich, Wien 1927, 9. 22 Bericht über die Situation der Frau in Österreich. Frauenbericht 1975, hg. vom Bundeskanzleramt, Wien 1975, Heft 5  : Die Frau im Beruf, 5. 23 Therborn, European Modernity and Beyond, 4. 24 Ebd., 5. 25 Siehe Thornborrow/Sheldon, Women in the Labor Force, 204. 26 Erna Appelt, Geschlecht – Staatsbürgerschaft – Nation. Politische Konstruktionen des Geschlechterverhältnisses in Europa, Frankfurt am Main/New York 1999, 106, verwendet den Begriff „Arbeitermutterschaft“ für das französische Beispiel. Ich wähle den Begriff der „ArbeitnehmerinnenMutterschaft“, weil damit auch andere Gruppen unselbstständig erwerbstätiger Frauen gemeint sind. 27 Fritz Weber, Die wirtschaftliche Entwicklung, in  : Emmerich Tálos u. a., Hg., Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918–1933, Wien 1995, 30. 28 Adelheid Popp, Frauenarbeit in der kapitalistischen Gesellschaft, Wien 1922, 16. 29 Neyer, Risiko und Sicherheit, 30. 30 Thornborrow/Sheldon, Women in the Labor Force, 203. 31 Carol Hymowitz/Michaele Weissman, A History of Women in America, Toronto u. a. 1978, 305.

364

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 364

22.09.2010 07:50:36

Geschlechterpolitik

32 Siehe beispielsweise Joan Hoff, Law, Gender, and Injustice. A Legal History of U. S. Women, New York/London 1991, 208  ; Kessler-Harris, Out to Work, X. 33 Helene Granitsch, Das Buch der Frau. Eine Zeitkritik, Wien 1927, 109. 34 Siehe die entsprechenden Berechnungen und Zahlenangaben bei Karin Berger, Zwischen Eintopf und Fließband, Wien 1984, 85. 35 Kessler-Harris, Out to Work, 276 f. 36 Judith Sealander, As Minority Becomes Majority. Federal Reaction to the Phenomenon of Women in the Work Force, 1920–1963, Westport, Connecticut/London 1983, 96. 37 Kessler-Harris, Out to Work, 278. 38 Elaine Tyler May, Homeward Bound. American Families in the Cold War Era, o. O. 1988, 20. 39 Sealander, As Minority Becomes Majority, 133. 40 Siehe dazu ausführlicher Edith Saurer, Schweißblätter. Gedankenfetzen zur Frauengeschichte in den fünfziger Jahren, in  : Gerhard Jagschitz/Klaus-Dieter Mulley, Hg., Die „wilden“ fünfziger Jahre. Gesellschaft, Formen und Gefühle eines Jahrzehnts in Österreich, St. Pölten/Wien 1985, 46  ; Johanna Gehmacher/Maria Mesner, Land der Söhne. Geschlechterverhältnisse in der Zweiten Republik, Innsbruck u. a. 2007. 41 Allerdings hatten auch nationalsozialistische Politiken, durch einen rassistischen bevölkerungspolitischen Selektionismus motiviert, auf „Familien“ gezielt, genauer gesagt auf „arische Familien“. 42 Rainer Münz, Soziologische Aspekte der Familienentwicklung und die Instrumente ihrer Beeinflussung, grund- und integrativwissenschaftliche Habilitationsschrift Univ. Wien 1985, 172. 43 Neyer, Risiko und Sicherheit, 41. 44 Kristin E. Smith/Amara Bachu, Women’s Labor Force. Attachment Patterns and Maternity Leave  : A Review of the Literature (= Population Division Working Paper 32), 3, in  : http  ://blue.census. gov/population/www/documentation/twps0032/twps0032.html [14. August 2001]. 45 Pfau-Effinger, Analyse internationaler Differenzen, 470. 46 Mink, The Lady and the Tramp. 47 Siehe dazu Kessler-Harris, In Pursuit of Equity, 15. 48 Mink, The Lady and the Tramp, 114. 49 Siehe dazu Jennifer Leigh Mittelstadt, The Dilemmas of the Liberal Welfare State, 1945–1964  : Gender, Race, and Aid to Dependent Children, phil. Diss. Univ. of Michigan, Ann Arbor 2000. 50 Siehe beispielsweise Ann Shola Orloff, Explaining US Welfare Reform. Power, Gender, Race, and the US Policy Legacy, in  : Maria Mesner/Gudrun Wolfgruber, Hg., The Policies of Reproduction at the Turn of the 21st Century, Innsbruck u. a. 2006, 67–90. 51 Reinhard Sieder/Heinz Steinert/Emmerich Tálos, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in der Zweiten Republik. Eine Einführung, in  : dies., Hg., Österreich 1945–1995. Gesellschaft Politik Kultur, Wien 1995, 16. 52 Siehe dazu anschaulich Brigitte Lichtenberger-Fenz, ‚Frauenarbeit mehrt den Wohlstand‘. Frauen und das ‚Wirtschaftswunder‘ der 50er Jahre, in  : Zeitgeschichte 19 (Juli/August 1992), 7–8, 224–240. 53 Mittelstadt, The Dilemmas of the Liberal Welfare State, 84–100, 113 f. 54 Siehe dazu Hedwig Lutz, Auswirkungen der Kindergeldregelung auf die Beschäftigung von Frauen mit Kleinkindern. Erste Ergebnisse, in  : WIFO Monatsberichte 2003/3, 213–227. Es ist derzeit noch nicht abzusehen, inwieweit die am 1. Jänner 2010 in Kraft getretene Einführung eines einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes an den dominanten reproduktiven Arrangements etwas ändern wird. 55 Siehe dazu Heidi Niederkofler, „Mehrheit verpflichtet  !“. Frauenorganisationen der politischen Parteien in Österreich in der Nachkriegszeit, Wien 2009.

365

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 365

22.09.2010 07:50:36

Zum „American Way of Life“ des 20. Jahrhunderts gehörte die Haushaltstechnisierung. In keinem Land verbreiteten sich die elektrischen Haushaltsgeräte wie Bügeleisen, Waschmaschine oder Kühlschrank so rasch wie in den USA. Sie erleichterten die Hausarbeit, die allerdings nach wie vor Frauensache blieb (Fotografie: Alfred T. Palmer, Ohio/USA, 1941, Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ironing.jpg).

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 366

22.09.2010 07:50:37

Kapitel 11

Die Entstehung der Konsumgesellschaft Manuel Schramm

Konsum, Konsumgesellschaft „Konsum“ war lange Zeit kein wissenschaftlich definierter Begriff. In der Frühen Neuzeit wurde er wenig verwendet, vorwiegend im Zusammenhang mit Verbrauchssteuern („Consumtions-Accise“). In der volkswirtschaftlichen Literatur des 19. Jahrhunderts bedeutete er soviel wie Verzehr, Verbrauch bis hin zu Zerstörung und Wertminderung. Mit der Verbreitung von Konsumgenossenschaften im späten 19. Jahrhundert bürgerte sich im allgemeinen Sprachgebrauch „Konsum“ als Kurzform für Konsumgenossenschaft ein. Erst im 20. Jahrhundert setzte sich in den Wirtschaftswissenschaften das heutige Verständnis von Konsum als Befriedigung von Bedürfnissen mit wirtschaftlichen Mitteln durch. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts kam der Begriff „Konsumgesellschaft“ auf als Bezeichnung für eine Gesellschaft, die durch Massenkonsum gekennzeichnet ist. Sie entstand wohl nicht zufällig in den USA, die für manche Historiker die erste Konsumgesellschaft verkörpern.1 Die heutige Konsumgeschichtsschreibung tendiert zu einer weiten Definition von Konsum, die nicht nur den Erwerb, sondern auch den Gebrauch von Gütern und Dienstleistungen durch die Konsumenten sowie gesellschaftliche Diskurse über Konsum – etwa als Werbung oder Konsumkritik – mit einbezieht. Eine gängige Definition von Konsum lautet daher  : „Das Kaufen, Gebrauchen und Verbrauchen/ Verzehren von Waren, eingeschlossen die damit in Zusammenhang stehenden Diskurse, Emotionen, Beziehungen, Rituale und Formen der Geselligkeit und Vergesellschaftung“.2 Kennzeichnend für die Konsumgeschichte ist darüber hinaus, dass im Gegensatz zu älteren konsumkritischen Ansätzen Konsum nicht mehr als passiver Vorgang erscheint, der von Produzenten und Werbetreibenden durch Manipulation des Konsumenten weitgehend gesteuert wird. Vielmehr geht die neuere Forschung davon aus, dass Konsum immer auch aktive Anpassungsleistungen des Konsumenten beinhaltet und der Konsument weit eigensinniger ist, als dies den Produzenten lieb ist. Anders als in der älteren Wirtschaftsgeschichte wird Konsum von den heutigen Historikern auch nicht als bloßes Ergebnis wirtschaftlichen Wachstums, als „zweitrangige Folge anderer, fundamentaler Kräfte“ gesehen.3 Vielmehr ist davon auszu367

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 367

22.09.2010 07:50:37

Internationale Konsumgesellschaft Arbeitsteilung

gehen, dass erstens der Konsum selbst einen wichtigen Beitrag zu wirtschaftlichem Wachstum leistet und dass zweitens Formen und Ausmaß des Konsums zwischen wirtschaftlich ähnlichen Gesellschaften erheblich variieren können. Als Fluchtpunkt der historischen Entwicklung des Konsums erscheint in der Regel die „Konsumgesellschaft“ als Gesellschaft, in der Konsum eine strukturbestimmende Rolle spielt. Über die Definition von „Konsumgesellschaft“ existiert ebenso wenig Konsens wie über die Frage, ob es nur eine Konsumgesellschaft mit überall prinzipiell gleichen Merkmalen oder aber verschiedene Ausprägungen davon gibt. Vorwiegend quantitativ arbeitende Forscher neigen dazu, einen einheitlichen Begriff der Konsumgesellschaft zu unterstellen, der dann anzutreffen sei, wenn die messbare Verbreitung langlebiger Konsumgüter ein bestimmtes Maß überschritten habe.4 Diese Definition hat forschungspraktische Vorteile, da sie leicht anzuwenden ist  ; der gravierende Nachteil ist jedoch, dass sie Konsum auf die rein quantitative Verfügbarkeit von Konsumgütern zu reduzieren droht und die qualitative Seite der Konsumgeschichte ausblendet. Andere Historiker verwenden deshalb Merkmalskataloge, um möglichst viele wichtige Dimensionen zu erfassen, wie etwa  : Erstens, moderner Konsum ist Kaufkonsum  ; zweitens, Erwerb und Verbrauch von Konsumgütern ist frei, nur durch die Menge finanzieller Mittel beschränkt  ; drittens, das feste Ladengeschäft sichert eine permanente Versorgung  ; viertens, Konsum ist ein dynamisches Phänomen, wie etwa in der Mode  ; fünftens, Konsum tendiert zur Kolonisierung neuer Sphären wie sozialer Gruppen, Regionen oder Bedürfnisse  ; sechstens, die Figur des Konsumenten entsteht als neue Rollenzuschreibung.5 Das Beispiel zeigt die Offenheit, aber auch die Problematik solcher Merkmalskataloge. Die einzelnen Merkmale können zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten auftreten und sind häufig nicht eindeutig einem bestimmten Zeitraum zuzuordnen  ; so etwa war die Mode schon im Mittelalter bekannt. Fraglich ist auch, ob einzelne Merkmale durch funktionale Äquivalente ersetzt werden können (etwa das Ladengeschäft durch Märkte, Hausierer oder Versandhandel). Insofern ist es wohl sinnvoll, den Begriff Konsumgesellschaft als Tendenzbegriff aufzufassen, das heißt eine Gesellschaft wird immer nur mehr oder weniger als Konsumgesellschaft betrachtet, kaum aber ganz oder gar nicht. Die frühneuzeitlichen Konsumrevolutionen Konsum ist nicht ausschließlich ein Phänomen des Zeitraums seit 1800. Vielmehr war Konsum, auch im oben definierten Sinne von Kaufkonsum im Unterschied zur Selbstversorgung, in vielen Gesellschaften vor dem 19. Jahrhundert anzutreffen. Dies trifft in erster Linie auf bestimmte Teile Westeuropas zu  ; aber auch andere 368

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 368

22.09.2010 07:50:37

Konsumgesellschaft

Gesellschaften verfügten bereits vor 1800 über komplexe Handelsnetze und verschiedene Formen von Kaufkonsum, insbesondere Nordamerika und Teile Asiens wie China, das Osmanische Reich, Japan oder Indien. In Afrika und Lateinamerika schließlich waren Handel und Konsum nicht völlig abwesend, auch wenn sie vor 1800 keine so große Rolle spielten wie in Westeuropa. Besondere Aufmerksamkeit hat in der Forschung die These von der englischen „Konsumrevolution“ (McKendrick) gefunden. Den Kern bildet die Behauptung, England habe sich schon im 18. Jahrhundert zu einer Konsumgesellschaft gewandelt.6 Diese These stellte ältere Einteilungen der Geschichte infrage, da sie entscheidende soziale und wirtschaftliche Wandlungsprozesse vor der Industriellen Revolution verortete. Während ältere Darstellungen die Ausweitung des Konsums als mehr oder weniger zwangsläufige Folge der Industrialisierung ansahen, erschien nun umgekehrt die Industrialisierung eher als Folge des Aufschwungs des frühneuzeitlichen Gewerbes und der Entstehung einer starken Nachfrage nach immer neuen Konsumgütern. Dieser These ist aus zwei unterschiedlichen Richtungen widersprochen worden. Während eine Gruppe von Historikern nach immer früheren „Konsumrevolutionen“ sucht und dazu tendiert, den Durchbruch zur Konsumgesellschaft immer weiter vorzuverlegen, bezweifelt die andere die Nachhaltigkeit und Reichweite der frühneuzeitlichen Konsumrevolution und datiert den Beginn der Konsumgesellschaft entweder auf das späte 19. oder sogar erst auf das 20. Jahrhundert.7 Trotz aller Vorbehalte ist die These von der englischen Konsumrevolution des 18. Jahrhunderts im Kern mittlerweile weitgehend akzeptiert. Somit wies England um 1800 bereits wichtige Elemente einer Konsumgesellschaft auf, so etwa einen hohen Grad an Kommerzialisierung in der Landwirtschaft, eine blühende Konsumgüterproduktion, ein für vorindustrielle Verhältnisse sehr effizientes Transportwesen, persönliche Freiheit des Kaufens und Verkaufens, kommerzielle Werbung und so fort. England war damit vielleicht Vorreiter, stand aber in Europa nicht allein. Wahrscheinlich lassen sich viele dieser Ergebnisse auf andere urbanisierte Regionen oder ländliche Gewerberegionen Nordwest- und Mitteleuropas übertragen (etwa Niederlande, Frankreich, Norditalien, Teile Deutschlands). Auf Ost- und Südeuropa dürften sie weniger zutreffen. Der niederländische Wirtschaftshistoriker Jan de Vries spricht in diesem Zusammenhang von einer „Revolution des Fleißes“ (industrious revolution), die seit dem späten 17. Jahrhundert der Industriellen Revolution vorausging und dazu führte, dass die Westeuropäer bereit waren, mehr zu arbeiten, um mehr konsumieren zu können. Somit vollzog sich die Konsumrevolution des 18. Jahrhunderts auf der Grundlage stagnierender Reallöhne, aber gestiegener Haushaltseinkommen – nicht zuletzt durch Frauen- und Kinderarbeit.8 369

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 369

22.09.2010 07:50:37

Internationale Konsumgesellschaft Arbeitsteilung

Dem westeuropäischen Beispiel am ähnlichsten dürfte Nordamerika gewesen sein. Die englischen Kolonien empfingen schon seit ungefähr den 1740er-Jahren einen ständigen Zufluss an materiellen Gütern vorwiegend aus Europa.9 Die nord­ amerikanischen Siedler konnten vor dem Aufbau einer nennenswerten eigenen Konsumgüterproduktion beträchtlichen Wohlstand und ein hohes Konsumniveau erzielen. Möglich wurde dies durch die Ausfuhr agrarischer Güter, was auf die effiziente Nutzung reichlich vorhandener natürlicher Ressourcen zurückzuführen ist. Anders als in anderen (Post‑)Kolonialgesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts blieb der Konsum europäischer Güter wie Kleidung oder Haushaltsgegenstände auch nicht auf eine kleine Elite beschränkt, sondern umfasste breite Kreise der Bevölkerung bis hin zu den afroamerikanischen Sklaven. Ausgenommen waren allerdings die Ureinwohner Nordamerikas, die nicht zur europäischen Siedlergesellschaft gehörten. Diese nordamerikanische Konsumgesellschaft lässt sich am besten als Erweiterung der europäischen, speziell der britischen, verstehen, die um 1800 noch kaum eigene Züge ausgeprägt hatte. Ganz anderer Natur waren die kommerziellen Gesellschaften Asiens, die weit weniger von europäischen Vorbildern abhängig waren  ; umgekehrt hatten insbesondere China und das Osmanische Reich Vorbildfunktion. Für beide Gesellschaften wurde in der neueren Forschung die Existenz einer Konsumrevolution im 17. und 18. Jahrhundert behauptet, ähnlich der englischen Entwicklung  ; für Japan soll Ähnliches gelten.10 Aber auch Indien verfügte um 1800 über eine komplexe Handelskultur sowie eine ausgedehnte marktorientierte Textilproduktion. In der Tat waren die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Asien und Europa um 1800 längst nicht so groß wie 100 oder 200 Jahre später, was immer wieder Anlass zu Fragen nach den Ursachen des Aufstiegs des „Westens“ (Westeuropas und Nordamerikas) gegeben hat. Die genannten asiatischen Gesellschaften verfügten über mehrere gemeinsame Grundzüge, die prinzipiell die Entstehung von Konsumgesellschaften begünstigten  : eine zumindest teilweise kommerzialisierte Landwirtschaft, ausgedehnte Fern- und Binnenhandelsbeziehungen und kommerziell vertriebene Genussmittel wie Tee, Kaffee oder Tabak. Zudem waren rechtliche Beschränkungen wie Luxusgesetze zwar zum Teil (wie in Europa) noch vorhanden, hatten aber im Lauf des 18. Jahrhunderts an Bedeutung verloren. Ländliche Armut scheint um 1800 etwa in China weniger verbreitet gewesen zu sein als in Europa.11 Eine Ausnahme bildete Indien, wo es noch bis in das 19. Jahrhundert verbreitet war, Reichtum eher in der Form von persönlicher Gefolgschaft als in der Anhäufung materieller Gegenstände zur Schau zu stellen.12 Instruktiv ist das chinesische Beispiel, das möglicherweise der europäisch-nord­ amerikanischen Entwicklung am nächsten kam. Hier wurden bereits im 17. Jahr370

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 370

22.09.2010 07:50:37

Konsumgesellschaft

hundert Grundsteine zu einer Entwicklung gelegt, die zur Entstehung einer Konsumgesellschaft hätten führen können. Zentral war dabei die „Erfindung des Geschmacks“13 mit dem Aufkommen warenkundlicher Schriften. Offensichtlich besaß die materielle Kultur eine wichtige symbolische Bedeutung für die chinesische Oberschicht. Aber diese Ansätze scheinen später nicht fortgeführt worden zu sein. So fehlte es im China des 18. Jahrhunderts an Äquivalenten zu den westlichen Konsumverstärkern wie Mode oder Werbung. Zudem waren die Anfänge des Konsums in China sozial und regional stark beschränkt. Auch im Osmanischen Reich existierte in Ansätzen eine Konsumkultur, die sich etwa in der Verbreitung der Kaffeehäuser im 17. und 18. Jahrhundert äußerte. In dieser Hinsicht wirkte die osmanische Konsumkultur beispielgebend für Europa. Dennoch kam es nicht zu einer ähnlichen Entwicklung wie in Westeuropa. Die Gründe lagen nicht nur in den wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Osmanischen Reichs im frühen 19. Jahrhundert. Vielmehr fehlten auch hier Faktoren wie Werbung und Mode, welche für eine dynamischere Entwicklung hätten sorgen können. Möglicherweise spielte die osmanische Wohnkultur eine Rolle, die mit ihrer weitgehenden Abwesenheit von Möbeln ganz anders geartet war als die europäische. Damit fehlte die Nachfrage nach den wichtigsten langlebigen Konsumgütern der damaligen Zeit. Welche Rolle spielten die weltwirtschaftlichen Verflechtungen für den Aufstieg des Konsums in Westeuropa und den USA  ? Der nordamerikanische Konsum beruhte im Wesentlichen auf dem Import europäischer Konsumgüter, bevor sich im 19. Jahrhundert eine eigenständige US-amerikanische Konsumgüterindustrie etablierte. Die westeuropäischen Länder wie Großbritannien und Frankreich profitierten von ihren Kolonien, aber auch Länder ohne Kolonien führten zunehmend Kolonialwaren, in der Regel Genussmittel, ein. Diese waren wichtig für die Kommerzialisierung der Wirtschaft, da Kaffee, Tee und Schokolade (anders als Tabak) nicht im Inland angebaut werden konnten. Importierter Zucker war für die englischen Unterschichten während der Industrialisierung ein wichtiger Energielieferant.14 Dazu kamen der Import indischer Baumwolltuche und chinesischen Porzellans sowie die Übernahme des orientalischen Kaffeehauses, das sich ab dem späten 17. Jahrhundert in Europa verbreitete. Somit importierte das konsumorientierte Europa nicht nur Güter aus anderen Teilen der Welt, sondern auch Orte des Konsums sowie die dazugehörigen Rituale und Vergesellschaftungsformen. Ob man deswegen von einer globalen Konsumrevolution des 17. und 18. Jahrhunderts sprechen sollte,15 ist jedoch fraglich. Entscheidend war nämlich nicht der Import von Konsumgütern oder die Übernahme von Konsumpraktiken an sich, sondern die Art und Weise des Umgangs mit 371

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 371

22.09.2010 07:50:37

Internationale Konsumgesellschaft Arbeitsteilung

denselben. Weder das Porzellan in China noch das Kaffeehaus im Osmanischen Reich führten dort zur Entstehung von Konsumgesellschaften. Dagegen strebten mehr und mehr Europäerinnen und Europäer der Ober- und Mittelschichten, zum Teil sogar der Unterschichten, Konsum als wichtigen Bestandteil ihres Lebens aktiv an. Erst auf dieser mentalen Grundlage konnten sich die neuen Konsumgüter und -praktiken so rasch verbreiten, und nur deshalb konnten hier Mode und Werbung eine viel stärkere Wirkung entfalten als in Asien. Im 19. Jahrhundert war daher der europäische Konsum weltweit dominant, während im 20. Jahrhundert die USA eine ähnliche Vorbildfunktion ausübten. Die Dominanz des europäischen Konsummodells im 19. Jahrhundert Die Bedeutung der europäischen Industrialisierung des 19. Jahrhunderts als Einschnitt ist in der neueren Geschichtsschreibung gesunken. Für manche Konsumhistoriker war sie sogar nur eine temporäre Unterbrechung eines bereits vorher einsetzenden Trends zur Konsumgesellschaft.16 Dennoch sind die Prozesse, die gemeinhin mit dem Begriff Industrialisierung verknüpft werden, auch für die Entwicklung des europäischen und weltweiten Konsums zentral. Wenn das Konsumniveau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vielen europäischen Regionen stagnierte oder gar rückläufig war, hing das einerseits mit dem schnellen Bevölkerungswachstum der Zeit, andererseits mit der krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklung zusammen. Trotzdem wurden bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Grundlagen für die rasche Entfaltung des Konsums in den folgenden Jahrzehnten gelegt. Das starke Wachstum der Produktionsgüterindustrie in der Industrialisierung hat lange Zeit verdeckt, dass sich auch die Konsumgüterindustrie modernisierte, was sich etwa in der Entstehung von Aktienbrauereien manifestierte. Von den klassischen Leitsektoren der Industrialisierung war die Textilindustrie mittelbar relevant für den Konsum, da sie Vorprodukte für die Bekleidungsindustrie herstellte. Vielleicht noch wichtiger war die Integration der Märkte, die durch die neuen Verkehrs- und Kommunikationstechnologien Dampfschifffahrt, Eisenbahn und Telegrafie möglich wurde. Zum Transport leicht verderblicher Nahrungsmittel wie Fleisch oder Bananen waren jedoch neue Entwicklungen in der Kühltechnik nötig, die sich erst in den 1880er-Jahren durchsetzten.17 Dies führte nicht nur zu einer spürbaren Verbesserung der Angebotsvielfalt, sondern durch die zunehmende Konkurrenz auch zu sinkenden Preisen, etwa im Agrarsektor seit den 1870er-Jahren – sehr zum Bedauern der Produzenten, aber zum Wohl der Konsumenten. Gleichzeitig erfolgten seit den 1840er-Jahren verstärkte Bemühungen, naturwissenschaftliche Erkenntnisse für die Landwirtschaft fruchtbar zu machen  ; bis zu 372

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 372

22.09.2010 07:50:37

Konsumgesellschaft

ihrer Durchsetzung sollten allerdings noch Jahrzehnte vergehen. Schließlich ist auf die im Zusammenhang mit der Industrialisierung stehende Urbanisierung hinzuweisen, die die traditionelle ländliche Selbstversorgung zunehmend erschwerte und somit immer mehr Menschen vom Kaufkonsum abhängig machte. Die europäische Industrialisierung war also keine Unterbrechung in der Geschichte des Konsums, sondern schuf mit der Modernisierung von Landwirtschaft, Transportwesen und Konsumgüterindustrie sowie der Konzentration der Verbraucher in den Städten erst die Voraussetzungen für die Entwicklungen der zweiten Jahrhunderthälfte. Die wichtigste Innovation in dieser Zeit war die sogenannte „Einzelhandelsrevolution“18, das Aufkommen neuer Formen des Einzelhandels. Allerdings bedeutete das keine Ablösung des traditionellen Ladengeschäftes. Im Gegenteil, die Zahl der Läden wuchs gerade in den Städten schneller als die Bevölkerung. Ein Großteil des Einzelhandelsumsatzes entfiel auch im Zeitalter der Einzelhandelsrevolution auf die kleinen Läden, die sich mehr oder weniger den neuen Bedürfnissen anpassten. Die eigentliche Revolution bestand im Aufkommen neuartiger Formen des Einzelhandels. Die größte Aufmerksamkeit hat in der historischen Forschung das Warenhaus gefunden, das ungefähr gleichzeitig in Frankreich und den USA um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstand.19 Seine Expansion setzte jedoch erst im letzten Drittel des Jahrhunderts ein. Es schien wie kaum eine andere Handelsform die neue Vielfalt des Konsums zu repräsentieren. Es bot dem Kunden nicht nur eine bisher unübliche Auswahl, sondern auch neue Rechte wie den Umtausch ohne Kaufzwang  ; es bemühte sich um eine ansprechende Warenpräsentation  ; und es beruhte auf hohem Umsatz bei geringen Profitmargen. All dies machte die Warenhäuser zu „Traumwelten“ des Massenkonsums.20 Ihre Kundschaft fanden sie zunächst überwiegend in den städtischen Mittelschichten. Seit der Jahrhundertwende setzte jedoch ein Prozess der sozialen Differenzierung ein, sodass auch weite Teile der Bevölkerung zu Warenhauskunden werden konnten. Andere Neuerungen des Einzelhandels, auf die sich der Ausdruck Einzelhandelsrevolution ursprünglich bezog, waren die Ladenketten, die seit den 1860er-Jahren in Großbritannien entstanden waren, aber auch auf dem europäischen Kontinent rasch Verbreitung fanden.21 Sie nutzten wie die Warenhäuser die wirtschaftlichen Vorteile des Großeinkaufs. Ähnlich funktionierten die Konsumgenossenschaften, die zum Teil sogar eigene Produktionsbetriebe besaßen. Sie waren in den 1840erJahren in England entstanden, einzelne Vorläufer ausgenommen,22 und expandierten seit den 1880er-Jahren. Zunächst existierten sowohl Arbeiter- als auch kleinbürgerliche oder Beamten-Genossenschaften. Nur die den Sozialisten nahe stehenden Arbeiter-Konsumgenossenschaften verstanden ihre Art des Handels als Gegenmodell zum Kapitalismus. Die Konsumenten sollten als Genossenschafter 373

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 373

22.09.2010 07:50:37

Internationale Konsumgesellschaft Arbeitsteilung

zu Eigentümern der Läden werden, in denen sie einkauften. Der Zwischenhandel sollte ausgeschaltet werden, um den Arbeitern möglichst günstige Preise garantieren zu können. Ursprünglich war der Handel als bloßes Verteilen von Waren des täglichen Bedarfs gedacht, was etwa Werbung und Rabattaktionen weitgehend ausschloss  ; doch im Laufe der Zeit glichen sich die Konsumgenossenschaften in vieler Hinsicht anderen Ladenketten an. Mit den neuen Einzelhandelsformen änderten sich die Waren ebenfalls, wenn auch nicht sofort. Im späten 19. Jahrhundert begann das Zeitalter des Markenartikels, der allerdings noch auf wenige Warenarten wie Genussmittel oder Kosmetika beschränkt blieb. Kennzeichen waren eine standardisierte, einheitliche Verpackung und ein Markenimage, das durch Werbung geschaffen und erhalten werden musste (z. B. Odol, Nivea oder Maggi). Vereinzelt schufen Ladenketten auch schon ihre eigenen Marken. Die Markenartikel zielten auf eine direkte emotionale Verbindung von Produzent und Konsument, während bei unmarkierten Waren häufig der Verkäufer noch eine beratende Funktion gehabt hatte. Die Werbung gewann ebenfalls an Bedeutung. Die zunehmende Durchsetzung der Presse- und Gewerbefreiheit in Europa trug dazu bei. Aus Annoncenagenturen, die Raum für Anzeigen verkauften, entwickelten sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Werbeagenturen, zunächst in den USA, später auch in Europa. Insgesamt erlebte der europäische Konsum eine sehr dynamische Phase von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Er wurde, wie unten zu zeigen ist, zum Vorbild für andere Teile der Welt. Konkurrenz machte ihm freilich der US-amerikanische Konsum seit dem späten 19. Jahrhundert. Die Entstehung des amerikanischen Massenmarkts wird auf die Jahrzehnte zwischen 1880 und 1920 datiert.23 Nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges folgte ein rasches Wirtschaftswachstum, das von einer zunehmenden verkehrstechnischen Erschließung des Landes durch Eisenbahnen begleitet wurde. Hinzu kamen eine günstige Ausstattung mit natürlichen Ressourcen und höhere Löhne in der Industrie als in Europa aufgrund des relativen Arbeitskräftemangels. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass bereits das koloniale Nordamerika deutliche Züge einer Konsumgesellschaft getragen hatte. Im späten 19. Jahrhundert entstand auch das amerikanische System der Massenproduktion  ; die Industrie erfuhr eine Umstrukturierung durch Konzentration und Rationalisierung, auch wenn deren Ausmaß in der älteren Literatur übertrieben wurde.24 Hilfreich war auch, dass im Gegensatz zu Europa die regionalen Unterschiede in den USA weniger stark ins Gewicht fielen. Es gab keine Zollgrenzen, die Sprache stellte kaum ein Hindernis dar, und die ethnischen Unterschiede machten sich eher innerhalb der Großstädte bemerkbar als zwischen Regionen. Der amerikanische Massenmarkt kannte also 374

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 374

22.09.2010 07:50:38

Konsumgesellschaft

einerseits durchaus interne Differenzierungen, die sich bereits um die Jahrhundertwende, beispielsweise im Aufkommen von ethnischen Küchen, bemerkbar machten.25 Andererseits zeigte er aber auch eine bemerkenswerte Aufnahmefähigkeit für unterschiedliche Traditionen, die „amerikanisiert“ und damit an den Massengeschmack angepasst wurden.26 Somit konnten die USA hinsichtlich des Konsums bereits um 1900 zum Vorbild für Europa und weite Teile der Welt werden. Das betrifft nicht nur die Automobilindustrie mit dem berühmten T-Modell von Ford, das zum ersten Mal eine Massenmotorisierung ermöglichte. Vielmehr wurden die USA besonders in Fragen der Verkaufsorganisation, etwa dem Versandhandel, oder der Werbung Vorbild für andere Länder. In mancher Hinsicht jedoch blieb Europa wichtig  : Die Zentren der Mode bildeten nach wie vor europäische Städte wie Paris, Mailand oder London. In anderen Teilen der Welt stand der Konsum im 19. Jahrhundert überwiegend im Zeichen der Europäisierung. Diejenigen, die es sich leisten konnten, orientierten sich an der Mode aus Frankreich oder England, also den als besonders fortschrittlich geltenden westeuropäischen Staaten, weitaus weniger an Deutschland. Anders als in den ebenfalls stark europäisierten USA des 18. und frühen 19. Jahrhunderts führte das jedoch häufig nicht zur Ausprägung einer Konsumgesellschaft, die, wie ungleich auch immer, tendenziell alle Schichten der Bevölkerung einschloss. Vielmehr bildete sich gerade in Lateinamerika, später zum Teil auch in Afrika, ein Muster aus, das später als „Unterentwicklung“ bezeichnet wurde. Die Eliten orientierten sich so stark am europäischen Konsum, dass eine potenzielle einheimische Konsumgüterindustrie kaum entstehen konnte, da sie keine Abnehmer fand. Die Folge war eine eigentümliche Spaltung zwischen europäisierten städtischen Eliten und einem Hinterland, das in weiten Teilen noch immer von Subsistenzwirtschaft geprägt war. Dazwischen existierte eine Mittelschicht, die versuchte, den europäischen Konsum zu imitieren, sich aber die teuren Importprodukte nicht leisten konnte. Hier kamen einheimische Produzenten am ehesten zum Zug.27 Verstärkt wurde diese Teilung einerseits durch das höhere Image der Importwaren, das auch dort bestand, wo es sachlich wohl kaum gerechtfertig war (z. B. französischer statt chilenischer Wein), zum anderen aber auch durch die mangelnde verkehrstechnische Erschließung des Kontinents. Noch stärker ausgeprägt war dieses Muster in Teilen Afrikas. Eine erste Konsumrevolution erlebte das vor der Ostküste gelegene Sansibar seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch den zunehmenden Import europäischer, indischer und amerikanischer Güter. Durch die Kombination von Gütern unterschiedlicher Provenienz und das Umarbeiten importierter Güter, vor allem Kleidung, entstand eine durchaus eigenständige Konsumkultur.28 Anderswo in Afrika nahm der Konsum 375

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 375

22.09.2010 07:50:38

Internationale Konsumgesellschaft Arbeitsteilung

dagegen erst im späten 19. Jahrhundert einen spürbaren Aufschwung, etwa in kolonialen Städten wie Brazzaville.29 Hier entstand eine Konsumkultur, die kommerzielle Unterhaltung einschloss und sich an europäischen Mustern orientierte, ohne damit identisch zu sein. Gleichzeitig war jedoch die Erschließung des Hinterlandes noch schlechter als in Lateinamerika. Die wenigen vorhandenen Eisenbahnlinien waren auf den Fernhandel ausgerichtet, nicht auf den Binnenhandel. Zwar entstanden durchaus kommerzialisierte Teile der Landwirtschaft, zum Beispiel der Anbau von Kaffee und Baumwolle. Der überregionale Handel blieb jedoch in den Händen europäischer Gesellschaften oder, wie in Ostafrika, von islamischen Kaufleuten. Der größte Teil der Landwirtschaft blieb subsistenzorientiert und die Kaufkraft großer Teile der Bevölkerung war entsprechend gering.30 Die asiatischen Gesellschaften, die im 18. Jahrhundert bereits Ansätze zu eigenständigen Konsumkulturen entwickelt hatten, verfügten über ganz andere Voraussetzungen. Alle mussten jedoch auf die Herausforderung der sich global verbreitenden europäischen Konsumkultur reagieren. Zunächst schienen die islamischen westasiatischen Gesellschaften gegenüber europäischen Einflüssen offener als die ostasiatischen. Im Osmanischen Reich orientierte sich ähnlich wie in Lateinamerika die Oberschicht zunehmend am europäischen Konsum, was unter anderem zu einer starken Veränderung der Wohnkultur führte. Hier wie dort blieb diese Entwicklung jedoch sozial begrenzt. Eigenständige Konsumtraditionen wurden beibehalten, aber nicht in Richtung einer eigenständigen Form von Konsumgesellschaft weiter entwickelt. In der Kleidung existierte eine merkwürdige Mischung aus europäischer Kleidung und dem offiziell vorgeschriebenen Fez als Kopfbedeckung. Letztlich gelang es der osmanischen Elite in diesem Zeitraum nicht, eine für die eigene Bevölkerung attraktive Alternative zur europäischen Konsumkultur zu entwickeln.31 Im Gegensatz dazu schotteten sich Japan und China zunächst gegenüber europäischen Einflüssen ab, wenn auch nicht vollständig. Europäische Waren konnten zwar importiert werden, aber der Binnenhandel wurde für europäische Kaufleute – im Gegensatz zum Osmanischen Reich – nicht geöffnet. China, in dessen Binnenmarkt europäische Exporteure große Hoffnungen gesetzt hatten, erwies sich als nur wenig aufgeschlossen für europäische Güter. Dafür scheint der chinesische Opiumkonsum im 19. Jahrhundert anderswo unbekannte Ausmaße erreicht zu haben. Insgesamt aber entwickelte sich China nicht in Richtung einer Konsumgesellschaft – weder einer nach westlichem Muster noch einer eigenständigen. Die Gründe dafür sind vielfältig  ; sie reichen vom Bevölkerungswachstum, mit dem die landwirtschaftliche Produktivität nicht Schritt halten konnte, bis zur ausgebliebenen Modernisierung des Binnenhandels.32 Ganz anders war bekanntlich der japanische Weg nach der Öffnung des Landes in der Meiji-Restauration. Die bereits 376

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 376

22.09.2010 07:50:38

Konsumgesellschaft

vorher in Ansätzen existierende Kommerzialisierung der Landwirtschaft verstärkte sich in den 1870er und 1880er-Jahren. Das ähnlich wie im vorindustriellen Europa existierende ländliche Kleingewerbe erwies sich als erstaunlich widerstandsfähig gegenüber europäischen Importen. Zugute kam ihm freilich, dass aufgrund der kulturellen Unterschiede die japanischen Konsumenten andere Waren nachfragten, als die Europäer liefern konnten. Hier wie anderswo konnten sich nur die Eliten die teuren Importwaren leisten. Aber selbst auf diesem Feld waren einheimische Produzenten binnen kurzer Zeit konkurrenzfähig.33 Das 19. Jahrhundert stand somit im Zeichen des europäischen Konsums, wobei hierunter im Wesentlichen der Konsum der Mittel- und Oberschichten Frankreichs und Englands zu verstehen ist. In fast allen Teilen der Welt orientierten sich zumindest die Eliten an europäischen Konsummustern, ausgenommen vielleicht die USA und China. Diese Europäisierung war also nicht auf die europäischen Kolonien beschränkt, auch wenn der Kolonialismus in einigen Regionen wie Afrika große Auswirkungen auf den Konsum hatte. Die Orientierung an Europa konnte sehr unterschiedliche Effekte zeitigen, je nachdem ob sie mit einer Modernisierung der eigenen Strukturen in Landwirtschaft, Handel und Gewerbe einherging oder nicht. In Japan wurde der Grundstein für eine erfolgreiche eigene Entwicklung gelegt, die westliche mit einheimischen Konsummustern verband, während in anderen Teilen der Welt, etwa in Lateinamerika, die Europäisierung des Geschmacks die Entstehung eigener Konsumkulturen eher behinderte.

Die Dominanz des US-amerikanischen Konsummodells im 20. Jahrhundert War der Konsum des 19. Jahrhunderts wesentlich durch das (west-)europäische Vorbild geprägt, so dominierte im 20. Jahrhundert eindeutig der nordamerikanische Konsum. Für manche Historiker waren die USA der Zwischenkriegszeit die erste Konsumgesellschaft, die selbst von den westeuropäischen Gesellschaften erst mit erheblicher Zeitverzögerung nach dem Zweiten Weltkrieg imitiert werden konnte.34 Zwar werden der Vorsprung der USA in der Literatur teilweise übertrieben dargestellt35 und die eigenen Konsumtraditionen und Anpassungsleistungen Europas, aber auch anderer Teile der Welt, unterschätzt. Dennoch ist kaum zu leugnen, dass US-amerikanische Konsummuster in weiten Teilen der Welt den europäischen Konsum als Vorbild ablösten. Diese Entwicklung war im Grunde schon in der Durchsetzung des US-amerikanischen Massenmarktes vorgezeichnet, die zwischen 1880 und 1920 erfolgte. In 377

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 377

22.09.2010 07:50:38

Internationale Konsumgesellschaft Arbeitsteilung

der Zwischenkriegszeit wurden die Unterschiede zwischen den USA und Europa jedoch deutlicher sichtbar, da die US-Konsumenten zunehmend in den Genuss standardisierter Massenkonsumgüter (vor allem von Autos und elektrischen Haushaltsgeräten) kamen, während auf der anderen Seite des Atlantiks die wirtschaftliche Entwicklung bekanntlich krisenhafter verlief. Insbesondere die spektakuläre Verbreitung des Automobils in den USA, möglich gemacht durch produktionstechnische Innovationen von Ford und gefördert durch Marketing-Innovationen von General Motors,36 erregte weltweit Aufsehen, da das Auto bis dahin als klassisches Luxusgut gegolten hatte. Dieses (vielleicht übertriebene) Aufsehen führte dazu, dass selbst in den Sozialwissenschaften bisweilen die standardisierte Massenproduktion nach dem Muster von Henry Ford zum Definitionskriterium eines ganzen Zeitalters gemacht worden ist („Fordismus“). Das ist aus mehreren Gründen überzogen  : Erstens privilegiert eine solche Sichtweise die industrielle Produktion gegenüber anderen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft (Handel, Dienstleistungen, Konsum, Kultur, Politik und so fort).37 Zweitens handelte es sich bei dem historischen „Fordismus“ um produktionstechnische Innovationen, die sich nur in wenigen Bereichen der Wirtschaft, nämlich nur in der Industrie, und auch dort nur in bestimmten Branchen, durchsetzen konnten.38 Drittens geriet schließlich auch in der Automobilindustrie der „Fordismus“ als standardisierte Massenproduktion bereits Ende der 1920erJahre in die Krise und wurde durch flexible Massenproduktion („Sloanismus“39) abgelöst, auch wenn er nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal eine Renaissance erlebte. Die in den USA entstandene (und nun zum ersten Mal auch so bezeichnete) „Konsumgesellschaft“ lässt sich nicht auf die Verbreitung einiger langlebiger Konsumgüter reduzieren. Ebenso wichtig war die Einbeziehung neuer gesellschaftlicher Gruppen in die Konsumgesellschaft. Insbesondere trifft das auf die Jugendlichen zu, die vor allem von der Unterhaltungsindustrie als Zielgruppe entdeckt wurden. Die Entstehung von Jugendkulturen seit der Zwischenkriegszeit, zunächst in den USA und später auch in Europa, ist untrennbar mit der Ausweitung des Konsums verbunden. Die Vertriebsformen wandelten sich ebenfalls. Zusätzlich zu den Handelsinnovationen des 19. Jahrhunderts wie Warenhäusern und Ladenketten traten um 1900 noch der Versandhandel und in den 1950er-Jahren das suburbane Einkaufszentrum (Shopping Mall). Gleichzeitig setzte sich die Selbstbedienung in den USA bereits in der Zwischenkriegszeit durch. Außerdem verstärkte sich die Professionalisierung der Werbung, die bereits in der Zwischenkriegszeit mit psychologischen Ansätzen arbeitete und sich mehr und mehr zum heutigen, alle Unternehmensbereiche umfassenden, Marketing wandelte.40 378

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 378

22.09.2010 07:50:38

Konsumgesellschaft

Die US-amerikanische Konsumgesellschaft entfaltet bis heute eine beträchtliche Anziehungskraft. Sie symbolisiert den American way of life und damit nicht nur bis dahin unbekannten materiellen Wohlstand, sondern auch ein Versprechen der Teilhabe aller und der Nivellierung sozialer, religiöser und ethnischer Unterschiede im Massenkonsum. Hierin unterscheidet sie sich doch von dem stärker bürgerlich-elitär geprägten europäischen Konsummodell des 19. Jahrhunderts.41 Viele Beobachter erhofften sich von der Technisierung des Haushalts auch die Gleichberechtigung der Frau und die Entlastung von körperlich anstrengenden Teilen der Hausarbeit. Rückblickend ist zu konstatieren, dass viele dieser Versprechen nicht eingelöst wurden. Die sozialen und ethnischen Spannungen sind aus der US-amerikanischen Gesellschaft trotz des gestiegenen Lebensstandards durchaus nicht verschwunden. Zum Teil trug der Konsum sogar zur Verschärfung dieser Spannungen bei, da der mit der Motorisierung sich beschleunigende Prozess der Suburbanisierung auf die Entstehung sozial und ethnisch getrennter Vorstädte hinauslief.42 Auch die Technisierung des Haushalts führte nicht zu einer zeitlichen Reduktion der Hausarbeit, die auch im späten 20. Jahrhundert ganz überwiegend von Frauen geleistet wurde, sondern vielmehr zu gestiegenen Ansprüchen hinsichtlich Sauberkeit und Bequemlichkeit.43 Der europäische Konsum entwickelte sich im 20. Jahrhundert sehr vielfältig. Um 1900 waren zwar bereits Tendenzen zum Massenkonsum im Sinne einer sozialen Öffnung des vorwiegend bürgerlichen Konsums vorhanden. An diese konnte aber aufgrund der wechselhaften wirtschaftlichen Entwicklung der ersten Jahrhunderthälfte nur bedingt angeknüpft werden. Die autoritären und totalitären Regimes der Zwischenkriegszeit wie der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus entfernten sich zudem von der liberalen Konsumpolitik des 19. Jahrhunderts und stellten mit ihrer Autarkiepolitik die Interessen der Produzenten und Kleinhändler über diejenigen der Konsumenten.44 Als Kompensation wurden den Konsumenten sogenannte „Volksprodukte“ angeboten, die jedoch ganz überwiegend Versprechen blieben und nicht realisiert wurden. Ein kohärentes Konsummodell formulierten weder der italienische Faschismus noch der deutsche Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg prägte die Spaltung Europas in zwei unterschiedliche Blöcke auch den Konsum, sodass von einem einheitlichen europäischen Konsum bis in die 1990er-Jahre nicht mehr gesprochen werden kann. Der westliche Teil orientierte sich stark am US-amerikanischen Modell und übernahm viele Elemente desselben, ohne jedoch darin völlig aufzugehen. Europäische Besonderheiten bestehen weiter, etwa im Geschmack und in der Vielfalt des Konsums, in 379

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 379

22.09.2010 07:50:38

Internationale Konsumgesellschaft Arbeitsteilung

bestimmten Konsumpräferenzen oder in der größeren sozialen Absicherung durch den Sozialstaat.45 Der Konsum im östlichen Teil Europas war hingegen geprägt durch die Zentralverwaltungswirtschaften. Durch die zentral gesteuerte Produktion und die administrativ festgesetzten Preise entstand immer wieder ein Mangel an Konsumgütern, aber auch Überfluss an solchen Waren, die an den Wünschen der Konsumenten vorbeigingen („Überplanbestände“). Insofern ist es zu kurz gegriffen, die sozialistischen Gesellschaften als Mangelwirtschaften zu charakterisieren. Vielmehr war das sozialistische Konsummodell durchaus ein Gegenentwurf zum westlichen individualistischen Konsum, das stärker Aspekte der „gerechten“ Verteilung (mit Einschränkung der individuellen Wahlfreiheit) und der gemeinschaftlichen Nutzung langlebiger Güter wie Autos und Haushaltsgeräte betonte, wobei jedoch zwischen den sozialistischen Ländern und im Zeitverlauf erhebliche Unterschiede existierten.46 Letztlich wurden die sozialistischen Regime jedoch zwischen den wachsenden Konsumwünschen der eigenen Bevölkerungen und der beschränkten Leistungsfähigkeit ihrer Wirtschaften zerrieben. Auch auf anderen Kontinenten war die Hegemonie des US-amerikanischen Konsummodells lange Zeit nicht unangefochten. Für Lateinamerika sind seit den 1920er-Jahren im Zuge der Weltwirtschaftskrise eine Abwendung vom bürgerlich-liberalen europäischen Konsummodell und der Übergang zu einer Politik der Importsubstitution und des Konsumnationalismus zu konstatieren. Der Hintergrund ist in der Enttäuschung über die geringen Fortschritte des liberalen Entwicklungsmodells zu sehen, von dem vorwiegend eine schmale Elite profitiert hatte. Die Phase des Konsumnationalismus dauerte bis in die 1970er-Jahre und brachte einerseits Einschränkungen des Konsums durch die Verteuerung von Importen und Kampagnen gegen Einzelhändler, andererseits eine partielle Rückbesinnung auf einheimische Traditionen wie in der Konstruktion nationaler Küchen – etwa die Tortillas in Mexiko –, die nun mehr und mehr auch von den bisher an die französische Küche gewöhnten Eliten konsumiert wurden.47 Letztlich konnte die nationalistische Konsumpolitik ausländische Einflüsse nicht zurückdrängen  ; im Gegenteil, US-amerikanische und europäische Konzerne umgingen die Importbeschränkungen durch die Gründung von Tochterfirmen in Lateinamerika. Das Ergebnis war letztlich eher eine ‚Kreolisierung‘ des Konsums, also eine Vermischung einheimischer und unterschiedlicher ausländischer Einflüsse. Daneben behielt aber die Selbstversorgung in ländlichen Regionen bis heute einen hohen Stellenwert. Die Öffnung der Märkte seit den 1970er-Jahren verstärkte die bereits vorhandenen Tendenzen der Amerikanisierung des Konsums und verschärfte die soziale Ungleichheit. 380

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 380

22.09.2010 07:50:38

Konsumgesellschaft

Diese Spannung zwischen Amerikanisierung und Verwestlichung des Konsums auf der einen und der Suche nach alternativen Lösungen, ob nun sozialistisch oder nationalistisch, auf der anderen Seite prägte auch den Konsum in vielen anderen Weltregionen. Wie unterschiedlich die Antworten aussehen konnten, zeigen die ostasiatischen Länder China und Japan. Während das kommunistische China vor allem unter Mao eine ähnliche, allerdings noch deutlich restriktivere Konsumpolitik verfolgte wie die sozialistischen Länder Osteuropas, entwickelte sich Japan erstaunlich schnell zu einer Konsumgesellschaft. So verbreiteten sich zum Beispiel Warenhäuser bereits in der Zwischenkriegszeit in japanischen Städten. Der eigentliche Durchbruch erfolgte aber nach dem Zweiten Weltkrieg, als japanische Konsumenten, die nach westlichen Maßstäben immer noch als arm galten, eine erstaunliche Vorliebe für elektrische Konsumgüter wie Transistorradios entwickelten und damit gleichzeitig der einheimischen Elektroindustrie den Weg zu ihrem spektakulären Wachstum ebneten.48 Bis heute bleibt der Zusammenhang zwischen Produktion und Konsum in Japan enger als in Westeuropa oder Nordamerika.49 In China dagegen war die Verbindung zu den sehr beachtlichen vormodernen Konsumtraditionen fast vollständig abgerissen, sodass Beobachter erst für die 1990erJahre von einer chinesischen Konsumrevolution sprachen,50 die sich im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung entfalten konnte. In Afrika blieben stärker noch als in Lateinamerika Subsistenzwirtschaft und Selbstversorgung vorherrschend. Die Ansätze zur Ausbildung einer eigenständigen Konsumkultur aus dem 19. Jahrhundert entwickelten sich kaum weiter, auch wenn seit den 1920er-Jahren eine wachsende städtische Mittelschicht für zusätzliche Nachfrage nach importierten Waren sorgte. Nach der Dekolonisation entwickelte sich die Infrastruktur vorwiegend in den Städten, und es kam zu einer zunehmenden Polarisierung zwischen städtischen Eliten und bäuerlicher Bevölkerung. Die Spannung zwischen großer Armut einerseits und einer sich an westlichen, zunehmend amerikanischen Konsummustern orientierenden Elite andererseits konnte nicht überwunden werden.51 Die Globalisierung des Konsums erreichte im 20. Jahrhundert neue Ausmaße, auch wenn sie an sich kein völlig neues Phänomen darstellte. Es ist zutreffend, dass die Globalisierung in dieser Zeit in vielen Ländern überwiegend als Amerikanisierung empfunden wurde.52 Allerdings trifft das nur einen Teil der Realität. Tatsächlich entstehen mehr und mehr transnationale Verflechtungen, die nicht allein vom westlichen Zentrum in die Peripherie reichen, sondern auch umgekehrt oder zwischen Ländern der Peripherie stattfinden.53

381

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 381

22.09.2010 07:50:38

Internationale Konsumgesellschaft Arbeitsteilung

Zusammenfassung Die Bedeutung des Konsums für die gegenwärtige Gesellschaft ist kaum mehr zu bezweifeln. Nicht nur in den industrialisierten Ländern des Nordens, sondern zunehmend weltweit wird der erreichte Lebensstandard an den Konsummöglichkeiten gemessen. Das erscheint heutzutage zwar überwiegend als „Verwestlichung“ oder „Amerikanisierung“. Von historischer Seite ist aber erstens darauf hinzuweisen, dass Konsum an sich nicht unbedingt eine europäische oder gar amerikanische Erfindung darstellt. Im 18. Jahrhundert waren auch in anderen, vor allem asiatischen, Gesellschaften Elemente späterer Konsumgesellschaften zu finden. Zweitens gilt es festzustellen, dass die globale Verbreitung von Konsumgütern gleichfalls eine lange Tradition hat und nicht erst in der gegenwärtigen Phase der Globalisierung seit den 1970er-Jahren erfolgte. Auch die mächtige Präsenz multinationaler Konzerne hat ihre historischen Vorläufer in den privilegierten Handelsgesellschaften des 18. Jahrhunderts wie der Ostindischen Kompanie. Neu ist dagegen die globale Präsenz weltweit bekannter und vertriebener Marken wie Coca-Cola, Microsoft oder Mercedes-Benz.54 Konsum ist also keine europäische Erfindung, die Konsumgesellschaft als Gesellschaftsform, in welcher der Konsum eine zentrale Rolle spielt, schon. Sie entstand nicht erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wie manche Zeithistoriker meinen,55 sondern bereits im Westeuropa und Nordamerika des 18. Jahrhunderts. Manche Vorläufer lassen sich sogar noch weiter zurückverfolgen. Dennoch ist die „westliche“, liberal-kapitalistische Konsumgesellschaft keineswegs alternativlos, und es ist nicht zutreffend, von einer Konsumgesellschaft zu sprechen, die sich in verschiedenen Ländern lediglich zu unterschiedlichen Zeitpunkten durchgesetzt habe oder von nicht-westlichen Ländern bloß übernommen oder zurückgewiesen werden könne.56 Vielmehr entwickelten sich mehrere konkurrierende Konzeptionen, von denen sich das liberal-kapitalistische Modell Westeuropas und Nordamerikas mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime 1989/91 vorerst durchgesetzt hat. Andere Modelle waren etwa das Modell der sozialistischen Zentralplanwirtschaft, das zum Teil auf Vorstellungen der Konsumgenossenschaften im 19. Jahrhundert von der bloßen Verteilung der Waren zurückgriff  ; die in Notzeiten wie den beiden Weltkriegen durchgesetzten Rationierungsregime  ; oder der in Lateinamerika und Europa in Teilen des 20. Jahrhunderts dominante Konsumnationalismus. Schließlich veränderte sich das liberal-kapitalistische Modell der Konsumgesellschaft auch mit seiner Ausbreitung im 20. Jahrhundert. Nur an der Oberfläche sind beispielsweise die Konsumgesellschaften Afrikas und Europas ähnlich, da die Konsumgüter des Westens in Afrika andere Bedeutungen annehmen als 382

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 382

22.09.2010 07:50:38

Konsumgesellschaft

in Europa.57 Für die Zukunft wird es nach Meinung vieler Autorinnen und Autoren wichtig sein, eine neue, nachhaltige Form des Konsums zu entwickeln, die sozial, kulturell und ökologisch besser verträglich ist als die gegenwärtige.58 Die Frage der Periodisierung ist hier nach den global vorherrschenden Konsummodellen beantwortet worden. Im 18. Jahrhundert existierten mehrere Konsumkulturen in Europa, Nordamerika und Asien nebeneinander, ohne dass es ein dominantes Modell gegeben hätte. Im 19. Jahrhundert bildete dann der europäische, im 20. Jahrhundert der US-amerikanische Konsum das Modell mit der größten Ausstrahlung. Je nach betrachteter Weltregion dürften die Einschnitte jedoch unterschiedlich ausfallen. Die Industrialisierung Westeuropas war zwar keinesfalls unwichtig, markiert aber auch nicht die entscheidende Zäsur. Vielmehr entwickelten sich die ersten Konsumgesellschaften, wie dargestellt, bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Westeuropa und Nordamerika. Wenn überhaupt von „Moderne“ gesprochen werden soll, müsste der Begriff hier ansetzen, also vor der Industrialisierung. Ähnlich schwer an einem konkreten Datum festzumachen, aber sicher wichtig, waren die Einzelhandelsrevolution im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und die Entstehung des US-amerikanischen Massenmarktes um 1900. Gleichzeitig erreichte die Integration der Weltmärkte eine neue Dimension, gestützt auf zum Teil neue, sich nun erst auswirkende Technologien wie Dampfschiff, Kühltechnik und Eisenbahn. Für die meisten europäischen Länder waren außerdem die 1950erJahre eine Zäsur, da in Westeuropa der Aufbruch in den Massenkonsum erfolgte, während sich in Osteuropa eine andere Konsumkultur entwickelte. Für Nordamerika und in anderer Weise für Lateinamerika war die Zwischenkriegszeit wichtiger. Die weltweite Verbreitung von Konsumgütern und Markenartikeln wuchs seit den 1950er-Jahren stark an, etwa durch die Erfindung des Containers 1956 oder den Beginn der weltweiten Expansion von McDonald’s 1970. Von dem nahezu weltweiten Siegeszug des Konsums profitierten nicht alle Menschen in gleicher Weise. Zwar liegt es in gewisser Weise in der Logik des neuzeitlichen Konsums, kategoriale Unterschiede zwischen Menschen wie ‚Rasse‘, Geschlecht oder Religion einzuebnen und den Konsumenten als universale Kategorie zu etablieren. Andererseits sind es gerade die Konsumenten, die Konsumgüter oder -praktiken dazu benutzen, bestehende Grenzen zwischen sozialen Gruppen zu befestigen oder neue zu schaffen. Es ist von daher unzutreffend, dem Konsum an sich entweder eine sozial differenzierende oder homogenisierende Wirkung zu unterstellen. Für beides lassen sich in der Geschichte Beispiele finden. Das liberal-kapitalistische Modell des Konsums Westeuropas oder Nordamerikas ist freilich primär auf die Konsumentensouveränität ausgerichtet und kennt nur noch wenige Vorschriften und Verbote des Konsums (zum Beispiel von Drogen 383

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 383

22.09.2010 07:50:38

Internationale Konsumgesellschaft Arbeitsteilung

oder zum Schutz der Jugend). Es tendiert daher dazu, askriptive Merkmale wie ‚Rasse‘, Geschlecht oder Religion als zweitrangig erscheinen zu lassen gegen­über sozialen Unterschieden. Kaufen kann demzufolge jeder, der das nötige Geld hat. Gerade dieses scheinbar universalistische Konsummodell besitzt weltweit große Anziehungskraft, ruft aber immer wieder kulturell oder religiös motivierte Abwehr­ reaktionen hervor.59 Gleichzeitig jedoch erfolgt gerade durch die Werbung ein Transfer westlicher Schönheitsideale und geschlechtsspezifischer Rollenmuster, die alles andere als universell sind. Wie sie sich auswirken, hängt allerdings von ihrer Aneignung durch die Konsumenten ab und ist schwer vorherzusagen.

Anmerkungen   1 Ulrich Wyrwa, Consumption – Konsum – Konsumgesellschaft. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte, in  : Hannes Siegrist/Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka, Hg., Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt am Main/New York 1997, 747–762.   2 Hannes Siegrist, Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa. Einleitung, in  : Siegrist/ Kael­ble/Kocka, Konsumgeschichte, 13–48, hier 16.   3 Jan De Vries, The industrious revolution. Consumer behavior and the household economy, 1650 to the present, Cambridge 2008, ix.   4 Wolfgang König, Geschichte der Konsumgesellschaft, Stuttgart 2000, 8.   5 Michael Prinz, Aufbruch in den Überfluss  ? Die englische „Konsumrevolution“ des 18. Jahrhunderts im Lichte der neueren Forschung, in  : ders., Hg., Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne, Paderborn 2003, 191–217, hier 192 f.   6 Neil McKendrick, John Brewer/John Plumb, The birth of a consumer society. The commercialization of 18th century England, London 1982.   7 Prinz, Hg., Weg  ; Peter Stearns, Consumerism in world history. The global transformation of desire, 2. Aufl., New York 2006  ; De Vries, Revolution, 37–39.   8 De Vries, revolution.   9 Timothy Breen, The marketplace of revolution. How consumer politics shaped American independence, Oxford 2004. 10 Kenneth Pomeranz, The great divergence. China, Europe, and the making of the modern world economy, Princeton 2000; Donald Quataert, The Ottoman empire, 1700–1922, 2. Aufl., Cambridge 2005, 160. 11 Jürgen Osterhammel, China und die Weltgesellschaft. Vom 18. Jahrhundert bis in unsere Zeit, München 1989, 57. 12 Pomeranz, Divergence, 132. 13 Craig Clunas, Superfluous things. Material culture and social status in early modern China, Honolulu 2004, 171. 14 Sidney Mintz, Die süße Macht. Kulturgeschichte des Zuckers, Frankfurt am Main 1992. 15 Donald Quataert, Introduction, in  : ders., Hg., Consumption studies and the history of the Ottoman empire, 1550–1992. An introduction, Albany 2000, 1–14, hier 4. 16 Stearns, Consumerism, 44.

384

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 384

22.09.2010 07:50:38

Konsumgesellschaft

17 König, Konsumgesellschaft, 149, 153. 18 Peter Mathias, Retailing revolution. A history of multiple retailing in the food trades based upon the allied suppliers group of companies, London 1967. 19 Michael Miller, The Bon Marché. Bourgeois culture and the department store, 1869–1920, London 1981  ; William Leach, Land of desire. Merchants, power, and the rise of a new American culture, New York 1994. 20 Rosalind Williams, Dream worlds. Mass consumption in late nineteenth-century France, Berkeley 1982. 21 Mathias, Retailing revolution. 22 Michael Prinz, Brot und Dividende. Konsumvereine in Deutschland und England vor 1914, Göttingen 1996. 23 Susan Strasser, Satisfaction guaranteed. The making of the American mass market, New York 1989. 24 David Hounshell, From the American system to mass production, 1800–1932. The development of manufacturing technology in the United States, Baltimore 1984. 25 Donna Gabaccia, We are what we eat. Ethnic food and the making of Americans, Cambridge 1998. 26 Victoria De Grazia, Irresistible empire. America’s advance through twentieth-century Europe, Cambridge 2005. 27 Arnold Bauer, Goods, power, history. Latin America’s material culture, Cambridge 2001. 28 Jeremy G. Prestholdt, East African consumerism and the genealogies of globalization, Ann Arbor 2007, 182, 224. 29 Phyllis Martin, Leisure and society in colonial Brazzaville, Cambridge 1995. 30 Ralph A. Austen, African economic history. Internal development and external dependency, London 1996, 47, 130–135. 31 Quataert, Empire, 148, 155. 32 Osterhammel, China. 33 Annelotte Piper, Japans Weg von der Feudalgesellschaft zum Industriestaat. Wandlungsimpulse und wirtschaftliche Entwicklungsprozesse in ihrer politischen, geistigen und gesellschaftlichen Verankerung, Köln 1995. 34 König, Konsumgesellschaft  ; De Grazia, Empire. 35 Vgl. Manuel Schramm, Konsum im 20. Jahrhundert. Regionalisierung, Europäisierung, Amerikanisierung  ?, in  : Winfried Eberhard, Hg., Die Vielfalt Europas, Leipzig 2009, 235–249. 36 Hounshell, System. 37 Allein schon aufgrund der einseitigen Privilegierung der Produktion ist ein solcher theoretischer Ansatz für die Konsumgeschichte unfruchtbar. Eine interessante theoretische Perspektive bietet ­dagegen Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Zur Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1989. 38 König, Konsumgesellschaft, 66–68, hier 90. Es gibt daneben natürlich auch eine weitere Definition von Fordismus, die diesen als eine politisch-ökonomische Regulationsweise moderner Gesellschaften begreift. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. 39 Hounshell, System. 40 Harm Schröter, The Americanization of the European economy, Dordrecht 2005. 41 De Grazia, Empire. 42 Lizabeth Cohen, A consumers’ republic. The politics of mass consumption in postwar America, New York 2003. 43 Ruth Schwartz Cowan, More work for mother. The ironies of household technology from the open hearth to the microwave, New York 1983. 44 Rolf Petri, Von der Autarkie zum Wirtschaftswunder. Wirtschaftspolitik und industrieller Wandel in

385

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 385

22.09.2010 07:50:38

Internationale Konsumgesellschaft Arbeitsteilung

Italien 1935 – 1963, Tübingen 2001  ; Gustavo Corni/Horst Gies, Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997. 45 So geben Europäer weniger Geld für Transport und Kommunikation aus als US-Amerikaner, aber mehr für Wohnen, Möbel oder Bücher. Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007, 113–115. 46 Ina Merkel, Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln 1999  ; vgl. Schramm, Konsum. 47 Bauer, Goods, 188–191. 48 Simon Partner, Assembled in Japan. Electrical goods and the making of the Japanese consumer, Berkeley 1999. 49 Patricia L. MacLachlan, From subjects to citizens. Japan’s evolving consumer identities, in  : Japanese Studies 24 (2004) 1, 115–134. 50 Deborah Davis, Hg., The consumer revolution in urban China, Berkeley 2000. 51 Timothy Burke, “Fork up and smile”. Marketing, colonial knowledge and the female subject in Zimbabwe, in  : Gender & History 8 (1996), 440–456, hier 448  ; Austen, History, 217. 52 König, Konsumgesellschaft, 422. 53 Zu denken ist an die Verbreitung von exotischen Küchen, indischen Bollywood-Filmen oder asiatischen Kampfsportarten, um nur wenige Beispiele zu nennen. Vgl. Ulf Hannerz, Transnational connections. Culture, people, places, London 1996. 54 Laut Interbrand 2008 waren die zehn wertvollsten Marken weltweit zu diesem Zeitpunkt  : CocaCola, IBM, Microsoft, GE, Nokia, Toyota, Intel, McDonald’s, Disney, Google. Auf Platz 11 folgte mit Mercedes-Benz die erste deutsche Marke. Vgl. http  ://www.interbrand.com/best_global_brands. aspx (17.1.2010). 55 Michael Wildt, Am Beginn der „Konsumgesellschaft“. Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstand in Westdeutschland in den fünfziger Jahren, Hamburg 1994  ; König, Konsumgesellschaft. 56 König, Konsumgesellschaft  ; Stearns, Consumerism. 57 Hannerz, Connections. 58 Peter Dauvergne, The shadows of consumption. Consequences for the global environment, Cam­ bridge 2008. 59 Barber  ; Benjamin  : Coca-Cola und heiliger Krieg. Wie Kapitalismus und Fundamentalismus Demokratie und Freiheit abschaffen, München 1996.

386

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 386

22.09.2010 07:50:38

Die Reichsführerinnenschule des Bundes Deutscher Mädchen in Potsdam, August 1935. Hier werden Mädchen zu Führerinnen der deutschen weiblichen Jugend herangebildet. Beim Volksliedersingen im Park. Quelle: Deutsches Bundesarchiv Bild 102-17036; Fotograf unbekannt; Rechte: Commons: Bundesarchiv.

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 387

22.09.2010 07:50:39

Wandmalerei an einem Friseursalon in Masasi, einer Kleinstadt in Südtansania. Foto: Birgit Englert.

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 388

22.09.2010 07:50:40

Kapitel 12

Jugend und Jugendkulturen Rosa Reitsamer

Die Jugend wäre eine schönere Zeit, wenn sie erst später im Leben käme. (Charlie Chaplin 1889–1977)

Entgegen dem heutigen Alltagsverständnis und wissenschaftlichen Definitionen von ‚Jugend‘ als „Personengruppe zwischen 13 und 18 Jahren“1 oder als „spezifische Zeitspanne der Biografie“2 oder als juristischer Terminus fungierte die Pubertät im vorindustriellen Europa nicht als „Grenzstein“ und markante „soziokulturelle Setzung“3 für den Eintritt in die Jugendzeit. Als ‚Jugend‘ galt eine Lebensphase mit unbestimmter Zeitdauer und verschwommenen Altersgrenzen zwischen der Kindheit und dem Erwachsensein. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Jugend zu einem gesamtkulturellen und zeitlich konsistenten Lebensabschnitt  ; man unterschied zwischen früher Jugend im Alter zwischen etwa zwölf und 18 Jahren als Phase der Entfaltung des Individuums und älterer Jugend ab Anfang der Zwanzig als Phase der „relativen“ Unabhängigkeit.4 Bis ins 18. Jahrhundert wuchsen Kinder und Jugendliche häufig getrennt von ihren Eltern auf, wenn sie bald nach der Geburt zu Verwandten gegeben oder mit sieben, acht Jahren in andere Haushalte geschickt wurden, um dort als DienstbotInnen, LandarbeiterInnen oder Pagen in bäuerlichen und herrschaftlichen Haushalten zu arbeiten und der Autorität des patriarchalen Hausvaters unterworfen waren, der zwischen dem Gesinde und seinen eigenen Kindern kaum unterschied.5 Wenn sie das Elternhaus verließen, wechselten Kinder in den Status der sozialen und ökonomischen „Halbabhängigkeit“6 von Hausherren resp. Hausvätern, die ihnen trotz unbeschränkten Arbeitseinsatzes die vollen Rechte von Erwachsenen bis zu ihrer Heirat verwehrten. Als „garstig, viehisch, kurz“ beschrieb Thomas Hobbes das Dasein dieser Kinder und Jugendlichen, denn mit Ausnahme einer kleinen privilegierten Oberschicht, deren Söhne die Universität besuchten und deren Töchter im Falle einer ausbleibenden Heirat in Klöstern lebten, bewegte sich ihre Lebenserwartung im Durchschnitt bei dreißig Jahren.7 Erste Erziehungsnormen für die 389

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 389

22.09.2010 07:50:40

Internationale Jugend und Jugendkulturen Arbeitsteilung

mehrheitlich arbeitenden Kinder und Jugendlichen bildeten sich gegen Ende des 15. Jahrhunderts im Zuge einer bedeutenden und nachhaltigen Neubestimmung der Unterschiede zwischen Erwachsenen und Jugendlichen, Frauen und Männern heraus, die sich in Europa zwischen 1500 und 1800, vor allem aber bald nach 1800 vollzog.8 Wenngleich Jugend in unserem heutigen Verständnis zu dieser Zeit nicht existierte, sondern ein „zeit-, kultur- und milieuspezifischer Prozess von oft hoher Streubreite“9 war, gibt es zahlreiche literarische und ikonografische Quellen, die darauf hindeuten, dass Jungen und Mädchen mit eigenen Ritualen am Brauchtum und an religiösen und sportlichen Festen und Aktivitäten partizipierten. Die Landjugend, Studenten, Gesellen, Rekruten der Armee oder Novizen des Klerus, so argumentiert John R. Gilles, hatten alle „ihre eigenen Organisationen und Überlieferungen, die sie einerseits von den Kindern, andererseits von den verheirateten Erwachsenen unterschieden“.10 Allerdings trugen diese Organisationsformen des 17. und 18. Jahrhunderts, deren bedeutendste die Bruderschaften (weniger die Schwesternschaften) und Zünfte waren, mit ihren streng geregelten Initiationsriten, Ehrencodices und Verhaltensnormen zur Aufrechterhaltung der etablierten patriarchalen Ordnung der Haushaltsvorstände und Lehrmeister bei  ; zudem leisteten Bruderschaften und Zünfte einen wesentlichen Beitrag zum Erhalt der normativen (sozialen, ökonomischen, biologischen) Asymmetrien zwischen Erwachsenen und Jugendlichen, die nirgendwo sonst auf der Welt so stark ausgeprägt waren wie in Europa zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert.11 Die „Halbabhängigkeit“ der dienenden und lernenden Heranwachsenden in patriarchalen Hausgemeinschaften bildete ansatzweise die Vorgeschichte von ‚Kindheit‘ und ‚Jugend‘ als „Erziehungstatsache“12, d. h. als Vorstellung von zwei spezifischen Lebensphasen, mit einer jugendlichen „Normalbiografie“, einem Jugendstatus und Jugendgruppen. Die entscheidenden ideellen und diskursiven Voraus­setzungen dafür schufen Philosophen und Pädagogen. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau verfasste 1762 das einflussreiche Werk zur Erziehung und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen des europäischen Bürgertums mit dem richtungweisenden Titel Emile oder Über die Erziehung13, das in der Geschichte der Pädagogik als ‚Gründungstext‘ des Konzepts moderner Kindheit und Jugend gilt. Emile, der Hauptprotagonist in Rousseaus Bildungsroman, dem erst später Sophie zur Seite gestellt wird, gilt als entwicklungs- und erziehungsfähige Person, anhand der Rousseau seine These von einer „zweiten Geburt“ im Lauf des Jugendalters entwickelte.14 Am männlich-jugendlichen Ideal des Emile begründete Rousseau seine vermeintlich geschlechtsneutrale Jugendtheorie. Während die Erziehung der Kinder noch relativ unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit 390

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 390

22.09.2010 07:50:40

Jugend und Jugendkulturen

vor sich gehen sollte, wiesen Rousseaus Erziehungsvorstellungen für Jugendliche markante Unterschiede nach dem Geschlecht auf. Zwar zielte die Erziehung für beide Geschlechter auf Tugenden wie Patriotismus, Aufrichtigkeit und Tapferkeit, deren Umsetzung aber sollte geschlechtsspezifisch erfolgen. Mädchen sollten auf ihre Aufgaben als Ehefrau, Hausfrau und tugendhafte Mutter vorbereitet werden, die Jungen hingegen auf ihren Beruf, ihre politischen Pflichten als Bürger und auf die Treue zum Vaterland.15 In Rousseaus Erziehungsroman wurde bereits die gesellschaftsstrukturierende Bedeutung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und des „Generationenvertrags“ deutlich, die sich im 18. Jahrhundert in der Sorge der älteren Generation um die Erhaltung der bürgerlichen Werte und Tugenden durch die nächste Generation ausdrückte. Einen ersten Widerspruch zur etablierten Gesellschaft erlebten die jungen, gebildeten Männer der „Sturm und Drang“-Zeit mit ihrem bis dahin unbekannten Generationenbewusstsein. Angeregt durch die Lektüre von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers (1774) und oft nach dem Vorbild Werthers in bequemer Jacke und Hemd mit offenem Kragen gekleidet, stellte sich die „literarische Bruderschaft“ gegen „alles, was privilegiert und französisch war“, wodurch sie den Widerstand von Eltern und Lehrern herausforderte. Die Freimaurer, eine „geheime“ Bruderschaft für „Jünglinge“ und „Altherren“ ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, orientierten sich am streng moralischen Ehrenkodex der Maurerzünfte. Als reine Männergesellschaft firmierten die „philosophischen Logen“ mit ihrer Fusion aus Handwerksbräuchen und okkulten Praktiken als eine Art elitärer Underground für Junggesellen, die mit ihrem Gedankengut eine Gegenposition zur etablierten Gesellschaftsordnung mit den übertriebenen sozialen und ökonomischen Ansprüchen des Hofes einnahmen.16 Mit der Herausbildung eines eigenen Generationenbewusstseins von Jugendlichen durch die „Jünglinge“ und Schriftsteller der Sturm-und-Drang-Zeit und mit Rousseaus pädagogischen Überlegungen wurde ‚Jugend‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erstmals zu einer „historisch wirksamen Denkfigur“.17 Wenigstens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts dominierten in wissenschaftlichen Diskursen jedoch die „pathologisch-medizinischen Sichtweisen von Jugend “,18 die sich in den jungen Industriegesellschaften angesichts ihrer sozialen und ökonomischen Umwälzungen herausbildeten. Vor allem männliche Jugendliche aus dem Proletariat, die sich in Jugendbanden organisierten, traten in das Blickfeld erster jugendsoziologischer und -pädagogischer, bürgerlicher und kirchlicher BeobachterInnen.19

391

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 391

22.09.2010 07:50:40

Internationale Jugend und Jugendkulturen Arbeitsteilung

Die Entdeckung des Jugendalters Voraussetzung für die Entdeckung des Jugendalters im humanwissenschaftlichen Diskurs im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war die Standardisierung des Lebenslaufs u. a. durch die Durchsetzung der Schulpflicht, die Gründung von Internaten und Ganztagsschulen sowie sozialpolitische Regelungen wie die Altersversorgung.20 All dies provozierte zur verstärkten Beschäftigung mit ‚Jugend‘ aus wissenschaftlicher (pädagogischer, psychologischer, medizinischer, juristischer etc.) und staatlicher bzw. kommunalpolitischer Perspektive. Den Begriff ‚Adoleszenz‘ für die bis ins 19. Jahrhundert weder streng definierte noch allgemein akzeptierte Phase der „Halbabhängigkeit“ prägte der amerikanische Psychologe G. Stanley Hall 1904 in seinem in der Jugendforschung häufig zitierten Werk Adolescence.21 Halls Begriff basierte in Anlehnung an Rousseau auf der Vorstellung einer „zweiten Geburt“, über die Jugendliche zu höherer und vollkommenerer Menschlichkeit gelangen sollten. Dies führte – in Verbindung mit Annahmen über die sexuelle Entwicklung von Mädchen und Jungen sowie eine „schädliche“ sexuelle Frühreife und „Jugendkriminalität“ – zur Definition von ‚Jugend‘ als einer eigenständigen Lebensphase, die Hall nicht als rein biologisch, sondern bereits als sozial-kulturell konstruierte.22 Er sah die Phase der Jugend zwischen dem 14. und dem 24. Lebensjahr und orientierte sich an den Normen und Werten der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Milieus. Erst mit den pädagogisch-psychologischen bzw. psychoanalytischen Studien von Charlotte Bühler23, Siegfried Bernfeld24 u. a. über Unterschiede zwischen bürgerlichen und proletarischen resp. kleinbäuerlichen Verläufen der „Pubertät“ und Formen der „Adoleszenz“ und ersten soziologischen Studien über jugendliche Arbeiter25 wurde eine empirische Jugendforschung auf den Weg gebracht, die entwicklungspsychologische Entwicklungen und geschlechter- und klassenspezifische Unterschiede im Verlauf der Jugend zu ergründen versuchte. Wenngleich damit die pathologisch-medizinische Sichtweise des 19. Jahrhunderts ihre Gültigkeit verlor, wurde auch die sozialwissenschaftliche „Entdeckung“ des Jugendalters von Anfang an von medialen und politischen Diskursen über deviantes und delinquentes Verhalten von Jugendlichen begleitet. Für die Mittelund Oberschicht und Vertreter von Recht, Ordnung und Erziehung schien um die Jahrhundertwende „Jugendkriminalität“ regelrecht zu explodieren. Kinder und Jugendliche aus den verarmten Schichten der Arbeiterklasse schienen alle Eigenschaften und Neigungen zu haben, die sie in Gefahr brachten, zu Kriminellen zu werden  : einen den (bürgerlichen) WissenschaftlerInnen unangemessen aufwendig erscheinenden Stil, sich zu kleiden, ein provokantes Auftreten in den Straßen und Gassen und auf öffentlichen Plätzen, sexuelle ‚Frühreife‘ und die ‚verfrühte‘ ökono392

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 392

22.09.2010 07:50:40

Jugend und Jugendkulturen

mische Selbstständigkeit durch Einkommen aus „dead-end-jobs“, Auseinandersetzungen und Gewalttätigkeiten zwischen rivalisierenden Gruppen und Banden. Die bürgerliche Gesellschaft und ihre Wissenschaften suchten nach Gegenentwürfen und Gegenmaßnahmen und fanden sie u. a. in der britischen Boys’ Brigade, in den Pfadfindern, im Wandervogel und in der deutschen Jugendbewegung, aber auch in Jugendorganisationen der Kirchen und der Arbeiterparteien. Als Versuch der „Demokratisierung von Jugend“ und der Durchsetzung einer „Universal-Jugend“ in allen gesellschaftlichen Schichten realisierte William Smith 1883 seine Idee der englischen Boys’ Brigade. Sie stand für sportliche Aktivitäten, militärische Disziplin in Uniform und nationalistische Orientierung. Dieses vormilitärische Konzept traf bei vielen Bürgerinnen und Bürgern eher auf Ablehnung, dennoch vermochte die Boys’ Brigade auch viele männliche Jugendliche aus der Mittelschicht für den Dienst am Vaterland zur Erhaltung und Vergrößerung des Empires zu gewinnen. Ende der 1880er-Jahre zählte die Boys’ Brigade mehr als 10.000 Mitglieder und unterhielt zahlreiche Vertretungen in Großbritannien.26 Inspiriert von der Boys’ Brigade organisierte der englische General Robert Baden-Powell 1907 das erste Pfadfinderlager für männliche Jugendliche und veröffentlichte nur ein Jahr später in seinem Buch Scouting for Boys die Prinzipien der Pfadfinderarbeit. Das neue erlebnispädagogische Konzept der Jugenderziehung mit der Zielsetzung, Jungen und Mädchen zu „guten Staatsbürgern durch die Betätigung in der freien Natur“27 zu erziehen, breitete sich bis zum Ersten Weltkrieg auf nahezu alle Kontinente aus. Der deutsche Wandervogel, 1896 gegründet und 1901 als nationale Organisation etabliert, fand Zulauf aus bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten. Er stand im Kontext der Aufbruch- und Lebensreformbewegungen, deren Anspruch es war, die bürgerlichen Gesellschaftsverhältnisse zu erneuern. Er war zunächst eine reine Burschen-Bewegung mit unkonventionellem Kleidungsstil (kurze Lederhosen und Rucksack) und einer Vorliebe für Wandern und Zelten. Durch den Ausschluss von Mädchen aus der Organisation, der erst 1911 aufgehoben wurde, gründete sich 1905 der Bund für Wanderschwestern unter Führung der von der Ersten Frauenbewegung geprägten Schriftstellerin Marie Luise Becker. Die Orientierung dieser Mädchenorganisation an den ideologischen und stilistischen Vorgaben des Wandervogels führte zur Herausbildung eines entsprechenden Weiblichkeitsbildes mit „Reinheit“ und „Keuschheit“ als Idealen.28 Den Reformpädagogen Gustav Wyneken regte der Wandervogel dazu an, das Konzept der Jugendkultur als „Kampfbegriff der bürgerlichen Jugendbewegung“29 in die Diskussion einzuführen und damit eine Gegenposition zum autoritären Konzept der Erziehung in den Familien, Schulen und Internaten des wilhelminischen Deutschland einzunehmen. Allerdings geriet Wynekens 393

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 393

22.09.2010 07:50:40

Internationale Jugend und Jugendkulturen Arbeitsteilung

Konzept bald in Vergessenheit, denn die Jugendbewegung der bürgerlichen Jugend durfte sich zwar als „anders“ definieren, hatte aber noch keinen protestbezogenen oder provokant-rebellischen Lebensstil wie spätere Jugendkulturen.30 Die Jugendorganisationen und -gruppen, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aus der Arbeiterbewegung hervorgingen, unterschieden sich in politisch-ideologischer Hinsicht vom bürgerlichen Wandervogel. Sie proklamierten internationale Bezüge und rückten konkrete Überlebensfragen und Solidarisierungsformen zur Durchsetzung sozialer und politischer Kampfziele, etwa die Verbesserung der Entlohnung junger Arbeiterinnen und Arbeiter, den Schutz am Arbeitsplatz, Kampf gegen Alkohol und Nikotin sowie bessere Bildung und Ausbildung, in den Mittelpunkt.31 In Fragen des Stils jedoch orientierte sich auch die organisierte Arbeiterjugend großteils an der bürgerlichen, bündischen Jugendbewegung, vor allem in der Bekleidung, in der (Volks-)Musik und im (Volks-)Tanz, also just in jenen symbolischen Einsätzen, die später in Verbindung mit Konsum von der Jugendkulturforschung zum Merkmal der „Jugendkulturen“ erklärt werden sollten.32 Neben den bürgerlichen Wandervogel-Gruppen gab es mehrere Pfadfinderbünde und weitere Bünde, deren Funktionäre und opinion leaders mehrheitlich Vorstellungen von einer „völkischen Gemeinschaft“ entwickelten. Ihre politische Distanz zur Demokratie ermöglichte schließlich in den 1920er- und 1930er-Jahren einen relativ fließenden Übergang in die Hitlerjugend (s. u.). Deren Elite, aber auch viele Mitglieder der SS waren in der deutschen Jugendbewegung kulturell geprägt worden.33 Nach 1945 lebten die bündischen Traditionen als solche zwar nicht wieder auf, doch einzelne Stilelemente fanden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und noch Anfang des 21. Jahrhunderts in Protestbewegungen Eingang, so bei den GlobalisierungskritikerInnen von „No Logo“ über „Attack“ bis zu europäischen und internationalen Sozialforen, die die sozialen und ökologischen Folgen der kapitalistischen Globalisierung attackier(t)en und alternative Lebensstile und -modelle propagier(t)en.34

Jugend im Nationalsozialismus  : Hitlerjugend und oppositionelle Jugendgruppen Solange der Nationalsozialismus als „Bewegung“ im Kampf um die politische Macht im Staat war, hatten die Funktionäre der zeitweise illegalen Hitlerjugend ein elitäres Selbstverständnis, das auf Freiwilligkeit beruhte. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 und 1938 in Österreich veränderte sich die Hitlerjugend – nicht ohne interne Konflikte – zur verpflichtenden „Staatsjugend“. Die NS-Erziehungsordnung und deren Durchsetzung unter dem 394

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 394

22.09.2010 07:50:40

Jugend und Jugendkulturen

Leitbegriff der „totalen Ertüchtigung der deutschen Jugend“ erhielt mit den HJGesetzen von 1936 und 1940 eine staatlich verordnete und verwaltete Verbindlichkeit und Wirksamkeit. Alle nicht nationalsozialistischen Jugendorganisationen und -gruppen wurden verboten oder der Hitlerjugend eingegliedert.35 Die Lebensphasen von Kindheit und Jugend wurden nach Alter und Geschlecht differenziert organisiert. Die Gesamtorganisation hieß weiterhin Hitlerjugend (HJ). Die Suborganisation Deutsches Jungvolk (DJ) organisierte die Buben zwischen dem 10. und dem 14. Lebensjahr („Pimpfe“)  ; die eigentliche Hitlerjugend organisierte die 14- bis 18-jährigen Burschen  ; der Bund Deutscher Mädel (BDM) organisierte (innerhalb der Gesamtorganisation Hitlerjugend) alle Mädchen von zehn bis 18 Jahren, später nur noch bis zum 17. Lebensjahr  ; für Mädchen und junge Frauen zwischen dem 17. und 21. Lebensjahr wurde innerhalb des Bundes Deutscher Mädchen die Organisation Glaube und Schönheit geschaffen. Der Jungmädelbund (JM) war die Unterorganisation des BDM für die Mädchen von zehn bis 14 Jahren.36 Als NS-Erziehungsziele wurden die „deutsche Pflicht“ zur Erhaltung der Volksgemeinschaft und „Blut und Ehre“ zur Steigerung völkischer Ehre definiert. So sollte die „deutsche Jugend“ auf ihren Kriegseinsatz entsprechend der staatlich verordneten weiblichen und männlichen Identitäts- und Verhaltensmodelle vorbereitet werden.37 Bei Kriegsbeginn im Herbst 1938 waren in der Hitlerjugend bereits 8,8 Millionen als ‚deutsch‘ kategorisierte weibliche und männliche Jugendliche zwischen dem 10. und dem 18. Lebensjahr organisiert.38 Die männliche Jugend durchlief in der HJ eine paramilitärische Ausbildung als Vorbereitung auf den Kampf für das Vaterland  ; das Erziehungsprogramm für die Mädchen umfasste Schulungen und Propagandaarbeit sowie „Körperertüchtigung“ und „Gesundheitspflicht“ zur Vorbereitung der jungen Frauen auf ihre Hausfrau- und Mutterrolle  ; zudem übernahmen die Führerinnen des BDM Hilfsdienste für die Partei und widmeten sich der Kinder- und Jugenderziehung im Jungmädelbund für zehn- bis 14-jährige Mädchen.39 Jugendlichen, die sich ihrer „totalen Erfassung“ durch die HJ widersetzten, drohte – wie allen, die in der NS-Rassenideologie unter die Kategorie der „Nicht-Jugend“ fielen – mindestens eine der vier Sanktionsmöglichkeiten  : Arrest, Arbeitslager, Konzentrationslager oder Ermordung. Dennoch  : Nicht alle Jugendlichen fügten sich dem Erziehungsmodell des NS-Regimes. Als Wilde Cliquen, von denen sich einige bereits in der Zeit der Weimarer Republik formiert hatten, werden oppositionelle und resistente Jugendgruppen vornehmlich aus der Arbeiterklasse bezeichnet.40 Dazu zählen die für einige deutsche Städte nachgewiesenen Edelweißpiraten41 und die Leipziger Meuten,42 deren Gemeinsamkeit eine dissidente Haltung zur NS-Erziehung und zur NS-Ideologie war. Sie kamen überwiegend aus der Arbeiterschaft und verstanden sich dezidiert als politische Opposition zum NS-Regime. Stilistisch 395

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 395

22.09.2010 07:50:40

Internationale Jugend und Jugendkulturen Arbeitsteilung

standen beide Jugendkulturen in der bündischen Tradition, unternahmen Ausflüge in Wanderkleidung und mit Rucksäcken und sangen Lieder aus den sozialistischen und kommunistischen Jugendorganisationen der Weimarer Republik. Einige Gruppen kritzelten heimlich Parolen wie „Nieder mit Hitler“ an Häuserwände, hörten BBC und tauschten Informationen über die politische und militärische Lage. Von ihnen lässt sich die aus einem bürgerlich-studentischen Milieu hervorgegangene Widerstandsgruppe Weiße Rose an der Münchner Universität unterscheiden, die mit ihren Flugblättern und Wandsprüchen zum Widerstand gegen das NS-Regime aufrief, gegen den Mord an Juden und Jüdinnen protestierte und den Verlust der bürgerlichen Freiheit in der „Diktatur des Bösen“43 anklagte. Die bürgerliche Swing-Jugend in einigen deutschen Städten (v. a. Hamburg, Frankfurt am Main und Berlin) und die sogenannten Zazous in einigen Städten des besetzten Frankreich wie auch die Wiener Schlurfs als proletarische Variante der SwingJugend unterschieden sich mit ihrem Konsum des Swing (einer Spielart des Jazz) und elegant-großstädtischer Mode eindeutig von den Wilden Cliquen. Während die bürgerlichen Swing-Jugendlichen, meist Gymnasiasten aus wohlhabenden Familien, ihre Platten in den elterlichen Wohnungen spielten oder auch Jazz-Clubs besuchten, hielten sich die weitgehend mittellosen proletarischen Schlurfs auf Wiener Eislaufund Rummelplätzen oder in bestimmten Kaffeehäusern auf, wo mitunter der verbotene Swing aus den Lautsprechern kam, sowie in großstädtischen Parks oder an der alten Donau, wo sie ihre eigenen Swing-Platten auf tragbaren Grammophonen abspielten. In beiden Fällen waren die Merkmale von „Jugendkultur“  : Stil (Kleidung, Frisur, Musik etc.), spezifische Szeneorte, ein distinguierter Habitus und Resistenz gegenüber der herrschenden Moral und dem politischen Regime gegeben. Bürgerliche wie proletarische Swing-Gruppen widersetzten sich dem Tanz- und Vergnügungsverbot der Nazis. Zudem verweigerten viele von ihnen den Dienst in der Hitlerjugend, und einige proletarische Schlurfs sabotierten die Arbeit in ‚kriegswichtigen‘ Industriebetrieben. Ihr Interesse galt nicht so sehr dem politischen Widerstand gegen das NS-Regime als dem Swing und dem „american way of life“.44 Gestapo und Hitlerjugend betrachteten sie dennoch als ‚gefährliche‘ politische Gegner. Sie veranstalteten ‚Razzien‘, verhafteten und verhörten Schlurfs, zerschnitten ihnen ihre Frisuren und deportierten einzelne in Umerziehungslager und JugendKZs. Im besetzten Frankreich identifizierten sich die Zazous bis zu ihrem erzwungenen Verschwinden im Jahr 1942 mit den „rassisch“ Ausgegrenzten und waren „réfractaires“, Jugendliche, die in den Untergrund abtauchten, um der Zwangsarbeit zu entgehen.45 Ergebnis der nationalsozialistischen Politik und Propaganda war die brutale und gewalttätige Zerschlagung der Swing-Jugend in vielen Metropolen Europas bis 1942. Historisch betrachtet, lässt sich die Swing-Jugend mit ihrer 396

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 396

22.09.2010 07:50:40

Jugend und Jugendkulturen

Hinwendung zu amerikanischer Populärmusik, ihrem Konsum von Schallplatten, Hollywoodfilmen, Krimis, Radiosendungen u. Ä. als Vorläufer der Jugendkulturen der 1950er-Jahre begreifen. „Vom amerikanisch beeinflussten Jazz- und Swingstil führten […] deutliche globale Linien in die sich anbahnende Freizeitgesellschaft der Nachkriegszeit.“46 Anders als Jugendliche im Dritten Reich sollten amerikanische Jugendliche in den 1940er-Jahren die Dauer ihrer Schulzeit verkürzen und Vollzeitbeschäftigung anstreben, um sich in einem durch Zuwanderungen und Krieg in Europa geprägten Land nützlich zu machen. Dieser Aufruf galt vor allem jungen Frauen, denn sehr viele junge Männer über 18 Jahren gehörten zu den etwa sieben Millionen Kriegsdienstverpflichteten.47 Die Kaufkraft der US-amerikanischen Jugend erreichte schon in der ersten Nachkriegszeit einen Umfang von ca. 750 Millionen US-Dollar,48 womit bereits die Teenager-Industrie der 1950er-Jahre angesprochen ist. Jugendkulturen der 1950er-Jahre Voraussetzungen für die Formierung von Jugendkulturen in den 1950er-Jahren und ihrer folgenden überregionalen und internationalen Verbreitung waren, neben der „Entdeckung“ des Jugendalters, die Entstehung einer Teenager-Industrie mit Musik, Mode, Medien und Konsumartikeln, die ökonomischen und demografischen Veränderungen für Jugendliche in der Nachkriegszeit sowie der Einfluss der Massenmedien, vor allem Radio, Schallplatten, Tonband, Kassettenrecorder und später Fernsehen (und Internet).49 Die damit verbundene „soziokulturelle Geburt“ der ‚Teenager‘ als KonsumentInnen veranlasste den Soziologen Talcott Parsons schon 1942 zu einer Definition von „youth culture“, für die er Karl Mannheims Begriff der Generation50 heranzog  : Jugendliche entwickeln während der Adoleszenz über ihr spezifisches Konsum- und Freizeitverhalten einen distinkten, von der Generation der Eltern unterschiedlichen Lebensstil.51 Damit legte Parsons den Grundstein für die Erforschung von Jugendkulturen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. Schon 1927 schrieb Frederic M. Thrasher in seiner qualitativ-soziologischen Studie The Gang. A study of 1313 gangs in Chicago52  : Der Großstadt-Jugendliche verschafft sich in der gang einen sozialen Platz und soziales Ansehen. Die gang entwickelt eine ihr spezifische Moral  ; Jugendliche von sozial schwachen Eltern (Einwanderern), die kulturell verunsichert sind, schaffen sich so erstmals sichere Werte. Die Jugendlichen symbolisieren ständig ihre Zugehörigkeit durch ihre Sprechweise, durch für sie charakteristische Gesten, Körperhaltung, Kleidung, Frisur und andere Artefakte. Sie lesen die Symbole wechselseitig, erkennen einander an den Symbolen und werden von Fremden an ihren Symbolen erkannt. 397

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 397

22.09.2010 07:50:40

Internationale Jugend und Jugendkulturen Arbeitsteilung

Etwa dreißig Jahre später, Mitte der 1950er-Jahre, griff Albert K. Cohen53 für seine Studien über kriminelle Jugendbanden in US-amerikanischen Städten erstmals das Konzept der Subkultur, ursprünglich von Milton M. Gordon für ethnische Gruppierungen in den USA angewandt,54 auf, um das Verhalten von Delinquenten als eine Art Fluchtweg aus ihrer sozioökonomischen Situation zu beschreiben. Die männlichen Jugendlichen aus der unteren Arbeiterklasse legten über „kollektives Wissen, Überzeugungen, Werte, Codes, Geschmäcker, Vorurteile“ ihre Zugehörigkeit zu einer „Bande“ fest, deren Lebensstil in Abgrenzung zur „‚anständigen‘ Erwachsenen-Gesellschaft“ und zur „nationalen Kultur“ stand.55 Cohens Theorie über Jugendbanden als „delinquente Subkulturen“ mit ihrer „Verkehrung“ der normativen Werte der Gesamtgesellschaft in ihr Gegenteil gab den Anstoß für eine Reihe von Studien zu Jugenddelinquenz, zu denen u. a. Robert Mertons56 Anwendung von Emile Durkheims Theorie der „sozialen Anomie“ auf Jugendkriminalität zählt.57 Eine andere Theorie von Jugend vertraten zur selben Zeit Soziologen, die Jugendliche durch ihr Freizeit- und Konsumverhalten mit Präferenz für Kleidungsstil und Musik (Schlager und Rock ’n’ Roll in der zweiten Hälfte der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre) als eine eigenständige, allerdings einheitliche und uniforme „eigenständige Teilkultur“58 und eine „wesensmäßige soziale Gruppe“59 definierten. Dies mündete in der These von einer homogenen und klassenübergreifenden Jugendkultur. Gegen diese Theorie der „Teilkultur der Jugendlichen“ argumentierten Frederick Elkin und William Westley mit der Begründung, dass sie bei Jugendlichen der Mittelschicht keine ‚Entsprechung‘ finde. Die solidarischen Familienbeziehungen und die positiven Beziehungen zu Autoritätspersonen, die Elkin/Westley in ihrer Untersuchung über die Jugend der Mittelschicht vorfanden, konnten sie mit der Jugendkultur-Theorie nicht in Einklang bringen.60 Die Uneinigkeit in der Theoretisierung der Jugendkulturen in den 1950er- und 1960er-Jahren führte zur Entstehung der britischen Cultural Studies am Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) der Universität Birmingham.61 Ansätze, die Jugend ausschließlich als ‚Opfer‘ kommerzieller und publizistischer Manipulation und Ausbeutung betrachteten, wurden hier einer Kritik unterworfen. Mit Bezug auf Raymond Williams’62 berühmt gewordene Formulierung, Kultur sei „a way of life, […] a mode of interpreting all our common experience“,63 entwickelten die „Scolars“ am CCCS unter Leitung von Stuart Hall eine kultur- und sozialanthropologische Auffassung von Kultur und begannen die Lebensweise, den Stil und die Codes von Jugendlichen aus der britischen Arbeiterklasse zu erforschen. Sie kombinierten Gramscis Hegemonie-Theorie und marxistische Klassenanalyse. Für John Clarke u. a. existierten Jugendsubkulturen ausschließlich in der Arbeiterklasse und waren nach Alter und Generation unterscheidbar. Mit einer eigenständigen Gestalt 398

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 398

22.09.2010 07:50:40

Jugend und Jugendkulturen

und Struktur, zentriert um gewisse Aktivitäten und Werte, Formen des Gebrauchs von materiellen Artefakten und territorialen Räumen, waren sie Subkulturen der Arbeiterklasse, die in Verbindung wie in Abgrenzung zur „parent culture“ und zur hegemonialen Kultur standen.64 Diese vergleichsweise „eng“ geführte Definition von Jugendkultur leitete die Erforschung der als widerständig verstandenen Stile und Alltagspraxen von Jugendkulturen seit den 1950er-Jahren. Mit Lévi-Strauss’ Strukturalismus-Theorie und Roland Barthes’ Semiotik analysierte Dick Hebdige Vorläufer der heute medialisierten, global zirkulierenden jugendkulturellen Stile der Rude Boys, eine „ruppige“ Subkultur aus Jamaikas Städten, der Beatniks, Hipsters, Teds, Mods, Skinheads und Punks.65 Die Beatniks, eine vornehmlich im New York und San Francisco der 1950er-Jahre anzutreffende weiße Gegenkultur, zu der u. a. Allen Ginsberg, William S. Burroughs und Jack Kerouac gehörten, legten durch ihren bohèmehaften, avantgardistisch-bürgerlichen Stil, ihre Vorliebe für Jazz und Literatur etc. einen gegenkulturellen Entwurf zur Leistungsgesellschaft vor. Der Stil der Beat Generation, ein „Produkt einer romantischen Orientierung am Schwarzen“,66 und ihre Botschaft schwappten nach Europa und sickerten langsam in die bürgerlich-intellektuellen Milieus des französischen Existenzialismus ein.67 Obgleich die Mods anderer sozialer Herkunft waren als die Beatniks, entwickelten auch sie ihren Stil zu großen Teilen aus der Perzeption und Aneignung Schwarzer „Coolness“. Der Mod war, wie der Hipster, ein typischer Dandy, der im Unterschied zur Mehrheit der weißen Subkulturen der 1950er und 1960er-Jahre positiv oder zumindest indifferent auf die Anwesenheit afrokaribischer Jugendlicher in den Londoner Arbeiterbezirken reagierte.68 Ihre symbolische Verbundenheit mit Soul und jamaikanischer Ska-Musik, zwei Musikgenres, die bis heute in mehreren hybriden Varian­ten (u. a. Northern Soul) in Großbritannien existieren, setzten sie in ihrem Stil um  : einer Kombination aus „Black Cool“ und pedantischer Ordentlichkeit ihrer eleganten Kleidung. Die markant zentrale Bedeutung des „richtigen“ Haar-Stylings, des „richtigen“ Outfits und der „richtigen“ Clubs in der Subkultur der Mods brachte eine zweideutige Männlichkeit hervor und erlaubte den Mod Girls, eine von ihren männlichen Peers unabhängige Position in der Subkultur zu erobern.69 Allerdings unterlagen die Affinität der Mods zu Schwarzer Musik und ihre Romantisierung populärer schwarzer Kultur dem gesellschaftlich akzeptierten Rassismus in den 1950er-Jahren, den die Skinheads, eine Splittergruppe der Mods, offensiv in ihren aggressiv-chauvinistischen Habitus70 integrierten. Ihre rassistische Einstellung und ihre machistische Männlichkeit teilten die Skinheads mit den Teds, obwohl sie keine Soul-Fans, sondern – wie die deutschen und österreichischen Halbstarken, die französischen Blousons Noir oder die niederländischen Nozems der späten 1950er-Jahre – Rock ’n’ Roller waren.71 In ihren fast knielangen Anzugjacken mit breitem Revers und farbigen Applikationen, 399

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 399

22.09.2010 07:50:40

Internationale Jugend und Jugendkulturen Arbeitsteilung

ergänzt um enge Hose und „Schmalz-“ bzw. „Elvis-Tolle“, hörten sie die ersten Rock ’n’ Roll-Hits von Elvis Presley, Bill Haley oder Gene Vincent an den Musikboxen der Coffee Bars. Mädchen, von den männlichen Subkultur-Forschern schlicht ignoriert,72 waren in die Subkulturen der Halbstarken, der Skinheads wie der Rock ’n’ Roller in­­­volviert, wenngleich sie quantitativ unterrepräsentiert waren und durch den ­zelebrierten Männlichkeitskult eine untergeordnete Position einnahmen. Wie Mädchen und junge Frauen eine eigenständige, zum Teil widerständige Freizeitkultur entwickelten, erklärt sich allerdings weniger aus der anfangs Genderblinden Erforschung von Jugendsubkulturen als vielmehr aus der Suche nach einschlägigen Angeboten für Teenager. Bereits 1941 erschien die erste breit aufgelegte Mädchenzeitschrift Calling All Girls.73 Mit dem Konzept der „bedroom culture“74 theoretisierte als eine der ersten weiblichen Jugendforscherinnen Angela McRobbie das Konsumverhalten von Mädchen und jungen Frauen abseits der männlich orientierten und dominierten Aktivitäten auf der Straße, die für sie nicht zuletzt durch die im Vergleich zu ihren männlichen Peers strengere Erziehung weniger zugänglich waren. Der Konsum von Mainstream-Pop, Teenager-Mode und HochglanzMagazinen, eine Beschäftigung, der junge Frauen zu Hause nachgehen konnten, bot eine Möglichkeit für eine alternative „Culture of Femininity“,75 die einerseits konservative Sichtweisen von Eltern und LehrerInnen über Teenager-Weiblichkeit aushebelte, andererseits jedoch zur Vorbereitung der jungen Frauen auf ihre Rolle als Ehefrauen und Mütter beitrug. Die öffentlich sichtbarere Partizipation von jungen Frauen an jugend- und gegenkulturellen Gruppierungen änderte sich allerdings sukzessive mit den sozialen Bewegungen in den 1960er- und 1970er-Jahren – der Frauen-/Lesbenbewegung, der Bürgerrechtsbewegung, der StudentInnenbewegung und den Hippie-Kulturen, der Friedens- und Ökologiebewegung und nicht zuletzt der Punkbewegung, deren Do-It-Yourself-Ethos bis heute Generationen von Jugendlichen bei ihren Musik-, Medien- und Modeproduktionen beeinflusst. Bevor dies allerdings geschah, wurden die jugendkulturellen Stile der Subkulturen allmählich von ihrem Entstehungsort, der Arbeiterklasse, gelöst. Sie fanden mit dem Rock ’n’ Roll – der die unterschiedlichen Formen der „Schwarzen Coolness“ für weiße Jugendliche zu einer attraktiven Geistes- und Daseinsform aufbereitete und ihre Aneignung ermöglichte76 –, eine massenmediale und populärkulturelle, die Schichtzugehörigkeit der Jugendlichen transzendierende Verbreitung. Im Unterschied zu den Jugendbewegungen am Beginn des 20. Jahrhunderts, die ihren Anfang in nationalstaatlichen Binnenräumen nahmen, waren die Stile der Hipster, Beatniks, Mods oder Rock ’n’ Roller in den 1950er- und 1960er-Jahren die ersten in einer lange Reihe, die in der Nachkriegszeit, ausgehend von den USA, gewinnbringend in die kapitalistische Logik der prosperierenden Kulturindustrie ein400

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 400

22.09.2010 07:50:41

Jugend und Jugendkulturen

gespeist wurden und über sprachliche und geografische Barrieren, teilweise auch über politische Grenzen hinweg, zirkulierten. Die „Teenage Revolution“ mit ihrer massenmedialen und kommerziellen Verbreitung hatte begonnen. Jugendliche bildeten in immer mehr Ländern Jugendkulturen, sofern ihnen drei dafür hauptsächlich notwendige Voraussetzungen – finanzielles Kapital, Freizeit und gesellschaftliche Institutionen, die eine Partizipation an Jugendkulturen ermöglichten77 – zur Verfügung standen. In den Staaten des globalen Südens und in kommunistischen Ländern verfügte die Mehrheit der Jugendlichen in den 1950ern und den folgenden Jahrzehnten – und teilweise bis heute – über eines dieser drei Dinge nicht, weil sie an oder unter der Armutsgrenze leb(t)en oder einer Arbeit zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse nachgehen mussten/müssen. In den westlichen Ländern setzte sich hingegen die „Teenage Revolution“, konservativen Stimmen zum Trotz, durch und sah etwa so aus  : Die Teenager hörten Rock ’n’ Roll, besuchten Jugendclubs und Cafés mit Spielautomaten und Musikboxen, fuhren mit Motorrollern und Mopeds in der Gegend herum und lasen das 1956 gegründete Teenager-Magazin Bravo bzw. dessen britische und US-amerikanische Pendants.

Pluralisierung oder Globalisierung der Jugendkulturen  ? Die von der CCCS ausgegangene „Theorie der Subkultur“ blieb bis in die 1990erJahre das zentrale Paradigma für die einschlägige Forschung. Mit den einsetzenden Globalisierungs-, Medialisierungs- und Individualisierungsprozessen in westlichen Gesellschaften erodierte allerdings die lineare Aufarbeitung der Jugendkulturen von den Beatniks, Mods und Teddy-Boys über die Rock ’n’ Roll-Kulturen bis Punk, deren Gemeinsamkeit, trotz heterogener Stilausprägungen, in der Rebellion gegen hegemoniale gesellschaftliche Werte und Normen verortet wurde.78 Westliche Jugendkulturen, so lautete nun der Tenor in deutsch- wie englischsprachigen Diskursen gegen Ende des 20. Jahrhunderts, können nicht länger als „Gegenkulturen“ definiert werden. Jugendkulturen hatten ihr klassisches Widerstands- und Protestpotenzial durch „Selbstdarstellung(en) mittels exzentrischer Ausdrucksweisen und Bricolagetechniken“79 verloren. Jugend und Jugendlichkeit erlangten den Stellenwert von gesellschaftlich begehrten Werten, und Jugendkultur wurde zur „globalen Leitkultur“.80 Die bereits in den 1950ern begonnene Loslösung der Jugendlichen von ihren sozialen Herkünften durch ihr Freizeit- und Konsumverhalten war allmählich vollzogen, und die seit damals entstandenen Stile, Musiken und Moden standen als „supermarket of style“81 für neue, beliebig variierbare Kreationen und Kombinationen zur Verfügung. Wesentlicher Impuls für die Formierung 401

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 401

22.09.2010 07:50:41

Internationale Jugend und Jugendkulturen Arbeitsteilung

herkunftstranszendierender und transnationaler Jugendkulturen waren – neben existierenden Rock- und Pop-Musiken – die in den 1980er-Jahren entstandenen Musikgenres HipHop, House und Techno, deren Ursprungsort der gleiche war wie der von Jazz, Soul, Funk oder R ’n’ B – der afroamerikanische Underground, nunmehr in den Städten Chicago, New York und Detroit. Durch Musikfernsehen und Internet wurden sie in nur wenigen Jahren zu global zirkulierenden Zeichen, die heute als ausdifferenzierte, heterogene Subgenres, Stile und Moden von Jugendlichen an unterschiedlichen Orten der Welt angeeignet werden. Diese Veränderungen der Jugendkulturen provozierten in den 1990er-Jahren eine Pluralisierung der Forschungsperspektiven und u. a. die Hinwendung zu Jugendlichen in gesellschaftlich minderheitlichen Positionen in westlichen Metropolen, in Ländern der Peripherie sowie die erneute Theoretisierung von Jugendkulturen. In Auseinandersetzung mit Dance Music in europäischen Städten entstanden zunächst die Konzepte „Club Cultures“ von Sarah Thornton82 und „Neo Tribes“ von Andy Bennett83, um die temporären Zusammenschlüsse jugendlicher Tanz- und Musikkulturen mit „flüssigen Grenzen“ und losen Formen der Zugehörigkeit, ihrem anfänglichen Protestpotenzial und ihrer intensiven Nutzung neuer Technologien (Internet, Video, Musikproduktionsequipment) theoretisch zu erfassen. Zusätzlich erhielt der Begriff „Musikszene“, der seit den 1970er-Jahren im Musikjournalismus zirkulierte, eine genauere theoretische Bestimmung.84 Andy Bennett und Richard Peterson berücksichtigen mit dem Verweis auf lokale, translokale und virtuelle Musikszenen, die sie als „Cluster“ aus MusikerInnen, (Musik- und Medien-)ProduzentInnen und Fans definieren,85 die globale und virtuelle Verbreitung von Jugendkulturen und ihre Existenz auf drei Ebenen. Diese AutorInnen nähern sich mit ihren Definitionen der bislang nur in Ansätzen geführten Diskussion über globale bzw. globalisierte Jugendkulturen an, in deren Zentrum die Frage steht, ob wirtschaftliche und kulturindustrielle Globalisierungsprozesse zu einer weltweiten Vereinheitlichung von Jugendkulturen führen oder ob weiterhin regionale Besonderheiten bestehen oder sich darüber allererst ausbilden. Mit Blick auf globale Modekonzerne wie Nike, Puma oder Adidas mit ihren von vielen Jugendlichen tatsächlich weltweit getragenen Sportschuhen oder auf die über MySpace und social networking zirkulierenden Musiken, die für Jugendliche auch außerhalb der USA und Europas durch InternetAnschluss zugänglich werden, lassen sich Ansätze einer globalisierten Jugendkultur erkennen. Ob und inwieweit Jugendliche sich selbst in einen globalen Bezugsrahmen setzen, lässt sich nur beantworten, wenn Jugendliche als AkteurInnen gesehen werden und in der Forschung zu Wort kommen. Die Frage nach regionalen und lokalen Besonderheiten von Jugendkulturen durch die Entwicklung von Stilnuancen der global zirkulierenden Musiken, Moden und Stile gewinnt dabei zunehmend an 402

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 402

22.09.2010 07:50:41

Jugend und Jugendkulturen

Bedeutung. Diese Jugendkulturen werden mit den Adjektiven „translokal“, „glokal“ oder „hybrid“ versehen.86 Als globaler Bezugsrahmen für die Partizipation an hybriden Jugendkulturen in Europa und den USA gelten seit den 1920er-Jahren die kulturellen Codes der Schwarzen Populärkultur, auf die Jugendliche unterschiedlicher Klassen, Milieus, ethnischer und geografischer Herkünfte (beabsichtigt oder nicht) referieren, wobei ihre Bezugnahmen zu unterschiedlichen Ausprägungen, Bedeutungen und Lesarten führen. Die historische (Über-)Identifikation weißer Jugendlicher in Mitteleuropa mit Elementen der „Black Diaspora“ führte einerseits zu einem „populären Antirassismus“, der sich u. a. in mangelnder Solidarität mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund manifestiert,87 andererseits referier(t)en auch politisch am Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus orientierte Jugendkulturen auf Stile und Elemente der afroamerikanischen Populärkultur. Jugendliche mit Migrationshintergrund ziehen häufig HipHop, Reggae, Techno oder Drum ’n’ Bass als Werkzeuge heran, indem sie für die Bestimmung ihrer Identitäten und gesellschaftlichen Positionen auf unterschiedliche kulturelle Codes der „Black Diaspora“ zurückgreifen. „Diasporic code switching“ nannte Les Back diese Aushandlungsprozesse in seiner Studie über afrobritische Jugendliche in London am Beginn der 1990er-Jahre,88 das beispielsweise auch türkische Jugendliche der zweiten und dritten Generation in Berlin,89 Jugendliche aus sogenannten Wiener Gastarbeiterfamilien90 oder junge MigrantInnen in Paris oder New York zu vollziehen vermögen. Diese Beispiele sind neben New Asian Dance Music und French Rap, Chicago House oder Goa Trance nur ein paar wenige der heterogenen Ausdifferenzierungen hybrider jugendkultureller Phänomene in westlichen Zentren, in denen sich der „neue Internationalismus“91 in der Jugendkultur manifestiert und die auf Dezentralisierungsprozesse weg vom alten Traum des American way of life verweisen, der seit der Swing-Jugend der 1930er- und 1940er-Jahre für Generationen von Jugendlichen Leitmotiv war. Welche Gestaltungsmöglichkeiten bieten sich nun Jugendlichen außerhalb der USA und Europas für Identität generierende Aushandlungsprozesse in Jugendkulturen  ? Die bislang rudimentären Forschungen zu Jugendkulturen in China und Afrika weisen uns auf weltregionale Besonderheiten hin.

Jugendkulturelle Szenen in China und auf dem afrikanischen Kontinent Die heutige Generation Jugendlicher in China demonstriert mit Mode, Musik, sexueller Emanzipation und Internet-Nutzung ihren Aufbruchswillen in die kapitalistische Marktwirtschaft wie ihre Abgrenzung zur Elterngeneration, die während der 403

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 403

22.09.2010 07:50:41

Internationale Jugend und Jugendkulturen Arbeitsteilung

Kulturrevolution aufwuchs und heute als „verlorene Generation“ gilt, weil sie nicht studieren durfte. In der konformen chinesischen Gesellschaft sind sozialer Aufstieg und Reichtum zu den obersten Zielen für die Mehrheit der Bevölkerung geworden, die am schnellsten durch ein Universitätsstudium zu erreichen seien. Der Kampf um individuelle Freiheit, Selbstbestimmung und Kreativität begann vor gut zwanzig ­Jahren mit der Pekinger Demokratiebewegung, die den Platz des himmlischen Friedens besetzte und im Juni 1989 niedergeschlagen wurde. Sie markierte einen Aufbruch, bei dem es weniger um Kritik am kommunistischen Regime ging, als vielmehr um die Forderung nach alternativen Lebensmodellen jenseits von Anpassung und Leistungsdruck der Danwei, der kommunistischen Arbeits- und Lebenseinheiten. Der Beginn der Geschichte der Rockmusik in China lässt sich mit der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre datieren, als sich eine erste Generation chinesischer Rockmusiker formierte und durch die Öffnung Chinas zum Westen immer mehr Reisende, Arbeitende und Studierende ins Land kamen und westliche Musik an chinesische Jugendliche weiterreichten. Rock wurde für viele Jugendliche zum Ausdruck eines Lebensgefühls, das Jugendliche in den USA und Europa schon in den 1950er- und 1960er-Jahren entdeckt hatten. Auch in China fand eine jugendkulturelle Rebellion statt, jedoch aufgrund der politisch-ideologischen Abschottung und der von Mao Tse-tung initiierten Kulturrevolution erst rund zwanzig Jahre später als im Westen.92 Seit damals durchlief Jugendkultur eine Pluralisierung, und es entstanden Punk­rock-, Metal-, HipHop- und Techno-Szenen93 in Chinas Städten. Offene Kritik an der Regierung wurde in diesen Szenen bislang kaum laut. Die MusikerInnen thematisieren in englischer und chinesischer Sprache Leistungsdruck und Konsumdenken und treten gegen die konfuzianische Geschlechterordnung94 auf. Durch diese Themen fühlt sich das Regime nicht bedroht, sodass es die MusikerInnen gewähren lässt und die Szenen nicht der Zensur unterwirft. Politische Themen sind bis heute tabu – der einzige Ort, an dem Jugendliche rudimentär ihre politische Kritik am Regime äußern können, ist das Internet. Den Einfluss dieses neuen Kommunikationsmediums auf Jugend und Jugendkulturen beobachtet die Regierung daher mit einiger Skepsis, sieht sie doch darin einen Grund für die Unzufriedenheit der Jugend mit ihrer Lebenssituation und die steigende Jugendkriminalität durch Gewalt verherrlichende OnlineSpiele. Die Musikszenen lassen sich als jugendkulturelle politische Räume fernab von Leistungszwang verstehen, wenngleich sie im westlichen Politikverständnis kaum als solche gesehen werden. Anders gestaltet sich die Situation von Jugendlichen in Afrika, deren Jugendkulturen von westlichen ForscherInnen häufig eine oppositionelle Haltung gegenüber afrikanischen Regierungen zugeschrieben wird. Die Lebenssituation der afrikanischen Bevölkerung verschlechterte sich durch die ökonomische Krise und neoliberale Reformen in den 1980er-Jahren. Kür404

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 404

22.09.2010 07:50:41

Jugend und Jugendkulturen

zungen der staatlichen Bildungsetats und steigende Arbeitslosigkeit trafen die Jugendlichen in vielen Ländern. Jugendliche stellen heute – im Unterschied zu vielen westlichen Gesellschaften, die „überaltern“ – die Mehrheit der Bevölkerung und bringen unterschiedliche jugendkulturelle Szenen hervor, von denen die Musikszenen Senerap im Senegal95, Bongo Flava in Tansania und Hip Life aus Ghana bislang die größte Aufmerksamkeit erlangten. Diese Szenen formierten sich in den 1980er-Jahren und profitierten in den 1990er-Jahren von den einsetzenden Demokratisierungsprozessen, begleitet von der Liberalisierung der Medien, wodurch ein Zugang zu global zirkulierenden jugendkulturellen Musiken, Moden und Stilen möglich wurde und die produzierte Musik über Internet und Radio verbreitet werden konnte. Hybride Musikgenres bilden hier, wie in China, Europa und in den USA, Orte für die Aushandlung jugendkultureller Identitäten. Die lokal verankerten Musikszenen vereinen meist Jugendliche verschiedener sozialer Klassen, diverser ethnischer Herkünfte und Hautfarben. Deutlichere Unterschiede zwischen den lokalen Musik­ szenen auf den Kontinenten zeigen sich im Hinblick auf ein gegenkulturelles und politisches Selbstverständnis der Szene-AkteurInnen, auf ihre Kritik an bestehenden sozialen Ungleichheiten und ihren Einfluss auf die Makropolitik. Während die Regierung Chinas jede öffentliche Kritik am politischen Regime durch Zensur zu unterdrücken weiß und in Europa und in den USA mit Ausnahme von dezidiert feministisch-queeren und antirassistischen Musikszenen96 den meisten Jugendkulturen ihr klassisches Widerstands- und Protestpotenzial verloren ging, fordern Senerap-, Bongo Flava- und Hip-Life-MusikerInnen das politische Establishment ihrer Länder und Städte heraus und versuchen es zu transformieren. Die tansanischen Bongo Flava-MusikerInnen greifen in ihren Liedtexten politische Themen wie HIV/Aids, Kindesmissbrauch und Arbeitslosigkeit auf, thematisieren aber auch Liebe, Lifestyle und Party-Leben, um in Kombination mit ihrer Selbstrepräsentation als „maandagraundi“ – Underground, verstanden als sozioökonomische Kategorie – das Publikum zu unterhalten und auf schlechte Lebensbedingungen, Jugendarbeitslosigkeit, Korruption und Machtmissbrauch der Eliten aufmerksam zu machen. Zahlreiche Bongo Flava-Crews nahmen 2005 aktiv am Wahlkampf für die Partei Chama Mapinduzi („Party of the Revolution“) teil und setzten sich für die Verbesserung der Lebensverhältnisse von Jugendlichen ein.97 Wenngleich es seit einiger Zeit zu einer Annäherung von Jugendkulturen auf mehreren Kontinenten durch Globalisierungs-, Medialisierungs- und Individualisierungsprozesse kommt, lässt sich von einer vollends globalisierten Jugendkultur angesichts der Einbettung aller Jugendkulturen und Musikszenen in ihre nationalen, regionalen und lokalen Kontexte wohl kaum sprechen. 405

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 405

22.09.2010 07:50:41

Internationale Jugend und Jugendkulturen Arbeitsteilung

Anmerkungen   1 Dieter Baacke, Die 13- bis 18-Jährigen. Einführung in die Probleme des Jugendalters, überarbeitet von R. Vollberecht. Weinheim/Basel 2003  ; Dieter Baacke, Jugend und Jugendkulturen. Darstellung und Deutung, 4. Auflage, Weinheim/München 2004.   2 Klaus Hurrelmann, Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung, Weinheim/München 2005.   3 Herbert Schweizer, Soziologie der Kindheit. Verletzlicher Eigen-Sinn, Wiesbaden 2007, 18.   4 Ebd.  ; John R. Gilles, Geschichte der Jugend, München 1980  ; Jon Savage, Teenage. Die Erfindung der Jugend (1875–1945), Frankfurt am Main/New York 2008.   5 Nicole Castan u. a., Gesellschaft, Staat, Familie  : Bewegung und Spannung, in  : Philippe Ariès/ Georges Duby, Hg., Geschichte des privaten Lebens. 3. Band. Von der Renaissance zur Aufklärung, Augsburg 2000, 405–598, hier 486  ; Schweizer, Soziologie der Kindheit, 41  ; Gilles, Geschichte der Jugend, 40.   6 Ebd., 27.   7 Ebd., 29.   8 Schweizer, Soziologie der Kindheit, 18.   9 Ebd., 41. 10 Gilles, Geschichte der Jugend, 22. 11 Schweizer, Soziologie der Kindheit. 12 Ebd., 32. 13 Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung (1762), hg. von Martin Rang, Stuttgart 2001. 14 Sabine Andresen, Einführung in die Jugendforschung, Darmstadt 2005, 19. 15 Eine ausführliche Diskussion von Rousseaus Erziehungsroman findet sich in ebd., 16–29. 16 Ebd., 109–114. 17 Andresen, Einführung in die Jugendforschung. 18 Wilfried Ferchhoff, Jugend an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Lebensformen und Lebensstile, 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage, Opladen 1999, 21, Hervorhebung im Original. 19 Ebd.  ; Gilles, Geschichte der Jugend. 20 Andresen, Einführung in die Jugendforschung  ; Gilles, Geschichte der Jugend  ; Savage, Teenage. 21 Stanley G. Hall, Adolescence. Its Psychology and its Relations to Physiology, Anthropology, Sociology, Sex, Crime, Religion and Education, 2 Bde., New York 1904. 22 Andresen, Einführung in die Jugendforschung, 52 ff. 23 Charlotte Bühler, Das Seelenleben der Jugendlichen (1922), 7. Auflage Stuttgart 1991. 24 Siegfried Bernfeld, Über den Begriff der Jugend (1915), in  : ders., Theorie des Jugendalters. Schriften 1914–1938, hg. v. Ulrich Herrmann (Siegfried Bernfeld, Sämtliche Werke in 16 Bänden, Band 1), 43 ff.  ; ders., Über die einfache männliche Pubertät (1935), in  : ebd., 231 ff.  ; ders., Types of Adolescence (1938), in  : ebd., 257 ff. 25 Paul F. Lazarsfeld, Jugend und Beruf, Jena 1931. 26 Vgl. Savage, Teenage, 35. 27 Robert Baden-Powell, Scouting for Boys, Oxford 1908. 28 Andresen, Einführung in die Jugendforschung, 39. 29 Rolf Lindner, Jugendkultur und Subkultur als soziologische Konzepte. Nachwort, in  : Mike Brake, Soziologie der jugendlichen Subkulturen. Eine Einführung, Frankfurt am Main/New York 1981, 172–205, hier 172. 30 Lindner, Jugendkultur  ; Ferchhoff, Jugend an der Wende, 24. 31 Ferchhoff, Geschichte globaler Jugend, 29.

406

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 406

22.09.2010 07:50:41

Jugend und Jugendkulturen

32 Reinhard Sieder, Das Volk und seine Meister. Alltagsleben und Kommunalpolitik in Wien 1918–1933, Druck in Vorbereitung. 33 Andresen, Einführung, 38. 34 Ferchhoff, Geschichte globaler Jugend, 30. 35 Johanna Gehmacher, Biografie, Geschlecht und Organisation. Der nationalsozialistische „Bund Deutscher Mädel“ in Österreich, in  : Emmerich Tálos u. a.., Hg., NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2002, 467–493, hier 470 ff. 36 Alexander Mejstrik, Die Erfindung der deutschen Jugend. Erziehung in Wien 1938–1945, in  : Tálos u. a., Hg., NS-Herrschaft in Österreich, 494–522. 37 Ebd.  ; Gehmacher, Biografie. 38 Savage, Teenage, 348. 39 Gehmacher, Biografie. 40 Gerrit Helmers/Alfons Kenkmann, „Wenn die Messer blitzen und die Nazis flitzen…“. Der Widerstand von Arbeiterjugendcliquen und -banden in der Weimarer Republik und im ‚Dritten Reich‘, Lippstadt 1984. 41 Detlev Peukert, Die Edelweißpiraten. Protestbewegungen jugendlicher Arbeiter im Dritten Reich. Eine Dokumentation, 2. erweiterte Auflage, Köln 1983. 42 Arno Klönne, Jugendliche Opposition im „Dritten Reich“, Weimar 1996. 43 Inge Scholl, Die weiße Rose, Frankfurt am Main 1955. 44 Ferchhoff, Geschichte globaler Jugend, 32  ; Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Anfang der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt am Main 1997, 228. 45 Savage, Teenage, 399. 46 Ferchhoff, Geschichte globaler Jugend, 36. 47 Savage, Teenage, 455. 48 Ebd., 457. 49 Ferchhoff, Geschichte globaler Jugend. 50 Für die Soziologie hat Karl Mannheim 1928 einen auf andere Wissenschaften ausstrahlenden ‚Generationen‘-Begriff vorgelegt, der nicht die zuvor oft genannten 30 Jahre umfasst, sondern durch gemeinsame „Generationserlebnisse“ bestimmt wird, d. h. durch prägende Ereignisse in Kindheit und Jugend, die mehrere Geburtsjahrgänge prägen. Bei raschem sozialem Wandel umfasst eine Generation weniger Kohorten als bei langsamem Wandel  ; vgl. Karl Mannheim, Das Problem der Generation, in  : ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. von Kurt H. Wolff, Neuwied/Berlin 1964, 509–565. 51 Talcott Parsons, Jugend im Gefüge der amerikanischen Gesellschaft, in  : Ludwig v. Friedeburg, Hg., Jugend in der modernen Gesellschaft, Köln/Berlin 1968, 131–155. 52 Frederic M. Thrasher, The Gang. A study of 1313 gangs in Chicago, Chicago 1927. 53 Albert K. Cohen, Delinquent Boys  : The Culture of the Gang. Chicago 1955, dt. Übersetzung, Kriminelle Jugend. Zur Soziologie jugendlichen Bandenwesens, München 1961. 54 Milton M. Gordon (1947)  : The Concept of the Subculture and its application (1947), in  : Ken Gelder, Hg., Subculture Reader. Second Edition, London 2005, 169–174. 55 Cohen, Kriminelle Jugend, 19–23. 56 Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, New York 1957. 57 Für eine detaillierte Diskussion dieser Ansätze vgl. Lindner, Jugendkultur und Subkultur. 58 Robert R. Bell, The Adolescent Subculture, in  : Education Magazine 1961  ; dt. Übersetzung, Die Teilkultur der Jugendlichen, in  : Friedeburg, Hg., Jugend, 83–86. 59 Friedrich H. Tenbruck, Moderne Jugend als soziale Gruppe, in  : Friedeburg, Hg., Jugend, 87–98. 60 Frederick Elkin/William A. Westley, Der Mythos von der Teilkultur der Jugendlichen, in  : Friedeburg, Hg., Jugend, 99–106.

407

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 407

22.09.2010 07:50:41

Internationale Jugend und Jugendkulturen Arbeitsteilung

61 Das Forschungszentrum CCCS wurde 1964 von Richard Hoggart gegründet und 2002 unter internationalen Protesten geschlossen. 62 Für eine Einführung in das Werk von Raymond Williams vgl. Roman Horak, Raymond Williams (1921–1988). Von der literarischen Kulturkritik zum kulturellen Materialismus, in  : Martin Ludwig Hoffmann u. a., Hg., Culture Club II. Klassiker der Kulturtheorie, Frankfurt am Main 2006, 204–225  ; einen Überblick zu den Grundlagentexten der britischen Cultural Studies geben Christina Lutter/ Markus Reisenleitner, Cultural Studies. Eine Einführung, 6. Auflage, Wien 2008  ; Rolf Lindner, Die Stunde der Cultural Studies, Wien 2000  ; Oliver Marchart, Cultural Studies, Konstanz 2008. 63 Raymond Williams, Culture and Society 1780–1950 (1958), dt. Übersetzung  : Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. Studien zur historischen Semantik von „Kultur“, München 1972. 64 John Clarke u. a., Resistance Through Rituals. Youth Subcultures in Post-War Britain (1975), deutsch  : Jugendkultur als Widerstand. Milieus, Rituale, Provokationen, Frankfurt am Main 1979, 45. 65 Dick Hebdige, Subculture  : The Meaning of Style, London 1979, dt. Übersetzung Diedrich Diederichsen u. a., Hg., Schocker. Stile und Moden der Subkultur, Hamburg 1983. 66 Hebdige, Subculture, 1983, 48. 67 Ferchhoff, Geschichte globaler Jugend, 37. 68 Hebdige, Subculture, 52. 69 Jenny Garber/Angela McRobbie, Girls and Subculture (1977), in  : Ken Gelder, Hg., The Subcultures Reader. London/New York 1997, 112–120. 70 Zum Begriff Habitus siehe Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1982. 71 Vgl. Ferchhoff, Geschichte globaler Jugend. 72 Vgl. Angela McRobbie, Abrechnung mit dem Mythos Subkultur. Eine feministische Kritik, in  : Angela McRobbie/Monika Savier, Hg., Autonomie aber wie  ! Mädchen Alltag Abenteuer, München 1982, 205–226. 73 Ilana Nash, American Sweethearts  : Teenage Girls in Twentieth-Century Popular Culture, Bloomington 2006, 171. 74 Angela McRobbie, Working Class Girls and the Culture of Femininity, in  : Women’s Studies Group, Centre for Contemporary Cultural Studies, Hg., Women Take Issue  : Aspects of Women’s Subordination, London 1978, 96–108. 75 Ebd. 76 Ferchhoff, Geschichte globaler Jugend  ; Simon Frith, Jugendkultur und Rockmusik. Soziologie der englischen Musikszene, Reinbek bei Hamburg 1981  ; Simon Jones, Black Culture, White Youth  : The Reggae Tradition from Jamaica to UK, London 1988  ; ausführlich diskutiert Jones (1988) das Verhältnis von weißen Jugendkulturen zu Schwarzer Populärkultur. 77 Vgl. Viviana Uriona/Rasmus Hoffmann, „Rette sich wer kann  !“ Jugend in Argentinien und Deutschland ein ständiges Déjà-vu, in  : Dirk Villányi u. a., Hg., Globale Jugend und Jugendkulturen. Aufwachsen im Zeitalter der Globalisierung, Weinheim/München 2007, 93–112. 78 Vgl. Roman Horak, Die Praxis der Cultural Studies, Wien 2002  ; Steve Redhead, Rave Off  : Politics and Deviance in Contemporary Youth Culture, Aldershot 1990. 79 Ralf Vollbrecht, Von Subkulturen zu Lebensstilen, in  : SpoKK, Hg., Kursbuch Jugendkultur. Stile, Szenen und Identitäten vor der Jahrtausendwende, Mannheim 1997, 22–31 (25). 80 Ferchhoff, Geschichte globaler Jugend, 45 81 Ted Polhemus, Streetstyle, London 1994  ; ders., Style Surfing  : What to Wear in the 3rd Millennium, London 1996. 82 Sarah Thornton, Club Cultures. Music, Media and Subcultural Capital, Hanover/London 1996.

408

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 408

22.09.2010 07:50:41

Jugend und Jugendkulturen

83 Andy Bennett, Subcultures or Neo-Tribes  ? Rethinking the Relationship between Youth, Style and Musical Taste, in  : Sociology, Jg. 33 (1999) 3, 599–617. 84 Andy Bennett/Richard A. Peterson, Introduction Music Scenes, in  : dies., Hg., Music Scenes. Local, Translocal, and Virtual, Nashville 2004, 1–16  ; Ronald Hitzler u. a., Leben in Szenen. Formen jugendlicher Vergemeinschaftung, 2. aktualisierte Auflage, Wiesbaden 2005  ; Will Straw, Communities and Scenes in Popular Music, in  : Cultural Studies, Jg. 53 (1991) 368–388. 85 Bennett/Peterson, Introduction, 7–9. 86 Vgl. Dirk Villányi/Matthias D. Witte/Uwe Sander, Hg., Globale Jugend und Jugendkulturen. Aufwachsen im Zeitalter der Globalisierung, Weinheim/München 2007. 87 Angela McRobbie, Postmodernism and Popular Culture, London/New York 1994. 88 Les Back, New Ethnicities and Urban Culture. Racisms and Multiculture in Young Lives, London 1996. 89 Ayse S. Caglar, German-Turkish Rap und Turkish Pop in Berlin. Popular Culture, Marginality and Institutional Incorporation, in  : Cultural Dynamics, 1998/10, 243–265. 90 Roman Horak, Diasporic Experience, Music and Hybrid Cultures of Young Migrants in Vienna, in  : David Muggleton/Rupert Weinzierl, Hg., The Post-Subcultures Reader, Oxford/New York 2003, 181–193. 91 Rupa Hup, Global Youth in Localized Spaces  : The Case of the UK New Asian Dance Music and French Rap, in  : Muggleton/Weinzierl, Hg., The Post-Subcultures Reader, 195–208. 92 Susanne Messmer, Oscar Wilde und Laosi  : Eine Einführung in alternative Lebensentwürfe in China, in  : Susanne Messmer/Geoge Lindt, Hg., Beijing Bubbles. Punk und Rock in China’s Capital, Buch zum Dokumentarfilm „Beijing Bubbles – Punk und Rock in Chinas Hauptstadt“, Regie Susanne Messmer/George Lindt, China/Deutschland 2005, 15–20  ; Andreas Steen, Der lange Marsch. Eine Geschichte der chinesischen Rockmusik, in  : ebd., 47–68. 93 Vgl. Dokumentationen „Hip-Hop in China“ und „Metal in Peking“ bei ARTE Tracks, gesendet Juni 2008 und September 2005 sowie die ARTE-Sendung „‚Tresor‘ in Peking“, gesendet November 2009  ; der Berliner Club Tresor plant 2010 den ersten Techno-Club in Peking zu eröffnen. Video „‚Tresor‘ in Peking“ auf der Website des Club Tresor www.tresorberlin.com/news/news.pl  ?id=152 (Einsicht 12/2009). 94 Im konfuzianischen Menschenbild wird der Mensch nicht isoliert, sondern im Verbund von Familie, Gesellschaft und Staat gesehen. (Geschlechter-)Hierarchie wird als Voraussetzung für ein patriarchales Ordnungssystem verstanden, weil es das Funktionieren von Familie, Gesellschaft und Staat erst zu ermöglichen scheint. Das oberste Gebot ist der Gehorsam des/der Einzelnen  ; jede/r ist verpflichtet, seine/ihre Interessen der Gemeinschaft unterzuordnen. Der Konfuzianismus lebte unter Mao Tse-tung weiter, obwohl er offiziell verboten wurde. Vgl. Messmer, Oscar Wilde und Laosi, 15. 95 Vgl. Christine Ludl, „To skip a step“  : New Representation(s) of Migration, Success and Politics in Senegalese Rap and Theater, in  : Stichproben. Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien, Jg. 8 (2008), Nr. 14, 97–122. 96 Vgl. Rosa Reitsamer/Rupert Weinzierl, Hg., Female Consequences. Feminismus, Antirassismus, Popmusik. Wien 2006  ; Sonja Eismann, Hg., Hot Topic. Popfeminismus heute, Frankfurt am Main 2007  ; Marina Grzinic/Rosa Reitsamer, Hg., New Feminism  : Worlds of Feminism, Queer and Networking Conditions, Wien 2008. 97 Birgit Englert, Ambiguous Relationships  : Youth, Popular Music and Politics in Contemporary Tansania, in  : Stichproben. Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien, 8. Jg. (2008), Nr. 14, 71–96.

409

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 409

22.09.2010 07:50:41

Schulkinder mit ihrer Lehrerin in einem Klassenraum in Delhi, Indien, im Jahr 2005. Foto: Gerald Haenel, Bildrechte: Gerald Haenel/laif

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 410

22.09.2010 07:50:43

Kapitel 13

Erziehungswesen Schule, Berufsausbildung, Universität Lorenz Lassnigg

„Everything has its history  : politics, intellectual life, science, art, literature, economics, the family … everything from archery and baseball to yaks and zuccini-growing. And everything either has, or eventually will have, its historian.” Randall Collins

Begriffliche Differenzierungen1 Dieser Beitrag stellt eine langfristig historisch-vergleichende Betrachtung der weltweiten Entwicklungen im Erziehungswesen an. Ich beziehe mich auf das Erziehungswesen ohne Erwachsenenbildung und vorschulische Einrichtungen,2 sowohl auf die ‚Formierung‘ durch Regelungen, Organisationen und Institutionen (v. a. das Schulwesen) als auch auf die Binnendifferenzierung in unterschiedliche SubBereiche und Sektoren wie Schul- und Hochschul-Typen, Varianten vorschulischer Erziehung und Berufserziehung. Die Abgrenzung des Gegenstandes und die Wahl der Begrifflichkeiten sind nicht selbstverständlich. Das Problem der Vermischung von ‚realer‘ Ebene und Betrachtungs- bzw. Konstruktionsebene wird sofort darin sichtbar, dass in den allgemeinen Gegenstandsbezeichnungen bestimmte – aus historischen Diskursen bedingte – Verständnisse des Gegenstandes (‚Semantiken‘) enthalten sind. Der gängige deutsche Begriff ‚Bildung‘ drückt dies in exemplarischer Weise aus. ‚Bildungswesen‘ wird meist synonym mit ‚Erziehungswesen‘ verwendet, obwohl es sich dabei um ein am Ende des 18. Jahrhunderts entstandenes, spezielles Verständnis von Erziehung und v. a. von Selbsterziehung handelt.3 Im Englischen dominiert das Begriffspaar Education und Training, das oft mit Bildung und Ausbildung übersetzt wird. Fritz Ringer, einer der bedeutendsten Historiker des Erziehungswesens, übersetzt Bildung hingegen mit Cultivation.4 Christopher Winch bringt in einer historisch inspirierten vergleichenden Analyse der Berufsbildung die französische Begrifflichkeit formation ins Spiel und schlägt vor, auch im Englischen 411

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 411

22.09.2010 07:50:43

Internationale Erziehungswesen Arbeitsteilung

diesen Begriff übergreifend für Education und Training zu verwenden.5 Um diese Probleme zu vermeiden, werde ich in diesem Beitrag den Begriff ‚Erziehung‘ verwenden. In den heutigen Bildungsdiskursen hat sich der Begriff des Lernens in den Mittelpunkt geschoben, der in den historischen Untersuchungen wenig oder keine Rolle spielt – die Geschichte des Lernens wäre also noch zu schreiben.6

Eine vergleichende Geschichte von Erziehung und Schule Allgemeine Geschichte und ‚Diziplingeschichten‘

Wie wird die Komplexität der Entwicklung des Erziehungswesens von unterschiedlichen Disziplinen, Standpunkten und Fragestellungen aus beleuchtet  ? Auf einige dieser Perspektiven gehe ich nun ein, um die Vielfalt der Zugänge, Divergenzen und Konvergenzen zu demonstrieren.7 Abgesehen von den ausdifferenzierten geschichtswissenschaftlichen Disziplinen wurden historische Forschungen auch als spezielle sub-disziplinäre Felder in anderen Disziplinen unternommen (‚Disziplingeschichten‘), die mehr oder weniger starke Verbindungen zur Geschichtswissenschaft wie auch zu ihren jeweiligen ‚Mutterdisziplinen‘ aufweisen.8 So spielt die Geschichte innerhalb der Pädagogik und Erziehungswissenschaft eine prominente Rolle. Bis zur sogenannten ‚realistischen Wende‘ hin zu einer empirischen Betrachtungsweise in den späten 1960erJahren bildeten philosophisch-anthropologische und geistesgeschichtliche Betrachtungen den Grundstock der Disziplin.9 Des Weiteren spielen historische Analysen und Konzepte in der Soziologie von Erziehung und Bildung seit den ‚Klassikern‘ (Durkheim, Weber, Parsons) in unterschiedlichen Spielarten eine Rolle, und hier gibt es auch z. T. direkte Anknüpfungspunkte zu sozial- bzw. kulturgeschichtlichen Forschungen. Die Politikwissenschaft hat Pionierarbeit für die Erstellung von historischen, international vergleichbaren Daten zum Erziehungswesen geleistet.10 ‚Äpfel und Birnen‘  : Geschichte und vergleichende Forschung

Die vergleichende Forschung, neben der historischen Forschung der zweite wesentliche Strang, den dieser Beitrag knapp referiert, hat nach Jürgen Schriewer als ‚Vergleichende Erziehungswissenschaft‘ mit einer Schrift von Marc-Antoine Jullien de Paris aus 1817 begonnen. Hier heißt es  : „Durch die Untersuchungen der vergleichenden Anatomie ist die anatomische Wissenschaft vorwärts gebracht worden  ; in gleicher Weise sollten Untersuchungen über 412

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 412

22.09.2010 07:50:43

Erziehungswesen

die vergleichende Erziehung neues Material zur Vervollkommnung der Wissenschaft von der Erziehung liefern.“11

Zwei Jahrhunderte später können die jüngsten internationalen Leistungsvergleiche (PISA u. a.) als (neuerliche) Versuche gesehen werden, dieses Programm einzulösen. Um dazu beitragen zu können, sind Theorien oder ‚allgemeine Sätze‘ erforderlich, um die Vielfalt der Phänomene sinnvoll ordnen zu können. Diese werden jedoch in der Geschichtswissenschaft nicht unbedingt geschätzt.12 Schriewer zeigt, dass die ‚Theorie‘ bei den Gründervätern der vergleichenden Erziehungswissenschaft im frühen 20. Jahrhundert in Konzepten wie ‚Nationalcharakter‘ oder Soziound Kulturdeterminismus bestand. Er zitiert den Historiker Michael Sadler von 1900 mit dem folgenden Credo  : “A national System of Education is a living thing, the outcome of forgotten struggles and difficulties, and of ‚battles long ago‘. It has in it some of the secret workings of national live. It reflects, while it seeks to remedy, the failings of national character.”13

Vergleiche wurden nicht systematisch-wissenschaftlich durchgeführt, sondern v. a. zu praktisch-politischen Zwecken, wobei ‚das Ausland‘ zwar vielfach zum Lernen für die eigene Entwicklung genutzt wurde,14 aber vielleicht noch häufiger selektiv als legitimatorisches ‚Argument‘ in politischen Auseinandersetzungen diente (und noch dient).15 Erst in jüngerer Zeit wird im Kontext der Globalgeschichte eine neue Konvergenz zwischen historischer und vergleichenden Analyse festgestellt, und es werden auch die Potenziale von interdisziplinären Zugängen ausgelotet.16 Soziologische Erziehungsgeschichten

Wesentliche Impulse zur historischen Betrachtung des Erziehungswesens sind von der Soziologie bzw. den Sozialwissenschaften ausgegangen. Vor allem das Paradigma der ‚Modernisierung‘ als Modell der Weltentwicklung, demzufolge eine langfristige historische Ablöse der segmentären und ständischen traditionalen Gesellschaft durch die moderne und funktionale Gesellschaft im Zuge der industriellen und demokratischen Revolutionen stattfindet, wurde von der klassischen Soziologie geprägt. Talcott Parsons hat diesen beiden Revolutionen sogar noch eine dritte hinzugefügt  : die Vision der ‚Erziehungsrevolution‘, die die Entwicklung des Erziehungswesens als ebenso eigenständigen und grundlegenden gesellschaftlichen Prozess darstellt, der in die anderen großen Umwälzungen (demokratische Revolution, industrielle Revolution) nicht subsumierbar sei und künftig in der allgemeinen Hochschulbildung mit 413

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 413

22.09.2010 07:50:43

Internationale Erziehungswesen Arbeitsteilung

dem universellen Zugang der Menschen zu den gesellschaftlichen Ressourcen der Rationalität münden sollte.17 Die umfangreichsten historischen Analysen auf Basis von quantitativen und qualitativen Daten wurden in der neo-institutionalistischen Stanford-Gruppe um John W. Meyer durchgeführt. Diese werden heute auch als Pionierarbeiten für die globalgeschichtliche Analyse gesehen. Grundanliegen ist hier die Überwindung funktionalistischer18 und rationalistischer19 Erklärungen, die in der Soziologie nach Weber und Parsons lange dominierten, und die Annahme, dass kulturelle Muster und institutionelle Formen selbst als erklärende Mechanismen gesellschaftlicher Entwicklung anzusehen sind. Institutionelle Formen (wie jene der ‚Schule‘) verbreiten sich als solche in der Welt und wirken dann von der transnationalen Ebene auf die einzelne Region oder Nation zurück. Spielarten der allgemeinen Geschichte  : Nationalgeschichte, Weltgeschichte, ­Globalgeschichte

In den Geschichtswissenschaften kann in jüngerer Zeit eine Differenzierung zwischen unterschiedlichen Grundkonzepten festgestellt werden, die u. a. mit den Labels Nationalgeschichte, Weltgeschichte und Globalgeschichte bezeichnet werden. Bis zur Jahrtausendwende, als eine Krise der Geschichtswissenschaft konstatiert wird, folgt auf die Geistesgeschichte in den 1950er- und 1960er-Jahren die Sozialgeschichte in den 1970er- bis 1980er-Jahren, die als Leit-Subdisziplin zuletzt ab den 1990er-Jahren von der (neuen) Kulturgeschichte abgelöst wurde. All dies spielte sich jedoch jeweils überwiegend innerhalb nationaler Grenzen ab. Wenn die Geschichte im allgemeinen als Nationalgeschichte konzipiert wird, werden auch Entwicklungen im Erziehungswesen im nationalen Rahmen betrachtet. Vorgänge, die den nationalen Rahmen überschreiten, wie z. B. die Erziehung in (ehemals) kolonisierten Territorien, werden aus nationaler Perspektive – sei es der Kolonialnation oder der (ehemals) kolonisierten Nation – analysiert, wenn sie nicht überhaupt ignoriert werden. Als Beispiele kann man betrachten, wie die koloniale Geschichte in bestimmten regionalen Verbindungen berücksichtigt wird. Im Verhältnis zwischen Großbritannien und Australien etwa ergibt eine Durchsicht des Mainstreams der einschlägigen ‚History of Education‘-Literatur, dass auf der Seite der ehemaligen Kolonialmacht Fragen der Kolonialgeschichte so gut wie nicht sichtbar sind.20 Auf der Seite von Australien wird in den weiter zurückgreifenden historischen Analysen die Kolonialzeit ‚selbstverständlich‘ thematisiert, da wesentliche Einflüsse auf die Entwicklung des Erziehungswesens eng damit verbunden sind. Hier wird jedoch die Frage der ursprünglichen indigenen Bevölkerung über weite Strecken ausgeklammert.21 Explizit wurde eine kooperative Aufarbeitung der 414

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 414

22.09.2010 07:50:44

Erziehungswesen

gemeinsamen Entwicklung im Unterschied dazu im Verhältnis zwischen Portugal und Brasilien begonnen, hier aber bereits im Konzept der Globalgeschichte. Ein wesentlicher Unterschied der Betrachtungsweise besteht darin, dass die Beeinflussung nicht mehr nur einseitig von der Kolonialnation zu den Kolonisierten gesehen wird, sondern als wechselseitig konzipiert und rekonstruiert wird.22 Weltgeschichte wird nicht einheitlich gesehen, sie geht jedenfalls über die Nationalgeschichte hinaus und analysiert Weltregionen oder tatsächlich die ganze Welt, betrachtet diese aber immer noch aus dem Blickwinkel der Nationalstaaten (s. die Einleitung zu diesem Band). „World history has previously been taught along the lines of ‚If it is week three, it must be China week‘. Each of the major world regions was treated separately and distinctly. What was lacking was the integration of the different world regions.”23 Die Entwicklung der International Standing Conference for the History of Education (ISCHE) ab 1977 demonstriert anschaulich, wie die Internationalisierung der Forschung mit der Aneinanderreihung von Nationalgeschichten ihren Anfang genommen hat.24 Globalgeschichte versucht die Perspektive radikal zu ändern und sich eine neue Konzeption von Welt zugrunde zu legen. Vor allem zwei Beschränkungen ‚traditioneller‘ Forschung sollen überwunden werden  : ‚methodologischer Nationalismus‘ und ‚erweiterter Eurozentrismus‘.25 Ersterer naturalisiert den Nationalstaat und identifiziert die Gesellschaft mit dem Staat und seinem Territorium  ; zweiterer kann in verschiedenen Varianten auftreten, neben der Perspektivenverengung aufgrund von Nachlässigkeiten oder Vorurteilen gibt es auch eine ‚empirische Variante‘, die z. B. bestimmte euro-amerikanische institutionelle Formen (von Schule, Familie, Lohnarbeit usw.) universalisiert. „Eurocentrism […] is a very complex thing. We can banish all the value meanings of the word, all the prejudices, and we still have Eurocentrism as a set of empirical beliefs.“26 Marcelo Caruso (2008) beschreibt die Konzeption der Globalgeschichte als Zusammenfügen von Fragmenten u. a. aus den vielen verschiedenen ‚Geschichten‘ der postmodernen historischen Betrachtung zu größeren Erzählungen (Narrativen) mit dem wichtigen zusätzlichen Element der Einbeziehung von Verursachungsfaktoren von der globalen Ebene zu den ‚verstreuten‘ Einheiten wie Nationen, Staaten, Kulturen, (Teil)-Systemen etc.27 Als wichtige Referenztheorien für das neue Forschungsfeld werden die Weltsystem-Theorie von Immanuel Wallerstein, die Theorie der Weltgesellschaft, die u. a. auf den Ideen des Soziologen und Systemtheoretikers Niklas Luhmann aufbaut,28 und der bereits angesprochene institutionelle Internationalismus und Globalismus der Stanford-Gruppe um John W. Meyer herangezogen.29 Die Eckpunkte der Methodologie sind ‚Connections and Comparisons‘. Das bedeutet  : 415

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 415

22.09.2010 07:50:44

Internationale Erziehungswesen Arbeitsteilung

“[…] realigning the lens away from teleological ideas about ‚globalization‘ and the power projections of various imperialisms, and towards a focus on emerging thinking about the plurality of spatial linkages, networks, and connections which were more than local but less than global.”30

‚Realgeschichte‘  : Historische Analysen von Erziehung in vergleichender Perspektive Verallgemeinerte Eckpunkte der Geschichte des institutionalisierten Erziehungswesens31

Die Geschichte von Universitäten beginnt bereits im 10. und 11. Jahrhundert (frühe Gründungen oder Vorläufer sind Nalanda im klassischen Indien, Cairo, Salerno, Bologna, Oxford und Cambridge, Paris) und umfasst die bekannten Universitäten in Europa wie auch weniger bekannte im klassischen Indien oder in vielen muslimischen Zentren. Diese frühen Universitäten waren religiöse Einrichtungen, und obwohl es in verschiedenen Teilen der Welt (z. B. Harvard 1636) weiterhin viele Gründungen gab, stagnierte die Entwicklung der Universitäten zwischen 1500 und 1750. Schulen gab es für ausgewählte Gruppen der Bevölkerung ebenfalls schon sehr früh, aber eine breitere Entwicklung des Schulwesens beginnt in vielen Teilen der Welt erst im 17. Jahrhundert. Zunächst war die Verfügbarkeit von Schulen für Stadt- und Landbewohner und nach dem Geschlecht extrem unterschiedlich. Die Vorläufer der heutigen weiterführenden Schulen (Sekundarschulen) und der heutigen Primarschulen entstanden mehr oder weniger unabhängig voneinander und wurden erst später systematisch verknüpft. Aaron Benavot und Julia Resnik haben eine Globalgeschichte der Primar- und Sekundarerziehung vorgelegt und darin Grundzüge und spezifische Bedingungen der Entwicklung der Massenerziehung herausgearbeitet.32 Für die Einführung der gesetzlichen Schulpflicht zeigen sie im Weltvergleich bestimmte Muster. Der zeitliche Abstand zwischen der Staatsgründung und der gesetzlichen Verfügung der Schulpflicht hat sich in den sukzessiven nationalen Unabhängigkeitswellen seit dem 19. Jahrhundert von 25 bis 50 Jahren bis 1950 auf sechs Jahre und später auf ein Jahr verkürzt. Je jünger ein Staat ist, desto früher führte er auch die gesetzliche Schulpflicht ein. Die Schulpflicht gesetzlich zu erlassen bedeutete aber keineswegs auch deren sofortige Umsetzung. Das liegt (wie schon bei den ersten Schulgesetzen in Preußen) häufig daran, dass keine ausreichenden finanziellen und administrativen Mittel zur Verfügung gestellt werden (können). Der Vergleich zeigt auch die Tendenz zur Verlängerung der Schulpflicht und zur Verringerung der Variation des Pflichtschulalters. 416

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 416

22.09.2010 07:50:44

Erziehungswesen

Etablierung der Wissenschaften an der Universität

Die Entwicklung der Wissenschaften ab dem 17. Jahrhundert fand zunächst außerhalb der Universitäten statt. Berühmte Beispiele sind die wissenschaftlichen Gesellschaften in Großbritannien oder auch die französische Aufklärung. Randall Collins arbeitet heraus, dass Deutschland das einzige Land ist, in dem die wissenschaftlichen und philosophischen Erneuerer des 18. und 19. Jahrhunderts durchgängig Universitätsangehörige waren.33 Universitätsbildung und berufliche Tätigkeiten waren (außerhalb der Kirchen und der Universitäten selbst) noch nicht verknüpft. Für die Integration der Wissenschaft in die Universität steht die Humboldtsche Universitätsreform (1809 Gründung der Berliner Universität)  ; auch die Bindung von beruflichen Positionen an universitäre Abschlüsse fand zunächst in der staatlichen Verwaltung erstmals in Preußen im 19. Jahrhundert statt. Das Humboldtsche Modell wurde Vorbild für die zwischen 1865 und 1890 gegründeten Universitäten der USA (z. B. Cornell, Johns Hopkins, Stanford, Chicago). Auch die Grandes Ecoles wurden von Napoleon für die Ausbildung von hohen Staatsbeamten, Technikern und Militärs eingerichtet. Für den längsten Teil ihrer Geschichte waren Universitäten also ausschließlich Erziehungs- und Lehrorganisationen  ; Forschung wurde erst im 19. Jahrhundert zu ihrer Kernaktivität.34 Mit der ‚Academic Revolution‘, d. h. der Etablierung der Graduate Schools an den führenden amerikanischen Universitäten, errang die Forschung Vorrang über Erziehung und wurde auch die Lehre in den Undergraduate University Colleges zunehmend auf Forschung bezogen.35 Im 20. Jahrhundert kam dann mit dem starken Breitenwachstum des Hochschulsektors die – noch immer nicht völlig etablierte – ‚dritte‘ Funktion der Dienstleistungen der Universität für ihre lokale und regionale Umgebung hinzu.36 Nationalerziehung als dominierender Entwicklungsfaktor

Als wesentliche Bedingung für die Entwicklung des Schulwesens wird die Herausbildung der ‚modernen‘ Nationalstaaten im 18. und 19. Jahrhundert gesehen. Umgekehrt wurde das Schulwesen ein wesentlicher Faktor bei der (ideologischen und diskursiven) Entwicklung der ‚Nation‘ und der Organisation des modernen Staates. Der Einfluss der Industrialisierung auf das Erziehungswesen wird kontrovers diskutiert. Es hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass sich nur schwache Zusammenhänge in spezifischen Bereichen finden lassen und rein wirtschaftliche Erklärungen der Entstehung des Massenschulwesens nicht tragfähig sind. Als Ursachen der staatlichen Massenschule werden breitere und komplexere Zusammenhänge der gesellschaftlichen und sozialen Reproduktion namhaft gemacht.37 Zwischen 417

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 417

22.09.2010 07:50:44

Internationale Erziehungswesen Arbeitsteilung

den ersten Beschlussfassungen einer Schulpflicht im 18. Jahrhundert und deren effektiver Durchsetzung vergingen überall einige Jahrzehnte, da die finanziellen und administrativen Ressourcen dafür nicht aufgebracht wurden und die Bevölkerung nicht die nötigen Anreize hatte, ihre Kinder in die Schulen zu schicken. Die ersten Schulen wurden noch von den Eltern bezahlt und waren in Pfarren oder Klöstern eingerichtet.38 Reformation und Gegenreformation hatten große Bedeutung für die Erziehung und die Entwicklung des frühen Schulwesens. Koloniale Expansion

Mit der kolonialen Expansion der Nationalstaaten im späten 19. Jahrhundert wurde das Schulwesen auch in den kolonisierten Territorien verbreitet, zunächst vorwiegend für die weißen SiedlerInnen. Die neue Globalgeschichte lenkt aber die Aufmerksamkeit darauf, dass sich auch das Schulwesen in den kolonisierenden Nationen erst im Aufbau befand und so nichts ‚Fertiges‘ exportiert werden konnte.39 Die einheimische Bevölkerung der Kolonien wurde zunächst von religiösen Institutionen ‚missioniert‘, sofern sie nicht physisch vernichtet wurde. Die Kolonialmächte verfolgten unterschiedliche Strategien, die teilweise bis heute Spuren hinterlassen haben. Die Briten unterstützten eher bereits bestehende Missionsschulen, Frank­ reich regulierte die Schulen in den Kolonien streng nach dem eigenen Vorbild. Teilweise wirkte der Kolonialismus indirekt auf die Entwicklung des nationalen Erziehungswesens, so wenn Japan in den 1870er-Jahren zu seiner Stärkung gegenüber den konkurrierenden Kolonialmächten auf eine nationale Erziehungsstrategie setzte und beim Aufbau seines Schulwesens zuerst französische, dann US-amerikanische, dann deutsche Modelle benutzte, die mit der japanischen Kultur zu einer besonders ausgeprägt nationalistischen Erziehung kombiniert wurden. In Russland und China waren erste Schritte zum Aufbau eines Schulwesens im späten 19. Jahrhundert nicht erfolgreich. Dies erfolgte dann erst nach den kommunistischen Revolutionen 1918 bzw. 1949. Steuerung und ‚Governance‘

Mit dem Siegeszug der Marktwirtschaft im Neoliberalismus (ab den 1980er-Jahren) haben Fragen alternativer Formen von ‚Governance‘ im Erziehungswesen erhöhte Bedeutung erlangt, insbesondere in der Abwägung der Modelle staatlich-bürokratischer und marktwirtschaftlicher Steuerung. Grundsätzlich war man in der Geschichte bei der Errichtung des staatlichen Schulwesens mit den bereits existierenden privaten und kirchlichen Schul- und Erziehungsformen konfrontiert, die nun unter 418

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 418

22.09.2010 07:50:44

Erziehungswesen

eine ‚standardisierende‘ Kontrolle gebracht werden sollten. Einige Studien haben dies untersucht.40 Besondere Bedingungen fanden die postkolonialen Staaten vor, wo zuvor bereits die Konfrontation der eigenen traditionellen Erziehungseinrichtungen mit den kolonialen Eingriffen stattgefunden hatte, die dann auch in verschiedenster Weise mit dem jeweils etablierten Modell des Westens kombiniert wurden. Benavot und Resnik unterscheiden in ihrer global-historischen Analyse der Prozesse der ‚Systembildung‘ im Bereich der Primar- und Sekundarerziehung drei grundlegende Dimensionen  : Zentralisierung/Dezentralisierung, öffentlich/privat, säkular/religiös.41 Die Dimension zentral/dezentral stand bereits bei Margaret Archer im Mittelpunkt.42 Mit dem Aufstieg der neoliberalen Ideologie seit den 1980er-Jahren hat sich eine starke Tendenz in Richtung Dezentralisierung entwickelt, die in den postkolonialen Staaten teilweise auch über den finanziellen Druck internationaler Organisationen (Weltbank, IWF u. a.) umgesetzt wurde.43 In den westlichen Ländern ist eher eine Konvergenz in dem Sinne festzustellen, dass sich ursprünglich stark zentralisierte Systeme in Richtung Dezentralisierung bewegen (z. B. nordische Länder), aber auch umgekehrt (Vereinigtes Königreich, USA). 14%

Europa/USA

19% 18%

Lateinamerika

Subsaharisches Afrika

30% 25%

30% 9%

Nordafrika/Mittlerer Osten

Asien

Durchschnitt

11% 12%

27% 16%

23% Anteil privater Beteiligung in Primarerziehung Anteil privater Beteiligung in Sekundarerziehung

Abb. 1  : Anteile privater Erziehung nach Weltregionen ca. 1980 Quelle  : Eigene Darstellung nach Daten von Benavot/Resnik 2006, Tab.2

419

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 419

22.09.2010 07:50:44

Internationale Erziehungswesen Arbeitsteilung

Die Dimension öffentlich/privat betrifft v. a. Finanzierung und Regulierung. Alle Erziehungssysteme haben ihren Ursprung in privaten (und religiösen) Aktivitäten, und auch in den Pflichtschulen mussten am Beginn ihrer Geschichte erhebliche Beiträge bezahlt werden. Es gibt einen langfristigen historischen Prozess der Steigerung der öffentlichen Autorität über die Erziehung, der erst im neoliberalen Diskurs der letzten Jahrzehnte umgekehrt wurde. Erziehung soll nach neoliberalen Vorschlägen nicht mehr als öffentliche Aufgabe, sondern als Dienstleistung aufgefasst werden, die am Markt gehandelt und v. a. auch als wichtiges Exportgut entwickelt werden kann und soll. Zentralisierte Systeme betonen eher die öffentliche Aufgabe, während dezentralisierte Systeme eher private Erziehung unterstützen und fördern. Abb. 1 zeigt die Durchschnittswerte von privater Erziehung in den verschiedenen Weltregionen. Innerhalb aller Weltregionen ist aber auch die Variation sehr hoch  ; der Anteil der privaten Beteiligung variiert zwischen 0 und über 90 Prozent. Die Durchschnittswerte liegen in der Sekundarerziehung etwas höher als in der Primarerziehung und variieren nach Weltregionen zwischen 9 und 30 Prozent. Die Unterscheidung säkular/religiös ist mit der Unterscheidung öffentlich/privat verbunden, denn „most private schools were also religious ones“.44 Die Errichtung der öffentlichen Erziehungssysteme erfolgt/e in Auseinandersetzung mit den schon bestehenden Formen religiöser Erziehung. Das Lesen religiöser Texte spielt eine wesentliche Rolle bei der Alphabetisierung der Bevölkerung, führt aber zugleich den Glaubensgemeinschaften Nachwuchs zu. Vor allem darin besteht das Motiv des Engagements vieler Kirchen im Erziehungswesen. Religiöse moralische Erziehung wird aber auch für die Erziehung der Untertanen der Nationalstaaten genutzt. James Melton zeigt in seiner vergleichenden Analyse der Entwicklung der Primarerziehung in Preußen und Österreich die fundamentale Rolle, die der Pietismus dabei spielte.45 Auch Eltern begünstigen dies, wenn sie an einer religiösen Erziehung ihrer Kinder interessiert sind. Es konkurrieren nicht nur Staat und Kirche, sondern in vielen Regionen konkurrieren auch unterschiedliche Religionen um Einfluss auf die Erziehung. In der vorkolonialen Zeit gab es in einigen Weltregionen längst eine etablierte islamische Erziehung, als die christlichen Missionierungen und Kolonialschulen begannen, mit ihr in eine Erziehungskonkurrenz einzutreten. „Under European colonialism, many traditional education systems disappeared – first shadowed by ever-increasing mission schools and later pushed out by the more extensive edu­ cation system of colonial governments.“46 Nach der Dekolonisierung wurde oft an vorhandene Erziehungsformen angeknüpft  : in Afrika an der islamischen Erziehung. Heute hat der Islam in mehr als 35 afrikanischen Staaten starken Einfluss auf die Erziehungssysteme. 420

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 420

22.09.2010 07:50:44

Erziehungswesen

Im Zusammenhang mit den weltweiten Migrationsprozessen gibt es eine neue Debatte um die religiöse Erziehung, die die teilweise etablierte Trennung von Staat und Kirche wieder in Frage stellt. In Lateinamerika, wo ‚moderne‘ staatliche Erziehungssysteme in unterschiedlichen Formen zur Etablierung der postkolonialen Nationen genutzt wurden, haben v. a. neoliberale Reformen zu einer ‚Renaissance‘ von privater und religiöser Erziehung geführt und soziale Ungleichheiten erhöht. In Afrika und in islamisch dominierten Regionen, wo westliche Erziehungsweisen oft gegen die lokalen Traditionen durchgesetzt worden waren, haben die postkolonialen Nationalstaaten zunächst oft – auf dem Hintergrund der großen Versprechungen der positiven Wirkungen der Erziehung – stark in säkulare nationale Erziehung investiert. Da die Versprechungen auf rasche Entwicklung nicht eingelöst werden konnten, wurde dann die ‚moderne‘ Erziehung teilweise als Ursache für soziale Probleme (Arbeitslosigkeit, Konflikte zwischen alten und neuen Werten, Generationenkonflikte etc.) angesehen und die Frage gestellt, ob und wie islamische Kultur und westlich-moderne Erziehung vereinbar sind. In Asien wird am ehesten eine erfolgreiche Integration von traditionellen, religiösen und westlich-modernen Ansätzen betrieben. Alternative Paradigmen des Lernens und Lehrens  : Lehrlinge und Meister, Training und Formation

Seit Jahrhunderten bestehen unterschiedliche Formen des Lernens und Lehrens parallel nebeneinander und konkurrieren in den diversen Bemühungen der Bildungsreform. Die Frage, ob das schulische Setting die bestmögliche Lernumgebung darstellt, wird seit Langem gestellt.47 Vor allem in der Berufsbildung hat sich seit den 1990er-Jahren ein Diskurs und Forschungszweig um das Konzept von ‚Communities of Practice‘ entwickelt, der an anthropologischen Untersuchungen der Praktiken in der traditionellen Lehrlingsausbildung anknüpft und das Paradigma des Lernens in Schulen grundlegend in Frage stellt.48 Wesentlich ist in diesem Ansatz die These, dass das Lernen vor allem durch die Teilnahme an Praxisgemeinschaften stattfindet und dass das Lehren nicht als Ursache für das Lernen zu sehen ist. Dies legt die Frage nahe, wie es kam, dass sich gerade die Schule als Lernort weltweit durchsetzen konnte. Eine naheliegende Erklärung ist die Nähe der Institution Schule zu staatlicher Herrschaft und Macht im Lauf der Entstehung der Nationalstaaten, in Europa und Nordamerika während des 18. und 19. Jahrhunderts ebenso wie in den postkolonialen Staaten des 20. Jahrhunderts.

421

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 421

22.09.2010 07:50:44

Internationale Erziehungswesen Arbeitsteilung

Regionale Besonderheiten des Erziehungswesens Schulwesen

In Sub-Sahara Afrika existierten zunächst die traditionalen oralen Formen der Erziehung, und ab dem 9. und 10. Jahrhundert entwickelte sich die islamische Erziehung. Mit der beginnenden europäischen kolonialen Expansion kamen christliche Missionsschulen als dritte Form dazu. Es gab unterschiedliche Schulen für die Siedler und die einheimische Bevölkerung. Manche Nationen betrieben stärkere kulturelle Assimilation (Frankreich, Belgien, Portugal)  ; die Briten und später auch Frankreich passten die Inhalte teilweise an die einheimischen Traditionen an.49 In Ostasien war Erziehung zunächst auf das Lernen von klassischen Texten (Konfuzius) in Privatschulen oder mit Privatlehrern und auf Eliten konzentriert. In China kam ein jahrhundertelang ausgebautes System von staatlichen Prüfungen für künftige kaiserliche Beamte hinzu.50 Erst mit den Niederlagen gegen die imperialistischen Mächte und insbesondere gegen das ‚verwestlichte‘ Japan im 19. Jahrhundert geriet dieses System in Kritik  ; 1905 wurden die konfuzianischen Prüfungen abgeschafft und ein diversifiziertes System von staatlichen und privaten, einheimischen und internationalen Schulen – immer noch für die Wohlhabenden – aufgebaut. In Japan fand neben der traditionellen konfuzianischen Erziehung für die Eliten im 18. Jahrhundert eine Expansion privater Schulen für wohlhabende Teile der Bevölkerung statt, die im frühen 19. Jahrhundert auch für die Kinder von Bauernfamilien zugänglich wurden. Hingegen blieb in Japan der Zugang zu den Universitäten extrem selektiv und auf die Angehörigen der Oberschicht beschränkt.51 In Lateinamerika wurde unter der Kolonialherrschaft der Europäer Erziehung einerseits von Privatlehrern und Privatschulen und andererseits von religiösen Organisationen betrieben. Dabei spielten die Jesuiten bis zu ihrer Auflösung nicht nur in den Sekundarschulen, sondern auch in den Primarschulen eine führende Rolle, die sie später nicht wieder erringen konnten. Im Unterschied zu den USA und Kanada wurden jedoch die regionalen und lokalen Regierungen und Autoritäten nicht in diese Entwicklung einbezogen. Nach der Dekolonisierung wurde die Entwicklung der institutionellen Erziehung von den postkolonialen unabhängigen Nationalstaaten übernommen, die ein öffentliches Schulwesen nach dem europäischen Modell installierten. Im 20. Jahrhundert erfolgte ein massiver Ausbau der öffentlichen Schulen, zunächst in stark zentralisierter Form, ab den 1980er-Jahren stärker dezentralisiert nach den auch hier verbreiteten Vorstellungen von ‚New Public Management‘.52 Ähnliche Entwicklungen sind seit dem 18. Jahrhundert in den Ländern des Mittleren Ostens, Nordafrikas und Zentralasiens festzustellen, die das islamische Erbe, 422

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 422

22.09.2010 07:50:44

Erziehungswesen

ähnliche Erfahrungen mit dem Imperialismus und auch mit Ansätzen von Reformen gemeinsam haben.53 Es gibt in diesem Raum eine starke und alte Tradition islamischer Erziehung (Maktab)54 in einer Art von Elementarschule, in weiterführenden Lehrlingsverhältnissen und in höheren Instituten als frühen Formen der Universität. Der Fokus liegt auf dem Memorieren des Korans. Die Lehrer-SchülerBeziehung ist sehr individuell  ; es besteht ein Netzwerk der Lehrbefugten (Ulema), in das man nach dem Erwerb der Lehrbefugnis (Ijaza) aufgenommen wird. Ähnlich wie in Ostasien vermutete man unter dem Druck des europäischen Imperialismus eine Schwäche der traditionellen islamischen Erziehung  ; im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert gab es vor allem im Ottomanischen Reich und insbesondere in Ägypten (im Iran und in Marokko war der Widerstand der traditionellen Ulema stärker) verschiedene Reformbewegungen von Regierungsseite. Die intellektuelle Bewegung der ‚Islamischen Modernisten‘ strebte nach Versöhnung der Religion mit der westlichen Aufklärung und Wissenschaft. Die Führung des zeitweilig sehr weit ausgedehnten Ottomanischen Reichs initiierte den Aufbau eines ‚modernen‘ staatlichen Schulwesens. Daneben gab es in der kolonialen Periode des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts weiterhin eine Vielzahl verschiedener nichtstaatlicher Schulformen, von den Maktabs über christliche und jüdische bis zu internationalen europäischen und amerikanischen Schulen, die in ihrer Gesamtheit eine größere Reichweite hatten als die staatlichen Schulen. In der Beschreibung Europas wird die Erziehung im Altertum oft ausgelassen, so als begänne die Geschichte des Schulwesens mit den ersten Vorschlägen für eine allgemeine Massenschule im vorrevolutionären Frankreich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Eine wesentliche Rolle spielte die Reformation im 16. Jahrhundert, die das Lesen der (in die Landessprache übersetzten) Bibel als zentrales Ziel und als Mittel der Alphabetisierung vorantrieb. Aber auch in der folgenden katholischen Gegenreformation spielte der schulische Unterricht eine hervorragende Rolle. Er wurde insbesondere durch den Jesuitenorden organisiert, der bis zu seiner zeitweiligen Auflösung (1773 auf Druck der absolutistischen Könige von ­Frankreich, Spanien und Portugal von Papst Clemens XIV., 1814 wieder zugelassen) in vielen Ländern ein differenziertes Erziehungswesen mit christlich-religiösen, aber auch wissenschaftlichen, v. a. mathematischen, physikalischen und astronomischen Bildungsinhalten aufbaute. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts gab es in Europa bereits zahlreiche von Jesuiten betriebene und geleitete Schulen, an denen die Söhne von Adligen, aber auch Angehörige anderer sozialer Klassen unterrichtet wurden. Die Jesuiten gründeten auch einige Universitäten. Es entstand ein zweiteiliges Erziehungswesen mit den Universitäten und den Vorläufern der Sekundarschulen auf der einen Seite und den Vorläufern der Elementarerziehung auf der anderen. Es 423

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 423

22.09.2010 07:50:44

Internationale Erziehungswesen Arbeitsteilung

dauerte bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, dass diese zunächst getrennten Organisationen systematisch aneinandergefügt wurden und ein stratifiziertes, mehr oder minder durchlässiges Schulsystem entstand.55 Zwischen 1760 und 1800 dekretierten die Regierungen Preußens, Österreichs (Maria Theresia regelte hier den Schulbetrieb durch Einführung der Schulpflicht in der Allgemeinen Schulordnung von 1774), Russlands und Polens die Errichtung von Primarschulen für die breite Bevölkerung. Teilweise erließen sie bereits Schulpflicht, die jedoch nur sehr langsam durchzusetzen war. Die Mädchen wurden wesentlich später in diesen Prozess der Verschulung (Scholarisierung) einbezogen als die Burschen. Eine quantitative Analyse der Entwicklung in europäischen Ländern zeigt die Diffusion der Massenbeteiligung. Während bei der Beteiligung56 am Primarschulwesen 1870 noch eine große Variation zwischen den Ländern zwischen ‚Spitzenreitern‘ von mehr als 70 Prozent (Schweiz, Deutschland, Frankreich) und ‚Nachzüglern‘ mit weniger als 30 Prozent (Italien und Finnland, auch Österreich lag mit ca. 50 Prozent zurück) bestand, glich sich die Beteiligung bis 1910 in den meisten Ländern in einer Spanne zwischen 65 und 90 Prozent an. Nur Italien und Finnland lagen 1910 mit 45 bzw. 25 Prozent immer noch deutlich hinter den anderen Ländern zurück. In Nordamerika begannen die europäischen Siedler, v. a. die Puritaner, rasch mit dem Aufbau eines zuerst religiös orientierten Schulwesens. Die indigene Bevölkerung wurde nicht einbezogen. In manchen Bundesstaaten wurden bereits im 17. Jahrhundert Regelungen dekretiert (ab 1647 in Massachusetts) und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits Pläne für öffentliche Schulen und ein Stipendienwesen entwickelt (1779 bzw. 1787 durch Thomas Jefferson in Virginia). Staaten mit Sklaverei unternahmen Anstrengungen zur Erziehung der Weißen, verboten aber bei Strafe jede schulische Erziehung von Sklaven. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (beginnend mit 1852 in Massachusetts bis 1918 im Süden) haben alle Bundesstaaten eine gesetzliche Schulpflicht erlassen  ; diese Entwicklung erfolgte zeitlich parallel zur Durchsetzung der Schulpflicht in europäischen Staaten. Weitere Auseinandersetzungen drehten sich um die Rechte der African-Americans und um die öffentliche vs. private Finanzierung der Schulen und Universitäten.57 Universitäten

In Europa bestanden schon im 14. Jahrhundert etwa hundert Universitäten. Im 16. und 17. Jahrhundert wurden im Zuge von Reformation und ­Gegenreformation weitere Universitäten gegründet. Mit der Aufklärung und der Entwicklung der Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert kamen die traditionellen Universitäten, die 424

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 424

22.09.2010 07:50:44

Erziehungswesen

teilweise seit dreihundert Jahren die gleichen Inhalte lehrten, in eine Krise. Einige Universitäten (Leiden und Utrecht, Glasgow und Edinburgh, Halle und Göttingen) nahmen die Impulse der Aufklärung auf und verstanden sich als Reformuniversitäten. 1809 wurde die Berliner Humboldt-Universität erstmals mit dem Programm einer engen Verknüpfung von Lehre und Forschung etabliert. Im Lauf des 19. Jahrhunderts reformierten auch andere europäische Staaten ihre Universi­täten nach dem Humboldt’schen Modell. In den 1960ern begann – politisch als ‚Demokratisierung‘ des Erziehungswesens legitimiert, ökonomisch durch die Ideen der Humankapitaltheorie unterstützt58 – die Expansion der Universität zur „Massenuniversität“. Die europäischen Universitäten waren traditionell mit den staatlichen Regierungsbürokratien verbunden. Der Zugang wurde über Prüfungen (Abitur, Matura, Baccalauréat, A-Levels) geregelt, die differenzierte Ansprüche an die Vorbildung der Studierenden artikulierten.59 Die gegenwärtige Auseinandersetzung um die europäischen Universitäten im Zeichen der „Bologna-Deklaration“ (1999) kann als Versuch einer Differenzierung der europäischen Universitäten in ihrer Entwicklung in Richtung einer Massenbeteiligung gesehen werden, wobei die Grundidee der inneren Struktur des US-Systems zu folgen scheint, mit den ‚Graduate Schools‘ der elitären Forschungsuniversitäten als wissenschaftliches und akademisches Zentrum und den verschiedenen Formen von Undergraduate-Studienprogrammen und -Institutionen sowie den stärker beruflich ausgerichteten ‚State Universities‘ und ‚Community Colleges‘ als Massenuniversitäten. Es scheint jedoch fraglich, inwieweit dies im Bologna-Prozess inhaltlich so verstanden wird und, selbst wenn ja, ob dies durch eine ‚voluntaristische‘ Politik (d. h. eine Politik, die eine derart grundlegende strukturelle Vereinheitlichung ohne Berücksichtigung der historisch gewachsenen Unterschiede per Deklaration umsetzen will) erreichbar ist. In Ostasien bestand für die staatlich-bürokratischen Eliten über Jahrhunderte die Tradition der ‚klassischen‘ konfuzianischen Prüfungen. Darüber hinaus gab es auch verschiedenste private Studienangebote in nicht-klassischen Fächern. Tokio erhielt 1877 die erste ‚moderne‘ Universität des japanischen Staates. In den 1880er- und 1890er-Jahren entstanden viele private Institutionen, die dann in den 1920er-Jahren als neue Universitäten anerkannt wurden. Weitere Universitätsgründungen in Ostasien waren Kyoto 1897 und Beijing 1898. Die Kolonialmacht Japan gründete – verbunden mit starker ideologischer Kontrolle – Schulen und Universitäten in den kolonialisierten Ländern, so 1929 die Gyeongseong Imperial University in Korea. In China entstand mit der Abschaffung der traditionellen konfuzianischen Prüfungen 1905 Bedarf an neuen Formen der Erziehung in den ‚modernen‘ Fächern. Nach 1945 wurden die Universitäten in Japan und Südkorea nach US-amerikanischem Vorbild reorganisiert. In China (auf dem Festland und auch in Taiwan) wurden die 425

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 425

22.09.2010 07:50:44

Internationale Erziehungswesen Arbeitsteilung

verbreiteten privaten Institutionen verstaatlicht und unter ideologische Kontrolle gebracht. Im China der ‚Kulturrevolution‘ (zwischen 1966 und 1976) wurden die Universitäten zerstört und die Intellektuellen bekämpft (s. auch Kap. 9), bis erst in den 1970er-Jahren unter Deng Xiaoping der Wiederaufbau des Universitätssystems begann.60 In Lateinamerika wurden die ersten Universitäten vom Jesuitenorden gegründet und betrieben – im Auftrag der spanischen Kolonialmacht und des Vatikans (Santo Domingo, Bogotá, Quito, Sucre, Lima, Mexico City). Die Kolonialmacht Portugal hingegen hat in Brasilien keine einzige Universität gegründet. Mit der Dekolonisierung am Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die Trennung von Staat und Kirche forciert  ; private und kirchliche Universitäten wurden unter öffentliche Kontrolle gestellt  ; neue Universitäten wurden gegründet, aber insgesamt nur wenige inhaltliche Neuerungen durchgeführt. Ausgelöst durch eine breite studentische und soziale Bewegung, die 1918 in Argentinien von der Universidad de Córdoba ihren Ausgang nahm, wurden die öffentlichen Universitäten nach einem einheitlichen Modell reformiert  : Autonomie, Reduzierung der Rolle des Staates auf Finanzierung, Selbstverwaltung mit Mitbestimmung der Studierenden. Private Institutionen gab es nur vereinzelt, bis aufgrund der Expansion der Studierenden und der staatlichen Finanzierungsprobleme rigide Aufnahmebeschränkungen durch Eingangsprüfungen an den staatlichen Universitäten eingeführt wurden. Es entstand ein zweiter Sektor privater Institutionen, deren Beschränkung des Zugangs nur in der Höhe der Beiträge liegt. In diesem Sektor sind auch beruflich und technisch orientierte Institutionen, ähnlich den westeuropäischen Fachhochschulen, stark gewachsen (von 16 Prozent aller Studierenden im Jahr 1960 auf 32 Prozent 1985 und weiter auf 47 Prozent im Jahr 2004). Dieses Wachstum brachte wachsende Qualitätsprobleme mit sich, denen seit den 1990er-Jahren durch sogenannte Evaluierungsprozesse entgegengewirkt werden soll.61 Universitäten waren über Jahrhunderte ‚männliche‘ Institutionen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in manchen Regionen erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurden Frauen zugelassen, zuerst an der Universität Zürich in den 1870er-Jahren.62 Gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat in den meisten Weltregionen die Studienbeteiligung der Frauen mit jener der Männer gleichgezogen, wenn auch nach wie vor Unterschiede im Anteil von männlichen und weiblichen Studierenden in den einzelnen Studienfächern bestehen und das Personal der Universitäten stärker männerdominiert ist, je höher die Position, umso deutlicher.63 Die Universitäten und Hochschulen machen zeitversetzt ab der Mitte des 20. Jahrhunderts einen ähnlichen Expansionsprozess durch wie die Massenschule etwa ein Jahrhundert vorher. Und es werden ab den 1960er-Jahren, zuerst in den 426

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 426

22.09.2010 07:50:44

Erziehungswesen

USA, die eine Vorreiterrolle in dieser Expansion innehatten, ähnliche Differenzierungsvorgänge festgestellt, wie sie in der Sekundarstufe ab der Mitte des 19. Jahrhunderts stattgefunden haben.64 60%

50%

55%

46%

40%

30%

37%

40%

28% 20%

10% 2%

5%

11%

0% 1880-1910

1920-1940

1950-1955

1970-1975

%PRIM+SEK+TERT an 5-24-J. %SEK+TERT an 10-24-J.

Abb. 2  : Langfristige Entwicklung der Schul- und Hochschulbeteiligungsquoten in 13 europäischen Ländern 1880 bis 1975 Quelle  : Eigene Darstellung nach Daten von Schneider 1982, Tab. 1

Im Bereich der Tertiärbildung lag die Beteiligung65 bis 1950 in europäischen Ländern in einer Größenordnung von drei bis vier Prozent und war gegenüber etwa zwei Prozent im Jahr 1920 etwas gestiegen. In der Folgeperiode zeigt sich ein ungleichmäßiger Prozess des Wachstums, der bis 1975 zu beträchtlichen Unterschieden zwischen neun Prozent (Schweiz) und über 20 Prozent (Frankreich) führte. Bis Mitte der 1960er-Jahre wurden die Unterschiede zwischen den Ländern größer, und es bestand die Tendenz, dass ein späterer Beginn des Wachstums zu einem rascheren Wachstum führte  : „Je früher demnach in einem Land die Verbreitung der Hochschulbildung begann, desto langsamer wurde die Bevölkerung davon erfasst  ; je später ein Land die Arena betrat, umso schwungvoller verlief der Mobilisierungsprozess.“66

427

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 427

22.09.2010 07:50:44

Internationale Erziehungswesen Arbeitsteilung

Mit der Steigerung der Beteiligung stiegen die Abschlüsse jedoch nicht proportional, es zeigt sich vielmehr eine Tendenz zur Verlängerung der Studienzeiten und zur Steigerung der Zahl der Studienabbrüche. In den 1990ern hat sich in der Hochschulforschung ein historisch inspiriertes ‚Bild‘ durchgesetzt, das die steigende Beteiligung im Hochschulwesen mit den Begriffen des Übergangs von ‚traditionellen‘ Elitehochschulsystemen zu ‚modernen‘ Massenhochschulsystemen und dann weiter zu einem zukünftigen allgemeinen Hochschulsystem („universal higher education“) beschreibt.67 Ulrich Teichler fasst diese angenommene Entwicklung von vornherein auch als Differenzierung von unterschiedlichen Sub-Sektoren auf  : „Martin Trow verweist auf die wachsende Studierquote als Triebkraft für den Strukturwandel des Hochschulsystems  : Wenn der Anteil der Studierenden an der entsprechenden Altersgruppe 15 Prozent überschreitet, ist ein Charakterwandel des Hochschulwesens unvermeidlich, und ‚mass higher education‘ wird neben dem zuvor bestehenden ‚Eliten‘-Sektor entstehen. Ein weiterer Sektor, ‚universal higher education‘ wird schließlich entstehen, wenn die Hochschulbesuchsquoten 50 Prozent überschreiten.“68

Berufserziehung

Als eigener Bereich des Erziehungswesens hat sich die Berufserziehung etabliert.69 Sie wird in historischen Forschungen meistens nicht erwähnt, was damit zusammenhängt, dass sie erst sehr spät ein integraler Teil des (staatlichen) Schulwesens geworden ist. Über Jahrhunderte war hier die Lehrlingsausbildung ein wesentlicher Teil und – getrennt davon – hat sich die Erziehung für die gehobenen Professionen im Rahmen der Universitätsgeschichte entwickelt. Die Lehrlingsausbildung in ihrer Sequenz vom Lehrling über den Gesellen zum Meister war vom 12. bis zum 19. Jahrhundert Teil der Organisation der Gilden oder Zünfte, die in Europa sehr ähnlich war. Über die Institution der ‚Wanderschaft‘ der Gesellen war das zünftige Ausbildungssystem auch international vernetzt. Im agrarischen Russland konnte ein solches System nicht entstehen und die Reformversuche Peters I. im späten 17. Jahrhundert waren hier ein erster Versuch, eine staatlich organisierte Berufserziehung zu etablieren. Da es sich bei den Gilden resp. Zünften um geschlossene und selbstorganisierte Einheiten handelte, die auch das qualifizierte Arbeitsangebot kontrollierten, traten sie in Gegensatz zur Entwicklung des Marktes und der neuen maschinellen Produk428

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 428

22.09.2010 07:50:44

Erziehungswesen

tionsmethoden. Bis zum 20. Jahrhundert haben sich unterschiedliche Strukturen von Berufsbildung ausgebildet. In stilisierter Form wird zwischen einem marktförmigen (Großbritannien, v. a. England), einem staatlichen (Frankreich) und einem dual-korporatistischen (Deutschland, Österreich) Modell unterschieden, wobei die beiden ersteren das traditionelle Modell der Lehrlingsausbildung abgelöst haben, welches im dritten in transformierter Form, v. a. durch eine Einbindung in staatliche Regulierung und die Kombination der betrieblichen Lehre mit Formen der öffentlichen Schule (Berufsschule, Berufsbildende Höhere Schule u. a.) überliefert wurde. Die neue organisierte Berufserziehung entwickelte sich parallel zur allgemeinen Primar- und Sekundarschule und auch zur Abschaffung der Gilden und Zünfte70 im 19. Jahrhundert. Ein Charakteristikum dieser Entwicklung ist, dass neue Institutionen sowohl auf Hochschulebene in Konkurrenz zu den traditionellen Universitäten, als auch auf Sekundarschulebene entstanden sind, die aber zunächst nicht unter der Autorität der Schul- und Erziehungsverwaltung standen, sondern unter jener der wirtschaftlichen Politik- und Verwaltungskörper, wie den Wirtschaftsoder Handelsministerien oder den jeweiligen Verbänden der Industrie, des Gewerbes oder des Handels.71 Berufserziehung wurde stark von den wirtschaftlichen Gegebenheiten und politischen Entwicklungen bestimmt und nahm daher sehr unterschiedliche Formen an. Bis in die 1990er-Jahre wurde sie in der Forschung kaum beachtet.72 Daher gibt es bisher auch keine konsistenten vergleichenden Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Berufsbildung und ihrer Stellung im gesamten Erziehungswesen. Benavot und Resnik arbeiten einige Grundtendenzen heraus.73 In den europäischen Ländern ist die Berufsbildung traditionell mit der sozialen Schichtung verbunden, indem die Nachkommen der ärmeren Schichten und später v. a. auch der Einwanderer-Ethnien in diese Programme einmünden.74 Im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Veränderungen wird auch versucht, die Berufserziehung aufzuwerten. In den ehemals kolonialisierten Ländern hat Berufserziehung eine wechselvolle Geschichte. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es v. a. seitens der USA und Groß­ britanniens Überlegungen, die berufliche Erziehung in den kolonisierten Ländern zu verstärken, um die Erziehung ‚stärker an ihre Bedürfnisse anzupassen‘. In den USA wurde seitens des Phelps-Stokes Fund, der britische und amerikanische missionarische Organisationen repräsentierte, 1922 auf Basis einer großen Untersuchung über Entwicklungsmöglichkeiten der Erziehung in Afrika ein umfassender Reformplan ausgearbeitet, der v. a. die landwirtschaftliche Ausbildung forcierte. Vorschläge in dieser Richtung wurden auch von der Britischen Kolonialverwaltung ab 1925 429

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 429

22.09.2010 07:50:44

Internationale Erziehungswesen Arbeitsteilung

gemacht, und in Asien gab es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ähnliche Ini­ tiativen.75 Zwischen den 1960er- und frühen 1980er-Jahren wurde die Entwicklung der Berufsbildung von internationalen Organisationen stark gefördert, dies war aber nicht sehr erfolgreich. Da die allgemeinen Schulen zu besseren Berufschancen führten, gerieten die beruflichen Schulen in einen Wettbewerbsnachteil. Evaluationen zeigten weitere Probleme, die mit dem Status und auch den Koordinationsproblemen mit der Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt zusammenhängen.76 Die Förderungen wurden in der Folge stärker auf arbeitsplatznahe und privat-betriebliche Programme verlagert.

Anbruch einer neoliberalen Epoche – das Ende der Geschichte, wie wir sie kennen  ? Wenn man die Ergebnisse der Recherchen und Analysen überblickt, ergibt sich hinsichtlich der globalen Entwicklung des Erziehungswesens einerseits eine Vielfalt an Perspektiven auf diese Entwicklung, andererseits aber auch eine beträchtliche Konsistenz in der ‚Realentwicklung‘ zumindest jener Aspekte, die hier näher betrachtet wurden. Das institutionalisierte Erziehungswesen in seiner Gesamtheit breitet sich in der Gesellschaft und in der Welt weiter aus  ; seine inneren Verflechtungen nehmen zu, und es wiederholen sich anscheinend Prozesse in neuen SubSektoren, die in der Vergangenheit bereits in anderen Sub-Sektoren zu beobachten waren, v. a. die ‚Verstaatlichung‘ der vorschulischen Erziehung und die Differenzierung in der Tertiärerziehung. Eine gewisse Gegenbewegung zur vorherigen Entwicklung ist etwa seit Mitte der 1970er-Jahre beim Aspekt der Regulierung und Steuerung festzustellen  : Dem langfristigen Trend der Bürokratisierung und ‚Verstaatlichung‘ von Institutionen der Erziehung tritt eine Rhetorik der Liberalisierung und ‚Vermarktlichung‘ gegenüber. Dies könnte zu einem radikalen Bruch führen, sollte tatsächlich nachhaltig eine Umdeutung der Erziehungsleistungen von einer öffentlichen Verantwortung in eine ‚normale‘, auf dem Markt gehandelte Dienstleistung stattfinden. Es ist jedoch zu fragen, inwieweit über die Rhetorik hinaus tatsächlich bereits nennenswerte Veränderungen in dieser Richtung vor sich gehen. Die internationalen Organisationen, die bereits seit den 1920er-Jahren und verstärkt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs das Bild der Erziehung wesentlich prägen und eine ‚erzieherische Weltkultur‘ entwickelt haben, die sich über die Mechanismen der ‚Entwicklungspolitik‘ auch auf die postkolonialen Länder auswirkt, haben ihre Grundposition verändert. Als in den 1950er- und 1960er-Jahren das ‚Humankapital- und Wachstumspara430

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 430

22.09.2010 07:50:45

Erziehungswesen

digma‘ vorherrschte, wurden Investitionen in Erziehung als wachstumsfördernd forciert.77 Bereits ab der Mitte der 1970er-Jahre erfolgte jedoch ein Umschwung in Richtung Effizienz und Marktorientierung der Erziehung, der bis heute wirksam ist. Es ist nicht klar, inwieweit sich diese Orientierung in Zukunft wirklich durchsetzen, und Erziehung im Extremfall von einer vorwiegend öffentlichen Aufgabe wieder in eine private und gewinnorientierte (Dienst)-Leistung transformiert wird, nun aber auf dem ‚Welterziehungsmarkt‘. Eine zweite, weniger spürbare Dimension, wo man eine Gegenbewegung zur historischen Ausdifferenzierung des Erziehungswesens und De-Kontextualisierung der Erziehungsprozesse in eigenen Einrichtungen orten kann, betrifft Tendenzen einer Re-Kontextualisierung mit den neuen pädagogischen Konzepten/Diskussionen z. B. der ‚Communities of Practice‘ oder des ‚Work-Based Learning‘ sowie in den weitgehenden Forderungen in Richtung einer ‚Öffnung‘ des Erziehungswesens gegenüber der Gesellschaft.

Status quo – robuste starke Bürokratie – „vested interests“ vs. Wandel – Bleibende Image- und Ressourcenprobleme

Lernende Organisation – hohes öffentliches Vertrauen und Finanzierungs­ erfordernisse – vernetzen – Qualität und Gerechtigkeit

Ausweitung des Marktes – Wandel wegen Unzufriedenheit – nachfragegetriebene Entwicklung von ­Bewertungen, Indikatoren und Akkreditierung – Diversität und Ungleichheit

Netzwerke der Lernenden – Unzufriedenheit mit der Schule – informelles Lernen, Informations- und ­ Kommunikationstechnologien – ‚communities of interest‘, Gerechtigkeitsprobleme

Soziale Kernzentren – hohes öffentliches Vertrauen und Finanzierungs­ erfordernisse – Gemeinschaft und Sozialkapital – Diversität und Gerechtigkeit

‚Teacher exodus‘ – Lehrermangel – Einsparen, Konflikt, fallende Standards – Krise unterstützt Innovation bei ungewisser Zukunft

Abbildung 3  : Grundzüge der OECD-Szenarien „Schooling for Tomorrow“ Quelle  : Eigene Zusammenstellung aufgrund von OECD, Schools.

Die OECD befasst sich seit einigen Jahren systematisch mit der Vorausschau zukünftiger Entwicklungen im Erziehungswesen. In diesem Rahmen wurden Szenarien der Zukunft des Schulwesens entwickelt, die in Abbildung 3 in Stichworten wiedergegeben werden. Abgesehen von einem ‚Krisenszenario‘ werden die ‚alternativen Zukünfte‘ des Schulwesens zwischen der Aufrechterhaltung des Status quo (durchaus als eine Alternative gesehen) und vier unterschiedlichen 431

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 431

22.09.2010 07:50:45

Internationale Erziehungswesen Arbeitsteilung

Richtungen von Formen der Neuorganisation (verweist auf die Frage der Steuerung und Regulierung) und unterschiedlichen Anbindungen an gesellschaftliche Bereiche modelliert  : Markt und Wirtschaft, Selbstorganisation in virtuellen Gemeinschaften, öffentlich geförderte soziale Einbindung. Die Marktlösung wird als am ehesten wahrscheinlich, aber auch als problematisch eingeschätzt. Die eher wünschenswerten Szenarien der ‚Lernenden Organisation‘ und der ‚Sozialen Kernzentren‘ werden wegen der hohen Erfordernisse an öffentlichem Vertrauen und an die Finanzierung eher für unwahrscheinlich gehalten.78 Die vorherrschende Argumentationsfigur scheint aber insgesamt zu sein, dass sich das Erziehungswesen aufgrund seiner hohen Beharrungstendenzen den aus den ‚grundlegenden Umbrüchen‘ resultierenden Anforderungen nicht oder nicht ausreichend anpassen wird.

Anmerkungen   1 Eine ausführliche Langfassung dieses Beitrages findet sich unter http  ://www.equi.at/material/Geschichte.pdf.   2 Zur Erwachsenenbildung leicht zugänglich ist Elke Gruber, Hg.,Theorie und Forschung. Facettenreich, traditionsbewusst und innovativ, online Magazin Erwachsenenbildung.at, Ausgabe 7/8, 2009 Internet  : http  ://erwachsenenbildung.at/magazin/09–7u8/meb09–7u8.pdf (2010-03-01)  ; zur Vorschule vgl. Sheila B. Kamerman, A Global History of Early Childhood Education and Care, Paper commissioned for the Education for All (EFA) global monitoring report 2007, o.O. 2006. Internet  : http  ://unesdoc.unesco.org/images/0014/001474/147470e.pdf (2010-02–23).   3 Die historischen Untersuchungen in der systemtheoretischen Tradition von Niklas Luhmann haben dieser Unterscheidung große Aufmerksamkeit beigemessen, vgl. v. a. Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Frankfurt am Main 1988.   4 Fritz Ringer, Comparison and Causal Explanation, in  : Comparative Education 42 (2006), 363–376.   5 Vgl. Christopher Winch, Education, Work and Social Capital  : Towards a New Conception of Vocational Education, London 2000.   6 Erste Schritte und Überlegungen dazu finden sich z. B. bei Klaus Seitz, Bildung in der Weltgesellschaft. Gesellschaftstheoretische Grundlagen Globalen Lernens, Frankfurt am Main 2002.   7 Ein Überblick über die Literatur findet sich bei Aaron Benavot/Julia Resnik/Javier Corrales, Global Educational Expansion, Cambridge, MA, 2006. Internet  : http  ://www.amacad.org/publications/Benavot.pdf (2010-02–23)  ; vgl auch Julia Resnik, Hg., The Production of Educational Knowledge in the Global Era, Rotterdam/Taipeh 2008.   8 Vgl. z. B. John L. Rury, The Curious Status of the History of Education  : A Parallel Perspective, in  : History of Education Quarterly 46 (2006), 571–598.   9 Eine Analyse unterschiedlicher geistesgeschichtlicher Zugänge zeigt anschaulich Jürgen Oelkers, Nohl, Durkheim, and Mead  : Three different Types of ‚History of Education‘, in  : Studies in Philosophy and Education 23 (2004), 347–366  ; vgl. auch Rita Casale/Daniel Tröhler/Jürgen Oelkers, Hg., Methoden und Kontexte. Historiographische Probleme der Bildungsforschung, Göttingen 2006.

432

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 432

22.09.2010 07:50:45

Erziehungswesen

10 Vgl. als frühe Beispiele Peter Flora, Modernisierungsforschung, Opladen 1974  ; Peter Flora/Arnold J. Heidenheimer, Hg., The Development of Welfare States in Europe and America, New Brunswick 1981. 11 Marc-Antoine Jullien de Paris, Skizzen und Vorarbeiten zu einem Werk über die Vergleichende Erziehung, Deutsche Ausgabe hg. von Hans Espe, Berlin 1954 [Orig. 1817], zit. n. Jürgen Schriewer, Stichwort  : Internationaler Vergleich in der Erziehungswissenschaft, in  : Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 3 (2000), 495–515, 498. 12 Vgl. die etwas polemische Sicht dazu aus der Sicht eines historisch orientierten Soziologen, Randall Collins, The Mega-Historians, in  : Sociological Theory 3 (1985), 114–122. 13 Michael Sadler, How far can we learn anything of practical value from the study of foreign systems of education [Orig. 1900], reprint in  : Comparative Education Review 7 (1964), 307–314  ; zitiert nach Schriewer, Vergleich, 502. 14 Vgl. Aaron Benavot/Julia Resnik, Lessons From the Past  : A Comparative Socio-Historical Analysis of Primary and Secondary Education, in  : Benavot/Resnik/Corrales, Hg., Expansion, 1–89  ; vgl. auch David Phillips/Kimberly Ochs, Hg., Educational Policy Borrowing  : Historical Perspectives, Oxford 2004. 15 Schriewer, Vergleich, 505  ; Bernd Zymek, Das Ausland als Argument in der pädagogischen Reformdiskussion, Ratingen 1975. 16 Vgl. Hartmut Kaelble/Jürgen Schriewer, Hg., Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts-, und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2003. 17 Vgl. Talcott Parsons, Das System moderner Gesellschaften, München 1976 (Orig. The System of Modern Societies, 1971), 120–125  ; vgl. auch Beate Krais, Erziehungs- und Bildungssoziologie, in  : Harald Kerber/Arnold Schmieder, Hg., Spezielle Soziologien. Problemfelder, Forschungsbereiche, Anwendungsorientierungen, Reinbek 1994, 556–576  ; sowie OECD, Redefining Tertiary Education, Paris 1998. 18 „Funktionalistisch“ meint Erklärungen von gesellschaftlichen Systemen aus den ihnen zugeschriebenen Funktionen, ohne beispielsweise auf die Aushandlung heterogener oder agonaler Interessen zu achten. 19 „Rationalistisch“ meint Erklärungen von gesellschaftlichen Systemen und Handlungen von Einzelnen und Gruppen aus der ihnen unterstellten „Zweckrationalität“, ohne auf andere Handlungsmotive und Antriebe zu achten. 20 In der ‚Presidential Address‘ zum 40. Jahrestag der History of Education Society, wenn man diese als ‚repräsentativen Ort‘ betrachtet, werden v. a. zeitgeschichtliche Fragen aus der Thatcher-Ära thematisiert, und trotz der Bezugnahme auf Nationalgeschichte und Globalisierung wird die koloniale Vergangenheit überhaupt nicht angesprochen, vgl. Gary McCulloch, Forty Years On  : Presidential Address to the History of Education Society, London, 4. November 2006, in  : History of Education 35 (2007), 1–15. 21 Vgl. Barry Wright, Australia 1788–1988  : An Aboriginal Perspective on the Centennial, in  : Education 108 (1988), 325–329  ; Jan Grey/Quentin Beresford, A ‚formidable challenge‘  : Australia’s Quest for Equity in Indigenous Education, in  : Australian Journal of Education 52 (2008), 197–223. 22 Vgl. Ana Isabel Madeira, Comparative Studies in the History of Colonial Education  : Considerations on Comparison in the Lusophone Space, in  : SÍSIFO. Educational Sciences Journal 01 (2006), 37–55. 23 Vgl. Andrew F. Clark, Review Essay The West and the Rest  : Rewriting Global History, in  : Journal of Third World Studies 19, (2002) 269–273, 270  ; zur Entwicklung der Konzeptionen und der wissenschaftlichen Institutionalisierung nach 2000 vgl. Matthias Middell, Editorial, Focus  : Welt- und Globalgeschichte in Europa, in  : Historical Social Research 31(2006), 4–12. 24 Vgl. den Abriss der Entwicklung der ISCHE bis nach der Jahrtausendwende in Marc Depaepe, It’s

433

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 433

22.09.2010 07:50:45

Internationale Erziehungswesen Arbeitsteilung

a Long Way to … an International Social History of Education  : in Search of Brian Simons’s Legacy in Today’s Educational Historiography, in  : History of Education 33 (2004), 531–544. 25 Vgl. Marcel van der Linden, Labour History  : The Old, the New, and the Global, in  : African Studies 66 (2007), 169–180  ; ders., Global Labour History and the ‚Modern World System‘  : Thoughts at the Twenty-fifth Anniversary of the Fernand Braudel Center, in  : International Review of Social History 46 (2001), 423–459. 26 Vgl. James Blaut, The Colonizer’s Model of the World, New York 1993, 9. 27 Vgl. Marcelo Caruso, World Systems, World Society, World Polity  : Theoretical Insights for a Global History of Education, in  : History of Education 37 (2008), 825–840. 28 Vgl. Bettina Heintz/Richard Münch/Hartmann Tyrell, Hg., Weltgesellschaft. Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen, in  : Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2005. 29 Manche Autoren sehen Globalisierung als alternatives Paradigma zu jenem der Modernisierung, mit dem wesentlichen Unterschied, dass das Lokale, die Fragmentierung, die Differenzierung als gleichbedeutende Prozesse mit der Integrationsbewegung gesehen werden, vgl. z. B. Arif Dirlik, Globalization as the End and the Beginning of History  : The Contradictory Implications of a New Paradigm, GHC-Working Paper 00/3, Institute on Globalization and the Human Condition (2000), http  ://globalization.mcmaster.ca/wps/dirlik.PDF (20.2.2010). 30 Sandip Hazareesingh/Jonathan Curry-Machado, Editorial – Commodities, Empires, and Global History, in  : Journal of Global History 4 (2009), 1–5, 5. 31 Vgl. Brian Platt, Education  : Overview, in  : Peter N. Stearns, Hg., Oxford Encyclopedia of the Modern World. 1750 to the Present, Bd. 3, Oxford 2008, 35–41  ; Yves Laberge, Universities  : Overview, in  : Stearns, Encyclopedia, 449–451. 32 Aaron Benavot/Julia Resnik, Lessons From the Past  : A Comparative Socio-Historical Analysis of Primary and Secondary Education, in  : Benavot/Resnik/Corrales, Expansion, 1–89. 33 Randall Collins, A Micro-Macro Theory of Intellectual Creativity  : The Case of German Idealist Philosophy, in  : Sociological Theory 5 (1987), 47–69, 58. 34 Allan Bloom, The Closing of the American Mind, New York 1987  ; Richard Hofstadter, Anti-Intellectualism in American Life, New York 1963. 35 Christopher Jencks/David Riesman, The Academic Revolution, New York 1969  ; v. a. die Kapitel  : The Academic Revolution in Perspective, 1–27, und Reforming the Graduate Schools, 510–544. 36 Vgl. OECD, The Response of Higher Education Institutions to Regional Needs, Paris 1999  ; Clark Kerr, The great transformation in higher education 1960–1980, Albany 1991  ; v. a. Kapitel  : Structure – the American mixture of higher education in perspective  : Four dimensions, 27–47. 37 Vgl. Fritz Ringer, Introduction, in  : Detlef K. Müller/Fritz Ringer/Brian Simon, The Rise of the Modern Educational System  : Structural Change and Social Reproduction 1870–1920, Cambridge u. a. 1987, 1–12. 38 Vgl. die anschaulichen und detaillierten Beschreibungen in James Van Horn Melton, Absolutism and the Eighteenth-Century Origins of Compulsory Schooling in Prussia and Austria, Cambridge u. a. 1988  ; sowie bei Margaret S. Archer, Social Origins of Educational Systems, London/Beverly Hills 1979. 39 Diese Frage wird heute beispielsweise in der gemeinsamen Erforschung der gemeinsamen Geschichte durch portugiesische und brasilianische HistorikerInnen betont  ; ebenso ist in der Forschung über die australische Geschichte ersichtlich, wie reformorientierte Kräfte aus dem britischen Kolonialland teilweise versuchten, ihre fortschrittlichen Ideen in der Kolonie zu erproben, wie die russischen Reformisten im Zarismus eine Zeit lang versuchten, ihre Reformideen in Sibirien anzuwenden und auszuprobieren. 40 Vgl. die Beschreibungen und Literaturangaben in Benavot/Resnik, Lessons, 20–25.

434

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 434

22.09.2010 07:50:45

Erziehungswesen

41 Benavot/Resnik, Lessons, 20–39. 42 Vgl. Archer, Origins  ; England, Dänemark, Frankreich, Russland. 43 Für Lateinamerika gibt es Hinweise auf eher kontraproduktive Wirkungen, vgl. Benavot/Resnik, Lessons, 29–30  ; es wird hier auf Phänomene hingewiesen, die dem bekannten Problem von „exit and choice“ entsprechen  : Unterfinanzierung und verstärkte private Wahlmöglichkeiten führen dazu, dass die Begüterten das öffentliche System verlassen, was die Anreize und den Druck für Verbesserungen reduziert und zu einer weiteren Verschlechterung bzw. zu einer Abwärtsspirale führt  ; vgl. Albert O. Hirschman, Exit, Voice, and Loyalty  : Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge, MA 1970. 44 Benavot/Resnik, Lessons, 21. 45 Vgl. Melton, Absolutism. 46 Benavot/Resnik, Lessons, 37. 47 Howard Becker, A School Is a Lousy Place To Learn Anything, in  : American Behavioral Scientist 16 (1972), 85–105  ; Susan E. Berryman/Thomas R. Bailey, The Double Helix of Education and the Economy, New York 1992. 48 Vgl. das mittlerweile ‚klassische‘ Werk von Jean Lave/Etienne Wenger, Situated Learning  : Legitimate Periperal Participation, Cambridge 1990  ; das schulische Paradigma wird von Berryman/Bailey, Helix, folgendermaßen bestimmt  : (1) automatischer Transfer des Gelernten in neue Situationen, (2) die Lernenden sind passive Gefäße, (3) Lernen funktioniert nach Stimulus-Response, (4) Bevorzugung der richtigen Antwort, (5) Dekontextualisierung des Lernens. Alle diese Bestimmungen werden in den konstruktivistischen Lerntheorien infrage gestellt, die einen verzweigten und umstrittenen Diskurs ausmachen. Leicht zugängliche einführende Darstellungen finden sich bei Horst Siebert (Hg.), Konstruktivismus. Konsequenzen für Bildungsmanagement und Seminargestaltung. Deutsches Institut für Erwachsenenbildung, Bonn 1998, http  ://www.die-bonn.de/esprid/dokumente/doc–1998/siebert98_01.pdf (11.5.2010)  ; Reinhard Voß, Hg., Die Schule neu erfinden. Systemisch-konstruktivistische Annäherungen an Schule und Pädagogik, Neuwied 1999  ; Kersten Reich, Systemisch-konstruktivistische Pädagogik. Einführung in Grundlagen einer interaktionistisch-konstruktivistischen Pädagogik, Neuwied, 2002  ; Sabine Hoidn, Selbstorganisiertes Lernen im Kontext – einige Überlegungen aus lerntheoretischer Sicht und ihre Konsequenzen, in  : Berufs- und Wirtschafts­pädagogik – online, Ausgabe Nr. 13 (2007), http  ://www.bwpat.de/ausgabe13/hoidn_bwpat13.pdf (11.5.2010). 49 Vgl. Jeremy Pool, Education  : Africa, in  : Stearns, Encyclopedia, 41–43. 50 Das System der Prüfungen wurde auch in Japan temporär und in Korea mit eingeschränkter Bedeutung eingesetzt. 51 Vgl. Brian Platt, Education  : Traditional Education in East Asia, in  : Stearns, Encyclopedia, 44  ; Timothy B. Weston, Education  : China, in  : Stearns, Encyclopedia, 44–46. 52 Manuel E. Contreras, Education  : Latin America, in  : Stearns, Encyclopedia, 52–53. 53 Vgl. Linda Herrera, Education  : The Middle East, North Africa, and Central Asia, in  : Stearns, Encyclo­ pedia, 54–58. 54 „Although often roughly translated as ‚school‘, a maktab can more accurately be translated as a place for learning religious and cultural literacy“, Herrera, Education, 54. 55 Vgl. Patrick J. Harrigan, Education  : Europe, in  : Stearns, Encyclopedia, 46–50. 56 Vgl. Reinhart Schneider, Die Bildungsentwicklung in den westeuropäischen Staaten 1870–1975, in  : Zeitschrift für Soziologie 11 (1982), 207–226  ; zur Messung der Beteiligung wurde die SchülerInnenzahl auf die 5–14-Jährigen bezogen. 57 Vgl. Robert Newton Barger, Education  : The United States, in  : Stearns, Encyclopedia, 58–62. 58 Die Humankapitaltheorie ist der vorherrschende Ansatz der Ökonomie für das Verständnis der Erziehung und geht davon aus, dass die Ausgaben für Erziehung als Investitionen zu sehen sind, die

435

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 435

22.09.2010 07:50:45

Internationale Erziehungswesen Arbeitsteilung

einen Ertrag bringen, welcher empirisch langfristig etwa ebenso hoch ist wie der Ertrag anderer Formen von Kapital. 59 Vgl. Charles R. Day, Universities  : Europe, in  : Stearns, Encyclopedia, 451–455  ; vgl. auch Sheldon Rothblatt/Björn Wittrock, Hg., The European and American University since 1800  : Historical and Sociological Essays, Princeton, N.J. 1983. 60 Vgl. Hans Martin Krämer, Universities  : East Asia, in  : Stearns, Encyclopedia, 455–457. 61 Vgl. Claudio Rama, Universities  : Universities and University Reforms in Latin America, in  : Stearns, Encyclopedia, 457–459. 62 Vgl. Béatrice Ziegler/Silvia Bolliger, Historikerinnen und ihre Disziplin an der Universität Zürich  : Definitions(ohn)macht durch fehlende Institutionalisierung, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 21 (2010) 1, 143–174. 63 Francisco O. Ramirez/Christine Min Wotipka, Slowly but Surely  ? The Global Expansion of Women’s Participation in Science and Engineering Fields of Study, in  : Sociology of Education 74 (2001), 231–251. 64 Vgl. Evan Schofer/John W. Meyer, The Worldwide Expansion of Higher Education in the Twentieth Century, in  : American Sociological Review 70 (2005), 898–920. 65 Vgl. Schneider, Bildungsentwicklung  ; zur Messung der Beteiligung wurden die Studierenden auf die 20–24-Jährigen bezogen. 66 Schneider, Bildungsentwicklung, 219 f. 67 Vgl. in Anlehnung an Martin Trow und Ulrich Teichler  : in OECD, Redefining, 9. 68 Ulrich Teichler, Europäische Hochschulsysteme  : Die Beharrlichkeit vielfältiger Modelle, Frankfurt am Main/New York 1990, 48. 69 Vgl. Norbert Wollschläger/Helga Reuter-Kumpmann, Zur Geschichte der Berufsbildung in Europa, in  : Europäische Zeitschrift für Berufsbildung 32 (2004), 6–17. Internet  : http  ://www.cedefop.europa. eu/etv/Upload/Information_resources/Bookshop/399/32-de.pdf (2010-03-01)  ; vgl. auch die Beiträge in Vibe Aarkrog/Christian Helms Jørgensen, Hg., Divergence and Convergence in Education and Work, Bern u. a. 2008. 70 Frankreich 1791, Deutschland 1811 (hier wurden 1897 wieder Handwerksorganisationen mit Ausbildungsinstitutionen eingerichtet), Niederlande 1806, vgl. Wollschläger/Reuter-Kumpmann, Geschichte. 71 Vgl. Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs, 5 Bde., Wien 1982/1983/1984/1986/1988. 72 Vgl. John Middleton/Adrian Ziderman/Arvil Van Adams, Skills for Productivity  : Vocational Education and Training in Developing Countries, Oxford 1993  ; vgl. auch Klaus Schaak/Rudolf Tippelt, Hg., Strategien der internationalen Berufsbildung, Frankfurt am Main 1997. 73 Benavot/Resnik, Lessons, 51–56  ; vgl. auch Andy Green, Education and State Formation  : The Rise of Education Systems in England, France and USA, New York 1990  ; sowie ders., Education, Globalization and the Nation State, London 1997. 74 Vgl. Yossi Shavit/Hans Peter Blossfeld, Hg., Persistent Inequality, Oxford 1993  ; Lotty Eldering, Multiculturalism and Multicultural Education in an International Perspective, in  : Anthropology and Education Quarterly 27 (1996), 315–330. 75 Benavot/Resnik, Lessons, 52–53. 76 Philip Foster, Education and Social Differentiation in Less Developed Countries, in  : Comparative Education Review 20 (1977), 211–229  ; Indermit S. Gill/Fred Fluitman/Amit Dar, Vocational Education and Training Reform  : Matching Skills to Markets and Budgets, Washington D.C./New York 2000. 77 Zum Aufkommen des Humankapital- und Wachstumsparadigmas siehe Theodore W. Schultz, In

436

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 436

22.09.2010 07:50:45

Erziehungswesen

Menschen Investieren. Die Ökonomik der Bevölkerungsqualität, Tübingen 1986 [amerikanisches Original 1981]. 78 OECD, What schools for the future  ? Paris 2001.

437

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 437

22.09.2010 07:50:45

Yves Ciampi, französischer Filmregisseur (1921–1982), telefoniert von einem Taxistand in Zürich, Schweiz, im Jahr 1965. Bildrechte: Keystone/laif

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 438

22.09.2010 07:50:45

Kapitel 14

Kommunikationsmedien und Gesellschaft Jörg Requate

Einleitung Als der Medientheoretiker Marshall McLuhan 1962 sein Buch über das Ende der Gutenberg-Galaxis veröffentlichte, prägte er dort den Begriff vom global village  : Fasziniert vom Aufstieg des Fernsehens und dessen Möglichkeit, Bilder und Berichte aus allen Ecken der Welt ins heimische Wohnzimmer zu holen, sah er die Welt zu einem Dorf zusammenrücken, in dem jeder über alles Bescheid wissen konnte.1 Erst mit dem world wide web allerdings scheint der Begriff seine volle Entsprechung erreicht zu haben. Die enorme Geschwindigkeit, mit der sich die weltweiten Kommunikationsbedingungen nicht erst seit McLuhans Diktum verändert haben, ist unübersehbar. Verdichtung und Beschleunigung der Kommunikation gehören seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu den Momenten, welche die Entwicklungen nationaler Gesellschaften sowie die Internationalisierungs- und Globalisierungsprozesse fundamental beeinflusst haben. Technische Erfindungen schufen hierfür immer wieder neue Voraussetzungen. Die Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert bildete in diesem Kontext eine wichtige Zäsur  : Zum einen entwickelte sich die Französische Revolution zu einem Kommunikationsereignis, das nicht nur in Europa, sondern weit darüber hinaus die Aufmerksamkeit auf sich zog und ein enormes Bedürfnis nach einer schnellen und kontinuierlichen Berichterstattung schuf.2 Zum anderen setzte ein Prozess der technischen Innovationen ein, der den wachsenden Bedarf an Wissen und Informationen einerseits immer schneller befriedigen konnte und andererseits immer neu erzeugte. Im ausgehenden 18. Jahrhundert entstanden die Grundlagen der Telegrafie, die erst in optischer und seit den 1830er-Jahren in elektrischer Form für einen zunächst sehr eingeschränkten, staatlichen Verwenderkreis und schließlich auch für kommerzielle Nutzer eine neue Dimension der Nachrichtenweiterleitung ermöglichte. Parallel dazu verlief die Entwicklung der Drucktechnik, die mit der Erfindung der Schnellpresse am Beginn des 19. Jahrhunderts und der Rotationspresse, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ihren Siegeszug antrat, für ein rasant wachsendes Tempo und einen immer größeren Output an 439

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 439

22.09.2010 07:50:45

Internationale Kommunikationsmedien Arbeitsteilung

Druckerzeugnissen sorgte. Schließlich erweiterten und perfektionierten die verschiedenen Formen der Datenübermittlung und der Reproduktionstechniken im 20. Jahrhundert vom Kino über das Telefon, Radio und Fernsehen bis zum Computer in permanenter Form die kommunikativen Möglichkeiten. Diese technischen Entwicklungen lieferten jedoch nur die Basis für ihre gesellschaftliche Verwendung, in der sich dann erst die Bedeutung der Erfindungen entfaltete. So ergibt sich die Reichweite der kommunikationstechnischen Neuerungen nie aus sich selbst heraus, sondern erschließt sich erst im jeweiligen historischen Kontext. Dabei ist technisch-medial vermittelte Kommunikation zudem immer in wesentlich umfassendere Prozesse interpersonaler und nicht technisch-medial gestützter Kommunikation eingebunden. Das erfordert auch, der Versuchung zu widerstehen, den Zäsurcharakter der jeweils neuen Medien überzubetonen. Vom Buchdruck bis zum Computer waren diese Erfindungen jeweils mit ebenso großen Hoffnungen wie Befürchtungen und der Behauptung verbunden, dass sich nun „alles ändere“.3 Die mit der Erfindung neuer Medien verbundenen Neuerungen setzten gleichwohl nie schlagartig ein  : Sie hatten in aller Regel Vorläufer und zudem fanden immer Aneignungsprozesse statt, die die neuen Medien in die vorhandenen gesellschaftlichen und persönlichen Kommunikationsprozesse einbanden. Daraus folgt auch, dass die Kommunikationsmedien immer nur einen Teil der ungeheuer vielfältigen gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsprozesse darstellen. Kommunikationsmedien prägen und dominieren diese Kommunikationsprozesse zwar häufig, bilden diese aber nicht einfach ab. Diese an sich banale Erkenntnis ist von durchaus weitreichender Bedeutung für Historiker  : Die interpersonalen und nicht-medialen Kommunikationsprozesse sind in aller Regel nicht mehr oder nur noch ansatzweise erfassbar. Das bedeutet nicht nur, dass Historikern somit ein großer Teil der Kommunikationsprozesse verschlossen bleibt, sondern auch, dass ihnen die Einbettung medialer Kommunikation in die interpersonale Kommunikation häufig entgeht. Selbst wenn diese Einbettung auf der Ebene der Quellen oft nur schwer rekonstruiert werden kann, ist es wichtig, der Gefahr zu entgehen, die mediale Kommunikation in ihrer jeweiligen Neuheit zu verabsolutieren. Für die Erfindung des Buchdrucks ist gegen die These von der radikalen Zäsur gezeigt worden, wie sich das neue Kommunikationsmedium in alte Kommunikationsdispositive eingefügt hat.4 Grundsätzlich stellt sich diese Frage jedoch nicht nur bei der Erfindung, sondern auch bei der Durchsetzung neuer Medien – nicht zuletzt außerhalb Europas. Die Frage, wie neue Medien bestehende Kommunikationsgefüge verändert haben und was dies für die Gesellschaften bedeutet, ist äußerst komplex und empirisch vielfach noch kaum beantwortet.5 440

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 440

22.09.2010 07:50:45

Kommunikationsmedien

Dargestellt werden können aber die strukturellen Bedingungen, denen die Medien in den je unterschiedlichen Gesellschaften einerseits und in Bezug auf die globalen Kommunikationsprozesse andererseits unterlagen und weiterhin unterliegen. Fünf zentrale Aspekte sollen hier im Folgenden herausgearbeitet werden  : Fundamental für die Bedeutung, die den Kommunikationsmedien innerhalb von Gesellschaften zukommt, ist zuerst die Frage, ob und in welchem Maß Pressefreiheit herrscht. Pressefreiheit ermöglicht nicht nur die Artikulation von Meinungen und die Verbreitung von Nachrichten, sondern ist auch die Basis für gesellschaftliche Selbstorganisation schlechthin. Denn nur dort, wo Pressefreiheit herrscht, können politische Gruppierungen in der Öffentlichkeit auftreten, für ihre Ziele werben, Anhänger gewinnen und so letztlich überhaupt erst in Erscheinung treten. Umgekehrt monopolisieren Diktaturen nicht nur die politische Macht, sondern versuchen konsequenterweise auch die politische Kommunikation so weit wie möglich zu beherrschen und damit Prozesse gesellschaftlicher Selbstorganisation zu unterbinden. Zweitens sind Medien ökonomischen Bedingungen unterworfen, und zwar vor allem dort, wo sie frei von direkten politischen Einschränkungen sind. Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen unterliegen den Mechanismen des Marktes und erleben von daher ähnliche Prozesse von „Marktbereinigung“ und „Marktkonzentration“ wie andere Unternehmen auch. Das Besondere an den Medienunternehmen ist jedoch, dass sie auf der einen Seite spezifische Beziehungen mit politischer Macht eingehen (können) und auf der anderen Seite aufs Engste mit kulturellen Prozessen verbunden sind. Beides gilt insbesondere auf der globalen Ebene, auf der bestimmte Medien im Verbund mit politischer Macht auf der einen und in der Verbindung mit der Konsum- und Kulturindustrie auf der anderen Seite eine erhebliche Dominanz ausüben können. Diesen beiden Aspekten soll im dritten und vierten Abschnitt dieses Beitrags nachgegangen werden. Unter dem Stichwort der „Entwicklung einer Weltnachrichtenordnung“ soll dabei zunächst gezeigt werden, wie die Nachrichtenagenturen als kommerzielle, aber stark mit der Politik verbundene Unternehmen die Welt unter sich aufgeteilt haben und welche Gegenkräfte sich dazu entwickelten. Anschließend wird der Frage nachgegangen, in welchem Maße die medialen und kommunikativen Globalisierungsprozesse durch die Dominanz der westlichen und insbesondere der amerikanischen Medienkonzerne als Amerikanisierungsprozesse begriffen werden können. Fünftens wird schließlich der Sonderfall des arabischen Fernsehsenders AlDschasira in den Blick genommen, der auf der Basis des Modells westlich geprägter Professionalitätsmaßstäbe eine unabhängige Stimme aus dem Bereich der nicht-westlichen Welt geschaffen hat und der für die arabischen Gesellschaften 441

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 441

22.09.2010 07:50:45

Internationale Kommunikationsmedien Arbeitsteilung

von ebenso großer Bedeutung ist wie als Stimme der arabischen Welt im globalen Kommunikationsprozess. Dieser Teil verbindet auch noch einmal die leitenden Fragen nach dem selbstorganisierenden Potenzial der Medien, der Macht der kommerziellen Sender und der damit verbundenen medialen Dominanz in politischer und kultureller Hinsicht.

Pressefreiheit, Zensur und gesellschaftliche Selbstorganisation Zwischen einer gänzlich gelenkten und einer gänzlich freien Medienlandschaft haben sich historisch so viele Varianten entwickelt, dass es ausgeschlossen ist, hier einen nur halbwegs tragfähigen Überblick zu liefern. Wohl aber lässt sich zeigen, in welchem Maße Prozesse der gesellschaftlichen Selbstorganisation – häufig im Übergang von autoritären zu weniger autoritären oder liberalen Regimes – unmittelbar mit medial-kommunikativen Veränderungsprozessen im Zusammenhang standen. So waren die Amerikanische und die Französische Revolution – wie spätere Revolutionen auch – nicht zuletzt Kommunikationsrevolutionen. Die politischen Protagonisten schufen sich häufig Publikationsorgane als Plattformen für ihre Positionen und zum Teil als Kern von politischen Gruppierungen oder Parteien. So gründete Samuel Adams mit der Boston Gazette ein wichtiges Sprachrohr für Revolutionäre, die sich vom „Mutterland“ lossagten. Und einige Jahre später gründete Alexander Hamilton 1789 die Gazette of the United States, die sich in ihrem Programm darauf festlegte, die Politik der Regierung, der Hamilton als Fi­nanzund Wirtschaftsminister angehörte, zu unterstützen. Als Thomas Jef­ferson 1790 aus Frankreich zurückkehrte, das Außenministerium übernahm und zum Widersacher Hamiltons wurde, verschaffte auch er sich mit der National Gazette ein publizisti­ sches Forum, um Anhänger für seine und gegen Hamiltons Linie zu werben. Beide Zeitungen standen so am Beginn eines Parteibildungsprozesses, der sich in unterschiedlichen Konstellationen und mit sehr unterschiedlichem Erfolg bei sehr vielen revolutionären Umbrüchen immer wieder beobachten lässt.6 Nicht wenige der Protagonisten der Französischen Revolution bedienten sich oft eigens geschaffener Publikationsorgane, die mit der Dynamik der Ereignisse auch bald wieder verschwanden.7 Ähnliches galt etwa im Jahr 1848, als in ganz Europa Revolutionen ausbrachen und zumindest kurzzeitig Pressefreiheit durchzusetzen vermochten. Die Fraktionsbildungen in den Parlamenten gingen häufig Hand in Hand mit der Gründung von Zeitungen, die aber die Revolution zumeist nicht überdauerten.8 Was sich im Kontext von Revolutionen sowohl auf politischer als auch auf kommunikativer Ebene kurz und eruptiv vollzog, verlief jenseits der revolutionären 442

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 442

22.09.2010 07:50:45

Kommunikationsmedien

Umbrüche langfristiger und ruhiger. Grundsätzlich aber waren auch hier die politischen Formierungsprozesse aufs Engste mit der Entstehung und Entwicklung von Publikationsorganen verbunden, die für die Verbreitung und Popularisierung der jeweiligen politischen Ideen und Programme sorgen sollten. Parlamentarisierung, Demokratisierung und Pressefreiheit bedingten sich somit gegenseitig. Konsequenterweise war England als Mutterland des Parlamentarismus auch das Mutterland der Pressefreiheit. Whigs und Tories traten schon im 18. Jahrhundert nicht nur im Parlament, sondern auch publizistisch in Erscheinung. Eine Einschränkung der Pressefreiheit wäre hier gleichbedeutend gewesen mit der Einschränkung der politischen Rechte insgesamt.9 Entsprechend erweiterte der amerikanische Kongress die Verfassung 1791 durch das First Amendment, das jede Gesetzgebung, die auf eine Einschränkung der Presse zielte, verbot. Auf dem europäischen Kontinent war die Geschichte der Presse im 19. Jahrhundert unmittelbar mit der Entwicklung der politischen Freiheiten und der Formierung der politischen Strömungen verbunden. Im Deutschen Bund zielten die Karlsbader Beschlüsse von 1819 als Reaktion auf vermeintliche revolutionäre Tendenzen darauf, eben diese Prozesse zu unterbinden. Kurzfristig gelang dies, doch der Druck, der sich unter diesem Regime aufstaute, war erheblich und fand immer wieder Möglichkeiten, sich zu entladen  : Wo es kurzzeitig auch nur geringfügige Ansätze zu einer liberaleren Handhabung der Bestimmungen gab, entstanden kurzlebige politische Blätter, oft im Verbund mit politischen Formierungsprozessen. Karl von Rottecks Freisinniger, Johann Georg Wirths Deutsche Tribüne, die Rheinische Zeitung, die Karl Marx einige Monate bis zu ihrem Verbot leitete  : Diese Blätter sind exemplarisch für die vielfältigen publizistischen Kristallisationspunkte entstehender politischer Bewegungen, wie sie nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa im 19. Jahrhundert typisch waren.10 So war der Aufstieg des Liberalismus in Europa unmittelbar mit einer vielfältigen liberalen Presse verbunden. Vergleichbares galt für die katholischen, konservativen, sozialdemokratischen und sozialistischen Zeitungen, die sich alle parallel zu den politischen Bewegungen, teils in Abhängigkeit von den Parteien, teils in eher unterstützender Funktion, entwickelten. Die Unterschiede zwischen den europäischen Ländern waren dabei gewiss erheblich. Setzte sich in den meisten nordeuropäischen Ländern – in Norwegen schon 1814, in der Schweiz und in Belgien 1830 und nur wenig später in Schweden, Dänemark und den Niederlanden – die Pressefreiheit schon vor der 1848er-Revolution durch, war der Spielraum für die Presse etwa in Spanien oder in Südosteu­ ropa lange Zeit noch sehr gering.11 Im Habsburgerreich liberalisierte sich zwar seit den 1860er- und 1870er-Jahren das Klima insgesamt deutlich. Vor allem die Wiener Presse profitierte davon und erlebte einen rasanten Aufstieg. Doch Zeitungen, 443

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 443

22.09.2010 07:50:45

Internationale Kommunikationsmedien Arbeitsteilung

die sich zum Sprachrohr der unterschiedlichen Nationalitäten im Habsburgerreich machten, liefen schnell Gefahr, verboten oder gar zum Gegenstand von Hochverratsprozessen zu werden.12 Die zentrale Rolle der Presse in zivilgesellschaftlichen Formierungsprozessen wird mit Blick auf das Zarenreich besonders deutlich. Im langen 19. Jahrhundert lassen sich an der staatlichen Zensurpolitik und den sich rund um Pressepublikationen diversifizierenden politischen Meinungen die mit Argusaugen überwachte gesellschaftliche Selbstorganisation ebenso wie zwar changierende, aber doch langfristige Liberalisierungstendenzen im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft ablesen. Ähnlich wie später der Deutsche Bund mit den Karlsbader Beschlüssen unterdrückte die Regierung unter dem „Gendarmen Europas“, Nikolai I., nach dem gescheiterten Dekabristen-Aufstand von 1825 mit dem sogenannten „eisernen“ Zensurgesetz harsch eine keimende politische Öffentlichkeit.13 Die viel zitierte gesellschaftliche Grabesstille wurde bis zu den Großen Reformen der Sechzigerjahre des 19. Jahrhunderts nur selten durch Pressepublikationen durchbrochen. Am ehesten übten noch die elitären, sogenannten „dicken Journale“, wie der Sovremennik (Der Zeitgenosse) oder die Otečestvennye Zapiski (Die Vaterländischen Aufzeichnungen) politische Kritik. Tageszeitungen blieben bis unmittelbar nach dem Krimkrieg als Foren der öffentlichen Meinungsbildung nahezu bedeutungslos  : Unter Nikolaj I. druckten lediglich drei Tageszeitungen einen politischen Nachrichtenteil, wobei allein die St. Petersburger Nachrichten (St. Peterburgskie Vedomosti) eine gewisse journalistische Unabhängigkeit beanspruchten und seit den 1860er-Jahren als erste liberale Zeitung des Reiches galten. Gleichzeitig versuchte die zaristische Administration durch offiziöse Mitteilungsblätter – die Severnaja Počta (Nördliche Post, 1862–1868) und dem Nachfolger Pravitel’stvennyj Vestnik (Regierungsbote) –, die politische Öffentlichkeit zu lenken. Die 1860er und 1870er-Jahre brachten dann aber einen quantitativen wie qualitativen Sprung in der russischen Presseentwicklung. Erschienen 1855 lediglich 17 russischsprachige Organe mindestens zweimal die Woche, so waren es 1865 immerhin 49 und 1875 bereits 100. Diese Tendenzen waren auch in der russischen Provinz zu beobachten, wo zwischen 1830 und 1856 überhaupt keine Zeitung gegründet worden war, dann aber ebenfalls ein kleiner Gründungsboom einsetzte.14 Das im Zuge der Großen Reformen erlassene neue Zensurstatut von 1865 brachte zwar eine gewisse Liberalisierung der Pressepolitik, doch blieb die sich etablierende politische Öffentlichkeit bis zur Revolution von 1905 erheblichen Einschränkungen unterworfen. Allerdings war nicht nur die Zensur für den schmalen Pressemarkt verantwortlich, sondern vor allem die hohe Analphabetenrate des Zarenreiches  : 1897 konnten nur knapp 23 Prozent, 1913 gut 38 Prozent der Menschen 444

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 444

22.09.2010 07:50:46

Kommunikationsmedien

im europäischen Russland lesen. Die Zunahme der Lesefähigkeit in mittleren und unteren Schichten aber spiegelte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in der sich rapide ausweitenden kommerziellen Massenpresse  : 1890 erschienen bereits 152 russischsprachige Periodika mindestens zweimal pro Woche und 1914 allein 824 Tageszeitungen in den verschiedenen Sprachen des Imperiums.15 Die politische Bedeutung der Zeitungen war zudem erheblich  : Da sich politische Parteien erst ab 1905 gründen durften, wurde die Presse der Haupt- und vieler Gouvernementsstädte bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Ersatzforum für die erst seit 1906 existierende Reichsduma. Sie wurde zu einem konstitutiven Faktor der fragilen politischen Öffentlichkeit, indem gerade mehrheitlich liberal gesinnte Redakteure und Herausgeber ihren emanzipativen Anspruch, eine kritische Kontrollinstanz administrativen, lokalpolitischen und gesellschaftlichen Handelns zu sein, bis weit in die Provinzstädte hineintrugen. Nicht zuletzt der Boom der Lokalpresse nach 1905 stärkte die gesellschaftliche Selbstorganisation und die politische Lagerbildung. Die Presse stellte damit das Fundament der lauter werdenden und sich differenzierenden öffentlichen Meinung dar.16 Vergleichbar verlief die Entwicklung im Osmanischen Reich. Die Öffnung nach Westen in der Tanzimat-Epoche (1839–1876) war zunächst auch mit einer größeren politischen Meinungsfreiheit verbunden, die aber letztlich im engen, vom Regime vorgegebenen Rahmen bleiben sollte. So wurden in dem Maße, wie die ersten Zeitungen versuchten, Freiheiten zu nutzen, diese auch schnell wieder unterdrückt. Ähnlich wie in Zentraleuropa im Umbruch vom 18. zum 19. Jahrhundert entstand nun erst eine den neuen Bedingungen angepasste Zensurgesetzgebung.17 Erst die „Jungtürkische Revolution“ von 1908, in der eine „westlich“ und „modern“ orientierte Elite aus Militärs und Beamten die Autokratie des Sultans zu Fall brachte, nutzte dann auch die Presse für ihre Bewegung und machte sie zu einem wichtigen Medium der internen kommunikativen Festigung und der Werbung für ihre Ziele nach außen.18 Doch die Reichweite der Presse, sei es im Osmanischen Reich, in Russland oder auch in Spanien, zeigt sehr deutlich, in welchem Maße die Presse eine technische und gesellschaftliche Infrastruktur benötigte, die eng an ein städtisches Umfeld mit einer entsprechend kaufkräftigen und gebildeten sozialen Schicht gebunden war. Denn für die Verbreitung von Zeitungen brauchte es auf der technischen Seite nicht nur eine Druckerpresse, sondern auch Vertriebswege. Gesellschaftlich bedurfte es zudem nicht nur eines lesekundigen Publikums, sondern – zumindest für eine nicht reine Verlautbarungspresse – eine Schicht jenseits des Herrschaftsapparates, die Freiheiten erkämpfen und nutzen konnte. So entstand zwar in der Tradition der herrschaftlichen Verbreitung von Verlautbarungen und Nachrichten in China schon um 1730 mit der Jinbao (englisch  : 445

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 445

22.09.2010 07:50:46

Internationale Kommunikationsmedien Arbeitsteilung

Peking Gazette) eine Zeitung, die diese Funktion übernahm, aber noch weit davon entfernt war, eine Rolle für eine zivilgesellschaftliche Selbstorganisation spielen zu können. An Pressefreiheit war hier noch lange nicht zu denken. Deren Bedeutung zeigte sich allerdings einmal mehr in den Bereichen der unter britischer Herrschaft stehenden Vertragshäfen Shanghai oder Tianjin und in der britischen Kronkolonie Hongkong. Anders als die meisten sonstigen Kolonialmächte weiteten die Briten das Prinzip der Pressefreiheit zumindest in bestimmten Grenzen auch auf die von ihnen beherrschten Kolonialmächte aus. So wurde 1872 in Schanghai in britischchinesischer Kooperation die Zeitung Shenbao (Shanghai Daily News) gegründet, die sich ganz am Modell des britischen Journalismus orientierte.19 Wichtiger noch für einen Prozess, der sich zugespitzt als Beginn einer „räsonierenden chinesischen Öffentlichkeit“ bezeichnen lässt, war die Entstehung einer kritischen Meinungspresse im Anschluss an den chinesisch-japanischen Krieg im Jahr 1894/95. Diese konnte jedoch erst recht nur im Bereich der unter britischem Recht stehenden Vertragshäfen oder im Ausland erscheinen. Zudem war die Auflage dieser Blätter sehr klein und erreichte nur eine schmale gebildete Leserschaft. Die Bedeutung der Pressefreiheit für die Entstehung von Kristallisationspunkten gesellschaftlicher Selbstorganisation wird auch hier einmal mehr sichtbar. Ähnliches, aber in deutlich größerem Maßstab, galt in Indien. Auch hierher brachten die Engländer ihr Verständnis von Pressefreiheit mit und schlossen die kolonialisierte Bevölkerung davon nicht grundsätzlich aus. So entstand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den großen Städten eine zwar auf geringen Auflagen basierende, aber durchaus lebhafte Presselandschaft mit Freiheiten, von denen, wie Jürgen Osterhammel zu Recht schreibt, die Zeitungen im Deutschen Bund nur träumen konnten.20 Nach dem Indischen Aufstand von 1857 fürchteten aber auch die Briten das Potenzial der indischen Presse zur Vernetzung und Organisation des Widerstandes gegen die Kolonialherrschaft und unterwarfen sie einer schärferen Kontrolle. Im Vergleich zu anderen Kolonialgebieten blieb die indische Presse gleichwohl ungewöhnlich frei, sodass später auch im postkolonialen Indien sehr schnell eine hoch entwickelte und ausdifferenzierte Presselandschaft entstand, die unverkennbar von den britischen Einflüssen profitierte.21 Dies wird vor allem deutlich, wenn man die Situation in Indien mit der in Afrika vergleicht. Abgesehen von Kairo, das der Presse schon unter osmanischer Herrschaft vergleichsweise freie Bedingungen bot und das seit 1882 unter britischer Herrschaft zum unbestrittenen Zentrum einer arabischen Öffentlichkeit wurde, waren die Voraussetzungen für eine auch nur annähernd vergleichbare Entwicklung fast nirgendwo in Afrika gegeben.22 Zwar entstanden im anglophonen Afrika die ersten Zeitungen schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts  ; diese hatten jedoch durchgängig nur eine sehr geringe 446

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 446

22.09.2010 07:50:46

Kommunikationsmedien

Reichweite. Es gab einzelne Blätter, etwa in Sierra Leone oder in Liberia, die von Afroamerikanern herausgegeben wurden und die sich zur Stimme der Kolonisierten zu machen versuchten, doch waren dies seltene Ausnahmen.23 Immerhin entwickelten sich im britischen Herrschaftsbereich zunehmend seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts kleine Presseorgane, die zunächst oft nur wöchentlich oder ein- bis zweimal im Monat erschienen und einen geringen Umfang und eine sehr geringe Auflage hatten. Mit Unterstützung von britischen Journalisten und zunehmend auch in afrikanischer Eigenregie entstanden hier Artikulationsmöglichkeiten, die im Zuge des Prozesses und der Erringung der Unabhängigkeit immer mehr an Bedeutung zunahmen. Im frankophonen Afrika tauchten überhaupt erst rund hundert Jahre später als im anglophonen Afrika die ersten vor Ort gedruckten Blätter auf. Im Senegal, dem Zentrum des Afrique Occidentale Française, wurde 1914 zur Unterstützung des senegalesischen Politikers Blaise Diagne, der im gleichen Jahr in die französische Nationalversammlung gewählt wurde, die Zeitung La Démocratie du Sénégal gegründet. Diese und ähnliche Zeitungen repräsentierten jedoch nur eine kleine indigene und amalgamierte Oberschicht, waren vom Wohlwollen der französischen Kolonialmacht abhängig und blieben von ihrer Reichweite und ihrer politischen Bedeutung her weitestgehend marginal.24 Wie restriktiv im Vergleich zu England die Franzosen mit der indigenen Presse verfuhren, lässt sich am algerischen Beispiel verfolgen. Die Anfänge einer indigenen Presse reichten hier bereits bis in die 1890er-Jahre zurück  ; die zunächst noch meist kurzlebigen Zeitungen wurden von französisierten Muslimen, die für die Kolonialadministration beispielsweise als Übersetzer gearbeitet hatten, veröffentlicht. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs erschien eine Handvoll weiterer indigener, meist kurzlebiger Publikationen, oftmals zweisprachig auf Arabisch und Französisch, bevor dann nach 1918 eine wahre Flut an Zeitungsgründungen (vorwiegend französischsprachig) zu spüren war. In den 1930er-Jahren gesellten sich dann arabischsprachige Titel dazu, die erstmals der französischen Herrschaft gegenüber skeptisch oder sogar ablehnend eingestellt waren. Die Administration begann nun damit, diese „in ausländischer Sprache“ verfassten Zeitungen zu verbieten, da diese von ihnen nicht oder nur schlecht kontrolliert werden konnten. Die Artikulationsmöglichkeiten der arabischen Bevölkerung waren zwar vorhanden, doch blieb ihre Reichweite aufgrund ihrer politischen Ambivalenz und der äußerst limitierten materiellen Ressourcen begrenzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg professionalisierte sich die indigene Presse in einem gewissen Maße, blieb jedoch aufgrund der eskalierenden politischen Spannungen einer scharfen Repression unterworfen. Die Befreiungsbewegungen schufen sich dann eigene Publikationsorgane, die aber sehr schnell und klar im Dienste dieser 447

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 447

22.09.2010 07:50:46

Internationale Kommunikationsmedien Arbeitsteilung

Bewegungen standen, aus denen dann häufig die diktatorischen Regime der postkolonialen Zeit hervorgingen. In Algerien etwa zog die Befreiungsbewegung FLN (Front de Libération Nationale) nach dem gewonnenen Unabhängigkeitskrieg mit der politischen Herrschaft auch die Herrschaft über die Presse an sich. Für viele andere afrikanische Länder galt Vergleichbares. Nachdem der Kampf um Unabhängigkeit an vielen Orten – gewiss auf sehr bescheidenem Niveau – medial begleitet und geführt worden war und einen gewissen Pluralismus hervorgebracht hatte, verschwand dieser in aller Regel schnell wieder. Ein freies Zeitungswesen entwickelte sich daher auf dem gesamten afrikanischen Kontinent über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg in nur sehr geringem Maße. Am Ende des 20. Jahrhunderts zeichnet sich allerdings in vielen afrikanischen Ländern und Regionen eine Entwicklung ab, die die Phase, in der Zeitungen das Medium der entstehenden Pressefreiheit waren, überspringt und in der stattdessen die neuen Medien zur Artikulation von gesellschaftlichen und politischen Interessen genutzt werden.25 Eine besondere Rolle kommt hier vor allem dem Radio zu. Billig und einfach mit Batterien zu betreiben, hat das Radio die bei Weitem höchste Verbreitungsdichte in Afrika erlangt.26 Mit der Demokratisierung der afrikanischen Länder im ausgehenden 20. Jahrhundert hat es sich vielerorts zu einem Medium der gesellschaftlichen Artikulation und Selbstorganisation entwickelt – weit mehr als das Internet. Dessen Bedeutung ist vor allem dort groß, wo die Zensur – wie etwa in China oder im Iran – nicht nur jede freie Meinungsäußerung, sondern bereits jede unliebsame Information unterdrücken will. Die Bedeutung der Presse- und Informationsfreiheit als Gradmesser für politische Freiheiten wird somit in Zukunft eher noch zu- als abnehmen.

Kommerzialisierung und Medienkonzentration In seinem grundlegenden Buch zum Strukturwandel der Öffentlichkeit weist Jürgen Habermas der Kommerzialisierung der Presse eine zentrale Funktion für den von ihm diagnostizierten Niedergang der sich frei entfaltenden bürgerlichen Öffentlichkeit des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu. In Johann Friedrich Cotta, dem Gründer der Augsburger Allgemeinen Zeitung, sieht Habermas daher auch das Ideal des frühmodernen Verlegers, der die kommerzielle Basis seiner Zeitungen sicherte, „ohne sie jedoch als solche zu kommerzialisieren“.27 In Konzentrationsprozessen auf dem Medienmarkt, die als logische Konsequenz der Kommerzialisierung gelten können, sehen Kritiker so auch – jenseits der politischen Unterdrückung – die gefährlichste Bedrohung der Pressevielfalt und damit der Pressefreiheit. Diese 448

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 448

22.09.2010 07:50:46

Kommunikationsmedien

kritische Perspektive ist wichtig, bedarf aber zweier Nuancierungen  : Zum einen kann Cotta als einer der ersten und kommerziell erfolgreichen Medienunternehmer gelten. Auch wenn seine Zeitung für sich genommen keinen Gewinn abwarf, so war sie doch Teil einer Strategie, Autoren an sich zu binden, die die Basis für seinen lukrativen Verlag bildeten. Zum anderen war der Prozess der Kommerzialisierung nicht nur einer der Verdrängung, sondern auch der Innovation. In jedem Fall aber ist er einer der Prozesse, die die Entwicklung der Kommunikationsmedien seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert fundamental geprägt haben. Dies gilt in erster Linie zunächst für die Länder, in denen die politischen und materiellen Voraussetzungen dafür gegeben waren, also in Europa und in den USA, wirkte sich dann aber zunehmend auf der globalen Ebene aus. Nach der rasanten Expansion der Presse, die im ausgehenden 19. Jahrhundert in den westlichen Industriestaaten auf allen Ebenen zu verzeichnen ist, setzte schon bald darauf ein Prozess der Marktbereinigung und der Konzentration ein. Die amerikanische Presse hatte, was die Dynamik und die zeitlichen Abläufe anging, hier eine klare Vorreiterrolle inne.28 Prinzipiell ist die Abfolge von schneller Expansion und anschließender Konzentration im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert allerdings ebenso in England, Deutschland und Frankreich und auf quantitativ niedrigerem Niveau auch in den anderen europäischen Ländern zu beobachten.29 So folgte nach dem rasanten Wachstum des Zeitungsmarktes seit dem Ersten Weltkrieg ein zunehmender Konkurrenzkampf um die Leser und ein zunehmender Konzentrationsprozess, der sich vor allem in den USA als besonders dynamisch erwies.30 Es gebe kein anderes Geschäft, das so laut nach „organization and consolidation“ rufe wie das Zeitungsgeschäft, erklärte der New Yorker Zeitungsunternehmer Frank Munsey Anfang des 20. Jahrhunderts  : „For one thing, the number of newspaper is at least 60 percent greater than we need.“31 Ganz in diesem Sinne kaufte sich Munsey nach und nach im New Yorker Zeitungsmarkt ein und reduzierte die Zahl der Zeitungen auf diese Weise erheblich. Hatte es dort 1890 noch 15 Tageszeitungen mit zwölf Besitzern gegeben, reduzierte sich diese Zahl bis 1932 unter wesentlicher Beteiligung von Munsey auf neun Zeitungen und sieben Besitzer. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich in den anderen großen Städten ebenso wie über das gesamte Land verteilt beobachten. 1930 besaß William Randolph Hearst als erfolgreichster Zeitungsunternehmer 26 Tageszeitungen und 17 Sonntagszeitungen in insgesamt 18 Städten. Das Konsortium Scripps-Howard stand dem nur wenig nach. Auch wenn der Konzentrationsprozess zwischenzeitlich an Geschwindigkeit abnahm, setzte sich der Trend zur Reduktion der Tageszeitungen und lokaler Konkurrenz auf dem Zeitungsmarkt prinzipiell ungebrochen fort. Existierte in den USA um 1900 in rund 39 Prozent aller Städte nur eine Zeitung, galt 449

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 449

22.09.2010 07:50:46

Internationale Kommunikationsmedien Arbeitsteilung

dies 1920 für rund 55 Prozent der Städte, 1930 für rund 71 Prozent und 1970 für rund 86 Prozent.32 Diese Zahlen stehen hier nur exemplarisch für einen Konzentrations- und Verdrängungsprozess, der die Entwicklung des Medienmarktes in den USA und in Europa bestimmte. Dabei entwickelte sich vor allem in England und in den USA der Typus des reinen Presseunternehmers, der in der Gründung und im Kauf von Zeitungen vorrangig eine wirtschaftliche Investition und Presse somit als ein Wirtschaftsgut wie andere auch betrachtete. Nachdem der Investitionsbedarf für Zeitungen und Zeitschriften im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert stark angewachsen war, schafften es einige wenige Unternehmer, sich durch Aufkäufe und Innovationen neu auf dem Pressemarkt zu positionieren. Die bekanntesten von ihnen – William Randolph Hearst und Joseph Pulitzer in den USA, Alfred Harmsworth, später zu Lord Northcliffe geadelt, in England – gründeten und kauften zunächst Zeitschriften und Magazine, bevor sie sich auf das Terrain der Tageszeitungen wagten. Zudem waren diese Presseunternehmer zugleich erfahrene und fähige Journalisten, die in der journalistischen Innovation die maßgebliche Basis für den Erfolg ihrer Zeitungen sahen. Konkret bestand diese in der Entwicklung eines Journalismus, der einerseits die Schnelligkeit von Nachrichtenübermittlung zu einem wichtigen Qualitätskriterium machte und der andererseits in der Lage war, neue Leserschichten zu erschließen.33 So ging es aus wirtschaftlicher Perspektive um die Entwicklung von Zeitungen, die zu einem möglichst billigen Preis an eine möglichst große Zahl von Personen verkauft wurde. Wichtig ist dabei jedoch, dass sowohl in England als auch in den USA die Entwicklung eines populären Journalismus immer wieder an demokratietheoretische Ansprüche rückgebunden werden konnte.34 Die Kongruenz von Konsum und demokratischer Teilhabe spielte dabei die entscheidende Rolle. Auch auf dem europäischen Kontinent, insbesondere in Frankreich und Deutsch­ land, wurde der Pressemarkt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ­wirtschaftlich interessant. In Deutschland galt der „Generalanzeiger-König“ August Huck als Pro­ tagonist einer amerikanisierten Presse.35 Er baute sein Unternehmen mit ­einer Vielzahl von Zeitungen in aufstrebenden mittleren Städten aus, die er ­unter rein ökonomischen Gesichtspunkten auswählte. Seine wichtigsten Konkurrenten agierten ebenso. Auf dem rasant expandierenden Berliner Zeitungsmarkt des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts reüssierten die Verleger Rudolf Mosse, Leopold Ullstein und August Scherl.36 Im Vergleich der kontinentaleuropäischen mit der angloamerikanischen Entwicklung fällt allerdings auf, dass sich keiner von ihnen einen ähnlichen überragenden Namen als Presseunternehmer machen konnte wie Hearst, Pulitzer oder Northcliffe. Auch Alfred Hugenberg, der zum wichtigsten 450

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 450

22.09.2010 07:50:46

Kommunikationsmedien

Presseunternehmer der Weimarer Republik aufstieg, gründete seinen Ruf weniger auf sein unternehmerisches Schaffen als auf den politischen Einfluss, den er unter anderem mit seinen Zeitungen ausübte.37 Vergleichbares gilt für Frankreich. Jean Dupuy, der Verleger des Petit Parisien, dessen Auflage 1914 auf den bis dato weltweit unerreichten Spitzenwert von zwei Millionen Exemplaren anstieg, mischte sich wenig in das Tagesgeschäft ein. Dupuy – Minister in verschiedenen Kabinetten – gehörte zu jener vor allem in Frankreich großen Gruppe von Zeitungsunternehmern, die sich vorrangig als Politiker sahen und die Zeitung als publizistische Basis ihrer politischen Ambitionen. Auch außerhalb Frankreichs war für die Entwicklung der Presse in der Zwischenkriegszeit kennzeichnend, dass die Rückbindungen an das politische Milieu eher zu- als abnahmen. Dies galt für Deutschland und bis zu einem gewissen Grade auch für England.38 Hugenberg war in Deutschland der wichtigste, aber keineswegs der einzige parteinahe Verleger. In England versuchten sich mit Northcliffe, Beaverbrook und Rothermere Presseunternehmer zeitweise in politischen Karrieren, wenn auch letztlich nicht sehr erfolgreich.39 Schließlich engagierten sich auch in den USA die großen Verleger wiederholt. Hearst saß zeitweise für die Demokratische Partei im Repräsentantenhaus und zeigte sogar Ambitionen, Präsident zu werden. Henry Luce, der mit der Gründung des Time Magazine im Jahr 1922 den Grundstein für eines der größten amerikanischen Medienunternehmen legte, war einflussreiches Mitglied der Republikaner und liebäugelte zeitweise mit dem Modell des italienischen Faschismus. Gleichwohl ist mit Blick auf die weitere Entwicklung der Medienkonzerne im 20. Jahrhundert der Unterschied zwischen dem angloamerikanischen und dem kontinentaleuropäischen Typ des Presseunternehmers dieser Zeit zu betonen. Galt das zentrale Interesse von Unternehmern wie Hearst, Pulitzer oder North­cliffe uneingeschränkt und durchgängig ihren Zeitungen und Zeitschriften und versuchten sie allenfalls von dieser Basis aus politischen Einfluss auszuüben, waren die kontinentaleuropäischen Pressemagnaten in der Tendenz eher Zeitungsbesitzer als Zeitungsunternehmer. Ihre Aktivitäten auf dem Pressemarkt bildeten meist eine Ergänzung zu ihren anderen wirtschaftlichen Aktivitäten oder ihren politischen Ambitionen. Dies ist insofern von weitreichender Bedeutung, als die unternehmerische Konzentration auf Innovationen und das Streben nach hohen Standards von Professionalität auf dem angloamerikanischen Medienmarkt auf diese Weise besonders ausgeprägt war. Für die enorme Ausstrahlung, die von diesem Markt ausging, war grundlegend, dass die kommerziellen Aspekte eng und frühzeitig mit einem demokratietheoretischen Überbau verknüpft wurden. Die Konzeption der Presse als Vierte Gewalt nahm in der Mitte des 19. Jahrhunderts in England ihren Ausgangspunkt. Sie wies der Presse eine besondere Kontrollfunktion zu und ver451

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 451

22.09.2010 07:50:46

Internationale Kommunikationsmedien Arbeitsteilung

breiterte damit auch ihre ökonomische Basis. Der vor allem in den USA seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vorangetriebene, auf Skandale und Sensationen hin orientierte Journalismus verband ebenso aufsehenerregende und damit verkaufsfördernde Aspekte mit einem demokratietheoretischen Anspruch. Die besondere Dynamik, die der englische und amerikanische Journalismus und damit der davon getragene Medienmarkt entfalteten, lag somit gerade in der Verschränkung einer kommerziell motivierten und gleichzeitig demokratietheoretisch überhöhten Pub­ likumsorientierung. Trotz der vorrangig national orientierten Medienmärkte entwickelten sich die Journalismen, die diese Märkte trugen, in nicht unerheblichem Maße durch wechselseitige Beobachtung. Das bedeutete keineswegs, dass sich der Journalismus in aller Welt am angloamerikanischen Modell ausrichtete. Dazu waren zum einen vielfach die Voraussetzungen gar nicht gegeben, zum anderen entwickelten sich eine Vielzahl nationaler Medien- und Journalismuskulturen mit ihren spezifischen Prägungen. Gleichwohl wurden die englischen und amerikanischen Medien und der entsprechende Journalismus zu einem zentralen Bezugspunkt in diesem Bereich. Die Besitzstrukturen blieben allerdings lange Zeit vorwiegend national geprägt. Auch die Konzentrationsprozesse verliefen lange Zeit vorrangig auf nationaler Ebene. Dies änderte sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst langsam und seit den 1980er-Jahren, nicht zuletzt im Zuge der Privatisierung des Fernsehens, die in verschiedenen europäischen Ländern in dieser Zeit vollzogen wurde, in massiver Weise. Wenn hier bislang nur von Europa und den USA die Rede war, so hängt dies damit zusammen, dass die Bedingungen außerhalb dieser Regionen – abgesehen von Australien, wo die Verhältnisse denen im angloamerikanischen Raum sehr ähnelten – vergleichbare Prozesse kaum zuließen. Nur dort, wo es überhaupt einen zumindest ansatzweise freien Medienmarkt gab, konnte es auch zu Konzentrationsprozessen und zur Entstehung von übergreifenden Medienunternehmen kommen. Somit war dies am ehesten in Südamerika der Fall. Dort erwarb sich der Brasilianische Medienunternehmer Robert Marinho den Ruf des südamerikanischen „Citizen Kane“. Marinhos Vater Irineu hatte 1925, kurz vor seinem Tod, die Zeitung O Globo gegründet, die Robert Marinho noch im gleichen Jahr übernahm. Da der Rundfunk in Brasilien wie auch in anderen südamerikanischen Ländern nach USamerikanischem Vorbild in privater und nicht – wie in Europa – in staatlicher Hand lag, ergriff Robert Marinho nur kurze Zeit später die Gelegenheit zur Gründung von zwei Radiostationen und legte damit die Basis eines Medienunternehmens  : Organizações Globo. Das wurde nicht nur zum größten und mächtigsten Unternehmen dieser Art in Südamerika, sondern gehörte um die Jahrtausendwende als einziger Medienkonzern eines „Schwellenlandes“ zu den 50 umsatzstärksten dieser 452

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 452

22.09.2010 07:50:46

Kommunikationsmedien

Branche weltweit. 1965 gründete Marinho einen der ersten kommerziellen Fernsehsender Südamerikas und war damit weltweit der erste Unternehmer, der über das gesamte Medienspektrum seines Landes verfügte und dies zu großen Teilen sogar mit aufgebaut hatte.40 Am ehesten vergleichbar mit der Organizações Globo entwickelte sich die mexikanische grupo televisa, die ebenfalls aus der Gründung der ersten Radiostationen Mexikos in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts durch die Brüder Rául und Emilio Azcárraga Vidaurreta hervorging. Mit der Gründung von Fernsehsendern stieg die grupo televisa, die sich bis heute in den Händen der Familie Azcárraga befindet, zum zweitgrößten Medienkonzern Mittel- und Süd­ amerikas auf. Beide Unternehmen blieben jedoch eher nationale oder regio­nale als globale Player auf dem weltweiten Medienmarkt. Der fortschreitende Konzentrationsprozess, der sich hier vollzieht, wird bislang uneingeschränkt von den Unternehmen aus der amerikanisch-europäisch-australischen Hemisphäre bestimmt, zu der, vor allem für den asiatischen Raum schließlich noch die japanischen Unternehmen hinzugekommen sind. Zum Vorreiter und Sinnbild dieser Entwicklung wurde der australische Verleger Rupert Murdoch, der sich nach seiner erworbenen Dominanz über den australischen Zeitungsmarkt 1969 mit dem Kauf der Sun zunächst auf dem britischen Zeitungsmarkt etablierte und inzwischen mit einer Vielzahl von Zeitungen und Fernsehsendern von den USA über Europa bis nach Asien und in den pazifischen Raum über ein wahrhaft weltumspannendes Medienimperium verfügt.41 Die Liberalisierung der europäischen Fernsehmärkte in den 1980er-Jahren, der Zusammenbruch des Ostblocks und schließlich die Öffnung des asiatischen Marktes ermöglichten es Murdoch und den anderen europäischen und amerikanischen Unternehmen, weit über ihre Ländergrenzen hinaus zu expandieren und den globalen Konzentrationsprozess auf dem Medienmarkt in großer Geschwindigkeit voranzutreiben. Zusammen mit Time Warner, dem Bertelsmann-Konzern, der Walt-Disney-Company und der aus Paramount Pictures hervorgegangenen Viacom Gesellschaft gehörte Murdochs News Corporation zu den fünf umsatzstärksten Medienunternehmen der Welt und vereinigte von diesen den wohl größten publizistischen Einfluss auf sich.42

Die Entwicklung der „Weltnachrichtenordnung“ Die Bedeutung der großen Medienkonzerne für die globalen Kommunikationsprozesse ist offensichtlich. Weit weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen dagegen die Nachrichtenagenturen, deren Bedeutung gegenüber jener der Medienkonzerne zwar zurückgegangen ist, die aber im Prozess der Entwicklung einer 453

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 453

22.09.2010 07:50:46

Internationale Kommunikationsmedien Arbeitsteilung

„Weltnachrichtenordnung“ lange eine fundamentale Rolle gespielt haben und immer noch spielen. Für die Frage, welche Nachrichten weltweit Verbreitung finden, kommt ihnen eine zentrale Rolle zu.43 Eine wichtige Zäsur in der Geschichte des weltweiten Nachrichtenverkehrs waren die umwälzenden Ereignisse des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die Amerikanische und insbesondere die Französische Revolution. Mehr als je zuvor wurde hier das Verlangen nach konkreten und korrekten Informationen geweckt. Erstmals reisten Schriftsteller und Journalisten gezielt an einen Ort, um von einem konkreten Ereignis zu berichten, anstatt dies zufällig im Rahmen einer Reise zu tun. Über eigene Auslandkorrespondenten zu verfügen wurde mehr und mehr zu einem Aushängeschild und Qualitätsmerkmal großer Zeitungen. Neben und zum Teil vor der Times und dem Journal des Débats entwickelte sich die von Johann Friedrich Cotta 1798 gegründete Augsburger Allgemeine Zeitung zu dem Blatt, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über das wohl größte, nahezu weltumspannende Netz von Korrespondenten im Ausland verfügte. Für 1845 führte das „Verzeichnis sämtlicher Correspondenten der Allgemeinen Zeitung“ weltweit 250 Namen auf. Allein 23 Korrespondenten lieferten Nachrichten aus Paris, 13 aus Wien. Aber auch in China, Ostindien, Mexiko und Peru verfügte man über Kontaktpersonen, von denen viele aber nur sporadisch nach Augsburg schrieben. Dabei machte das Blatt jedoch aus der Not eine Tugend  : Da die strenge Zensur des Metternich’schen Systems politische Berichterstattung im deutschen Kontext stark einschränkte und politisches Engagement ganz verbot, konnte sich die Zeitung als „Weltblatt“ profilieren. Die Londoner Times zog dagegen ihr Selbstbewusstsein bereits in viel höherem Maße aus ihrer innenpolitischen Stellung. So blieb das, was die Augsburger Allgemeine Zeitung ihren Lesern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an internationaler Berichterstattung bot, lange Zeit unerreicht. Erst mit dem Aufstieg der Nachrichtenagenturen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderten sich die Strukturen und Mechanismen internationaler Berichterstattung grundlegend.44 1835 entstand in Frankreich die Agence Havas, nur wenige Jahre später folgten das Wolffsche Telegraphenbüro in Berlin und Reuters in London. Das hier vertriebene Material war zunächst noch wenig spektakulär, aber es bildeten sich bald jene Strukturen heraus, die für den Markt der großen Nachrichtenagenturen des 19. Jahrhunderts entscheidend waren und über die die entstehende Weltnachrichtenordnung geprägt wurde. Havas verstand es, wie es später Wolff und Reuter in ganz ähnlicher Weise taten, die privatwirtschaftlichen Interessen seiner Agentur mit Interessen des Staates und darüber hinaus schließlich auch mit jenen der französischen Wirtschaft zu verbinden. Innerhalb kürzester Zeit gelang es Havas, andere Nachrichtenanbieter vom Markt zu drängen oder aufzukaufen und sich so eine Monopolstellung zu 454

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 454

22.09.2010 07:50:46

Kommunikationsmedien

verschaffen, die dank staatlicher Unterstützung mindestens bis zur Jahrhundertwende weitestgehend ungefährdet blieb. Analog gilt dies auch für Reuters und das Wolffsche Telegraphenbüro (WTB), die gemeinsam mit Havas bereits 1859 begannen, die Welt in Zuständigkeitszonen aufzuteilen und auf Jahrzehnte hinaus zusammen mit der amerikanischen Agentur Associated Press einen großen Teil des Weltnachrichtenverkehrs zu kontrollierten. Die Nachrichtenagenturen waren damit zu den ersten global players geworden, und das in einer rasant kurzen Zeit.45 Der Schlüssel für diese Entwicklung lag in der Bedeutung der Agenturen für die nationale Nachrichten- und Informationspolitik. Mithilfe der Agenturen versuchten die Regierungen eine Art Nachrichtenmonopol aufzubauen. Umgekehrt profitierten die Nachrichtenagenturen, die ihrem ursprünglichen Charakter nach privatwirtschaftliche Unternehmen waren, von eben dieser Monopolstellung. In den verschiedenen Ländern gestaltete sich die Beziehung zwischen Regierungen und Nachrichtenagenturen zwar in etwas unterschiedlicher Art und Weise. In England und in den USA waren die Verbindungen stärker informeller Natur, in Frankreich und in Deutschland erhielt die Verbindung einen mehr oder weniger offiziellen Charakter. In vielen anderen Ländern waren die Nachrichtenagenturen von Beginn an unter rein staatlicher Kontrolle. Abgesehen von der mehr oder weniger direkten staatlichen Unterstützung sicher­ ten sich die Agenturen ihr Monopol vor allem durch zwei Maßnahmen. Zum einen schlossen sie mit den Zeitungen Verträge, die es den Zeitungen unmöglich machen sollten, gleichzeitig Nachrichten von einem Konkurrenzunternehmen zu beziehen. Zweitens versuchten Havas, Reuters und das WTB bereits 1859, sich durch Kartellbildung gegen Konkurrenz zu schützen und damit den Weltnachrichtenmarkt unter sich aufzuteilen. 1870 – ein halbes Jahr vor dem deutsch-französischen Krieg – schlossen die Agenturen ein Abkommen, das die Welt nach dem „Prinzip der geschäftlichen Ausschließlichkeit“ in Einflusszonen aufteilte. Das hieß, dass keine der drei Agenturen im jeweiligen Einflussgebiet der anderen Nachrichten an Zeitungen oder Konkurrenzunternehmen verkaufen durfte. Zudem durften nur mit den Vertragspartnern Nachrichten getauscht werden. Die Aufteilung sah so aus, dass sich das Gebiet Reuters über das gesamte britische Kolonialreich, den Fernen Osten sowie die Niederlande erstreckte. Die Türkei, Ägypten und Belgien „teilte“ man sich mit Havas. Dessen Territorium setzte sich zudem, abgesehen vom eigenen Kolonialgebiet, aus der Schweiz, Südwesteuropa, Mittel- und Südamerika sowie weiten Teilen Afrikas zusammen, während sich das WTB-Gebiet nach Nord-, Südost- und Osteuropa einschließlich Russlands ausdehnte.46 Als vierter Partner trat 1875 die New Yorker Agentur Associated Press dem Kartell auch formell bei, nachdem sie zuvor bereits mittelbar mit den drei anderen großen 455

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 455

22.09.2010 07:50:46

Internationale Kommunikationsmedien Arbeitsteilung

Agenturen verbunden war.47 Da Associated Press an den ursprünglichen Vertragsverhandlungen und der damit verbundenen Aufteilung der Welt nicht beteiligt war, blieb der amerikanischen Agentur außer den Vereinigten Staaten selbst nur noch Mexiko und die Philippinen als Einflussgebiet. Bei dieser Aufteilung der Gebiete spielte es praktisch keine Rolle, dass nahezu alle europäischen und viele außereuropäischen Länder nach und nach eigene, nationale Agenturen gründeten. Diese waren ihrerseits vertraglich an die Agentur des jeweiligen Einflussgebiets gebunden. So hingen etwa der spanische oder der portugiesische Nachrichtendienst mehr oder weniger direkt von Havas ab, wie die skandinavischen Agenturen an das WTB gebunden waren. Die vertraglichen Bestimmungen sahen für diese Agenturen so aus, dass etwa das Kopenhagener Bureau Ritzerau alle seine Meldungen zunächst nach Berlin zum WTB schicken musste, wo dann entschieden wurde, ob sie an die anderen Agenturen weitergeleitet wurden. In der Praxis verzichtete man auf diesen Umweg über die jeweilige Mutteragentur wohl mehr und mehr. „Nach England und Amerika werden jetzt überhaupt keine skandinavischen Meldungen mehr über Berlin gesandt“, beschrieb der Direktor der dänischen Agentur im Jahr 1913 die gängige Praxis  ; „alle Nachrichten, die für die englische oder amerikanische Presse bestimmt sind, werden direkt an Reuter in London telegraphiert, der sie, falls sie irgendwie für Amerika von Interesse sind, an die Associated Press weitergibt. […] Skandinavische Nachrichten von geringer Bedeutung, die sowohl für Deutschland als auch für Frankreich Interesse haben, geben wir nach Berlin, von wo sie dann nach Paris weiterbefördert werden, wenn sie dazu für wichtig genug gehalten werden.“48 Auch wenn also, wie hier beschrieben, de facto manche Bestimmungen der Verträge unterlaufen werden konnten, blieben davon die grundsätzlichen Abhängigkeiten der kleinen von den vier großen Agenturen unberührt. So ist man spätestens seit 1870 mit einer paradoxen Situation im Bereich des internationalen Nachrichtenaustausches konfrontiert  : In der beginnenden Hochphase der Nationalismen wurde der internationale Nachrichtenverkehr von einem Kartell beherrscht, das unter sich jeweils mehr oder weniger offiziöse nationale Nachrichten austauschte. Ganz unverhohlen wurde dabei Nachrichtenpolitik als ein zentrales Mittel der nationalen Interessenpolitik angesehen. Die Militärmacht diene dazu, anderen den Willen einer Nation aufzuzwingen, beim Nachrichtendienst ginge es darum, fremde Gebiete „mit den Nachrichten vom Wollen und Können einer Nation“ zu durchdringen, schrieb 1914 ein deutscher Beobachter. „Voraussetzung dabei ist, daß der Nachrichtendienst nationale Tendenzen verfolgt, und das wird man bei allen bekannten Organisationen ohne weiteres anzunehmen haben.“49 Deutschland und die USA stünden in dieser Hinsicht gegenüber England 456

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 456

22.09.2010 07:50:46

Kommunikationsmedien

und Frankreich deutlich schlechter dar. Ein wesentlicher Teil des Gebietes, in dem Deutschland wirtschaftliche Interessen verfolge, sei der Einflussnahme deutscher Depeschenagenturen vollkommen entzogen und den Engländern und Franzosen „ausgeliefert“. Unabhängig davon, ob diese spezifische deutsche Wahrnehmung so stimmte, hatte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Weltnachrichtenordnung etabliert, die in hohem Maße von nationalen Interessen geprägt und damit weit von einem freien Nachrichtenfluss entfernt war. Über die Entstehung von Konkurrenzagenturen und dadurch, dass vor allem die großen Zeitungen und später die Rundfunkanstalten eigene Korrespondenten beschäftigten, entwickelte sich durchaus ein bedeutsamer paralleler Nachrichtenmarkt heraus. Dieser hing nun weniger von staatlichen Einflüssen, wohl aber von kommerzieller Macht ab. Es waren in erster Linie erfolgreiche Zeitungen und deren Verleger, die sich eigene Korrespondenten leisten und sich damit von den Agenturen unabhängig machen konnten. Von hier lag der Schritt nicht fern, auf dieser Basis auch eigene, staatlich unabhängige Agenturen zu gründen. Wirklich erfolgreich waren damit aber bezeichnenderweise nur zwei der wichtigsten amerikanischen Pressemagnaten  : Edward Wyllis Scripps, der 1907 die United Press Association (UP) gründete, und William Randoph Hearst, der 1909 mit dem International News Service (INS) nachzog. Beide Agenturen schlossen sich auch nicht dem Kartell der Nachrichtenagenturen an, da dieses sie nur an ihrer Expansion auf den weltweiten Nachrichtenmarkt gehindert hätte. Mit dem Ersten Weltkrieg veränderte sich das Machtgefüge auf dem globalen Nachrichtenmarkt ohnehin fundamental zugunsten der amerikanischen Agenturen. Das WTB verlor infolge der deutschen Kriegsniederlage seine Einflusszone und damit seine internationale Bedeutung. Associated Press verdrängte Havas vom südamerikanischen Markt, und UP und INS hatten ihre Position so weit ausgebaut, dass sie neben AP ebenfalls staatliche Unterstützung für ihre weltweite Expansion erhielten. Alle drei Agenturen machten sich nun zunehmend zu Fürsprechern eines freien Informationsflusses. Der AP-Direktor griff die Dominanz der europäischen Nachrichtenagenturen Havas und Reuters auf dem Weltnachrichtenmarkt als „einfach unmoralisch“ an und forderte 1943 in einer aufsehenerregenden Rede „für alle Menschen aller Länder das heilige Recht auf Information“.50 Der von den Amerikanern zunächst gegen die Europäer betriebene Kampf für einen globalen free flow of information wurde sowohl im Kontext des Kalten Krieges als auch im Kontext der Dekolonialisierung und des Nord-Süd-Konflikts vor allem von den „Drittweltländern“ zunehmend als Mittel interpretiert, ihre politische Macht auszubauen. Innerhalb des Ost-West-Konflikts konnte sich die Sowjetunion aufgrund ihrer Bedeutung als „Supermacht“ mit der TASS auf dem Weltnachrich457

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 457

22.09.2010 07:50:46

Internationale Kommunikationsmedien Arbeitsteilung

tenmarkt etablieren. Die Drittweltländer klagten dagegen auf einer Vielzahl von UNESCO-Konferenzen immer wieder über die amerikanisch-europäische Dominanz auf dem Weltnachrichtenmarkt und verlangten mehr Einfluss für ihre Agenturen. Die aber waren in aller Regel rein staatlich, und in den wenigsten dieser Länder herrschte Pressefreiheit. Der reklamierte Schutz nationaler Identitäten vor der medialen amerikanischen Dominanz und das beanspruchte Recht, eigene Anliegen in einer Weltöffentlichkeit artikulieren zu können, waren zwar auf der einen Seite legitim, bedeuteten aber auf der anderen Seite, sich dem Prinzip der Pressefreiheit zu verweigern. Im Schatten- des Ost-West-Konflikts blieben diese Debatten letztlich fruchtlos.

„Amerikanisierung“ und kulturelle Aneignungsprozesse Spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert sind Debatten über die kulturelle Bedeutung der Medien und deren künftige Entwicklung fast immer auch Debatten über eine etwaige Amerikanisierung.51 Die amerikanischen Medien haben sich als erste und am konsequentesten als Konsumgüter verstanden und sich entsprechend auf dem Markt positioniert. Damit gingen die amerikanischen Medien eine perfekte Symbiose mit einem amerikanischen Lebensstil ein, in dem (politische) Freiheit, Konsummöglichkeiten und Modernität eine unauflösliche Einheit bildeten. In enger Verbindung mit der amerikanischen Unterhaltungsindustrie hatte dieses Modell eine enorme Ausstrahlungskraft, die ihrerseits wieder unmittelbar an die mediale Verbreitung gebunden ist. Ähnlich wie in der Frage des freien Informationsflusses und in engem Zusammenhang mit der Bedeutung der amerikanischen Medienkonzerne ist somit die Frage nach der Verbreitung der kulturellen Inhalte amerikanischer Provenienz immer auch eine Auseinandersetzung um eine etwaige Dominanz eines als „amerikanisch“ beziehungsweise im globalen Kontext als westlich konnotierten Modells. Den Medien kommt hier eine doppelte Funktion zu  : Zum einen sind sie Träger jener kulturellen Inhalte, die über Bilder, Reportagen, Nachrichten, Filme, Serien und so fort in die Welt gebracht werden. Zum anderen sind sie selbst die Botschaft der Modernität – wenn auch nicht alle in der gleichen Weise. So wurde in Europa weniger die Presse insgesamt, wohl aber die kommerzielle Massenpresse seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mit „Amerika“ in Verbindung gebracht. Verkaufs- und Gewinnorientierung, Schnelligkeit, technische Innovationen, „Sensationalismus“, neue Bilderwelten  : Diese Begriffe standen für die Machart des Mediums ebenso wie für das, was Amerika insgesamt verkörperte. Für das Radio galt dies in geringerem Ausmaß. Die Debatten, die in den 1920er458

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 458

22.09.2010 07:50:46

Kommunikationsmedien

und 1930er-Jahren hierum geführt wurden, betrafen vor allem die Möglichkeiten von Beeinflussung in positivem wie negativem Sinne. Radio galt – nicht zuletzt noch einmal angeheizt durch die Debatte um die Reaktionen auf Orson Welles’ Radiohörspiel War of the worlds, dessen Szenario nicht wenige Zuhörer bei seiner Ausstrahlung im Jahr 1938 offenbar für wahr hielten – als enorm einflussreich und insofern potenziell gefährlich. In den meisten Ländern außerhalb der USA behielten die Staaten dieses Instrument daher auch in ihrer Hand und übergaben es nicht der kommerziellen Dynamik. Ähnliches galt lange Zeit auch für das Fernsehen. Doch mehr als das Radio wurde das Fernsehen schneller zu einem Träger transnationaler Kommunikation – nicht zuletzt durch die Möglichkeit der Verbreitung transnationaler Bilderwelten. Im Zusammenhang mit der Bedeutung der amerikanischen Film- und Unterhaltungsindustrie und in enger Verbindung mit der Dynamik, die das in den USA von Beginn an privatwirtschaftlich organisierte Fernsehen dort entfaltete, wurde das amerikanische Fernsehen für die Entwicklung auf diesem Gebiet weltweit zur zentralen Bezugsgröße. Mit der Freigabe des Fernsehmarktes für privatwirtschaftlich getragene Sender, die in vielen Ländern Westeuropas in den Achtzigerjahren erfolgte, intensivierte sich die Debatte über eine etwaige Amerikanisierung noch einmal, bis die Debatte in Bezug auf das Internet schließlich erneut einsetzte. Das Internet, so der niederländische Amerikanist Rob Kroes, sei „von allen gegenwärtig zur Verfügung stehenden Kommunikationsmitteln sicher das amerikanischste“.52 Die Frage allerdings, inwieweit vom Internet wie zuvor von den anderen Medien auch eine Amerikanisierung der Medienwelten, der Medienkultur und darüber möglicherweise der Kultur insgesamt ausging, ist alles andere als eindeutig. Die Amerikanisierungsforschung hat seit Langem gezeigt, dass „Amerikanisierung“ nicht ein einfacher Übertragungsprozess ist.53 So argumentiert etwa Viktoria de Grazia, dass die Massenmedien zwar – bezogen auf Europa – auf der einen Seite eine zentrale Rolle für die Vermittlung des amerikanischen way of life gespielt hätten, auf der anderen Seite die Auseinandersetzung mit „Amerika“ immer auch die Funktion gehabt habe, die jeweiligen nationalen Identitäten zu stärken.54 Im Zuge der medialen Globalisierung wird man von daher neben der Frage nach der Dominanz amerikanischer oder allgemein westlicher Modelle immer auch Aneignungsprozesse zu betonen haben. So bezog sich etwa die in den 1930er-Jahren in Europa entstehende Frauenpresse unweigerlich auf ein als „amerikanisch“ konnotiertes Frauenbild, das durch Emanzipation und „Modernität“ gekennzeichnet war, damit aber gleichzeitig auch die verschiedensten Klischees über die amerikanische Gesellschaft insgesamt in sich trug.55 In einem einleitenden Artikel über das Leben und das Rollenmodell der Amerikanerinnen fragte die Chefredakteurin Marcelle 459

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 459

22.09.2010 07:50:46

Internationale Kommunikationsmedien Arbeitsteilung

Auclair 1937 in der gerade gegründeten Frauenzeitschrift Marie-Claire provokativ danach, ob sich die künftigen Generationen in Frankreich auch an ihren amerikanischen Geschlechtsgenossinnen orientieren würden. Karikierend malt sie sich das Bild einer „amerikanisierten“ Zukunft aus  : „Madame, ausgestreckt auf dem Divan, zeigt ihrem Mann mit nonchalanter Handbewegung den Weg in die Küche, um ihn zu erinnern, dass es Zeit wird, sich um das Essen zu kümmern.“56 Auclair und die Zeitschrift Marie-Claire insgesamt traten zwar durchaus für ein modernes und in Grenzen emanzipiertes Frauenbild ein. Das vermeintlich amerikanische ­Modell aber wies sie als „übertrieben“ zurück. Diese Art der „Verkehrung“ der Rollen bedrohte nicht nur das traditionelle Familienbild, sondern die Familienstrukturen und damit die Basis der Gesellschaft insgesamt. Auf der anderen Seite wurde in einem Porträt über die amerikanische Tänzerin Irène Castle diese als Erfinderin der Kurzhaarfrisur für Frauen und als neue Stilikone gefeiert. Mit 44 Jahren sei diese „immer noch schön“. „Überall auf der Welt“ habe sie den Haarschnitt der Frauen verändert und „vielleicht auch die Haltung und das Gefühl der Unabhängigkeit der Frauen“.57 Mit zunehmender Faszination blickte nicht nur Marie-Claire auf die amerikanischen Filmstars, deren mediale Präsenz sich durch die Massenpresse vor allem Amerikas und Europas vervielfachte. Hollywood wurde zum zentralen Bezugspunkt für ein neues Körper- und Schönheitsideal, dem durch Sport, Schminke und die richtige Diät nahe zu kommen war. Die Filme selbst gingen hier mit der aufstrebenden Zeitschriftenlandschaft und der darin verbreiteten Werbung eine Symbiose ein, deren weltweite Ausstrahlung in den 1930er-Jahren ihren Ausgangspunkt nahm und bis heute ungebrochen ist. Die Rezeption dieses Ideals war jedoch nie frei von Ambivalenzen und zielte in aller Regel nicht auf eine einfache Übernahme dieses Ideals. In der medialen Rezeption des Hollywood-Stars außerhalb der USA schwang nicht selten der Aspekt einer gewissen Unnatürlichkeit mit, die zum Teil mehr, zum Teil weniger betont werden konnte. Vor allem in Frankreich evozierte der weibliche Hollywood-Star den Entwurf eines französischen Gegenmodells von Weiblichkeit, das nicht zuletzt in engem Zusammenhang mit der französischen Mode stand. Gerade an den seit den 1930er-Jahren aufstrebenden Frauenzeitschriften zeigt sich, in welchem Maße die Medien mit der Konsum- und Unterhaltungsindustrie eine unentwirrbare Verbindung eingingen. Hier, wie auch an anderen Beispielen lässt sich zentrale Bedeutung der amerikanischen Konsum- und Unterhaltungsindustrie aufzeigen. Die außeramerikanischen Medien nutzten die Bilder, für die Hollywood symbolisch steht, aber immer auch zur transformierenden Aneignung und zur Entwicklung von Gegenentwürfen. 460

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 460

22.09.2010 07:50:46

Kommunikationsmedien

Historisch ist die Frage danach, wie die in hohem Maße von den USA geprägte Massenkultur auf die unterschiedlichen Gesellschaften wirkt und wie sie dort rezipiert wird, nur schwer zu beantworten. Seit den 1980er-Jahren sind jedoch eine ganze Reihe von Untersuchungen aus dem Bereich der cultural studies entstanden, die der These von der medial vermittelten, amerikanisierten Einheitskultur deutlich widersprechen. So hat etwa eine Studie über die Rezeption der aus den 1970er-Jahren stammenden US-amerikanischen Seifenoper The Young and the Restless (deutsch  : Schatten der Leidenschaft) in dem Karibikstaat Trinidad gezeigt, wie die Serie von den Zuschauern in die lokalen Bezüge eingebunden wurde. Ähnliches zeigte sich auch bei Untersuchungen über die Rezeption der amerikanischen Serie Dallas, die vielen Kritikern in den 1980er-Jahren als Synonym für einen „amerikanischen Kulturimperialismus“ galt.58 Die Serie wurde ganz offensichtlich von Gruppen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, unterschiedlichen Geschlechts und unterschiedlichen Bildungsniveaus in jeweils ganz eigener Weise gesehen und interpretiert. Insbesondere wurden die in dem Programm enthaltenen Werte vor dem Hintergrund der je eigenen Kultur neu kontextualisiert und zum Teil kritisiert. Grundsätzlich zeigt sich somit, dass die mediale Verbreitung der stark amerikanisch geprägten Massenkultur ein äußerst komplexer Vorgang ist. Die pessimistische These von der Entstehung einer globalen amerikanisierten Einheitskultur und die optimistische These von der je eigenen Aneignung und Uminterpretation des amerikanischen oder westlichen Angebots stehen sich dabei diametral gegenüber. Die Empirie stützt in der Tendenz eher die zweite These und betont die „Lokalisierung“ der globalen Angebote. Die Debatte darum ist gleichwohl keineswegs abgeschlossen.

Neue Stimmen in der globalen Medienkommunikation Gegenüber der amerikanischen beziehungsweise westlichen Dominanz im Prozess der globalen Kommunikation kann der arabische Fernsehsender Al-Dschasira als ein Beispiel für den Erfolg medialer Globalisierung betrachtet werden, das erstmals seinen Ursprung außerhalb der westlichen Welt hat.59 Die oben geschilderten generellen Aspekte medialer Entwicklungen finden sich prinzipiell auch beim Sender aus Katar wieder. So zeigt der arabische Nachrichtensender in seiner Geschichte exemplarisch, wie die gleichen Prozesse medialer Entwicklungen der letzten zwei Jahrhunderte europäischer Geschichte unter veränderten Bedingungen in den letzten 15 Jahren zu sehr ähnlichen Ergebnissen im arabischen Raum geführt haben. Al-Dschasira ist Produkt einer Liberalisierung von oben. Als Projekt des Emirs 461

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 461

22.09.2010 07:50:46

Internationale Kommunikationsmedien Arbeitsteilung

von Katar, Al-Thani, hat der Sender nicht das staatliche Fernsehen Katars ersetzt, sondern war von Beginn an als ein internationales Format in arabischer Sprache geplant. Al-Dschasira sollte in der ganzen arabischen Welt via Satellit empfangen werden können und Aushängeschild der neuen, verfassungsmäßig garantierten Pressefreiheit in Katar sein.60 Der Emir finanziert das Projekt bis heute maßgeblich, mischt sich jedoch bewusst nicht in die redaktionelle Arbeit des Senders ein. Zudem protegiert er die Freiheit Al-Dschasiras gegen Anfeindungen von außen. Der Anteil katarischer Innenpolitik an der gesamten Sendezeit ist im Verhältnis zu den außenpolitischen Themen gering. Dennoch wird auch der Emir Katars bei angemessener Gelegenheit deutlich im Programm des Senders kritisiert. Allerdings ist der Beitrag des Senders zur gesellschaftlichen Selbstorganisation Katars aufgrund seiner hauptsächlich internationalen Reichweite eher als indirekt einzustufen, zumal Katar lediglich 800.000 Einwohner hat.61 Gleichwohl besitzt der Sender diese Funktion im arabischen Raum durchaus, allerdings in besonderer Weise  : Der Sender war lange Zeit der einzige seiner Art in arabischer Sprache. Seine Konkurrenten waren Sprachrohre der jeweiligen staatlichen Regime, denen sie angehörten, und als solche von der Bevölkerung der arabischen Länder anerkannt und bewertet. Gesellschaftliche Institutionen in relativ freier Trägerschaft wie Parteien, Gewerkschaften und andere Interessenverbände verfügten aufgrund ihrer strukturellen Opposition über keine nennenswerten medialen Organe, welche eine gesellschaftliche Selbstorganisation hätten vorantreiben können. Die Folge war, dass nach einer Phase der Vorsicht und des Misstrauens politische Gruppierungen und Organisationen aller Richtungen den Sender als Plattform für eigene Botschaften entdeckten. Das Bemühen der verantwortlichen Journalisten, den Sender nicht zur Plattform einer bestimmten Agenda werden zu lassen, dokumentiert sich in einer exemplarischen Liste derjenigen, die Sendezeit für ihre Politik beanspruchten  : Muammar Gaddafi, Saddam Hussein, PLO- und Fatah-Aktivisten, arabische Innenminister, liberale, nationalistische, demokratische, religiöse und laizistische Dissidenten aus arabischen Ländern, Al-Kaida, israelische Politiker und Botschafter, amerikanische Politiker, muslimische Geistliche. Die Liste ist beliebig fortsetzbar.62 Es sind also vor allem weitläufige Interessen und Interessengruppen des gesamten Nahen Ostens, die sich Al-Dschasira zur Plattform gewählt haben, ohne selbst finanziell, rechtlich oder politisch Einfluss auf die Existenz des Senders zu haben  ; sie bringen ihn folglich auch nicht als Medium ihrer spezifischen Bewegung hervor. Hier ist eine Säule des Erfolgs von Al-Dschasira zu sehen  : als einziges willentlich politisch unbeeinflusstes Medium bietet der Sender die Möglichkeit, die Konflikte und Probleme einer ganzen Region öffentlich zu benennen und zu diskutieren. Damit hat der Sender die eher unterschwelligen, aber äußerst relevant empfundenen 462

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 462

22.09.2010 07:50:47

Kommunikationsmedien

Themen der Region hinter der vorgehaltenen Hand hervorgeholt und eine öffentliche Positionierung politischer Kräfte zu diesen Themen ermöglicht. Diese von der fast gesamten arabischen Bevölkerung wahrgenommene Unabhängigkeit und Modernität wird des Weiteren getragen von dem Eindruck kultureller Authentizität. Zwar adaptiert das Programm des Senders westliche, vor allem britische und amerikanische, Sendeformate des inszenierten politischen Streits sowie des westlichen journalistischen Stils. Dennoch prägen die arabischen Redakteure den Inhalt des Programms durch die arabisch-muslimische Perspektive auf die Welt und ihre Probleme. So berät etwa ein greiser Imam, in der ganzen arabischen Welt bekannt als religiös-politischer Dissident, emanzipiert in Sachen Sexualität  ; israelische Politiker streiten sich mit Fatah-Aktivisten vor laufender Kamera über die Aktivität des israelischen Militärs im Gazastreifen  ; amerikanische Politiker werden von arabischen Journalisten mit unangenehmen Fragen nach den Zielen amerikanischer Politik in der Region konfrontiert. Die westlichen Formate werden so durch die Lebenswelten und Weltsichten der arabischen und regionalen Zuschauer kulturell modifiziert, so dass man nur in der Wahl von Sendeformaten von Verwestlichung oder Amerikanisierung sprechen kann. In der Sendegestaltung muss man jedoch vielleicht pointiert von einer Orientalisierung westlicher Medien und ihrer Formate im Fall Al-Dschasiras ausgehen. Die hierdurch erzielte Glaubwürdigkeit beim Publikum führte als zweite Säule des Erfolgs letztlich auch zur globalen Bedeutung des Senders. Hierzu leisteten allerdings die global zunächst übermächtigen Konkurrenten aus dem Westen indirekt ihren Beitrag  : Durch die arabische Identität des Senders und seiner Mitarbeiter und die politische Klugheit des Emirs gelang es, Bilder und Information aus Gebieten, beispielsweise der Westbank und dem Irak, zu liefern, die westliche Medien nicht zu produzieren imstande waren. Ganz besonders jedoch fiel dieser Qualitätsunterschied ins Gewicht, wenn die westlichen Medien aus politischen Gründen, wie zum Beispiel Zensur arabischer oder westlicher Regime, schlicht keine Gelegenheit hatten, überhaupt Material zu produzieren. Erstmalig fielen beide Umstände in der Berichterstattung zur Operation Desert Fox der westlichen alliierten Luftwaffe im Irak im Dezember 1998 zusammen. Bei fast völliger Abwesenheit anderer Journalisten im Land übernahm Al-Dschasira fast über Nacht die Marktführung im Bereich televisionärer Informationen und Nachrichten aus dem arabischen Raum. CNN, BBC und andere wichtige Sender kaufen seitdem zunehmend Material von Al-Dschasira dazu oder müssen sogar zeitweise vollständig auf die Produkte des arabischen Senders zurückgreifen.63 Der Erfolg von Al-Dschasira zog erhebliche Aufmerksamkeit auf sich und führte sowohl innerhalb als auch außerhalb des arabischen Raums zu dem Versuch, mit 463

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 463

22.09.2010 07:50:47

Internationale Kommunikationsmedien Arbeitsteilung

ähnlichen Modellen erfolgreich zu sein. Der in Dubai angesiedelte Sender Al-Arabia ist 2003 als konservativer Gegenentwurf zu Al-Dschasira gegründet worden. Er arbeitet unter deutlich restriktiveren Bedingungen, ist sehr viel weniger unabhängig und konnte bislang die Stellung von Al-Dschasira kaum gefährden. In Lateinamerika wurde 2005 auf die Initiative des venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez hin der Fernsehkanal Television de Sur (TéleSur) gegründet, der – unter direktem Bezug auf den Erfolg Al-Dschasiras – eine bessere Repräsentation Lateinamerikas im internationalen Medienangebot anstrebte. TéleSur genießt aber bei Weitem nicht die Freiheiten des arabischen Vorbilds, sondern laviert zwischen einem venezolanischen Führungsanspruch und dem Anspruch auf Teilhabe seitens der verschiedenen Regierungen, ohne im globalen Kommunikationsprozess Akzente setzen zu können. Zudem kommt TéleSur auch in Lateinamerika selbst bei Weitem nicht die Funktion zu, die Al-Dschasira in den arabischen Staaten einnimmt. Gleichwohl ist insgesamt die Zunahme transnationaler Sendeanstalten auffällig – zu den genannten ließen sich noch einige hinzufügen –, die auf „weltregionaler“ Basis versuchen, ihre Binnenkommunikation zu verbessern und sich nach außen mehr Gehör zu verschaffen suchen. Der unterschiedliche Erfolg zeigt aber auch, dass propagandistische Zwecke – etwa im Fall von TéleSur – schnell erkennbar und der Akzeptanz kaum zuträglich sind. Schon im 19. Jahrhundert scheiterten Regierungen meist mit dem Versuch, durch die Gründung offiziöser Blätter auf dem freien pub­lizistischen Markt Einfluss zu gewinnen. Auf globaler Ebene lässt sich Ähnliches erwarten. Für den Erfolg von Al-Dschasira ist das Modell des professionellen Journalismus westlicher Provenienz, das den Anspruch auf Unabhängigkeit zwar möglicherweise nicht immer einlöst, wohl aber ernst nimmt, somit unhintergehbar. In welchem Maße Medien unter den Bedingungen des freien Markts Konzentrationsprozessen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten unterworfen sind, ist hier skizziert worden. So wundert es nicht, dass sich auch Al-Dschasira ökonomischem Druck ausgesetzt sieht  : Länder wie Saudi-Arabien versuchen, dem Sender Einnahmen dadurch zu entziehen, dass sie Druck auf tatsächliche und potenzielle Werbekunden des Senders ausüben. Durch die besondere Rolle des Emirs von Katar, der dem Sender die wirtschaftliche Existenz sichert, hat derartiger Druck den Sender bislang nicht gefährdet. So ähnelt das Modell Al-Dschasiras nicht von ungefähr dem der BBC, in deren arabischen Studios nicht wenige Journalisten von Al-Dschasira zuvor gearbeitet haben. Im Mutterland der Pressefreiheit ist dieses Modell zwischen staatlichem Verlautbarungsmedium und freiem Markt in den 1920er-Jahren mit eben jener Intention entstanden, die Habermas dem Verleger der Augsburger Allgemeinen Zeitung, Johann Friedrich Cotta, unterstellt hat  : die ökonomische Basis zu sichern, ohne das Medium zu kommerzialisieren. Seit Langem unterliegen zwar auch die 464

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 464

22.09.2010 07:50:47

Kommunikationsmedien

BBC und andere öffentlich-rechtliche Sender durchaus erheblicher Kritik. Diese Kritik zielt aber eher auf ein Abweichen von den eigenen Ansprüchen als auf das Modell selbst. So scheint Al-Dschasira diesem Modell, das den Prozess der öffentlichen Kommunikation weder nach Praxis des Deutschen Bundes im 19. Jahrhundert oder der chinesischen Regierung in der Gegenwart völlig unter Kontrolle zu halten versucht, noch nach amerikanischem Vorbild gänzlich einem freien Markt überlassen will, auf globaler Ebene eine neue Bedeutung zu geben.

Anmerkungen 1 Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy  : The Making of Typographic Man, Toronto 1962. 2 Vgl. hierzu mit weiteren Literaturangaben  : Matthias Middell, Auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen. Die Gegner der Französischen Revolution 1788–1792, in  : Christine Vogel, Hg., Medien­ ereignisse im 18. und 19. Jahrhundert, München 2009, 77–91. 3 Pointiert zur Erfindung des Buchdrucks  : Michael Giesecke, Der Buchdruck in der Frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main 1991  ; kritisch dazu  : Uwe Neddermeyer, Wann begann das Buchzeitalter  ? In  : Zeitschrift für historische Forschung 20 (1993), 205–216  ; zu den Debatten um den Zäsurcharakter der je neuen Medien  : Albert Kümmel u. a., Hg., Einführung in die Geschichte der Medien, Paderborn 2004. 4 Der Begriff des „Dispositivs“, der in der Medien- und Kommunikationssoziologie eine relativ große Rolle spielt, bedeutet, etwas vereinfacht ausgedrückt, das Zusammenspiel von technischer Apparatur, Verwendungsweisen der Medien durch Sender und Empfänger, dem vermittelten Inhalt und dessen Rezeptions- und Aneignungsweisen. Vgl. hierzu Carsten Lenk, Das Dispositiv als theoretisches Paradigma der Medienforschung. Überlegungen zu einer integrativen Nutzungsgeschichte des Rundfunks, in  : Rundfunk und Geschichte 22 (1996), 5–17. 5 Historische Arbeiten, die auf umfassende Weise den Prozess der globalen Kommunikationsgeschichte nachzeichnen, existieren kaum. Als interessanten Versuch vgl. Armand Mattelart, La communicationmonde. Histoire des idées et des stratégies, Paris 1992  ; Beiträge zum aktuellen Verhältnis von Kommunikation und Globalisierung existieren dagegen in weit größerer Zahl. Vgl. hier etwa  : Miram Meckel, Die globale Agenda. Kommunikation und Globalisierung, Opladen 2001  ; stark thesenhafte Interpretation der globalen Kommunikationsentwicklung  : Ronald Inglehart/Pippa Norris, Cosmopolitan Communications  : Cultural Diversity in a Globalized World, New York 2009  ; als kommunikationswissenschaftlicher Überblick über die unterschiedlichen Mediensysteme mit entsprechend weiterführender Literatur vgl.  : Barbara Thomaß, Hg., Mediensysteme im internationalen Vergleich, Konstanz 2007. 6 David Sloan, The Early Party Press  : The Newspaper Role in American Politics, 1788–1812, in  : Journalism History 9 (1982), H. 1, 18–24  ; als Überblicke zur amerikanischen Pressegeschichte Edwin Emery, The Press and America, 3. Auflage, Englewood Cliffs 1972, sowie Sidney Kobre, Development of American Journalism, Dubuque 1969. 7 Zur Presse während der Französischen Revolution vgl. u. a. Jeremy Popkin, Revolutionary News. The Press in France, 1789–1799, Durham 1999  ; Pierre Rétat, Hg., La révolution du journal, 1788– 1794, Paris 1989. 8 Wolfram Sieman, Revolution und Kommunikation, in  : Christoph Dipper/Ulrich Speck, Hg., 1848. Revolution in Deutschland, Leipzig 1998, 301–313  ; ders., Grund- und menschenrechtliche Gehalte

465

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 465

22.09.2010 07:50:47

Internationale Kommunikationsmedien Arbeitsteilung

der Kommunikationsfreiheit in historischer Perspektive, in  : Johannes Schwartländer/Eibel Riedel, Hg., Neue Medien und Meinungsfreiheit im nationalen und internationalen Kontext, Kehl 1990, 11–26  ; Ursula E. Koch, Macht und Ohnmacht der Presse um 1848. Frankreich und Deutschland im Vergleich, in  : Dieter Dowe u. a., Hg., Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998, 771–812.   9 Zur frühen Presseentwicklung in England vgl. Jeremy Black, The English Press in the Eighteenth Century, Beckenham 1987  ; Zur Bedeutung der Pressefreiheit und der Entstehung des Konzepts der Vierten Gewalt  : George Boyce, The Fourth Estate  : the Reappraisal of a Concept, in  : ders. u. a., Hg., Newspaper History, Constable 1978, 19–40. 10 Ausführlicher hierzu  : Jörg Requate, Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert, Göttingen 1995, insbes. 244 ff. 11 Zu den unterschiedlichen Zensurverhältnissen in Europa vergleiche als Überblick  : Robert Justin Goldstein, Political Censorship of the Art and the Press in Nineteenth-century Europe, Basingstoke 1989. Konzentrierter auf einzelne Länder  : ders., Hg., The War for the Public Mind. Political Censorship in Nineteenth Century Europe, Westport 2000. 12 Vg. Lothar Höbelt, The Austrian Empire, in  : Robert Justin Goldstein, Hg., The War for the Public Mind. Political Censorship in Nineteenth Century Europe, Westport 2000, 211–238. 13 Zur Entwicklung von Pressefreiheit und Zensur in Russland vgl. Charles A. Ruud, Fighting Words. Imperial Censorship and the Russian Press, 1804–1906, Toronto 1982  ; ders., Russia, in  : Robert Justin Goldstein, Hg., The War for the Public Mind. Political Censorship in Nineteenth Century Europe, Westport 2000, 239–268. 14 Andreas Renner, Russischer Nationalismus und Öffentlichkeit im Zarenreich 1855–1875, Köln 2000, 162–177. 15 Jeffrey Brooks, When Russia learned to read. Literacy and popular literature 1861–1917, Princeton/ NJ 1985, 112. 16 Kirsten Bönker, Jenseits der Metropolen. Öffentlichkeit und Lokalpolitik im Gouvernement Saratov (1890–1914), Köln u. a. 2010, v. a. 441–454  ; Lutz Häfner, Öffentlichkeit, Zensur und lokale Gesellschaft im spätzaristischen Russland  : Überlegungen am Beispiel der Presselandschaft Saratovs, in  : Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 12 (2000), 77–120. 17 Christoph Herzog, Die Entwicklung der türkisch-osmanischen Presse im Osmanischen Reich bis ca. 1875, in  : Dietmar Rothermund, Hg., Aneignung und Selbstbehauptung. Antworten auf die europäische Expansion, München 1999, 15–44. 18 Klaus Kreiser/Christoph K. Neumann, Kleine Geschichte der Türkei, Stuttgart 2003, 358. 19 Vgl. dazu Natascha Vittinghoff, Die Anfänge des Journalismus in China (1860–1911), Wiesbaden 2002, sowie Andrea Janka, Nur leere Reden. Politischer Diskurs und Shanghaier Presse im China des späten 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 2003. 20 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 67. 21 Christopher A. Bayly, Empire and Information. Intelligence Gathering and Social Communication in India 1780–1870, Cambridge 1996  ; Chandrika Kaul, Reporting the Raj. The British Press and India, 1880–1922, Manchester 2003  ; zur gleichwohl dominanten Rolle des britischen Empire vgl. Simon J. Potter, News and the British World, 1876–1922, Oxford 2003. 22 Ami Aylon, The Press in the Arab Middle East. A History, New York 1995  ; ders., Political Journalism and its Audiance in Egypt, 1875–1914, in  : Culture & History 16 (1997), 100–121. 23 Thierry Perret, Le temps des journalistes. L’invention de la presse en Afrique francophone, Paris 2005, 19. 24 Frank Wittmann, Medienkultur und Ethnographie. Ein transdisziplinärer Ansatz. Mit einer Fall­ studie zum Senegal, Bielefeld, 2007, 232 ff.

466

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 466

22.09.2010 07:50:47

Kommunikationsmedien

25 Außer den schon genannten Arbeiten vgl. zudem für neuere Entwicklungen Frank Wittmann, Politics, Religion and the Media. The Transformation of the Public Sphere in Senegal, in  : Media, Culture & Society 30 (2008), 479–494  ; James Z. Zaffiro, Media & Democracy in Zimbabwe 1931–2002, Durban, 2002  ; Rose Marie Beck/Frank Wittmann, Hg., African Media cultures. Transdisciplinary Perspectives  ; Cultures de médias en Afrique. Perspectives transdisciplinaires, Köln 2004. 26 André Tudesq, Journaux et radios en Afrique aux XIXe siècle, Paris 1998  ; ders., L’Afrique parle, l’Afrique écoute. Les radios en Afrique subsaharienne, Paris 2002. 27 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öf­fentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesell­schaft, Frankfurt am Main 1990 (Erstauflage  : Neuwied 1962), 277. 28 Zur amerikanischen Entwicklung vgl. u. a. Jim McPherson, Mergers, Chains, Monopoly and Competition, in  : David Sloan, Hg., American Journalism. History, Principles, Practices, Jefferson 2002, 116– 124  ; Edward E. Adams, Chain Growth and merger Waves. A macroeconomic historical Perspective on Press Consolidation, in  : Journalism and Mass Communication Quarterly 27 (1995), 376–389. 29 Jean Chalaby, No ordinary press owners  : press barons as a Weberian ideal type, in  : Media, Culture & Society 19 (1997), 621–641. 30 Als Überblicke über die amerikanische Entwicklung vgl. neben McPherson, Mergers, Chains und Adams, Chain Growth speziell zur Zwischenkriegszeit  : William Weinfeld, The Growth of Daily Newspaper Chains in the U.S.  : 1923, 1926–1935  ; in  : Journalism Quarterly 13 (1936), 357–380. 31 Zit. nach Edwin Emery, The Press and America. An Interpretative History of Journalism, Englewood Cliffs 1964, 543. 32 Zu den Zahlen vgl. Frank Luther Mott, American Journalism. A History of Newspapers in the United States through 250 Years, 1690–1940, New York 1942, 635 ff.  ; Ben Bagdikian, The Media Monopoly, Boston 1992. 33 Michael Schudson, Discovering the News. A social History of American Newspapers, New York 1978. 34 In diesem Sinne zentral für England  : William T. Stead, Government by journalism, in  : Contemporary Review 49 (1886), 653–674. Aus zeitgenössischer Perspektive zum muckraking u. a. William Kittle, What Makes a Magazine Progressive  ?, in  : 20th Century 6 (August 1912), 345–350. 35 Zum Huck-Verlag vgl. Uwe Weller, Wolfgang Huck (1889–1967), in  : H.-D. Fischer, Hg., Deutsche Presseverleger des 18. bis 20. Jahrhunderts, München 1975, 348–355, sowie verschiedene Angaben bei Hans Joachim Hofmann, Die Entwicklung der „Dresdner Neueste Nachrichten“ vom Generalanzeiger zur Heimatzeitung, Dresden 1940, 14 f.  ; Kurt Koszyk, Deutsche Presse im 19. Jahrhundert, Berlin 1966, 259 ff. 36 Zu Mosse, Ullstein und Scherl die ausführlichsten Informationen immer noch bei Peter de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin, Berlin 1982. 37 Zum Hugenberg-Konzern vgl. Heidrun Holzbach, Das „System Hugenberg“. Die Organisation bürgerlicher Sammlungspolitik vor dem Aufstieg der NSDAP, Stuttgart 1981. 38 Vgl. dazu George Boyce, The Fourth Estate  : the Reappraisal of a Concept, in  : ders. u. a., Hg., Newspaper History, Constable 1978, 19–40  ; Stephen Koss, The Rise and Fall of the Political Press in Britain, 2 Bde., London 1981/84. 39 Jörg Requate, Medienmacht und Politik. Die politischen Ambitionen großer Zeitungsunternehmer – Hearst, Northcliffe, Beaverbrook und Hugenberg im Vergleich, in  : Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), 79–95. 40 Andreas Grünewald/Thomas Kirsch, Medien in Brasilien, in  : Hans Bredow Institut, Hg., Internationales Handbuch Medien 2002/2003  ; Baden-Baden 2002, 727–741. 41 Zu Murdoch vgl. als aktuellste Biografie  : Michael Wolff, The Man Who Owns the News. Inside the Secret World of Rupert Murdoch, London 2008, dt  : Der Medienmogul. Die Welt des Rupert Murdoch, München 2009.

467

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 467

22.09.2010 07:50:47

Internationale Kommunikationsmedien Arbeitsteilung

42 Als Übersicht über die größten Medienkonzerne vgl. Lutz Hachmeister/Günter Rager, Wer beherrscht die Medien  ? Die 50 größten Medienkonzerne der Welt, München 1997. 43 Vgl. hierzu Thomas Siebold, Zur Geschichte und Struktur der Weltnachrichtenordnung, in  : Medien­ macht im Nord-Süd-Konflikt. Die neue internationale Informationsordnung, Frankfurt am Main 1984, 45–92. 44 Vgl. hierzu ausführlicher Requate, Journalismus, 278 f. 45 Zur Geschichte der Nachrichtenagenturen vgl. zuletzt umfassend  : Dwayne Winseck/Robert M. Pide, Communication and Empire. Media, Markets and Globalization, 1860–1930, Durham, NC 2007  ; zu den einzelnen Agenturen  : Michael B. Palmer, Des petits journaux aux grandes agences. Naissance du journalisme moderne, Paris 1983   ; Dieter Basse, Wolff ’s Telegraphisches Bureau 1849 bis 1933, München 1991  ; Donald Read, The Power of News. The History of Reuters 1848–1989, New York 1992. 46 Eine Besonderheit stellte die Regelung im Falle Hamburgs dar. Da sich Reuter dort durch Gründung eines eigenen Büros in den 1860er-Jahren eine sehr gute Ausgangsposition geschaffen hatte, um von dort aus eigenständig den deutschen Raum beliefern zu können, war Wolff gezwungen, einer „Teilung“ Hamburgs mit Reuter zuzustimmen. Der Vertragstext findet sich abgedruckt bei Basse, 254–258. 47 Neuere Literatur zur Geschichte der Associated Press fehlt bislang  ; vgl. daher insbes. die ältere, sehr anekdotische Darstellung von Oliver Gramling, AP. The Story of News, New York 1940  ; vgl. auch die knappe, aber informative Darstellung bei Friedrich Fuchs, Telegraphische Nachrichtenbüros. Eine Untersuchung über die Probleme des internationalen Nachrichtenwesens, Berlin 1919, 96–117. 48 Zit. nach N. Hansen, Depeschenbureaus und internationales Nachrichtenwesen, in  : Weltwirtschaftliches Archiv 3 (1914), 78–96, hier 96. 49 F. Wertheimer, Weltnachrichtendienst und Deutsches Wirtschaftsinteresse, Technik und Wissenschaft, Berlin 1914, 162–174, hier 164. 50 Kent Cooper, The Right to Know. An Exposition of the Evils of News Supression and Propaganda, New York 1957, 164. 51 Vgl. hier u. a. Emil Dovifat, Der amerikanische Journalismus, Stuttgart 1927. Das Buch wurde 1990 neu von Stephan Ruß-Mohl herausgegeben. Zu der Amerikanisierungsdebatte der 1920er-Jahre vgl. die Einleitung von Stephan Ruß-Mohl/Bernd Sösemann, Zeitungsjournalismus in den USA – Ein Rückblick auf Dovifats Frühwerk, in  : Dovifat, Journalismus, IX-XLIII  ; zu den neueren Debatten  : Daniel C. Hallin/Paolo Mancini, Amerikanisierung, Globalisierung und Säkularisierung  : Zur Konvergenz von Mediensystemen und politischer Kommunikation in westlichen Demokratien, in  : Frank Esser/Barbara Pfetsch, Hg., Politische Kommunikation im internationalen Vergleich, Opladen 2003, 35–55  ; Jean Chalaby, American Cultural Primacy in a New Media Order. A European Perspective, in  : Gazette. The International Journal for Communication Studies 68 (2006), Nr. 1, 33–53  ; als neueres Beispiel vgl. etwa  : Harald Wenzel, Hg., Die Amerikanisierung des Medienalltags, Frankfurt am Main 1998. 52 Rob Kroes, Das Internet  : Instrument der Amerikanisierung  ?, in  : Ulrich Beck u. a., Hg., Globales Amerika  ? Die kulturellen Folgen der Globalisierung, Bielefeld 2003, 300–323, hier 301. 53 Aus der umfangreichen Literatur vgl. hier u. a. Alexander Stephan, Hg., The Americanization of Europe. Culture, Diplomacy, and Anti-Americanism after 1945, New York/Oxford 2006, sowie bezogen auf Deutschland und Frankreich Chantal Metzger/Hartmut Kaelble, Hg., Deutschland – Frankreich – Nordamerika  : Transfers, Imaginationen, Beziehungen, Stuttgart 2006. 54 Vgl. Viktoria de Grazia, Amerikanisierung und wechselnde Leitbilder der Konsum-Moderne (consumer-modernity), in  : Hartmut Kaelble u. a., Hg., Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschaftsund Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1997, 109–137, hier

468

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 468

22.09.2010 07:50:47

Kommunikationsmedien

124  ; umfassender  : dies., Irresistible Empire. Americas advance through twentieth-century Europe, Cambridge MA 2005. 55 Vgl. hierzu Samara Martine Donvoisin, Michèle Maignien, La presse feminine, Paris 1986  ; AnnChristin Meermeier, Die Entwicklung der modernen Frauenzeitschrift und die Rezeption des amerikanischen Frauenbildes in den dreißiger Jahren am Beispiel der Marie-Claire, unveröff. Magisterarbeit, Universität Bielefeld 2009. 56 Marie-Claire, Nr. 14, 14.6.1937, 4. 57 Marie-Claire, Nr. 60, 22.4.1938, 45. Zur medial vermittelten Ausstrahlung von Irène Castle vgl. auch Elke Reinhardt-Becker, The American Way of Love. Zur Amerikanisierung des deutschen Liebesdiskurses in der Weimarer Republik, in  : Franck Becker/Elke Reinhardt-Becker, Hg., Mythos USA. Amerikanisierung in Deutschland seit 1900, Frankfurt am Main 2006, 99–133. 58 In diesem Sinne etwa  : John Tomlinson, Cultural Imperialism, London 1991. 59 Journalistisch, aber gleichwohl die beste bislang erschienene Arbeit zu Al-Dschasira  : Hugh Miles, Al-Dschasira. Ein arabischer Nachrichtensender fordert den Westen heraus, Hamburg 2005  ; vgl. darüber hinaus  : T. Samuel-Azran, Counterflows and Counterpublics. The Al-Jazeera Effect on Western Discourse, in  : Journal of International Communication 14 (2009) 56–73  ; Stephan Lanzinger, Al-jazeera. Ein arabischer Sender revolutioniert den globalen Informationsstrom. in  : Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 42 (2003), 89–97. 60 Außer in Katar selbst, wo der Besitz von Satellitenschüsseln verboten ist. Die Katarer bekommen den Sender mit dem nationalen Kabelnetz geliefert. 61 Miles, Al-Dschasira, 19 f. 62 Miles, Al-Dschasira, 38 ff.  ; 60 ff.  ; 113 ff.  ; 190 ff. 63 Ebd., 46 f.  ; 60 ff.  ; 113 ff.  ; 140 ff.

469

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 469

22.09.2010 07:50:47

Das Ölgemälde des Berliner Malers und Grafikers Paul Friedrich Meyerheim (1842–1915) setzt zwei zentrale Binnentransportmittel des 19. Jahrhunderts in eine hierarchische Ordnung zueinander: die Dampfeisenbahn hoch oben auf der Brücke, die Postkutsche auf der darunter durchführenden Straße (Quelle: Museum für Kommunikation, Berlin).

470

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 470

22.09.2010 07:50:48

Kapitel 15

Verkehrsrevolutionen Ralf Roth

Der sprunghafte Anstieg des Weltverkehrs im 19. und 20. Jahrhundert ist als eine Folge von Transportrevolutionen im europäischen und nordamerikanischen Kulturkreis anzusehen. Es waren insbesondere diese Regionen, die alle wesentlichen technologischen Grundlagen für die Beschleunigung der Transportprozesse bereitstellten. Allein auf die Technologie zu rekurrieren, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Aus diesen Weltregionen kamen auch die logistischen Nutzungskonzepte, mit denen weltumspannende Verkehrsnetze auf Grundlage dieser Verkehrstechnologien aufgebaut wurden. Das hatte weit über die Ursprungsregionen hinaus tief greifende Folgen für die gesamte Weltgesellschaft. Denn der moderne Weltverkehr trug nicht nur zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Vernetzung der Menschheit bei, sondern auch ganz wesentlich zur wirtschaftlichen und politischen Dominanz der westlichen Zivilgesellschaften über den Rest der Welt. Man kann bei der Definition des Begriffs „Verkehr“ dem angelsächsischen Sprachgebrauch von transport folgen  ; doch würde sich Verkehr dann auf die Beförderung von Personen und Gütern durch Verkehrsmittel reduzieren. Fritz Voigt hat bereits in den 1960er-Jahren auf diesen nachteiligen Reduktionismus hingewiesen und Verkehr als „die Überwindung von Raum durch Personen, Güter und Nachrichten“ definiert.1 Daraus leiten sich die heute üblichen Definitionen ab, die Verkehr als „die Summe außerhäuslicher Ortsveränderungen“ von Personen, Gütern und Nachrichten auf dafür vorgesehenen Routen einer Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur bezeichnen.2 Der Terminus „Revolution“ ist von seinem Ursprung her zuerst ein theologisch und astronomisch bestimmter Begriff gewesen, der im Zeitalter der Aufklärung und der großen nationalen Revolutionen dann politisch aufgeladen wurde. Er bezeichnet seitdem jedoch weit über das Politische hinausgehend Wendepunkte der Geschichte, die etwas grundsätzlich Neues bringen und eine deutliche Veränderung der herrschenden Zustände bewirken. In dieser Hinsicht taugt er auch für Prozesse, die außerhalb von politisch motivierten Bewegungen und Staatshandeln die ganze Gesellschaft erfassen und zahlreiche ihrer Sektoren umwälzen. Von „Revolutionen“ zu sprechen ist deshalb für die mit dem 471

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 471

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

Verkehr und der Mobilität verbundenen Folgewirkungen dann angemessen, wenn sich durch die Einführung eines Systems Konsequenzen für viele Bereiche der Gesellschaft ergeben und sich zahlreiche Folgewirkungen nachweisen lassen.3 Die Welt geriet nach 1800 aus vielen Gründen ‚aus den Fugen‘. Die Amerikanische und die Französische Revolution trugen ebenso dazu bei wie die in Großbritannien ihren Anfang nehmende Industrielle Revolution. In dieser Zeit nahmen auch die Vielfalt der Verkehrs- und Kommunikationssysteme sowie Geschwindigkeiten und Kapazitäten der Transportmittel bedeutend zu. Die Kommunikationsbeziehungen zwischen den Menschen auf dem Globus wurden dadurch immer komplexer und dichter. „Sehen wir nicht“, kommentierte Sartorius von Waltershausen diese Vorgänge kurz nach 1900, „wie die Angehörigen der einzelnen Nationen immer häufiger und in wachsender Zahl auf Reisen und Versammlungen, zu Geschäfts- und Kulturzwecken zusammenkommen, einander zu begreifen versuchen, voneinander lernen wollen, daß durch Niederlassung und Heirat in benachbarten Ländern die Rassen mehr und mehr durcheinander gewürfelt werden, daß kein großes Werk der Wissenschaft, der Technik und der Kunst geboren wird, welches nicht alsbald […] die Denker der Länder gleichmäßig beschäftigt.“4 Wenn hier auch sieben Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Welt durch die Brille Europas und insgesamt etwas zu optimistisch betrachtet wurde, hatte Sartorius von Waltershausen doch einige Wirkungen der dicht aufeinanderfolgenden Verkehrsrevolutionen treffend hervorgehoben, ohne das Phänomen in seiner ganzen Dimension erfasst zu haben. Letztendlich beruht Globalgeschichte auf der weltweiten Verbindung der Menschen untereinander und damit auf den Prozessen des Verkehrs, des Austauschs, der Kommunikation und Mobilität, die es in allen Gegenden der Welt gibt. Die Modi waren allerdings verschieden und wandelten sich im Laufe der Zeit  ; Beschleunigung und Kapazitätssteigerungen waren die Folgen.5 Dieser Wandel ist immer noch nicht abgeschlossen. Es finden nach wie vor Entgrenzungen statt, mit dem Ergebnis, dass für immer mehr Menschen – besonders für die Angehörigen der sogenannten „westlichen Zivilisation“ in Europa und Nordamerika – die Bezugspunkte ihres Lebens, der Arbeit, der Freizeit und Erholung ein großräumiges, kontinentales, zuweilen globales Koordinatensystem bilden. Umgekehrt erfahren sie dabei die Welt – ganz im Gegensatz zum ausgehenden Mittelalter und dem Beginn der Frühen Neuzeit, als der Welthorizont für die Menschen stetig zu expandieren schien – als einen schrumpfenden Raum.6 Was Jules Verne in seinem utopischen Roman Le Tour du monde en quatre-vingt jours in den 1860er-Jahren beschrieb, war in den 1870er-Jahren möglich geworden und wurde bereits in den 1880er-Jahren unterboten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts benötigte man schließlich für eine Weltumrundung lediglich ein 472

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 472

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

bis zwei Tage. Die Grundlage für diese time-space-compression bilden die modernen Transport- und Kommunikationssysteme, die in einer Serie von dicht aufeinanderfolgenden Verkehrsrevolutionen geformt worden sind.7

Voraussetzungen Am Anfang der Verkehrsrevolutionen des 19. Jahrhunderts standen einerseits die weltumspannenden Netze der Hochseeschifffahrt. Sie verbanden bereits die Kontinente miteinander und ließen den Austausch von Menschen und spezifischen Gütern – wenn auch noch in stark eingeschränktem Umfang – zu. Am Anfang standen andererseits der moderne Straßenbau – die Chausseen – und das System der Eilposten, dicht gefolgt von der modernen Dampfschifffahrt auf den Flüssen Europas und Nordamerikas. Die Entdeckung und Erschließung der Welt am Beginn der Frühen Neuzeit, das Einklinken der Portugiesen, Niederländer und Engländer in ein seit Langem bestehendes asiatisches Handelsnetz, die Verknüpfung Europas, Afrikas und Amerikas zum atlantischen Regionalsystem, der bereits Mitte des 16. Jahrhunderts von den europäischen Entdeckern und Kolonisten eingerichtete Schiffsverkehr zwischen Amerika und Asien und die etwas spätere Entdeckung Australiens hatten die räumlich-zeitliche wie gesellschaftliche Globalstruktur von Grund auf verändert. Erdumspannende Kolonialreiche waren entstanden, und die vormals getrennten Kulturen traten bereits in einen intensiven Austausch mit dramatischen und nicht selten negativen Folgen. Schnellere Verkehrsbeziehungen hatten die jahrtausendelangen langsamen Wanderungen über die Kontinente und Meere, die aufgrund der immensen Zeitaufwendungen regelmäßig von einem Abbruch der Beziehungen zwischen den Kulturen gekennzeichnet waren, ersetzt. Die Expansion wie der Aufbau weltumspannender Verkehrsverbindungen und die Überwindung der maritimen Barrieren hatten wissenschaftlich-technische Kenntnisse, nautische Gerätschaften und spezielle Transportmedien zur Voraussetzung. Auf der Basis ozeantauglicher Großsegelschiffe – wie die Karavellen, Gale­onen oder die niederländische Fleute – und der Kenntnis von Küstenlinien, Strömungs- und Windverhältnissen, also eines immensen kartografischen Erfahrungsschatzes, etablierten sich die ersten weltweiten Wirtschaftskreisläufe. Große Gold- und Silbermengen gelangten aus Amerika über den Atlantik, West- und Mitteleuropa beziehungsweise über den Pazifik nach China und förderten die wirtschaftliche Entwicklung in diesen Räumen. Ein weiteres Beispiel für die maritime Verkehrsvernetzung bildete der transatlantische Dreieckshandel, bei dem Finanzierungsstrategie, Gütertransport und die Zwangsmigration von Arbeitskräften eng 473

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 473

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

miteinander verknüpft waren. Die Grausamkeiten des Sklavenhandels verweisen unübersehbar auf die destruktiven Seiten von Transport, Mobilität und Kommunikation, die durchaus nicht auf das 18. und 19. Jahrhundert beschränkt blieben und die mitzudenken sind, wenn von den großen ‚Fortschritten‘ durch Verkehr, Mobilität und Kommunikation gesprochen wird.8 Neben der maritimen Schifffahrt verzeichnete auch der Landtransport im Europa des 18. Jahrhunderts eine Leistungssteigerung wie kaum sonst in der Welt. Bis in die Frühe Neuzeit hinein dienten Landfahrzeuge fast nur dem Transport von Gütern aller Art, während die Personenbeförderung die Ausnahme bildete. Im 17. Jahrhundert entstand zuerst für die private Nutzung durch den Adel die Kutsche. Mit der zunehmenden Nutzung durch breitere Kreise der Wohlhabenden stieg das Bedürfnis nach mehr Komfort. Ein erster Schritt konnte mit der Einführung von Wagenkästen erzielt werden, die an Ketten, Seilen oder Lederriemen aufgehängt wurden. Hinter weiteren Verbesserungen im Kutschenbau standen dann zunehmend die Postgesellschaften, die regelmäßige Verkehrsdienstleistung anboten und die Effizienz der Kutschen mit logistischen Konzepten steigerten. Durch den streng aufeinander abgestimmten Einsatz mehrerer Postpferde auf festen Kursen mit zahlreichen Poststationen wurde bei Reisen über große Entfernungen hinweg die Rastund Erholungszeit der Pferde vom Transportprozess abgekoppelt.9 Dazu kam die Einführung von festen Gebührentabellen zur Kalkulation der Transportleistung. Mit diesen Tabellen ging wiederum die Normierung der Raum-Zeit-Relationen einher, was von der Einführung von Kursverzeichnissen und einer umfassenden Verkehrskartografie begleitet war. Auf diese Weise entstand ein regelmäßiges Verkehrsmittel, das sich über weite Teile des europäischen Kontinents erstreckte und auch der Nachrichten- und Informationsverbreitung diente.10 So konnten mithilfe der brieflichen Kommunikation die Warenzüge quer durch Europa dirigiert werden. Den Postgesellschaften mit ihren Netzen von Poststationen folgte wiederum – ausgehend von Frankreich und dann von Großbritannien – der Bau moderner Straßen. Um 1820 gab es ein weitmaschiges Netz gut gebauter Straßen, auf denen erstmals die Geschwindigkeit einer Postkutsche nicht mehr vom Rollwiderstand des Straßenuntergrunds bestimmt wurde, sondern von der Leistungsfähigkeit der Pferde.11 Obwohl Europa somit intern gut vernetzt war, können die großen Erfolge im Personenverkehr nicht über die schweren Mängel im Gütertransport hinwegtäuschen. Er hielt am Ende des 18. Jahrhunderts nicht Schritt mit der Ausweitung der Produktion im Gewerbe, in den Manufakturen und den ersten Fabriken. Die Kapazitäten des Landfrachtverkehrs waren durch die Leistungsfähigkeit der Zugpferde wie auch durch die Fragilität des nur lose aufgeschütteten Stein- und Sanduntergrunds der Straßen und durch seine Langsamkeit eng begrenzt. Technische Maß474

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 474

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

nahmen wie etwa breitere Räder schufen nur bedingt Abhilfe, zumal sich dadurch der Reibungswiderstand erhöhte und die Leistungsfähigkeit der Pferde abnahm. Auch fehlten beim Güterverkehr große Unternehmen, vergleichbar den staatlichen Postgesellschaften. Das Transportgeschäft lag in der Hand von Fuhrmännern, denen die erforderlichen technologischen und logistischen Kenntnisse wie die Finanzkraft zur Modernisierung fehlten. Zur Beförderung schwerer Lasten oder von Massengütern wich man deshalb auf die Flüsse aus. Die Wasserwege hatten den Vorteil, große Lasten mit geringem Kraftaufwand befördern zu können. Bevor der Landverkehr in dieser Hinsicht revolutioniert werden konnte, erlebte deshalb die Binnenschifffahrt mit dem Kanalbau und der Flussregulierung einen beachtenswerten Ausbau, der mit der Erfindung des Dampfschiffs seinen Abschluss fand. Erstmals beteiligten sich europäische Siedler Nordamerikas an diesem ansonsten spezifisch europäischen Entwicklungspfad.12 Die Flüsse haben in den letzten 200 Jahren einen bedeutenden Ausbau erfahren. Die regulierten Schifffahrtsrinnen sind mit den Flusslandschaften des 17. Jahrhunderts nicht mehr zu vergleichen. Ihr Lauf wurde begradigt, mit Dämmen eingefasst, und Staustufen regeln den Wasserstand. Doch das Flusssystem Europas ist in seiner kontinentalen Gliederung begrenzt und von den klimatischen Bedingungen abhängig. Es bildet kein Netz und stimmte in seiner Ausrichtung nur partiell mit der Transportnachfrage überein. Es musste also durch künstliche Flüsse, die Kanäle, ergänzt werden. Die Bauaufwendungen waren jedoch enorm. Nur schrittweise wurden deshalb einzelne Kanäle zu ganzen Kanalsystemen ausgebaut. Wie beim Postwesen musste der Staat einspringen, teilweise ging die Initiative von den Städten aus  ; in dem sich früh industrialisierenden Großbritannien gab es auch private Investoren. Doch Großbritannien blieb eine Ausnahme  ; meist übernahm der Staat diese Aufgabe und sorgte in den zentraleuropäischen Ländern über viele Jahrzehnte hinweg für einen imponierenden Kanalbau von vielen tausend Kilometern Länge. Auf den Kanälen fuhren immer größere, effizientere Schiffe. Ein Flussschiff um 1800 wies eine Tragfähigkeit von maximal 150 Tonnen auf  ; rund hundert Jahre später gab es Schiffe mit einem Fassungsvermögen von mehreren tausend Tonnen, und sie bewegten sich dank der Motorisierung selbstständig und schneller voran als die Treidelschiffe am Beginn der Entwicklung.13 Dazwischen lag die Erfindung des Dampfschiffs.

Der Dampftransport revolutioniert den Verkehr Die ersten Dampfschiffprototypen erreichten am Beginn des 19. Jahrhunderts in Schottland, Frankreich und den USA fast gleichzeitig das Stadium der Funktions475

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 475

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

reife. Für die Hochseeschifffahrt ungeeignet, dienten sie in Nordamerika vor allem zur Erschließung des Hinterlandes. Der geschäftsmäßige Betrieb begann mit Robert Fulton und seinem North River Steam Boat. Er eröffnete im Jahr 1807 auf dem Hudson zwischen New York und Albany den Dauerbetrieb. Sein Beispiel machte schnell Schule. 1812 verkehrten schon 50 und 1823 sogar 300 Raddampfer auf amerikanischen Flüssen. Eine Schiffsreise von New Orleans nach New York, für die 1817 noch fast 30 Tage erforderlich waren, dauerte 1835 nur noch neun Tage. Angesichts der breiten Ströme bauten die Amerikaner sehr bald große Flussdampfer, die lange vor der Eisenbahn den Binnenverkehr in den Staaten besorgten. Europa folgte den USA nach. In Großbritannien wurde der Raddampferverkehr in den 1810er-Jahren auf dem Clyde und wenig später auf der Themse aufgenommen. Deutschland und Frankreich zogen mit einiger Verzögerung nach, und in den 1820er-Jahren wurden Raddampfer dann auch in der Küstenschifffahrt eingesetzt. Wenn die Vorteile des Wassertransports auch auf der Hand lagen, hatten sie doch auch große Nachteile. Die Länge der schiffbaren Ströme und Kanäle betrug nur einen Bruchteil der Länge des Straßennetzes  ; zudem hing der Schiffsverkehr im Sommer von ausreichendem Niederschlag und im Winter von mäßigen Temperaturen ab. In den Produktionszentren der frühen Industrialisierung, das heißt in den Kohlenminen und Eisenhüttenwerken, entstand deshalb ein neues, von den Straßen und Flüssen unabhängiges Verkehrsmittel – die Eisenbahn. Die Eisenbahn wurde eigentlich als technisches System für die Verbesserung des Güterverkehrs entwickelt. Es setzte konzeptionell an der physikalischen Erkenntnis an, dass durch harte Räder auf hartem Untergrund der Reibungswiderstand vermindert und dadurch der Energieaufwand für den Transport erheblich gesenkt werden kann. Durch einen Schienenweg, auf dem Fahrzeuge mit Spurkranzrädern fuhren, die eine Dampfmaschine antrieb, konnte der Energieeinsatz um nicht weniger als 90 Prozent gemindert werden. Auch löste der harte Untergrund das Problem der raschen Zerstörung der Fahrwege durch große Lasten. Derartige Eisenbahnen beseitigten den Engpass bei den überregionalen Austauschbeziehungen, und zwar sowohl im Güter- als auch im Personenverkehr. Die Geschwindigkeit und Kapazität des neuen Transportsystems drang in bis dahin nicht gekannte Dimensionen vor. Die Anfangsinvestitionen und Kosten für den Betrieb waren jedoch beträchtlich. Deshalb dauerte der Netzausbau mehrere Jahrzehnte. Aber die Zeitgenossen waren überall in Europa und Nordamerika bereit, große Finanzmittel für den Bau bereitzustellen – mit weitreichenden wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Konsequenzen.14 Der Bau der Eisenbahninfrastruktur begann in Zentraleuropa Mitte der 1820erJahre und war bis in die 1860er von Eisenbahnkomitees in den Städten und privaten 476

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 476

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

Investoren geprägt. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts setzte die große Welle der Verstaatlichungen ein, die sich dann im 20. Jahrhundert fortsetzte, bis es ab den 1980er-Jahren zu einer Welle von Reprivatisierungen kam. Der Gegensatz von staatlicher und privater Eisenbahninfrastruktur bestand allerdings nicht erst seit der großen Verstaatlichungswelle, sondern existiert von Anfang an, wobei das Verhältnis beider Betriebsmodelle von Land zu Land sehr verschieden war. Die Extrembeispiele bilden dabei England für den privaten und Belgien für den staatlichen Weg. Dazwischen existierten viele Mischsysteme, wobei das Verhältnis in den ersten Jahrzehnten deutlich zugunsten der privaten Initiativen ausfiel. Die Charakteristika des englischen Modells zeichnen sich aus durch die Planung einzelner Strecken durch Kapitalgesellschaften, die aus vereinsartigen lokalen Initiativen hervorgingen. Die Mithilfe des Staates beziehungsweise des Parlaments beschränkte sich auf die Absicherung der Eingriffe in das Eigentumsrecht – gegebenenfalls auch auf Staatsgarantien für den Zinsertrag der Kapitalgesellschaft, sprich Eisenbahngesellschaft, um die Bereitschaft der Investoren zu vergrößern, ihr Geld im Eisenbahnbau anzulegen. Zu einer Regulierung durch die Staaten kam es oftmals erst nachträglich. Den Gegensatz zum englischen Eisenbahnbau bildete das belgische Modell. Dabei handelte es sich um eine für das ganze Land geplante Eisenbahninfrastruktur, wobei auch der Bau in der Hand des Staates lag. Um den Bau zu finanzieren, wurde allerdings privates Kapital aufgenommen und eine hohe Staatsverschuldung in Kauf genommen. Später wurde das Eisenbahnnetz privatisiert, weil die Staatsverschuldung bedrohliche Ausmaße erreicht hatte. Die Gründe für das belgische Modell waren politischer Natur und standen in engem Zusammenhang mit der 1830 erzielten Unabhängigkeit und der darauf folgenden Blockade der holländischen Häfen für belgische Güter. Hier mischen sich also strategische Staatsziele mit ökonomischen Kalkulationen.15 In Frankreich entstanden aus kleinen Komitees mächtige Eisenbahngesellschaften, hinter denen sich eine ganze Reihe großer, miteinander konkurrierender Finanzgruppen verbarg. Das Modell Englands bestimmte auch weite Teile des Eisenbahnbaus in Deutschland mit Investorengruppen aus dem Rheinland und Berlin. Im Gegensatz zu England kam es in Deutschland allerdings auch sehr früh zu einem staatlichen Eisenbahnbau – und zwar vor allem in Nord- und Süddeutschland. In Spanien und Portugal dagegen waren vor allem französische Privatbanken aktiv, während sich in Italien englische und österreichische Kapitalgeber betätigten. Auf der anderen Seite engagierten sich italienische Investoren wiederum in Frankreich und in anderen Ländern Europas. In Österreich waren österreichische Privatbanken und das österreichische wie das französische Haus Rothschild aktiv, 477

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 477

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

in Deutschland wohlhabende Kaufleute und Bankiers aus den deutschen Handelsstädten. Mit Hilfe der transnational agierenden Investoren wurde ein großes – europäisches – Netz geschaffen, bei dessen strategischer Ausrichtung bereits grenzüberschreitende Verkehrsprognosen und ein kontinentales Verkehrsdenken eine große Rolle spielten.16 Am wichtigsten war die Eisenbahn für die sich rasch industrialisierenden kontinentalen Staaten. Die zentraleuropäischen Bahnnetze wuchsen über die Jahrzehnte hinweg um Tausende von Kilometern, das deutsche Netz zum Beispiel in rund 70 Jahren von 35 auf 60.000 Kilometer. Und noch etwas fällt ins Auge  : die Internationalität der Eisenbahnen Europas.17 Obwohl die Eisenbahnen eigentlich vorrangig für den Güterverkehr konzipiert worden waren, hatten der Bau der Eisenbahnen und die Schaffung eines immer dichteren Netzes sprunghaft ansteigende Personentransporte zur Folge – allerdings von Land zu Land in ganz verschiedenen Ausmaßen. Am Anfang dachten die Eisenbahngesellschaften, dass in erster Linie wohlhabende Bürger – die Kunden der Postgesellschaften – ihre Eisenbahnen nutzen würden. Das erwies sich rasch als Irrtum, weil viel mehr Menschen als erwartet mit der Eisenbahn fuhren. Den unterschiedlichen Einkommensverhältnissen der Bürger kamen die Gesellschaften mit der Einführung verschiedener Fahrgastklassen mit unterschiedlichen Komfortstandards entgegen. Es setzte sich zumeist ein Drei- oder Vierklassenschema durch. Das wohlhabende Bürgertum benutzte die Zweite und gelegentlich die Erste Klasse, während es Adelige und Offiziere vorzogen, in der Ersten Klasse zu fahren. Die meisten Personen reisten in Europa jedoch in der Dritten Klasse, und zwar zwischen 70 und 80 Prozent. Sie gehörten meistens der unteren Mittelschicht an, waren also Bauern, Handwerker, Geschäftsleute und Beamte. Mit steigendem Wohlstand nahm das Reisen in diesen Schichten aus den unterschiedlichsten Gründen zu.18 Wie in England wurde auch in Deutschland von Anbeginn an das Angebot in drei Klassen unterteilt. Doch selbst mit den ermäßigten Fahrpreisen in der Dritten Klasse wäre das Fahren mit der Eisenbahn für Arbeiter (m/w) und arme Schichten im gesamten 19. Jahrhundert außerhalb der finanziellen Möglichkeiten geblieben. In Deutschland begann deshalb früh eine noch radikalere Diskussion als in Groß­ britannien und den anderen europäischen Ländern mit dem Ziel, die neuen Verkehrsmittel für die Reisen der unteren Volksschichten zu öffnen. Die Eisenbahnen sollten als billiges Transportmittel auch für Arbeiter (m/w) zur Verfügung stehen, und dies gelang durch weitere Abstriche am Komfort. In der Vierten Klasse fehlten die Sitzbänke, Heizung, Licht und Toiletten. Bei aller Beschwerlichkeit im Einzelnen – Arme, Gesellen, Arbeiter und Frauen kamen mit der Vierten Klasse bei den deutschen Bahnen in den Genuss des schnellen Reisens. Umgekehrt bedeutete 478

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 478

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

dies  : Der größte Teil der Bevölkerung wurde mobil, nutzte die Möglichkeiten von Fernreisen und trug auf der Suche nach Beschäftigung zu einem erheblichen Teil zur rasanten Verstädterung des Deutschen Reiches bei. Was für Deutschland galt, traf mit Abstrichen auch auf andere Teile Europas zu, im Westen mehr als im Süden und Osten. Mit einiger Verzögerung sprengte dann der Güterverkehr schließlich die Bedeutung, die ihm anfangs zugedacht worden war, und übertraf zur Mitte des 19. Jahrhunderts bei vielen Eisenbahngesellschaften die Einnahmen aus dem Personenverkehr.19 Die Eisenbahn übte ihren Einfluss auf alle Ebenen der Gesellschaft aus. Sie verteilte die für die Industrialisierung notwendigen Rohstoffe wie Kohle und Eisen und schaffte die für den Aufbau einer modernen Industrie benötigten Arbeiter (m/w) heran. Zu nennen sind auch die eisenbahngestützten Nah- und Fernwanderungen, die sich auf den gesamten transatlantischen Raum erstreckten. Eisenbahnen dienten den Geschäftsreisen der Kaufleute und Bankiers, den Politikern zu Reisen zu ihren zentralen politischen Zusammenkünften und allgemein für Reisen zu den Verbandstagungen und Kongressen. Architekten, Stadtplaner und Ingenieure unternahmen mit der Eisenbahn weiträumige Informationsreisen, und Künstler reisten zur Inspiration, zum Austausch mit Gleichgesinnten und auf der Suche nach Pub­likum sowie Kunstsammlern. Die Militärstrategen wandelten unter dem Ein­druck der logistischen Möglichkeiten der Bahn ihre Strategien. Politik und Verwaltung nutzten die Angebote einer effizienten Verwaltung in einem zeitlich verdichteten Land. Die Bildungsreise weitete sich zum touristischen Aufenthalt, der neben dem Heilbad und dem Kulturdenkmal bald auch Naturdenkmäler oder einfach schöne Landschaften einschloss. Insgesamt sanken die Transportkosten durch den Eisenbahnbau mindestens um die Hälfte, und das trug zu dem lange anhaltenden indus­t­riellen Aufstieg Europas bei, der wiederum zur wirtschaftlichen Hegemonie über den Rest der Welt führte. Insgesamt hatte die europäische Wirtschaft dank der Eisenbahnen bereits 1914 einen Verflechtungsgrad erzielt, den sie erst wieder in den 1970er-Jahren erreichte.20

Weltumspannende Verkehrsnetze und ihre Löcher Aber das europäische Eisenbahnnetz zeichnete sich nicht durch eine allzu große Homogenität aus. An der Peripherie im Süden, Norden und Osten setzte der Prozess um zwei bis drei Jahrzehnte verzögert ein. Das hatte wirtschaftliche Gründe, die späte Industrialisierung, aber auch politische. Der Raum Osteuropas wurde von vier Großreichen beherrscht – von Preußen beziehungsweise dem Deutschen 479

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 479

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

Kaiserreich, der Habsburgermonarchie, dem Russischen Zarenreich und dem Osmanischen Reich. Dabei handelte es sich mit Ausnahme Deutschlands und der österreichischen Teile des Habsburgerreiches – um politisch und militärisch starke Staaten mit großen Defiziten in der wirtschaftlichen Modernisierung. Strategische Überlegungen waren insofern immer mit der Stabilisierung der Macht oder einer Expansionspolitik und dem Versuch, den Industrialisierungsprozess von oben herab zu befördern, verbunden. Das traf vor allem auf das Russische und Osmanische Reich zu sowie auf die Staaten, die im Zuge des Rückzugs des Osmanischen Reichs auf dem Balkan entstanden. Ein starker Staatsinterventionismus wie in der Frühzeit Belgiens lag also nahe. Es fallen weitere Besonderheiten der Eisenbahninfrastruktur Osteuropas auf. Die Weite des Raumes stand im Kontrast zur geringen Dichte der Bevölkerung. Dazu passte die geringe Dichte der Eisenbahnnetze – deutlich sichtbar in den langen Verbindungen zwischen den weit auseinander liegenden Städten. Weiterhin lag dieses Netz geografisch an der Peripherie eines Zentrums, das sich aus den west- und mitteleuropäischen Staaten Frankreich, Großbritannien, Belgien, den Niederlanden und Deutschland zusammensetzte. Die wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen der Eisenbahnen in Osteuropa konnten zwar den bestehenden Verkehr intensivieren, aber sie waren nur in begrenztem Maße in der Lage, Verkehr zu schaffen. In abgelegenen Ländern und Regionen konnte der Eisenbahnbau die Entfaltung der wirtschaftlichen Kräfte sogar lähmen, wenn er zu viel Kapital absorbierte und die eingerichteten Strecken mangels Verkehr unrentabel blieben. Weiterhin wurde bereits in der Anfangszeit immer wieder darauf hingewiesen, dass die Bahnen die ausländische Billigkonkurrenz des einheimischen Handwerks beförderten. Verspätung, geringe Dichte, politisch-strategische Ausrichtung sorgten dafür, dass sich in diesen Teilen Europas die revolutionäre Wirkung der Eisenbahn auf die Gesellschaft deutlich abschwächte. Diese Gesellschaften verließen trotz ihrer Eisenbahnen den Pfad der nachholenden Industrialisierung nie.21 Einen vergleichbaren Entwicklungspfad beschritt faktisch nur noch Nordamerika. Hier wurde die europäische Dynamik sogar noch übertroffen. Das Eisenbahnzeitalter begann in den USA vor dem Bau der Liverpool-Manchester-Eisenbahn im Dezember 1829, als die Strecke von Baltimore nach Ellicots Mills eröffnet wurde, die zu dem großen Projekt einer Verbindung von Baltimore nach Ohio gehörte. Von diesen Anfängen ausgehend, überzog bald ein dichtes Eisenbahnnetz die östlichen Staaten der Union. Die amerikanischen Eisenbahngesellschaften vermieden aufwendige Kunstbauten, um Kosten zu sparen. Auch die staatlichen Auflagen hielten sich im Gegensatz zu vielen europäischen Ländern in Grenzen. Konkurrenzbahnen waren überall erlaubt  ; wann und wie gebaut werden sollte, wurde 480

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 480

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

nicht vorgeschrieben. Weder kontrollierte die Regierung den Geschäftsbetrieb noch beaufsichtigte sie die Dividenden. Zu dieser großen unternehmerischen Freiheit kamen die extrem niedrigen Grunderwerbskosten und die geringen Aufwendungen für die vor allem aus Holz und Stein gefertigten Bauten. Die Entdeckung der Goldvorkommen in Kalifornien zu Beginn der 1850er-Jahre gab früh Plänen Auftrieb, eine Eisenbahnverbindung quer durch den gesamten Kontinent herzustellen  ; die erste wurde 1869 fertiggestellt. Im Unterschied zu den europäischen Bahnen dienten die amerikanischen Bahnen der Kolonisierung des Landes. Den Bahnen folgten nicht nur neue Siedlungen und Städte, sondern auch Siedlertrupps, die das von der Regierung geschenkte Land bevölkern sollten. Sie vernetzten somit nicht einfach vorhandene Städtelandschaften, sondern schufen diese und damit erst ihren Verkehrsmarkt im Mittleren Westen und entlang der transkontinentalen Bahnen. Alle diese Faktoren trugen dazu bei, dass der amerikanische Eisenbahnbau den europäischen bald weit hinter sich ließ und das größte nationale Teilnetz der Welt entstand.22 Auch in Europa gab es Regionen, in denen Bahnen einem ähnlichen Zweck dienen sollten. Hier sind zum Beispiel die Eisenbahnprojekte des deutschen Eisen­ bahnkönigs Henry Bethel Strousberg zu nennen, der in den 1860er-Jahren in Rumä­nien daranging, nach dem Vorbild Belgiens ein komplettes Bahnnetz für ein dünn besiedeltes Agrarland zu bauen.23 Ein weiteres Beispiel findet sich mit der sogenann­ten Orientbahn von Wien nach Konstantinopel, mit der sich die Europäer Zugang zu den kolonialen Erschließungsgebieten im Nahen und Mittleren Osten verschaffen wollten. An ihrem Ausbau und der Verlängerung in den asiatischen Teil des Osmanischen Reichs beteiligten sich Investoren aus Großbritannien, Frank­ reich, Deutschland und anderen europäischen Staaten.24 Bevor das Engagement Früchte tragen konnte, zerbrach jedoch die Staatenwelt, die diesen Eisenbahnkolonialismus getragen hatte, im Chaos des Ersten Weltkriegs. Das größte Projekt dieser Art wurde jedoch vom Russischen Zarenreich unternommen, um seine Besitzungen auf dem asiatischen Kontinent enger an den europäischen Teil anzubinden und nach amerikanischem Vorbild ein riesiges Kolonisierungsgebiet zu erschließen. Die Transsibirische Eisenbahn hatte in vielen technischen Details tatsächlich die amerikanischen Eisenbahnen zum Vorbild. Aber die Unterschiede treten deutlich zutage. Während in Nordamerika, insbesondere in den USA, die Eisenbahnen eine tiefgreifende und nachhaltige Besiedlung eines ganzen Kontinents förderten und insbesondere zur Bevölkerung des Mittleren Westens und der Westküste beitrugen, blieb Sibirien trotz der 6.500 Kilometer langen Strecke eine Menschenwüste. Die leichte Erreichbarkeit Sibiriens erzeugte keinen Menschenstrom, der von Westeuropa nach Ostasien zog. Die europäische 481

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 481

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

Auswanderung von 60 bis 70 Millionen Menschen ging zu 95 Prozent in die USA. Die sogenannte „trockene Auswanderung“ in die Weiten Osteuropas und Ostasiens blieb einschließlich der russischen Binnenwanderung peripher. Die Transsibirische Eisenbahn blieb, wie Jürgen Osterhammel schreibt, „ein dünner Pfad, der weit entfernte Teile der Welt miteinander verband, ohne sie in quantitativ erheblicher Weise zu vernetzen“.25 So besehen diente die Transsibirische Eisenbahn vor allem der Expansion des Reiches in den Fernen Osten, was jedoch erst einmal an den imperialistischen Ambitionen Japans in Korea und der Mandschurei scheiterte.26 Die restlichen Eisenbahnen der Welt bildeten am Beginn des 20. Jahrhunderts allenfalls Fragmente eines Netzes, meist jedoch nur vereinzelte Strecken, oft auch von unterschiedlicher Spurweite und von einseitigen kolonialen Interessen bestimmt.27 Es ist deshalb zwar richtig, dass Osterhammel resümiert, „nicht alles, was auf den ersten Blick wie ein Netz aussieht, es auf den zweiten bleibt“  ; doch wenn man die rudimentären Verbindungen außerhalb des europäischen und nordamerikanischen Kulturkreises in den Zusammenhang mit dem bestehenden Netz der Schifffahrtsverbindungen betrachtet, ergeben sie durchaus einen Sinn und bilden einen Teil des Weltverkehrsnetzes.28 Das gilt vor allem auch deshalb, weil auch im Bereich des Seeverkehrs rasante Leistungssteigerungen erzielt wurden. Allerdings verdrängte das Dampfschiff das billige Segelschiff in der Hochseeschifffahrt nur langsam. Noch lange Zeit waren die Unterschiede in Größe und Geschwindigkeit bei den Schiffen viel geringer als beim Landtransport zwischen Fuhrwerk und Eisenbahn  ; zudem ließen die Maschinenanlagen und Kohlenbunker anfangs kaum Platz für Frachträume. Das Segelschiff erlebte sogar bis in die 1860er-Jahre hinein mit den schnellen Klippern noch einmal eine Blütezeit, bis dann die Effizienz der Dampfschiffe stieg, ihr Kohleverbrauch sank, sie mit den Segelschiffen gleichzogen und schließlich in Geschwindigkeit, Zuverlässigkeit und Kapazität überholten. Dann kam ihr entscheidender Vorteil, ihre Unabhängigkeit gegenüber widrigen Winden und Strömungen, voll zur Geltung. Zu diesem Erfolg trugen die Erfindung der Schiffsschraube und der Bau eiserner und später stählerner Schiffsrümpfe bei. Erst dadurch wurden große Schiffe mit steigenden Transportkapazitäten möglich. Während die Schiffsgrößen um 1890 bei weniger als 700 Bruttoregistertonnen ­lagen, so hatten sie sich drei Jahrzehnte später nahezu verdreifacht. Im ganzen 19. Jahrhundert dominierte Großbritannien die Hochseeschifffahrt. Es besaß bis zum Ersten Weltkrieg die mit Abstand größte Handelsflotte. Frankreich, das Deutsche Reich sowie die USA und Japan folgten erst in weitem Abstand. Ähnlich wie das Eisenbahnnetz war auch der maritime Welthandel auf ­Europa und Nordamerika ausgerichtet und sparte riesige Regionen der Welt aus. Die Haupt­routen des Schiffsverkehrs verliefen von den Atlantik- und Nordseehäfen 482

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 482

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

ausgehend durch die Straße von Gibraltar und den Suezkanal in das Rote Meer und in den nördlichen Indischen Ozean und von dort durch die Straße von Malakka bis nach Japan. Eine weitere Schifffahrtsstraße verlief entlang der afrikanischen Westküste zum Kap der Guten Hoffnung bis nach Australien, eine weitere von Europa nach Südamerika, und schließlich gab es noch eine bedeutende Verbindung über den Pazifik von San Francisco und Seattle nach Yokohama. Die wichtigste Route von allen aber verband London oder Liverpool mit New York. Das demonstriert unmissverständlich, von welchen Regionen damals die Dynamik in der Welt ausging.29 Was wurde auf diesen Routen transportiert  ? Der Welthandel des 19. Jahrhunderts unterschied sich vom Welthandel der Frühen Neuzeit beträchtlich. In dem Zeitraum zwischen 1750 und 1913 stieg nach europäischen Schätzungen der Wert des Welthandels um mehr als das Fünfzigfache. Lag der Anteil des Weltexports an der Weltwirtschaftsleistung, dem Weltsozialprodukt, 1825 noch bei einem Prozent, so stieg dieser bis 1900 auf knapp acht Prozent.30 Die Baumwolle rückte unter die bedeutendsten Transportgüter vor, weil die mechanische Fabrikproduktion von Textilien immer mehr an Gewicht gewann. Europa wurde besonders abhängig von den Baumwollernten in Indien und in den amerikanischen Südstaaten. Obgleich der amerikanische Bürgerkrieg die Europäer zwang, sich nach anderen Lieferländern, etwa Ägypten und Westindien, umzusehen, erholte sich der amerikanische Baumwollexport nach dem Krieg. Auch der Bedarf an Wolle aus Australien, Neuseeland oder Argentinien stieg rasch an. Ein zweiter großer Teil des Welthandels resultierte aus der Abhängigkeit der Industrieländer von Lebensmittelimporten, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzten. Der Welthandel lieferte Weizen und Fleisch aus Nord- und Südamerika. Zwischen 1860 und 1880 war noch Lebendvieh nach Europa transportiert worden, aber erst als es die Gefriermöglichkeiten gab, gelangten bedeutende Mengen Fleisch in den internationalen Handel. Nicht nur der Handel vernetzte sich zu einem weltweiten System von Austauschbeziehungen, die nicht mehr nur Luxusartikel, sondern auch Massengüter betrafen, sondern auch die Produktion. Denn für die steigenden Nahrungsmittel- und Rohstoffeinfuhren im 19. Jahrhundert zahlte Europa mit den Erzeugnissen seiner rasch wachsenden Industrien und exportierte damit den Prozess der Industriellen Revolution selbst. Die steil ansteigende Ausfuhr von Dampfmaschinen, BergbauAusrüstung, Textil- und Werkzeugmaschinen, Stahlwerken, Eisenbahnen, Schiffen, Rüstungsgütern und Industriechemikalien trug dazu bei, die Industrielle Revolution auf andere Kontinente auszuweiten. Das war die eigentliche Geburt der Weltwirtschaft – nach ihren Anfängen in der weltweiten Anlage von Plantagen, die mit Sklaven bewirtschaftet worden waren.31 483

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 483

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

Der Nachrichtenverkehr Nicht nur der Land- und Seetransport revolutionierte sich, auch der Nachrichtenverkehr, und zwar in Abhängigkeit mit den modernen Transportmedien einerseits und auf eigener Grundlage andererseits. So konnte die Effizienz des Briefverkehrs durch eine geschickte Organisation beachtlich gesteigert werden, sodass er sich zum Massenkommunikationsmittel per se entwickelte. Allein im Deutschen Kaiserreich wurden 1871 412 Millionen und 1913 6,8 Milliarden Postsendungen in alle Welt verschickt.32 Doch sie blieben an die maximale Reisegeschwindigkeit des jeweiligen Transportmediums gebunden. Noch am Vorabend des Telegrafenverkehrs waren Briefe von New York nach London 14 und von Sydney aus sogar 60 Tage unterwegs gewesen. Eine wesentliche Verkürzung brachte die elektromagnetische Signalübertragung. Sie reduzierte die zeitlichen Beschränkungen bei der Nachrichtenübermittlung auf ein Minimum. Am Anfang stand der Erfolg der ersten Pilotstrecke im nordamerikanischen Boston im Jahre 1843. Preußen folgte fünf Jahre später, und 1850 war bereits ein europäisches Netz entstanden, das 1866 über eine dauerhaft funktionierende transatlantische Telegrafenverbindung mit der Neuen Welt verbunden wurde. Nun benötigten Botschaften zwischen London und New York, den beiden wirtschaftlichen und politischen Zentren der transatlantischen Welt, nicht mehr die Dauer einer Schiffsreise, sondern nur noch vier Minuten. Während Europa und Nordamerika rasch verkabelt wurden, kam es erst sehr viel später zur Vernetzung mit Teilen Asiens und Südamerikas. Afrika blieb noch lange Zeit außen vor. Es war Großbritannien, das die Vernetzung der Welt vorantrieb und das am Ende des 19. Jahrhundert fast ein Monopol auf die unterseeischen Weltkabel besaß. Andere Länder, insbesondere die USA, holten auf, Deutschland dagegen nicht. Es verfügte vor dem Ersten Weltkrieg gerade einmal über zwei Prozent des Netzes.33 In kurzer Zeit krempelte die neue Nachrichtentechnologie den Mediensektor um. Nachrichtenagenturen wie Reuters, Associated Press oder Wolff stellten vom Brief auf die Telegrafie um und trugen zum Entstehen einer gleich getakteten Weltöffentlichkeit bei. Der Telegraf erlangte auch beim Aufbau des internationalen Kapitalverkehrs und der Börsennachrichten eine große Bedeutung und wirkte als Logistikinstrument auf den Güter- und Personentransport zurück. Schiffe konnten nun weltweit ohne große Zeitverluste von einer Zentrale aus dirigiert werden, und auch der Eisenbahnverkehr beruhte seit den 1850er-Jahren auf dem Signalfluss der Telegrafen- und später der Telefonverbindungen. Markt- und Preisinformationen rasten um den Globus, die internationale Arbeitsteilung nahm zu, und große wirtschaftliche Komplexe standen in enger Verbindung zu ihren Konzernzentralen. Auf politischem wie auf militärischem Gebiet erhöhte sich die 484

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 484

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

Reaktionsgeschwindigkeit bei internationalen Krisen – damit allerdings auch der Zwang zu raschem Handeln.34 Natürlich waren auch diese Netze nicht überall gleich dicht und leicht verfügbar. Im Gegenteil, am Beginn des 20. Jahrhunderts hatte ein Großteil der Weltbevölkerung keinen Zugang zu diesen technischen Systemen. Es bestanden weiterhin große Lücken und Disproportionalitäten zwischen den dichten Netzen Europas und Nordamerikas zu den restlichen Netzen der Welt. Bereits an der Peripherie Europas dünnten sie sich aus. Dennoch, mit dem Aufbau eines Netzes von Eisenbahnen gelang Europa und Nordamerika ein großer Sprung nach vorn mit gravierenden Konsequenzen für alle Bereiche der Gesellschaft. Auf die Eisenbahnen setzte wiederum die Telegrafie auf, mit der der Informationsaustausch von den Transportmedien abgekoppelt wurde und die nahe an die direkte Kommunikation in „Echtzeit“ heranrückte. Parallel dazu ließ die Hochseeschifffahrt mit dem dampfbetriebenen Eisenvollschiff ebenfalls große Steigerungen der Schnelligkeit und – mehr noch – der Transportkapazitäten zu. Die Welt war somit bereits im 19. Jahrhundert auf vielen Ebenen vernetzt, und diese Netze erweiterten und beschleunigten nicht nur für sich genommen die Verkehrs- und Transportmöglichkeiten, sondern steigerten gerade auch in ihrer Parallelität und Verknüpfung die Leistungsfähigkeit der Verkehrsinfrastruktur erheblich und damit die Mobilität und die Versorgung mit Gütern und Informationen aus aller Welt. Die prinzipielle Erreichbarkeit der Räume von nahezu jeder Lokalität aus nahm zu – und damit die Verfügbarkeit der mit diesen Räumen verbundenen Chancen und Möglichkeiten.

Umstürzende Innovationen am Beginn des 20. Jahrhunderts Das 19. Jahrhundert endete nicht, ohne die Grundlagen für die Verkehrs- und Kommunikationsrevolution für das 20. Jahrhundert gelegt zu haben. Die ersten motorbetriebenen Kutschen und verschiedene Techniken des Fliegens bereiteten den Siegeszug des motorisierten Individual- und des Luftverkehrs vor. Das Telefon etablierte sich, und das Schriftmedium Brief gab seine beherrschende Stellung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts an das über Draht oder Funk gesprochene Wort und geschriebene E-Mails ab. Die Basistechnologie des Telefons und die Technik des Funkverkehrs – Letztere auch Grundlageninnovationen für Radio, Television sowie das satellitengestützte world wide web – standen mit den Entwicklungen Graham Bells um 1880 und den Experimenten Guglielmo Marconis um 1900 bereits kurz vor dem Durchbruch. Doch bevor sich die neuen Verkehrs- und Nachrichtensysteme durchsetzten, kam es bei den alten, das heißt der Eisenbahn und dem 485

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 485

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

Schiff, noch zu bedeutenden technischen Neuerungen, die die Effizienz dieser beiden Transportmedien noch einmal steigerten. Zum einen wurde auf Schiffen die Befeuerung der Dampfkessel auf Öl umgestellt, und kurz darauf setzte sich der Dieselmotor durch. Sein Wirkungsgrad lag etwa dreimal höher als bei den Dampfmaschinen. Für die gleiche Leistung wurde nur noch ein Drittel an Treibstoff benötigt. Das sprach deutlich für die Innovation, und so war bereits Ende der 1920er die Hälfte der neu gebauten Schiffe mit Dieselantrieben versehen. Auch im Eisenbahnwesen war man auf der Suche nach neuen Antrieben. Mit der Heißdampflokomotive von Wilhelm Schmidt und Robert Garbe konnten der geringe Wirkungsgrad gesteigert und damit Heizmaterial und Wasser eingespart werden. In den 1930er-Jahren versuchte man den hohen Luftwiderstand der Dampflokomotiven zu verringern, was noch einmal einen Leistungsgewinn von mehr als 25 Prozent brachte. Doch all das konnte das Grundproblem der Dampftraktion – der systembedingte niedrige Wirkungsgrad zwischen fünf bis acht Prozent – nicht beheben. Es bot sich deshalb der elektrische Antrieb mit einem Wirkungsgrad um die 24 Prozent an. Auch andere Vorteile sprachen für diesen Antrieb. Er ist wartungs- und schadstoffarm, besitzt eine gleichmäßigere Zugkraft, man kann mit ihm problemlos vorwärts- und rückwärts fahren sowie für kurze Zeit hoch belasten. Noch etwas sprach für den Elektroantrieb  : Man kann mit ihm ohne Aufwand unterirdisch fahren. Das machte elektrische Bahnen zu idealen urbanen Transportmedien. Sie hielten ab den 1880er-Jahren Einzug in die Städte der Welt, und zwar zuerst wieder in die Städte Nordamerikas, dicht gefolgt von den Metropolen Europas.35 Ihre Verwendung für den Fernverkehr wurde jedoch aus verschiedenen Gründen von vielen Eisenbahngesellschaften nur zögerlich angegangen. Schwer wog – etwa in Großbritannien und Deutschland – die enge Verbindung von Eisenbahnen und Kohleindustrie. Beide Länder verzögerten die Einführung dieser Innovation bis in die 1950er-Jahre hinein. In Ländern dagegen, die teure Kohleimporte durch Wasserkraft ersetzen konnten, wie Italien, Schweiz oder Schweden, vollzog sich die Durchsetzung der elektrischen Traktion rund drei Jahrzehnte früher. Allerdings sprachen auch sachliche Gründe wie die enormen Kosten gegen den Bau und Betrieb elektrifizierter Strecken. Das war der Grund, warum sich parallel zum Elektroantrieb auch der Dieselantrieb oder eine Kombination aus Diesel- und Elektromotoren etablierte. In dieser Hinsicht schritten die USA voran, weil dort aufgrund der weiten Entfernungen eine Elektrifizierung unrentabel war und die USA über große Erdölvorkommen verfügten.36 Wenn bei aller rasanten Verdichtung der Netze und ihrer gesteigerten Leistungsfähigkeit auch die Grundstruktur der Verkehrssysteme noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein erhalten blieb, konnten die zahlreichen Innovationen für 486

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 486

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

die im 19. Jahrhundert etablierten Verkehrssysteme nicht verhindern, dass sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den modernen Straßen- und dann von den Luftverkehrsverbindungen überlagert und verkehrsstrategisch an den Rand gedrängt wurden. Am Anfang standen filigrane Gebilde wie das erste 1885/86 von Carl Benz und Gottlieb Daimler gebaute Automobil und das von den Brüdern Wilbur und Orville Wright 1903 gebaute erste Flugzeug. Mit diesen technischen Systemen bahnte sich ähnlich wie mit den ersten, kaum weniger fragilen Lokomotiven von Richard Trevithick, John Blenkinsop und Robert Stephenson eine neue Transportrevolution an. Wie bei der Nutzung der ersten Lokomotiven für eine nutzbare Verkehrsinfrastruktur dauerte die Durchsetzung des Automobils und des Flugzeugs ebenfalls mehrere Jahrzehnte. Zur ebenso langen Vorgeschichte gehörten das Fahrrad und die Entwicklung immer kompakterer Antriebsmaschinen. Ab den 1880er-Jahren hatte sich das Fahrrad zu einem Massenverkehrsmittel für das tägliche Pendeln zur Arbeit und zum Freizeitvergnügen entwickelt. Es bildete eine technologische Brücke für das Automobil. Vom Fahrrad gingen Kugellager, Reifen und die Antriebskette auf das Auto über. Die Stahlrohre fanden im Flugzeugbau Verwendung. Ebenso bauten die späteren Automobilisten und Flugpioniere auf das von Fahrradnutzern fortgeschriebene Verkehrsrecht, Vereinswesen oder den Schau- und Rennbetrieb auf. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass viele Auto- und Flugzeugfabriken aus Fahrradfabriken hervorgingen. Während die Eisenbahnen ursprünglich vor allem den Güterverkehr effizienter gestalten sollten, diente das Automobil erst einmal vorrangig dem Personenverkehr. Da sich jedoch auch Fuhrwerke motorisieren ließen, blieb die Innovation genauso wenig ohne Auswirkung auf den Güterverkehr, wie umgekehrt die Eisenbahnen auch den Personenverkehr revolutioniert hatten. Die Motorisierung des Straßenverkehrs hing vom Ausbau der Straßennetze ab, und das „veränderte nicht nur die Landschaft, die Industriestrukturen und den Außenhandel, sondern auch den Alltag und die Freizeit von zuerst wenigen und dann immer mehr Menschen“.37 Wenn auch immer wieder Namen wie Benz, Daimler oder Wright genannt werden, so ist weder das Automobil noch das Flugzeug als Erfindung eines Einzelnen anzusehen, sondern an seiner Entwicklung waren Viele beteiligt, unter Verwendung von Technologien aus benachbarten Wirtschaftszweigen. Der Verbrennungsmotor war durchaus nicht die entscheidende Innovation. Es standen Antriebsalternativen mit Gas, Dampf und Elektromotoren zur Verfügung. Als entscheidend für die Durchsetzung des Massenindividualverkehrs erwies sich eher der Umbau des Straßennetzes. Wie die Eisenbahn benötigten die Automobile einen harten und ebenen Untergrund. Der Übergang von den Sandoberflächen der alten Chausseen zur festen Straßendecke aus Pflaster, Asphalt oder Beton bildete eine zentrale Vo487

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 487

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

raussetzung für die Transformierung des Automobils von einem Herrenreiterutensil zum universalen Massenverkehrsmittel unserer Zeit. Das galt nicht nur für die Highways in den USA oder die Autobahnen in Italien und Deutschland, sondern mehr noch für die Netze der Landstraßen und überhaupt für die Straßen in den Städten und Dörfern. In der Art, wie sich die Massenmotorisierung durchsetzte, zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen den USA und Europa. Lieferte Europa das Grundmodell des Personen- und Güterverkehrs im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Eisenbahn, so schritten nun die USA voran und prägten bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts die zukünftige Entwicklung von Verkehr und Mobilität. Diese war bestimmt von sinkenden Kosten in der Produktion durch Serien- und Massenfertigung, die Distribution von Personenkraftwagen an breite Käuferschichten sowie massenhaften Speditionsgründungen mit Lastkraftwagen und den Aufbau von beeindruckenden Transportkapazitäten im Güterverkehrsbereich. Europa hinkte bei dieser Art von Massenmotorisierung um Jahrzehnte hinterher. Kam in den USA kurz vor dem Ersten Weltkrieg schon auf 81 Einwohner ein Auto, so war es zur gleichen Zeit in Frankreich nur eins auf 437 und in Deutschland sogar nur eines auf 1.567 Bürger. Kaum zwanzig Jahre später war die Motorisierung in allen Ländern Nordamerikas und Europas zwar rasant vorangeschritten, doch der Abstand zu den USA bestand fort. Hier nannte bereits jeder sechste ein Automobil sein Eigen, während es in Frankreich nur jeder Vierzigste war, und in Deutschland kam trotz aller Automobilbegeisterung nur ein Auto auf 131 Einwohner.38 Das Konzept der Massenmotorisierung wird gemeinhin mit dem Namen Henry Ford in Verbindung gebracht. Man spricht sogar von „Fordismus“, um weit darüber hinausgehend die Dynamik der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in den westlichen Gesellschaften in der Zwischenkriegszeit wie in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zu charakterisieren. Richtig daran ist, dass Ford die Fließbandfertigung und die Massenproduktion in den Automobilbau einführte und auf niedrige Produktpreise achtete. Sein Unternehmen entwickelte sich auf dieser Grundlage zum mit Abstand größten Autoproduzenten der damaligen Welt. Dennoch wird seine Rolle überschätzt. Seine Konkurrenten gewannen schon nach kurzer Zeit mit zahlreichen Innovationen und einer flexibleren Modellpalette verlorene Marktanteile zurück, und es war dann General Motors, das die weitere Entwicklung prägte. Auch die europäischen Firmen adaptierten zwar die Ford’sche Massenproduktionsweise, ohne allerdings das Konzept der Massenkaufkraft und des Konsums breiter Käuferschichten zu übernehmen. Sie setzten stattdessen auf qualitativ hochwertige Automobile für ein zahlungskräftiges Publikum. Der Personenkraftwagen blieb deshalb in Europa noch lange ein privilegiertes Produkt. Entsprechend gering 488

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 488

22.09.2010 07:50:48

Verkehrsrevolutionen

waren die Produktionszahlen, die weit hinter den amerikanischen hinterherhinkten. In Amerika waren 1938 mit rund 29 Millionen Autos viermal so viele registriert wie in ganz Europa zusammen. Anders verlief die Durchsetzung des Lastkraftwagens. Sein Siegeszug begann nach dem Ersten Weltkrieg. Nach der Demobilisierung bedeutender Lastkraftwagenbestände nahmen Speditionsunternehmen die Konkurrenz mit der Eisenbahn auf. Seine Flexibilität, dazu die sinkenden Anschaffungs- und Betriebskosten und der Ausbau des Straßennetzes trugen zum Erfolg des motorisierten Güterverkehrs auf der Straße bei. Verlierer des sich über mehrere Jahrzehnte hinziehenden Prozesses waren die Eisenbahnen Westeuropas, Nordamerikas und Japans. Wegen der zurückbleibenden Motorisierung betraf dies lange Zeit die Eisenbahnen in Osteuropa und großen Teilen Asiens weitaus weniger. In vielen Ländern, die von der Motorisierung direkt betroffen waren, gelang es der Eisenbahn zwar, ihr Transportaufkommen in absoluten Zahlen noch lange Zeit zu halten oder sogar auszudehnen, ihr Marktanteil ging jedoch beständig zurück. In Europa betrug er im Jahre 2002 nur noch 13 Prozent. Die gleiche Tendenz ist beim Personenverkehr zu beobachten. In allen entwickelten Industrieländern des westlichen Kulturkreises schrumpfen die Netze durch Streckenstilllegungen. Diesen Trend konnten auch bedeutende Modernisierungsanstrengungen, ob auf administrativer, logistischer oder technologischer Ebene – wie etwa die Durchsetzung der Elektrifizierung, die Einführung von Hochgeschwindigkeitseisenbahnen, moderne energieschonende Stadteisenbahnen –, nicht stoppen. Die Ursachen sind also im Grundsätzlichen zu suchen. Das Automobil konnte in der Konkurrenz mit der Eisenbahn einen systembedingten Vorteil voll ausspielen – die Netzdichte. Das Straßennetz war zu jeder Zeit viel dichter als die Netze der Eisenbahn und hatte – auch wenn sich lange Zeit viele Teile des Netzes in einem wenig befriedigenden Zustand befanden – bereits erreicht, was trotz des gewaltigen Ausbaus der Eisenbahnen nie zu erreichen war, eine Dichte, die es erlaubte, jede Stadt, jedes Dorf, ja jedes Haus miteinander zu verbinden. Die Eisenbahnen blieben selbst in ihren besten Zeiten immer auf den Straßenverkehr angewiesen, denn über die Straßen vollzogen sich die meisten Anfangs- und Endtransporte in der Gesamtkette der Personen- und Güterbeförderung. Mit der Motorisierung zeigte sich, dass der Straßenverkehr in der Umkehrung weitaus weniger auf die Eisenbahn angewiesen war als umgekehrt. Doch nicht alles kann mit dem Automobil transportiert werden und nicht jeder Transport mit dem Automobil ist kostengünstig, zumal dann, wenn die Kapazität des Straßennetzes an seine Grenzen stößt. Massen- und Schwerguttransport sowie Engpässe im Straßenverkehr sicherten den Erhalt der alten Transportmedien Eisenbahn und Schiff. Insbesondere der Seefrachtverkehr behauptete sich auch in 489

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 489

22.09.2010 07:50:49

Verkehrsrevolutionen

den folgenden Jahrzehnten. Über ihn wird noch heute der größte Teil des interkontinentalen Warentransports abgewickelt. Allein im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts hat sich sein Volumen verdoppelt und erreichte zur Jahrtausendwende 5,2 Milliarden Tonnen. Fast die Hälfte der Tonnage entfiel dabei auf Rohöl und Mineralölerzeugnisse. Erze und Kohle erreichten je um die zehn Prozent, Getreide die Hälfte, und fast 30 Prozent der Waren bestehen aus Stückgütern.39 Für die traditionellen Transportmedien wirkte sich zudem stabilisierend aus, dass die Durchlässigkeit zwischen dem Güterverkehr auf der Straße, der Eisenbahn und dem Schiff durch die zunehmende Nutzung von Containern vergrößert werden konnte. Sie kamen 1956 zum ersten Mal zum Einsatz und führten zu einer Revolution in der Logistik, weil sie das Beladen, Befördern, Lagern, Entladen und vor allem das Umladen von Gütern vereinfachten und beschleunigten und zu einer massiven Reduktion der Frachtpreise führten.40 Ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts veränderte das Verkehrssystem Automobil ausgehend von Nordamerika und Europa das wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen in der Welt, die Städte wurden autogerecht umgebaut, die Verkehrsversorgung in der Fläche ging von der Eisenbahn auf das Auto über, und dort, wo die Massenmotorisierung Einzug hielt, beendete das Auto die Benachteiligung jener Regionen, die von der Eisenbahn nicht erreicht worden waren, und es beendete die ländliche Isolation. Arbeitskräfte wurden hoch mobil, Wirtschaftsstandorte und die Vernetzung der Wirtschaft konnten viel flexibler gestaltet werden als zuvor in dem starren Infrastrukturkorsett der Eisenbahnen. Das Automobil erreichte wie die Eisenbahn in immer neuen Spezialanwendungen ein breites Spektrum von Transportanwendungen für alle Zwecke des Lebens und der Freizeit bis hin zur Motorisierung des Heeres oder als Kultobjekt und Persönlichkeitsprothese, die vermeintlich Auskunft über Persönlichkeit und Status des Einzelnen gibt. Angesichts dieser multidimensionalen Nutzung, den großen Vorteilen in der Mobilität, dem Komfort und der Bequemlichkeit, schmolz die anfangs durchaus beträchtliche Ablehnung gegen die Motorisierung der Straße rasch dahin. Der Protest richtete sich gegen die Bürden, die bereits in der Anfangszeit des Massenverkehrs spürbar wurden  : Unfälle, Staub, Lärm und Gestank. Der Protest verschwand ganz genauso, wie sich rund hundert Jahre zuvor die Aversionen und Ängste, die mit der Einführung der Eisenbahn verbunden waren, mit ihrer massenhaften Nutzung auflösten – später kamen Protest und Aversion allerdings wieder zurück.41 Das teilten Automobil und Eisenbahn mit dem zweiten neuen Verkehrssystem – dem Flugzeug, das „breiten Massen der wohlhabenden Länder Zugang zur globalen Arbeits- und Erlebniswelt“ gewährt.42 Obwohl das Jüngste im Kreis der mo490

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 490

22.09.2010 07:50:49

Verkehrsrevolutionen

dernen Verkehrsmittel, reicht seine Geschichte mittlerweile schon über viele Jahre zurück. Die heutigen technischen Lösungen haben allerdings mit den Anfängen des Fliegens wenig gemein. Sie knüpfen auch nicht an den uralten Träumen vom Fliegen an. Erfolg brachte vielmehr die Naturbeobachtung, dass warme Luft nach oben steigt. Sie musste nur eingefangen werden. Der Ballon erwies sich als ein gangbarer Weg, der bereits 1783 zum Erfolg führte. Einen Nutzen für den Verkehr hatte das Ganze lange Zeit nicht, weil Ballone nicht steuerbar waren. Erst das Luftschiff brachte rund hundert Jahre später praktikable Anwendungen. Erstmals von dem Holzhändler David Schwarz im Jahre 1895 zur Flugtauglichkeit entwickelt, gingen die Patente an den Kavallerieoffizier a. D. Ferdinand von Zeppelin über, der die Technik verbesserte und nach vielen Rückschlägen den Bau von Luftschiffen schaffte, die im Rahmen der 1909 gegründeten Deutschen Luftschiff-AG (Delag) einen regelmäßigen Linienverkehr zwischen deutschen Städten aufnahmen. Zeppelin schaffte mit seinen Luftschiffen Anfang der 1920er-Jahre sogar die Überquerung des Atlantiks. Trotz großer Popularität endete dieser verkehrstechnologische Pfad allerdings 1937 mit der Brandkatastrophe von Lakehurst. Danach setzte sich endgültig eine andere technische Lösung des Fliegens durch – das Flugzeug. Die Anfänge liegen auch hier in Deutschland, ohne dass man diese erfolgreich fortgeführt hätte, wozu sicher die Erfolge Zeppelins und die großen Investitionen in diese technologische Sackgasse beigetragen haben. Seit den 1880er-Jahren bemühte sich Otto Lilienthal um ein tieferes Verständnis der dem Vogelflug zugrunde liegenden aerodynamischen Gesetze und führte selbst Flugversuche mit einfach gebauten Gleitern durch. Flugpioniere in Großbritannien und den USA knüpften an Lilienthals Erkenntnisse an. 1903 gelang schließlich den Fahrradfabrikanten Wright in den USA der Bau eines Motorflugzeuges, das damit seinen Siegeszug als transatlantisches Innovationsprodukt begann. Von den einfachen Propellergleitern der Brüder Wright dauerte es nur vier Jahrzehnte bis zur Entwicklung des Düsenstrahltriebwerks, das technologisch an der Dampfturbine der späten 1890erJahre ansetzte und parallel in Deutschland und Großbritannien zu Kriegszwecken entwickelt wurde. Bis die ersten Düsenjets gebaut werden konnten, die die Basis des modernen Luftverkehrs bilden, musste jedoch noch eine ganze Reihe von technischen Innovationen hinzukommen. Dazu gehörten die Konstruktion von Ganzmetall-Eindeckern, die Befestigung von mehreren Motoren an den Flügeln, das einziehbare Fahrwerk, die Druckkabine, überhaupt Langstreckenflugzeuge sowie Funkverkehr und Radar.43 Wie beim Lastkraftwagen beförderte der Erste Weltkrieg die Anfänge einer kommerziellen Nutzung. Die Anzahl der Flugzeuge stieg weltweit auf mehr als 200.000 an, für die nach Kriegsende keine Verwendung mehr bestand. Die öffentliche Hand förderte deshalb in vielen Ländern ihre 491

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 491

22.09.2010 07:50:49

Verkehrsrevolutionen

Umnutzung für zivile Zwecke. Aus diesen zarten Anfängen entstanden innerhalb weniger Jahre staatliche Unternehmen wie Lufthansa, British Airways, die holländische Koninklijke Luchtvaart Maatschappij (KLM), Air France oder Alitalia, die erst am Ende des Jahrhunderts sukzessive privatisiert wurden. Anfangs diente der Flugverkehr zur schnellen Beförderung von Briefen, auch zur Kartografierung und zur Versorgung abgelegener Gegenden. In dieser Zeit gelang der transatlantische Flugverkehr zwischen Europa und den USA, und damit schien ein außerordentlich schneller Reiseverkehr oder Transport von hochwertiger Fracht zwischen beiden Kontinenten zum Greifen nah.44 Doch zunächst gewann die militärische Luftfahrt die Oberhand. Aus dem Verkehrsmittel wurde wieder vor allem eine zerstörerische Waffe für taktische und strategische Kriegsziele.

Das Flugzeug als Arbeitspferd des globalen Verkehrs Der Krieg hinterließ nochmals eine gewaltig gesteigerte Flugzeugproduktion und eine Infrastruktur der Luftfahrt, die mit jener der Zwischenkriegszeit nichts mehr gemein hatte. Die Motorleistungen waren gestiegen und das Strahltriebwerk zur technischen Reife entwickelt worden. Wenige Jahre nach Kriegsende stand deshalb mit der Comet I der Typus eines vierstrahligen Düsenverkehrsflugzeugs mit Druckkabine und einer Reisegeschwindigkeit von 700 Stundenkilometern zur Verfügung. Doch nicht die britische Flugzeugindustrie, die diesen Prototyp entwickelt hatte, sondern die amerikanische setzte sich durch und bestimmte für viele Jahrzehnte das Zeitalter des interkontinentalen Flugverkehrs. Das kam nicht ganz unerwartet, denn schon in den 1930er-Jahren hatten die US-amerikanischen Fluggesellschaften die europäischen weit hinter sich gelassen. Der Sieg der USA im Zweiten Weltkrieg befestigte diese Vorrangstellung – allerdings nur im westlichen Teil der von nun an bis 1990 geteilten Welt. Dennoch bildete sich ein globaler Flugmarkt heraus mit einer rasanten Zunahme des zivilen Luftverkehrs, der 1960 bereits acht Milliarden Personenkilometer verzeichnete und dann bis zum Jahr 2000 auf 3.300 Milliarden Personenkilometer anstieg. Gab es 1945 weltweit neun Millionen Passagiere, so fünf Jahre später bereits 31 Millionen. Bis 1960 hatte sich die Zahl auf 106 Millionen erhöht und 2006 zählte man 2,1 Milliarden Passagiere. Der Flugverkehr hat relativ fest umrissene Märkte und ist bei Weitem nicht so multifunktional wie die kombinierten Verkehrsmittel Automobil, Eisenbahn und Schiff. Standen anfangs berufliche Flugreisen im Vordergrund, so gewann der Flugtourismus in den folgenden Jahrzehnten eine immer größere Bedeutung, bis im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts der heutige Massentourismus entstand. Auch der Frachtverkehr 492

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 492

22.09.2010 07:50:49

Verkehrsrevolutionen

ist nicht zu vernachlässigen. Immerhin wird mittlerweile über ein Drittel als Luftfracht abgewickelt.45 Die Gründe für diesen Erfolg des Flugverkehrs finden sich in den Defiziten der traditionellen Verkehrssysteme Eisenbahn und Schiff. Sie bildeten zwar zusammen durchaus ein Weltnetz, aber ein Netz mit vielen Unterbrechungen, sei es durch Wüsten, abgelegene Meere, wenig besiedelte Regionen oder arme Staaten ohne Mittel für den Aufbau einer Eisenbahninfrastruktur. Deshalb wies das Weltnetz an vielen Stellen große Löcher auf. Dazu kam die Langsamkeit der Schiffe. In beiden Fällen schuf das schnelle Flugzeug Abhilfe. Seine globale Verbreitung wurde dadurch erleichtert, weil es am Boden mit einer punktuellen Infrastruktur auskommt – den Flughäfen und Einrichtungen zur Navigation – und keine großräumigen Infrastrukturen am Boden benötigt. Dazu kamen sinkende Kosten im Flugzeugbau und bei den Treibstoffpreisen, was allein zwischen 1955 und 1995 zu einer Halbierung der Flugkosten führte.46 Doch auch der Flugverkehr wies ganz ähnliche räumliche Schwerpunkte auf wie der Eisenbahn- und Schiffsverkehr im 19. Jahrhundert, denn auch die Flugreisen korrelieren wie alle Formen der Mobilität mit Wohlstand. Der weitaus größte Teil des Flugverkehrs spielt sich deshalb nicht zufällig zwischen Nordamerika und Europa sowie Asien beziehungsweise innerhalb dieser drei Kontinente ab. Die zehn größten Flughäfen der Welt liegen in den USA, in Japan und in Europa. Im Jahre 2003 entfielen 43 Prozent aller Flugpassagiere im Linienverkehr auf Nordamerika und 31 Prozent auf Europa, aber nur zwei Prozent auf Afrika.47 Der Flugverkehr hat auch sonst viele problematische Seiten. So hat das Verkehrsmittel Flugzeug größere Sicherheitsprobleme als andere Verkehrssysteme. Sie erwachsen nicht allein aus der technischen Seite einer balancierten Bewegung und der Infrastruktur des Gesamtsystems, sondern zum einen aus den wirtschaftlichen Anforderungen und zum anderen aus politischen Verwerfungen und der Ungleichheit zwischen Industrialisierungsgewinnern und -verlierern in der Welt. So wächst mit der voranschreitenden Deregulierung die Sorge, dass der ruinöse Wettbewerb unter den Fluggesellschaften zu einem Absinken der Sicherheitsstandards führen könnte. Noch gewichtiger sind die Risikofaktoren, die aus der Beliebtheit des Flugzeugs als Ziel terroristischer Angriffe resultieren. Tatsächlich ist die Umwandlung des Flugzeugs in ein Destruktionsmittel – wie die Kriege des 20. Jahrhunderts und terroristische Anschläge der letzten vier Jahrzehnte zeigen – viel leichter und medienwirksamer zu bewerkstelligen als bei anderen Transportmedien. Der Flugverkehr ist weiterhin der emissionsreichste Verkehr überhaupt mit negativen Auswirkungen auf die Luftqualität, auf das ökologische Gleichgewicht in den oberen Schichten der Atmosphäre und auf die Entwicklung des Klimas. Aufgrund der Dichte des Flugver493

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 493

22.09.2010 07:50:49

Verkehrsrevolutionen

kehrs erreicht der Fluglärm heute eine Dimension, die die Lebensqualität in vielen Regionen ernsthaft beeinträchtigt.48

Am Ende des 20. Jahrhunderts  : Das Zusammenwachsen der Netze und ihre Kulmination im Internet Dieser Überblick wäre nicht vollständig, wenn er nicht auch auf die Revolution im Bereich des Nachrichtenverkehrs eingehen würde. Die technologischen Erfolge im 19. Jahrhundert hatten auch hier die Entwicklung des 20. Jahrhunderts vorbereitet. Trotz aller Erfolge vermochte die Telegrafie nicht den Sprechakt umzusetzen, und die Bildübertragung war mühselig. In diese Lücke stieß ab Ende der 1870er-Jahre das Telefon vor. Es sollte aber bis nach dem Zweiten Weltkrieg dauern, bevor Kabel einen trans- und interkontinentalen Telefonverkehr erlaubten. Später übernahmen Satelliten den globalen Fernmelde- und TV-Verkehr. Das setzte die Entwicklung der Funknetze voraus. Auch deren Wurzeln reichen bis ins späte 19. Jahrhundert zurück. Damals entwickelte der Italiener Marconi die Funktechnologie, die nicht nur zunehmend die Telegrafie ersetzte, sondern auch die Voraussetzungen für den Rundfunk, das Fernsehen und auch das Mobiltelefon bildete. Auf den Telefonund Funknetzen setzte wiederum das computergesteuerte Internet auf, das, gerade 30 Jahre alt, das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der Menschen tiefgreifend veränderte. Die Anfänge reichen in die 1960er-Jahre und zu Computernetzwerken in kalifornischen Forschungseinrichtungen zurück. Das militärische Advanced Research Project Agency Network (arpan et) von 1969 vernetzte anfangs nur einige Großrechner. Vier Jahre später gelang die Verknüpfung von ganzen Netzwerken. Eine zivile Nutzung wurde erst 1983 zugelassen. Der Durchbruch als Massenmedium kam dann Anfang der 1990er mit dem world wide web und den E-Mail-Diensten. Text- und Bildübermittlung sowie Internettelefonie, Musikund Filmübertragung schlossen sich in kurzen Zeitabständen an. Sinkende Kosten und seine auf Telefonkabeln, neuen Glasfasernetzen und sich rasant ausbreitenden Funknetzen basierende globale Verfügbarkeit entwickelten das Internet in wenigen Jahren zu einem Medium, das die Kommunikations- und Informationsbarrieren radikal niederriss. Es bedient die gesamte Spannbreite des Informationsaustauschs von privaten Nachrichten und der Kommunikation in und zwischen den Unternehmen, über politisch-administrative wie militärische Anforderungen bis hin zu den weiten Feldern von Wissen, Wissenschaft und Kultur. Das Internet weckte in seiner Anfangszeit große Hoffnungen auf eine demokratische und friedliche Gestaltung der Zukunft. Doch der Zugang bleibt bislang nur einem Teil der Weltbevölkerung 494

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 494

22.09.2010 07:50:49

Verkehrsrevolutionen

vorbehalten, weil auch bei sinkenden Kosten die Kosten seine Nutzung beschränken und weil die zugrunde liegenden technischen Netze eben nicht überall verfügbar sind.49 Dennoch ist das Internet das adäquate Pendant zur Motorisierung und zum globalen Flugverkehr. So nutzten Logistiker seit vielen Jahrzehnten die Vorteile der jeweiligen Netze und kalkulierten ihre weltweiten Transporte als modulartig zusammengesetzte Verkehre. Darin liegt wohl auch die Zukunft von Verkehr, Mobilität und Transport, wie der Modulverkehr bereits die Vergangenheit bestimmte.

Fazit  : Verkehr und Weltgesellschaft So besehen, ist der blaue Planet wie ein Kokon in einer Sphäre von Verkehrs- und Nachrichtennetzen eingesponnen. Sie sind Voraussetzung der Globalisierung oder der Weltwirtschaft, wie man dies vor hundert Jahren nannte. Die Leistungssteigerungen, die in den letzten 200 Jahren verzeichnet werden können, sind enorm. „Moderne Verkehrsmittel sind“, wie Christoph Merki schreibt, „schneller, sie fahren öfter, sie kommen weiter, sie transportieren mehr Menschen, mehr Güter [und mehr Informationen] als ihre vormodernen Pendants.“ Sie sind komfortabler und sie erledigen ihre Aufgabe kostengünstig. Die ersten Eisenbahnen und Autos fuhren nicht schneller als ein Fahrrad. Moderne Automobile schaffen mühelos 200 Stundenkilometer und ein Hochgeschwindigkeitszug sogar zwischen 300 und 500 Stundenkilometer. Als das Flugzeug schon einiges an technischer Reife gewonnen hatte, flog es um die 70 Stundenkilometer. Die heutigen Linienmaschinen kommen leicht auf 900 Stundenkilometer. Von der technisch erreichten Höchstgeschwindigkeit eines Verkehrsmittels bis hin zu einer durchschnittlichen Verkehrsgeschwindigkeit eines Verkehrsmittels und seiner Wirkung im Verbund mit anderen Verkehrssystemen ist es allerdings meistens ein jahrzehntelanger Prozess. Die Folgen der von Peter Borscheid „Tempovirus“ genannten Errungenschaften sind nicht banal. Unsere kulturell bedingten Raumkoordinaten verschoben sich bis hin zur Umkehrung  ; aus „fern“ wurde „nah“. Die heutigen Verkehrsnetze sind nicht nur schnell, sie verfügen auch über eine große Kapazität. Dazu gehören breite, mehrspurige Straßen, große See- und Flughäfen, ausgereifte Eisenbahnen, Schiffe, Lastkraftwagen und Flugzeuge, die hohe Nutzlasten befördern können. Und dazu gehört ihre Verfügbarkeit, das heißt ihre große Zahl  : Hunderttausende von Eisenbahnen, Schiffen und Flugzeugen und viele hundert Millionen von Personen- und Lastkraftwagen und natürlich die Hunderttausende Kilometer an Schienen, Straßen und Kabel für die verschiedensten 495

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 495

22.09.2010 07:50:49

Verkehrsrevolutionen

­ wecke. Diese gewaltigen Infrastrukturen haben gravierende gesellschaftliche FolZ gen. Wenn wir die welthistorischen Prozesse der letzten 200 Jahre in den Blick nehmen, so finden wir nicht nur eine extreme Ausweitung der länderübergreifenden Kommunikations- und Austauschprozesse auf allen Ebenen der historischen Entwicklung, sondern eben auch die Folgen der internationalen wirtschaftlichen Arbeitsteilung und der kontinentalen und darüber hinaus der weltweiten Kapitalströme, die kontinentalen Personenverkehre und Gütertransporte sowie natürlich die komplexe Kommunikation und die kulturellen Austauschprozesse.50 Die Vernetzung bringt steigende Abhängigkeit in Wirtschaft und Politik. Durch die größere Mobilität wird die globale Migration auf allen Ebenen erleichtert. Weltweiter Transport und Mobilität, Austausch führen auch zur Universalität der Konflikte und zu einem markanten Hervortreten der Ungleichheiten in der Welt, sowohl in den wirtschaftlichen Möglichkeiten und im sozialen Status als auch in den kulturellen Identitäten. Die lange Reihe von Folgewirkungen, die eng mit dem Verkehr verbunden ist, bezieht sich auf gesellschaftliche Vorgänge, die heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, eine gewaltige Dimension erreicht haben. Sie beschreiben – wenn auch oft unzulänglich – grundsätzliche Seiten des Prozesses, in dem sich die Menschheit in immer größeren Räumen organisiert und in kontinentalen Räumen, ja teilweise über die Kontinente hinaus, zu einer Weltgesellschaft zusammenschließt. Mit anderen Worten  : Kommunikation, Verkehr, Transport, Mobilität, Migration, Transfer und Austausch sind zentrale Kategorien einer Geschichtswissenschaft, die kontinentale und transnationale Prozesse beschreiben will.51

Anmerkungen 1 Fritz Voigt, Verkehr, Bd. 1, Berlin 1973, 34. Vgl. dazu auch Andreas Helmedach, Das Verkehrssystem als Modernisierungsfaktor. Straßen, Post, Fuhrwesen und Reisen nach Triest und Fiume vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zum Eisenbahnzeitalter, München 2002, 17 ff. 2 Vgl. etwa Andreas Perdöhl, Verkehrspolitik. Göttingen 1958, 9  ; Joachim Fiedler, Stop and go. Wege aus dem Verkehrschaos, Köln 1992, 19  ; Claude Kaspar, Verkehrswirtschaftslehre im Grundriß, Bern/ Stuttgart 1977, 16. 3 Vgl. Art. Revolution, in  : Otto Brunner u. a., Hg., Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, 653–788, hier 670 f., 714 f. Zur Diskussion in der Technikgeschichte vgl. Siegfried Buchhaupt/Markus Haas/Volker Benad-Wagenhoff, Revolutionen in der Geschichte der Technik  ? – Ein vorläufiges Fazit, in  : Siegfried Buchhaupt, Hg., Gibt es Revolutionen in der Geschichte der Technik  ? Workshop am 20. Februar 1998 aus Anlaß der Emeritierung von Akos Paulinyi, Darmstadt 1999, 153–161, hier 153 f.  ; Akos Paulinyi, Revolution und Technik, in  : ebd., 9–50  ; Ulrich Wengenroth, Revolution oder Evolution in der Technik – eine Frage der Perspektive, in  : ebd., 51–64. Zur Anwendung auf die Verkehrsgeschichte im engeren Sinn vgl. George R. Taylor, The Transportation Revolution 1815–1860, New York 1968.

496

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 496

22.09.2010 07:50:49

Verkehrsrevolutionen

  4 Sartorius von Waltershausen, Das volkswirtschaftliche System der Kapitalanlage im Auslande, Berlin 1907, 421 f.   5 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005  ; ders., Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2008.   6 Vgl. Jonas Larsen/John Urry/Kay Axhausen, Mobilities, Networks, Geographies, Aldershot 2006  ; Peter E. Fäßler, Globalisierung, Köln u. a. 2007, 178–189  ; Peter Dicken, Global Shift  : Transforming the World Economy, 3. Aufl., London 1998, 152. Siehe auch Peter Borscheid, Der Tempovirus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt am Main 2005.   7 Zum Begriff time-space-compression siehe David Harvey, The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Cambridge, MA 1990, 240  ; Jon May/Nigel Thrift, Introduction, in  : Nigel Thrift/John May/Jon May, Hg., Time-Space  : Geographies of Temporality, New York 2001, 1–46. Siehe auch Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, Toronto 2002 [Reprint]  ; Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 1012, 1021  ; Hans-Heinrich Nolte, Eisenbahnen und Dampferlinien, in  : Ralf Roth/Karl Schlögel, Hg., Neue Wege in eine neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York 2009, 124–140, hier 130.   8 Vgl. Ralf Roth, Wenn sich Kommunikations- und Transportsysteme in Destruktionsmittel verwandeln – die Reichsbahn und das System der Zwangsarbeit in Europa, in  : Roth/Schlögel, Hg., Neue Wege, 235–260   ; Charles Verlinden, Les origines de la civilisation atlantique. De la Renaissance à l’Age des Lumieres, Neuchatel/Paris 1963  ; Michael Zeuske, Sklaven und Sklaverei in den Welten des Atlantiks 1400–1940. Umrisse, Anfänge, Akteure, Vergleichsfelder und Bibliographien, Münster 2006  ; Jochen Miessner/Ulrich Mücke/Klaus Weber, Schwarzes Amerika. Eine Geschichte der Sklaverei, München 2008. Vgl. weiterhin Dennis O. Flynn und Arturo Giràldez, Globalization began in 1571, in  : Barry K. Gills, Hg., Globalization and Global History, London 2006, 232–247, hier 232  ; Peter E. Fäßler, Globalisierung, Köln u. a. 2007, 61ff.  ; Christoph Maria Merki, Verkehrsgeschichte und Mobilität, Stuttgart 2008, 36 f. Siehe auch Helmut Pemsel, Weltgeschichte der Seefahrt, 7 Bde., Wien u. a. 2005.   9 Zur Geschichte des Relaissystems vgl. Voigt, Verkehr, Bd. 2/2, 843  ; Troitzsch, Technischer Wandel, 116, 119 f., 124. 10 Vgl. Wolfgang Behringer, Der Fahrplan der Welt. Anmerkungen zu den Anfängen der europäischen Verkehrsrevolution, in  : Hans-Liudger Dienel/Helmuth Trischler, Hg., Geschichte der Zukunft des Verkehrs. Verkehrskonzepte von der Frühen Neuzeit bis zum 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main/ New York 1997, 40–57, hier 42. 11 Vgl. Maxwell G. Lay, Die Geschichte der Straße. Vom Trampelpfad zur Autobahn, Frankfurt am Main/New York 1994, 72–77, 91–97, 99–102. 12 Ralf Roth, Die Herrschaft über Raum und Zeit. Der Einfluß der Eisenbahn auf die deutsche Gesellschaft, 1800 bis 1914, Ostfildern 2005, 24 ff. 13 Vgl. Merki, Verkehrsgeschichte, 41 ff. Zu Großbritannien vgl. Philipp Bagwell/Peter Lyth, Transport in Britain. From Canal Lock to Gridlock, London/New York 2002. Zum Kanalbau in Deutschland vgl. Andreas Kunz, Hg., Statistik der Binnenschiffahrt in Deutschland 1835–1989, St. Katharinen 1999  ; Walther Lotz, Die Verkehrsentwicklung Deutschlands 1800–1900, Leipzig 1900, 9  ; R. van der Borght, Das Verkehrswesen, Leipzig 1894, 203 f. Vgl. auch Max Maria von Weber, Die Wasserstraßen Nordeuropas, Leipzig 1881, 30 ff., 161. 14 Vgl. Roth, Jahrhundert, 28–32  ; ders./Günter Dinhobl, Hg., Across the Borders – Financing the World’s Railways in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Aldershot 2008. 15 Um sich von der Abhängigkeit Hollands loszulösen, wurde die Eisenbahnstrecke von Köln nach Ant-

497

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 497

22.09.2010 07:50:49

Verkehrsrevolutionen

werpen, der sogenannte „Eiserne Rhein“, gebaut und außerdem die aufkeimende Kohle und Stahlindustrie um Liège mit den europäischen Absatzgebieten in Frankreich und den deutschen Staaten verbunden. Vgl. Rondo Cameron, France and the Economic Development of Europe 1800–1914, Princeton 1961, 338 f. Siehe weiter Sabine Van Dooren, Private Spoorwegen in België 1830–1914. Een dynamische interactie tussen Staat en Private Sector, master thesis, University of Louvain, 2000, 103  ; Leon Avakian, Le rythme de développement des voies ferrées en Belgique de 1835 à 1935, in  : Bulletin de l’Institut de Recherches Economiques 7 (1936), 449–482  ; Bart Van der Herten/Michelangelo Van Meerten/Greta Verbeurgt, Hg., Sporen in België  : 175 jaar spoorwegen, 75 jaar NMBS, Leuven 2001, 27 ff.  ; Frans Buelens/Julien van den Broeck/Hans Willems, British and French Investments in the Belgian Railway Sector During the Nineteenth Century, in  : Ralf Roth/Günter Dinhobl, Hg., Across the Borders – Financing the World’s Railways in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Aldershot 2008, 95–108. 16 Vgl. Ralf Roth, Wie wurden die Eisenbahnen der Welt finanziert  ? Einige Vergleiche, in  : Zeitschrift für Weltgeschichte 10 (2009), 55–80. Kritisch dazu Osterhammel, Verwandlung, 1023 f. 17 Vgl. Merki, Verkehrsgeschichte, 47 f.  ; Osterhammel, Verwandlung, 1020. 18 Vgl. Lothar Gall, Eisenbahnen in Deutschland  : Von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, in  : ders./Manfred Pohl, Hg., Die Eisenbahn in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, 13–70, hier 28 f. Siehe auch Rainer Fremdling, Eisenbahnen und deutsches Wirtschaftswachstum 1840–1879, Dortmund 1975, 17 f.  ; G. Stürmer, Geschichte der Eisenbahnen. Entwicklung und jetzige Gestaltung sämmtlicher Eisenbahnnetze der Erde, Bromberg 1872, 77–85, 90 f., 137–148, 154–158, 161 f., 171–176  ; Theodor Schieder, Staatensystem als Vormacht der Welt 1848– 1918, Frankfurt am Main 1980, 424 f. Siehe auch Harold Pollins, Britains Railways  : An Industrial History, Newton Abbot 1971, 89  ; Philip Bagwell, The Transport Revolution from 1770, 2. Aufl. London 1988, 107 ff. Zum Hintergrund vgl. Carlo M. Cipolla, The emergence of industrial societies, in  : ders., Hg., The Fontana Economic History of Europe. The Industrial Revolution, Bd. 4.2, Glasgow 1975, 719–794, hier 748  ; Dionysius Lardner, Railway Economy. A Treatise on the New Art of Transport, its Management, Prospects and Relations, Commercial, Financial and Social, New York 1968, 154 f., 409. 19 Vgl. Roth, Jahrhundert, 137 ff.  ; Michael Robbins, The Railway Age, 3. Aufl., Manchester 1998, 54 ff.  ; Robert E. Carlson, The Liverpool and Manchester Railway project, 1821–1831, Newton Abbot 1969, 235–238. Zu den Dimensionen des Eisenbahngüterverkehrs vgl. Michael J. Freeman und Derek H. Aldcroft, Transport in Victorian Britain. Manchester 1988, 74, 124 f.  ; Fremdling, Eisenbahnen, 17f.  ; Rainer Fremdling/Ruth Federspiel/Andreas Kunz, Hg., Statistik der Eisenbahnen in Deutschland 1835–1989, Historische Statistik von Deutschland. Bd. 17., St. Katharinen 1995, 522–524  ; Herten/ Meerten/Verbeurgt, Sporen in België, 90  ; Brian R. Mitchell/Phyllis Deane, Abstracts of British Historical Statistics, Cambridge 1962, 6  ; Pollins, Britains Railways, 56, 89  ; René Tiessing/Maurice Paschoud, Les chemins de fer suisses après un siècle, 1847–1947, Neuchâtel 1949, 399  ; Jean-Claude Toutain, Les transports en France de 1830 à 1965, Cahiers de l’Isea, Série AF, Paris 1967, 157 f. 20 Vgl. Paul Bairoch, Commerce extérieur et dévelopment économique de l’Europe au XIXe siècle, Paris 1976, 36  ; Matthew S. Anderson, The Ascendancy of Europe, 1815–1914, 2. Aufl., London 1985, 20. 21 Vgl. Iván T. Berend/György Ránki, The European Periphery and Industrialization 1780–1914, Cam­ bridge 1982, 71, 91, 99  ; dies., Foreign Trade and the Industrialization of the European Periphery in the 19th century, in  : Journal of European Economic History 9 (1980), 539–584. Vgl. auch Sidney Pollard, The Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe, 1760–1970, Oxford 1981, 130  ; Jörg Fisch, Europa zwischen Wachstum und Gleichheit 1850–1914, Handbuch der Geschichte Europas, Bd. 8, Stuttgart 2002, 244–248. 22 Zum amerikanischen Eisenbahnbau vgl. Derek Avery, The Complete History of North American

498

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 498

22.09.2010 07:50:49

Verkehrsrevolutionen

Railways, New Jersey 1989  ; Ralf Roman Rossberg, Geschichte der Eisenbahn, akt. Neuaufl., Frankfurt am Main 1984, 151  ; Roth, Jahrhundert, 34–36, 142–153. 23 Vgl. Joachim Borchart, Der europäische Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg, München 1991, 115 ff., 122 ff.  ; Ralf Roth, Der Sturz des Eisenbahnkönigs Bethel Henry Strousberg – ein jüdischer Wirtschaftsbürger in den Turbulenzen der Reichsgründung, in  : Jahrbuch für Antisemitismus­ forschung 10 (2001), 86–112. 24 Vgl. Kurt Grunwald, Türkenhirsch. A study of Baron Maurice de Hirsch. Entrepreneur and Philanthropist, Jerusalem 1966  ; Bülent Bilmez, European Investments in the Ottoman Railways, 1850–1914, in  : Roth/Dinhobl, Hg., Across the Borders, 183–206  ; Basil C. Gounaris, Steam over Macedonia. Socio-economic Change and the Railway Factor, Boulder Col. 1993, 42 f.  ; Yakup N. Karkar, Railway Development in the Ottoman Empire, 1856–1914, New York 1972, 134 f.  ; Shereen Khairallah, Railways in the Middle East. 1856–1948. Political and Economic Background, Beirut 1991, 62. 25 Osterhammel, Verwandlung, 1022 f. Vgl. auch Mathias Beer/Dittmar Dahlmann, Hg., Über die trockene Grenze und über das offene Meer. Binneneuropäische und transatlantische Migration im 18. und 19. Jahrhundert, Essen 2004  ; Eva-Maria Stolberg, Sibirien  : Russlands „Wilder Osten“. Mythos und soziale Realität im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2009. 26 Vgl. Ralph William Huenemann, The Dragon and the Iron Horse  : The Economics of Railroads in China, 1876–1937, Cambridge 1984, 252–257  ; Jonathan D. Spence, Chinas Weg in die Moderne, Bonn 2008 [Erstaufl. München/Wien 1995], 310–317. 27 Vgl. Douglas J. Puffert, Tracks across Continents. Paths through History  : The Economic Dynamics of Standardization in Railway Gauge, Chicago 2009  ; Clarence B. Davis/Kenneth E. Wilburn, Hg., Railway Imperialism, New York 1991. 28 Osterhammel, Verwandlung, 1018 f. 29 Vgl. Peter J. Hugill, World Trade since 1431  : Geography, Technology, and Capitalism, Baltimore 1993, 136  ; Osterhammel, Verwandlung, 1015 f. Siehe auch Wolfram Fischer, Hg., Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 5, Stuttgart 1984, 163  ; Paul Bairoch, Commerce extérieur et dévelopment économique de l’Europe au XIXe siècle, Paris 1976, 34, 70  ; Fäßler, Globalisierung, 182 f. 30 Vgl. Rolf Walter, Geschichte der Weltwirtschaft. Eine Einführung, Köln/Weimar/Wien 2006, 176 f.  ; Walt W. Rostow, The World Economy. History and Prospect, London/Basingstoke 1978, 67  ; Roland Cvetkovski, Modernisierung durch Beschleunigung. Raum und Mobilität im Zarenreich, Frankfurt am Main 2006, 135 f. 31 Vgl. William Woodruff, Die Entstehung einer internationalen Wirtschaft 1700–1914, in  : Carlo M. Cipolla/Knut Borschardt, Hg., Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 4  : Die Entwicklung der industriellen Gesellschaften, New York 1977, 435–473, hier 437f., 443. 32 Vgl. Fäßler, Globalisierung, 184  ; Cornelius Neutsch, Briefverkehr als Medium internationaler Kommunikation im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in  : Michael North, Hg., Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts, Köln 2001, 129–155, hier 131 f. Zum Deutsch-amerikanischen Briefverkehr vgl. Wolfgang J. Helbich, The Letters They Sent Home. The Subjective Perspective of German Immigrants in the Nineteenth Century, in  : Yearbook of German-American Studies 22 (1987), 1–20. Siehe auch David M. Henkin, The Postal Age. The Emergence of Modern Communications in Nineteenth Century America, Chicago 2006. 33 Vgl. Fäßler, Globalisierung, 185 ff. Zur Rolle der Telegrafie vgl. Jorma Ahvenainen, The Role of Telegraphs in the 19th-Century Revolution of Communications, in  : Michael North, Hg., Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts, 2. Aufl., Köln u. a. 2001, 73–80, hier 75f. Siehe auch Asa Brigg/Peter Burke, A Social History of the Media  : From Gutenberg to the Internet, Cambridge 2002, 134; Frank Hartmann, Globale Medienkultur. Technik, Geschichte The-

499

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 499

22.09.2010 07:50:49

Verkehrsrevolutionen

orien, Wien 2006  ; Peter J. Hugill, Global Communications since 1844. Geopolitics and Technology, Baltimore and London 1999, 44  ; Max Roscher, Die Kabel der Welt. Hauptsächlich in volkswirtschaftlicher Hinsicht, Abschn. V  : Die Organisation des Seekabelwesens, Berlin 1911, 170. 34 Vgl. Osterhammel, Verwandlung, 1026  ; Roderic H. Davison, Effect of the Electric Telegraph on the Conduct of Ottoman Foreign Relations, in  : Caesar E. Farah, Hg., Decision Making and Change in the Ottoman Empire, Kirksville 1993, 53–66. 35 Vgl. Ralf Roth, Die Entwicklung der Kommunikationsnetze europäischer Städte unter besonderer Berücksichtigung der Eisenbahn, in  : ders., Hg., Städte im europäischen Raum. Verkehr, Kommunikation und Urbanität im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2009, 23–62  ; ders., Zur Geschichte der Eisenbahn in Deutschland und ihr besonderes Verhältnis zur Stadt, in  : Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung, Hg., Stadt und Bahn. Almanach 2006/2007, Berlin 2006, 24–36  ; ders., Die Eisenbahn verändert die Stadt – die Stadt verändert die Eisenbahn, in  : Wolfgang Kos/Günter Dinhobl, Hg., Großer Bahnhof. Wien und die weite Welt, Wien 2006, 36–42  ; ders., Die Finanzierung der Verkehrssysteme in europäischen Hauptstädten  : London, Paris und Berlin, in  : Wolfgang Ribbe, Hg., Hauptstadtfinanzierung in Deutschland. Von der Reichsgündung bis zur Gegenwart, Berlin 2004, 263–287. 36 Vgl. Ralf Roth, Delayed Modernisation – The Long and Winding Electrification of the German Railways, in  : Magda Pinheiro, Hg., Railway Modernization. An Historical Perspective (19th and 20th Centuries), Lisbon 2009, 21–33  ; Braun/Kaiser, Energiewirtschaft, 97 ff. 37 Merki, Verkehrsgeschichte, 50, 54. Vgl. auch Matthew Smith Anderson, The Ascendancy of Europe. Aspects of. European. History, 1815–1914, ND London 2003 [Erstaufl. 1972], 128, sowie Rüdiger Rabenstein, Radsport und Gesellschaft. Ihre sozialgeschichtlichen Zusammenhänge in der Zeit von 1867 bis 1914, 2. Aufl., Hildesheim 1996. 38 Merki, Verkehrsgeschichte, 54–57  ; ders., Der holprige Siegeszug des Automobils, 1895–1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien 2002  ; Braun/Kaiser, Energiewirtschaft, 125. 39 Zahlen nach Le Monde diplomatique, Hg., Atlas der Globalisierung. Berlin 2003, 12. Das Gros des Seehandels ist nicht mehr allein auf Europa und Nordamerika fokussiert, sondern hat sich zu einer Triade mit den asiatischen Ländern entwickelt. Afrika hat im Gegensatz zu den asiatischen Ländern den Anschluss noch nicht gefunden und spielt in der Schifffahrt kaum eine Rolle. Vgl. Merki, Verkehrsgeschichte, 38  ; Hans-Joachim Braun/Walter Kaiser, Energiewirtschaft, Automatisierung, Information seit 1914, Propyläen Technikgeschichte, Bd. 5, Berlin 1997, 128. 40 Vgl. Marc Levinson, The Box. How the Shipping Container Made the World Smaller and the World Economy Bigger, Princeton 2006. Siehe auch Michael Hascher, Die low-tech-Revolution  : Container und Pipelines, in  : Roth/Schlögel, Hg., Neue Wege, 431–451. Siehe auch Ralf Roth, Rails and Roads between competition and interdependency – a Long and Winding Relationship with Many Innovations That Failed. Beitrag für die Seventh International Conference on the History of Transport, Traffic and Mobility (T2M)  : Energy and Innovation in Lucerne, Switzerland, November 5–8, 2009, unveröff. Manuskript, Luzern 2009. 41 Vgl. Merki, Siegeszug  ; Uwe Fraunholz, Motorphobia. Anti-automobiler Protest im Kaiserreich und Weimarer Republik, Göttingen 2002. Allgemein vgl. Merki, Verkehrsgeschichte, 56–60  ; Braun/Kaiser, Energiewirtschaft, 122 f. 42 Fässler, Globalisierung, 182. 43 Vgl. Charles H. Gibbs-Smith, Aviation. An historical survey from its origins to the end of the Second World War, London 2003 [Reprint]  ; Sterling Michael Pavelec, The jet race and the Second World War, Westport/London 2007  ; Karl H. Metz, Ursprünge der Zukunft. Die Geschichte der Technik in der westlichen Zivilisation, Paderborn u. a. 2006, 274–277.

500

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 500

22.09.2010 07:50:49

Verkehrsrevolutionen

44 Vgl. Hans-Liudger Dienel/Peter Lyth, Hg., Flying the Flag. European Commercial Air Transport since 1945, London/New York 1998  ; Braun/Kaiser, Energiewirtschaft, 136 ff.  ; Merki, Verkehrs­ geschichte, 65 ff. 45 Merki, Verkehrsgeschichte, 67  ; Hugill, World Trade, 301. 46 Vgl. Wilhelm Pompl, Luftverkehr. Eine ökonomische und politische Einführung, 5. Aufl., Berlin u. a. 2007  ; Dienel/Lyth, Flying the Flag, 11  ; Merki, Verkehrgeschichte, 68. 47 Zahlen nach Le Monde diplomatique, Hg., Atlas, 12f. Vgl. auch Helmut Nuhn/Markus Hesse, Verkehrsgeographie, Paderborn u. a. 2006  ; Braun/Kaiser, Energiewirtschaft, 144, 444 ff.  ; Carl Solberg, Conquest of the Skies. A History of Commercial Aviation in America, Boston, Mass./Toronto 1979, 412. Zur Entwicklung in Osteuropa und Asien vgl. Karl-Heinz Eyermann, Die Luftfahrt der UdSSR 1917–1977, Berlin 1977. 48 Vgl. Braun/Kaiser, Energiewirtschaft, 453 f.  ; Christoph Maria Merki, Die Verwundbarkeit modernen Verkehrs  : Unfälle und Terrorismus, in  : Ralf Roth/Karl Schlögel, Hg., Neue Wege, 515–528. 49 Vgl. Tom Standage, Das Viktorianische Internet. Die erstaunliche Geschichte des Telegraphen und der Online-Pioniere des 19. Jahrhunderts, St. Gallen/Zürich 1999  ; Ed Krol, Die Welt des Internet. Handbuch und Übersicht, Bonn 1995, 15 f.  ; Esther Dyson, Relase 2.0. Die Internet-Gesellschaft – Spielregeln für unsere digitale Zukunft, München 1998, 52  ; Fässler, Globalisierung, 188–190  ; Armand Mattelart, Networking the World 1794–2000, Minneapolis/London 2000. 50 Vgl. John Pinder, Europa in der Weltwirtschaft 1920–1970, in Carlo M. Cipolla/Knut Borschardt, Hg., Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 5  : Die europäischen Volkswirtschaften im zwanzigsten Jahrhundert, New York 1980, 377–412  ; Henryk Kierzkowski, Hg., Europe and Globalization, Basingstoke 2002. 51 Vgl. Ralf Roth, Allgemeine Überlegung zum Verhältnis von Verkehr und Geschichte, in  : ders. und Schlögel, Hg., Neue Wege, 47–64.

501

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 501

22.09.2010 07:50:49

Betender Pilger in Mekka, Saudi-Arabien, am 13. Februar 2003 oder dem 11. Tag des Monats Dhu l-hiddscha, Jahr 1423 nach der Hidschra. Foto: Ali Mansuri, Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Haddsch, 6. 3. 2010. Creative Commons-Lizenz.

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 502

22.09.2010 07:50:50

Kapitel 16

Religionen Die Wiedergeburt des Religiösen im globalen Austausch Gerald Faschingeder

Die letzten 200 Jahre brachten die Religionen in ihrer uns heute bekannten Form als institutionell und dogmatisch fassbare Ensembles erst hervor. Diese Aussage mag erstaunen, wird doch zumeist das Gegenteil angenommen  : Religionen seien im Prinzip so alt wie die Menschheit  ; seit 1800 befänden sie sich auf dem Rückzug und seien durch die zunehmende Säkularisierung an den Rand gedrängt worden.1 Diese Sichtweise, die sich zumeist auf die religionssoziologischen Arbeiten Max Webers beruft und die Sentenz Karl Marx’ von der Religion als „Opium des Volkes“, das unter verbesserten Verhältnissen entbehrlich werde, vor Augen hat, prägt bis heute die sozial- und geschichtswissenschaftliche Diskussion über Religion. Doch sie entspricht weder der Empirie, noch reflektiert sie ihre eigenen Grundbedingungen. Es war das 19. Jahrhundert, das „die triumphale Wiedergeburt und Ausbreitung von ‚Religion‘ in dem Sinne erlebte, wie wir den Begriff heute verwenden.“2 Vor 1800 wurde Religion in völlig anderer Art und Weise wahrgenommen als in den letzten 200 Jahren. So wurden in der vorkonstantinischen römischen Antike ChristInnen als Atheisten bezeichnet, weil sie sich weigerten, sich am Kaiserkult zu beteiligen. Die chinesischen Kaiser wandten ein ähnliches Kriterium an, um Religionen anzuerkennen und von unerwünschten „Sekten“ zu unterscheiden. Wichtig war nicht die dogmatische Richtigkeit einer Religion, sondern dass sie die herrschende Ordnung unterstützte. So sammelten sich am Hof der Qing-Kaiser um 1700 neben islamischen Gelehrten, buddhistischen Mönchen, daoistischen und konfuzianistischen Weisen auch katholische Priester, insbesondere Jesuiten. Dieser plurireligiöse Zustand schien niemanden zu stören. Auch Akbar, Großmogul von Indien in den Jahren 1556 bis 1605, ließ um 1580 an seinem Hof Vertreter des Islams, des Hinduismus und des Christentums zum friedlichen religiösen Disput antreten. Auch er machte nicht eine bestimmte Religion, sondern Multikonfessionalität zu einer Säule seiner Herrschaft. Er selbst folgte einer Art Privatreligion, die aus allen Religionen „das Beste“ nahm. Man sieht  : Die Begriffsverschiebung, die etwa seit 1800 stattgefunden hat, ist gewaltig. Religion scheint davor zumindest in einigen Territorien nicht als „Pro503

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 503

22.09.2010 07:50:50

Verkehrsrevolutionen Religionen

blem“ für Herrschaft und Gesellschaft betrachtet worden zu sein, wie dies im 20. Jahrhundert in vielen säkularen Staaten wie etwa Frankreich oder der Türkei der Fall ist, nicht als eine von anderen gesellschaftlichen Bereichen getrennte Sondersphäre. Auch der Begriff Säkularisierung erfuhr einen tiefen Wandel  :3 Im europäischen Mittelalter bezeichnete er die Überführung eines Mönchs in den Stand des Weltpriesters. Intellektuelle in Ostasien vertraten im 20. Jahrhundert die Ansicht, dass ein Säkularisierungsprozess in ihrer Weltregion nicht stattfinden könne und es ihn auch nicht brauche, da die religiösen Traditionen selbst immer schon säkular gewesen seien  :4 Weder der Konfuzianismus als Staatsethik noch der Buddhismus als Kritik der Illusionen könnten einen solchen Prozess durchmachen.

Religion als gesellschaftliches Sonderfeld Die eigentliche Voraussetzung, um über den Begriff Religion und dessen historische Entfaltung in der Weise diskutieren und reflektieren zu können, wie wir das heute gewohnt sind, ist jener Prozess, den der ungarische Historiker Jenö Szücs als „produktive Trennung“ bezeichnet hat.5 Provoziert durch Thesen der Aufklärung, tatsächlich aber eigentlich erst im Zuge des 19. Jahrhunderts fanden sich Wirtschaft, Politik, Technik, Wissenschaft, Kultur und eben auch Religion in den europäischen Gesellschaften zunehmend voneinander getrennt. Religion wurde aus dieser Sicht also erst im 19. Jahrhundert als etwas verstanden, das von den anderen gesellschaftlichen Bereichen unterschieden werden kann und soll. Mit dieser Auseinanderentwicklung und gleichzeitigen Besonderung religiöser und weltlicher Fragen wurde Religion zu einem Subsystem der modernen Gesellschaft. Innerhalb Europas erfolgten diese Entwicklungen keineswegs zeitgleich und unilinear.6 Keine europäische Gesellschaft aber ist der Debatte um die Trennung von Kirche – oder Kirchen – und Staat entgangen. Hingegen ist in den meisten außereuropäischen Gesellschaften diese Trennung gar nicht erfolgt oder bereits sehr früh ins Stocken geraten. In manchen Fällen folgte auf die Trennung von Staat und Kirche keine Säkularisierung der Gesellschaft im Sinne eines kulturellen Wandels. So sehen wir heute in den USA einen Staat, in dem trotz hohen ökonomischen Entwicklungsstands Religion wie selbstverständlich das politische Tagesgeschehen beeinflusst – wenn auch im Rahmen einer grundsätzlich säkularen Verfassung. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die weitgehende Trennung von Religion und Gesellschaft einen europäischen Sonderweg darstellt. Der europäische Weg beeinflusst naturgemäß auch die Sozialwissenschaften.7 Der Säkularisierungsprozess wird in Europa als Normalität verstanden und als uni504

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 504

22.09.2010 07:50:50

Religionen

verseller ethischer Maßstab angenommen, Religion selbst von vielen WissenschaftlerInnen als Atavismus betrachtet. Für die Periode, die in diesem Buch besprochen wird, gilt aber, dass Religion sich im 19. Jahrhundert erst spezifisch formiert und von weltlichen Systemen der Herrschaft oder des Rechts oder der Wissenschaft geschieden wird. Erst als solche trat sie dann einen Siegszug durch Institutionen und gesellschaftliche Milieus an, wie er vorher nicht möglich gewesen wäre. Das 20. Jahrhundert bringt diesen Prozess ins Stocken, aber nicht zum Erliegen. Während in einigen Weltregionen Religion deutlich in den Hintergrund tritt, in anderen staatlicherseits zurückgedrängt und teilweise verboten wird, bleibt sie anderswo öffentlich präsent. Seit etwa 1989 gewinnt Religion eine neue Präsenz im öffentlichen Leben, und dies transkontinental, also auch in Europa, der stärksten Bastion des Säkularisierungsprozesses. Die historischen Transformationen der Religionen in den verschiedenen Weltregionen fanden nicht unabhängig voneinander statt, sondern waren global miteinander verbunden. Teils kam es zu kaum wahrnehmbaren Wirkungen der Religionen aufeinander, teils aber übernahm eine Religion Techniken der Selbstorganisation von einer anderen Religion. Was sich hier über die Verbreitung des Druckwesens in den Religionen im 19. Jahrhundert sagen lässt, kann auch an den religiösen Fundamentalismen ausgeführt werden  : War der religiöse Fundamentalismus im 20. Jahrhundert zunächst ein Phänomen US-amerikanischer evangelikaler Gruppen, fanden sich bald ähnliche Tendenzen im islamischen Bereich wie auch im Rahmen des Hindu-Nationalismus, ebenso aber auch im Judentum und im Katholizismus. Gemeinsam ist all diesen Formen des Fundamentalismus, dass sie kritische Reaktionen auf den gesellschaftlichen Wandel im 20. Jahrhundert darstellen, die in selektiver Weise Elemente der jeweiligen vermeintlichen Tradition mit modernen Technologien und Mobilisierungsformen verbinden.8 Im Folgenden werden Entwicklungen von Religionen in den einzelnen Weltregionen im 19. und 20. Jahrhundert überblickshaft dargestellt. Eine ausführliche Diskussion des Religionsbegriffs ist hier nicht möglich, doch sei vorab darauf hingewiesen, dass sich Religion aus geschichtswissenschaftlicher Sicht als weniger selbstverständlich und universell anwendbarer Begriff erweist als häufig angenommen.9 Während die Etymologie des Begriffs vom Lateinischen religio, „Verbindung“, oder relegere, „bedenken, Acht geben, sich sammeln“, eine Genese in der Antike vermuten lässt, ist festzuhalten, dass er bis ins 16. Jahrhundert in Europa nicht für jene Phänomene gebräuchlich war, die wir heute als Religion bezeichnen. Eine als religiosus bezeichnete Person war auch im europäischen Mittelalter nicht ein gläubiger Mensch, sondern gehörte zur Sondergruppe der Ordensleute. Das Mittelhochdeutsche verwendete den Begriff êhaltî, „der ein Vertragsverhältnis be505

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 505

22.09.2010 07:50:50

Verkehrsrevolutionen Religionen

obachtet, Dienstbote“. Ausgedrückt wurde die Sache aber auch schlicht mit einem einfachen ê.10 Auch außerhalb Europas lässt sich dies beobachten  : In China und Japan wurden Begriffe für Religion erst im 17. respektive im 19. Jahrhundert gebildet, als Reaktion auf den Kontakt mit ChristInnen.11 Wovon wird in diesem Text nun die Rede sein, wenn von Religion gesprochen wird  ? Der Religionssoziologe Martin Riesebrodt gibt eine Definition von Religion, die mir durchaus tauglich erscheint. Religion beruhe „auf der Kommunikation mit übermenschlichen Mächten“ und befasse sich „mit der Abwehr von Unheil, der Bewältigung von Krisen und Stiftung von Heil“12. Dieser Religionsbegriff ist praxisorientiert und empirisch, was ihn für die historische Analyse und den globalen Vergleich brauchbar macht. Er umschreibt, wovon Religion ausgeht und womit sie sich befasst, versucht sich aber nicht in Behauptungen über das Wesen der Religion. Diese Zurückhaltung ist notwendig, wenn ein überhistorisch und transkulturell brauchbarer Religionsbegriff benutzt werden soll, der auch für Buddhismus und Konfuzianismus gelten kann. Naturgemäß muss die nun folgende Zusammenschau der Entwicklungen von Religion in verschiedenen Weltregionen lückenhaft bleiben, sollte aber doch erlauben, Gemeinsamkeiten, Unterschiede und einige große Entwicklungslinien zu entdecken. Religion ist, wie andere gesellschaftliche Realitäten auch, geprägt und geformt durch globale Prozesse. Allerdings ist sie diesen nicht passiv ausgeliefert, sondern reagiert kreativ auf gesellschaftliche Veränderungen, nutzt neue Technologien und stellt selbst eine der Triebkräfte der globalen Transformationen dar. Es ist freilich nicht „die“ Religion, die hier handelt. Religion ist kein Subjekt, sondern ein Begriff  ; gehandelt wird von individuellen und kollektiven Akteuren wie Kirchen, Tempelgemeinschaften, religiösen Netzwerken, religiösen Würdenträgern, aber auch von sogenannten Laien, insbesondere Herrscherinnen und Herrschern, die ihr Geschick mit dem einer Religion eng verbunden sahen.13 Es gilt, sowohl Strukturen und Systeme als auch individuelle und kollektive Akteure in den Blick zu nehmen, um die komplexen Prozesse religiösen Wandels und deren Widersprüche zu verstehen.

Ostasien (China, Japan, Korea) Ostasien war vor 1800 bereits längst Teil einer globalen Zirkulation der Religionen, teils als Zentrum, teils als Empfänger religiöser Impulse. Wurde bereits zur Zeit der Han-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) der aus Indien kommende Buddhismus rezipiert, so verbreitete sich ab dem 7. Jahrhundert in China das Christentum in Gestalt der Nestorianer. Etwa zeitgleich erreichte der Zen-Buddhismus Japan. 506

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 506

22.09.2010 07:50:50

Religionen

Der Islam ist seit dem 9. Jahrhundert in China präsent  ; seine Han-Chinesischen AnhängerInnen bilden heute die teils religiös, teils ethnisch definierte „nationale Minderheit“ der islamischen Hui. Eine verstärkte Einbindung in die globale Kommunikation der Religionen fand durch die christliche Mission in China ab dem 16. Jahrhundert statt. Vor allem jesuitische Gelehrte brachten das katholische Christentum an den kaiserlichen Hof, übernahmen dabei aber auch chinesische Gepflogenheiten wie Kleidung, klassische Bildung und die Anerkennung der konfuzianischen Ethik.14 Die Berichte der jesuitischen Mission fanden starken Widerhall in Europa, wo im 18. Jahrhundert eine regelrechte China-Mode unter den Intellektuellen und Adeligen aufkam. Dies illustriert die kulturelle Strahlkraft Ostasiens, die erst im 19. Jahrhundert mit dem Einbruch der chinesischen Ökonomie und der politischen Krise im Reich der Mitte merklich abnahm. Doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts sahen sich Intellektuelle in Ostasien durch die kulturelle Hegemonie des Westens erst recht herausgefordert, ihre eigenen Traditionen neu zu entdecken und zu erneuern. In Japan begann 1868 mit der Meiji-Restauration die Herrschaft des Tennos Mutsuhito. Die administrativen und ökonomischen Reformen, insbesondere die Einführung des Kaiserkults, veränderten auch den Umgang mit Philosophie und Religion. Der Shintoismus15, der fortan als „japanisch“ galt, wurde vom nun als „ausländisch“ geltenden Buddhismus getrennt. In weiterer Folge wurde der Shintoismus von buddhistischen Elementen gereinigt und versucht, „ihn nach westlichem Vorbild in eine Staatsreligion umzuformen“,16 was allerdings nicht gelang. Ab 1900 erneuerte sich auch der japanische Buddhismus als Reaktion auf das westliche Religionsverständnis und integrierte konzeptionelle Elemente des Christentums wie etwa Transzendenz­ erfahrungen in seine Lehre.17 Nach 1945, als sich die staatstragende Rolle des Shintoismus relativierte, begann ein Prozess der Zusammenführung dieser zwei eben erst neu spezifizierten „Religionen“. Doch betrachten JapanerInnen Shintoismus und Buddhismus keineswegs als einander ausschließende Optionen – wie das bei den europäischen Religionen der Fall war und ist. Bei Befragungen zur Religionszugehörigkeit liegen die summierten Werte daher über 100 Prozent  : Zwei Drittel der JapanerInnen sehen sich als ShintoistInnen und zwei Drittel als BuddhistInnen. In China kam es seit dem 17. Jahrhundert zu Debatten über den Konfuzianismus.18 Im Kern ging es um die Frage, ob der Konfuzianismus eine Religion darstelle oder ob er nicht vielmehr eine Staatsethik sei. Historisch betrachtet fällt auf, dass er erst im Blick der Jesuiten und dann der protestantischen Missionare zu einer Religion wurde. Erst diese Außenwahrnehmung provozierte auch bei den Anhängern des Konfuzianismus eine Suche nach ‚religiöser‘ Essenz. Kaiserliche Bürokraten verbreiteten eine besonders konservative Version des Konfuzianismus. Aber auch Reformer 507

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 507

22.09.2010 07:50:50

Verkehrsrevolutionen Religionen

entdeckten ihn auf der Suche nach dem ‚Wesen‘ des Chinesischen. Sun Yat-sen19 vertrat die Ansicht, dass China eine Religion braucht, die typisch für seine alte Kultur ist.20 Dies war Teil der Debatte, ob die traditionellen chinesischen Religionen modernisierungshinderlich oder durchaus förderlich für nationale Autonomie seien. Das alte Kaisertum war stärker mit dem tibetischen Buddhismus verbunden, der mit der Gründung der Republik (1. 1. 1912) stark an Bedeutung verlor. Dennoch lehnt heute die Volksrepublik China den Autonomieanspruch Tibets u. a. damit ab, dass sie auf diese historische religiöse Verbindung hinweist. Die Mandschu-Kaiser, Begründer der Qing-Dynastie, waren zum Teil selbst Anhänger des tibetischen Buddhismus, jedenfalls aber über gute 200 Jahre die Schutzmacht des Dalai-Lama. 1950 wurde diese Beziehung jedoch aufgekündigt, als chinesisches Militär Tibet besetzte.21 Für die religiösen Gefühle der Massen sind Konfuzianismus und Buddhismus allerdings weniger wichtig als der Daoismus. Dieser vereinigt eine Vielzahl von unterschiedlichen philosophischen und religiösen Strömungen und Konzepten sowie von Methoden, um Erleuchtung zu erlangen  : Neben Meditation aus dem Qigong und Taijiquan werden Techniken der Konzentration, der Visualisierung und Imagination sowie Atemtechniken gelehrt. Die Qing-Dynastie belegte den Daoismus mit Restriktionen und Verboten, da die Qing dem orthodoxen Konfuzianismus sowie dem tibetischen Buddhismus nahe standen. Nachdem sie den Daoismus in der Kulturrevolution verfolgt hatte, wechselte die Volksrepublik die Strategie und setzte eine offizielle Version des Daoismus durch, die Wohlwollen, Patriotismus und Dienst an der Öffentlichkeit betont. China blieb im 19. Jahrhundert ein Ort der Zirkulation religiöser Ideen. Ein bemerkenswertes Beispiel der Rezeption äußerer Einflüsse stellt der Taiping-Aufstand (1850–1864) dar. 1847 gründete Hong Xiuquan (1814–1864) im Süden Chinas eine religiöse Bewegung. Dem Sohn eines Hakka-Nomaden erschienen in Visionen ein bärtiger Greis auf einem Thron und ein Mann in mittleren Jahren. Diesen identifizierte er später anhand eines christlichen Schriftstücks als Jehova und Jesus. Seitdem betrachtete er sich als „Kleiner Bruder Jesu“ und versammelte mehr als 20.000 Anhänger um sich. In inhaltlicher Hinsicht stand die Taiping-Bewegung für eine Kombination von antimandschurischen, religiösen und sozialrevolutionären Gedanken. Verbote von Alkohol, Opium und Tabak sowie die Trennung von Männern und Frauen gehörten zu ihrem Weltbild. Die Taiping griffen auf christliche, daoistische, buddhistische und konfuzianische Gleichheitsideale zurück, z. B. die im Buch der Riten gepriesene „Große Harmonie“. Privateigentum und Ausbeutung wurden verurteilt, und man betonte, dass alles Eigentum eigentlich Gott (bzw. in dessen Vertretung dem Staat) gehöre  : 508

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 508

22.09.2010 07:50:50

Religionen

„Ihr Traum vom neuen Jerusalem in Nanjing verband theokratische Machtstrukturen mit einer entschiedenen Modernisierungsagenda, die sich aus der Einsicht speiste, dass die westlichen christlichen Nationen aufgrund ihres direkten Kontaktes zu Gott auch mit Ordnung und Wohlstand gesegnet seien.“22

Im 20. Jahrhundert stellte die politische Entwicklung Chinas die Religionen vor große Herausforderungen. Durch die maoistische Revolution wurde Religion jeder Art massiv zurückgedrängt, insbesondere in der Kulturrevolution (1966–1976). Allerdings führte auch diese gewalthafte Umgestaltung nicht zu einer wirksamen Säkularisierung oder Entspiritualisierung Chinas. Offiziell wurde die Religionsfreiheit wieder eingeführt, allerdings wurden alle Religionsgemeinschaften unter strenge Beobachtung gestellt. Als „westliche“ Religion konnte auch das Christentum unter diesen Umständen an neuer Attraktivität gewinnen. Durch Massenmobilisierung wirksam und öffentlich weit präsenter als das Christentum waren allerdings die Aktivitäten der Falun-Gong-Bewegung  : „Die Lehre von Falun-Gong stellt […] einen für Neue Religiöse Bewegungen des 20. Jahrhunderts global ganz typischen Synkretismus aus indigener traditioneller Religion, moderner Wissenschaft, esoterischen Geheimlehren und Ufologie dar.“23

Von der chinesischen Staatsführung wird die Falun-Gong-Bewegung als Sekte betrachtet. Hier wirkt eine Kontinuität aus der Kaiserzeit weiter  : Religion ist dann erwünscht, wenn sie Herrschaft stabilisiert. Dem Amt für Religionsfragen kommt eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung einer staatsnationalen Orientierung der Religionen zu. Dies widerspricht der universellen Ausrichtung der katholischen Kirche, für die der Vatikan den Referenzpunkt darstellt, dem auch das Jurisdiktionsprimat zukommt. Die chinesische Regierung akzeptiert dieses insbesondere in Fragen der Bischofsernennung aber nicht. Als eine Folge spaltete sich die katholische Kirche in China in eine „Patriotische Kirche“, die von den von Peking anerkannten Bischöfen geleitet wird, und eine „Untergrundkirche“, die diese staatliche Kontrolle nicht akzeptiert. Verhandlungen zwischen Peking und dem Heiligen Stuhl haben in den letzten Jahren dieses Schisma etwas relativiert. Zuletzt sei noch kurz auf die besonderen Verhältnisse der Religionen in Korea hingewiesen. Im 19. Jahrhundert stark christianisiert, wirken schamanistische Traditionen bis heute fort. Die Religionen in Korea bilden ein aus europäischer Sicht schwer fassbares Amalgam von Buddhismus, Daoismus, Schamanismus und Christentum. Während in Nordkorea nach 1945 Religion zwar nicht formell, aber de facto unterdrückt wurde, bildeten sich in Südkorea kreative religiöse Mischungen 509

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 509

22.09.2010 07:50:50

Verkehrsrevolutionen Religionen

und zahlreiche christliche Freikirchen. Acht der zehn größten christlichen Kirchen der Welt sind nicht in Rom oder Polen zu finden, sondern in Südkorea. Die pfingstlerisch-charismatische Yoido Full Gospel Church bildet mit 140.000 Gläubigen, die Sonntag für Sonntag den Gottesdienst besuchen, die größte Kirchengemeinde der Welt.24 Korea stellt damit eines der interessantesten Beispiele für die lokale und durchaus eigensinnige Rezeption globaler religiöser Lehren und Bewegungen dar.

Südasien (Indien) Zwischen 1800 und 2000 wandelte sich das Selbstverständnis der Religionen in Indien auf bemerkenswerte und radikale Art und Weise. Das hat wesentlich mit der britischen Herrschaft in Indien zu tun. Die Kolonialadministratoren stellten sich die Frage, mit welcher Art von Religion sie es in Indien zu tun haben. Die schillernde Vielfalt der religiösen Phänomene erschien ihnen verwirrend und ließ sich zunächst gar nicht auf einen (westlichen) Begriff bringen. Bereits im 18. Jahrhundert entwickelten britische Orientalisten den Begriff Hinduismus, um die vielfältige religiöse Welt Indiens etwas zu ordnen. Als Hindus wurden alle auf dem Subkontinent lebenden Menschen erfasst, die nicht Christen, Juden, Moslems, Buddhisten oder Jainas waren – denn diese Religionen erschienen den britischen Orientalisten eindeutig erkennbar und abgrenzbar. Hinduismus war also zunächst eine Restkategorie, die jedoch den größten Teil der Bevölkerung erfasste und in der Folge auch von den so Bezeichneten selbst übernommen wurde. Die indische Verfassung von 1947 definierte Hinduismus allerdings weiter und inkludierte auch Jainismus, Buddhismus und Sikhismus. Heinrich von Stietencron verweist auf die Definition der 1964 gegründeten „Vereinigung aller Hindus“, Vishva Hindu Parishad (VHP), die fünf sehr unterschiedliche Richtungen des Hinduismus integriert  : „1. Die mehr als dreieinhalbtausend Jahre alte, polytheistische Religion des Veda […] 2. zwei ursprünglich atheistische Religionen (Jainismus und Buddhismus) […] 3. zwei bedeutende monotheistische Religionen (Vishnuismus und Shivaismus) […] 4. Advaita Vedanta, eine sehr erfolgreiche monistische Religion und Philosophie […] 5. ferner einen Pantheismus, der gewissermaßen die Umkehrung des oben genannten Monismus darstellt.“ 25

Die Rolle der westlichen Orientalisten bei der Herausbildung des Hinduismus kann kaum überschätzt werden. Eindrücklich zeigt sich hier, wie etwas, das heute als Religion verstanden wird, aus einem Kulturkontakt heraus entstand  : Eine Fremd510

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 510

22.09.2010 07:50:50

Religionen

wahrnehmung stimulierte eine Selbstkonstitution, die allmählich zu Selbstidentifikation wurde. Heute wäre es Unsinn zu behaupten, dass der Hinduismus keine Religion sei, aber es muss dennoch beachtet werden, dass er ein Ensemble von sehr verschiedenen Religionen ist. Im 19. Jahrhundert arbeiteten Hindus selbst daran, ihrer Religion mehr Kontur zu geben. Dies war insbesondere eine Reaktion auf eine von außen vorgetragene Religionskritik  : Kolonialadministratoren wie auch christliche Missionare diffamierten Hindu-Rituale und brachten diese mit Reizworten wie Witwenverbrennung, Menschenopfer und Kinderheirat in Verbindung, um in England Stimmung gegen den Hinduismus zu machen  : „Die brahmanische Intelligenzija, die sich vor allem in Zentren britischer Herrschaft wie Kalkutta, Delhi, Bombay und Madras sowie in der heiligen Stadt Benares gegen solche Vorwürfe wehren muss, beginnt mit einer Reform, die der Vielheit eine deutliche Struktur verleihen soll, was nur durch radikale Ausgrenzung großer Teile der Überlieferung und der religiösen Praxis möglich ist. Es entsteht eine nahezu protestantisch gereinigte Version der Hindu-Praxis  : das, was wir heute Neohinduismus nennen.“26

„Hindu“ als geografische Bezeichnung wurde damit zum Mobilisierungsmittel für den aufkommenden indischen Nationalismus. Der Begriff umfasste aber nur einen Teil der indischen Bevölkerung und vertiefte damit vorhandene religiöse Gegensätze. Er inkludierte Buddhisten, Jain und Sikh, nicht aber Moslems und Christen. In dieser Phase des 19. Jahrhunderts erlangten Teile des Epos Mahabharata27 den Charakter eines Glaubensbekenntnisses, durchaus in Anlehnung an dogmatische Formen außerindischer Religionen. Der Reformer Swami Dayananada sah im Hinduismus gar einen ursprünglichen Monotheismus, was die Vereinbarkeit mit dem modernen Denken erleichterte.28 Auch neue technische Möglichkeiten wusste die sich solcherart herausbildende Religion zu nutzen, denn eigentlich ermöglichte erst die Druckrevolution die Schaffung einer überregional kommunikativ geteilten Vorstellung des Hinduismus. Dies stellt insgesamt eine Bewegung hin zur Mono­ religiosität auf diskursiver Ebene dar. Das 20. Jahrhundert war auf dem indischen Subkontinent vom großen Ereignis der Unabhängigkeit und dann der Trennung in zwei bzw. drei Staaten geprägt. Dennoch sind heute 13 Prozent der InderInnen muslimischen Glaubens. Nach Indonesien und Pakistan ist Indien damit das Land mit der drittgrößten islamischen Gemeinschaft. Die säkulare Verfassung Indiens konnte die Radikalisierungstendenzen der Religionsgemeinschaften nicht bremsen. Ab den 1980er-Jahren verstärkten Hindu-Nationalisten den Druck auf andere Religionen. Seinen markantesten und gewalthaften Höhepunkt erreichte der Konflikt mit der Erstürmung der isla511

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 511

22.09.2010 07:50:50

Verkehrsrevolutionen Religionen

mischen Babri-Moschee in Ayodya 1992, die in der Folge von Hindu-Nationalisten geschleift wurde.29 Die Verflechtung der indischen Religionen mit der globalen Gesellschaft lässt sich neben den Phänomenen der politischen Radikalisierung auch in zahlreichen Bollywood-Produktionen ablesen. Bemerkenswert ist der hohe Anteil der „Theologicals“, von Filmen also, deren Inhalt eine Erzählung aus dem reichhaltigen mythologischen Schatz der indischen Religionen darstellt. „Tradition“ wird hier mit rezenten Massenmedien aufbereitet, variiert und einem breiten Publikum vorgeführt. Salman Rushdie wählte für seinen Roman Die Satanischen Verse als einen seiner Hauptprotagonisten den indischen Filmstar Gibril Faristha, der an der Verfilmung der Episode der Satanischen Verse mitwirkt, dabei aber von einer Erzählebene in die nächste kippt. Die Satanischen Verse sind ein Spiel mit der Vielfalt der Bedeutungen, die Mythen und Schauspielerlegenden in einer globalisierten Gesellschaft annehmen können. Die Rezeption des Romans würdigte allerdings kaum die postmoderne Verwobenheit der Handlungsstränge. Vielmehr protestierten Moslems mit gewalttätigen Ausschreitungen gegen das Buch sowie damit verbundene Personen, insbesondere gegen den Autor, der sich vor fundamentalistischen Moslems in ein Versteck zurückziehen musste.

Naher und Mittlerer Osten (Arabische Halbinsel, Osmanisches Reich) Auch in diesen Weltregionen wirkten sich globale Prozesse unmittelbar auf den Wandel der Religionen aus. Aus einer kleinen Region östlich des Mittelmeeres stammen drei der bedeutendsten monotheistischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam. Sie koexistierten dort über Jahrhunderte hinweg in Rivalität, aber auch in wechselnden Dominanzverhältnissen und gingen unterschiedliche Formen der Kooperation ein. In Jerusalem selbst, das für alle drei Monotheismen ein wichtiges religiöses Zentrum darstellt, fanden sich ein gutes Dutzend christlicher Konfessionen neben beinahe sämtlichen Varianten des Islams und unterschiedlichen Ausrichtungen des Judentums. Unter der Hegemonie des Osmanischen Reichs erlebte Jerusalem einen neuen Aufschwung  ; die Haltung gegenüber Christen und Juden schwankte zwischen Gewaltherrschaft und Toleranz. Laut einem Bericht des preußischen Konsuls von 1845 lebten damals 16.410 Menschen in der Stadt, davon 7.120 Juden und Jüdinnen, 5.000 MoslemInnen, 3.390 ChristInnen, 800 türkische Soldaten und 100 EuropäerInnen.30 Durch die in der Spätantike einsetzende Diaspora des Judentums war dieses in nahezu allen Weltregionen präsent. Der im 19. Jahrhundert aufkommende Zionis512

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 512

22.09.2010 07:50:51

Religionen

mus31 brachte eine neue jüdische Immigration nach Palästina, die sich aufgrund der Shoa wesentlich verstärkte und schließlich 1948 zur Gründung des Staates Israel führte. Auch dieser Prozess der Neukonstitution eines religiös-nationalen Selbstverständnisses kann nicht ohne die geänderten politischen Verhältnisse und neuen technologischen Möglichkeiten gedacht werden. Die jährlichen Pilgerfahrten der Moslems nach Mekka erlangten im 19. Jahrhundert eine neue Dimension  : Die Pilger konnten auf englischen und niederländischen Dampfschiffen anreisen, der Telegraf und Zeitungen ermöglichten eine überregionale Kommunikation über das Pilgern. Der Hadsch (die Pilgerfahrt nach Mekka) wurde in wohlhabenden Mittelschichten populär, nicht zuletzt deshalb, weil er nun für Angehörige dieser Schichten finanzierbar wurde. Entscheidend war aber auch die politische Entwicklung in der Region und hier speziell das Wiedererstarken des Osmanischen Reichs nach 1815. Dieses sah es als seine Aufgabe, die Route des Hadsch zu sichern.32 Auch auf dogmatischer Ebene erlebte der Islam im 19. Jahrhundert eine wichtige Veränderung  : Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts bestand eine religiös argumentierte Skepsis gegen den Druck des Korans, der nur mittels Kalligrafie (d. h. handschriftlich) abgeschrieben werden durfte.33 Ab 1840 wurde er in Indien gedruckt, und ab 1870 begann man den Koran auch in den Kernländern des Islam zu drucken. Seine nun viel weitere Verbreitung ermöglichte einen völlig anderen Kenntnisstand seiner religiösen Inhalte. In diesem Kontext entstanden zahlreiche Koranschulen. Für sie wurden, zumindest in Indonesien und Südost­ asien, bereits im späten 19. Jahrhundert überregionale Lehrpläne ausgearbeitet. Auch inhaltlich brachte das 19. Jahrhundert im Islam religiöse Klärungsprozesse, ähnlich wie dies für den Hinduismus bereits dargestellt wurde. Der Einfluss der Neo-Orthodoxie war auch im Islam bedeutsam, v. a. die sich auf der Arabischen Halbinsel entfaltende Lehre der Wahabiten, die um 1800 stark rezipiert wurde.34 Einflussreich waren aber auch die bis ins Mittelalter zurückreichenden Sufi-Bewegungen,35 auch wenn sie den Herrschenden aufgrund ihrer Spiritualität und ihres Asketismus oft eher suspekt erschienen. Das hinderte die Autoritäten nicht daran, fallweise auch Sufi zur Stabilisierung ihrer Herrschaft zu instrumentalisieren. Die Politisierung des Islams erreichte damit aber noch nicht ihren Höhepunkt  ; erst die Errichtung eines Gottesstaates im Iran nach der islamischen Revolution des Jahres 1979 zeigte, in welcher Art und Weise Religion und Politik in einem modernen Staat ineinander wirken können. Die islamische Revolution im Iran wurde vom Westen mit Sorge und völligem Unverständnis beobachtet. Übersehen wird meist, dass die Verfassung des Irans fundamentalistische politische Theologie mit demokratisch-republikanischen Elementen kombiniert. Die Revolution verdankte ihren Erfolg u. a. der Kombination der Rückbesinnung auf den Islam mit einer 513

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 513

22.09.2010 07:50:51

Verkehrsrevolutionen Religionen

antiimperialistischen Dritte-Welt-Ideologie und einem eigenständigen Nationalismus. In diesem Sinn war sie eine moderne Revolution, keinesfalls der in westlichen Medien fallweise behauptete „Rückfall ins Mittelalter“. Modern war auch eine der wichtigsten Technologien, mit denen die Predigten des im Pariser Exil lebenden Ayatollah Khomeini im vorrevolutionären Iran verbreitet wurden  : die Tonbandkassette. Eines der paradoxen Ergebnisse der iranischen Revolution ist die vergleichsweise hohe Frauenquote unter den Studierenden bei gleichzeitiger struktureller Frauendiskriminierung  : „Ihr rechtlicher Status ist seit der islamischen Revolution schlechter, aber viel mehr Frauen sind alphabetisiert, studieren, nehmen am öffentlichen Leben teil als vor der Revolution. Waren 1975 nur 45% der Frauen in den Städten alphabetisiert, sind es heute 97% der 15–30-Jährigen. Durch den Irak-Iran-Krieg wurde die aktive Rolle der Frauen gefördert  : sie übernahmen die Jobs der Männer. […] Ein Drittel aller Arbeitskräfte sind Frauen, ein Drittel aller Akademiker mit Doktortitel sind Frauen und 63% der Studierenden sind weiblich. Unter dem Kopftuch bewegt sich viel – man darf seine Wahrnehmung nicht auf das Kopftuch reduzieren.“36

Diese Entwicklung im schiitischen Iran forderte auch unter den sunnitischen arabischen Staaten jene heraus, die auf einer stark säkularisierten Verfassung beruhten. Allerdings darf die politische und kulturelle Kluft zwischen Sunniten und Schiiten nicht unterschätzt werden. Der Golfkrieg der 1980er-Jahre zwischen dem Irak und dem Iran konfrontierte einen säkularen Staat (den Irak) mit einem islamistischen, einen arabisch geprägten mit einem persisch geprägten, aber auch eine Nation mit relativ starker sunnitischer Bevölkerung, in der zahlreiche Christen an der Elite teilhatten, mit einer Nation mit schiitischer Mehrheit. In der globalen Moderne spielt Religion zwar eine zunehmend gewichtige Rolle auch für zwischenstaatliche Konflikte, dennoch können solche Konflikte nicht aus nur einer Deutungsperspektive verstanden – und etwa als Krieg zwischen Religionen interpretiert werden. Afrika Auf dem afrikanischen Kontinent waren Islam und Christentum neben zahlreichen indigenen Religionen schon seit Jahrhunderten präsent. Im 19. Jahrhundert begann parallel zur politischen Aufteilung Afrikas zwischen den europäischen Kolonialmächten auch ein religiöser Wettlauf. Der Islam gewann ihn, was nicht zuletzt auch zur Errichtung von islamischen Sultanaten wie jenem von Sokoto in Nordnigeria führte.37 Dieses Sultanat versuchte die Ansprüche einer islamischen Reformbewegung und einen von animistischen afrikanischen Elementen „gereinigten“ Islam zu verwirklichen. 514

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 514

22.09.2010 07:50:51

Religionen

Aber auch das Christentum wurde weit verbreitet. Der Personaleinsatz war enorm  : Um 1900 waren ca. 100.000 MissionarInnen aus Europa auf dem afrikanischen Kontinent, von den Weißen Vätern in Algerien bis zur aus Österreich stammenden Marianhill-Mission in Südafrika. Heute ist Nigeria das zweitgrößte protestantische Land der Welt.38 Die Ausbreitung des Christentums erfolgte zum Teil in starker Abhängigkeit von den Kolonialadministrationen, zum Teil aber grenzten sich MissionarInnen von diesem System der Herrschaft und Ausbeutung ab. Neuere Forschungen zeigen, dass der Anteil der Einheimischen an der Christianisierung Afrikas bislang unterbelichtet geblieben ist.39 Dies könnte der Logik der Missionspropaganda geschuldet sein, in deren Interesse es lag, die Rolle der EuropäerInnen in der Mission möglichst positiv hervorzustreichen, um entsprechende Spendengelder zu lukrieren und junge Menschen zu motivieren, sich der Mission anzuschließen. Damit blieb aber auch oft ausgeblendet, dass die Neophylen, die Neubekehrten, Islam und Christentum zumeist auf ihre eigene Art interpretierten, nämlich in einer kreativen Kombination mit vorhandenen Traditionen von Ahnenverehrung und FetischKult-Elementen. In der Rezeption der Einheimischen zählte die Wirksamkeit eines religiösen Kults, nämlich seine Fähigkeit, Alltagsprobleme zu lösen und Antworten auf konkrete Lebensfragen zu geben, mehr als Fragen der dogmatischen Kohärenz. Aus dieser Logik heraus entstanden schon bald afrochristliche Religionen, die traditionelle afrikanische Elemente, v. a. aus dem Bereich des Geistglaubens und der Magie, mit der christlichen Überlieferung kombinierten. Wirksam wurde dieser Synkretismus im Maji-Maji-Aufstand 1905 bis 1907  : Der Anführer, Kinjikitile, betrachtete sich als Prophet  ; das Maji-Wasser sollte vor Gewehrkugeln schützen. Der Maji-Maji-Aufstand war eine chiliastische Bewegung, wie sie Europa bereits im 12. Jahrhundert bei Joachim von Fiore kennengelernt hatte  ; zeitlich näher liegt aber der chinesische Taiping-Aufstand (s. o.), bei dem ebenfalls magische Elemente eine wichtige Rolle gespielt hatten. Chiliastische Bewegungen können immer wieder in Gesellschaften beobachtet werden, die in tiefe soziale Krisen geraten. Wie kaum ein anderes religiöses Phänomen beansprucht eine chiliastische Bewegung höchste und dringlichste Relevanz für zeitliche Dinge, damit auch für politische Fragen. Chilias­ men versprechen aber auch rasche Antworten und Lösungen, da ihre Grundbotschaft die unmittelbar bevorstehende Ankunft eines Messias (Erlösers) ist, mit der das Ende der Geschichte verbunden wird. Synkretismen blieben in vielen afrikanischen Ländern auch in der Zeit der postkolonialen Unabhängigkeit weiter bestehen. Kwame Nkruhma, der Staatsgründer Ghanas, rief sich zum Osagyefo, zum Erlöser, aus. Die politische Figur, ein sozialistischer Unabhängigkeitskämpfer und Panafrikanist, versuchte sich in eine religiöse Deutungslinie zu stellen, nicht zuletzt, da dies bei den Volksmassen auf Sympathie stieß und die 515

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 515

22.09.2010 07:50:51

Verkehrsrevolutionen Religionen

Legitimität seiner Herrschaft erhöhte. Seine politischen Gegner teilten diese Sicht allerdings nicht, stießen sich am Personenkult und an der Ineffizienz seiner Politik und setzten den „Erlöser“ ab, während er auf Staatsbesuch in China weilte. Die sonderbare Kombination von Magie mit politischer Strategie führte im 20. Jahrhundert in Norduganda die Lords Resistance Army fort. Diese geht auf eine religiöse Bewegung zurück, nämlich auf das 1985 im Norden Ugandas entstandene Holy Spirit Movement, begründet von Alice Auma Lakwena. Diese betrachtete sich als ein spirituelles Medium und kombinierte christlich-esoterische und endzeitliche Vorstellungen mit traditionellen Mythen zu einer Ideologie der moralischen Reinheit, mit der ihre Gruppe den bewaffneten Kampf gegen die Armee von Präsident Museveni führte. Ihre Kämpfer wurden zwar 1987 vernichtend geschlagen, Reste reorganisierten sich aber unter dem Namen Lord’s Salvation Army, 1992 wurde die Gruppe in Lord’s Resistance Army umbenannt. Diese wenigen Splitter aus der Geschichte Afrikas seit 1800 mögen genügen, um zu zeigen, dass Afrikas Religionen vielgestaltig und mit europäischen Kategorien eigentlich nicht zu fassen sind. Erkennbar wird aber auch, dass religiöse Konzepte, die wie der Islam oder das Christentum von außen kommen, auf dem afrikanischen Kontinent in lokal eigensinniger Weise rezipiert und interpretiert werden. Ozeanien Prozesse der selektiven Aneignung globaler religiöser Einflüsse lassen sich auch in Ozeanien beobachten. Auf den ersten Blick stellt sich die Christianisierung der zahlreichen Inseln und Archipele als kultureller Enteignungsprozess dar. Der Kontrast zwischen vorhandenen kulturellen Gewohnheiten und den alltagspraktischen Normen des Christentums zeigte sich speziell in der Körperpraxis  : Innerhalb von ein bis zwei Generationen fand hier der Übergang von der rituellen Nacktheit zur körperlichen Disziplinierung nach viktorianischem Vorbild statt. Darstellungen von Maori„Häuptlingen“ und anderen politisch-religiösen Führungspersonen zeigen, wie sehr diese Ende des 19. Jahrhunderts auf die westlichen Bekleidungsnormen zurückgriffen, um sich selbst zu präsentieren. Im religiösen Bereich wurden westliche Elemente der Weltreligionen angeeignet. Die spirituellen Traditionen räumten der Initiation große Bedeutung ein. In einem Punkt unterschieden sie sich vollkommen von den Weltreligionen  : Ihr Grundprinzip war „Geheimhaltung und individuelle Erfahrung, nicht Predigttätigkeit und Konformismus“.40 Die Ausbreitung der Weltreligionen beeinflusste Formen der Spiritualität nachhaltig  ; manche von ihnen lebten in veränderter Form fort, andere widersetzten sich den Veränderungen, „aber völlig verschont von den aufstrebenden Weltreichen der Religion blieben nur sehr wenige“41. 516

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 516

22.09.2010 07:50:51

Religionen

Die Rezeption des Christentums und anderer Weltreligionen erfolgte zum einen im Zeichen der Entfremdung von den eigenen Traditionen. Gleichzeitig aber erfolgte die Christianisierung in einer Art und Weise, die lokale und regionale Herrscher stärkte  : „Wie in Afrika bestätigte der neue Glaube die gesellschaftliche Ordnung öfter, als dass er sie untergrub.“42 Politische Herrscher suchten in der neuen Religion nach Legitimierung, aber auch nach Kraft für die Ausübung ihrer Herrschaft. Oberhäupter auf den Südseeinseln Fidschi und Tonga luden christliche Missionare ein und unterstützten deren Bekehrungsarbeit, was ihnen erlaubte, ihre Verbindungen zu den Briten zu festigen. Eine der bemerkenswerten Reaktionen auf die Einbindung bis dahin wenig von der modernen Zivilisation berührter Regionen in globale Kommunikationsströme war der Cargo-Kult. Nachdem im Zweiten Weltkrieg immer wieder bedeutende Mengen von Gütern und Kriegsmaterial über Neuginea und Melanesien von USFlugzeugen abgeworfen worden waren und diese materiellen Zuwendungen mit Ende des Kriegs aber eingestellt wurden, versuchten die Einheimischen durch religiöse Rituale den Zeitpunkt des Eintreffens einer neuen Cargo-Lieferung, aber auch deren Inhalt zu beeinflussen. Mit Mitteln aus dem Repertoire der traditionellen Religionen sollte der Zustrom westlicher Güter beherrscht werden. Auch dieser Synkretismus zeigt, wie globale Phänomene (wie der Zweite Weltkrieg und die Cargo-Lieferungen) in eine lokale Kultur und deren magisch-religiöse Praktiken integriert werden. Der Cargo-Kult ist aber ebenso wie der Taiping- und der Maji-Maji-Aufstand ein Phänomen des chiliastischen Messianismus, bei dem die Befreiung von irdischem Leid durch das Eingreifen eines göttlichen Erlösers und das damit verbundene Ende der Geschichte erwartet wird. Auch dies ist die globale Zirkulation einer religiösen Idee und deren selbstständige Aneignung.

Lateinamerika Als eine der Folgen der iberischen Kolonisation war der lateinamerikanische Kontinent seit dem 16. Jahrhundert in wesentlichen Teilen christianisiert. Jedoch blieben die indigenen religiösen Traditionen weiter stark und auch öffentlich präsent, etwa in Peru, Guatemala oder in Teilen von Mexiko. Auch daraus entwickelten sich kreative religiöse Synkretismen, ebenso wie unter den Nachfahren der afrikanischen SklavInnen, die im Voodoo 43 oder Candomblé 44 afrikanische mit christlich-europäischen Elementen mischen. Das 19. Jahrhundert brachte in Lateinamerika einen Prozess der Verselbstständigung von den Kolonialmächten in Gang, inspiriert durch die Französische 517

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 517

22.09.2010 07:50:51

Verkehrsrevolutionen Religionen

Revolution (s. den Artikel Revolutionen in diesem Band) und bedingt durch die Schwächung der Metropolen im Lauf der napoleonischen Kriege. Ganz im Sinne der Französischen Revolution wurde in vielen lateinamerikanischen Ländern auch die Trennung von Staat und Kirche durchgesetzt, ohne dass damit allerdings die katholische Hierarchie gänzlich ihren Einfluss verlor. Gleichzeitig, als scheinbare Paradoxie, lässt sich eine gewichtige Rolle der Religion in der Mexikanischen Revolution beobachten, die ja eine säkulare Revolution war. An der Spitze der Revolutionsbewegung stand der katholische Priester Padre Hidalgo. Die Volksreligiosität blieb in Mexiko vielleicht deshalb so stark, weil sie eine intensive Verbindung mit indigenen Vorstellungen eingegangen war. Markantester Ausdruck dieser Synthese ist wohl die Muttergottes von Guadalupe, die 1531, zehn Jahre nach Eroberung des Landes durch die Spanier, dem Indio Juan Diego erschienen sein soll. Auf seinem Mantel entstand wundersamerweise das Bildnis der Gottesmutter. Dieses ähnelt jenem der aztekischen Erd- und Muttergottheit Tonantzin, deren Tempel früher dort stand, wo Juan Diego die Vision hatte und sich seither der bedeutendste Wallfahrtsort Lateinamerikas befindet. Das Bildnis dieser dunkelhäutigen jungen Frau, die – von Sternen umgeben – auf einer Mondsichel steht, ist voll von Symbolen und Zeichen, die auf die prähispanische Kultur und Religion hinweisen. Im Namen der Jungfrau von Guadalupe eroberten die Conquistadoren den Kontinent, unter ihren Banner stellten sich aber auch Aufstände gegen die Kolonialherrschaft. So paradox wie die politische Rezeption der Jungfrau von Guadalupe war auch die Rolle des Katholizismus generell in Lateinamerika  : Einerseits stand die katholische Hierarchie an der Seite autoritärer Militärregimes wie etwa in Chile, wo die Bischöfe den Putsch von General Augusto Pinochet begrüßten. Andererseits aber hatte die katholische Kirche in Südamerika auch eine starke kritische Komponente. Die lateinamerikanischen Bischofskonferenzen 1968 in Medellin und 1972 in Puebla anerkannten die Befreiungstheologie. Diese originelle religiöse Rezeption des Marxismus und soziologischer Reflexionen erfuhr diverse Ausformungen, die vom Revolutionspriester Camillo Torres bis zur „Option für die Armen“ reichten. Letztere Formulierung wurde von Johannes Paul II. in die katholische Soziallehre aufgenommen, obwohl dieser Papst auch versuchte, mittels Entzug der Lehrberechtigung die prominentesten Repräsentanten der Befreiungstheologie aus ihren offiziellen kirchlichen Ämtern zu verdrängen. Nach 1980 war es aber nicht mehr die Befreiungstheologie, die den Ton auf der religiösen Bühne Lateinamerikas angab, sondern die ungeheuer rasche Verbreitung der Pfingstkirchen.45 ReligionssoziologInnen sehen darin einen Wandel vom europäischen zum US-amerikanischen Kirchenmodell  : 518

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 518

22.09.2010 07:50:51

Religionen

„Allmählich […] wandelte sich Lateinamerika vom französischen Modell einer elitegeführten Säkularisierung zum angloamerikanischen Modell von religiösem Pluralismus und freiwilliger Mitgliedschaft.“46

Die verschiedenen Kirchen stehen damit zunehmend im Wettstreit auf dem Markt der Religionen, wie eben auch in den USA. Neben charismatischen TV-Predigern und der katholischen Kirche ringen auch afroamerikanische Bewegungen wie Candomblé oder Voodoo um Aufmerksamkeit und Gefolgschaft.

Nordamerika Die USA nahmen wie in vielen anderen Bereichen auch in religionsgeschichtlicher Sicht eine Vorreiterrolle ein, stellten sie doch den historisch ersten Fall einer klaren und in der Verfassung verankerten Trennung von Staat und Kirche dar. Damals ging es darum, den britischen Einfluss über die anglikanische Kirche abzuwehren und damit die Unabhängigkeit des Landes zu sichern. Wenn auch die Vermutung nahe lag, dass damit das religiöse Leben eingeschränkt werden würde, zeigte sich in weiterer Folge, dass diese Trennung für die Kirchen und deren Pluralität eher produktiv als hinderlich war. Nirgendwo anders in der Welt entstanden derart zahlreiche neue Denominationen, wie die verschiedenen evangelischen Kirchen genannt werden. Das 19. und das 20. Jahrhundert brachten den Kirchen insgesamt steigenden Zulauf  : Der Anteil der Personen an der Bevölkerung, die Mitglied einer Kirche sind, ist seit 1776 kontinuierlich gestiegen. Galt dies 1776 nur für 17 Prozent der US-Bevölkerung, zählten in den 1980/90er-Jahren bereits 56 Prozent dazu. In den Jahren von 1950 bis 1990 blieb dieser Anteil weitgehend stabil, im Gegensatz zur rückläufigen Entwicklung in Europa.47 In der Zeit von 1776 bis 1850 kam es in den USA innerreligiös zu der bemerkenswerten Entwicklung, dass die liberalen Kirchen Mitglieder verloren, die konservativen aber gewannen. Die als liberal geltende und aus der anglikanischen Kirche hervorgegangene Episkopale Kirche reduzierte ihren Anteil an der Bevölkerung von 15,7 Prozent im Jahr 1776 auf 3,5 Prozent im Jahr 1850  ; der Anteil der Presbyterianer ging im gleichen Zeitraum von 19 auf 11,6 Prozent zurück, jener der United Church of Christ von 20,4 auf 4 Prozent. Der gegenteilige Prozess lässt sich bei den nichtliberalen Kirchen beobachten  : Die Baptisten erhöhten ihren Anteil von 1776 bis 1850 von 16,9 auf 20,5 Prozent und damit nur sehr leicht, die Methodisten, denen Max Weber einen guten Teil seiner Protestantischen Ethik und der Geist des Kapitalismus widmete, wuchsen hingegen beträchtlich von 2,5 auf 34,2 Prozent an. Ähnliche 519

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 519

22.09.2010 07:50:51

Verkehrsrevolutionen Religionen

Wachstumsprozesse lassen sich auch für die Assemblies of God, Church of Jesus Christ of Latter-day Saints, die Seventh-day Adventists und die Church of Nazarene beobachten. Anstatt einander immer näher zu rücken, distanzierten sich die Denominationen zunehmend voneinander, sodass sich die Tendenzen zu einem rigiden Moralismus und Anti-Ökumenismus gestärkt sahen. Dieselbe Entwicklung lässt sich für die Jahre 1965–1990 beobachten. Diese Tendenz zur Fragmentierung stand im Gegensatz zur internationalen ökumenischen Bewegung, die insbesondere mit der Weltmissionskonferenz 1910 in Edinburgh einen großen Aufschwung genommen hatte. Umgekehrt bietet die Einfachheit der Abspaltung und Neugründung von Kirchen aber auch für soziale Randgruppen eine einfache Möglichkeit, ihre eigene Kirche zu begründen und damit an kultureller Identität und Selbstwertgefühl zu gewinnen. Nach Ende des Sezessionskriegs entfalteten ehemalige SklavInnen bzw. deren Nachfahren selbstregierte Organisationsformen erstmals in ihrer eigenen Kirche.48 In diesem Sinn können auch evangelikale Kirchen sozialintegrativ wirken. Neben Megakirchen für den Gottesdienst bieten viele Gemeinden pädagogische und soziale Dienste an und sorgen für ihre Mitglieder, wenn diese in Not sind. Doch das soziale Engagement der evangelikalen Kirchen ist von strikten moralischen Vorstellungen geprägt  ; Antialkoholismus wird mit dem Kampf gegen Promiskui­ tät und militanter Abtreibungsgegnerschaft verbunden. Darin stehen viele dieser Kirchen politisch der Rechten nahe, die sich ja als Vertretung der „moral majority“ versteht und durch die Linie dieser Kirchen bestätigt sieht. Zuletzt tendierten einige dieser Kirchen aber auch stark in Richtung Demokraten und deren Präsidentschaftskandidaten resp. neuen Präsidenten Barack Obama, da soziale Anliegen wieder an Dringlichkeit gewonnen hatten. Im 20. Jahrhundert blieb Religion in den USA stark und öffentlich präsent, zum Erstaunen vieler EuropäerInnen.49 Auch der politische Einfluss der Kirchen ist, trotz formeller Säkularisierung, nicht als gering einzuschätzen. In der jüngsten Vergangenheit erwies sich etwa die Interpretation der Konflikte im Nahen Osten als Armageddon als bedeutsam für die öffentliche Meinung, weit über einschlägige Filme und Trivialromane hinaus. Der Einfluss fundamentalistischer Kreise reichte bis ins Weiße Haus und beeinflusste die US-Außenpolitik unter dem deklarierten Baptisten George W. Bush.50 Die Marktförmigkeit der religiösen Angebote erfuhr ihre Interpretation auch in einer spezifischen Theorie der US-amerikanischen Religionssoziologie. Die rationalchoice-Theorie betrachtet Religion als ein „Produkt“ im „Warenhaus der Religionen“. Die Wahl einer Denomination, der häufige Wechsel zwischen ihnen, erfolge im Hinblick auf Angebot und Nachfrage, so die These. Dieser theoretische Ansatz unterschätzt die Rolle von Herkunft und kultureller Identität bei der Entscheidung für und 520

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 520

22.09.2010 07:50:51

Religionen

wider eine Religionsgemeinschaft. Dies zeigt sich deutlich in der Religiosität der Hispanics, der spanischsprachigen EinwandererInnen aus Mexiko, Kuba und anderen lateinamerikanischen Ländern, die dem Katholizismus in den USA im 20. Jahrhundert ein neues demografisches Gewicht gegeben haben. Die rational choice-Theorie erweist sich als zu stark an das Selbstverständnis der weißen Mittelschicht gebunden. Neben den Hispanics ist aber auch die religiöse Minderheit der US-amerikanischen Juden und Jüdinnen zu nennen, lebt doch in den USA mit ca. sechs Millio­ nen Angehörigen die – noch vor Israel – größte jüdische Gemeinschaft der Welt. Innerhalb der USA stellt diese freilich nur eine kleine Minderheit von ca. zwei Prozent der Bevölkerung dar. Sie sind zumeist die Nachkommen von jüdischen EinwanderInnen aus Deutschland, Polen, der österreichisch-ungarischen Monarchie und Russland, die Europa im 19. Jahrhundert aus wirtschaftlichen Gründen verlassen hatten. Bereits im 19. Jahrhundert stellten die zunehmenden Pogrome ein Motiv zur Auswanderung dar. Im 20. Jahrhundert fand dies eine Fortsetzung in der Bedrohung durch das nationalsozialistische Dritte Reich. Die letzten beiden großen Einwanderungswellen von Juden und Jüdinnen in die USA kamen, nach der Gründung des Staates Israel 1948, aus islamischen Ländern, aus der Sowjetunion sowie aus deren Nachfolgestaaten. So ist auch dieser Teil der Geschichte der Religionen in den USA mit Migrationsgeschichte und mit der politischen Geschichte Europas und der islamischen Welt verbunden. Europa Um 1800 befanden sich die christlichen Kirchen in Europa in einer erstaunlich schwachen Lage. Die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege hatten eine nachhaltige institutionelle Schwächung bewirkt, doch bereits vorher war Religion in Europa durch die Aufklärung bzw. religionskritische Polemiken von Voltaire und anderen ideologisch in die Defensive geraten. Der deutsche Protestantismus bot an der Wende zum 19. Jahrhundert seinen AnhängerInnen ein Bild der Trostlosigkeit. Ein Besucher Berlins stellte im Jahr 1799 über dieses Zentrum der deutschen Aufklärung fest  : „Die Kirchen waren leer, und verdienten es zu sein, die Theater waren gedrängt voll, und mit Recht.“51 Als 1773 der für den Katholizismus so wichtige Orden der Jesuiten aufgehoben wurde, spiegelte dies einerseits innerkirchliche Machtkämpfe, andererseits gilt dies aber als Synonym für die Schwächung des Katholizismus. Geradezu hegemonial wirkten in dieser Zeit Gallikanismus und Josephinismus  ; beide waren Staatskirchensysteme, die die Leitung der jeweiligen katholischen Landeskirchen in die Hände der politischen Autorität legten, wie dies seit der Reformation ja 521

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 521

22.09.2010 07:50:51

Verkehrsrevolutionen Religionen

auch im Protestantismus übliche religionspolitische Praxis war. Im Zuge des 19. Jahrhunderts emanzipierte sich der Katholizismus von dieser Dominanz der politischen Gewalt. Was später immer wieder als Schwächung interpretiert wurde, die Trennung von Thron und Altar, wurde von vielen Zeitgenossen als Stärkung der kirchlichen Freiheit begrüßt. Der Ultramontanismus, wie sich jene Bewegung nannte, die die unbedingte Orientierung am Primat des römischen Papstes forderte und schließlich auch nach und nach durchsetzte, stellte wohl einen ideologischen Rückzug in den Konservativismus dar, war aber gleichzeitig auch die Freiheitsbewegung der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts. So gelang den christlichen Kirchen nach ihrer erheblichen Schwächung rund um 1800 im 19. Jahrhundert ein Aufschwung. Dabei kam ihnen zu Hilfe, dass es nicht an Innovationen mangelte  : Neue Formen der Marienfrömmigkeit und die Herz-Jesu-Verehrung (Sacré Coeur) verliehen dem Katholizismus Mitte des 19. Jahrhunderts neue Konturen. Auch Andreas Hofer hatte seinen Tiroler Aufstand unter den Schutz des „Heiligen Herzen Jesu“ gestellt und den Kampf gegen Bayern und Franzosen als „Heiligen Krieg“ betrachtet. Als Tirol 1796 von französischen Truppen bedroht war, gelobte der Tiroler Landtag, alljährlich das Herz-Jesu-Fest feierlich zu begehen, was noch heute mit Gottesdiensten, Prozessionen und Bergfeuern geschieht. Der Papst verlor durch den Untergang des Kirchenstaates 1870 zwar deutlich an politischer Macht, konnte damit aber an Profil gewinnen  : Noch auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870 wurde das – nur ein einziges Mal angewandte, aber symbolisch aussagekräftige – Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes verabschiedet  ; im Jahr darauf wurde der Osservatore Romano gegründet. Lourdes wurde Ende des 19. Jahrhunderts ein populärer Massenwallfahrtsort, der nicht nur von religiöser Bedeutung war, sondern auch für den politischen Katholizismus in Frankreich eine wichtige Rolle spielte. Man sieht  : Der Katholizismus rüstete sich erfolgreich zur Kommunikation mit den Massen, er wandte sich dem „Volk“ zu. Wie in den USA ermöglichten erst die Tendenzen zur Trennung von Staat und Kirche (die ja, mit Ausnahme von Frankreich, niemals so weit reichten wie in den USA) den Kirchen, sich neu zu organisieren. Man könnte dies als eine Art strategischen Rückzug52 verstehen, der es erst ermöglichte, in gesellschaftliche Bereiche neu einzudringen, die bislang wenig erreicht wurden  : den popularen und zunehmend proletarisierten Schichten. Unter Einfluss der „auswärtigen Mission“53 entstand eine breite Bewegung der „inneren Mission“, die insbesondere auf marginalisierte Schichten zielte. ArbeiterInnen und Arme wurden von evangelischen wie von katholischen Volksmissionen versorgt und umworben. Die hier zum Ausdruck kommende neue Dynamik fand ihren Ausdruck auch in einem Schreiben des päpstlichen Lehramtes  : 1891 erschien die Sozialenzyklika Rerum novarum, die 522

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 522

22.09.2010 07:50:51

Religionen

eine theoretische Ausformulierung der katholischen Soziallehre in Abgrenzung von Marxismus und Liberalismus brachte. 1931 wurde dieser Ansatz in der Enzyklika Quadragesimo anno organisatorisch ausgeformt. Die Mai-Verfassung 1934 des österreichischen „Ständestaates“ orientierte sich an der darin ausformulierten Ständetheorie und inszenierte sich damit als „Heiliges Experiment“, in der die Leitsätze von Quadragesimo anno ad experimentum umgesetzt werden. Damit wurde einerseits zwar ein Staatskatholizismus realisiert, andererseits verbot die österreichische Bischofskonferenz bereits 1933, dass Priester politische Ämter bekleiden dürfen. Nach diesem letzten realen „Heiligen Experiment“ stellten sich die Religionen in Europa neuerlich in der Defensive dar. Zum einen litten sie unter den Totalitarismen, zum anderen reduzierte nach 1945 aber auch die Konsum- und Wohlstandsgesellschaft die Bedeutung der Religion im öffentlichen und im privaten Leben. Der Rückgang der Kirchenbindung war unübersehbar, trotz des aggiornamento der christlichen Kirchen. Diese waren bemüht, sich den Fragen der Zeit zuzuwenden, im Bereich der katholischen Kirche vor allem durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965). Auch die evangelischen Kirchen vollzogen weitreichende Veränderungen in Lehre und Praxis, beispielsweise die Einführung der Frauenordination. Alle diese Fortentwicklungen machten die Kirchen zwar eher mit Entwicklungen in der Gesellschaft vereinbar, bremsten aber die gesamtgesellschaftliche Entkirchlichung nur wenig. Seit 1990 lässt sich allerdings ein leiser Gegentrend ausmachen  : Empirische Studien zeigen, dass Spiritualität wieder stärker wird und es zu einer Zunahme des Gottesglaubens kommt. Mit Ausnahme von Ostdeutschland und der Tschechischen Republik bekennt sich heute die Mehrheit in jedem europäischen Land zum „Glauben an Gott“.54 Die religiöse Pluralisierung der Nachkriegsjahrzehnte fand unter nie gekannten globalen Einflüssen statt  : Rezipiert wurden US-amerikanische Jugendreligionen bzw. Sekten, ebenso aber auch ostasiatische religiöse Lehren. Auch die katholische Kirche übernahm mit den von Papst Johannes Paul II. einberufenen Weltjugendtagen Formen der Massenmobilisierung nach US-Vorbild, während charismatische Gruppen an der katholischen Basis popkulturelle Medien (so etwa die trendig aufgemachte Zeitschrift You  !), Gebetsformen wie auch die Christian Contemporary Music aus den USA verbreiteten. Auch auf der politischen Agenda ist Religion wieder präsent. Dies hat mehrere Gründe, darunter die Migration von Moslems und damit die sichtbare Präsenz des Islams in europäischen Metropolen, die Debatten über den islamischen Fundamentalismus insbesondere nach den Anschlägen vom 11. September 2001, aber auch die öffentlichen Diskussionen um die europäische Identität. Der Islam teilt sich in Österreich mit den Evangelischen Kirchen derzeit den Rang der zweitgröß523

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 523

22.09.2010 07:50:51

Verkehrsrevolutionen Religionen

ten Religionsgemeinschaft des Landes. Seine sichtbare und umstrittene Präsenz ändert die religiöse Landkarte Europa deutlich, und es ist gerade die Frage der Sichtbarkeit, die die säkularisierte öffentliche Meinung provoziert. Insgesamt stellt sich die religiöse Lage in Europa aber sehr differenziert dar. Die religiösen Werte liegen in den einzelnen Ländern zum Teil sehr weit voneinander entfernt  ; man denke nur an Polen und Frankreich. Der Religionssoziologie José Casanova meint dazu, dass die „Varianten von Religiosität in Europa eher durch die sehr unterschiedlichen und sich historisch wandelnden Muster von Verknüpfung und Trennung von Kirche, Staat und Nation als durch die Indikatoren für das Niveau der Modernisierung (sozioökonomische Entwicklung, Urbanisierung, Erziehung usw.) erklärt werden können“.55

Zuletzt: theoretische Reprise Dieser globalgeschichtliche Überblick bleibt kursorisch und oberflächlich, dennoch zeigt er ein wichtiges Ergebnis  : Religion schmilzt nicht wie die Alpengletscher unter der Sonne der Modernisierung dahin, sondern gewinnt seit 1820 vielmehr an Kontur und Stärke. Religion als unbefragte, selbstverständliche Alltagspraxis, die eng mit jeglichem Aspekt des gesellschaftlichen Lebens verwoben war, wird zu Religionen (Plural) im Sinne von starken und einflussreichen Institutionen. Das 19. Jahrhundert brachte eine weitreichende Neuorganisation der Religionen mit sich, die sich dabei gegenseitig inspirierten und stimulierten. Gleichzeitig fanden sich inhaltlich-dogmatische Klärungsprozesse wie auch organisatorisch-strukturelle Neuerungen. All diese Innovationen hingen mit der politischen Geschichte zwar zusammen, aber nicht von dieser ab. Hier lässt sich ein Verhältnis der wechselseitigen Verwobenheit beobachten  : Die politische Geschichte beeinflusste Religionen, aber Religionen bzw. deren Repräsentanten brachten sich auch als Akteure in die politische Geschichte ein. Als ein globaler Prozess kann die zunehmende Vereinheitlichung innerhalb der Religionen betrachtet werden. Die Religionen ringen gleichzeitig um die Disziplinierung ihres eigenen Personals, ob Sufis, Ordensleute, Fakire oder Asketen. Auch wenn diese Kontrollversuche nicht immer erfolgreich waren, so gingen Herrscher in Südostasien wie im Fernen Osten dazu über, einheitlichere und besser kontrollierbare religiöse Autoritäten einzusetzen.56 Ebenso gelang es der Leitung der katholischen Kirche nach dem Ersten Vatikanischen Konzil, ihr Personal enger an die zentrale Leitung zu binden. 524

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 524

22.09.2010 07:50:51

Religionen

Folgenreich war gewiss die Rolle der Religion für Körperpraxen und für die Ausprägung der Subjekte (Subjektivierung). Was ein Mensch ist, was das „Ich“ ist, wird sehr wesentlich auch religiös bestimmt und gedeutet. Religion berührt wie kaum ein anderes gesellschaftliches Phänomen das Innenverhältnis des Menschen. Trotz aller Vielfalt lässt sich auch hier ein Trend zur Vereinheitlichung beobachten. Was es braucht, um die Veränderung und die Rolle von Religion in der Globalgeschichte gut fassen zu können, ist eine Präzisierung des Religionsbegriffes aus historischer Perspektive. Religion sollte stärker als bisher als Produkt einer intellektuellen und auch politischen Anstrengung im 19. Jahrhundert verstanden werden. Im Rahmen dieser globalen Prozesse entstehen auch Formen der politischen Religion. Zu diesen religionsanalogen Phänomenen gehören, bei all ihrer Unterschiedlichkeit, insbesondere die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts wie Nationalsozialismus und sowjetischer Kommunismus, die (unter anderem) Raymond Aron als „politische Religionen“ bezeichnet hat. Für eine globalhistorische Betrachtung ist es bemerkenswert, in welchem Ausmaß Missionsstrategien und -technologien von Religionen – wie dem Islam oder dem Hinduismus – übernommen wurden. Das Pressewesen spielte darin eine zentrale Rolle, aber auch Formen der Massenmobilisierung wurden gerne imitiert. Die in außereuropäischen Regionen entwickelten Konzepte wurden um 1900 auch zur „Inneren Mission“ eingesetzt, um den „Alten Kontinent“ innerlich an das Christentum zu binden. Die These, dass Modernisierung untrennbar mit Säkularisierung im Sinne eines Bedeutungsverlustes der Religion verbunden ist, wird durch solche Beobachtungen nach und nach entkräftet.

Anmerkungen 1 Säkularisierung ist ein komplexer Begriff, dessen vielfache Bedeutung hier nicht näher ausgeführt werden kann. In aller Kürze sei aber zumindest darauf aufmerksam gemacht, dass Weber diesen dreifach verstand  : als kulturelle Transformation im Sinne einer „Entzauberung der Welt“, als funktionale Differenzierung im Sinne der Trennung von Staat und Kirche und als Privatisierung von Religion. Vgl. Karl Gabriel, Jenseits von Säkularisierung und Wiederkehr der Götter, in  : Aus Politik und Zeitgeschichte 52 (2008), 9–15. Zu den begrifflichen Schwierigkeiten vgl. auch Hans Joas, Gesellschaft, Staat und Religion. Ihr Verhältnis in der Sicht der Weltreligionen, in  : Hans Joas/Klaus Wiegandt, Hg., Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt am Main 2007, 9–43, insb. 17–19. 2 Christopher Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frankfurt am Main/New York 2006, 400. 3 Vgl. Joas, Gesellschaft, 16. 4 Vgl. Rudolf G. Wagner, Säkularisierung  : Konfuzianismus und Buddhismus, in  : Hans Joas/Klaus Wiegandt, Hg., Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt am Main 2007, 224–252. 5 Vgl. Jenö Szücs, Die drei historischen Regionen Europas, Frankfurt am Main 1994  ; vgl. auch Mi-

525

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 525

22.09.2010 07:50:51

Verkehrsrevolutionen Religionen

chael Mitterauer, Warum Europa  ? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003, 293 f.   6 Vgl. René Rémond, Religion et Société en Europe. La sécularisation aux XIXe et XXe siècles. 1780– 2000, Paris 1998  ; vgl. Mitterauer, Europa  ; vgl. Regina Polak, Religion kehrt zurück, Ostfildern 2005.   7 Vgl. Martin Riesebrodt, Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007, 17–42.   8 Vgl. Clemens Six/Martin Riesebrodt/Siegfried Haas, Hg., Religiöser Fundamentalismus. Vom Kolonialismus zur Globalisierung, Innsbruck u. a. 1994.   9 Vgl. Gerald Faschingeder, Entwicklungsproduktive Religiositäten und Entwicklung als religiöse Idee, in  : Gerald Faschingeder/Clemens Six, Hg., Religion und Entwicklung. Wechselwirkungen in Staat und Gesellschaft. Wien 2007, 16–59, 22–28  ; Riesebrodt, Cultus. 10 Vgl. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Grimms Deutsches Wörterbuch. 32 Teilbd. Leipzig 1854–1960, online http  ://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbuecher/dwb/WBB/dwb/wbgui, (4. 1.2008), Bd. 14, Sp. 801 f. 11 Vgl. Odon Vallet, Une autre histoire des religions. Tome 1, Les religions présentes, Paris 2001, 2. 12 Riesebrodt, Cultus, 12. 13 Vgl. Bayly, Geburt, 410–414. 14 Vgl. Claudia Collani, Die Ära der Jesuiten in der Chinamission, in  : Bernd Hausberger, Hg., Im Zeichen des Kreuzes. Mission, Macht und Kulturtransfer seit dem Mittelalter, Wien 2004, 103–130. 15 Der Shintoismus oder Shintō ist eine japanische Religion mit starken animistischen Zügen. Die Kami, heilige Wesen, sind im ganzen Universum präsent, vor allem aber in der Natur. Jeder Stein, See, das Meer oder Bäume können ein Kami sein. 16 Joachim Gentz, Die religiöse Lage in Ostasien, in  : Joas/Wiegandt, Hg., Säkularisierung, 376–434, 412. 17 Vgl. Bayly, Geburt, 416  ; Gentz, Lage, 411 f. 18 Vgl. Gentz, Lage, 383. 19 Sun Yat-sen (1866–1925) war ein chinesischer Revolutionsführer und Staatsmann, Gründer der Kuomintang (KMT) und erster provisorischer Präsident der Republik China. In der Volksrepublik China wie in der Republik China wird er als Gründer des modernen China verehrt. 20 Vgl. Bayly, Geburt, 420 f. 21 Vgl. Vallet, Autre histoire, 232 f. 22 Wagner, Säkularisierung, 240. 23 Gentz, Lage, 398. 24 Vgl. Anne Schneppen, Yoido Full Gospel Church. Die größte Kirchengemeinde der Welt, in  : Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.2.2007, Nr. 42, 7. 25 Vgl. Heinrich von Stietencron, Der Hinduismus, in  : Joas/Wiegandt, Hg., Säkularisierung, 194–223, 195 f. 26 Ebd., 220. 27 Das Mahabharata („die große Geschichte der Bharatas“) ist das bekannteste indische Epos. Es wurde wahrscheinlich erstmals zwischen 400 v. Chr. bis 400 n. Chr. niedergeschrieben, beruht aber auf älteren Traditionen. 28 Vgl. Bayly, Geburt, 421 f. 29 Vgl. Clemens Six, Hindunationalismus als Counter-Culture. Die Ambivalenz der indischen Moderne, in  : Gerald Faschingeder/Franz Kolland/Franz Wimmer, Hg., Kultur als umkämpftes Terrain. Paradigmenwechsel in der Entwicklungspolitik  ? Wien 2003, 79–100. 30 Vgl. Martin Gilbert, Hg., Illustrated History Atlas, New York 1978, 37. 31 Zionismus (von Zion) ist ein Ideengebäude, ein politisches Programm und eine internationale Bewegung, die auf Errichtung, Rechtfertigung und Bewahrung eines jüdischen Nationalstaats in Palästina

526

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 526

22.09.2010 07:50:51

Religionen

abzielen. Als Eretz Israel wird dabei ein aufgrund historischer und religiöser Überlieferung beanspruchtes Siedlungsgebiet der Juden in Palästina bezeichnet. 32 Vgl. Bayly, Geburt, 435 f. 33 Vgl. Michael Mitterauer, Schreibrohr und Druckerpresse. Transferprobleme einer Kommunikationstechnologie, in  : Friedrich Edelmayer/Martina Fuchs/Georg Heilingsetzer/Peter Rauscher, Hg., Plus ultra. Die Welt der Neuzeit. Festschrift für Alfred Kohler zum 65. Geburtstag, Münster 2008, 383–406. (online zugänglich unter http  ://wirtges.univie.ac.at/_TCgi_Images/MM_SCHREIBROHR_UND_DRUCKERPRESSE.pdf, 17.8.2008.) 34 Vgl. Bayly, Geburt, 408. 35 Sufi waren zunächst Anhänger einer asketische Randgruppe. Später wurde ‚Sufi‘ zu einer Sammelbezeichnung für Strömungen im Islam, die asketische Tendenzen und eine spirituelle Orientierung prägen, die oft als „Mystik“ bezeichnet wird. Im 12. Jahrhundert bildeten sich Sufi-Orden aus, die auch religionspolitische Funktionen hatten, darunter die Organisation der Volksfrömmigkeit und Mission. Einen Anhänger des Sufismus nennt man (arabisch) Sufi oder (persisch) Derwisch. 36 Vortrag von Pari Rafi, http  ://www.liga-iran.de/Frauen-in-Iran.htm, 3.5.2009. 37 Vgl. Bayly, Geburt, 426 f. 38 Vgl. Le Monde/La Vie, L’Atlas des Religions, Paris 2009, 15. 39 Vgl. Bayly, Geburt, 412  ; David Martin, Das europäische Modell der Säkularisierung und seine Bedeutung in Lateinamerika und Afrika, in  : Joas/Wiegandt, Hg., Säkularisierung, 435–464, 454. 40 Bayly, Geburt, 409. 41 Ebd. 42 Ebd., 431. 43 Voodoo ist eine überwiegend kreolische Religion, die auf Haiti, in Afrika und Teilen Amerikas praktiziert wird. Durch die Sklaverei kam der Glaube von Westafrika auf die Westindischen Inseln, wobei Elemente anderer Religionen aufgenommen wurden. 44 Candomblé gelangte wie Voodoo durch Sklaverei von Afrika nach Südamerika und wird in Brasilien praktiziert. Als Form von Spiritismus betet Candomblé eine Anzahl von Göttern oder Geistern an, die von afrikanischen Gottheiten abgeleitet sind. 45 Vgl. Juliana Ströbele-Gregor, Evangelikaler Fundamentalismus, Missionierung und Politik in Lateinamerika, in  : Hausberger, Hg., Im Zeichen des Kreuzes, 179–215. 46 Martin, Modell, 447. 47 Vgl. David P. Caddell, Religion  : Functionalist Analyses, in  : International encyclopedia of sociology, vol. 2.  : Mass psychogenic illness – Z., ed. by Frank N. Magill, London 1995, 1098–1102, 1098 f. 48 Vgl. Bayly, Geburt, 426. 49 Vgl. Hans Joas, Die religiöse Lage in den USA, in  : Joas/Wiegandt, Hg., Säkularisierung, 358–375. 50 Vgl. Hans G. Kippenberg, Die Entsäkularisierung des Nahostkonflikts. Von einem Konflikt zwischen Staaten zu einem Konflikt zwischen Religionsgemeinschaften, in  : Joas/Wiegandt, Hg., Säkularisierung, 465–507. 51 So der Norweger Henrik Steffens, zitiert nach Sven-Aage Jørgensen/Klaus Bohnen/Per Øhrgaard, Geschichte der deutschen Literatur 1740 – 1789. Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik, München 1990, 42. 52 Vgl. Bayly, Geburt, 406. 53 Vgl. Gerald Faschingeder, Mission braucht Institution. Missionsgesellschaften im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in  : Hausberger, Hg., Zeichen, 151–178. 54 Vgl. José Casanova, Die religiöse Lage in Europa, in  : Joas/Wiegandt, Hg., Säkularisierung, 322–375, 324. 55 Ebd. 331 f. 56 Vgl. Bayly, Geburt, 410.

527

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 527

22.09.2010 07:50:51

Fidel Castro bei einer Rede 1972 in Krakau (Polen). Im Hintergrund das ikonische Bildnis der zweiten ­Führungsfigur der Kubanischen Revolution, Ernesto Che Guevara. In der Kubanischen Revolution trafen nach 1945 globalgeschichtliche Prozesse aufeinander: Dekolonisierung, Ost-West-Konflikt, ‚1968‘ und die Kluft zwischen Norden und Süden. Foto: Jan Morek, Bildrechte: Jan Morek/Forum/laif

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 528

22.09.2010 07:50:52

Kapitel 17

Revolutionen Welten auf den Kopf gestellt David Mayer

Revolutionen sind historische Großereignisse und üben auf Zeitgenossen wie Nachgeborene beträchtliche Faszination aus. Auch wenn das öffentliche und wissenschaftliche Interesse an ihnen in den letzten 15 Jahren deutlich abgekühlt ist, zählen sie zu jenen Themen, die stets aufs Neue aktualisiert werden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildeten sie sogar einen Hauptschauplatz historiografischer Debatte – hier trafen unter den Rahmenbedingungen des Kalten Krieges die großen Paradigmata aufeinander und rangen um Deutungshoheit. Die Geschichte der Menschheit ist voll von Aufständen, Coups und Revolten in Palästen wie aus Hütten. Revolutionen aber gab es nach landläufiger Interpretation nur relativ wenige. Dass sie keine transhistorische Konstante darstellen, sondern erst ab einem gewissen Zeitpunkt und nur unter bestimmten Bedingungen entstanden, ist aus globalgeschichtlicher Perspektive eine erste wichtige Beobachtung. Es stellt sich die Frage, warum Revolutionen erstmals ausgerechnet in Europa und ab dem 16. Jahrhundert auftraten. Faszination und Wirkmacht von Revolutionen lassen sich unter anderem auf den Umstand zurückführen, dass in ihnen auf augenscheinliche Weise verschiedene Dimensionen des Gesellschaftlichen in einem Ereignisprozess zusammentreffen  : langfristige sozialökonomische und sozialstrukturelle Entwicklungen, politische Praktiken und Ereignisse, soziale Mobilisierungen sowie ideologische und intellektuelle Diskurse. Klassische Gegensatzpaare der Sozial- und Geschichtswissenschaften wie ‚Struktur vs. Ereignis‘, ‚Ökonomie vs. Kultur‘ oder ‚Makro vs. Mikro‘ können in den historischen Deutungen von Revolutionen aufgehoben und verschiedene Perspektiven miteinander verknüpft werden. Dies gilt selbstredend auch für die räumliche Erstreckung und den Größenmaßstab der Betrachtung  : Während Revolutionen in Standarddarstellungen oft als entscheidende Episoden in der Herausbildung von Nationen betrachtet wurden, differenzierten ab den 1960er-Jahren viele Untersuchungen die revolutionären Geschehnisse regional und lokal. Parallel dazu nahmen verschiedene Autoren seit den 1960er-Jahren das Phänomen Re529

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 529

22.09.2010 07:50:52

Verkehrsrevolutionen Revolutionen

volution über den jeweiligen örtlichen Kontext hinaus in seiner übergreifenden Bedeutung in den Blick und benutzten dabei ein systematisches Repertoire an Begriffen und Theorien. Sie waren in vielen Fällen zwei Denkrichtungen verbunden  : einerseits marxistisch inspirierten Deutungen, andererseits makrosoziologischen Ansätzen angelsächsischer Prägung. Sie dürfen als globalgeschichtlich interessierte Arbeiten avant la lettre gelten und bilden einen zentralen Bezugspunkt für jede neuerliche Untersuchung von Revolutionen, die nach transnationalen Wirkungen, grenzüberschreitenden Beziehungen der Akteure und dem globalgeschichtlichen Zusammenhang von revolutionären Prozessen fragt. Begriffe und Theorien der angesprochenen zwei Denkrichtungen bilden auch den Ausgangspunkt für den folgenden Überblick über moderne Revolutionen und die historiografischen Debatten um sie. Nicht die kanonischen Deutungen und bekannten Ereignisdarstellungen der Revolutionen1 stehen dabei im Mittelpunkt, sondern jene Dimensionen und Prozesse, die aus der Perspektive transnationaler und globaler Geschichte von besonderem Interesse sein könnten. Daher wird z. B. die Haitianische Revolution eine ähnlich prominente Rolle spielen wie jene, die sie zur Voraussetzung hatte, die Französische Revolution. Den Abschluss bilden Überlegungen zur politischen Brisanz von Revolutionen, die sich von den aktuell Involvierten immer auch auf die Nachgeborenen fortschreibt, oft über erstaunlich lange Zeiträume hinweg. Revolutionen sind Referenz- und Erinnerungsorte par excellence. Die kritische Reflexion der Standortgebundenheit historiografischer Forschung ist deshalb unverzichtbar. Beim Thema Revolutionen berührt diese Standortgebundenheit äußerst grundlegende Einschätzungen. Dies gilt insbesondere für die wiederkehrenden Diskussionen über ‚Fortschritt‘ und ‚Rückschritt‘ im Zuge einer Revolution und darüber, ob beschleunigte Transformationen mit regressivem oder restaurativem Charakter auch als Revolutionen gelten dürfen. Antworten auf diese Fragen liegen zum guten Teil im (politischen) Ermessen des Betrachters.

Zwei Pole  : ‚soziale‘ und ‚politische‘ Revolution Es herrscht keine Einigkeit darüber, was eine Revolution ist bzw. welche Ursachen, Dynamiken und Folgen den als ‚Revolution‘ bezeichneten Prozess kennzeichnen. Nicht einmal die verbreitete Vorstellung, Revolutionen konstituierten einen jähen Bruch in der Geschichte einer Gesellschaft (Diskontinuität) oder bezeichneten einen raschen, oft gewaltvollen Umbruch politischer und sozialer Verhältnisse (beschleunigte Transformation), steht außer Streit. Denn wie bekannt, wurde der Revolutionsbegriff auch auf langfristige und langsam vor sich gehende gesellschaftliche 530

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 530

22.09.2010 07:50:52

Revolutionen

Transformationsprozesse wie die ‚Neolithische‘ oder die ‚Industrielle Revolution‘ ausgedehnt. Bei Karl Marx, einem der wichtigsten Ahnherren der historischen und sozialwissenschaftlichen Revolutionsforschung, kann der Begriff ‚Revolution‘ auch einfach den Übergang von einer Gesellschaftsformation zur nächsten bedeuten – wie lange dieser Übergang auch dauern mag. Legt man sich auf einen engeren Revolutionsbegriff fest, bleibt das Spektrum noch immer breit. Von geringem Interesse für die Geschichtsforschung sind dabei Positionen, die mit einem umfassenden theoretischen Modell alle revolutionären Ereignisse deuten wollen. Sie können die Varianz revolutionärer Prozesse nach Ort und Zeit nicht erklären. Wenig plausibel scheint auch die konträre Annahme, jede Revolution sei nur in ihrer Einmaligkeit und Spezifik zu verstehen. Dies würde den globalgeschichtlichen Vergleich wie auch die Frage nach überregionalen oder transepochalen Verbindungen zwischen Revolutionen von vornherein verbieten. Zwischen diesen Positionen, die man als anti-historistisch und hyperhistoristisch bezeichnen könnte, lassen sich in der weitverzweigten historiografischen und sozialwissenschaftlichen Literatur zu Revolutionen zwei Pole ausmachen, die jeweils den Ausgangspunkt bilden und von dem aus Differenzierungen in Richtung des gegenüberliegenden Pols vollzogen werden  : der Pol ‚soziale Revolution‘ einerseits und der Pol ‚politische Revolution‘ andererseits. Dass das Soziale auch politisch ist und das Politische immer auch sozial, würde dabei kaum ein Autor bestreiten. Es geht bei dieser Unterscheidung vielmehr um verschiedene Akzentsetzungen, die allerdings die Perspektive bestimmen. Für globalgeschichtliche Deutungen revolutionärer Prozesse bieten beide Pole interessante Anregungen. A) Gehen wir vom Pol ‚soziale Revolution‘ aus, geraten zuallererst Konflikte in den Blick, die von sozioökonomischer Ungleichheit herrühren. Wenn auch nicht völlig deckungsgleich mit marxistischen Deutungen, knüpfen derart angelegte Revo­lutionsforschungen an das bekannte Theorem von Karl Marx an, wonach alle bisherige Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen sei. Soziale Konflikte seien konstitutiv für jede Vergesellschaftung, bei der es – vermittelt über Klas­sen-, ­Geschlechter- und andere Differenzen – zur Aneignung des gesellschaftlichen Mehrprodukts durch eine Minderheit komme. Revolutionen erscheinen in diesem Konzept als Teil eines Kontinuums sozialer Mobilisierung  : Sie grenzen sich von anderen Bewegungen, Revolten und Erhebungen dadurch ab, dass in ihnen die bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse politisch wie ökonomisch infrage gestellt werden und nicht nur neues politisches Personal, sondern Vertreter anderer sozialer Klassen Entscheidungs- und Verfügungsmacht beanspruchen und im Fall einer erfolgreichen Revolution auch erlangen. Bei Marx selbst und bei den auf 531

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 531

22.09.2010 07:50:52

Verkehrsrevolutionen Revolutionen

ihn referierenden Autoren und Autorinnen bleibt die Bestimmung der Revolution (und des Revolutionären) dabei allerdings auf merkwürdige Weise in der Schwebe  : Einerseits erscheinen Revolutionen ‚von oben‘ als notwendige und von den Absichten der Beteiligten unabhängige Katalysatoren eines sozial-strukturellen Transformationsprozesses. So bedarf der Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft bis zu einem gewissen Zeitpunkt der ‚bürgerlichen Revolutionen‘. Andererseits geht es ‚von unten‘ um die Intervention jener bäuerlichen, plebejischen oder proletarischen Mehrheiten, deren emanzipatorische Hoffnungen den revolutionären Prozessen erst ihre Dynamik und Breite verleihen, deren Ansprüche aber wiederholt unerfüllt bleiben. In dieser marxistischen Sicht ist Revolution auch immer ein Stück weit Utopie und die Antizipation von gesellschaftlichen Verhältnissen, die, wenn überhaupt, erst wesentlich später und in anderer Form Umsetzung finden. Der Versuch der unteren Klassen, bestehende Welten auf den Kopf zu stellen – The world turned upside down 2 –, zeigt sich hier als ein zentrales, wenn auch oft ephemeres Element historischer Revolutionen. Gerade dieses Element bedingt aber die jeweilige Wirkmacht über weite räumliche und zeitliche Distanzen hinweg. Meilensteine der revolutionshistorischen Forschung in dieser Perspektive wurden nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere in Frankreich (Albert Soboul3) und England (Christopher Hill, Eric Hobsbawm4) gesetzt. Dort wurden marxistisch inspirierte Interpretationen für einige Zeit sogar hegemonial, um jedoch später von einer umfangreichen ‚revisionistischen‘ Literatur herausgefordert zu werden. In den Ländern des sogenannten realen Sozialismus war die Bezugnahme auf Marx’ Vorarbeiten oktroyierte Pflicht. Nur selten gelang eine interessante Aktualisierung. Hervorzuheben sind unter anderem die Arbeiten des in der DDR etablierten Forschungsschwerpunktes „Vergleichende Geschichte neuzeitlicher Revolutionen“ um die Leipziger Historiker Walter Markov und Manfred Kossok.5 Aber auch in Traditionen, die nur teilweise Anlehnung bei Marx’schen Kategorien nehmen, spielt die Deutung von revolutionären Prozessen eine wichtige Rolle. Dies gilt z. B. für die Weltsystemtheorie Immanuel Wallersteins, wo Revolutionen angesichts der Entfaltungsdynamik eines im 16. Jahrhundert seinen Anfang nehmenden ‚kapitalistischen Weltsystems‘ ihrer Dringlichkeit beraubt sind. Das ‚kapitalistische Weltsystem‘ (eine vom Imperativ der Kapitalakkumulation bestimmte weiträumige Totalität, deren Teileinheiten hierarchisch gegliedert sind und eine internationale Arbeitsteilung mit begünstigten ‚Zentren‘ und ausgebeuteten ‚Peripherien‘ bilden) ‚braucht‘ Revolutionen nicht, denn die Eigendynamik dieses Systems ist so stark, dass es auch ohne diese Phasen des verdichteten politischen Konflikts zum Durchbruch kommt.6

532

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 532

22.09.2010 07:50:52

Revolutionen

B) Der Pol ‚politische Revolution‘ hat dagegen den Bruch mit einer etablierten institutionellen Ordnung zum Ausgangspunkt und rückt einen zentralen Schauplatz bzw. Akteur jedes revolutionären Geschehens in den Mittelpunkt  : den Staat, seine Führung und seine Eliten im Wechselverhältnis mit anderen Formen der Obrigkeit (z. B. lokalen Autoritäten), anderen gesellschaftlichen Eliten und den Bevölkerungsmehrheiten. Die Abgrenzung von innerelitären Konflikten (politische Krisen, Staatsstreiche, Palastrevolten, dynastische Konflikte) und Rebellionen ergibt sich durch das Ausmaß der jeweiligen Krise, d. h. inwieweit dabei alle Bereiche des Herrschaftsarrangements (Zentralstaat, Eliten, Bevölkerungsmehrheit) erfasst werden oder nur einer oder einige wenige. Die zentrale Frage lautet also, wie es dazu kommen kann, dass eine staatliche Zentralmacht in verschiedenen Sektoren jene Autorität einbüßt, die militärisch, politisch und fiskalisch für die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft unabdingbar ist. Wiederkehrende Krisen der Staatsmacht in der Neuzeit ergeben sich einerseits aus der abnehmenden Fähigkeit der Zentralmacht, gegenüber der landwirtschaftlichen Bevölkerung Steuern einzuheben, andererseits aus Kriegen mit anderen Staaten, die zu besonderen Belastungen oder, im Falle militärischer Niederlagen, auch zu einem umfassenden Autoritätsverlust führen können. Wichtige Autoren und Autorinnen, die von diesem Pol ausgehen, sind Barrington Moore, Theda Skocpol, Charles Tilly und Jack Goldstone.7 Letzterer hat von Skocpols States and Social Revolutions ausgehend eine Deutung frühneuzeitlicher Revolutionen vorgeschlagen, welche die demografische Entwicklung ins Zentrum rückt, also einen sozialstrukturellen Faktor. Die genannten Autoren sind der angelsächsischen Tradition makrosoziologischer Fragestellungen verpflichtet und bevorzugen den überregionalen und globalen Vergleich. Charles Tilly folgend, lässt sich zwischen ‚revolutionären Situationen‘ und ‚revolutionären Ergebnissen‘ unterscheiden. Eine revolutionäre Situation läge vor, wenn 1. konkurrierende Ansprüche auf die Macht im Staat bestehen  ; 2. diese konkurrierenden Ansprüche jeweils durch wesentliche Teile der Bevölkerung unterstützt werden (und entsprechende Koalitionen entstehen)  ; 3. die aktuellen Machthaber nicht in der Lage sind, diese konkurrierenden Ansprüche und ihre gesellschaftlichen Unterstützer zu befrieden bzw. zu unterdrücken. Von ‚revolutionären Ergebnissen‘ ist nach Tilly zu sprechen, wenn 1. sich relevante Teile der Gesellschaft offen gegen das Regime wenden  ; 2. die revolutionären Koalitionen über militärische Streitkräfte gebieten  ; 3. die Streitkräfte des Regimes für dieses nicht mehr funktional sind  ; 4. Exponenten der revolutionären Koalition die Macht in staatlichen Institutionen übernehmen. Beide Dimensionen können in den unterschiedlichsten Varianten ausgeprägt sein, im Extremfall ist jeweils nur eine vorhanden (z. B. in folgenlosen und schnell unterdrückten revolutionären Situationen oder bei grundle533

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 533

22.09.2010 07:50:52

Verkehrsrevolutionen Revolutionen

genden und schnellen Änderungen gesellschaftlicher Grundstrukturen ohne soziale Mobilisierungen, wie sie nach militärischen Eroberungen oder nach ‚Revolutionen von oben‘ vorkamen).8 Vorteil dieser Differenzierung ist, dass wesentlich mehr Ereignisprozesse ins Blickfeld rücken als die wenigen bekannten ‚großen Revolutionen‘  ; sie wird zudem der Forderung gerecht, nicht nur siegreiche Revolutionen zu untersuchen, sondern auch die vielen gescheiterten und vereitelten. Ihr Nachteil ist, dass Fragen der sozioökonomischen Tiefenwirkung zu wenig beachtet werden, d. h. inwieweit Revolutionen bestimmte Strukturen der Arbeitsorganisation, der Produktion und Distribution, aber auch der Reproduktion bestärkten, verhinderten oder erst ermöglichten. Das Interesse an dieser langfristigen gesellschaftlichen Wirkmacht von Revolutionen steht wiederum Pate für die häufige Diskussion über ‚Erfolg‘ oder ‚Misserfolg‘ eines revolutionären Prozesses. Die Antwort hängt freilich von der zum Maßstab erhobenen Dimension ab. Sozioökonomische Parameter sind dabei oft erste Wahl  : Für die Zeit vom 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts betrifft dies insbesondere die Dynamik der Kapitalismusentfaltung, im 20. Jahrhundert dann allgemeiner, ob Revolutionen zu bestimmten Entwicklungserfolgen beigetragen haben (Modernisierung, Industrialisierung etc.). Eine klassische Debatte entwickelte sich dabei anhand des Vergleichs zwischen England und Frankreich. So kamen in den scharfen Auseinandersetzungen um die Französische Revolution die Kritiker der maßgeblich von Albert Soboul vertretenen Interpretation zu dem Schluss, dass England ob seiner gemäßigten Revolution von 1688 erfolgreich war, Frankreich ob des politischen radikalen Bruchs von 1789 dagegen ein Entwicklungshindernis zu gewärtigen hatte. In vielen marxistisch inspirierten Deutungen wurde hingegen die emanzipatorische und sozialpolitische Radikalität als Bezugspunkt für das Ringen der unteren Klassen zum Maßstab genommen und die Französische Revolution ob ihrer demokratisierenden Wirkung zum Optimum erhoben.

Vergleichskriterien und Zyklen Für eine Globalgeschichte der Revolutionen sind neben den erkenntnisleitenden Definitionen auch Kriterien und Kategorien interessant, mit denen revolutionäre Prozesse analysiert und verglichen werden können. Folgende scheinen relevant  :9 1. Anlässe und Ursachen  : Anlässe liegen aktuell auf der Ebene politischen Handelns  ; Ursachen sind hingegen langfristig wirksam und in sozioökonomische Produktionsweisen eingeschrieben. 534

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 534

22.09.2010 07:50:52

Revolutionen

2. Akteure  : einzelne und kollektive Akteure, die sich in revolutionären Prozessen für und gegen Interessen mobilisieren. Kollektive Akteure (Strömungen, Bewegungen, Fraktionen etc.) sind dabei nicht homogen  : Es bestehen Interessenunterschiede und ergeben sich Konflikte und Auseinandersetzungen innerhalb dieser Formationen (z. B. zwischen den in einer Bewegung Mobilisierten und den jeweiligen Führungspersonen). Individuelle wie kollektive Akteure können zudem Koalitionen eingehen. Innerhalb der Formationen und innerhalb der Koalitionen sind Hegemonieverschiebungen und Führungswechsel im Verlauf des revolutionären Geschehens häufig  : In der Anfangsphase zeigt sich oft eine Radikalisierungsdynamik. 3. Verlauf und Dynamik  : Welchen Verlauf nimmt der revolutionäre Prozess  ? Lassen sich typische Zyklen erkennen  ? Dabei kommt der Intervention von Volksbewegungen eine herausragende Rolle zu  : Welchen Druck und welche Dynamik löst die Mobilisierung bäuerlicher, land- und industrieproletarischer und anderer Schichten aus  ? Verlauf und Dynamik einer Revolution sind nicht ohne Beachtung der gegenrevolutionären Kräfte und Bewegungen zu verstehen. 4. Organisation und Methoden  : Die Akteure in einem revolutionären Prozess bilden unterschiedliche Organisationsformen aus (Klubs, Lesezirkel, Vereine, Parteien etc.). Im Zuge einer Revolution können zudem Institutionen der ­extra-konstitutionellen Machtausübung entstehen, die mit den etablierten staatlichen Körperschaften in Konkurrenz stehen (Versammlungen, Parlamente, Komitees, Räte, Sowjets etc.). Revolutionäre Methoden sind zum einen solche der ­ politischen Agitation und kollektiven Mobilisierung, zum anderen physische Gewaltmittel und diverse Formen militärischer oder paramilitärischer Organisation. 5. Ideologien, Ideen und Diskurse  : Geistesgeschichtliche Traditionen, Diskurse und ideologische Referenzrahmen prägen das Denken und Handeln der revolutionären Akteure. Revolutionäre Perioden sind auch als Phasen eines äußerst volatilen diskursiven Kräfteverhältnisses zu sehen, in denen Aussagen als Ansagen um unmittelbare Vorherrschaft ringen. Eine zentrale, auch in revolutionären Prozessen des 20. Jahrhunderts wichtige Rolle kommt dabei religiösen Vorstellungen, Diskursen und Ideologien zu. 6. Historische und globale Kontexte  : In welchem globalen Umfeld vollziehen sich Revolutionen und welche Auswirkungen haben die jeweiligen Rahmenkonstellationen auf die Form der Revolution  ? Was unterscheidet die Dynamik einer Revolution in der Frühen Neuzeit von einer revolutionären Krise Ende des 19. Jahrhunderts  ? Geopolitische und weltökonomische Faktoren sind dabei ebenso relevant wie der Stand der lokalen und globalen Kapitalismusgenese (d. h. der jeweiligen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise). Nach 535

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 535

22.09.2010 07:50:52

Verkehrsrevolutionen Revolutionen

der Weltsystemtheorie ist insbesondere die funktionale Position einer Weltregion im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung ein determinierender Faktor. Auch die Erfahrungen von Kolonialismus und Fremdbestimmung können für ein revolutionäres Geschehen prägend sein (z. B. in den nationalrevolutionären Befreiungsbewegungen im 20. Jahrhundert). Gleichfalls zum Kontext zählt, auf welche Geschehnisse und Verhältnisse in anderen Regionen und Ländern – seien sie zeitgenössisch oder zu früheren Zeiten – sich revolutionäre Akteure beziehen (Referenzialität). So lässt sich die russische Oktoberrevolution von 1917 ohne die Französische Revolution von 1789 bzw. die Bezugnahmen der russischen Akteure auf die französischen Ereignisse nicht erklären und nicht verstehen. Der Blick auf die historischen Kontexte einzelner Revolutionen zeigt auch, dass es immer wieder zu Häufungen revolutionärer Umbrüche gekommen ist. In der revolutionskomparatistischen Tradition ist dabei von unterschiedlichen Revolutionszyklen die Rede. Eine Periodisierung in Revolutionszyklen erlaubt es, verschiedene revolutionäre Prozesse (ob ‚erfolgreich‘ oder ‚gescheitert‘) zu gruppieren,10 ihr räumliches Ausgreifen sowie ihre Anlässe und Ursachen, Organisation und Methoden, Ideologien und Diskurse usw. aufeinander zu beziehen. Kombiniert man verschiedene Vorschläge zur Periodisierung gehäufter Revolutionen miteinander, so bietet sich folgender Entwurf an  :11 Vom 15. bis 17. Jahrhundert ergab sich ein noch stark auf Europa begrenzter Revolutionszyklus. Zwischen 1770 und 1830 häuften sich Revolutionen in einem ‚atlantischen Zyklus‘ mit zahlreichen Zusammenhängen zwischen Nordamerika, Frankreich, Europa und Lateinamerika. Daran anschließend kam es zu einer in Europa einsetzenden Häufung von revolutionären Prozessen, die über verschiedene Weltregionen bis Mitte der 1860er-Jahren dauerte. Um 1900 ist ein dominant außereuropäischer Zyklus von Russland über China bis Mexiko zu unterscheiden. Die Revolutionen des 20. Jahrhunderts können in folgende Cluster geordnet werden  : die revolutionäre Welle in den Jahren 1917–1923, eine zweite Welle Mitte der 1930er-Jahre, die Zäsur 1945, die ‚langen 1960er-Jahre‘ mit dem Höhepunkt um 1968 und Ausläufern in die 1970er-Jahre, schließlich die Umbrüche um 1989. Von besonderem Interesse ist die Frage, ob es sich bei diesen Zyklen um zufällige Koinzidenzen oder um Wirkungszusammenhänge handelt. Transnationale Verflechtung und Vermittlung können dabei auf unterschiedlichen Ebenen aufgespürt werden. Man kann auch von „teleconnections“12 sprechen. Zuallererst betrifft dies die Ebene sozialökonomischer Zusammenhänge bzw. Parallelen. Diese und übergreifende historische Prozesse, die verschiedene Regionen mittelbar oder unmit536

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 536

22.09.2010 07:50:52

Revolutionen

telbar tangieren, können nicht nur zu ähnlichen Problemlagen führen, sondern bei den Akteuren die Wahrnehmung einer gemeinsamen Erfahrung und geteilten Betroffenheit begünstigen. Von großer Bedeutung für die grenzüberschreitende Vermitteltheit ist ferner die Referenz- und Vorbildfunktion von Revolutionen und revolutionären Bewegungen andernorts, einschließlich ihrer Ideologeme, Embleme, Ikonen und politischen Praktiken. Transfer und Aneignung dieser Referenzen vollziehen sich auf verschiedenen Wegen. Am augenfälligsten sind gewiss Medien aller Art (Bücher, Zeitschriften, späterhin Massenmedien). Sehr konkrete Vernetzungen lassen sich schließlich auf der Ebene individueller und kollektiver Akteure (ideologisch-politische Projekte, Religions- und Migrationsgemeinschaften) feststellen. Überraschend früh waren sich die revolutionären Akteure der transnationalen Bezüge selber bewusst, ließen diese nicht nur geschehen, sondern versuchten sie voranzutreiben. Seit dem atlantischen Zyklus zeigten viele Revolutionen eine Tendenz zu Verallgemeinerung und Internationalisierung. Dies kann man als Teil der ‚heroischen Illusion‘ jeder Revolution verstehen – ein Begriff, mit dem die Fähigkeit der führenden sozioideologischen Gruppe einer Revolution gemeint ist, ihre Partikularinteressen als im Interesse aller (der gesamten Nation, der Welt) zu behaupten und verbindlich zu machen.13

Frühneuzeitlicher Zyklus Eine starke Häufung von Krisen, Revolten und Mobilisierungen kann vom 15. bis zum 17. Jahrhundert in verschiedenen europäischen Regionen ausgemacht werden (England, Böhmen, deutschsprachige Gebiete, Niederlande, Spanien u. a.). Das Zusammenfließen konfessioneller Auseinandersetzungen („Reformation als Revolution“14) und großer bäuerlicher Erhebungen bildete die augenscheinlichste der Auseinandersetzungen in Zentraleuropa. Spätmittelalterliche Krisen und frühe kapitalistische Entwicklung hatten schon zuvor verschiedene gesellschaftliche Gruppen in Bewegung gebracht. Charakteristisch für diese Ereignisse sind ihr noch geringer Grad an wechselseitiger Bezogenheit und die hohe Bedeutung religiöser Fragen. Vorstellung und Begriff der ‚Revolution‘ existierten noch nicht oder erst in Ansätzen. Einen Übergang zum folgenden Revolutionszyklus stellt die Englische Revolution Mitte des 17. Jahrhunderts dar  : In ihr transformierte sich die religiöse Argumentation in eine explizit politische, wurden soziale Positionen und Hintergründe erstmals von den Akteuren selbst thematisiert, bildete sich eine sozialrevolutionär-populare Fraktion. In der Englischen Revolution spielten zudem erstmals Wechselwirkungen mit den nordamerikanischen Kolonien eine gewisse Rolle.15 537

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 537

22.09.2010 07:50:52

Verkehrsrevolutionen Revolutionen

Damit ist erneut die Frage berührt, welches ‚Alter‘ Revolutionen globalgeschichtlich für sich beanspruchen können bzw. in welchen Regionen man ab wann von diesem Phänomen sprechen kann. Sind sie eine Hervorbringung jener Epoche der europäischen Geschichte, die als Frühe Neuzeit bezeichnet wird und somit ein Produkt des ‚langen 16. Jahrhunderts‘  ? Oder kann die Definition so weit gedehnt werden, dass Phasen dichter sozialer oder politischer Konflikte und Transformationen auch in anderen Epochen und Regionen unter diesem Etikett verhandelt werden können  ? Wie bereits angedeutet, schlagen einige Autoren eine solche Weitung des Revolutionsbegriffs vor und gehen dabei äußerst unterschiedliche Wege. Manfred Kossok verschob die ‚Grenze‘ des von ihm (etwas anachronistisch) als ‚frühbürgerlich‘ apostrophierten Zyklus in das 14. Jahrhundert und zu einigen Bauernerhebungen im Zusammenhang mit frühreformatorischen Interventionen zurück (z. B. die von John Wycliff mit inspirierte Aufstandsbewegung 1381 in England oder die mit Jan Hus verbundenen Auseinandersetzungen in Böhmen). Jack Goldstone definiert Revolutionen mit dem Konzept des state breakdown als verschärfte Staatskrisen und öffnet damit den Blick für (noch dazu zeitlich frappierend parallele) Geschehnisse in Europa, dem Osmanischen Reich und China in der Zeit zwischen 1550 und 1650 sowie zwischen 1750 und 1850.16 Jürgen Osterhammel schließt historische Zäsuren wie Reichszusammenbrüche, militärische Eroberungen und Kolonisierung in die Kreise des Begriffs ‚Revolution‘ mit ein.17 Andere Autoren beharren hingegen darauf, dass Revolutionen zwar aus einer langen Geschichte sozialer und politischer Konfliktivität erwuchsen, jedoch ein emergentes Phänomen darstellen, d. h. eine fortsetzende Hervorbringung, der eine neue Qualität eignet. Der Historiker George Rudé bestimmt diese Emergenz in seinem Buch The crowd in History als Zusammenfließen von sozialem Protest auf neuer Größenebene mit der politischen Idee von Demokratie und Gleichheit.18 Die Spezifik von Revolutionen setzt demnach zweierlei voraus  : ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Vernetzung und Verdichtung, das soziale und gesellschaftliche Konflikte auf einer großmaßstäblichen Ebene (regionenübergreifend oder städtisch hochkonzentriert) wahrscheinlicher machte  ; zweitens einen Ideenhorizont, der revolutionäre Praktiken dieser Größe überhaupt ermöglichte. Zugespitzt könnte man sagen  : Revolutionen sind bis zu einem gewissen Grad auf einen Revolutionsdiskurs angewiesen.19 Der moderne Revolutionsbegriff jedenfalls entstand erst im 18. Jahrhundert, zuvor war revolutio als astronomischer Terminus in Gebrauch und beschrieb in gewissem Sinne das Gegenteil einer schnellen Transformation  : die regelmäßige, vorhersehbare Umlaufbewegung von Himmelskörpern.

538

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 538

22.09.2010 07:50:52

Revolutionen

Atlantischer Zyklus (1770–1830) In traditionellen revolutionsgeschichtlichen Darstellungen nimmt die Französische Revolution die Stellung eines unangefochtenen Leitgestirns ein.20 Ihrer grenzüberschreitenden Wirkmacht wurde, die napoleonische Expansion im Blick, große Bedeutung zuerkannt, allerdings meist nur im Sinne einer internationalen Diffusion. In neues Licht wurden die französischen Umbrüche dagegen durch die von Robert Palmer und Jacques Godechot zeitgleich Ende der 1950er-Jahre eingebrachte These eines umfassenden „Zeitalters der demokratischen Revolutionen“ bzw. einer „atlantischen Revolution“ in Europa und Nordamerika gerückt,21 in welchem die Französische Revolution nur einen, wenn auch besonders dramatischen Höhepunkt darstellt. Dieser Zyklus umfasst neben der Unabhängigkeitsrevolution der 13 nord­amerikanischen britischen Kolonien (1776–1783) unter anderen die irische Erhebung von 1782 bis 1784 und die revolutionären Umbrüche in verschiedenen Teilen der Niederlande (1783–1787). Die Momente transnationaler Vermittlung sind vielfältig. Am bekanntesten ist die Bezogenheit der Französischen Revolution auf die nordamerikanische Unabhängigkeitsbewegung sowohl auf der Ebene intellektueller und politischer Inspiration (durch Ideentransfer wie durch wirkmächtige Einzelakteure) als auch auf der Ebene ökonomischer Krisenmomente  : Die schweren Finanznöte der französischen Monarchie waren nicht zuletzt auf ihre militärische Intervention in den amerikanischen Unabhängigkeitskriegen zurückzuführen. Ob man nun nordamerikanische Unabhängigkeitsrevolution und Französische Revolution als unverbrüchliches Doppel sieht oder die Sonderstellung der Französischen Revolution hervorhebt, entscheidend bleibt, dass nach Abschluss dieses Zyklus grundlegende Neuerungen geschaffen worden waren. So arbeitete sich in diesen Umbrüchen ein Teil dessen heraus, was bis heute als das Politische schlechthin gilt  : das politische Vokabular, Forderungshorizonte, Konfliktkonstellationen, die Idee der Volkssouveränität und das machtvolle Versprechen, dass die Menschen frei und gleich seien. Aus den inneren Aporien dieses Versprechens – das derart umfassend nicht intendiert bzw. an männliche, weiße Besitzende adressiert war – konstituierten sich im 19. Jahrhundert Volksbewegungen und populare Akteure neu, die diesen Anspruch auf Gleichheit fortführten. Konzept und Idee der ‚Revolution‘ gewannen damit ihre bis heute gültige gesellschaftliche Form, aus dem Phänomen war endgültig ein politisches Handlungsziel geworden, das bewusst verfolgt werden konnte. Die Französische Revolution und die aus ihr erwachsende napoleonische Herrschaft und Expansion zeigten zudem auf, wie eng revolutionäre Umbrüche mit 539

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 539

22.09.2010 07:50:52

Verkehrsrevolutionen Revolutionen

Kriegen verbunden sein können (sowohl als Voraussetzung als auch als Folge), wie politische Praktiken in andere Kontexte ausstrahlen (der Jakobinismus und seine Anhänger außerhalb Frankreichs) und in welchem Maß Revolutionen auch eine geopolitische Dimension eignet  : So gab es zwischen 1792 und 1815 fast ununterbrochen Kriege, und immer ging es auch um das revolutionäre Frankreich. Die Schauplätze umfassten eine Reihe von Weltregionen (neben Europa unter anderem die Karibik, den Nahen Osten, Indien und Nordamerika). Darüber hinaus brachten die internationalen Auseinandersetzungen im Gefolge der Französischen Revolution neue Formen kollektiven Widerstands und damit neue politisch-militärische Praktiken hervor. Zu den langfristig bedeutendsten zählt hier zweifelsohne die während des Feldzugs von Napoleon in Spanien (1808–1814) entstandene Guerilla. In diesem ‚kleinen Krieg‘ wurden irregulär kämpfende Gruppen aus dem Volk gegen ansonsten weit überlegene reguläre Armeen aufgeboten. In der Folge spielten sie in vielen nationalen Befreiungskämpfen eine Rolle (in Polen, Italien, Irland, auf dem Balkan, auf Kuba etc.), im 20. Jahrhundert prägten Guerillakämpfer nicht nur vielerorts die Dekolonisierungsprozesse, sondern wurden in den 1960erJahren sogar zu einem zentralen revolutionären Akteur erhoben. Nimmt man den Blickpunkt des atlantischen Revolutionszyklus ein, so findet sich einer der wichtigsten Kulminationspunkte in der Haitianischen Revolution, die sich ab 1791 in der französischen Kolonie Saint Domingue (im westlichen Teil der Insel Hispaniola) vollzog. In ihr flossen wichtige globalgeschichtliche Entwicklungslinien zusammen. Das gilt besonders für das System des transatlantischen Sklavenhandels und die damit verbundene innerimperiale Konkurrenz zwischen den europäischen Großmächten. Saint Domingue selbst, Frankreichs ertragreichste Kolonie, stand ob ethnorassistischer Ordnung, scharfer sozialer Gegensätze und extremer Ausbeutung unter äußerster Spannung. Einer kleinen Minderheit von Weißen standen die Sklaven afrikanischer Herkunft (87 Prozent der Bevölkerung) gegenüber, dazwischen eine gleichfalls kleine Schicht von affranchis, Mulatten und befreiten Sklaven, die oft selbst als Plantagenbesitzer auftraten. Von besonderer Bedeutung war auch hier das universalistische Emanzipationsversprechen der Französischen Revolution. In Haiti offenbarten sich wie kaum sonst seine radikalen Konsequenzen und seine innere Ambivalenz, denn mit den von den besitzenden französischen Eliten vorgebrachten Leitbegriffen ‚Gleichheit‘ und ‚Freiheit‘ war keinesfalls immer gemeint, was von den Revolutionären gesagt worden war. In komplizierter Wechselwirkung zwischen innerer Radikalisierung der Französischen Revolution und der Aneignung der französischen Postulate durch die verschiedenen Gruppen Saint Domingues (insbesondere durch die aufständischen Sklaven) wurde die Sklaverei bis 1794 schrittweise abgeschafft.22 Unter der Führung 540

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 540

22.09.2010 07:50:52

Revolutionen

des ehemaligen Sklaven François Toussaint Louverture wurde diese Emanzipation gegen Napoleons Versuch, sie wieder rückgängig zu machen, verteidigt. Die militä­ rische Intervention Frankreichs (und anderer Mächte), die in einen regelrechten Vernichtungskrieg mündete, brachte unter Jean-Jacques Dessalines 1804 die erste unabhängige Republik ehemaliger Sklaven. Auch wenn das unabhängige Haiti in der Folge unter strikter politischer Quarantäne stand, Verheerung durch Krieg und die ökonomische Bedingung einer exportorientierten Monokultur nicht überwinden konnte – es wurde im 19. Jahrhundert für die verbleibenden amerikanischen Sklavengesellschaften zum stets präsenten Gespenst und ein nicht zu unterschätzender Impuls für den Abolitionismus, d. h. für die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei.23 In unmittelbarem Zusammenhang mit der Französischen Revolution steht selbstredend auch der Zusammenbruch des spanischen Kolonialreichs in Amerika (außer Kuba und Puerto Rico) zwischen 1810 und 1826. Dort zeigte sich, wie die allgemeine Tendenz des atlantischen Zyklus (Unabhängigkeit, Staatsbildung, formale rechtliche Gleichheit, aufklärerisches Gedankengut, Konstitutionalismus) unter den spezifischen Bedingungen der hispanoamerikanischen Kolonialgesellschaften spezifische Wege nehmen konnte  : Obgleich Volksbewegungen durchaus eine Rolle spielten (und auch schon Ende des 18. Jahrhunderts gespielt hatten – etwa im Aufstand im Andenraum 1780–1782 unter Führung des José G. Condor­canqui, der sich, an die vorkoloniale Zeit anknüpfend, Inka Túpac Amarú II. nannte), einer jakobinisch-radikalen Allianz zwischen den kreolischen Eliten und den Bevölkerungsmehrheiten stand die ethnisch-rassische Ordnung der Kolonialgesellschaft im Wege. Die ungleiche und regional beschränkte Entfaltung kapitalistischer Dynamiken, die Interessenwidersprüche der jeweiligen kreolischen Eliten, die Angst vor einem haitianischen Szenario in den von Sklaverei geprägten Gebieten und die schiere räumliche Weite des Subkontinents ließen ganz andere (und bis in die 1870er-Jahre durchgehend instabile) postrevolutionäre Gesellschaften als in ­Europa entstehen. Auch die Potenz für die von Simón Bolívar anvisierte kontinentale Einheit war zu gering.24 Die lateinamerikanischen Unabhängigkeitsrevolutionen wurden dementsprechend auch als „unvollendete Revolutionen“ bezeichnet25 – ein wiederkehrender Befund der Revolutionsforschung, der gerade für Revolutionen im 20. Jahrhundert oft ausgesprochen wurde. Historiografisch kreisen die Einschätzungen in den letzten Jahren um die Frage, inwieweit die Unabhängigkeitsbewegungen ‚internen‘ Widerspruchskonstellationen geschuldet waren oder durch den ‚externen‘ Anstoß der transatlantischen und iberischen Prozesse zu erklären sind (wobei von manchen im Sinne einer zentralen Rolle Spaniens das spanische Imperium wiederum als eine Art Binnenraum postuliert wird, in dem eine Serie von ‚spanischen‘ und dann transatlantischen Revolutionen stattfand).26 541

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 541

22.09.2010 07:50:52

Verkehrsrevolutionen Revolutionen

Auch nach dem Ende der napoleonischen Ära blieb das Phänomen Revolution präsent  : zum einen als negative Handlungsfolie der restaurativen europäischen Politik – Herrschaft war von nun an auch immer Revolutionsvermeidung –, zum anderen als Pate für eine Reihe von Aufstandsbewegungen und nationalen Befreiungsbewegungen. Mit dem Revolutionsjahr 1830 sind als Abschluss dieses Zyklus zwei interessante Stichworte zu nennen  : einerseits die Straßenbarrikade, die stellvertretend für den in Paris im Juli 1830 gezeigten Fundus revolutionärer Praktiken steht (ein Fundus, der gewissermaßen bis heute gültig ist). Andererseits die Ausformung eines neuen Musters politischer Handhabe gegenüber revolutionären Situationen in Großbritannien durch die Ausweitung des Wahlrechts 1832  : politische Reform ‚von oben‘ statt Revolution ‚von unten‘.

Unverbundene Häufungen, antikoloniale Erhebungen und das Ende großer Reiche – 1848 bis 1919 Dass die Revolutionen von 1848/49 ein grenzüberschreitendes Phänomen waren, darf als bekannt gelten. Ins Auge sticht dabei, mit welcher Geschwindigkeit sich die Aufstände über weite Regionen Europas ausdehnten und wie stark die wechselseitige Bezogenheit der Bewegungen mit Blick auf Programmatik, Rhetorik und das Repertoire widerständiger Praktiken war. Ähnliches gilt für die Problemlagen  : bäuerliche Ansinnen auf Entlastung von feudalen Pflichten, städtisch-proletarische Mobilisierung, bürgerliche Forderung nach Verfassung und Repräsentation sowie, insbesondere im Habsburgerreich, nationale Unabhängigkeit. Es handelte sich dennoch nicht um eine einheitliche Revolution, und auch Austausch und Wirkung zwischen Europa und anderen Weltregionen waren wesentlich geringer als im atlantischen Zyklus.27 Wenn auch kaum mit dem europäischen 1848 verbunden, vollzogen sich in zeitlicher Nähe dennoch einige weitere Prozesse mit revolutionärer Bedeutung. Das gilt zunächst für die gemeinhin als ‚Rebellion‘ bezeichnete Taiping-Erhebung in China (1850–1864). Mit ihr ging nicht nur die Herausforderung der Qing-Dynastie durch eine Massenbewegung einher, sondern auch der blutigste Konflikt des 19. Jahrhunderts, wenn nicht einer der blutigsten Bürgerkriege der Geschichte. Gesammelt hatte sich diese Bewegung um Hong Xiuquan, einen erleuchteten Mystiker, der unter Anverwandlung von Christentum und Konfuzianismus ein Himmlisches Reich des Großen Friedens (Taiping Tianguo) ausgerufen hatte. Diese Bewegung kontrollierte insbesondere im Süden Chinas große Gebiete, baute ein paralleles Staatswesen auf und setzte sozialrevolutionäre Maßnahmen um (Land542

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 542

22.09.2010 07:50:53

Revolutionen

enteignungen etc.). Sie nährte sich auch aus den Verwerfungen, die durch die bis dahin vollzogene Weltmarktintegration entstanden waren. Mit der Taiping-Rebellion ist zugleich angesprochen, welches Gewicht religiöse Vorstellungen und Erweckungsbewegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in außereuropäischen Rebellionen hatten.28 Dies gilt auch für die größte antikoloniale Erhebung des 19. Jahrhunderts, den ‚großen Aufstand‘ in Indien 1857–1859 (im Englischen Great Mutiny). Er ging von einem Teil der indischen Truppen der britischen Kolonialmacht, den Sepoy, aus und konnte sich in einigen Regionen schnell verallgemeinern. Den bestimmenden Akteuren war es jedoch um die Restauration des vorkolonialen Standes zu tun, die Bewegung hatte damit nur bedingt revolutionären Charakter. Als ‚revolutionär‘ im Sinne von sozialer Transformation in kurzer Zeit erwiesen sich dagegen eine Reihe weiterer Prozesse  : Zunächst der US-amerikanische Bürgerkrieg 1861–1865, der wohl deshalb einen so blutigen Verlauf nahm, weil der Fortbestand zweier unterschiedlicher sozioökonomischer Ordnungen auf SeinOder-Nicht-Sein herausgefordert war. Zugleich nahmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Fälle zu, in denen Gesellschaften unter Anstoß und Zwang machthabender Gruppen einen beschleunigten gesellschaftlichen Wandel weit reichenden Ausmaßes erfuhren. Dabei gelten Deutschland unter Bismarck und Japan mit der bisweilen auch als ‚Revolution‘ bezeichneten Meji-Restauration (ab 1868) als Paradebeispiele für Gesellschaften, in denen neue oder alte Eliten unter dem Druck eines neuen geopolitisch-ökonomischen Umfelds eine ‚Revolution von oben‘ bewirkten, ohne dass Mobilisierungen großer Bevölkerungsteile dabei eine entscheidende Rolle spielten. Das 19. Jahrhundert erscheint damit in den Jahrzehnten zwischen 1850 und 1910 als eines, in dem tief greifende Reformen immer öfter Revolutionen ersetzten. Um die Wende zum 20. Jahrhundert ist eine weitere Häufung zu vermerken. Einerseits große antikoloniale Erhebungen wie z. B. der Mahdi-Aufstand (1881–1899) im Sudan gegen die britische Kolonialmacht oder der Boxeraufstand in China (1900/01), anderseits revolutionäre Krisen in den großen Reichen Eurasiens (Russ­ land 1905, Iran 1905, Türkei 1908, China 1911). Mit der chinesischen Revolution von 1911 hatte sich der Revolutionsbegriff endgültig globalisiert. Die 1910 beginnende Mexikanische Revolution trägt derweil in vielerlei Hinsicht hybride Züge. Ihre sozialrevolutionären Momente, die sich zudem in der für das 20. Jahrhundert typischen Sprache eines sozialen Radikalismus äußerten, verweisen bereits auf die kommenden Wellen.

543

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 543

22.09.2010 07:50:53

Verkehrsrevolutionen Revolutionen

20. Jahrhundert: Multiple Zyklen Um 1900 schien es unter den meisten revolutionär gesinnten Akteuren Europas Konsens, dass alle Gesellschaften einem Stufenschema zu folgen hätten und damit dem Zwang der Nachahmung eines bestimmten Weges der Modernisierung unterlägen. Doch bereits die ersten revolutionären Umbrüche des 20. Jahrhunderts wiesen über derart geordnete Sequenzen hinaus  : Sowohl in der Russischen Revolution von 1905 als auch in der Mexikanischen Revolution (1910–1917) verliehen Agrarfrage und soziale Frage den Auseinandersetzungen eine Energie, die den von Elitenfraktionen gesetzten Rahmen von Demokratisierung und Verfassungsgebung überschritten. Erklären lässt sich diese Divergenz unter anderem aus der Tatsache, dass die Ansinnen z. B. der Landbevölkerung in Mexikos Süden (repräsentiert durch die ikonische Führungsfigur Emiliano Zapata) nicht auf ein Zuwenig an modernisierender Einbindung in Kapitalismus und Weltmarkt zurückzuführen war, sondern, im Gegenteil, auf eine lange Periode liberaler Umstrukturierung der Verhältnisse auf dem Lande.29 Lenin steht als ikonische revolutionäre Führungsperson gleichermaßen für die Fortführung des Modernisierungsimperativs wie für den Bruch mit etablierten Vorstellungen ‚gesetzmäßiger‘ historischer Sequenzen entlang eines Stufenschemas. ‚Revolution‘ wurde im Gefolge der Oktoberrevolution zu einem Schlüsselelement des 20. Jahrhunderts, weil sich hieraus eine enorme Politisierung struktureller Sachzwänge ableiten ließ und damit unbewegliche Verhältnisse (Klassen-, Geschlechter-, Kolonial- und internationale Beziehungen) über den Weg der Revolution veränderbar erschienen. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auf die unterschiedlichen Deutungen der Oktoberrevolution einzugehen.30 Abgesehen von der nachgerade ahistorischen Frage, ob die Ereignisse im Oktober/November 1917 ein Putsch gewesen seien oder nicht (so als ob der Moment der Peripetie, des dramatischen Umschwungs, in einer Revolution nicht immer einen gewissen Legalitätsbruch enthalten würde), kreisen die zentralen Diskussionen seit Jahrzehnten darum, ob zwischen dem Komplex 1917 – Bolschewiki-Lenin und jenem von Zwangskollektivierung – Großer Ter­ror – Stalin ein Bruch oder vielmehr Kontinuität bestehe, mithin ob Letzteres zwingend aus Ersterem hervorgegangen sei. Oft genug werden dabei Erster Weltkrieg und vernichtender Bürgerkrieg als prägende Faktoren übersehen. In Wirkung und Strahlkraft war der Umbruch in Russland jedenfalls eine der größten Erschütterungen der Zeit. Die Oktoberrevolution ist ohne Zweifel die Leitrevolution der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts,31 d. h. der einmal unmittelbare, einmal mittelbare Referenzpunkt und Katalysator gesellschaftlicher Prozesse in vielen 544

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 544

22.09.2010 07:50:53

Revolutionen

verschiedenen Weltregionen. Überall, wo der seit Jahrhunderten bestehende Diskurs utopischer Erlösung der Armen und Unterdrückten die Alltagskultur prägte, wurden Oktoberrevolution und Sowjetunion lange (überraschend lange) als Versprechen und Bekräftigung wahrgenommen.32 Zugleich lancierten die Bolschewiki mit der Gründung der Kommunistischen Internationale (Komintern) im Jahr 1919 das bis heute ambitionierteste Projekt einer bewussten Revolutionsausweitung. Dabei wurden, wie wohl bei kaum einem anderen Internationalismus seiner Zeit, sowohl politisch als auch ideologisch Räume für antikolonialistische Bestrebungen eröffnet. So bildete die Oktoberrevolution für die erste Jahrhunderthälfte das zentrale Scharnier zwischen Revolutionshoffnungen und -dynamiken in den industrialisierten Ländern und den Logiken von Revolutionen in agrarisch dominierten oder kolonial abhängigen Gesellschaften. Der Stalinisierungsprozess in der Sowjetunion und in der Komintern verödete ab Mitte der 1920er-Jahre den sozialrevolutionären Anfangsimpetus und den internationalistischen Anspruch. In diesem Sinne ist die Rede von einer „unvollendeten Revolution“ auch hier berechtigt.33 Revolutionsreferenz auf die Sowjetunion und die gleichzeitige repressive Revolutionsabstinenz ihrer Führungseliten seit Beginn der 1930er-Jahre bilden jedenfalls einen wichtigen Schlüssel, um die für das 20. Jahrhundert frappierende Lücke zwischen ‚revolutionären Situationen‘ und ‚revolutionären Ergebnissen‘ zu erklären. Den gebündelten Bestrebungen der Revolutionsausweitung Anfang der 1920er-Jahre steht dabei die Tatsache entgegen, dass eine Wiederholung der Oktoberrevolution an keinem Ort gelang. Die revolutionäre Welle, die weite Teile Europas (Deutschland, Italien, verschiedene Nachfolgestaaten der k. u. k Monarchie) ab 1918 erfasste, scheiterte – zumindest wenn man die sozialrevolutionären Zielsetzungen des radikalen Teils der Handelnden als Maßstab heranzieht. Dieses Scheitern sollte aber nicht den Blick auf die bemerkenswerte Zahl revolutionärer Situationen im Lauf des 20. Jahrhunderts auch in den Ländern des europäischen Zentrums verstellen. Dies gilt zunächst für die 1930er-Jahre, in denen die Entwicklung in Deutschland, Frankreich und Spanien hin zu den verschiedenen Faschismen keineswegs zwingend war. Ihnen stehen Polarisierung und Mobilisierung der Arbeiterbewegungen, Volksfront in Frankreich und Bürgerkrieg cum Revolution in Spanien entgegen. Die faschistischen Bewegungen und ihre Machtergreifung wurden dabei mitunter gleichfalls als ‚Revolution‘ gelesen (nicht zuletzt wegen ihrer breiten Massengefolgschaft und ihres revolutionären Gestus).34 Eine solche Sicht entspricht zumindest dem Selbstbild der Nationalsozialisten und des italienischen Faschismus. Die sozioökonomischen Verhältnisse blieben dabei freilich, zumindest was den Imperativ der privaten Kapitalakkumulation betrifft, unangetastet, die Elitenkonti545

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 545

22.09.2010 07:50:53

Verkehrsrevolutionen Revolutionen

nuität war, gerade in Deutschland, frappierend. Seine Wurzeln in Gegenaufklärung, Antikommunismus, Rassismus und Militarismus weisen den Faschismus zudem als kondensierte Antirevolution aus.35 Bruch und Transformation des Bestehenden und den Zauber des Revolutionären bei gleichzeitiger Weiterführung der sozioökonomischen Verhältnisse beanspruchten im 20. Jahrhundert freilich nicht nur faschistische Herrschaftsformen. Auch zu anderen Zeiten versahen sich repressiv antiemanzipatorische Regime mit dem Attribut ‚Revolution‘. So nannte sich in Argentinien die gegen die sozial-populistische Regierung Peróns gerichtete Militärdiktatur (1955–1958) Revolución Libertadora, eine neuerliche Militärdiktatur ab 1966 unter Onganía Revolución Argentina. Auch die Usurpation der revolutionären Umbrüche, die 1979 zum Sturz des Schahs im Iran geführt hatten, als ‚islamische Revolution‘ durch Ayatollah Khomeini lassen sich zum Teil von dieser Warte aus deuten (auch wenn im Iran für diese Entwicklung durchaus eine Massenbasis vorhanden war und das Element der Religion hier ein Eigengewicht hatte, das auf die genannten außereuropäischen Bewegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verweist).

Periphere Revolutionen und die ‚langen‘ 1960er-Jahre Am Ende des Zweiten Weltkriegs kam es nicht zu einer mit den Jahren 1917–1923 vergleichbaren revolutionären Welle, auch wenn die Entwicklungen in Italien, Jugoslawien, Griechenland und andernorts zeitweise das Attribut ‚revolutionäre Situa­tion‘ rechtfertigen. Die Ausweitung von Gesellschaften nach dem Bilde der Sowjetunion ab 1948 in Teilen Europas vollzog sich dagegen hauptsächlich militärisch gestützt als Zwangstransformationen ‚von oben‘. Hingegen ist mit der chinesischen Revolution 1949 und der indischen Unabhängigkeit 1947 der wohl wichtigste Zyklus revolutionärer Umbrüche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesprochen  : die Revolutionen der Dritten Welt (ein Begriff, der als Tiers Monde ursprünglich eine Parallele mit dem Tiers Etat, dem Dritten Stand in der Französischen Revolution und damit eine emanzipatorischen Richtung aufzeigen wollte). In diesen „peripheren Revolutionen“36 spielten folgende Faktoren eine zentrale Rolle  : erstens die Dekolonisierung, also Ziel und Möglichkeit von Eigenstaatlichkeit, ein Ziel, das diesen Revolutionen zugleich auch eine prononciert nationalrevolutionäre Dimension verlieh  ;37 zweitens die Rolle der bäuerlichen Bevölkerung und die Agrarfrage, die seit der Russischen Revolution unterschiedliche Antworten fand (Antworten zwischen den Formen großbetrieblicher Sozialisierung oder kleinstrukturierter Landverteilung sowie zwischen den Polen 546

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 546

22.09.2010 07:50:53

Revolutionen

[Welt-]Marktorientierung oder Subsistenzproduktion)  ; die Wahl der Kampfform für die Erreichung der Ziele, insbesondere die Frage des bewaffneten Kampfes und seiner konkreten Ausformung (von kleinen Guerillaeinheiten hin zu regulären und substanziellen Befreiungsheeren)  ; die Frage von Verfassung und politischer Kultur des neuen Herrschaftssystems (Demokratieformen, Formen autoritärer und/oder militärischer Herrschaft, Terror als Herrschaftsmittel)  ; sowie die Rolle der Religion bei Mobilisierung, Demobilisierung und Stabilisierung.38 Die im Jahr 1959 beginnende Kubanische Revolution löste eine folgenschwere politische und soziale Erschütterung Lateinamerikas aus und wurde für eine gewisse Zeit zu einem wichtigen globalen Referenzpunkt. Die Geschwindigkeit, mit der sich diese Revolution radikalisiert und dabei die jahrzehntelang als unerfüllbar geltenden Forderungen der mit Armut konfrontierten sozialen Klassen erfüllt hatte, übte gigantische Anziehungskraft aus. Diese regionale Leitrevolution39 brachte auch ihren eigenen Internationalismus hervor. Was der Kubanischen Revolution derartige Wirkmacht verlieh, war – neben ihrem exponierten Ort im Kalten Krieg, ihrer medialen Präsenz und ihrer charismatischen Prägung – der Umstand, dass sie beispielhaft die postkoloniale conditio erkennbar werden ließ  : Während sich im 19. Jahrhundert reformerische Wege der sozialökonomischen Transformation öffneten, schienen solche Reformen nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen Ländern blockiert. Diese Reformblockade betraf die (eigentlich dem Horizont der Französischen Revolution zugehörenden) Ansprüche auf Unabhängigkeit, Agrarreform, Industrialisierung, Demokratie. Ansprüche, die gerade in Lateinamerika mit seiner relativ langen nachkolonialen Erfahrung in wichtigen Teilen unerfüllt geblieben waren. Auch nicht-sozialrevolutionäre politische Projekte (die Kubanische Revolution zählte in ihrer Anfangszeit mit ihrer ‚humanistischen Revolution‘ gewiss dazu) radikalisierten sich vor diesem Hintergrund schnell, genauso wie eine Reihe von Unabhängigkeitsprozessen in Afrika und Asien. Doch die „langen 1960er-Jahre“40 (1959–1973) waren nicht nur „periphere Revolution“  : Die mit der Chiffre ‚1968‘ verbundene Verdichtung sozialer Mobilisierungen, politischer Umbrüche und beschleunigten Wandels fand auch in den USA und Westeuropa und in den Ländern des ‚realen Sozialismus‘ ihren Niederschlag. An nicht wenigen Orten kann man von einer revolutionären Situation sprechen. Das gilt insbesondere dort, wo es über die jugendbewegte Neudefinition von Protest und Politik hinaus – eine Neudefinition, die kulturelle, persönliche und politische Veränderung zu einem Anliegen verband – zu einer parallelen Mobilisierung (bisweilen sogar einer Allianz) von Studierenden und Arbeitern kam (u. a. in Frank­ reich, Spanien, Italien, Argentinien, zum Teil auch in Belgien, in der Tschechoslowakei und in Jugoslawien).41 Die Jahre 1968–1974 sahen tatsächlich eine der großen 547

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 547

22.09.2010 07:50:53

Verkehrsrevolutionen Revolutionen

internationalen Streikwellen der letzten 150 Jahre (die beiden anderen Häufungen – 1869–1875 und 1910–1920 – machen deutlich, dass derartige länderübergreifende Streikwellen mit revolutionären Zyklen zusammenfallen können, aber nicht müssen).42 Es handelt sich bei ‚1968‘ zweifelsohne um einen entscheidenden „transnational moment of change“,43 ob es sich neben 1848 um die einzige „Weltrevolution“ handelte, wie wichtige Weltsystemtheoretiker meinen, bleibt fraglich.44 Die Koinzidenz in so unterschiedlichen Weltregionen stellt nicht zuletzt die Frage nach den Gründen der Gleichzeitigkeit. Aus einer strukturorientierten Pers­ pektive lassen sich hierfür insbesondere drei Faktoren nennen  : das starke, doch global gesehen ungleiche Wachstum der Weltwirtschaft nach 1945 und die ersten Anzeichen eines Stockens desselben Ende der 1960er-Jahre, die allgemeine Expansion des Bildungssektors sowie die Dekolonisierung.45 Auf der Ebene intellektueller Anstöße ist vor allem auffällig, wie sich in den Jahren zwischen 1956 und 1968 die ‚Dritte Welt‘ und die Renaissance eines emanzipatorischen Radikalismus in den industrialisierten Zentren wechselseitig konstituierten. Die Vielfalt der Ereignisse und Perspektiven, die es letztlich nicht erlaubt, von einer Weltrevolution (schon gar nicht von einer erfolgreichen) zu sprechen, spiegelt sich auch in einer Wahrnehmungsvielfalt der zeitgenössischen Akteure. So sah z. B. die chinesische Staatselite, ganz in sino-zentrischer Weltsicht, in der weit verbreiteten Bezugnahme auf die ‚Kulturrevolution‘ sowie im Erfolg maoistischer Organisationen Anzeichen dafür, dass sich Peking wieder als ‚Zentrum der Welt‘ etablieren könne.46 Der Fokus auf die späten 1960er-Jahre sollte jedenfalls den Blick nicht dafür verstellen, dass der Höhepunkt des Mobilisierungszyklus vielerorts erst Mitte/Ende der 1970er-Jahre zu finden war. Zu nennen wäre hier auch das Ende der Diktaturen auf der Iberischen Halbinsel, das in Portugal als revolutionäre Transformation vor sich ging, in Spanien dagegen als verhandelter Übergang (wenngleich auch dort mit zeitweise starken Mobilisierungen). Ab Ende der 1970er-Jahre begannen sich die Kräfteverhältnisse zwischen den sozioideologischen Akteuren der industrialisierten Gesellschaften grundlegend zu verschieben. Zugleich gerieten die Länder des ‚realen Sozialismus‘ in eine stets tiefere Krise. Die als ‚Neoliberalismus‘ bezeichneten politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen im ‚Westen‘ eigneten sich einer verbreiteten These zufolge gewisse Freiheitsanliegen von ‚1968‘ der Form nach an und integrierten sie in die Logik der Kapitalverwertung.47 Zugleich verengten sich für große Teile der Dritten Welt die Spielräume drastisch. Das erwähnte und mit der Oktoberrevolution assoziierte Modell einer Politisierung (und damit Relativierung) von Sachzwängen konnte sich immer weniger behaupten. Das Schicksal der Nicaraguanischen Revolution in den 1980er-Jahren illustriert dies einprägsam – der demokratisch 548

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 548

22.09.2010 07:50:53

Revolutionen

legitimierte Versuch, das Erbe einer fünfzigjährigen Diktatur durch tief greifende Sozialreformen und ein alternatives Gesellschaftsmodell zu überwinden, konnte von der Hegemonialmacht USA erfolgreich durch eine systematische Politik der Gewalt zunichte gemacht werden.

Glückliches oder offenes Ende  ? Die Umbrüche von 1989/1991 – von Osteuropa bis nach Zentralasien – gelten als einer der glücklichsten historischen Momente des 20. Jahrhunderts (übersehen wird dabei die nicht zufällige Gleichzeitigkeit mit dem Ende des Sandinismus in Nicaragua). Sie schließen, wie oft hervorgehoben, das ‚kurze 20. Jahrhundert‘ ab. Für manchen verkörpern sie die letzte Verwirklichung des Freiheitsimpulses von 1968.48 Selten wurde ein Umbruch so vorbehaltlos als ‚Revolution‘ begrüßt wie dieser. Zweifelsohne waren in praktisch allen betroffenen Ländern große Volksbewegungen maßgeblicher Bestandteil der Ereignisse. Sie führten die Macht kollektiver politischer Aktion vor Augen, ihre Solidarisierungsdynamik genauso wie die Aneignung des Politischen von unten. Doch den Ergebnissen dieses Umbruchs – ein ausnahmsloses Einschwenken auf den Landeanflug Richtung ‚Ende der Geschichte‘ – eignete auch ein stark restauratives Moment, d. h. die Wiederherstellung gesellschaftlicher Konstellationen der Vergangenheit (Markt, privates Eigentum an großen Kapitalgütern etc.). Vergessen erscheinen zudem die ursprünglichen Hoffnungen wichtiger Akteure des Umbruchs auf eine demokratische Wiederbelebung sozialistischer Gesellschaftsprojekte. Gut möglich, dass diese nicht realistisch waren. Die Offenheit von Geschichte zu beachten bleibt jedoch gerade in Studien über Revolutionen geboten. In den 1990er-Jahren geriet in historiografischen und geschichtspolitischen Debatten zudem die ‚Revolution‘ an sich in Kritik. Festgemacht am Doppel von 1789 und 1917, wurden Revolutionen als Quell für Fanatismus, Totalitarismus und genozidären Terror beschrieben.49 Diesem Befund einer Fundamentalbedrohung liberaler Demokratie und der Menschenrechte durch revolutionäre Ansinnen steht die Hypothese entgegen, dass es gerade die mit der ‚Linken‘ assoziierten radikalemanzipatorischen Forderungen (freilich nicht immer nur revolutionärer Art) waren, durch die in den letzten 150 Jahren demokratische Errungenschaften möglich wurden.50 Die Ambivalenz der Beurteilung von Revolutionen zeigt sich gerade dort deutlich, wo die ‚guten Revolutionen‘ von 1989 als ‚Letzte ihrer Art‘ von den vergangenen abgehoben werden und damit zukünftige Revolutionen als Anachronismen markiert sind. 549

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 549

22.09.2010 07:50:53

Verkehrsrevolutionen Revolutionen

In medialen Inszenierungen werden in den letzten 15 Jahren gerade noch die „colour revolutions“,51 vornehmlich in Osteuropa, wahrgenommen – Prozesse, die in einigen Fällen zwar durchaus wichtige Bevölkerungsteile mobilisieren konnten, insgesamt jedoch stärker im Sinne eines bisweilen recht professionell geführten prowestlichen ‚Regime-change‘ denn als Revolution geschahen. Signifikanter sind indes die überraschende Renaissance von sozialer Mobilisierung großen Maßstabs und die Entstehung von dualen Konfrontationssituationen, wie man sie auf dem lateinamerikanischen Subkontinent seit der Jahrtausendwende beobachten kann (Ekuador 2000, Bolivien 2003–2005, Venezuela 2002 u. a.). Die Revolution ist in gewissem Sinne nach Lateinamerika zurückgekehrt. Dass diese Prozesse in Europa medial meist desavouiert werden, zeugt nicht nur von ihrer Brisanz. Es zeigt auch, mit welchem Unverständnis der ortspezifischen Ausformung einer seit zumindest 200 Jahren global verbreiteten Praxis in Europa noch immer begegnet wird. Der schon im revolutionären Frankreich zwischen Sympathie und bannender Dämonisierung schwankende Blick auf die Haitianische Revolution setzt sich auch heute fort. Statt aus einem vermeintlich gemeinsamen ‚Erfahrungsbestand‘ des Nordens absolute Normen für die ganze Welt abzuleiten, gilt es die analytischen Instrumentarien für das Verständnis von Gemeinsamkeiten und Spezifika zu schärfen. Globalgeschichtliche Perspektiven können dazu beitragen. Wortergreifung, wo zuvor Gehorsam herrschte, war und ist als Vorgang gleichermaßen universal wie in jeweils eigener Sprache gesprochen.

Anmerkungen 1 Enzyklopädischen Zugriff und Überblick bieten folgende Werke  : Immanuel Ness, Hg., The international encyclopedia of revolution and protest. 1500 to the present. 8 Bde., Malden u. a. 2009  ; James V. DeFronzo, Hg., Revolutionary movements in world history. From 1750 to the present. 3 Bde., Santa Barbara u. a. 2006  ; Peter Wende, Hg., Große Revolutionen der Geschichte. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 2000  ; Michael D. Richards, Revolutions in World History, New York 2004. 2 Christopher Hill, The world turned upside down. Radical ideas during the English revolution, London 1972. 3 Siehe Albert Soboul, Die große Französische Revolution. Ein Abriß ihrer Geschichte (1789–1799), 5. Auflage, Frankfurt am Main 1988  ; ders., Kurze Geschichte der Französischen Revolution, 2. Auflage, Berlin 2004. 4 Christopher Hill, The English revolution 1640. An essay, London 1940  ; ders., The century of revolution 1603–1714, London 1974  ; ders., Über einige geistige Konsequenzen der englischen Revolution, Berlin 1990  ; Eric J. Hobsbawm, Europäische Revolutionen, Zürich 1962  ; ders., Revolution und Revolte. Aufsätze zum Kommunismus, Anarchismus und Umsturz im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1977.

550

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 550

22.09.2010 07:50:53

Revolutionen

  5 Manfred Kossok/Walter Markov, Zur Methodologie der vergleichenden Revolutionsgeschichte der Neuzeit, in  : Manfred Kossok, Ausgewählte Schriften, Bd. 2. Vergleichende Revolutionsgeschichte der Neuzeit, Leipzig 2000 [1974], 21–46  ; ders., Vergleichende Revolutionsgeschichte der Neuzeit. Forschungsprobleme und Kontroversen, in  : Manfred Kossok, Ausgewählte Schriften, Bd. 2. Vergleichende Revolutionsgeschichte der Neuzeit, Leipzig 2000 [1979], 147–176  ; ders., In Tyrannos. Revolutionen der Weltgeschichte. Von den Hussiten bis zur Commune, Leipzig 1989.   6 Siehe insbesondere die jeweiligen Abschnitte über die atlantischen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts in  : Immanuel Wallerstein, Die große Expansion  : die Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert. Das moderne Weltsystem, Bd. 3, Wien 2004  ; aus weltsystemtheoretischer Perspektive konzipiert ist auch William G. Martin, Hg., Making Waves. Worldwide Social Movements, 1750–2005, Boulder/London 2008.   7 Barrington Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie. Die Rolle der Grundbesitzer und Bauern bei der Entstehung der modernen Welt, Frankfurt am Main 1969  ; Theda Skocpol, States and social revolutions. A comparative analysis of France, Russia, and China, Cambridge 1979  ; Charles Tilly, From mobilization to revolution, New York 1978  ; ders., Die europäischen Revolutionen, München 1993  ; Jack A. Goldstone, Revolution and rebellion in the early modern world, Berkeley 1991.   8 Tilly, Revolutionen, 31–41.   9 In Anlehnung an Kossok/Markov, Methodologie. 10 Man könnte auch von „Revolutionsclustern“ sprechen, vgl. Richards, Revolutions, 2. 11 Vgl. Manfred Kossok, Hg., Revolutionen der Neuzeit, 1500–1917, Berlin 1982  ; ders., In Tyrannos  ; Matthias Middell, Revolutionsgeschichte und Globalgeschichte. Transatlantische Interaktionen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in  : Margarete Grandner/Andrea Komlosy, Hg., Vom Weltgeist beseelt  : Globalgeschichte 1700–1815, Wien 2005, 135–160  ; Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 746–747. Terry Boswell, World Revolutions and Revolutions in the World-System, in  : Terry Boswell, Hg., Revolution in the worldsystem, New York 1989, 1–18. 12 Vgl. Marcel van der Linden, Workers of the World. Essays toward a Global Labor History, Leiden 2009, 372–377. 13 Manfred Kossok, Realität und Utopie des Jakobinismus. Zur ‚heroischen Illusion‘ in der bürgerlichen Revolution, in  : ders., Ausgewählte Schriften Bd. 3. Zwischen Reform und Revolution. Übergänge von der Universal- zur Globalgeschichte, Leipzig 2000, 95–107, hier 98. 14 Siehe Richard van Dülmen, Reformation als Revolution. Soziale Bewegung und religiöser Radikalismus in der deutschen Reformation, München 1977. 15 Für eine Gegengeschichte ‚von unten‘ dieser atlantischen Beziehungen in der Zeit zwischen 16. und beginnendem 19. Jahrhundert, in der eine vielfach vernetzte und rebellische transatlantische Welt maritimer plebejischer Akteure (Hafenarbeiter, Seeleute, Piraten, Sklaven, Schuldknechte) sichtbar wird, siehe  : Peter Linebaugh/Marcus Rediker, Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks, Berlin 2008. 16 Vgl. Goldstone, Revolution. 17 Osterhammel, Verwandlung der Welt, 738–740. 18 Vgl. George Rudé, The crowd in history. A study of popular disturbances in France and England, 1730–1848, London 1964, 31. 19 Mit den begrifflichen Unterscheidungen Reinhart Kossellecks gesprochen handelt es sich um ein Phänomen, das nicht nur als ‚Indikator‘ den heute Forschenden zugänglich sein kann, sondern bis zu einem gewissen Grad auch den in jeweiligen historischen Kontexten Handelnden als ‚Faktor‘ bewusst sein musste. Die Hypothese wäre also  : Für eine Revolte braucht es bei den historischen Ak-

551

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 551

22.09.2010 07:50:53

Verkehrsrevolutionen Revolutionen

teuren keinen Begriff von derselben, für eine Revolution, wenn auch jeweils in stark zeitgebundener Form und Variation, sehr wohl. 20 Die Historiografie zu dieser Revolution bildet dementsprechend ein Universum für sich. Nützliche Kartierungen finden sich im Sammelband von Erich Pelzer, Hg., Revolution und Klio. Die Hauptwerke zur Französischen Revolution, Göttingen 2004. 21 Robert Palmer, The Age of Democratic Revolution. A Political History of Europe and America, 1760–1800. The challenge, Princeton 1959  ; Jacques Godechot, Les revolutions, 1770–1799, Paris 1963 (Engl.  : France and the Atlantic revolution of the eighteenth century. 1770–1799, New York/ London 1965). Diese Thesen bezogen sich zunächst nur auf den weißen Nordatlantik. Erst später traten beide Amerikas ins Bewusstsein, danach der ‚schwarze Atlantik‘, noch später der plebejische. Vgl. Bernard Bailyn, Atlantic History  : Concept and Contours, Cambridge 2005  ; Michael Zeuske, Sklaven und Sklaverei in den Welten des Atlantiks 1400–1940. Umrisse, Anfänge, Akteure, Vergleichsfelder und Bibliographien, Berlin 2006. 22 Zur Haitianischen Revolution siehe David P. Geggus, Hg., The Impact of the Haitian Revolution in the Atlantic World, Columbia 2001  ; Laurent Dubois, Avengers of the New World. The Story of the Haitian Revolution, Cambridge 2005. Ein heute noch lesenswerter, 1938 erstmals erschienener Klassiker radikaler schwarzer Wiederaneignung der haitianischen Ereignisse ist C. L. R. James, Die schwarzen Jakobiner. Toussaint l’Ouverture und die Unabhängigkeitsrevolution in Haiti, Köln 1984. 23 Diese These findet sich klassisch bei Eugene Genovese, From Rebellion to Revolution. Afro-American Slave Revolts in the Making of the Modern World, Baton Rouge 1979. 24 Überblicksdarstellungen  : John Lynch, The Spanish American Revolution 1808–1926, 2. Auflage, New York 1986  ; Jaime E. Rodríguez O., The emancipation of America, in  : American Historical Review 105 (2000), 131–152. Siehe auch die entsprechenden Abschnitte in Raymond Th. Buve/John R. Fischer, Hg., Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 2. Lateinamerika von 1760 bis 1900, Stuttgart 1992. 25 Vgl. Orlando Fals Borda, Las revoluciones inconclusas en América Latina (1809–1968), México D.F. 1970. 26 Vgl. Jeremy Adelman, Sovereignty and revolution in the Iberian Atlantic, Princeton 2006. FrançoisXavier Guerra, Hg., Las revoluciones hispánicas. Independencias americanas y liberalismo español, Madrid 1995. 27 Vgl. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, 777–780. Einstiege und Überblicke finden sich z. B. in  : Dieter Langewiesche, Hg., Die Revolutionen von 1848 in der europäischen Geschichte  : Ergebnisse und Nachwirkungen, München/Oldenburg 1998 (Beihefte Historische Zeitschrift N. F. 29)  ; Dieter Dowe, Hg., Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998  ; Jonathan Sperber, The European Revolutions, 1848–1851, 2. Auflage, Cambridge 2005. 28 Siehe z. B.  : Thomas H. Reilly, The Taiping Heavenly Kingdom  : Rebellion and the Blasphemy of Empire, Seattle 2004. 29 Hans Werner Tobler, Die mexikanische Revolution. Gesellschaftlicher Wandel und politischer Umbruch, 1876–1940, Frankfurt am Main 1984  ; Alan Knight, The Mexican Revolution, 2 Bde., Cambridge u. a. 1986. 30 Einstiege aus unterschiedlichen Richtungen bieten Manfred Hildermeier, Die Russische Revolution 1905–1920, 4. Auflage, Frankfurt am Main 1995  ; Orlando Figes, Die Tragödie eines Volkes, Berlin 1998  ; Marc Ferro, La révolution de 1917, 2. Auflage, Paris 1997  ; Sheila Fitzpatrick, The Russian Revolution, 3. Auflage, Oxford 2008. Erhellend sind auch die Debatten im Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung in den Jubiläumsjahren 1997 und 2007. 31 Zum Begriff Leitrevolution vgl. Kossok, Forschungsprobleme und Kontroversen, 159. 32 Zur Ausstrahlung von 1917, insbesondere auf die Arbeiterbewegungen, siehe Neil McInnes, The Im-

552

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 552

22.09.2010 07:50:53

Revolutionen

pact of the Russian Revolution 1917–1967. The Influence of Bolshevism on the World outside Russia, London u. a. 1967, 32–133. 33 Isaac Deutscher, Die unvollendete Revolution 1917–1967, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1967. 34 Von den vielen Deutungen, die den Faschismus als Revolution analysieren, sei erwähnt  : George Mosse, The Fascist Revolution. Toward a General Theory of Fascism, New York 1999. 35 Enzo Traverso, Der neue Antikommunismus. Nolte, Furet und Courtois interpretieren die Geschichte des 20. Jahrhunderts, in  : Volker Kronenberg, Hg., Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik. Der Historikerstreit – 20 Jahre danach, Wiesbaden 2008, 67–90, hier 71–72. 36 Manfred Kossok, Das 20. Jahrhundert – eine Epoche der ‚peripheren Revolutionen‘  ?, in  : ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 3. Zwischen Reform und Revolution. Übergänge von der Universalzur Globalgeschichte, Leipzig 2000, 289–295. Aus einer weltsystemischen Perspektive wurde über den Zeitraum 1821–1986 Revolutionen in der Peripherie und Interventionen durch das Zentrum in Beziehung gesetzt. Das Ergebnis  : Je mehr revolutionäre Rührung in der Peripherie, desto mehr Interventionen durch das Zentrum. Siehe  : David Kowalewski, Core Intervention and Periphery Revolution, 1821–1985, in  : American Journal of Sociology 97 (1991–1992), 70–95. 37 Man kann die Dekolonisierung zugleich als eigenständigen Zyklus betrachten und sie als die wohl größte transformatorische soziale Bewegung des 20. Jahrhunderts beschreiben, die bisweilen über den Weg der Revolution, oft genug aber auch mittels Verhandlungen zum Ziel gelangte. 38 Zu revolutionären Bewegungen und Umbrüchen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Dritten Welt siehe  : Eric Wolf, Peasant Wars of the 20th century, New York 1969  ; John Dunn, Moderne Revolutionen. Analyse eines politischen Phänomens, Stuttgart 1974  ; Jeff Goodwin, No other way out. States and revolutionary movements, 1945–1991, Cambridge 2001  ; John Foran, Taking Power. On the Origins of Third World Revolutions, Cambridge 2005  ; Terry Boswell, Hg., Revolutions in the world-system, New York u. a. 1989. Zu den intellektuellen Grundlagen von Dekolonisierung als Revolution und durch revolutionäre Umbrüche siehe insbesondere Abschnitte III und IV in Robert C. Young, Postcolonialism. An Historical Introduction, Oxford 2001. 39 Zu den Mobilisierungen, revolutionären Krisen und Guerilla-Bewegungen in Lateinamerika seit der Kubanischen Revolution siehe Timothy P. Wickham-Crowley, Guerrillas and Revolution in Latin America. A Comparative Study of Insurgents and Regimes since 1956, Princeton 1993  ; siehe auch Thomas C. Wright, Latin America in the Era of the Cuban Revolution, New York u. a. 1991. Einen vergleichenden Blick auf Revolutionen und revolutionäre Situation in Lateinamerika im 20. Jahrhundert wirft Hans-Jürgen Puhle, ‚Revolution‘ von oben und Revolution von unten in Lateinamerika. Fragen zum Vergleich politischer Stabilisierungsprozesse im 20. Jahrhundert, in  : Geschichte und Gesellschaft 2/2 (1976), 143–159. 40 Siehe Arthur Marwick  : ‚1968‘ and the Cultural Revolution of the Long Sixties (1958–1974), in  : GerdRainer Horn/Padraic Kenney, Hg., Transnational Moments of Change. Europe 1945, 1968, 1989, Lanham u. a. 2004, 81–94, hier 81 f. 41 Vgl. Bernd Gehrke/Gerd-Rainer Horn, Hg., 1968 und die Arbeiter. Studien zum ‚proletarischen Mai‘ in Europa, Hamburg 2007. 42 Siehe Ernesto Screpanti, Long Cycles in Strike Activity. An Empirical Investigation, in  : British Journal of Industrial Relations 25 (1987), 99–124. Zu den Konjunkturen von Arbeitsprotesten (labour unrest) wurde aus weltsystemischer Perspektive in einer ‚Research Working Group on World Labor‘ eine aufwendige Datensammlung angelegt. Für die Jahre 1906–1990 wurden dabei nur zwei Phasen eines explosiven weltweiten Anstiegs von Arbeitskonflikten herausgearbeitet  : 1919–1920 und 1946–1947. Sie fallen mit dem jeweiligen Ende der beiden Weltkriege zusammen. Im ersten Fall koinzidiert dieser Anstieg auch mit der genannten revolutionären Welle 1917–1923, im zweiten mit der Zäsur von 1945, die zwar revolutionäre Situationen hier und dort (und ab 1948 Revolutionen

553

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 553

22.09.2010 07:50:53

Verkehrsrevolutionen Revolutionen

‚von oben‘ im Einflussbereich der Roten Armee) aufwies, jedoch keine ähnlich starke revolutionäre Welle wie der Erste Weltkrieg hervorbrachte. Der bekannteste Ausfluss dieses Projekts ist  : Beverly Silver, Forces of Labor. Workers’ Movements and Globalization since 1870, Cambridge 2003. Eine konzise Zusammenfassung der Diskussion findet sich in  : van der Linden, Workers, 299–304. 43 Gerd-Rainer Horn/Padraic Kenney, Hg., Transnational Moments of Change. Europe 1945, 1968, 1989, Lanham u. a. 2004. 44 Giovanni Arrighi/Terence K. Hopkins/Immanuel Wallerstein, Antisystemic Movements, London 1989, 97. Beide Revolutionen wären gescheitert, beide hätten letztlich die Welt tief greifend verändert. Die gemeinsame Angriffsfläche aller Bewegungen und Vorkommnisse um 1968 sei die Hegemonie der USA im Weltsystem gewesen. Eine weitere Zielscheibe habe die ‚Alte‘ Linke abgegeben. Das Gegenprojekt der ‚Neuen‘ Linken habe derweil als Übergangsphänomen für die Herausbildung der Neuen Sozialen Bewegungen seit den 1970er-Jahren fungiert, die die eigentliche Neuerung von 1968 darstellten. Augenfällig an dieser Deutung ist, dass dem Doppel von 1789 und 1917, das in der traditionellen marxistischen Lesart als ehern gilt, das um einen Zeitraum von etwa 50 Jahren verschobene Chiffrenpaar von 1848 und 1968 entgegengestellt wird. 45 Marcel van der Linden, 1968  : Das Rätsel der Gleichzeitigkeit, in  : Jens Kastner/David Mayer, Hg., Weltwende 1968  ? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive, Wien 2008, 23–37. 46 Susanne Weigelin-Schwiedrzik, China  : Das Zentrum der (Welt-)Revolution  ? Die chinesische Kulturrevolution und ihre internationale Ausstrahlung, in  : Angelika Ebbinghaus/Marcel van der Linden, Hg., 1968 – A view of the protest movements 40 years after, from a global perspective, Leipzig 2009, 21–44. 47 Dies betrifft vor allem die ‚1968‘ aufgekommene Kritik an Entfremdung, fabrikmäßiger Zurichtung und allgemeiner Disziplinierung des Individuums. Das Wiedererstarken des Liberalismus habe diese Kritik in eine individualistische Ideologie der ‚freien Wahl‘ und des spiel- und lustbetonten Konsums verwandelt. Diese streitbare These findet sich z. B. in Luc Boltanski/Ève Chiapallo, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, 213–259 48 Paul Berman, A Tale of Two Utopias. The Political Journey of the Generation of 1968, New York 199, 67–18. 49 Vgl. z. B.  : François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München/ Zürich 1996, 13–53. Für eine Kritik dieser Lesart siehe Traverso, Antikommunismus. 50 Geoff Eley, Forging Democracy. The history of the Left in Europe, 1850–2000, Oxford 2002. 51 Donnacha Ó Beacháin/Abel Poles, Color revolutions, in  : Immanuel Ness, Hg., The international encyclopedia of revolution and protest. 1500 to the present. Bd. 2, Malden u. a. 2009, 810–818.

554

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 554

22.09.2010 07:50:53

Verletzte Soldaten der Britischen 55. Division (West Lancashire) nach einem deutschen Angriff in der Schlacht von Estaires, Flandern, 10. April 1918. Quelle: Imperial War Museum Collection No. 1900-22, Fotograf unbekannt, Rechte: commons.wikimedia.

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 555

22.09.2010 07:50:54

Angehörige der Afghanischen National-Armee und U.S. Marines entsteigen dem Heck eines CH-47 Chinook Helicopters der U.S. Armee in den Tora Bora Bergen in Afghanistan und machen sich auf den Weg in entlegene Dörfer (8. Juni 2009). Foto: Rick Scavetta, Quelle: http://commons.wikimedia.org (public domain).

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 556

22.09.2010 07:50:54

Kapitel 18

Krieg und Militär Die „große Divergenz“ und ihre Schließung Thomas Kolnberger

Whatever happens, we have got  : The Maxim gun, and they have not.1 Hilaire Belloc (1870–1953)

Das Maxim Gun ist ein wassergekühltes, einläufiges Maschinengewehr. Seine Munitionszuführung erfolgt seitlich mittels eines Endlosgurts aus Stoff. Im Takt von Gurtvorschub, Schussabgabe und Patronenauswurf nutzt die Konstruktion die Rückstoßenergie der abgefeuerten Geschosse um – wie am Fließband – die Ladegriffe per Hand zu automatisieren. Andere Konstruktionen verwenden Gasdruck, der durch Zündung der Treibmittel entsteht. Bei Kadenzen von bis zu 500 Schuss pro Minute konnten fortan ganze Schützenkompanien durch ein bis zwei MG-Gruppen ersetzt – ‚wegrationalisiert‘ – werden. Nur der Munitionsnachschub und die hohe Reibungsenergie der Projektile, die trotz Wasser- oder Luftkühlung einen glühend geschossenen Lauf verformen konnten, verlangten diesem pyrotechnischen perpetuum mobile Ruhepausen ab. 1885 meldete der US-amerikanische Konstrukteur Hiram Maxim sein Patent an. Das Maschinengewehr wurde zum Sinnbild der Überlegenheit des Westens in den imperialen Eroberungskriegen während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein neues Gesicht der Epoche zeigte immer deutlicher seine Konturen  : der industrialisierte Krieg.

Zeit, Raum und ‚militärische Moderne‘ Wo ist die „Sattelzeit“, der Übergang zwischen Früher Neuzeit und Moderne, im militärischen Sinn zu finden  ? Für die politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen setzte Reinhart Koselleck diese Epochenschwelle von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts an. Die militärische Wendezeit entfaltete ihre Transformationskräfte im Wesentlichen zwischen etwa 1850 und 1950 – also zeitlich um 557

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 557

22.09.2010 07:50:54

Verkehrsrevolutionen Krieg und Militär

rund hundert Jahre verschoben. Generell liefen – wie auch am Beispiel Krieg und Militär sichtbar wird – Entwicklungsphasen der ‚ersten modernen Welt‘ nicht synchron, sondern in zeit- und raumverschobenen Wellen  : Westeuropa und die USA schritten voran, die anderen versuchten, sich beim militärischen Know-how nicht abhängen zu lassen und in der Rüstung gleichzuziehen. Faktisch bestimmte eine Dynamik des Ungleichgewichts, eine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, das gesamte 19. und 20. Jahrhundert. Die „Moderne“ beschränkt sich jetzt nicht mehr auf das Aktuelle und Gegenwärtige allein, sondern lässt eine globalgeschichtliche Bifurkation – eine Gabelung der Entwicklung mit der Folge einer „großen Divergenz“ – erkennen.2 Dass viele Wege der Modernisierung3 beschritten wurden, kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass für Generationen der Westen zum Modell dieser Entwicklung wurde  : Die erfolgreiche Industrialisierung bescherte ihm das Prestige, Erster einer ‚industrialisierten Welt‘ zu sein. Die Genese der ‚militärischen Moderne‘ muss in diesem Zusammenhang mit der Geschichte einer rund 100 bis 150 Jahre langen Dominanz des euroamerikanischen Raumes und seines Industrialisierungsvorsprunges in Beziehung gesetzt werden  : dem ‚kurzen Jahrhundert des Imperialismus‘ als globalhistorische Epoche. Von den 1870er- bis zu den 1960er-Jahren wurde die Welt in bis heute fortdauernden Zentrums- und Peripherie-Verhältnisse geteilt und der Westen – auch dank überlegener militärischer Schlagkraft – zum Motor und zur Drehscheibe dieser Entwicklung.4 Beginn und Ende dieser Ära militärischer Überlegenheit festzulegen fällt weniger schwer, als die Gründe für die augenfällige Phasenverschiebung zu bestimmen. Bei der Analyse der Entwicklungsgeschichte moderner Kriegsführung müssen zwei miteinander zusammenhängende Faktoren in Betracht gezogen werden  : Technik als Machtpotenzial und Gesellschaft als politische Ordnung. Zeigten politische Reformen oder Umstürze – wie die Französische Revolution – häufig auch Auswirkung auf die militärische Organisation und spielten einzelne Reforminitiativen lange die führende Rolle, trat ab 1850 an deren Stelle die Technik und nahm den Platz des eigentlichen Schrittmachers ein. Der Wettlauf zwischen Technik und Taktik wurde zum Geburtshelfer der militärischen Moderne und schied die Räume in haves und have-nots. In dieser kurzen, aber stürmischen Periode ließ der Westen den ‚Rest der Welt‘ deutlich hinter sich. Effizienter Technikeinsatz war der große Trumpf in globalen Herrschaftsfragen. Westliche Armeen, Militärtechnik und Organisation stiegen in einem ersten Zeitalter der Militärberater und Rüstungsexporte zum weltweit kopierten Vorbild auf. Nachhaltigkeit und Selbstständigkeit zu erreichen gelang aber nur in jenen Regionen, wo Nachrüstung mit Industrialisierung und Staatlichkeit einherging  ; sonst blieben die oft mit hohem Ressourceneinsatz betriebenen „defensiven Modernisierungen“5 nicht von langer Dauer. So wurden Er558

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 558

22.09.2010 07:50:54

Krieg und Militär

folg, Miss- und Teilerfolg von Militärreformen zum Lackmustest für strong, weak und failing states in der modernen Welt.

Zeiten der Divergenz Die Logik der Technik

„Technisch hatten nur diejenigen eine Chance auf Selbstständigkeit, die gleich zu Anfang einer Entwicklung dabei waren.“6 Alle großen Neuerungen in der Waffentechnik im 19. und 20. Jahrhundert waren zivile Entwicklungen, die für militärische Zwecke adaptiert wurden und dadurch die Art und Weise der Kriegführung veränderten. Vor seiner Zeit als Waffentechniker ist, um das einführende Beispiel zu beschließen, Hiram Maxim in Fachkreisen durch Verbesserungen in der Leuchtgaserzeugung und an Bogenlampen bekannt geworden – bis ihm ein Bekannter auf einer Ausstellung in Wien riet  : „Hängen Sie Ihre Chemie und Elektrizität an den Nagel. Wenn Sie einen Haufen Geld machen wollen, erfinden Sie etwas, das es den Europäern möglich macht, sich leichter gegenseitig umzubringen.“7 Als Zivilingenieur nutzte Maxim seine langjährige Erfahrung mit der kapitalistischen Produktionsweise nun zur Entwicklung eines Maschinengewehres – die konkurrierenden Bausysteme und Vorläufermodelle immer im Blick. Ab 1850 verdichteten sich nicht nur die technischen Innovationszyklen merklich, sondern erhöhten sich auch die Chancen auf Techniktransfers. Besonders zwischen militärischem und zivilem Sektor wurden stille Anwenderreserven mobilisiert. „Die Aufgabe des Technikers besteht in diesem alternativen Fall nicht in der Schöpfung neuer Mittel, sondern in der neuartigen Ausschöpfung von schon bereitgestellten Instrumenten. Der Techniker hat hier nichts Neues zu erfinden, sondern im Alten neue Anwendungen aufzufinden.“8 Dank technischen Fortschritts und der rasanten Entwicklung der Wissenschaften konnten nun oft schon jahrhundertealte Konzepte der Konstrukteure erstmals verwirklicht, in Serie produziert und zur Grundausstattung ganzer Heere gereift werden. Die Vielzahl der Entwicklungen wiederum drängte – aus produktionstechnischen Gründen – zu Standardisierungen, zu Einheitstypen für die Erzeugung großer Stückzahlen. Überspitzt könnte man sagen, dass der Mensch nun für die Waffensysteme optimiert wurde. Damit ging eine lange Ära „napoleonischer Standards“ – von Prinz Eugen und Marlborough bis Radetzky und Moltke seien die Feldherren und ihre Soldaten sowohl mit dem Kriegsgerät als auch der Art der Kriegsdurchführung vertraut gewesen – zu Ende. Dass diese alten Standards innerhalb von ein, zwei Generationen dauernden Rüstungszyklen durch technische Neuerungen mit immer kürzeren Halbwertzeiten revolutioniert werden 559

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 559

22.09.2010 07:50:54

Verkehrsrevolutionen Krieg und Militär

konnten, lag wesentlich in der Organisation des Kriegswesens im Ancien Régime begründet  : Ohne starken Staat war kein Krieg mehr zu gewinnen, und das Militär war zu einem Schwungrad seiner Entwicklung geworden. Von der zentralen Administrierung zur technischen Beschleunigung von Massenheeren

Im Betrachtungszeitraum wandelte sich Krieg vom „Auftragsgeschäft der Staatsgewalt“9, der von Privaten – den Kriegsunternehmern – durchgeführt wurde, zum Staatsmonopol. Das in der Frühmoderne übliche outsourcing dieser Schlüsselkompetenz hatte amtlichen Charakter. Es blieb so lange unumgänglich, bis die zentralen Staatsapparate genügend administrative Kapazitäten entwickelt hatten, um ihre Kriegshoheit nicht nur als theoretisches Monopol, sondern auch praktisch zu organisieren. Der Staat zentralisierte Ausbildung und Bewaffnung seiner Soldaten und zog dadurch Loyalität und Gehorsamspflicht stärker an sich. Symbolisch gipfelte die Entwicklung zum Nationalstaat im Treueeid der Soldaten auf das staatliche Sinnbild und Massensymbol  : die Fahne. Seit der Schaffung zentraler, stehender Heere in Europa nach dem Dreißigjährigen Krieg zielte die militärische Logik aus praktischen wie theoretischen Erwägungen verstärkt auf Standardisierung und Uniformierung. Dies diente einerseits dazu, die Truppen im Gefecht zu koordinieren  ; andererseits musste deren Kontrolle in Friedenszeiten gewährleistet sein. Drill diente der Verinnerlichung von Gehorsam wie der Einübung militärischer Manöver  ; die Vereinheitlichung der Waffensysteme ermöglichte deren Handhabung und Austauschbarkeit im Gefecht. Solche standardisierte Einheiten machen Kriege leichter planbar und in Friedenszeiten besser administrierbar. Die Aneignung des Militärs durch die absolutistischen Fürstenstaaten „erzeugte notwendigerweise bis zu einem gewissen Grad auch eine Militarisierung des Staates“10. Dabei ging es um ein neues Grundgerüst staatlicher Organisation, das auf den Säulen Steuerhoheit, Machtmonopol und Massenheer ruhte. Auf diese Weise trieb der westliche Staat seine Machtvollkommenheit im „langen 19. Jahrhundert“ in großen Schritten voran – einer Epoche, in der Landvermessungen („Kataster“) und Bevölkerungsverzeichnisse („Seelenkonskriptionen“) die Basis einer staatlichen Zentralgewalt schufen. Die Umwandlung des Machtapparats vom „militär-fiskalischen Staat“ zum modernen, flächenausgreifenden Nationalstaat war voll im Gang.11 Diesen Entwicklungssprung hatten die Mogulnherrschaft in Indien, alle afrikanischen Reichsgebilde, die arabisch-islamische Welt oder das chinesische Weltreich unter den Mandschus nicht oder nur teilweise vollzogen – eine Ursache für die „große Divergenz“. Im Zuge dieses „Durchstaatlichungs560

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 560

22.09.2010 07:50:55

Krieg und Militär

prozesses“12 wurde im späten 19. Jahrhundert die Kriegsführung als eine im Voraus geplante Operation zunehmend in die Hände neuer Planstellen, der Kriegsministerien und Generalstäbe, gelegt. Bürokratische Institutionen, welche die bisherigen Hofkriegsräte und Anlasskriegsplanungen der Feldherren ablösten, übernahmen die Führungsarbeit. Improvisierte Kriegsführung und Ad-hoc-Planung gehörten damit der Vergangenheit an. Solche administrativ-organisatorischen Vorleistungen wirkten auf das Produktions- und Beschaffungswesen zurück. Vorläufer sind auch hier auszumachen  : Lange vor der Etablierung des sogenannten „militär-industriellen Komplexes“ bot etwa das Arsenal der Seerepublik Venedig ein frühes Beispiel fabriksähnlicher Serienproduktion nach Modellstandards  ; und das Wiener Arsenal – erbaut 1849 bis 1856 als militär-industrieller Betrieb inklusive Kaserne, waffentechnischer Versuchsanstalt und Heeresmuseum – zählte zu den größten Industriekomplexen der Habsburgermonarchie. Die sich industrialisierende Staatenwelt schloss an diese Entwicklung an  ; ihre Staatsverwaltungen richteten in Abstimmung mit der Privatindustrie und Heereslieferanten ein zentrales Beschaffungswesen ein oder produzierten militärische Güter weiterhin in Eigenregie. Von Land zu Land verschieden, arbeiteten solche Mischsysteme forthin im Rahmen nationaler Kriegsbudgets. Seitdem militärische Ausgaben als Investitionsgüter für nationale Sicherheit und außenpolitische Schlagkraft betrachtet wurden, stieg auch der Innovationsdruck und führte zu ersten Rüstungswettläufen. So etwa forderte das ehrgeizige Flottenbauprogramm der deutschen Kriegsmarine vor dem Ersten Weltkrieg die Vormachtstellung Großbritanniens auf den Weltmeeren heraus. Neben dem technischen Fortschritt und seiner Ressourcenbündelung waren das Tempo der Entwicklung und die Kalkulation in Massen weitere Kennzeichen der Neuordnung. Diese Verschiebung wurde auch in der industriellen Produktion sichtbar  : Die schwer- und metallverarbeitende Industrie, in der die Rüstungsindustrie – auch dank ihrer Lobby – eine wichtige Rolle spielte, löste die Textilindustrie als Leitsektor ab. Während die Bedarfsdeckung an Nahrung und Kleidung für weite Teile der Bevölkerung im 19. Jahrhundert noch keineswegs gewährleistet war, schien die Ausstattung der Massenheere mit Kriegsmitteln im Bedarfsfall gesichert. Spätestens 1900 waren die Marine- und Landstreitkräfte in Europa, Nordamerika und Japan im Dampf- und Motorenzeitalter angekommen  ; gleichzeitig waren sie einander in Erscheinungsbild, Bewaffnung und taktischer Ausrichtung immer ähnlicher geworden.

561

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 561

22.09.2010 07:50:55

Verkehrsrevolutionen Krieg und Militär

Zu Land, zur See und in der Luft

Kriege wurden zu Land und zur See, nach der Jahrhundertwende auch in der Luft geführt.13 Entschieden wurden Kriege aber weiterhin zu Lande. Vom letzten Drittel des 17. bis in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts diente das Steinschlossgewehr als Standardwaffe der Infanterie. Technisch führten in den 1880er-Jahren drei Neuerungen „zu einer sprunghaften Wirkungssteigerung der Infanteriegewehre“  : die Einführung des rauchschwachen Pulvers, die Kaliberverkleinerung und die Einführung des Kastenmagazins.14 Vor der Einführung der Hinterladergewehre mit Patronen seit den 1840er-Jahren mussten noch alle Komponenten – Pulver, Kugel, Zündhütchen – in zeitaufwendigen Ladeoperationen zusammengeführt und schussfertig gemacht, die dazu notwendigen Handhabungsgriffe im Stehen und gruppenweise eingedrillt werden. Andernfalls wäre kein wirkungsvolles Schießen in Gefechtsformation zustande gekommen. Bei zumutbarem Rückstoß und nach der Umstellung auf leichtere Stahlmantelgeschosse wurde die Flugbahn flacher, und der Schütze konnte sein Ziel ständig in Auge behalten. Unter diesen Voraussetzungen konnte der Einzelne effektiver und unabhängiger agieren, selbst wenn er durch das Gelände kriechen musste und die Tuchfühlung mit seiner Gruppe verloren gegangen war. Diese Flexibilität erforderte neue taktische Leit- und Führungssysteme in der Gruppe wie im Großverband. Das Ergebnis war ein neuer Typus von Soldaten, der außerhalb fest gefügter Formationen im „Männerballett“ des Liniensoldaten als „innengeleiteter Soldat“ in lockerer, aufgelöster Gefechtstaktik kämpfen konnte.15 Im Klima permanenter Kriegsvorbereitung wurden neue militärische Ausbildungsweisen und eine bislang nicht gekannte Mobilisierung an Mensch und Material erforderlich. Die meisten modernen Staaten verankerten bis Ende des 19. Jahrhunderts die allgemeine Wehrpflicht  ; diese löste die Konskription von wenigen, sozial diskriminierten männlichen „Landeskindern“ zum lebenslänglichen Militärdienst ab. Gleichzeitig erhielten junge Männer, die vor dem „Mannesalter“ für Gott, Ideologie und Vaterland zur Grundausbildung in die Kasernen einrückten, zentrale Orte der militärischen Ausbildung. Kurz, das Militär wurde zur „Schule der Nation“.16 Bürgerpflichten und -rechte waren mit dem Wehrdienst als geheiligter Pflicht an der nationalen Sache verknüpft. Von einem Widerspruch zwischen Militär und gesellschaftlicher Entwicklung kann nicht die Rede sein. Zudem galt Krieg – nicht Frieden – als gesellschaftlicher Normalzustand im Kampf der ‚zivilisierten‘ Völker um den „Platz an der Sonne“ sowie gegen die ‚unzivilisierten‘. Kriege zu gewinnen oder zu verlieren galt als Ausdruck der Vitalität einer Staatsnation und seines Volkes. Kriege erscheinen als ‚Spiele‘, in denen Gruppen, geleitet durch die Aussicht auf Belohnung, in komplexer Weise interagieren, um ihre unter562

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 562

22.09.2010 07:50:55

Krieg und Militär

schiedlichen Ziele und Interessen durchzusetzen.17 Der ständigen, bestmöglichen Vorbereitung auf dieses ‚Spiel‘ wurde deshalb höchste Priorität eingeräumt. Bei der Artillerie, der neben der Infanterie zweiten ausschlaggebenden Waffengattung im Bodenkrieg, wurden ähnliche technisch-taktische Rückkoppelungen wirksam  : Die bessere Treibwirkung des Pulvers führte zur Erhöhung der Anfangsgeschwindigkeit. Folglich vergrößerten sich die bestrichenen Räume und steigerte sich die Feuergeschwindigkeit, da nicht mehr zugewartet werden musste, bis der verhüllende Rauch abgezogen war. Durch hydraulische Rückstoß- und Vorholvorrichtungen rollten die Geschütze auch nicht mehr aus der Abschussstellung, was die Ladevorgänge beschleunigte. Wie die Infanterie hatte sich die Artillerie zur Schnellfeuermaschinerie entwickelt.18 Alte Grundregeln im Langsamfeuerzeitalter mit geringer Einsatzschussweite, die besagten, dass dicht geschlossene Schützenlinien den effektivsten Feuereinsatz garantieren, galten nicht mehr. Gegen Linien mit solch neuwertiger Bewaffnung nach „napoleonischen Standards“ vorzugehen musste angesichts der gesteigerten Feuerleistung und der Überlegenheit in der Defensive mit Selbstmord gleichgesetzt werden. Der Kampfstil der „Plänkler“, die vor und zwischen den Linien als unabhängige Schützen in aufgelöster Formation feuerten, war bekannt, konnte aber nicht so ohne Weiteres auf die gesamte Infanterie übertragen werden. Dagegen standen noch die traditionellen Grundregeln, die auf Sichtbarkeit beruhten. Befehlen, soll Napoleon im Kreise seiner Generäle bemerkt haben, heiße, zu den Augen zu sprechen. Um Truppen führen und unterscheiden zu können, glichen vormoderne Schlachtordnungen aus diesem Grund bunten Tableaus, die ihre Einheiten und Waffengattungen optisch übersichtlich aufgliederten. Laut Frank Becker entfaltete das alteuropäische Kriegswesen in der Schlacht von Königgrätz 1866 „(…) zum letzten Mal seine Pracht, ehe die Veränderung in Kriegführung und Taktik die Truppen bis zur Jahrhundertwende in einheitlich uniformierte und damit eintönige Massen verwandeln sollten.“19 Angesichts der neuen Feuerkraft ließen sich viele Militärs vom zeitgenössischen „Tempo-Virus“20 anstecken und schlugen vor, den Raum zwischen den gegnerischen Linien schneller zu überwinden, das mörderische Feuer zu durchtauchen. Trotz aller Vorboten im Amerikanischen Bürgerkrieg, Deutsch-Französischen Krieg, den Balkankriegen, den Buren- und anderen Kolonial- und Kolonialisierungskriegen erzwangen erst die Erfahrungen der ersten Jahre des „Großen Krieges“ von 1914 bis 1918 ein grundsätzliches Umdenken. Die taktische Antwort waren „Schützenschwärme“, die sich im Gelände, entlang der Konturen gleitend, zu bewegen begannen  ; strategisch führte das in großem Stil zur Front. Die Entstehung der Front als Element der Raumordnung des modernen Krieges – und ihr Verschwinden in der Gegenwart – erscheint als Leitmotiv der Entwicklung. 563

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 563

22.09.2010 07:50:55

Verkehrsrevolutionen Krieg und Militär

Die Front als Sinnbild der Moderne

Vielleicht auf den ersten Blick überraschend, doch sind Schlachten im Allgemeinen und Entscheidungsschlachten im Besonderen rare Ereignisse der Kriegsgeschichte.21 Bedeutsamer waren stets Belagerung, Manöver, die militärische Besatzung oder schlicht die Fähigkeit, Streitkräfte überhaupt aufstellen und im Feld halten zu können – kurz, Beharrlichkeit, Elastizität und die Regenerationsfähigkeit der Kräfte. Schlachten, gemeinhin als Höhepunkt kriegerischer Auseinandersetzung, standen in der Kriegsgeschichtsschreibung als „Kriegsdurchführungslehre“22 lange im Mittelpunkt. Doch längst betrachten Militärhistoriker das Militär als gesellschaftlichen Faktor  ; das Gefecht und seine Logik sind dabei ins Hintertreffen, fast schon zum blinden Fleck der akademischen Zunft geraten. Dieser Blickwechsel erfolgte wohl auch deshalb, da die Schlacht nur zwei ‚überzeitliche‘ taktische Grundzüge kennt  : entweder die feindlichen Streitkräfte zu überflügeln und von den Flanken aufzurollen oder die gegnerischen Linien zu durchstoßen und aufzulösen. Nur die operativen und technischen Mittel, diese Ziele zu erreichen, haben sich im Lauf der Zeit verändert. So etwa folgten im Zeitalter des Schießpulvers dem vorbereitenden Artilleriefeuer Durchbruchversuche mit Infanterieeinheiten auf sturmreif geschossene Linien  ; Napoleon führte dieses Muster zur Meisterschaft.23 Häufig wurden dazu Frontalangriffe mit stur auf die Mitte marschierenden Angriffskolonnen befohlen. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert spielte sich dieses Geschehen ausschließlich in Gefechtsräumen „optischer und akustischer Präsenz“ ab.24 Die Möglichkeiten von command and control für die Befehlshabenden waren auf das eigene Hörvermögen und das unmittelbare Gesichtsfeld beschränkt. John Keegan, prominenter Vertreter der new battle history, fügt seinem Buch eine dafür aufschlussreiche Skizze bei  :25 In den 400 Jahren zwischen den Schlachten von Azincourt (1415) und Waterloo (1815) erweiterte sich der kontrollierbare Gefechtsraum von rund zwei bis drei Kilometern auf die vormoderne Obergrenze von acht bis zehn Kilometern im Quadrat. Dann der Quantensprung  : 1916, nur hundert Jahre später, hatte sich im Ersten Weltkrieg zwischen den Deutschen und Briten an der Somme eine Front von etwa vierzig Kilometern Länge eingegraben – rechnet man die Hauptkampflinie mit den anschließenden französischen Frontabschnitten mit ein. Das Blutbad an der Somme war aber nur ein Abschnitt eines Krieges, der sich zwischen Fronten von Hunderten und Tausenden Kilometern Länge abspielte. Eine solche Front bestand aus zwei Seiten unterschiedlicher Realitäten  : Als Kampffront ist sie die eigentliche Gefechtszone, als „Heimatfront“ das Hinterland, von dem die Truppen aus der Etappe versorgt wurden. Auf der gegnerischen Seite wiederholt sich 564

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 564

22.09.2010 07:50:55

Krieg und Militär

der Aufbau in entgegengesetzter Richtung. Im Laufe des späten 19. Jahrhunderts dehnte sich dieses letale Vis-à-vis progressiv aus. Die anfänglichen Steigerungen lassen sich am Amerikanischen Bürgerkrieg beobachten  : Beim Kampf um Fort Donelson (1862) erstreckte sich der Gefechtsstreifen zuerst über dreieinhalb, bei Shiloh schon über etwa acht, bei der Schlacht von Chattanooga (1864) über rund 13 und bei weiteren Feldzügen zwischen 1864 und 1865 bereits über 19 Kilometer. „Diese Ausweitungen kennzeichneten einen unumkehrbaren Trend. Während Armeen wuchsen und sämtlich Männer einer Nation einbezogen, erstreckten sich Fronten bald an Landesgrenzen entlang, was es den Generalen unmöglich machte, den Verlauf der Ereignisse persönlich zu verfolgen. Sie mussten sich zumeist in zentralen Hauptquartieren aufhalten, sodass sie die Frage, wo ein Befehlshaber seinen Platz haben solle, nur mit ‚Niemals an der Spitze‘ beantworten konnte. Aber zwischen 1861 und 1865 konnte ein General, sofern er es wollte, immer noch an der Schlachtlinie seiner Armee entlangreiten.“26 1916 war das nicht mehr möglich. Der Amerikanische Bürgerkrieg gilt in vielerlei Hinsicht als Übergang zum „totalen Krieg“. Machten es die Umstände erforderlich, gruben sich die Soldaten der Union oder der Konföderation ein und errichteten Feldbefestigungen. Die Weiterentwicklung der Waffentechnik, von Eisenbahn und Telegrafie – den großen Raumüberwindern – verstärkten diese Trends. Einzelne, aus den Seh- und Hörweiten geratene Teilstrecken konnten so organisatorisch verbunden und aus einer rückwärtigen Stellung kommandiert werden. Die alte Einheit von Raum, Zeit und Handlung, die für das neuzeitliche theatrum europaeum noch galt, ging verlustig. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden die vorhandenen Potenziale in Europa aber nicht ausgereizt. Denn Krieg galt im Gleichgewichtsspiel der europäischen Mächte – ganz im Sinne von Clausewitz – als kurzfristige Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Dadurch beschränkten sich die Feldzüge noch auf Korridore, in denen sich gegnerische Armeen aufeinander zu bewegten, was meist in einer Schlacht oder Belagerung endete. Erst die Möglichkeit, Kriege ohne Unterbrechung immer länger führen zu können, änderte das Bild. Das setzte auf beiden Seiten ähnliche Infrastrukturen voraus. Nun erst konnten taktische Grenzflächen entstehen, deren Raum immer breiter und tiefer wurde, und sich zu Trennungslinien von strategischer Größe entfalten  : „Eine verfehlte Umfassung jagte die andere, so lange, bis die Fronten eine Ausdehnung erreichten, die keine Flügel mehr kannte, sondern auf Karten nur mehr als durchgehende Linie erkennbar war. Mit der entsprechenden Massierung von Streitkräften, die aufgrund des zunächst unerschöpflich scheinenden Menschenreservoirs geschaffen werden konnte, mit Drahtverhauen, Feldbefestigungen und Maschinengewehren erwiesen sich die Fronten als stabil und kaum verwundbar.“27 565

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 565

22.09.2010 07:50:55

Verkehrsrevolutionen Krieg und Militär

Im Zweiten Weltkrieg kamen der Ausbau der Luftkriegführung und der U-BootKrieg hinzu. Diese Waffengattungen kamen sowohl an der Kampf- als auch an der Heimatfront, aber mit unterschiedlichen taktischen Zielen, zum Einsatz. Um den Krieg gegen die regulären Streitkräfte an der Kampffront gewinnen zu können, wurden mit gezielten Luftbombardements auf Städte und Industrieanlagen Zivilisten und zivile Infrastruktur zum Kriegsziel gemacht  : Moral bombing sollte die Kriegsbereitschaft, Zerstörungsbombardements die Produktion brechen.28 Die Versorgungslinien zur See waren das eigentliche Ziel für die Unterseeboote, die – wie bei einer weit aufgefächerten Belagerung – zu kappen versucht wurde. Im uneingeschränkten U-Boot-Krieg galt dann kein Unterschied mehr zwischen Kriegsschiffen, Handelsmarine und Passagierdampfern.29 Die Entwicklung von Atombombe und interkontinentalen Trägerraketen trieb die Intensität der Vernichtungswaffen schließlich auf die Spitze  ; gleichzeitig wurden die Optionen ihres Einsatzes aber auf ein Entweder-oder reduziert. Das MAD (Mutual Assured Destruction) der Supermächte gestattet aber selbst im Schatten des weltweiten Atompatts intensive Kriegsführung jenseits der von Ost und West als vital eingeschätzten geopolitischen Interessenlinien. Wie die Kriege in Vietnam, im Nahen Osten und die, je nach Zählweise, Hunderten anderen Militärkonflikte nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen, konnte der Kalte Krieg der gegenseitigen Abschreckung den ‚heißen Krieg‘ nicht verhindern. Mit Ende des Kalten Kriegs ging dieses „Gleichgewicht des Schreckens“ verloren, und neue militärische Konfliktformen entstanden – oder alte kamen zurück.30

Räume der Divergenz Ziehen wird zur Klärung der Entstehung der Divergenz nach der zeitlichen nun stärker die räumliche Ebene in Betracht. Am Höhepunkt des imperialistischen Zeitalters übten euro-amerikanische Mächte über rund drei Viertel der Erdoberfläche unterschiedliche Formen und Ausprägungen von Kontrolle aus. Die Ansicht, dass diese Gebietszuwächse allein auf militärischer Überlegenheit gründeten, wird von Jeremy Black verworfen  : „The particular characteristics of European strength on a world scale were not so much the use of gunpowder weaponry as the ‚organisational cohesion and staying power of their state and corporate organizations‘, and the ability to deploy, entrench and maintain power in distant continents  ; a function of naval dominance and of the resources and priorities that entailed. Initially, this meant the Iberian powers, Portugal and Spain, but, from the late seventeenth century, it was increasingly true also of the clash between Britain and France.“31 566

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 566

22.09.2010 07:50:55

Krieg und Militär

Gründe für den Aufstieg des Westens in der Neuzeit wurden in der Debatte über den rise of the West zunächst auch im Militärischen gesucht. Zwischenzeitlich ist die militärische Überlegenheit als Konsequenz einer military revolution in der Frühen Neuzeit relativiert worden.32 Vom militärischen Blickwinkel aus gesehen, vollzog sich die erste Expansion des Westens in der Frühen Neuzeit als komplexer Prozess von Anpassung, Angleichung und Kompromissen gegenüber alternativen Bewaffnungen, regional bewährten Kampfverfahren oder sonstiger militärisch nutzbarer Hardware. Gerade in der kriegerischen Auseinandersetzung mussten sich die Europäer lange selbst den vorgefundenen Gegebenheiten in Übersee anpassen. Erst in der zweiten, globalen Kolonialisierungswelle im Zeitalter des Imperialismus stand ihnen eine in jeder Hinsicht überlegene Waffentechnik exklusiv zur Verfügung. Nordamerika

Die Projektionsfähigkeit atlantischer Seemächte ermöglichte die schrittweise Europäisierung Nord-, Mittel- und Südamerikas. Zahlreiche indigene Völker der Neuen Welt wurden ohne kriegerische Einwirkungen allein durch Seuchenzüge entscheidend geschwächt, in manchen Regionen, wie in der Karibik, faktisch ausgelöscht. In anderen geografischen Breiten aber, wie in Nordamerika, drängten auf weiter Front Siedler-„Frontiers“ die Ureinwohner sukzessive in Rückzugsgebiete ab. Mehrere Wellen intensiver Kriegsführung und low-itensity conflicts lassen sich entlang dieser wandernden Grenze beobachten, die zumeist gleichzeitig auftraten. In solch frühen Konstellationen konnten sich Interessen Einheimischer der first nation mit denen der weißen Siedler noch die Waage halten. Als etwa im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) Frankreich und England mit komplexen Allianzen gleichzeitig in Europa, zur See und in den Kolonien um die Vorherrschaft stritten, wurde in Amerika der ‚große Krieg‘ gegen Festungen und mit den Hauptstreitkräften in offener Feldschlacht, der ‚kleine Krieg‘ in Koalition mit indianischen Verbündeten ausgefochten – je nach politischer Lage und taktischer Situation. Der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg (1775–1783) brachte die erfolgreiche Sezession der 13 Kolonien vom englischen Mutterland und kann als erster Dekolonisationskrieg gelten. Im anbrechenden bürgerlichen Zeitalter waren auch für den Krieg in den Kolonien neue Spielregeln aufgestellt worden. Mochte eine hochprofessionelle Söldnerarmee, wie das britische Expeditionskorps, einen Sieg nach den anderen erringen, reichte eine Niederlage aus (Yorktown 1781), um den gesamten Krieg zu entscheiden  ; denn die ungeübten Siedlermilizen des rebellierenden Volksheeres verfügten über die Zeit, Kriegserfahrungen zu sammeln, und mit der französischen Flotte über einen starken Verbündeten auf ihrer Seite. 567

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 567

22.09.2010 07:50:55

Verkehrsrevolutionen Krieg und Militär

Schließlich bestand die „Kontinentalarmee“ auch in offenen Feldschlachten und Belagerungen. Nach der Kapitulation ihrer Hauptstreitkräfte verleideten die prohibitiven Kosten den Briten, den Kampf fortzusetzen.33 Nach der Unabhängigkeit änderte sich bei den nordamerikanischen Siedlern die Einstellung der first nation, den indianischen Ureinwohnern, gegenüber deutlich. Galten sie im Geiste der Aufklärung noch als „edle Wilde“, verstärkten die Begehrlichkeiten nach Land und Ressourcen ein zunehmend „rassen-rassistisches“34 Ressentiment der Weißen. Der andere war jetzt nur noch Feind und „Untermensch“, der ohne Weiteres enteignet und getötet werden durfte. Die US-Army – flankiert und forciert von Milizen – führte erste Vernichtungskriege. 1830 erließ der Kongress den Indian Removal Act, der festlegte, dass die „fünf zivilisierten Nationen“ (Cherokee, Chickasaw, Choctaq, Muskogee und Seminolen) aus ihren angestammten Ländern östlich des Mississippi nach Westen ins heutige Oklahoma umzusiedeln hatten. Weitere Zwangsumsiedelungen und Bevölkerungsdezimierungen, wie der „Pfad der Tränen“ der Cherokee im Winter 1838/39, der Tausenden schon auf dem Marsch das Leben kostete, folgten. Nach dem Bürgerkrieg (1861–1865) verschärft sich die Vertreibungspolitik zu einem Krieg ohne Fronten. „Indianerkriege“ wurden in Washington jetzt als Niederschlagung von Aufständen gewertet. Eine systematisch betriebene Sicherheitsverwahrung in Reservaten löste die Abschiebung ins Niemandsland ab. Die Idee, unruhige Bevölkerungsteile im Zuge von Pazifisierungsmaßnahmen gezielt umzusiedeln, ist zwar nicht neu  ; in Nordamerika wurde den Ureinwohnern aber nicht nur das Land geraubt, sondern die politische Handlungsfähigkeit überhaupt, weil die Umsiedlungsaktionen Allianzen erschwerten. Diese Maßnahmen zielten auf die Brechung der Widerstandskraft, die Abtrennung der Sympathisanten von den bewaffneten Aufständischen und den Entzug der traditionellen Lebensgrundlage. Ein schleichender „Demozid“35 an den Ureinwohnern war die Folge. Für die „Rothäute“ war in dieser jungen, weißen, christlichen Nation offenbar kein Platz mehr vorgesehen.36 Als Merkmal des konventionellen Kriegs in modernen Zeiten gilt, dass er zum „uneingeschränkten Krieg“ wird – und dann grausamer gegen jene agiert, die nicht kämpfen, als gegenüber den Kämpfenden selbst –, wenn er lange dauert und militärisch nicht zu gewinnen ist oder immer wieder von Neuem geführt werden muss. Der Dreißigjährige Krieg etwa war in dieser Hinsicht kein „totaler Krieg“, wie ihn der nationalsozialistische Propagandaminister Joseph Goebbels in einer Brandrede von seinen Landsleuten forderte, sondern ein lange geführter Krieg mit fehlender zentraler Versorgung und schwacher Kontrolle dies- und jenseits der „Kriegskorridore“. Die Kriegführenden waren in diesen wandernden Kampfzonen auf sich allein gestellt, musste sich auch selbst aus dem Lande versorgen, das ausgeplündert 568

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 568

22.09.2010 07:50:55

Krieg und Militär

und durch Kriegskontributionen ausgepresst wurde  : bellum se ipse alet („Krieg ernährt den Krieg“). In der Moderne tritt an diese Stelle nun die gezielte Repression und Vorausplanung. Die systematische Schädigung ziviler Infrastruktur entwickelte sich zum alternativen und gleichrangigen Kriegsziel. Im Fall der Ureinwohner hieß das  : Abschlachtung der Bisons, Schädigung und Enteignung der Jagdgründe wie Deportationen, die gegen die Usancen des geltenden Kriegsrechts verstießen, aber für die „Wilden“ keine Geltung hatten.37 Lateinamerika und der frühe Fall seiner Imperien

Bald nach der Entdeckung Amerikas brachten spanische Desperados die zwei wichtigsten präkolumbianischen Imperien Süd- und Mittelamerikas zu Fall. Im Unterschied zum schwach besiedelten Norden stülpte sich mit der Einwanderung aus Europa eine privilegierte, sich teilweise mit indigenen Eliten mischende weiße Oberschicht über die ansässige Bevölkerung  : Lateinamerika wurde mehr mit Spaniern und Portugiesen durchmischt und kolonisiert, als erobert und neu besiedelt. Vor allem fand, bis auf Brasilien und die Karibik, kein vergleichbarer Bevölkerungsaustausch statt. In diesem Zusammenhang sind Unterwerfung und Unterdrückungsmaßnahmen gegen Aufstände und Rebellionen in den kolonialen Verwaltungsgebieten als Reaktion auf Zentralisierungsbestrebung der kolonialen Mutterländer mit den Religionskriegen oder anderen, in Europa zeitgleichen, regionalen „Unabhängigkeitserhaltungskriegen“ vergleichbar, auch mit ländlichen und städtischen Protestbewegungen, etwa den „Bauernkriegen“.38 Alteingesessene kreolische Schichten verstanden während der Krise des spanischen Mutterlandes in der napoleonischen Okkupationszeit die Gunst der Stunde zu nutzen, um die Unabhängigkeit auszurufen. Diese Dekolonisationskriege dauerten von 1810 bis 1826  ; im Zuge dessen vertiefte sich das regionale Selbstverständnis in den neu ausgerufenen Staaten rasch zu länderspezifischem Nationalbewusstsein. Weitere Staatsgründungskriege waren die Folge, bei denen es sich meist um rohstoff- und geostrategisch motivierte Grenzkorrekturen handelte – etwa im „Salpeterkrieg“ zwischen Chile, Peru und Bolivien (1874–1889) bis zum „Chaco-Krieg“ zwischen Bolivien und Paraguay (1932–1935). Nach der Unabhängigkeit Mexikos (1821) erklärte dessen Provinz Texas die Unabhängigkeit und schloss sich 1845, nachdem das Bevölkerungsgleichgewicht durch massiven Zuzug aus dem „weißen Norden“ verschoben worden war, den Vereinig­ ten Staaten an. Der Kampf um Alamo (1836) ist die wohl berühmteste Episode dieser Grenzkorrekturkriege, durch die Mexiko weite Gebiete an den wirtschaftlich stärkeren Nachbarn im Norden verlor. Die USA, längst zur Seemacht aufgestiegen, liquidierten dann in imperialistischer Manier letzte Reste des spanischen Kolonial569

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 569

22.09.2010 07:50:55

Verkehrsrevolutionen Krieg und Militär

imperiums im spanisch-amerikanischen Krieg (1898). Dieser splendid little war, wie er in den USA hieß, brachte Kuba, Puerto Rico, Guam und die Philippinen ein. Im Süden Chiles und Argentiniens entwickelte sich indes in einer tribalen Zone ein zäher Grenzkampf gegen die einheimische Bevölkerung Patagoniens – eine Situation, die in Brasilien (seit 1822 als Kaiserreich unabhängig) schon seit Generationen bestand  : Kleine Kommandoeinheiten (bandeirantes) drangen auf der Suche nach Gold, Edelsteinen und Sklaven entlang der Flussläufe ins Landesinnere vor und schoben dabei die fronteiras durch Scharmützel, Sklavenfang und Raubzüge immer weiter voran.39 In den Amerikas gingen meist kurze, intensive zwischenstaatliche Kriege mit langsamen, sickernden „kleinen Kriegen“ einher. China und Indien (als ein Fallbeispiel langer Dauer)

In den letzten 200 Jahren durchlief China einen langsamen Wandel, der durch innere wie äußere Ereignisse immer wieder beschleunigt wurde. Der Schock, den chinesische Intellektuelle und Beamte nach dem ersten anglochinesischen Opiumkrieg 1839–1842 erfuhren, bescherte dem Reich der Mitte von „weißen Seevölkern“ oktroyierte ungleiche Verträge und löste grundsätzliche Debatten um Reformen und Neuorientierung aus. Allein, die schiere Größe und über Jahrhunderte gewachsene Integrität Chinas verhinderten eine vollständige Kolonialisierung.40 Lediglich das in der zweiten Industrialisierungswelle zur imperialen Macht avancierte Japan besetzte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs die Mandschurei. Zugleich beschränkte sich die Präsenz der anderen Kolonialmächte auf Konzessionsgebiete und Handelsstützpunkte entlang der Küste, von denen Eisenbahnlinien als ­schmale Beherrschungskorridore ins Hinterland verlegt wurden. In diesem Zeitraum entbrannten in China fünf revolutionäre Bürgerkriege  : der Taiping-und-Nian-Aufstand (1850–1864)  ; die Abschaffung der Monarchie 1911  ; der chinesische Bürgerkrieg (zuerst als nationalistische Revolution in Einigkeit gegen die ausländischen Invasoren 1925–1928, dann als Kampf der nationalchinesischen Kuomintang unter Chiang Kai-shek gegen die Kommunisten und Maos „Langer Marsch“)  ; schließlich die Kulturrevolution 1966–1977.41 Millionen Menschen gingen bei diesen Kriegen und Aufständen auf dem Rücken der Zivilbevölkerung zugrunde  : „In China the fifteen-year civil war form 1850 to 1864 was tremendously destructive to life and property. Some six hundred walled cities changed hands, often with massacres.“42 Im Zweiten Weltkrieg hatte China nach der Sowjetunion sogar die höchste Opferzahl zu beklagen. Die Massaker der Maoisten und der durch die „Reformen“ des „Großen Sprung vorwärts“ (1958–1962) mit verursachten Hungersnot bewegen sich in noch höheren Todeszahlen. 570

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 570

22.09.2010 07:50:55

Krieg und Militär

Auf dem indischen Subkontinent verlief die Geschichte gänzlich anders, was durch den engen Zusammenhang zwischen Rekrutierung, Interaktion und Militärmacht deutlich wird. Relativ spät, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, brachte der zunehmende Einsatz türkischer und afghanischer Musketeneinheiten einen sukzessiven Wandel des traditionellen Militärsystems im Hochland mit sich. Die indischen Potentaten folgten dabei – wie bei der Einführung verlässlicherer Steinschlossgewehren oder der Verwendung von Bajonetten – durchaus neuesten Trends. Sie warben – meist von verfeindeter Seite – auch Europäer an, die für die Einführung neuer Techniken oder zur Bereitstellung von Kanonen und anderen Kriegsdiensten gut bezahlt wurden. Allerdings war die East India Company (EIC)in diesem Machtspiel der Allianzen um die Nachfolge der Moguln schneller, vor allem aber effizienter. Zuerst waren die Briten nur petty ruler – von der Regionalmacht geduldete Selbstverwalter eines beschränkten Gebietes. An den Küstensäumen setzten sie sich – wie andere europäische Mächte – mit Seestützpunkten fest. In zunächst kleinen Herrschafts- und Einflussbereichen wurden indigene Eliten durch Europäer ausgetauscht oder in Klientelverhältnisse gebracht. Das Hochland der Marathen und die Flussebenen von Indus und Ganges – Kerngebiet der Mogulherrschaft – blieben davon noch ausgespart. Die Briten mussten insbesondere den Moguln gegenüber ausgesuchtes Wohlverhalten zeigen, bis Robert Clive, ein ehrgeiziger Mitarbeiter der Company, „wie ein typischer Konquistador auftrat“.43 Eine Strafaktion gegen den Nabob von Bengalen, dem bei Weitem reichsten Teilstaat des Mogulreiches, funktionierte Clive in einem va-banque-Spiel zu einem siegreichen Eroberungsfeldzug um. In Plassey (1757) besiegte er ein zahlenmäßig weit überlegenes indisches Heer traditionellen Zuschnitts mit einem anderen indischen Heer von „Verschwörern“ und Verbündeten, das mit europäischen Militärelementen durchsetzt worden war. Die EIC wurde dadurch zum Großgrundbesitzer und beschaffte sich mit der Gründung einer neuen „Militärkaste“, den sipahi,44 ein hauseigenes Mobilisierungsreservoir. In ihren Rekrutierungszentren in Patna, Buxar (Bihar) und Ghazipur in Bengalen wurden diese zwar militärisch ausgebildet, aber sonst in ihrem ländlichen Umfeld belassen. Eine neue Kastenidentität, geformt – ‚erfunden‘ – mittels Essensregeln, „neuen“ religiösen Autoritäten, sozialen Verhaltensregeln (Adoptionen usw.) und dem exklusiven Klientelverhältnis zu den Briten, vereinte Menschen unterschiedlichster, meist niederer Herkunft und bot diesen neue Aufstiegschancen. Weiters wurden sie in einer Art Militärkolonat wie „Wachhunde“ – „to keep a check on the power of autonomous chiefs“ – eingesetzt, was aber ihren taktischen Gebrauchswert erheblich reduzierte, denn diese miliz­ artigen Truppen konnten nur schwer für schnelle Einsätze in entfernten Gegen­ 571

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 571

22.09.2010 07:50:55

Verkehrsrevolutionen Krieg und Militär

den mobilisiert werden. Ab den 1820er-Jahren wurden diese trägen Militärgrenzereinheiten wieder abgeschafft.45 „In 1815 the Company experimented with yet another military tradition when it began to invent its own model of a Gurkha soldier in order to meet both the Nepali challenge and its own needs of policing the hills.“46 Die Gurkha rekrutierten sich aus Bergstämmen des südlichen Himalaja und vereinten die nepalesische Militärtradition der leichten Infanterie mit europäischer Waffentechnik. Daneben wurden die Sikhs – eine religiöse Minderheit und martial race – zu verlässlichen britischen Partnern. Mit diesen indigenen Assistenztruppen in petto konnten die Briten jetzt erstmals in Gebiete vordringen, die sich bisher der direkten Kontrolle durch die Zentralmacht erfolgreich entziehen hatten können. Den entscheidenden Durchbruch zum großen militärischen Aufmarsch ermöglichte aber erst die in großem Stil betriebene, massenweise Aushebung von „Indern“ – ein Sammelbegriff, der jetzt erst in Gebrauch kam –, die bezahlt, gedrillt und kaserniert wurden. Die sepoy-Regimenter der Briten sind Teil eines Kolonialphänomens, das Ferguson und Whitehead treffend als ethnic-soldiering bezeichnen.47 Kolonialmächte verwenden Einheimische für ihre Zwecke  ; das gab es zwar schon vorher, aber erstmals in Indien und später in Afrika wurden Einheimische massenhaft für ausschließlich europäische Ziele eingesetzt. In Nordamerika traf man unter den Indianern kaum auf Söldner  ; in Süd- und Mittelamerika wurden hingegen – wie in der vorimperialistischen Phase Afrikas48 – europäische und indigene Militärkapazitäten gleichrangig eingesetzt. Erst die Bajonette dieser Regimenter, erst diese Soldaten (nicht Krieger) machten die Briten von ‚Herren in Indien‘ zu ‚Herren über Indien‘. Davor mussten sie aber noch den gefährlichsten Gegner, die Marathen, in drei mühseligen Kriegen (1782, 1803–1805 und 1817–1819) überwältigen. „Indian rulers had been quick to adopt the military technology of Europe  ; but not till comparatively late did they adopt the tactics necessary.“49 Den Marathen fehlte zum Erfolg unter anderem die geschlossene Führung durch ein einheitlich trainiertes Offizierskorps. Auch konnten die Marathen nicht in disziplinierten Formationen kämpfen, was auch durch eine überlegene Artillerie nicht wettgemacht werden konnte. Diese Artillerie war der „englischen Zeit“, der gängigen Vorstellung von Einsatz und Verwendung, weit voraus  : „Instead of supporting the movements of the infantry, it became the pivot of the manoeuvre, the centre of attack or defence, with the battalion acting as its framework and support“50 – das war die neue „französische Schule“, die französische Söldner und Militärberater vermittelten. Arthur Wellesley, der spätere Herzog von Wellington, kämpfte sinngemäß schon hier gegen „Napoleon“, noch bevor er ihm persönlich gegenüberstand.51 Wellington lernte von seinen sepoy-Re572

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 572

22.09.2010 07:50:55

Krieg und Militär

gimentern, dass man sich vor schwerem Feuer im Felde wegducken konnte. Auch führten ihm indische Soldaten vor, wie durch Bajonettangriff und mit blanken Säbeln der Sieg in Schlachten zu erringen ist. Den Krieg gewannen die Briten infolge ihrer überlegenen Ressourcen, ihrer geschlossenen Offensivstrategie und der Bereitschaft, auch einen kostspieligen Abnutzungskrieg durchzustehen. Nach dem kräftezehrenden Zweiten Weltkrieg wurde das Ende des Raj, der britischen Herrschaft, weniger militärisch, sondern durch zivilen Ungehorsam erzwungen  ; mit aggressiver Friedfertigkeit und nationalem Verve wurde das Land boykottiert, das so lange durch eigene Volksgruppen im Dienst Fremder beherrscht worden war. Afrika – der koloniale Kontinent

Bis 1876 lag die Kontrolle von mehr als neunzig Prozent des afrikanischen Territoriums noch in den Händen Einheimischer. 1914 war dieser Teil kontinentaler Autonomie auf einen Freistaat in Liberia und auf das äthiopische Königreich zusammengeschmolzen. „Just as in Asia in the early modern era, European trading posts along the African coast were maintained and kept alive well into the nineteenth century by the benevolence or avarice of local potentates in good times, and in bad times by European sea-power.“52 Neben Goldstaub und Elfenbein bildeten Sklaven die gesuchte Handelsware – und für die Afrikaner Schusswaffen das bevorzugte Tauschgut dafür. Westafrika entwickelte sich so zu einem Absatzmarkt für europäische Waffenproduzenten. Die Vielzahl verwendeter Gewehrtypen und Kontrollmaßnahmen auf Händler- und Herstellerseite bezeugen, dass die Afrikaner sehr wohl wussten, welche Produktqualitäten gehandelt wurden. „The strong preference of the slave seller for guns indicates very strongly the connexion between firearms and the acquisition of slaves.“53 Um sich gegen die immer stärker werdenden „Sklavenjäger-Staaten“ verteidigen zu können, importierten nun auch non-slaving states (Joseph E. Inikori) Feuerwaffen. Diese Technologieimporte hatten für diese Teile Afrikas eine Neuorganisation der Kriegführung zur Konsequenz. Der europäische Bedarf an Sklaven erwies sich etwa für die ­Ashanti beim Ausbau ihres Imperiums als wichtiger Impuls. Bisher übliche Stammesfehden, die als ‚Nebenprodukt‘ auch Kriegsgefangene mit sich brachten, wandelten sich zu richtiggehenden ‚Sklavenfangkriegen‘ mit „involving tens of thousands of combatants moving considerable distances and campaining over months“.54 Das Königreich der Ashanti, deren Wohlstand vom Goldreichtum der Region und Sklavenhandel herrührte, folgte seit Beginn des 18. Jahrhunderts einem strategischen Drang nach Süden, ins heutige Ghana, um mit den Sklavenhändlern direkt verhandeln zu können. Nach dem Beschluss Londons, dort eine Kolonie zu er573

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 573

22.09.2010 07:50:55

Verkehrsrevolutionen Krieg und Militär

richten, mussten nach der Landung der Briten 1873 schon für die Nachschublinien ins Hinterland enorme logistische Anstrengungen unternommen wurden  ; so etwa wurden allein 237 Brücken gebaut.55 Die Ashanti leisteten lange erfolgreich Widerstand und implementierten den Heimvorteil optimal in ihre Kampftaktik. Koordiniert stießen dabei verschiedene warlords in einer Art hit-and-run-Taktik gegen die anrückenden Briten vor und brachten sie immer wieder stark in Bedrängnis. Ausschlaggebend für den britischen Sieg waren vor allem die gepressten einheimischen Träger der Briten, die Dampfschifftechnik, neue tropenmedizinische Pharmaka – chininhaltige Limonade als Antimalariamittel zählte bald zum britischen Lifestyle – und bessere Waffen. Auch die als Krieger berühmten Zulu im südlichen Afrika konnten ihren Machtbereich durch militärische Neuerungen ausdehnen. Ihre Reichsbildung, die Mfecane („Unterwerfung der Nachbarstämme“), beruhte auf den Militärreformen zweier Häuptlinge, die diesen vormals eher unbedeutenden Stamm unter den Nguni-Völkern legendär machen sollte. Shaka (1787–1828) und sein Vorgänger führten statt des traditionellen langen Wurfspeeres einen kürzeren Stoß-assegai ein. Eine taktische Folgemaßnahme war die Umstellung auf eine dichte Schlachtordnung – die „Büffelhörner“ der Zulu. Nicht mehr der lockere Agonalkampf, sondern der gezielte Vorstoß dicht aufgeschlossener Verbände wurde zur Doktrin. Das erforderte die Disziplinierung im Kampfverhalten, die durch besondere Regimentsordnungen, die impis, realisiert wurde. Aus verschiedenen Teilen des Reiches wurden dazu junge Männer in Altersregimentern zusammengezogen und kaserniert. Das Ergebnis war eine schlagkräftige Infanterietruppe  : Zulu-impis waren hochgradig mobil, nahmen Verpflegung während des Marsches zu sich und konnten auch durch schwieriges Gelände kaum aufgehalten werden. In Isandlwana (1879), dem „African Cannae“,56 gelang den Zulu dank ihrer überlegenen Disziplin und Mobilität auch ohne Schusswaffen ein spektakulärer Sieg über die modern ausgerüstete britische Armee. Auch in Äthiopien lässt sich eine nationale Selbststärkung durch militärische Modernisierung, initiiert von Tewodros II. (1855–1868), feststellen, die diesmal europäische Technik und Expertise mit traditionellen Elementen der Kriegführung – Überraschungsangriff, Hinterhalt, kleiner Krieg – erfolgreich verband. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ging den Afrikanern zunehmend der Spielraum verloren. Die europäischen Imperialisten hatten den längeren Atem und entschieden „lang auszuhaltende Kriege“ (Mao) durch logistische Überlegenheit für sich. Mehr Soldaten, modernere Ausrüstung und die Ausnutzung innerafrikanischer Streitigkeiten beförderten die Kolonialisierung des Kontinents nach Art des „Tortenschneidens“ von Kap zu Kap. Ähnliche Entwicklungen kennzeichneten Ozeanien, bei den Maori-Kriegen (1845–1872) um Neuseelands Siedlungsland57 574

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 574

22.09.2010 07:50:55

Krieg und Militär

und Südostasien, wo der riesige Inselarchipel Niederländisch Ostindiens während des 19. Jahrhunderts lediglich von einigen Tausend Truppenangehörigen kontrolliert wurde.58

Die Schließung der Divergenz Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts alternative Militärtraditionen außerhalb westlicher Entwicklung konkurrenzfähig und für die Adaption fortschrittlicher Techniken offen blieben. Doch seit der Jahrhundertmitte ist eine Konvergenz der militärischen Standards nach westlichem Vorbild zu beobachten, am deutlichsten in den Staaten der industrialisierten Zone. Schon seit der Frühen Neuzeit, im Zeitalter des großen Kanonenschiffs unter Segel, spielte die technische wie taktische Überlegenheit europäischer Seestreitkräfte in der Genese der Kolonialreiche eine Rolle  ; doch endete dieser Vorteil meist schon an der Küstenlinie. Die Spreu vom Weizen wurde durch Modernisierungsanstrengungen getrennt – wie etwa in Japan  : Nachdem die amerikanische Marine 1853 in der Bucht von Tokio mit einem Flottendefilee ihre Macht demonstriert hatte, wurde der damaligen Führung eindrücklich vor Augen geführt, dass sie die Sicherheit ihres Landes nicht mehr durch Abschließung gewährleisten konnte. Dem fernöstlichen Kaiserreich gelang ein bemerkenswerter Reformspurt, eine „defensive Modernisierung“, der es in die Liga der Industrienationen hob. Ein Nachzügler der industriellen Entwicklung, das russische Zarenreich, welches nach der Niederlage im Krimkrieg (1853–1856) selbst politische Reformmaßnahmen und wirtschaftliche Aufholprozesse durchlaufen hatte, konnte sogar überflügelt und in der Seeschlacht von Tschuschima (1905) besiegt werden.59 Siam, das heutige Thailand, modernisierte sich.60 Auch das Osmanische Reich durchlebte, wie in der Reformära der Tanzimat (1839–1876), während der Jungtürkenbewegung und des Kemalismus, wiederholt Modernisierungswellen, bei denen militärreformatorische Zwecke zentrale Anliegen waren.61 Im Ägypten der Walis und Khediven wurde ebenfalls versucht, mit militärischen und wirtschaftlichen Reformen von oben den Anschluss an den Westen nicht zu verlieren – ein Rückstand, der nach der Besetzung des Landes durch Napoleons Truppen nicht mehr zu übersehen war.62 Eine Auflistung der Länderbeispiele, die Modernisierungsanstrengungen unternahmen, ließe sich, mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen, weiter fortführen. Doch konnten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts solche Lücken nicht mehr allein durch den Zukauf von Kriegsmaterial oder Expertenwissen gefüllt werden – so gründlich hatten sich die Voraussetzungen geändert. Ohne zentralstaatliches 575

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 575

22.09.2010 07:50:55

Verkehrsrevolutionen Krieg und Militär

Grundgerüst, territoriale Integrität, anerkannter politischer Ausgleichsmechanismen, eines Mindeststandards von Bildung und Wissenschaft und großgewerblicher Produktion, gelang keine militärische Modernisierung auf Dauer. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg standen sich die Spitzen dieser industrialisierten Welt in einem beispiellosen Ringen um die Vorherrschaft gegenüber. Die Intensität der Auseinandersetzung sollte sich in dieser Form nicht mehr wiederholen und zählt historisch zu den Ausnahmesituationen. „Alte und neue Kriege“ oder ein heterogenes Kriegs- und Militärparadigma  ?

Tribale Kriege, also Kriege nichtstaatlicher Gesellschaften, Staatenkriege und „Bürgerkriege“ zwischen substaatlichen Akteursgruppen sind in unserem Betrachtungszeitraum immer wieder zeitgleich aufgetreten  ; doch wurden Kriege vorrangig am ‚Krieg zwischen Staaten‘ gemessen. Erst nach dem Fall des Kommunismus und dem Verlust der Übersichtlichkeit der politischen Blöcke in Ost und West ist diese Blickverzerrung deutlich geworden. Wie viele postkoloniale und postkommunistische Staaten von heute zeigen, wurde die Entwicklung leistungsfähiger Staatsstrukturen keineswegs überall vollzogen. Formen des Kriegs, so eine zentrale These, sind wesentlich an Staatlichkeit gebunden. Nach Mary Kaldor und anderen63 verkehren die ‚neuen‘ Kriege gewissermaßen jene Prozesse, durch welche die moderne Staatenwelt gebildet wurde, eine Mischung aus konventionellen Kriegen niedriger Intensität, krimineller Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und ausländischer Einmischung. Sie figurieren als „Staatsauflösung“ oder „Staatszerfallskriege“ und lassen keine klaren Fronten erkennen. Die Angleichung der Waffensysteme hat zu dieser ‚neuen Unübersichtlichkeit‘ erheblich beigetragen. Im Rahmen des militärpolitischen Paradigmas lassen sich seit 1945 unterschiedliche Entwicklungen beobachten  : Der „kleine Krieg“ als Normalform

Die Guerilla wandelte sich von einer militärischen Defensivtaktik zur Offensivstrategie politischer Akteure. Der „kleine Krieg“ stieg zur strategischen Option auf. Vor dem 20. Jahrhundert wurde „Guerilla“ nur militärisch und in seiner wortwörtlichen Bedeutung als „kleiner Krieg“ verstanden. Operativ bezeichnete man damit den Kampf irregulärer, aber offiziell für eine Seite agierender Einheiten abseits der großen militärischen Aktionen. Meist handelte es sich dabei um Hilfstruppen im Rahmen regulärer Streitkräfte. Guerilla stand auch für den Abwehrkampf als flexibles Kampfverfahren (hit-and-run) des militärisch Schwächeren gegen den Stärkeren, besonders in Gebieten kolonialer Besetzung. Guerilla ist nicht mit 576

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 576

22.09.2010 07:50:55

Krieg und Militär

„Volkskrieg“ gleichzusetzen. „Indeed, it was really only in the 1930s and 1940s that guerilla warfare became revolutionary in both intent and practice, with social, economic, psychological and, especially, political elements grafted on to traditional irregular military tactics in order to radically alter the structure of a state by force. Thus, dissident groups that were initially in the minority, and weaker than the authorities, would seek power through a combination of subversion, propaganda and military action. More properly, therefore, modern revolutionary guerrilla warfare might be termed insurgency.“64 In den 1960er-Jahren zeigten sich Aufstände mehr und mehr als städtisches Phänomen der urban guerilla. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind Guerilla und Terrorismus zu vorherrschenden Konfliktformen, regulärer und intensiver Staatenkrieg zur Ausnahme geworden – eine Situation, auf die sich die Staatenwelt nach Ende des „Kalten Krieges“ verstärkt einzustellen begann, denn bereits vor der Auflösung des alten sicherheitspolitischen Paradigmas ‚normalisierte‘ sich das Konfliktbild und die Zahl der bewaffneten Konflikte pro Jahr stieg auf vierzig und mehr, vorrangig in den Ländern der „Dritten Welt“ als innerstaatliche Auseinandersetzungen. Aus regionalen Widerstandsaktionen konnten nationale Erhebungen erwachsen. Mit weit weniger aufwändigen terroristischen Aktionen kombiniert, steigerte das die Effektivität, um bei Bedarf auch die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich zu ziehen. Mit gelegentlichen Terroranschlägen konnte man sich auf eine lauernde Warteposition zurückziehen, bis die Lage günstig erschien, den Kampf in offenerer Form aufzunehmen oder fortzuführen. Schweres Gerät spielte bei der Guerilla nur eine Nebenrolle. Im Algerienkrieg trieb so eine Mischstrategie der Front de Libération Nationale (FLN) die Franzosen aus dem Land. Die Vietnamesen zwangen ohne eigene Luftwaffe, Panzer und ohne schwere Artillerie die Supermacht USA fast ausschließlich mit Infanterie und Subversion zum Abzug. Das günstige wie robuste Gewehr AK–47 („Kalaschnikow“), das auch von Kindersoldaten gehandhabt werden kann, ist nicht nur die wahrscheinlich am meisten produzierte Waffe, sondern wurde zum heraldischen Emblem einer ganzen Epoche  : von terroristischen Polit-Logos, wie dem der RAF, bis zum Staatswappen von Mosambik. Terrorismus wurde so zur effektiven Strategie des ‚Schwachen‘. Der moderne Terrorismus war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden. Seither eröffnete er eine ‚billige‘, von kleinen Gruppen praktizierte Strategie, Staaten herauszufordern, national wie international Sympathisanten zu gewinnen und aus kleinen, verschwörerischen Anfängen zu einer offenen Guerillabewegung überzuleiten. In den Dekolonisationskriegen der 1960er- und 1970er-Jahre ist vielerorts daraus eine Konfliktsteigerungsvariante erwachsen.65

577

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 577

22.09.2010 07:50:55

Verkehrsrevolutionen Krieg und Militär

Von der Kriegsregulierung zur Kriegsvermeidung

Staaten führten auch nach 1945 weiterhin reguläre Kriege. Als internationale Gemeinschaft begannen sie gleichzeitig, gegen Kriege vorzugehen und diplomatische Präventionsmaßnahmen umzusetzen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind in Europa und in den Vereinigten Staaten verstärkt Tendenzen, Interessenabstimmung auch zum Zwecke der Kriegsvermeidung zu treffen, zu beobachten,66 zuerst als „Konzert der Mächte“, „Heilige Allianzen“ oder internationale Abkommen. Dies gab auch einen Anstoß zur Gründung des Völkerbundes, später der Vereinten Nationen. Diese Entwicklung zur Internationalisierung durchlief mehrere Etappen  : Im Zeitalter nach dem Westfälischen Frieden (1648) wurde Krieg als alleiniges Hoheitsrecht von Staaten definiert. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde mit der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konvention mehr Gewicht auf die ordentliche Abwicklung der Kriegshandlungen gelegt (ius in bello). Seit 1945 wurde das Recht eines Staates, Krieg zu führen (ius ad bellum), grundsätzlich in Frage gestellt. Als Novum sahen sich in den Prozessen von Nürnberg und Tokio erstmals Spitzen des Staates als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt.67 Humanitäres Völkerrecht, Konfliktprävention, Friedenseinsätze und internationales Konfliktmanagement rückten damit gleichrangig ins Zentrum der internationalen Politik.68 Gleichzeitig sind Bestrebungen in Gange, den bellum legale als Werkzeug internationaler Politik erneut zu etablieren, etwa als preemtive strikes und regime change gegen „Schurkenstaaten“ und Terrorismus. Zwischen schwachen und starken Staaten

Die zentrale Rolle des staatlichen Gewaltmonopols als Ursache und Gradmesser für Krieg und Konfliktformen hat nach dem Fall des Eisernen Vorhangs neue Bedeutung erfahren. In der bipolaren Welt der politisch-wirtschaftlichen Blockbildung zwischen Ost und West fiel diese Dimension weit weniger ins Gewicht als heute. Im Grad der Zerrüttung des Staatsapparates (weak, failing oder collapsed states)69 liegen die Potenziale für bewaffnete Konflikte, denn in starken, funktionierenden Staaten bleibt die Einheit von Staat und Territorium gewahrt. Es existieren keine separatistischen (Sub-)Staatsgebilde in Form der von Rebellen ‚befreiten‘ Gebiete oder von Warlords oder Guerillas beherrschten Zonen, die mitunter in Abstimmung mit Nachbarländern ‚regiert‘ werden. Solche Grauzonen von Staatlichkeit und Schattenherrschaft stellen Friedenssicherungseinsätze und bewaffnete Friedenserzwingungsmissionen (peacekeeping and peace enforcement) vor große, weil 578

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 578

22.09.2010 07:50:56

Krieg und Militär

gefährliche und teure Herausforderungen. Dies ist mit ein Grund, warum international agierende Sicherheitsfirmen in solche Operationen eingebunden werden. Die Privatisierung hoheitsrechtlicher Machtbefugnisse in ‚starken’ Staaten durch Sicherheitsfirmen70 ist eine relative neue und eigenständige Entwicklung von outsourcing, das kommerziellen Interessen folgt. Der wesentliche Unterschied zu Bürgerkriegssituation, Warlords und Terrorismus ist, dass einer Privatisierung häufig keine Verselbstständigung bewaffneter Gewalt folgt. Zudem wurde seit dem Fall der Berliner Mauer das Militär immer mehr in seiner Rolle als Wirtschaftsakteur wahrgenommen.71 In Ländern wie Pakistan entstand aufgrund mangelnder infrastruktureller Voraussetzungen ein Schattenimperium, um die Versorgung der Armee sicherzustellen. In der Türkei kann mit einiger Berechtigung der Generalstab mit dem Vorstand eines Mischkonzerns gleichgesetzt werden. Die türkischen Generäle sind nicht nur die Hüter des Kemalismus, sondern auch ihrer eigenen ökonomischen Interessen. Während bei den einen – wie in den USA oder in euro­ päischen Staaten – eine strikte Trennung von Militärfunktion und Budget eingehalten wird, verschwimmt diese Grenze bei anderen Staaten – etwa in China, wo zwischen dem Alleinführungsanspruch der Partei und der militärischen Führung Konkordanz herrscht, oder in Chile, wo die Einflussnahme des Militärs auf die Politik bedeutend ist. Von der Divergenz zur neuen Konvergenz der Unübersichtlichkeit

Revolutionäre Technik verwandelte im Laufe des 19. Jahrhunderts das Gefechtsbild. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs vollendeten die kapitalistische Waffenproduktion und die Rüstungsindustrie des Ostblocks die Verbreitung – und damit Schließung der Divergenz – von Standardbewaffnungen aus Gewinnabsicht und politischem Kalkül. Rüstungsgeschäfte zählen deshalb global zu den größten und profitabelsten Wirtschaftssektoren.72 Trotz immer teurer werdender Raffinesse in der Waffentechnologie konnte der Mensch als ausführender Akteur bisher nicht ­ersetzt werden. Die in den entwickelten Staaten zunehmende Inakzeptanz menschlicher Verluste erzeugte ein Paradox  : eine durch wirtschaftliche Verflechtung, durch eine pax oeconomica, um den euroamerikanischen Raum kreierte Kernzone ohne Kriege gegenüber den Ländern, in denen Kriege geführt werden, um dort Einfluss zu nehmen.73 Der Stellenwert der Technik als Movens der Veränderung in den letzten 150 Jahren ist in militärischen Angelegenheiten wieder weit hinter das Politische zurückgefallen.

579

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 579

22.09.2010 07:50:56

Verkehrsrevolutionen Krieg und Militär

Anmerkungen   1 H.(ilaire) B.(elloc)/B.(asil) T.(emple) B.(lackwood), The Modern Traveller, London 1898, 41.   2 Als Gesamtdarstellungen  : Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009  ; Eric R. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995. Der Begriff ‚Divergenz‘, um den sich zwischenzeitlich eine ganze Debatte dreht, geht auf Kenneth Pomeranz, The Great Divergence  : China, Europe, and the Making of the Modern World Economy, Princeton 2000, zurück.   3 Hier verstanden als epochaler Wandel der Kriegführung durch die Industrielle Revolution und folgender technischer Revolutionen, die auch soziale Anpassungen zur Konsequenz hatten.   4 Eric R. Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter 1875–1914, Frankfurt am Main/New York, 1989.   5 Der Begriff wurde im deutschsprachigen Raum vor allem durch Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1  : Vom Feudalismus des alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära, 1700–1815, München 1987, bekannt.   6 Wolfgang König/Wolfhard Weber, Netzwerke, Stahl und Strom – 1840 bis 1914 (Propyläen Technikgeschichte, Bd. 4), Berlin 1997, 259  ; Hans-Joachim Braun/Walter Kaiser, Hg., Energiewirtschaft, Automatisierung, Information seit 1914 (Propyläen Technikgeschichte, Bd. 5), Berlin 1997.   7 Zitiert nach  : Graham S. Hutchinson, Machine Guns, their History and Tactical Employment, London 1938, 14.   8 Johannes Rohbeck, Technologische Urteilskraft – Zu einer Ethik technischen Handelns, Frankfurt am Main 1993, 230 f. (Hervorhebung im Original).   9 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Aufl., München 2000, 347. 10 Michael Hochedlinger/Anton Tantner, Hg., „… der größte Teil der Untertanen lebt Elend und mühselig“. Die Berichte des Hofkriegsrates zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Habsburgermonarchie 1770–1771, Wien 2005, II  ; allgemein  : Thomas Kolnberger/Ilja Staffelbauer, Hg., Krieg in der europäischen Neuzeit, Wien 2010 (im Druck). 11 Jürgen Osterhammel, Auf der Suche nach einem 19. Jahrhundert, in  : Sebastian Conrad/Andreas Eckert/Ulrike Freitag, Hg., Globalgeschichte. Theorien – Ansätze – Themen, Frankfurt am Main 2007, 109–130  ; C. A. Bayly, The birth of the modern world, 1780–1914  : global connections and comparisons, Oxford u. a. 2004. 12 Norbert Franz, Durchstaatlichung und Ausweitung der Kommunalaufgaben im 19. Jahrhundert. Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume ausgewählter französischer und luxemburgischer Landgemeinden im mikrohistorischen Vergleich (1805–1890), Trier 2006  ; Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994. 13 Lawrence Sondhaus, Navies in modern world history, London 2004  ; Richard Harding, Seapower and naval warfare, 1650–1830, London 1999  ; John Buckley, Air power in the age of total war, London 1999  ; Sebastian Cox/Peter Gay, Hg., Air power history – turning points from Kitty Hawk to Kosovo, London/Portland [OR] 2002  ; Rolf-Dieter Müller, Der Bombenkrieg 1939–1945, Berlin 2004. 14 Hans Linnenkohl, Vom Einzelschuss zur Feuerwalze. Der Wettlauf zwischen Technik und Taktik im Ersten Weltkrieg, Bonn 1996, 11, 56. 15 Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 173), Göttingen 2006. 16 Ute Frevert, Die kasernierte Nation – Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001  ; Ute Frevert, Hg., Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997. 17 Jürg Helbling, Tribale Kriege – Konflikte in Gesellschaften ohne Zentralgewalt, Frankfurt am Main/ New York 2006, 449 ff.  ; Azar Gat, War in human civilization, Oxford 2006.

580

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 580

22.09.2010 07:50:56

Krieg und Militär

18 M. Christian Ortner, Die österreichisch-ungarische Artillerie von 1867 bis 1918. Technik, Organisation und Kampfverfahren, Wien 2007. 19 Frank Becker, „Getrennt marschieren, vereint schlagen“ Königgrätz, 3. Juli 1866, in  : Stig Förster u. a., Hg., Schlachten der Weltgeschichte. Von Salamis bis Sinai, 2. Aufl., München 2002, 216–229. 20 Peter Borscheid, Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt am Main 2004. 21 Stig Förster u. a., Hg., Schlachten der Weltgeschichte. Von Salamis bis Sinai, 2. Aufl., München 2002  ; Gerd Krumeich/Susanne Brandt, Hg., Schlachtenmythen. Ereignis – Erzählung – Erinnerung , Köln u. a. 2003. 22 Zur historiografischen Einführung  : Jutta Nowosadtko, Krieg, Gewalt und Ordnung. Einführung in die Militärgeschichte, Tübingen 2002  ; Thomas Kühne/Benjamin Ziemann, Hg., Was ist Militärgeschichte  ?, Paderborn 2000. 23 Gunther E. Rothenberg, The Napoleonic wars, London 1999. 24 Stefan Kaufmann, Kommunikationstechnik und Kriegsführung 1815–1945. Stufen telemedialer Rüstung, München 1996. 122 ff. 25 John Keegan, Das Antlitz des Krieges. Die Schlachten von Azincourt 1415, Waterloo 1815 und an der Somme 1916, Frankfurt am Main/New York 1991. 26 John Keegan, Die Maske des Feldherrn – Alexander der Große, Wellington, Grant, Hitler, Reinbek/ Hamburg 2000, 319. 27 Manfried Rauchensteiner, Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg, Graz u. a. 1997, 433. 28 John Buckley, Air Power in the Age of Total War, London 1999  ; Sebastian Cox/Peter Gray, Hg., Air Power History – Turning Points form Kitty Hawk to Kosovo, London 2002  ; Rolf-Dieter Müller, Der Bombenkrieg 1939–1945, Berlin 2004  ; Lawrence Sondhaus, Navies in Modern World History, London 2004. 29 Joachim Schröder, Die U-Boote des Kaisers. Die Geschichte des deutschen U-Boot-Krieges gegen Großbritannien im Ersten Weltkrieg, Bonn 2002. 30 Rolf Steininger, Der Kalte Krieg, Frankfurt am Main 2003  ; Bernd Stöver, Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947–1991, 3. Aufl., München 2006. 31 Jeremy Black, European Warfare 1660–1815, New Haven/London 1994, 2 f. 32 Geoffrey Parker, The military revolution. Military Innovation and the Rise of the West, 1500–1800, Cambridge 1988  ; William R. Thompson  : The military superiority thesis and the ascendancy of Western Eurasia in the world system, in  : Journal of World History 10 (1999), 143–178. 33 Gesamtübersicht  : John Tebble/Keith Jennison, The American Indian Wars, London 2001. 34 Wulf D. Hund, Rassismus, Bielefeld 2007, 10 ff., wobei sich diese Spielart der Diskriminierung jetzt an distinkte anthropometrische und genetische Unterscheidungen festzumachen begann  : Rasse ist demnach ein Produkt von Rassismus. 35 Rudolph J. Rummel  : Demozid – der befohlene Tod. Massenmorde im 20. Jahrhundert. Münster u. a. 2003. 36 Ian K. Steele, Warpaths – Invasions of North America, New York/Oxford 1994  ; Bruce Vandervort, Indian wars of Mexico, Canada and the United States, 1812–1900, New York 2006. 37 Karin Fischer/Susan Zimmermann, Hg., Internationalismen – Transformation weltweiter Ungleichheit im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 2008. 38 Eric R. Hobsbawm, Die Banditen – Räuber als Sozialrebellen, München 2000  ; Peter Feldbauer/ Hans-Jürgen Puhle, Hg., Bauern im Widerstand, Wien/Köln/Weimar 1992. 39 John Charles Chasteen, Americanos  : Latin America’s struggle for independence, Oxford 2008. 40 David A. Graff/Robin Higham, Hg., A Military history of China, Boulder [CO] 2002  ; Bruce A. Elleman, Modern Chinese Warfare, 1795–1989, London/New York 2001.

581

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 581

22.09.2010 07:50:56

Verkehrsrevolutionen Krieg und Militär

41 John King Fairbank, The Great Chinese Revolution, 1800–1985, New York u. a. 1987. 42 Ebd., 76. 43 Felipe Fernández-Armesto, Millennium, München 1995, 443 f. 44 Seema Alavi, The Company Army and Rural Society, in  : Douglas M. Peers, Hg., Warfare and Empires – Contact and Conflict between European and non-European military and maritime forces and cultures, Aldershot/Variorum [o.O.] 1997. 45 G.J. Bryant, Indigenous Mercenaries in the Service of European Imperialists  : The Case of the Sepoys in the Early British Indian Army, 1750–1800, in  : War in History 7 (2000) 1, 2–28  ; Kaushik Roy, The Construction of Regiments in the Indian Army  : 1859–1913, in  : War in History 8 (2001) 2, 127–148. 46 Alavi, Company Army, 183. 47 Brian R. Ferguson/Neil L. Whitehead, The Violent Edge of Empire, in  : dies., Hg., War in the Tribal Zone. Expanding States and indigenous Warfare, Santa Fé 1992, 1–30, hier 18. 48 John K. Thornton, Warfare in Atlantic Africa, 1500–1800, London 1999. 49 John Pemble, Resources and Techniques in the Second Maratha war, in  : Douglas M. Peers, Hg., Warfare and Empires  : Contact and Conflict between European and Non-European Military and Maritime Forces and Cultures, Ashgate/Variorum [o. O.] 1997, 280. 50 Ebd., 285. 51 Vgl. Randolf G. S. Cooper, Wellington and the Marathas in 1803, in  : The International History Review 11 (1989), 31–38  ; Jeremy Black, European Warfare, 1660–1815, New Haven/London 1994, 16 ff. 52 Bruce Vandervort, Wars of Imperial Conquest in Africa, 1830–1914, London 1998, 26. 53 Joseph E. Inikori, The Import of Firearms into West Africa, 1750–1807, in  : Douglas M. Peers, Hg., Warfare and Empires, 245–274. 54 John K. Thornton, Warfare, slave trading and European influence  : Atlantic Africa 1450–1800, in  : Jeremy Black, Hg., War in the Early Modern World, 1450–1815, London 1999, 129–146, hier 129. 55 Vandervort, Wars, 14 ff. 56 Vandervort, Wars, 108. 57 Angela Ballare, Taua  : ‚Musket wars‘, ‚land wars‘ or tikanga  ? Warfare in Maori Society in the early nineteenth century, London 2003. Southeast Asian Warfare 1300–1909, Leiden 2004. 58 Michael W. Charney, Southeast Asian Warfare, 1300–1900, Leiden 2004. 59 Wolfgang Schwentker, Die Samurai, 3. Aufl., München 2008. 60 David K. Wyatt, Thailand. A short history, 2. Aufl., New Haven/London 2003, 166 ff. 61 Suraiya Faroqhi, Geschichte des Osmanischen Reiches, München 2000  ; Virginia H. Aksan, Ottoman Wars 1700–1870  : An Empire Besieged, Longman 2007. 62 Ulrich Haarmann/Heinz Halm, Hg., Geschichte der arabischen Welt, 5. Aufl., München 2004. 63 Mary Kaldor, Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt am Main 2000  ; Herfried Münkler, Die neuen Kriege, 2. Aufl., Reinbek/Hamburg 2002  ; Martin van Creveld, Die Zukunft des Krieges, München 1998. 64 Ian F.W. Beckett, Modern Insurgencies and Counter-Insurgencies. Guerilla and their opponents since 1750, London/New York 2001, vii. 65 Thomas Kolnberger/Clemens Six, Hg., Fundamentalismus und Terrorismus. Zu Geschichte und Gegenwart radikalisierter Religion, Wien 2007. 66 Zu „Reform“-Internationalismen  : Karin Fischer/Susan Zimmermann, Hg., Internationalismen – Transformationen weltweiter Ungleichheit im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 2008. 67 Edgar Wolfrum, Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003  ; Richard Sorabji/David Rodin, Hg., The Ethnics of War. Shared Problems in Different Traditions, Aldershot [GB] 2003.

582

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 582

22.09.2010 07:50:56

Krieg und Militär

68 Walter Feichtinger/Predrag Jureković, Hg., Internationales Konfliktmanagement im Fokus. Kosovo, Moldova und Afghanistan im kritischen Vergleich, Baden-Baden 2006  ; Monika Heupel, Friedenskonsolidierung im Zeitalter der „neuen Kriege“, Wiesbaden 2005. 69 Robert I. Rotberg, State Failure and State Weakness in a Time of Terror, Washington [D.C.] 2003. 70 Thomas Jäger/Gerhard Kümmel, Hg., Private Military and Security Companies. Chances, Problems, Pitfalls and Prospects, Wiesbaden 2007  ; Deborah D. Avant, The Market for Force. The Consequences of Privatizing Security, Cambridge u. a. 2005. 71 Jörn Brömmelhörster/Wolf-Christian Paes, The Military as an Economic Actor. Soldiers in Business, Houndsmill/New York 2003. 72 Statistiken zu Krieg und Militärausgaben bieten etwa das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri (www.sipri.org)  ; oder das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg IFSH (www.ifsh.de). 73 Joachim Becker u. a., Hg., Krieg an den Rändern. Von Sarajevo bis Kuito, Wien 2005.

583

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 583

22.09.2010 07:50:56

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 584

22.09.2010 07:50:56

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Ulrich Brand, studierte Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Tourismus an der

Berufsakademie Ravensburg und anschließend Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt am Main mit mehreren Semestern an der Humboldt Universität zu Berlin und in Buenos Aires, Promotion 2000, Habilitation in Politikwissenschaft 2006 an der Universität Kassel  ; Lehr- und Forschungsaufenthalte an der UNAM in Mexiko-Stadt, York University Toronto und Rutgers University New Jersey  ; seit 2007 Professor für Internationale Politik an der Universität Wien  ; Arbeitsschwerpunkte  : Internationale Politische Ökonomie, Internationalisierung des Staates, internationale Umweltpolitik, Globalisierungskritik  ; Adresse  : [email protected]. Gerald Faschingeder, Studium der Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Ger-

manistik an der Universität Wien, Promotion 2001  ; Direktor des Paulo Freire Zentrums für transdisziplinäre Entwicklungsforschung und dialogische Bildung  ; Lehrbeauftragter am Projekt Internationale Entwicklung der Universität Wien  ; Schwerpunkte in Forschung und Lehre  : Kultur und Entwicklung sowie Religion und Entwicklung  ; Adresse  : [email protected]. Marina Fischer-Kowalski, Studium der Soziologie an der Universität Wien, Habili-

tation für Soziologie an der Universität Graz  ; Professorin für Soziale Ökologie und Leiterin des gleichnamigen Instituts der Universität Klagenfurt in Wien  ; Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung  ; Vizepräsidentin der European Society for Ecological Economics  ; Arbeitsschwerpunkte  : Soziale Ökologie, Social Theory, Nachhaltige Entwicklung, Umweltsoziologie, Gesellschaftlicher Stoffwechsel, Umweltpolitik und Umweltinformationssysteme  ; Adresse  : [email protected]. Gerd Hardach, Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Univer-

sität Münster, an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris und an der Freien Universität Berlin  ; 1972 bis 2006 Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Marburg, Gastprofessor an der Universität Tokio und 585

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 585

22.09.2010 07:50:56

Verzeichnis Verkehrsrevolutionen der Autorinnen und Autoren

an der Freien Universität Berlin  ; Arbeitsschwerpunkte  : Wirtschafts- und Sozial­ geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts  ; Adresse  : [email protected]. Thomas Kolnberger, Diplomstudium der Geschichte an der Universität Innsbruck

und am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien  ; Universitätsassistent-Doktorand an der Université du Luxembourg  ; Arbeitsschwerpunkte  : Globalgeschichte, Krieg und Militär in der europäischen Expansion, Stadt- und Siedlungsgeschichte Phnom Penhs, Kambodscha  ; Adresse  : thomas. [email protected]. Andrea Komlosy, Studium der Geschichte und der Politikwissenschaften an der

Universität Wien sowie am Institut für Höhere Studien  ; Promotion 1986  ; Habilitation im Fach Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien 2002  ; ao. Universitätsprofessorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien  ; Mitarbeit im Leitungsteam der Globalgeschichte-Studien an der Universität Wien sowie im Doktoratskolleg „Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe“  ; Lehre und Vortragstätigkeit an  in- und ausländischen Universitäten, in der LehrerInnenfortbildung sowie in der Erwachsenenbildung  ; Forschungsschwerpunkt  : Fragen ungleicher regionaler Entwicklung im kleinräumigen und weltregionalen Maßstab  ; Adresse  : [email protected]. Albert Kraler, Studium der Politikwissenschaft und Afrikanistik an der Universität

Wien und der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London  ; seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter am International Centre for Migration Policy Development (ICMPD), 2003–2004 Marie Curie Research Fellow am Centre for Migration Research (University of Sussex, GB), 2005–2006 Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien  ; Arbeitsschwerpunkte  : Migrationspolitik, irreguläre Migration, Familienmigration, Migrationsstatistik, Fluchtmigration, Staatlichkeit in Afrika und Formen humanitären Handelns in historischer Perspektive  ; Adresse  : [email protected]. Fridolin Krausmann, Studium der Biologie und Ökologie an der Universität Wien,

Habilitation für Sozialökologie an der Universität Klagenfurt  ; Professor für Nachhaltige Ressourcennutzung am Wiener Institut für Soziale Ökologie der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und Koordinator des Arbeitsbereichs „Gesellschaftlicher Stoffwechsel“, Mitbegründer des Zentrums für Umweltgeschichte  ; Arbeitsschwerpunkte  : langfristige Trends und Muster im gesellschaftlichen Material- und Energieverbrauch und in der Landnutzung  ; Adresse  : [email protected]. 586

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 586

22.09.2010 07:50:56

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Ernst Langthaler, Diplom- und Doktoratsstudium der Geschichte an der Universi-

tät Wien, Promotion 2000  ; Graduiertenkolleg „Historische Anthropologie“ am IFF Wien  ; Habilitation im Fach Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien 2010  ; stellvertretender Leiter des Instituts für Geschichte des ländlichen Raumes in St. Pölten (www.ruralhistory.at)  ; Gastprofessuren und Lehraufträge an der Universität Innsbruck, der Universität Wien und der Universität für Bodenkultur in Wien  ; Arbeitsschwerpunkte  : Agrargeschichte, Regionalgeschichte, Gedächtnisgeschichte (19. und 20. Jahrhundert); Adresse  : [email protected]. Lorenz Lassnigg, Studium der Pädagogik und Politikwissenschaft in Wien, Promotion

1980, Postgraduate-Ausbildung in Soziologie am IHS  ; Leiter der Forschungsgruppe equi-employment-qualification-innovation (www.equi.at) und Lehrender in der PostGraduate Ausbildung am Institut für Höhere Studien (IHS, www.ihs.ac.at), Abteilung Soziologie  ; Forschungsschwerpunkte  : Bildungs- und Arbeitsmarktforschung, Policy Analyse, Evaluierung, Governance, Praxistheorie  ; Adresse  : [email protected]. David Mayer, Studium der Geschichte und Internationalen Entwicklung in Wien  ;

zur Zeit Assistent in Ausbildung am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien  ; Arbeitsschwerpunkte  : Geschichte sozialer Bewegungen in Lateinamerika, Geschichte marxistisch inspirierter Geschichtswissenschaft, Globalgeschichte sowie Geschichtspolitik; Adresse  : [email protected]. Maria Mesner, Studium der Deutschen Philologie, Geschichte und Soziologie an

der Universität Wien, Promotion 1994, Habilitation 2004  ; Universitätsdozentin an der Universität Wien für Zeitgeschichte und Gender Studies  ; Gastprofessuren und Lektorate  : New York University, New School for Social Research, New York, Universität Salzburg, Karls-Universität in Prag, Johannes-Kepler-Universität Linz  ; Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien  ; Leitung der Stiftung Bruno Kreisky Archiv  ; Arbeitsschwerpunkte  : Geschichte der Fortpflanzung, der Geschlechterverhältnisse, politischer Kulturen, historische Komparatistik  ; Adresse  : [email protected]. Albert F. Reiterer, Studium der Publizistik, Politikwissenschaft und Volkswirtschaft

an der Universität Wien, Promotion 1973, Habilitation für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck 1989  ; freiberuflicher Sozialforscher sowie Gastprofessuren und Lehraufträge an den Universitäten Wien, Graz und Innsbruck  ; Arbeitsschwerpunkte  : gesamtgesellschaftliche Analyse, Demografie, Ethnizität und Nation  ; Adresse  : [email protected]. 587

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 587

22.09.2010 07:50:56

Verzeichnis Verkehrsrevolutionen der Autorinnen und Autoren

Rosa Reitsamer, Studium der Soziologie, Politikwissenschaft und Gender Stu-

dies an der Universität Wien und an der Universität für angewandte Kunst Wien, Promotion für Soziologie 2010  ; derzeit befristete Post-Doc-Stelle beim FWF-Forschungsprojekt „Feministische Medienproduktion in Europa“ an der Universität Salzburg/Fachbereich Kommunikationswissenschaft  ; Lehrbeauftragte an der Universität für angewandte Kunst Wien und den Universitäten Wien und Salzburg  ; Forschungsschwerpunkte  : Jugend- und Mediensoziologie, Cultural Studies und Gender Studies  ; Adresse  : [email protected]. Jörg Requate, Studium der Geschichte und der Romanistik in Bielefeld, Freiburg

und Berlin, Habilitation an der Universität Bielefeld  ; Privatdozent an der Universität Bielefeld  ; Arbeitsschwerpunkte  : Deutsche und Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Medien- und Öffentlichkeitsgeschichte  ; Adresse  : joerg. [email protected]. Ralf Roth, Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie  ; Habilitation in

Frankfurt am Main  ; Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main  ; Arbeitsschwerpunkte  : Weltgeschichte, Verkehrsgeschichte, Stadt- und Urbanisierungsgeschichte, Geschichte der sozialen Beziehungen  ; Adresse  : [email protected]. Manuel Schramm, Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Soziologie in

Göttingen, Freiburg, Dublin und Berlin, Promotion 2002 an der Universität Leipzig, Habilitation 2007 an der Technischen Universität Chemnitz  ; derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Geschichte der Technischen Universität Chemnitz  ; Arbeitsschwerpunkte  : Konsumgeschichte, Wissensgeschichte, Umweltgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts  ; Adresse  : [email protected]. Reinhard Sieder, Studium der Geschichte und der deutschen Philologie an der Uni-

versität Wien  ; Promotion 1975  ; Forschungsaufenthalt an der University of Cambridge 1978  ; Habilitation für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Wien 1989  ; a.o. Univ.-Professor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien  ; Gastprofessuren und Lektorate an den Universitäten Graz, Salzburg, Innsbruck, Göttingen u. a.  ; Gründer und Herausgeber der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG)  ; Lehr- und Forschungsschwerpunkte  : Geschichte und Soziologie des Familienlebens, Kulturwissenschaften/Cultural Studies, Alltagsgeschichte, Theorien und qualitative Methoden in den Sozial- und Kulturwissenschaften  ; Adresse  : [email protected]. 588

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 588

22.09.2010 07:50:56

HANS-HEINRICH NOLTE

WELTGESCHICHTE IMPERIEN, RELIGIONEN UND SYSTEME 15.–19. JAHRHUNDERT

Die Europäer waren nicht klüger als die Inder und nicht militaristischer als die Azteken. Sie haben nicht mehr neue Technologien entwickelt als die Chinesen und nicht härter gearbeitet als die Afrikaner auf den Plantagen der Karibik oder in den Haushalten der muslimischen Welt. Warum steht Europa 1815 so groß da und stürzt 1914 so tief in den Abgrund? Hans-Heinrich Nolte analysiert die entscheidenden Momente des Aufbruchs der Menschheit in die Moderne und vereint, beeindruckend kenntnisreich, afrikanische, osmanische, indische, chinesische und europäische Kultur und Geschichte zu einer Weltgeschichte des 15. bis 19. Jahrhunderts. 2005. 392 S. ZAHLR. TAB. U. GRAF. GB. M. SU. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-77440-2

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43(0)1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau.at | wien köln weimar

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 589

22.09.2010 07:50:56

HANS-HEINRICH NOLTE

WELTGESCHICHTE DES 20. JAHRHUNDERTS

Das 20. Jahrhundert ist durch vielfältige Emanzipationen, außerordentliche Erfindungen und eine schnelle Globalisierung, aber auch durch wachsende Ungleichheit, Genozide und Vertreibungen, unsichere und multiple Identitäten, Terrorismus und einen ungezügelten Verbrauch von Umwelt gekennzeichnet. Der Wiederaufstieg Indiens und Chinas sowie neue Hoffnung für Afrika und Lateinamerika bestimmen den Jahrtausendwechsel. Der Band bietet einen Überblick über die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, von der Industrialisierung bis heute. 2009. 448 S. 5 GRAFIKEN GB. 240 X 170 MM. ISBN 978-3-205-78402-9

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43(0)1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau.at | wien köln weimar

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 590

22.09.2010 07:50:57

K ARL VOCELK A

GESCHICHTE DER NEUZEIT 1500 –1918

Das Buch nähert sich der Geschichte der Neuzeit, die sowohl die Frühe Neuzeit, als auch die späte Neuzeit bis zum Ersten Weltkrieg umfasst, von zwei Seiten an. Einerseits bietet es einen chronologischen Abriss der Geschichte Europas im globalen Kontext, andererseits – mit dem Überblick aufs Engste verzahnt – werden auch die wesentlichen Leitfragen der Geschichte der Neuzeit hervorgehoben, die einen modernen fachwissenschaftlichen Zugang zur Vergangenheit kennzeichnen. Neben der traditionellen Analyse der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und konfessionellen Strukturen, werden auch neuere Ansätze der Wissenschafts- und Technikgeschichte, der Kultur- und Mentalitätsgeschichte einbezogen. Das Buch wendet sich in erster Linie als Studienbuch an Studierende, aber auch an historisch interessierte Laien, die manches Bekannte wiederfinden werden, aber auch eine Reihe von neuen überraschenden Gesichtspunkten und Einsichten in dieser streckenweise unkonventionellen Darstellung finden können. 2009, 767 S. BR. 4 K ARTEN, 3 GRAFIKEN 150 X 215 MM. ISBN 978-3-8252-3240-5

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43(0)1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau.at | wien köln weimar

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 591

22.09.2010 07:50:57

0%4%2Ö%Ö&Ã33,%2

',/"!,)3)%25.' %).Ö()34/2)3#(%3Ö+/-0%.$)5-Ö 54"Ö&­2Ö7)33%.3#(!&4ÖÖ3

»Globalisierung« ist für die heutige Zeit Schlüsselbegriff und Epochenetikett zugleich. Sie weckt einerseits Hoffnungen auf die Überwindung von Armut und schürt andererseits Ängste vor wachsender sozialer Ungerechtigkeit. Das vorliegende Studienbuch präsentiert die Globalisierungsgeschichte von ihren Anfängen bis zur Gegenwart und arbeitet die Kennzeichen der einzelnen Phasen heraus. Die langfristige Entwicklung grundlegender Infrastrukturen, wichtiger Akteurskategorien (u. a. Multinationale Unternehmen, Internationale Organisationen) und ideengeschichtlicher Konzepte wird knapp und übersichtlich dargestellt. Infoboxen, Schaubilder, Graphiken, Tabellen sowie eine Auswahlbibliographie runden das Kompendium ab. ÖÖ3Ö-)4ÖÖ!"" Ö3/7)%Ö:!(,2Ö4!"Ö5.$Ö'2!&)+%.Ö"2ÖÖ8ÖÖ--Ö )3".Ö    

»[A]ls Einführung in die Probleme der Globalisierung im historischen Kontext von großem Wert.« Sehepunkte »[E]in gutes Lernbuch […].« H-Soz-u-Kult böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau.de | köln weimar wien

978-3-205-78585-9_Sieder.indd 592

22.09.2010 07:51:04