Glücksmaschinen und Maschinenglück: Grundlagen einer Technik- und Kulturgeschichte des technisierten Spiels 9783839436103

In both work and everyday contexts, technology is supposed to work. When it comes to games, another central task emerges

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Glücksmaschinen und Maschinenglück: Grundlagen einer Technik- und Kulturgeschichte des technisierten Spiels
 9783839436103

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
A. Zugang zum Thema
B. Spiel, Sport und Technik
C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks
D. Technisches Spielzeug
E. Spiel mit Technik – systematische Ergebnisse und Perspektiven
Anhang

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Stefan Poser Glücksmaschinen und Maschinenglück

Histoire | Band 100

Für Claudia, Johanna und meine Eltern

Stefan Poser (Dr. phil.) ist Technikhistoriker an der Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg, und stellv. Leiter des Arbeitskreises Technikgeschichte beim VDI Berlin-Brandenburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die gesellschaftliche Bewältigung technischer Risiken und der spielerische Umgang mit Technik.

Stefan Poser

Glücksmaschinen und Maschinenglück Grundlagen einer Technik- und Kulturgeschichte des technisierten Spiels

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Achterbahnfahrerinnen auf der Rigi-Turmbahn des Bremer Ingenieurs und Schaustellers Friedrich Wilhelm Sieboldt, um 1925. © Markt- und Schaustellermuseum, Essen. Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3610-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3610-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort  | 9 A. Zugang zum Thema  | 11 I. Historischer Zugang | 11 1. Verortung in den Geschichtswissenschaften | 16 2. Zur Vorgehensweise | 19 3. Forschungsstand | 23 II. Begrifflichkeit | 37 1. Technik | 37 2. Spiel | 39

B. Spiel, Sport und Technik  | 51 I. Technisierung des Sports  | 51 II. Sport und Spiel  | 54 III. Fallbeispiel: Rudern in Sportbooten | 63 1. Rudern wird zum Sport | 64 2. Technische Entwicklung von Rudersport-Booten | 72 3. Innovationen und Technologietransfer | 80 4. Rudern als Sportspiel | 86 5. Umgang der Akteure mit dem technischen Gerät | 92 6. Rudern und Industrialisierung – die Perspektiven der Akteure | 98 7. Rudern – Ergebnisse | 101 IV. Fallbeispiel: Schwimmen und Schwimmbäder | 103 1. Das Spiel im Wasser und sein technisches ›Gehäuse‹ | 104 2. Bädertechnik und Technologietransfer | 122 3. Bäder, Freizeitgestaltung und Spiel | 134 4. Technik für das Spiel – die Perspektiven der Akteure | 148 5. Schwimmen und Bäder – Ergebnisse | 150

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks  | 153 I. Jahrmarktstechnik | 153 II. Jahrmarktsspiele | 157

III. Fallbeispiel: Thrill rides | 161 1. Technikgeschichte von Rutschen, Loopings und Achterbahnen | 162 2. Technische Entwicklung und Technologietransfers  | 175 3. Spiel  | 190 4. Technik für das Spiel – die Perspektiven der Akteure | 202 5. Rutschen, Loopings und Achterbahnen – Ergebnisse  | 208 IV. Fallbeispiel: Selbstfahrgeschäfte | 210 1. Technikgeschichte von Autoskootern und Jahrmarktsautobahnen | 211 2. Technische Entwicklung | 218 3. Spiel | 227 4. Technik für das Spiel – die Perspektiven der Akteure | 241 5. Autoskooter und Jahrmarktsautobahnen – Ergebnisse  | 244

D. Technisches Spielzeug  | 247 I. Technisierung des Spielzeugs | 247 II. Formen des Spiels | 253 III. Fallbeispiel: Modelleisenbahnen | 255 1. Technikgeschichte von Modelleisenbahnen | 255 2. Genese eines Publikationsfeldes und Institutionalisierung | 262 3. Modellbahntechnik und Technologietransfer | 264 4. Universitäre Modelleisenbahnen  | 280 5. Modellbahnspiele  | 282 6. Modellbahnsport  | 300 7. Modelleisenbahnen und Technik – die Perspektiven der Akteure | 303 8. Modelleisenbahnen – Ergebnisse | 307

E. Spiel mit Technik – systematische Ergebnisse und Perspektiven  | 311 I. Strukturen technisierter Spiele | 315 1. Zeitgebundenheit  | 315 2. Spielentwicklung im Raster historischer Perioden | 319 3. Generationsspezifische und generationsformende Spiele  | 324 4. Technische Entwicklungen für Spielzwecke | 327 5. Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Spiele | 330 6. Gesellschaftliche Relevanz des Spiels mit Technik | 339 II. Weiterführende Fragestellungen  | 343 1. Materialien und Innovationen | 343 2. Spiel und Arbeit | 345 3. Genderforschung | 346 4. Transnationale Geschichte | 347 5. Räume und Infrastrukturen des technisierten Spiels | 349 6. Turn to Play? | 351

Anhang  | 353 Archivalien  | 353 Patentschriften und Gebrauchsmusterschutzbriefe | 354 Bibliographie  | 356 Abbildungsverzeichnis  | 400

Vorwort

Die Veränderung der Industriegesellschaft zur Dienstleistungs- und Freizeitgesellschaft ist grundlegend für dieses Buch. Denn eben dieser Wandel war es, der die gesellschaftliche Fokussierung auf Arbeit lockerte und spielerisches Handeln in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewinnen ließ. Wurde in der Nachkriegszeit Interesse am Spiel durch Begriffe wie ›Modellbahnsport‹ oder die Verortung von Sport als ›Bruder der Arbeit‹ (Ortega y Gasset) kaschiert, so wird in den letzten Jahren Arbeit durch spielerische ›applications‹ verborgen. Dies führte nicht nur zu einem Klärungsbedarf des Verhältnisses von Spiel und Arbeit, sondern auch dazu, dass Bezüge von Technik und Spiel relevant wurden, da gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen in erheblichem Maß durch Technik geprägt sind. Technik und Spiel sollen deshalb in dieser Arbeit aus technik- und kulturhistorischer Perspektive analysiert werden. Aller Technik ist die Ausrichtung auf den Zweck gemeinsam, spezifische funktionale Anforderungen zu erfüllen. Dies gilt für Technik in Arbeits- und Produktionszusammenhängen oder im Konsumbereich ebenso wie für die spielbezogene Technik. Allerdings liegen die Hauptzwecke der Technik für das Spiel auf einer ganz anderen Ebene: Sie soll gleichsam als Glücksmaschine positive menschliche Empfindungen vermitteln, zur Spannung von Wettkämpfen beitragen, einen angenehm-kontrollierten Schauer oder gar Lustempfindungen wecken. Aufgrund dieser Kombination physischer und psychischer Aufgaben scheinen die Eindringtiefe in das Leben der Spielenden und die personenbezogene Wirkmächtigkeit der Technik im Kontext des Spiels bedeutend höher als in sonstigen Alltags- und Arbeitskontexten. Es gilt deshalb, Kategorien zu finden, um der Technik für das Spiel gerecht zu werden. Ziel des Buches ist es, inhaltliche und methodologische Grundlagen für die Aufarbeitung des Themenfeldes ›Spiel mit Technik‹ zu formulieren. Als Kernbereiche werden der Sport, der Jahrmarktsbesuch und das Spiel mit Technischem Spielzeug definiert. Anhand zentraler Beispiele aus sehr verschiedenen Bereichen – dem sportlichen Rudern, dem Schwimmen, der Fahrt auf Thrill rides und in kleinen, frei lenkbaren Jahrmarktsfahrzeugen, sowie dem Spiel mit Modelleisenbahnen – wird die Tragfähigkeit der eingeführten Kategorien nachgewiesen.

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Für die Darstellung wurden Archivalien aus verschiedenen Institutionen ausgewertet, denen ich für ihre Hilfe danken möchte: dem Bildarchiv des Bundesarchivs, dem Historischen Archiv des Deutsches Technikmuseum Berlin, dem Markt- und Schaustellermuseum in Essen, dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg, dem Archiv des Wienmuseums (des Historischen Museums der Stadt Wien), der Plakatsammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek sowie dem Privatarchiv ehemaliger Mitarbeiter des VEB Yachtwerft, Berlin. In das Buch sind frühere Publikationen eingegangen. Im Zuge meiner Arbeit wurde Technik und Spiel zu einem Forschungsgebiet des UNESCO-basierten International Committee for the History of Technology (ICOHTEC). Darüber hinaus verdankt das Werk seine Entstehung auch all jenen, die mir mit Informationen, Hinweisen und Kritik zur Seite gestanden haben – Ruderer, Badefachleute, Schausteller und Modellbahnenthusiasten ebenso wie Kolleginnen und Kollegen aus Universitäten, Museen und Archiven. Sie alle zu nennen wäre nicht möglich; so sei ihnen an dieser Stelle ganz umfassend Dank gesagt. Besonders danken möchte ich Brigitte Aust, Robert Kinnl, Hartmut Knittel, Karl-Eugen Kurrer, Jörg Schmalfuß und Andrea Stadler sowie insbesondere Hans-Joachim Braun und Martina Heßler, an deren Lehrstuhl für Neuere Sozial-, Wirtschafts- und Technikgeschichte der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg das vorliegende Buch im Wesentlichen entstand und die diesen Prozess fruchtbar begleitet haben. Ganz großer Dank meiner Frau Claudia, unserer Tochter Johanna und meinen Eltern, denen ich dieses Buch widme. Hamburg, Dortmund 2015

Stefan Poser

A. Zugang zum Thema I. H istorischer Z ugang Technik und Spiel verbindet, dass sie elementare Funktionen für das menschliche Leben haben. Beide beeinflussten die kulturelle und historische Entwicklung tiefgreifend. Im Laufe der Industrialisierung wurde das Spiel analog zu anderen Lebensbereichen zunehmend technisiert. Die Nutzung und Darstellung von Technik eröffnete einerseits neue Spielmöglichkeiten und vergrößerte damit insbesondere die Zahl von Spielsujets beträchtlich, andererseits präformierte sie das Spielen. Diese Entwicklung scheint unter wechselnden soziotechnischen Konstellationen bis in die Gegenwart anzuhalten. Im Gegensatz zu klassischen Spielen wie Fangen oder Versteck, die sich nur geringfügig verändern, entwickelte sich das neue technisierte Spiel zu einem Bereich des Wandels, der Modernisierungsprozesse einzelner Zeitabschnitte ›spiegelt‹; Spiel, zumal technisiertes Spiel, hat also Geschichte. Dies macht technisierte Spiele nicht nur als Ort sondern auch als Abbild von Technisierungsprozessen interessant. Insofern liegen Untersuchungen des Spiels seit der Industrialisierung unter Einbeziehung der Technik auf der Hand. Um so verwunderlicher ist es, dass Wechselwirkungen zwischen Technik und Spiel erst in den letzten Jahren in das Blickfeld der wissenschaftlichen Forschung gelangt sind. Bezüge von Technik und Spiel sollen anhand des Sports, des Jahrmarktbesuchs und des Spiels mit Technischem Spielzeug untersucht werden. Im Laufe des 20. Jahrhunderts waren zwei zentrale Begriffe dieses Feldes Bedeutungswandeln unterzogen: Sport, der ursprünglich als Teilbereich des Spiels gesehen wurde, erlangte vor dem Hintergrund einer zunehmenden Professionalisierung Bedeutung als eigenständiges Betätigungsfeld, wobei sich infolge des weiterbestehenden Spielcharakters des Sports eine Unschärfe in der Abgrenzung von Sport und Spiel herausbildete. Das Spiel selbst, das der Industriegesellschaft ähnlich der Freizeit als Gegenbegriff zur Arbeit galt, näherte sich bei zunehmender gesellschaftlicher Bedeutung gerade in den letzten Jahrzehnten der Arbeit an, sodass auch hier ein weiteres Unschärfephänomen entstand. Folglich ist es ein Anliegen der vorliegenden Untersuchung, diese Unschärfen zu analysieren, um

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die einzelnen Bereiche von Sport und Spiel für eine vergleichende Analyse nutzbar zu machen. Für Spielzwecke hat Technik – so die grundlegende These dieser Arbeit – andere, weiterreichende Aufgaben als im Kontext von Arbeit und Alltag, wo sie in der Praxis funktionieren muss. Diese Aufgaben sind Spezialtechnologien für das Spiel von Anfang an als Konstruktionsziele eingeschrieben. Zwar ist die Anforderung des Funktionierens bei der Techniknutzung zu Spielzwecken ebenso gegeben – so bedeuten eine Autopanne und ein technischer Defekt an einem Skooterwagen gleichermaßen einen Funktionsausfall, eine nicht erwünschte Mobilitätseinschränkung oder -unterbrechung. Aber zum praktischen Funktionieren von Technik tritt beim Spiel eine zweite Aufgabenebene, die von zentraler Bedeutung ist: in unterschiedlicher Weise und Intensität sollen mittels Technik Emotionen geweckt werden. Damit wird ein Bereich originär menschlichen Handels an Technik delegiert. Folglich sind die Eindringtiefe in das Leben der Spielenden und die personenbezogene Wirkmächtigkeit der Technik im Kontext des Spiels bedeutend höher als in sonstigen Alltags- und Arbeitskontexten. Hieraus ergeben sich andere, spielspezifische Anforderungen an und Charakteristika von Technik, die im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen werden. Das Feld des technisierten Spiels ist ausgesprochen weit und heterogen, so dass eine Konzentration auf besonders belangvolle Beispiele für das Thema unumgänglich ist. Fallbeispiele der vorliegenden Untersuchung von Technik und Spiel sind das Rudern mit Sportbooten, das Schwimmen und Baden, die ›Reise‹ mit Jahrmarktsfahrzeugen für individuelles Fahren und mit Thrill rides, sowie das Spiel mit der Modelleisenbahn. Rudern kann aufgrund des mechanischen, maschinenähnlichen Bewegungsablaufs als die Sportart gesehen werden, die die Industrialisierung und deren Maschinen am besten verkörpert. Die Modellbahn erscheint als Darstellung eines bedeutenden Verkehrssystems der Industrialisierung und aufgrund der großen Bandbreite von Spielmöglichkeiten, die sie bietet, sozusagen das Technische Spielzeug der Wahl. Die Ausprägung des Jahrmarkts in seiner bis heute üblichen Form und der Wiedereinzug des Badens und Schwimmens in hierfür errichtete Gebäude nebst ihren technischen Systemen sind eng mit Urbanisierung und Industrialisierung verbunden. Gerade die Achterbahn entwickelte sich nicht nur zu der Attraktion, die den Jahrmarkt verkörpert, sondern wird zunehmend als Metapher für das moderne Leben genutzt. Ungeachtet dessen handelt es sich bei allen Beispielen – beim Schwimmen gilt dies für das sportliche Schwimmen, während das technikunterstützte Baden/Planschen am Übergang zur Freizeitgesellschaft ein Neuansatz war, der bis heute trägt – um solche Aktivitäten, die für die Industrialisierung bedeutsam waren, nun aber von moderneren Spielformen überlagert werden. Der Fokus der Arbeit richtet sich damit auf eine Form des technisierten Spiels, die charakteristisch für das 19. und 20. Jahrhundert ist. Ungeachtet dieser periodischen Eingrenzung eignet sich das hier erarbeitete Instrumentarium auch für eine ausführlichere Aufarbeitung der

A. Zugang zum Thema

im Zuge der Freizeitgesellschaft aufkommenden neuen Spielformen – stellvertretend seien die ›postmodernen‹1 Sportarten und die Computerspiele genannt. Das Spiel gibt im Rahmen des Spielsettings einen Freiraum für den Umgang mit Technik. So ermöglicht es ein entspannendes, nicht unbedingt innovatives Spielen ebenso wie das Durchspielen neuer Lösungen im Sinne von Simulationen, aber auch die Entwicklung von Ideen, die in anderen Kontexten umgesetzt werden können. Die mit dem Spielen verbundenen Formen von Kreativität2 können sich also auch auf technische Lösungen oder Verfahrensweisen im Umgang mit Technik außerhalb des Spielkontextes auswirken. Bei einer Reihe von Technischem Spielzeug und Spielangeboten auf dem Jahrmarkt lässt sich zeigen, wie sie die Aneignung von Technikkompetenz ermöglichen, gegebenenfalls sogar Technikbegeisterung schüren. Im Sport betrifft diese Technikkompetenz den Umgang mit dem technischen Gegenstand; es handelt sich also um körper- und technikbezogenes Funktionswissen, während die Kompetenzen, deren Erwerb auf dem Jahrmarkt oder beim Spiel mit Technischem Spielzeug angeregt wird, auch genereller Natur sein können. Jahrmarktsgeschäfte wie Thrill rides verlangen ein Sich-der-Technik-Aussetzen und bieten dafür einen direkten Kontakt von Körper und Sinnen mit Technik, der neue Körperempfindungen ermöglicht. Im Fall des Sports kann dies bis zu einem symbiotischen Verschmelzen der Sportler mit leibnaher Technik führen, ein Phänomen im Umgang mit Technik, das der amerikanische Technikphilosoph Don Ihde als technics embodied beschreibt.3 Sport und Jahrmarkt, in einigen Fällen auch das Spiel mit Technischem Spielzeug, werden zu Testfeldern neuer Technologien, die hier eine Konsolidierungsphase vor oder während ihrer allgemeinen Markteinführung durchlaufen können und deren Distribution gefördert wird. Gleichzeitig bietet das Spiel mit Technik 1 | Der aus der Kunst stammende Begriff ›Postmoderne‹ ist inzwischen zwar in Soziologie und Philosophie etabliert, aber aus historischer Perspektive etwas bedenkenbehaftet, weil seine Konturierung noch unklar ist und zur Zeit offen bleiben muss, ob er zu einem Epochenbegriff wird. Im Kontext dieser Arbeit dient er zur Kennzeichnung einer Vielzahl neuer Sportarten, die seit den frühen 1970er Jahren aufkamen, sowie einer Veränderung von Arbeitsverhältnissen seit etwa Mitte der 1980er Jahre. Die Diversifizierung beider Tätigkeitsfelder wird durch die Begriffswahl verdeutlicht. Aus Perspektive der Geschichstwissenschaften siehe beispielsweise D. Langewiesche, »Postmoderne« als Ende der »Moderne«? Überlegungen eines Historikers in einem interdisziplinären Gespräch. In: L. Richter, W. Pyta (Hg.), Gestaltungskraft des Politischen. Festschrift für Eberhard Kolb. = Historische Forschungen, 63. Berlin 1998, S. 331-347. 2 | Zu verschiedenen Formen von Kreativität siehe R. K. Sawyer, Explaining Creativity. The Science of Human Innovation. 2. Aufl., Oxford, New York 2012. Sawyer geht auch auf Kreativität beim Kinderspiel ein; siehe ebenda, S. 71ff. Siehe demnächst: H.-J. Braun (Hg.), Creativity: Technology and the Arts. Frankfurt a.M. 2016 (im Druck). 3 | D. Ihde, Technology and the Lifeworld. From garden to earth. Bloomington u.a. 1990, S. 72ff.

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zumindest für einige Zeit einen Schutzraum für veraltete Technologien, die je nach Spiel und Technik weiterentwickelt oder im Fall einzelner Artefakte auch liebevoll zu Tode gepflegt werden – so bei historischen Flug- und Fahrzeugen oder Museumsschiffen. Weite Bereiche des Spiels waren und sind von beachtlicher wirtschaftlicher Relevanz: Schon im 18. Jahrhundert ermöglichte die Etablierung von Sportwetten in England, erhebliche Geldbeträge mit dem Sport zu verdienen. Gerade für den Adel war dies eine Möglichkeit der gesellschaftlich akzeptierten Risikokapitalanlage, weil Sport als Spiel galt und damit dem Anspruch genügte, das eigene Einkommen nicht durch Arbeit erlangen zu müssen.4 Auch das Angebot sportrelevanter Gegenstände oder sportgeeigneter Tiere – hier insbesondere die Zucht von Rennpferden – eröffnete einen neuen, wachsenden Markt. Der Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Stadionbau bedeutete einerseits erhebliche Investitionen und andererseits wegen steigender Besucherzahlen von Sportveranstaltungen erhebliche Mehreinnahmen. Zur ersten neuzeitlichen Olympiade 1896 traten Sportler aus neun verschiedenen Disziplinen an. Sowohl die Zahl der Zuschauer als auch die Zahl der praktizierten Sportarten sollte im Laufe des Jahrhunderts beträchtlich wachsen: Wurden in den 1960er Jahren bereits dreißig Sportarten praktiziert, so hat sich ihre Zahl bis heute mehr als vervierfacht. Entsprechend wuchs die ökonomische Bedeutung des Sports, und die Ausgaben erlangten ein beachtliches Niveau. Schon in den frühen 1970er Jahren gaben die Bundesbürger beispielsweise jährlich 36 Mrd. DM für Sport, Freizeit und Tourismus aus.5 Die amerikanische Sportindustrie gehörte um 2000 zu den zehn größten Branchen des Landes, in Deutschland basieren etwa zwei Prozent des Bruttosozialprodukts auf dem Sport, in Österreich gemäß verschiedenen Erhebungsgrundlagen zwischen drei und sieben und in der Schweiz etwa vier Prozent.6 Ähnliches gilt für die Spielwarenindustrie, die schon um 1900 bei einem Anteil von 90% am Welthandel Spielzeug im Wert von 55 Mio. Goldmark aus

4 | Chr. Eisenberg, »English sports« und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800 – 1939. Paderborn u.a. 1999, S. 30f. 5 | Stellungnahme des Präsidenten [der Deutschen Gesellschaft für Badewesen] zur allgemeinen Situation des Sport-, Bäder- und Freizeitbaues in den kommenden Jahren. In: Archiv des Badewesens, 27 (1974), S. 236. Für 1990 werden für die Bundesrepublik (alte Bundesländer) 13.8 Mrd. DM allein für Sportgeräte ausgewiesen, 32 Mrd. für den gesamten Freizeitsport unter Einbeziehung des Sporttourismus (während sich die Angaben aus den frühen 1970er Jahren auf Sport und Tourismus im Allgemeinen beziehen). Zu 1990 siehe K. Heinemann (unter Mitarbeit von M. Schubert und Th. Schröder), Die Technologisierung des Sports. Eine sozio-ökonomische Analyse. = Schriftenreihe des Bundesinstituts für Sportwissenschaften, 108. Schondorf 2001, S. 19. 6 | Siehe D. Müller, Innovationen in der Sportindustrie. Diss. oec. Zürich 2008, S. 1, S. 22.

A. Zugang zum Thema

Deutschland exportierte; dies entsprach etwa dem Export von Lokomotiven.7 Erheblichen Anteil daran hatte die fabrikmäßige Serienproduktion von Blechspielwaren. In den 1960er Jahren begann eine Verlagerung der Spielzeugproduktion in den Fernen Osten, wonach der Produktionsumfang mit zunehmendem Wohlstand in der westlichen Welt abermals beträchtlich stieg. Heute ist China, das vergleichbar dem Deutschen Reich um 1900 über ein ähnlich geringes Lohnniveau bei gutem Ausbildungsstand verfügt, Hauptspielzeugproduzent. Nicht nur die Produktion fertigen Spielzeugs erweist sich als ökonomisch bedeutsam, sondern auch die Belieferung von Bastlern, deren Tätigkeitsspektrum vom Basteln an Modellbahnen, Radios oder Computern bis zum Tunen von Autos reicht. Zahlreiche Spezialfirmen entstanden.8 Der Jahrmarkt war – was die Schausteller anbelangt – in Deutschland und Österreich primär durch kleinere Familienunternehmen geprägt. Dennoch entwickelten sich auch hier einzelne große Firmen wie das Unternehmen von Hugo Haase, der sich vor dem Ersten Weltkrieg selbständig machte und in den 1920er Jahren ein Schaustellungsunternehmen auf baute, das zahlreiche Fahrgeschäfte an verschiedenen Festplätzen betrieb und über eine eigene Fabrik verfügte. Unternehmen dieser Größe betrieben 15 bis 20 Geschäfte auf verschiedenen Festplätzen und beschäftigten 200 bis 300 Mitarbeiter.9 Insgesamt waren in den frühen 1930er Jahren 200.000 Schausteller in Deutschland tätig; jährlich fanden 10.000 Volksfeste statt, die von etwa 80 Mio. Menschen pro Saison besucht wurden, wobei der Umsatz bei 200 Mio. Mark lag.10 Mit der Gründung von stationären Vergnügungsparks, die einem Unternehmen gehörten, ergaben sich beträchtliche 7 | Wirtschaftsdaten von 1902; H. Lindner, Technisches Spielzeug. Pädagogische Vorstellungen und technische Realisierungen. In: Humanismus und Technik, 38. Jahrbuch [der Freunde der Technischen Universität Berlin] 1994. Berlin 1995, S. 35-44, S. 41. Siehe auch: Geschichte der Spielwarenproduktion. Die Berliner Sammler Hans-Jürgen Thiedig und Claus-Peter Jörger im Interview mit Stefan Poser. In: St. Poser, J. Hoppe, B. Lüke (Hg.), Spiel mit Technik. Katalog zur Ausstellung im Deutschen Technikmuseum Berlin. Leipzig 2006, S. 194-199, S. 195. Schon vor dem Ersten Weltkrieg ging der sehr hohe Weltmarktanteil Deutschlands zurück; der Krieg begünstigte diese Entwicklung. 8 | Siehe beispielsweise R. Maines, Hedonizing Technologies. Paths to Pleasure in Hobbies and Leisure. Baltimore 2009, S. 124f. D. N. Lucsko, The Business of Speed. The Hot Rod Industry in America, 1915 – 1990. Baltimore 2008. Sowie: Do It Yourself. Die Mitmachrevolution. = Katalog der Museumsstiftung Post und Telekommunikation, 29. Mainz 2011. 9 | Siehe D. Hahn, Hugo Haase – Karussellkönig aus Winsen. = Schriften des Freilichtmuseums am Kiekeberg, 57. Ehestorf 2007. 10 | A. Lehmann, Zwischen Schaubuden und Karussells. Ein Spaziergang über Jahrmärkte und Volksfeste. Frankfurt a.M. 1952, S. 14. Der Autor spricht von einer »nicht zu unterschätzenden [wirtschaftlichen] Bedeutung des Wandergewerbes«. Er verweist auf Statistiken aus den 1930er Jahren und Angaben des Hauptgeschäftsführers des Deutschen Schaustellerverbands Walter Oeser von 1950, die sich auf die Vorkriegszeit beziehen.

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Verdienstchancen;11 am deutlichsten wird dies im Fall der seit den 1950er Jahren errichteten Disney Lands, deren Konzept inzwischen weltweit vermarktet worden ist. Während die Schausteller im ausgehenden 19. Jahrhundert meist kleine Familienunternehmen blieben, etablierten sich Karussellfabriken, die Jahrmarktsequipment per Katalog anboten und zunehmend international agierten.12 Der hier skizzierte Hintergrund macht deutlich, dass der Themenkreis Technik und Spiel – was im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht weiter verfolgt werden soll – auch für wirtschaftshistorische Untersuchungen interessant ist. Gleichermaßen bietet das Spiel mit Technik Ansatzpunkte zur Genderforschung. Dieser Themenkomplex, zu dem schon einige Arbeiten vorliegen, wurde zugunsten einer stringenten Darstellung ebenfalls nicht weiter verfolgt.13

1. Verortung in den Geschichtswissenschaften Zusammenhänge zwischen Technik und Spiel stoßen erst in den letzten zehn Jahren auf verstärktes Interesse, obwohl für beide Themenfelder jeweils eigene Forschungstraditionen bestehen, die bis in das 18. Jahrhundert zurückreichen. So im Falle des Spiels in der Philosophie und Pädagogik14 und im Falle der Technik in der Allgemeinen Technologie, aus der sich verschiedene technische Disziplinen entwickelten.15 Auf Interesse in den Geisteswissenschaften stieß Technik – mit wenigen Ausnahmen – erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und blieb hier noch weitere hundert Jahre, wenn nicht bis heute, ein Randthema.16 Wäh11 | Vergnügungsparks wurden in Europa auf Basis verschiedener wirtschaftlicher Strukturen betrieben: Sie bestanden und bestehen sowohl als Orte, an denen mehrere kleinere Unternehmen Geschäfte betreiben (Wiener Prater) als auch als Angebot eines größeren Unternehmens (Tivoli Kopenhagen). In den USA, wo im Fall von Parks die zweite Form der Wirtschaftsstruktur dominiert, wurden auch transportable Vergnügungseinrichtungen, die Jahrmärkten entsprechen, üblicherweise von einem Unternehmen betrieben; Gespräch mit Brigitte Aust, Markt- und Schaustellermuseum, Essen am 3.8.2013. 12 | A. Stadler, Karussellfabriken um 1900. In: Poser/Hoppe/Lüke, S. 200-206, S. 200ff. A. P. Mohun, Amusement Parks for the World: The Export of American Technology and Know-How, 1900-1939. In: H.-J. Braun, St. Poser (guest-eds.), Playing with Technology: Sports and Leisure. Special issue, ICON, 19 (2013), S. 100-112. 13 | Siehe hierzu den Forschungsüberblick dieser Darstellung sowie das Kapitel E.II.3, Weiterführende Fragestellungen. 14 | Siehe beispielsweise Rousseau, Emile (1762). 15 | Verwiesen sei auf Johann Beckmanns »Beyträge zur Geschichte der Erfindungen« (1780ff.), die als erstes technikhistorisches Werk gelten. 16 | Stellvertretend für die neuerliche Thematisierung von Technik in der Philosohie im ausgehenden 19. Jahrhundert sei E. Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten. Braunschweig 1877, genannt. Einen Überblick über technikphilosophische Werke geben Chr. Hubig, A. Huning, G.

A. Zugang zum Thema

rend die Auseinandersetzung mit Technik im Sinne der zwei Kulturen (Snow) bei den meisten Geisteswissenschaftlern auf wenig Gegenliebe stieß, war Spiel von Erwachsenen in einer Gesellschaft, die sich durch Arbeit definierte, mit einer negativen Konnotation verbunden und wurde auch in der Wissenschaft ungeachtet der Forschungstradition zum Thema Spiel gelegentlich im Sinne eines ›wir spielen hier nicht‹ zur Abgrenzung genutzt.17 Wie stark diese Vorstellung in der Gesellschaft verankert war, macht ein Beispiel passionierter Modellbahnfans aus der Mitte der 1970er Jahre deutlich: Obwohl oder gerade weil man bei ihnen von einer spielerisch vergnüglichen Beschäftigung ausgehen muss, heißt es in einer Modellbahnzeitschrift: »Für eine ganze Reihe Modellbahnfreunde ist die Entstehungsgeschichte des Vorbildes ein wichtiger Teil ihres Hobbys. So wird einmal mehr bewiesen, dass die Modelleisenbahn eben nicht bloß ein Spielzeug ist«.18 Die gesellschaftliche Aufwertung des Spiels dürfte eng mit der Umorientierung zur Freizeitgesellschaft und seiner damit einhergehenden wachsenden wirtschaftlichen Bedeutung zusammenhängen; in den Geisteswissenschaften korrespondierte hierzu eine Erweiterung der Themenfelder. Dies sei am Beispiel der Technikgeschichte verdeutlicht: Als in den späten 1950er und 1960er Jahren die Umorientierung der Technikhistoriographie von einer ingenieurwissenschaftlichen Geschichtsschreibung zu einer historischen Teildisziplin begann und Bezüge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte in den Vordergrund traten, galt das Interesse primär dem Wechselverhältnis von Technik und Arbeit. Etwa zwanzig Jahre später wurde das Feld um die Umwelt- sowie die Konsumgeschichte erweitert. Mit der Thematisierung von Technik im Alltag war nun erstmals ein Rahmen geschaffen, innerhalb dessen Technik und Spiel hätten untersucht werden Ropohl (Hg.), Nachdenken über Technik. Die Klassiker der Technikphilosophie und neuere Entwicklungen. 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Darmstädter Ausgabe. Berlin 2013. 17 | So mahnt beispielsweise ein Soziologe aufgrund einer Besucherbefragung in Museen an, bei der Präsentation auf »intellektualistische Spielereien« zugunsten klarer Aussagen zu verzichten, zitiert nach St. Poser, Technik, Spiel und Technikmuseen. In: Poser/Hoppe/ Lüke, S. 212-219, S. 216. Zur Orientierung der Gesellschaft auf Arbeit siehe beispielsweise J. Habermas, Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit. In: H. Giesecke (Hg.), Freizeit und Konsumerziehung. 2. Aufl., Göttingen 1971, S. 105-122, S. 105; Habermas bezieht sich hier auf Freizeit und Arbeit. 18 | G. Feuereissen, In der Vergangenheit geblättert. In: Der Modelleisenbahner. Fachzeitschrift für Modelleisenbahnbau und alle Freunde der Eisenbahn, 24 (1975), S. 95 (Herv. Poser). Ähnliche Bewertungen finden sich – so Aaron Alcorn – im Kontext von Modellflugzeugen, die aus Sicht amerikanischer Zeitgenossen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur Spielzeug seien, sondern Vehikel des Trainings für die industrielle Arbeitswelt. A. L. Alcorn, Flying into Modernity: model airplanes, consumer culture, and the making of modern boyhood in the early twentieth century. In: History and Technology, 25 (2009), S. 115-146, S. 116.

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können – was aber noch nicht geschah. Hingegen finden sich schon in 1960er Jahren frühe konzeptionelle Ansätze einer Verbindung von Technik und Spiel in den entstehenden Science Centern: das spielerische Erproben wurde (und wird) hier zur Vermittlung von Wissen über Naturwissenschaft und Technik instrumentalisiert.19 Historische Ausstellungen im Themenfeld Technik und Spiel sind hingegen erst eine relativ junges Phänomen.20 Nach Einschätzung von Rachel Maines assoziieren zahlreiche Geisteswissenschaftler den Begriff technology nach wie vor mit Produktionsarbeit von ökonomischem Wert.21 Entsprechend bedurfte es in der wissenschaftlichen Technikhistoriographie selbst noch weiterer Veränderungen, bis das Thema Spiel an Relevanz gewinnen konnte. Im Zuge der Deindustrialisierung hatte die Technikgeschichte in ihrer Orientierung auf Technik und Arbeit zunächst wachsende gesellschaftliche Bedeutung erlangt, weil sie sich mit der Technik, den Bauten und den Arbeitsverhältnissen auseinandersetzte, die nun langsam verschwanden, bzw. bei denen sich die Frage von Erhalt und Musealisierung stellte.22 Mit fortschreitender Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft wurde dieses gesellschaftliche Interesse hingegen rückläufig. Vor diesem Hintergrund öffnete sich die Technikgeschichte sowohl für die Geschichte zeitgenössisch moderner Technik wie der Informations-, Bio- und Gentechnik sowie der Medizintechnik als auch neuen Themenfeldern, bei denen Wechselwirkungen von Technik und Gesellschaft im Vordergrund stehen. Die sich daraus ergebenden Themen sind vielfältig und harmonieren mit dem Ansatz, Technikgeschichte als Kulturgeschichte zu betreiben.23 19 | Erste Ansätze mögen bereits die Druckknopfexperimente der Berliner Urania Ende des 19. Jahrhunderts sein; das erste Science Center wurde 1969 in den USA eröffnet; in Deutschland entstanden Science Center seit den 1980er Jahren. Siehe Chr. Neuert, M. Budde, Spiel mit Naturwissenschaft und Technik in Science Centern. In: Poser/Hoppe/ Lüke, S. 220-227, S. 220f. Sowie: Poser, Technik, Spiel und Technikmuseen. In: Poser/ Hoppe/Lüke, S. 216. Zum Gründungskonzept der Urania siehe G. Wolfschmidt, Popularisierung der Astronomie: Instrumente, Sternwarten, Planetarien. In: G. Wolfschmidt (Hg.): Popularisierung der Naturwissenschaften. Berlin, Diepholz 2002, S. 96-119, S. 107ff. 20 | Poser, Technik, Spiel und Technikmuseen. In: Poser/Hoppe/Lüke, S. 212ff. 21 | Maines, Hedonizing Technologies, S. 7. 22 | Dies schlug sich in einer neuen Phase der Gründung Technischer Museen nieder, im Zuge derer beispielsweise das Museum für Verkehr und Technik (heute Deutsches Technikmuseum) in Berlin und das Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim gegründet wurden. Zur Bedeutung der Musealisierung für moderne Gesellschaften siehe H. Lübbe, Der Lebenssinn der Industriegesellschaft. Über die moralische Verfassung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Berlin u.a. 1990, S. 107ff. 23 | Richtungweisend für die neue Kulturgeschichte: U. Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. = suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1523. Frankfurt a.M. 2001. Zur Technikgeschichtsschreibung siehe: M. Hård, A. Jamison, Hub-

A. Zugang zum Thema

Die Kulturgeschichte der Technik bietet einen hinreichend großen Rahmen für das Themenfeld Technik und Spiel, weil sie ermöglicht, sowohl die Entwicklung und Produktion von technisierten Spielen zu untersuchen als auch den Umgang der Konsumenten mit ihnen. Zudem wird in der modernen Kulturgeschichte der Technik von einem Verwoben-Sein technischer und gesellschaftlicher Entwicklungen ausgegangen, sodass es zum Ziel technikhistorischer Arbeiten wird, »die technische Vermitteltheit der menschlichen Existenz in ihren je spezifischen historischen Ausformung aufzuzeigen und die Gewordenheit der heutigen technischen Kultur zu erklären«.24 In diesem Kontext soll die Bedeutung des Spiels untersucht werden.

2. Zur Vorgehensweise Zur Untersuchung der Wechselbeziehungen von Technik und Spiel werden im Rahmen dieser technikhistorischen Arbeit der Sport, das Jahrmarktsvergnügen und das Spiel mit (Technischem) Spielzeug gemeinsam als ›Spiel‹ verortet. Dies mag zunächst kontra-intuitiv anmuten, denn strukturelle Ähnlichkeiten weisen auf den ersten Blick nur die Entwicklung des Jahrmarktsvergnügens und des Umgangs mit Spielzeug auf. Eine Einbeziehung des Sports erscheint, anders als noch in der Entstehungszeit von Johan Huizingas bekanntem Werk Homo ludens,25 aus heutiger Perspektive zunächst nicht unbedingt naheliegend – insbesondere in Anbetracht des beruflich betriebenen Leistungssports. Vor diesem Hintergrund erfolgt als erster Zugang zum Thema eine begriffliche Untersuchung von ›Spiel‹ und ›Sport‹ in ihrem historischen Wandel. Dabei gilt es herauszuarbeiten, in wie weit die genannten Bereiche vergleichbar sind. Tatsächlich gestatten auch moderne, breit angelegte Definitionen des Spiels, die seit den 1970er Jahren formuliert wurden,26 eine Verortung des Sports als Spiel. Diese Definitionen erlauben, den Sport, das Jahrmarktsvergnügen und das Spiel mit Spielzeug als Kernbereiche des technisierten Spiels zu sehen und zu analysieren. In ihrem Spielbegriff orientiert sich die vorliegende Darstellung an Ansätzen Johan Huizingas, Roger Caillois’ und Brian Sutton-Smith’ zum Spiel, sowie Mihaly Csikszentmihalyis zum flow-Erlebnis.

ris and Hybrids. A Cultural History of Technology and Science. New York 2005. Sowie M. Heßler, Kulturgeschichte der Technik. Frankfurt, New York 2012. 24 | Heßler, Kulturgeschichte, S. 10. 25 | J. Huizinga, Homo ludens. Proeve eener bepaling van het spel-element der cultuur. Haarlem 1938/1958; engl.: Homo ludens. A study of the play-element in culture. London 1949; dt: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek 1956. Im Folgenden wird die deutsche 18. Auflage, Reinbek 2001, zitiert. 26 | Siehe beispielsweise E.-M. Avedon, B. Sutton-Smith, Introduction. In: Dies. (Hg.), The Study of Games. New York u.a. 1971, S. 1-8, S. 7.

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Der spezifische methodische Ansatz dieser Arbeit besteht darin, zur Analyse verschiedener Spielformen Caillois’ Kategorisierung von Spielen als Leitfaden zu nutzen. Der Autor unterscheidet zwischen dem Wettkampf agon, dem Glücksspiel alea, dem Rausch ilinx und dem Rollenspiel mimicry.27 Für diese Arbeit ist seine Beschreibung des Rausches ilinx von zentraler Bedeutung; sie wird im Zuge der Darstellung weiterentwickelt. Caillois’ Typisierung ist geeignet, die spezifischen Aufgaben von Technik für Spielzwecke zu beleuchten, weil diese vier Kategorien alle die Besonderheit der Technik im Zusammenhang mit Spiel mit zum Ausdruck bringen, auf Emotionen abzuzielen. Ihre hier vorgenommene Einführung in die Technikgeschichte ermöglicht zudem, technische Entwicklungen in ihrer Bedeutung für verschiedene Spielkategorien zu untersuchen und deren Charakteristika herauszuarbeiten. So gestattet sie, ein neues Bild von Technik als Mittel der Schaffung gedanklicher Freiräume, aber auch der gezielten Beeinflussung von Emotionen zu zeichnen. Um das Themenfeld des Spiels mit Technik nicht nur begrifflich abzustecken, sondern auch inhaltlich zu vertiefen, basiert der Hauptteil der Arbeit auf der Unterscheidung verschiedener Ausformungen des technisierten Spiels, die anhand von charakteristischen Fallbeispielen und deren Vergleich beleuchtet werden. Dazu dienen sowohl Artefakte als auch Sachsysteme des Spiels; der Umgang mit ihnen wird auf spielerisches und technisches Handeln hin untersucht. Diesem Ansatz liegt ein primär durch Günter Ropohl geprägtes Verständnis von Technik als Begriff für Artefakte, Sachsysteme und Handlungsweisen zugrunde. Ausgehend von einem Struktur-Akteurs-Modell28 historischer Prozesse werden die Beispiele jeweils unter drei Hauptfragestellungen untersucht: 1. Wie verlief die Entwicklung der zu Spielzwecken genutzten Technik, welche Wissens- und Technologietransfers fanden statt und in wie weit sind diese Entwicklungen spielspezifisch? 2. Welche Spieltypen ermöglichte die jeweilige Technik? 3. Wie wurde die Technik für das Spiel durch die involvierten Akteure eingeschätzt? Auf der methodischen Entscheidung für eine möglichst breit angelegte Untersuchung basiert auch die Wahl des Betrachtungszeitraums dieser Schrift, der zwei Jahrhunderte umfasst: Die Auswahl von Beispielen erfolgte unter der Prämisse, zu verallgemeinerbaren Ergebnissen für die Entwicklung des technisierten Spiels seit Beginn der Industrialisierung gelangen zu können. Ausschlaggebend dafür war die Überlegung, dass die zunehmende Bedeutung der Technik im 19. und 27 | R. Caillois, Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige (1958), dt: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Stuttgart 1960, S. 18ff. 28 | W. König, Technikgeschichte. Eine Einführung in ihre Konzepte und Forschungsergebnisse. Stuttgart 2009, S. 97ff.

A. Zugang zum Thema

20. Jahrhundert nicht nur im Alltag und in der Arbeitswelt, sondern auch im Spiel sichtbar werden müsse. Eckpunkte markieren das sportliche Rudern, dessen technische Entwicklung etwa in den 1820er Jahren begann und hauptsächlich im 19. Jahrhundert erfolgte, und das Spiel mit Modelleisenbahnen, dessen Phase größter Popularität in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs liegt. Die gesamte Zeitspanne seit Beginn der Industrialisierung wird durch die Fallbeispiele der spielerischen Nutzung von Badeanstalten und Thrill rides abgedeckt: Beide sind durch mehrfache Veränderungen über einen Zeitraum von etwa 180 bis 200 Jahren gekennzeichnet. Die Geschichte von Selbstfahrgeschäften auf dem Jahrmarkt setzte in den 1920er Jahren ein und reicht ebenfalls bis in die Gegenwart. Ohne sich direkt daran zu orientieren, entspricht das hier angewandte Auswahlverfahren, die Fallstudien im Zuge des Forschungsprozesses hinsichtlich ihrer Vergleichbarkeit und der Möglichkeit einer Verallgemeinerung festzulegen, in seinen Grundzügen der in den Sozialwissenschaften entwickelten Grounded Theory, die dort zur systematischen Auswertung umfassend angelegter Einzelgespräche, sogenannter qualitativer Interviews entwickelt wurde. Sie ist der Rahmen eines Theoretical Sampling, das einer ›theoretischen Sättigung‹ des Befundes dient: Fragenkomplexe werden aufgrund von Vorwissen und der Auswertung der ersten Interviews beziehungsweise Recherchen durch geeignete Fallbeispiele so weitgehend ausgeleuchtet, dass sich neue Beispiele in der Regel in die Strukturen der im Zuge einer Untersuchung entwickelten Erklärungsmodelle einfügen.29 Die vorliegende Untersuchung des Spiels mit und mittels Technik bezieht sich auf das Spiel, die Akteure und die Technik, die dazu angeboten und genutzt wird. Folglich ergeben sich zwei Haupt-Akteursgruppen, die der Produzenten und Anbieter sowie die der Spielenden als Nutzer und Konsumenten. Ihr Handeln ist durch vorhandene, zeitspezifische Strukturen geprägt und wirkt auf sie zurück. Eine Verbindung zwischen diesen beiden Haupt-Akteursgruppen stellt gemäß der hier vertretenen Auffassung die Gruppe der Bastler her, deren Mitglieder zu spielerischen Zwecken selbst Artefakte herstellen.30 Am Beispiel dieser Personengruppe sei deutlich gemacht, dass gängige, in den Geschichtswissenschaften verwendete Strukturierungen mitunter zur Untersuchung des Spiels modifiziert werden müssen: Da Bastler als Endverbraucher Materialien und Produkte für ihre

29 | B. G. Glaser, A. L. Strauss, The Discovery of Grounded Theory. Strategies for qualitative research. New York 1967. Das Buch erschien seither in zahlreichen Ausgaben; zur Anwendung in der Sozialforschung siehe beispielsweise C. Streblow, Schulsozialarbeit und Lebenswelten Jugendlicher. Ein Beitrag zur dokumentarischen Evaluationsforschung. Opladen 2005, S. 71f. 30 | Siehe Y. Takahashi, A Network of Tinkerers: The Advent of Radio and Television Receiver Industry in Japan. In: Technology and Culture, 41 (2000), S. 460-484, S. 484. Sowie A. Curtius, Modellbau – Eine kleine persönliche Betrachtung aus sicherer Entfernung. In: Poser/Hoppe/Lüke, S. 191-193, S. 191.

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Tätigkeit erwerben, lassen sie sich als Konsumenten fassen.31 Diese Einordnung ist für wirtschafts- und sozialhistorische Analysen hilfreich. Sie greift aber nicht, um die spezifischen Formen des Spiels dieser Personengruppe zu analysieren, das detaillierte Recherchen, freiwillige handwerkliche Arbeit sowie das Ausprobieren verschiedener Lösungen miteinander vereint, und dabei auf eine eigene, mitunter spielerische Nutzung des fertigen Produkts ausgerichtet ist. Bastler sind somit Produzenten, die weitgehend außerhalb ökonomischer Bedingungen agieren, und zudem Konsumenten nicht nur von Materialien für ihre Tätigkeit, sondern auch ihrer eigenen Produkte. Sowohl das Produzieren, als auch das Konsumieren dieser Akteursgruppe ist eine spielerische Handlung – oder kann dies zumindest sein. Während über kommerzielle Produzenten und Anbieter technisierter Spiele eine Reihe von direktem Quellenmaterial vorliegt, ist eine historische Annäherung an die Akteursgruppen der Bastler und der Konsumenten schwieriger: Sie muss im Wesentlichen mittelbar durch die Auswertung von Quellengattungen wie Zeitungen, Insider-Publikationen und Memoiren erfolgen. Erst für die jüngste Vergangenheit bieten sich Internetforen als Quellen an: sie ermöglichen in nennenswertem Umfang den Zugang zu Selbstzeugnissen dieser Akteure. Während sich die Nutzung der erstgenannten Quellengattungen durch die gesamte Arbeit zieht, werden letzere zur Untersuchung der Besucherperspektiven auf Freizeitbäder und Thrill rides sowie zur Beschreibung des Selbstverständnisses von Modelleisenbahnern herangezogen. Ähnlich der Analyse von Verhaltensweisen und Einschätzungen der involvierten Akteure, muss auch die Untersuchung von Artefakten und Sachsystemen zum Großteil mittelbar – durch die Auswertung schriftlicher Aufzeichnungen über sie erfolgen. Einige noch in Nutzung befindliche oder in Museumssammlungen erhaltene Sachquellen konnten als Beispiele verschiedener technischer und spielbezogener Entwicklungen direkt ausgewertet werden. Dabei boten sie Ausgangspunkte zur Suche nach vergleichbaren Objekten und schriftlichen Informationen. Insofern lässt sich die Herangehensweise als ›objektnahe‹ Forschung beschreiben.32 Als schriftliches Quellenmaterial werden Briefwechsel und Aufzeichnungen von Verwaltungsbehörden (Archivalien) ebenso genutzt 31 | Siehe R. Maines, ›Stinks and Bangs‹: Amateur Science and Gender in Twentieth-Century Living Spaces. In: Braun/Poser, S. 33-51, S. 35. 32 | Zum wiedererwachenden Interesse der Technikgeschichte an Objekten siehe M. Heßler, Ansätze und Methoden der Technikgeschichtsschreibung (2012), S.1-65, S.2, www.goog le.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&ved=0CCMQFjAA&url=http%3A% 2F%2Fwww.campus.de%2Fshow%2Fprodukt%2FBookProduct%2FdownloadPdf%2F4250. html%3Ft x_saltbookproduct_detail%255Bpdf%255D%3D28%26cHash%3De11a363c 926266b725601c9e48539df1&ei=wDYEVI2jNpKT0QXO_4HYBQ&usg=AFQjCNH2SbPze 4beb4P0wXzMu5SepSxYPg&sig2=zU-z-91ooJbkud5qv_-hHw&bvm=bv.74115972,d.d2k (30.8.2014).

A. Zugang zum Thema

wie Patentschriften und Firmendarstellungen. Unter den Dokumenten zum Erfindungsschutz erwiesen sich ältere amerikanische Patente für den Kontext der Darstellung als besonders ergiebig weil sie meist Erläuterungen zu Nutzungsmöglichkeiten des patentierten Gegenstands enthalten. Zudem wurden Zeitungsartikel, zeitgenössische Fachpublikationen und Selbstzeugnissen in Internetblogs ausgewertet. Exemplarisch ausgewertet wurden die spielbezogenen Sammlungsbestände und Archivalien des Deutschen Technikmuseums in Berlin und des Markt- und Schaustellermuseums in Essen sowie Archivalien des Staatsarchivs Hamburg; hier sind Bestände der Baubehörde in Zusammenhang mit dem Volksfest ›Hamburger Dom‹ zu nennen, sowie Unterlagen des Sportamts zum Rudersport und zum Bäderwesen. Ferner wurden der Nachlass Hans Pemmers im Wienmuseum und spielbezogene Sammlungsobjekte des Technischen Museums Wien herangezogen. Die Arbeit basiert primär auf Quellenmaterial aus Deutschland und Österreich. Dennoch versteht sich die Darstellung nicht als nationale oder binationale Geschichtsschreibung, sondern vielmehr als Ansatz für transnationale Vergleiche, die in einem bisher wenig aufgearbeiteten Feld gleichsam ex nihilo kaum möglich sind.33 Auf verschiedene Perspektiven zur Weiterentwicklung des hier vorgestellten Ansatzes wird im Schlusskapitel eingegangen.

3. Forschungsstand Zum Phänomen des Spiels, dessen pädagogischer Bedeutung und seiner Verortung in der Gesellschaft entstanden seit der Aufklärung eine große Zahl von Beiträgen, die überwiegend aus den Fachgebieten Philosophie und Pädagogik stammen. Als bekanntestes Werk ist hier mit Sicherheit Homo ludens des Philosophen und Historikers Johan Huizinga zu nennen, das 1938 erschien und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde.34 Huizinga untersucht den Einfluss des Spiels auf die kulturelle Entwicklung verschiedener Gesellschaften und spannt dazu einen Bogen von der Antike bis zur zeitgenössischen Gegenwart. Ebenfalls sehr bekannt und vielfach übersetzt ist Roger Caillois philosophisches und soziologisches Werk Les jeux et les hommes von 1958, in dem er eine Systematik des Spiels entwickelt und die Suche nach dem Rausch als eine Form des Spiels beschreibt.35 Als drittes 33 | Zu transnationalen Ansätzen in der Technikgeschichte siehe beispielsweise E. van der Vleuten, Toward a Transnational History of Technology. Meanings, Promises, Pitfalls. In: Technology and Culture, 49 (2008), S. 974-994. Einen ersten Anknüpfungspunkt bietet der jüngst erschiene Band: Braun/Poser, Playing with Technology. Möglichkeiten zu einem transnationalen Vergleich werden sich zudem aufgrund eines Buchprojekts Carroll Pursells zu Bezügen von Technik und Spiel in den Vereinigten Staaten ergeben: C. Pursell, Technology and Play in America in the 19 th and 20 th Centuries (working title). 34 | Huizinga, Homo ludens. 35 | Caillois, Les jeux et les hommes.

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bedeutendes Werk ist The Ambiguity of Play von Brian Sutton-Smith zu nennen, das als Hauptwerk des Spielforschers 1997 erschien.36 Auch Sutton-Smith entwickelt eine Kategorisierung verschiedener Spielformen; dabei greift er – basierend auf dem englischen play – weiter aus als Caillois und als dies dem deutschsprachigen Verständnis des Ausdrucks Spiel entspricht; zudem wählt er den Spielbegriff so, dass Spiele auch Resultate zeitigen können beziehungsweise dürfen, die über das Spiel selbst hinausweisen. Obwohl ›Spiel‹ seit dem 18. Jahrhundert ein Forschungsthema ist, blieben Zusammenhänge zwischen Technik und Spiel erstaunlich lange unbeachtet: Insgesamt ist der Forschungsstand noch recht übersichtlich, wobei sich eine deutliche Zunahme der Publikationen in den letzten Jahren feststellen lässt. Mit dem Sammelband Homo faber ludens37 wurden 2003 wohl zum ersten Mal Wechselwirkungen im gesamten Themenfeld untersucht. 2006 erschien der interdisziplinär angelegte Band Kalkuliertes Risiko, der den Themenkreis Technik und Spiel unter dem Aspekt Risiko vertiefte.38 Seit 2007 werden auf Symposien des International Committee for the History of Technology, ICOHTEC, Sektionen zum Themenfeld Technik und Spiel veranstaltet; ein englischsprachiger Sammelband ist jüngst erschienen.39 Dem Vorhaben dieser Arbeit vergleichbar breite Ansätze haben in den letzten Jahren zwei Autoren gewählt: Rachel Maines vertritt in ihrem 2009 erschienenen Buch Hedonizing Technologies die These, dass sich nahezu jegliche Technik aus Arbeitskontexten zu einer vergnüglichen Freizeitnutzung eignet; der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf Handarbeiten, die sie als weit verbreitete Freizeitbeschäftigung der Nachkriegszeit untersucht.40 Carroll Pursell arbeitet gegenwärtig an einem Buch über Technik und Spiel, das sich mit der Entwicklung in Amerika befasst.41 Einige Autoren verbinden ihren Zugang zu anderen Themenbereichen der Technikgeschichte wie Gender- und Mobilitätsgeschichte mit Teilbereichen des Spiels mit Technik: So publizierte Roger Horowitz 2001 den Sammelband Boys 36 | B. Sutton-Smith, The Ambiguity of Play. Cambridge MA u.a. 1997. 37 | St. Poser, K. Zachmann (Hg.), Homo faber ludens. Geschichten zu Wechselbeziehungen von Technik und Spiel. = Technik interdisziplinär, 4. Frankfurt a.M. u.a. 2003. 38 | G. Gebauer, St. Poser, R. Schmidt, M. Stern (Hg.), Kalkuliertes Risiko. Technik, Spiel und Sport an der Grenze. Frankfurt, New York 2006. Der im selben Jahr erschienene Katalog der in Berlin und Wien gezeigten Ausstellung bietet weitere thematische Ansatzpunkte: Poser/Hoppe/Lüke, Spiel mit Technik. 39 | Braun/Poser, Playing with Technology. Siehe auch: St. Poser, ›Playing with Technology‹ as a Subject of ICOHTEC Symposia. In: ICON, 20 (1) (2014), S. 99-112. 40 | Maines, Hedonizing Technologies. 41 | Als Fallstudien aus dem Kontext des Bandes siehe C. Pursell, The Safe and Rational Children’s Playground: strategies and technologies since the nineteenth century. In: History Australia, 8 (December 2011), S. 47-74. Sowie: Ders., Fun Factories: Inventing American Amusement Parks. In: Braun/Poser, S. 75-99.

A. Zugang zum Thema

and their Toys, der der Gendergeschichte gewidmet ist.42 Kurt Möser analysiert in seinem Buch Fahren und Fliegen in Frieden und Krieg individuelle Mobilität um 1900; im Zuge dessen untersucht er auch den Sport und den Jahrmarkt.43 Artemis Yagou stellt eine Verbindung zwischen dem spielerischen Umgang mit Technik und der Designgeschichte her.44 Eine Reihe von Publikationen sind zu Hauptfeldern der hier vorliegenden Darstellung erschienen. Einige Arbeiten thematisieren Jahrmarkt und Schaustellerei sowie Technisches Spielzeug; eine nennenswerte Zahl von Beiträgen gibt es lediglich zum Computerspiel, wo sich in den letzten Jahren das wachsende disziplinübergreifende Feld der gamestudies entwickelte und erste Studiengänge für gamedesign entstanden.45 Auch der Sport ist als Thema der Technikgeschichte im Kommen. Tangiert wird das Thema außerdem von Studien zur Freizeitgeschichte, die neben anderen Aktivitäten wie Flanieren, Museumsbesuchen oder Reisen auch Kernbereiche des technisierten Spiels thematisieren, beispielsweise Jahrmarkts- oder Kinobesuche.46 Zu den ältesten Werken der Jahrmarktsgeschichte zählen zwei Bücher über den Wiener Prater: Felix Salten veröffentlichte 1911 seine feuilletonistische Milieustudie Wurstelprater, in der er sowohl Geschäfte als auch deren Besucher beschreibt. Eine historisch-ethnologische Perspektive nehmen Hans Pemmer und Ninni Lackner in ihrem 1935 erschienen Buch Der Prater einst und jetzt ein.47 Aus den 1970er und 1980er Jahren sind mehrere Werke hervorzuheben: Fair42 | R. Horowitz, Boys and their Toys? Masculinity, technology, and class in America. New York, London 2001. 43 | K. Möser, Fahren und Fliegen in Frieden und Krieg. Kulturen individueller Mobilitätsmaschinen 1880 – 1930. = Technik + Arbeit. Schriften des Technoseum, Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim, 13. Heidelberg u.a. 2009. 44 | A. Yagou, Is Everyday Technology Serious or Fun? Reflections on Emotional Styles in Product Design. In: ICON, 17 (2011), S. 40-56. Eine weitere Arbeit der Autorin ist einem Baukasten gewidmet, der einerseits Spielzeug, andererseits ein Kunstobjekt ist: Dies., Modernist complexity on a small scale: The Dandanah glass building blocks of 1920 from an object-based research perspective. = Preprint, 6. Deutsches Museum, München 2013. 45 | Zur gesellschaftlichen Bedeutung von Spielen siehe beispielsweise H. Chr. Arnseth, Learning to Play or Playing to Learn – A Critical Account of the Models of Communication Informing Educational Research on the Concept of Gameplay. In: Gamestudies. The International Journal of Computer Game Research, 6 (1/2006), S. 1-11, S. 1ff., www.gamestudies. org/0601/articles/arnseth (23.10.2012). 46 | Siehe zum Beispiel V. R. Schwartz, Spectacular Realities. Early Mass Culture in Finde-Siècle Paris. Berkeley u.a. 1998. St. M. Gelber, Hobbies: Leisure and the Culture of Work in America. New York 1999. R. Koshar (Hg.), Histories of Leisure. Oxford 2002. Oder B. Ehrenreich, Dancing in the Streets. A History of Collective Joy. New York 2006. 47 | F. Salten, Wurstelprater. Wien 1911. Sowie: H. Pemmer, N. Lackner, Der Wiener Prater einst und jetzt. Wien 1935. Die Sammlung Pemmers bildete den Grundstock des Wiener Pratermuseums.

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ground Architecture und Savage of King’s Lynn von David Braithwaite (1968, 1975), John F. Kassons Untersuchung über Coney Island (1978) und Florian Derings Arbeit Volksbelustigungen (1986).48 Das Hauptinteresse des Architekten Braithwaite liegt auf der baulichen Gestaltung von Jahrmarktsgeschäften; zudem analysiert er deren technische Entwicklung. Kasson arbeitet die Bedeutung von Vergnügungsparks für die Entwicklung der amerikanischen Konsumgesellschaft heraus. Dering gibt einen umfassenden Überblick über die Geschichte des Jahrmarkts aus volkskundlicher sowie sozialgeschichtlicher Perspektive und beschreibt die Entwicklung einzelner Geschäftstypen, sodass sich auch technikhistorische Erkenntnisse ergeben. Zumindest Braithwaite und Dering gelang es, Standardwerke zur Jahrmarktsgeschichte zu verfassen, auf die trotz ihres Alters immer wieder zurückgegriffen wird. Der Schwerpunkt Derings und der meisten seiner Nachfolger liegt primär auf der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Jahrmarkts und der Schausteller; oft ist dieser Ansatz mit biographischen Darstellungen verknüpft. Aus der Sammlungs- und Ausstellungstätigkeit des Puppentheatermuseums im Münchner Stadtmuseum sowie des Essener Markt- und Schaustellermuseums gingen mehrere Publikationen zur Jahrmarktsgeschichte hervor.49 Einem Interesse an wissenschafts- und technikhistorischen sowie kulturgeschichtlichen Fragen entsprangen eine Reihe von Arbeiten, die um 2000 entstanden: Stefan Poser nimmt in einem Aufsatz 1998 die Nutzung und Darstellung von Technik auf dem Jahrmarkt ins Blickfeld.50 Barbara Stafford analysiert wechselseitige Einflüsse von wissenschaftlichen Schaustellungen und universitärer Wissenschaft während der Aufklärung.51 Ebenfalls der Aufklärung ist Oliver Hochadels Buch zur Geschichte öffentlicher Vorführungen von Elektrizitätsexperimenten gewidmet, während Simon During, Brigitte Felderer und 48 | D. Braithwaite, Fairground Architecture. London 1968. Ders.: Savage of King’s Lynn. Inventor of machines and merry-go-rounds. Cambridge 1975. J. F. Kasson, Amusing the Million. Coney Island at the Turn of the Century. New York 1978. F. Dering, Volksbelustigungen. Eine bildreiche Kulturgeschichte von den Fahr-, Belustigungs- und Geschicklichkeitsgeschäften der Schausteller vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Nördlingen 1986. 49 | Zum Beispiel F. Dering, M. Gröner, M. Wegner, Heute Hinrichtung. Jahrmarkts- und Varietéattraktionen der Schausteller-Dynastie Schichtl. Wien, München 1990. R. Opschondek, F. Dering, J. Schreiber, Im Banne der Motoren. Die Steilwand – Geschichte einer Schausteller-Attraktion. München 1995. K. Schützmannsky, Roller Coaster. Der Achterbahn-Designer Werner Stengel [Begleitbuch der gleichnamigen Ausstellung im Münchner Stadtmuseum]. Heidelberg 2001. Sowie E. Knocke (Hg.), Gesammeltes Vergnügen. Das Essener Markt- und Schaustellermuseum, Essen 2000. 50 | St. Poser, Die vergnügliche Industrialisierung? Die Technik, der Jahrmarkt, und das Erlebnis des Außerordentlichen. In: Alemannia Studens, 8 (1998), S. 107-121. 51 | B. M. Stafford, Artful Science. Enlightenment Entertainment and the Eclipse of Visual Education. Cambridge MA 1994, dt: Amsterdam, Dresden 1998.

A. Zugang zum Thema

Ernst Strouhal im selben Zeitraum kulturelle Einflüsse von Zaubertricks untersuchen.52 Sacha Szabo diskutiert 2006 in seiner Monographie Rausch und Rummel die Wirkung verschiedener Fahrgeschäfte des 20. Jahrhunderts aus soziologischer wie kulturwissenschaftlicher Perspektive und geht dabei auch auf den Umgang mit Technik auf dem Jahrmarkt ein; diese Arbeit wurde für das Kapitel über den Jahrmarkt zu einem Bezugspunkt. Zudem editierte Szabo einen interdisziplinär angelegten Sammelband.53 Mit Debora Philips Fairground Attractions und Lauren Rabinovitz’ Electric Dreamland (beide 2012) entstanden jüngst zwei Arbeiten, die Vergnügungsparks im medialen Kontext untersuchen: Rabinovitz analysiert die wechselseitige Beeinflussung von Vergnügungsparks und frühen Filmen, während Philips typische Formen von literarischen Sujets untersucht, die auf Jahrmärkten thematisiert wurden und werden.54 Interessante Ansätze in kleineren Beiträgen bieten Arwen Mohun, die bereits 2001 den sicherheits- und werbetechnischen Umgang mit dem Risiko in Vergnügungsparks thematisierte, und Rebecca Ladewig, die 2009 technisch generierten Schwindel in der Medizin, in der wissenschaftlichen Forschung und auf dem Jahrmarkt untersucht. Ihr Hauptinteresse gilt allerdings wissenschaftlichen Untersuchungen und medizinisch-therapeutischen Ansätzen im frühen 19. Jahrhundert, während sie auf das Jahrmarktsgeschehen nur kurz eingeht.55 Zum Thema Technisches Spielzeug sind im Laufe der Zeit zahlreiche Liebhaberbücher entstanden, jedoch – mit Ausnahme der Auseinandersetzung mit Computerspielen – kaum wissenschaftliche. Besonderen Hinweis verdienen zwei 52 | O. Hochadel, Öffentliche Wissenschaft. Elektrizität in der deutschen Aufklärung. Göttingen 2003. S. During, Modern Enchantments. The Cultural Power of Secular Magic. Cambridge MA, London 2002. B. Felderer, E. Strouhal (Hg.), Rare Künste. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Zauberkunst. Wien, New York 2006. 53 | S.-R. Szabo, Rausch und Rummel. Attraktionen auf Jahrmärkten und in Vergnügungsparks. Eine soziologische Kulturgeschichte. Bielefeld 2006. S. Szabo (Hg.), Kultur des Vergnügens. Kirmes und Freizeitparks – Schausteller und Fahrgeschäfte. Facetten nichtalltäglicher Orte. Bielefeld 2009. Siehe ferner: S. Szabo, Kirmes, Jahrmarkt und Volksfest im Spiegel historischer Postkarten. Ein kulturgeschichtlicher Streifzug. Hildesheim u.a. 2007. C. Puttkammer, S. Szabo, Gruß aus dem Luna-Park. Eine Archäologie des Vergnügens. Freizeit- und Vergnügungsparks Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Berlin 2007. 54 | D. Philips, Fairground Attractions. A Genealogy of the Pleasure Ground. London 2012. L. Rabinovitz, Electric Dreamland. Amusement Parks, Movies and American Modernity. New York 2012. 55 | A. P. Mohun, Designed for Thrills and Safety: Amusement Parks and the Commo­ dification of Risk, 1880-1929. In: Journal of Design History, 14 (2001), S. 291-306. Ein Kapitel ihres neuen Buches ist ebenfalls Vergnügungsparks gewidmet: Dies., Risk. Negotiating Safety in American Society. Baltimore 2013, S. 214ff. R. Ladewig, Apparaturen des Schwindels. Zum psychiatrischen, populären, und wissenschaftlichen Einsatz von Drehvorrichtungen im frühen 19. Jahrhundert. In: Ilinx, 1 (2009), S. 262-285.

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ältere Werke: Der Redakteur und Buchhändler Paul Hildebrandt verfasste 1904 den ersten Überblick über Spielzeug in Deutschland, und der Pädagoge Hein Retter veröffentlichte 1979 eine Geschichte der Spielmittel, die nach wie vor Standards setzt.56 Jackie Britton unterstreicht in ihrer Studie Technology in Toyland von 1995 die Bedeutung von Spielzeug für die Verbreitung von Technik und argumentiert, dass die Untersuchung von Spielzeug zu einer alternativen Technikgeschichte führe, die Ansätzen der Sozialgeschichte nahe sei.57 Helmut Lindner tritt im selben Jahr dafür ein, Technisches Spielzeug als Quellenmaterial für die Technikgeschichte zu analysieren.58 Joseph Wachelder untersucht in einem Beitrag die Entwicklung des Begriffs toy in England, ein zweiter ist optischem Spielzeug des 19. Jahrhunderts gewidmet, das als Bindeglied zwischen Kunst, Populärkultur und Wissenschaft analysiert wird; eine Fallstudie gilt einem pädagogischen Spielzeug der Nachkriegszeit, dem Frage- und Antwortspiel Electro. Der Rahmen für Wachelders Arbeiten ist ein Buchprojekt zur visuellen Kultur im 19. und 20. Jahrhundert.59 Anika Schleinzer untersucht in ihrem Dissertationsprojekt Spielzeug im Genderkontext.60 Während der Medienwissenschaftler und Philosoph Claus Pias 1999 trotz der großen Popularität der Spiele und einer Vielzahl an ›Geschichten der Computerspiele‹ noch einen Mangel an wissenschaftlichen Werken feststellen musste,61 gibt es inzwischen eine Reihe empfehlenswerter Publikationen aus verschiedenen Disziplinen: Die Kulturwissenschaftlerin Natascha Adamowsky spannt in ihrem Buch über Spielfiguren in virtuellen Welten einen Bogen von der gegenwärtigen Populärkultur zu Computerspielen und zum Handeln in virtuellen Räumen.62 Die Medien- und Kulturwissenschaftlerin Maaike Lauwaert hat 2009 ein Werk zur Geschichte Technischen Spielzeugs unter besonderer Berücksichti-

56 | P. Hildebrandt, Das Spielzeug im Leben des Kindes. Berlin 1904. H. Retter, Spielzeug. Handbuch zur Geschichte und Pädagogik der Spielmittel. Weinheim, Basel 1979. 57 | J. Britton, Technology in Toyland: A Study of Miniature Technology, 1920 to 1970. = Science Museums Papers in History of Technology, 2. London 1995. 58 | H. Lindner, Technisches Spielzeug. 59 | J. Wachelder, Toys, Christmas Gifts and Consumption Culture: Great Britain 1800 – 1827. In: Braun/Poser, S. 13-32. Ders., Toys as Mediators. In: ICON, 13 (2007), S. 135169. Ders., Electro! Spelen met persoonlijke herinneringen, cultureel geheugen en geschiedenis. In: F. Huisman, N. Randeraad, G. Verbeeck (Hg.), Geschiedenis is overal. Amsterdam 2013, S. 122-141. 60 | A. Schleinzer, Spiel-Figuren – Die Ko-Konstruktion von »gender« und Technik im Kinderspielzeug des frühen 20. Jahrhunderts (Arbeitstitel). Dissertationsprojekt an der RWTH Aachen. 61 | C. Pias, Computer Spiel Welten. München 2002, S. 1 (das Buch beruht auf Pias Dissertation von 1999). 62 | N. Adamowsky, Spielfiguren in virtuellen Welten. Frankfurt, New York 2000.

A. Zugang zum Thema

gung des Computerspiels vorgelegt.63 Dem Computerspiel als Kulturtechnik ist ein interdisziplinär angelegter Sammelband von Claus Pias und Christian Holtorf gewidmet.64 Soziologische Beiträge haben jüngst Diego Compagna und Stefan Derpmann veröffentlicht.65 Einen Überblick über verschiedene Aspekte von Computerspielen gibt der Ausstellungskatalog Spiel mit Technik.66 Hier werden die Anfänge des Roboterfußballs ebenso thematisiert wie der Wandel des Handys zum Spielgerät; ein Schwerpunkt liegt auf der Analyse virtueller Kriegs- und Gewaltspiele. Eine Untersuchung der musealen Präsentation von Computerspielen67 macht implizit deutlich, in welchem Maße diese Spiele inzwischen ein Teil der Kultur geworden sind. Das zunehmende gesellschaftliche Interesse am Sport und die Versportlichung des Sports waren bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert Anlass der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Phänomen, die primär seitens der Philosophie und der Soziologie erfolgte. In diesem Kontext sind beispielsweise der Philosoph und Psychologe Karl Groos und zwei Jahrzehnte später Heinz Risse mit seiner Soziologie des Sports zu nennen.68 Mit Class, Sports, and Social Development unternahm es Richard Gruneau 1983, den Sport in die klassische soziologische Theorie einzuordnen.69 Klaus Heinemann widmete sich 2001 der Technologisierung des Sports. Am Beispiel des Segelsports untersucht er gemeinsam mit Manfred Schubert und Thomas Schröder die Frage, inwieweit die Technologisierung des Sports in Zusammenhang mit dessen Veränderung in den 1980er und 63 | M. Lauwaert, The Place of Play. Toys and Digital Cultures. Amsterdam 2009. 64 | C. Pias, Chr. Holtorf (Hg.), Escape! Computerspiele als Kulturtechnik. = Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, 6. Köln u.a. 2007. 65 | D. Compagna, St. Derpmann (Hg.), Soziologische Perspektiven auf digitale Spiele. Virtuelle Handlungsräume und neue Formen sozialer Wirklichkeit. Konstanz u.a. 2013. 66 | Siehe das Kapitel »Spiele in neuen Medien«. In: Poser/Hoppe/Lüke, S. 90ff.; besonders hingewiesen sei auf H.-J. Braun, »Darmstadt Dribbeling Dackels« and »Ruhrpott Hellhounds«. Entwicklung und Perspektiven des Roboterfußballs. In: ebenda, S. 102-106; sowie H. Weber, »Eine Handvoll Spaß«. Elektronische Daumenspiele für unterwegs. In: ebenda, S. 107-111; die Autorin spannt einen Bogen von Taschenspielen der 1980er Jahre zu heutigen Handyspielen. Siehe auch: St. Kaufmann, Kriegsspiel: Den Krieg modellieren und simulieren. In: ebenda, S. 120-126, der Bezüge zwischen virtuellen Kriegsspielen und Simulation von Kriegseinsätzen herstellt. Sowie: U. Pilarczyk, Von der Faszination der 3-D Action-Spiele. In: ebenda, S. 127-133, die die Motivationen für virtuelle Gewaltspiele untersucht. 67 | A. Lange, Virtuelle Welten in realen Räumen oder: Wie man Computerspiele ausstellen kann. In: Poser/Hoppe/Lüke, S. 228-234. 68 | K. Groos, Die Spiele der Menschen. Jena 1899. H. Risse, Soziologie des Sports. Berlin 1921. 69 | R. Gruneau, Class, Sports, and Social Development. Amhest 1983, 2. Aufl. Champaign, Ill. 1999.

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90er Jahren steht. Gleichzeitig entstanden weitere soziologische Beiträge über den Sport, die auch auf Technik eingehen; in diesem Kontext sind insbesondere die Arbeiten des Sportsoziologen Thomas Alkemeyer zu nennen, der Bezüge von Sporttreibenden zu ihren Geräten oder Maschinen sowie deren gesellschaftliche Relevanz untersucht und dabei die Bedeutung des Sports für die Genese neuer gesellschaftlicher Strukturen herausarbeitet.70 Als Pioniere der geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Sport müssen in der deutschsprachigen Forschung der Nachkriegszeit die Philosophen Hans Lenk und Gunter Gebauer sowie der Historiker Henning Eichberg genannt werden. In den Geschichtswissenschaften liegt ein Schwerpunkt der Forschungstätigkeit auf Bezügen von Sport und Politik, die im Kontext dieser Darstellung eine untergeordnete Rolle spielen; das Feld expandiert jedoch zur Zeit in erstaunlichem Maße. Einen Überblick über Neuansätze in der Sportgeschichte geben Olaf Stieglitz und Jürgen Martschukat.71 Zwei sozialgeschichtliche Arbeiten seien genannt: Richard Holts 1989 erschienenes Buch Sports and the British, das die Genese des englischen Sports seit dem 18. Jahrhunderts im Rahmen von sozialen, politischen und kulturellen Entwicklungen analysiert,72 und Christiane Eisenbergs ›English sports‹ und Deutsche Bürger von 1999, das den Kulturtransfer im Sport zwischen England und Deutschland vom 19. Jahrhundert bis zu Beginn der NS-Zeit untersucht.73 Wolfgang König wies schon frühzeitig (in der Propyläen Technikgeschichte 1992) auf die Bedeutung des Sports für die Einführung von Fahrrädern, Autos und Flugzeugen hin. Einige Jahre später stellt er eine Verbindung zwischen Transportwesen, frühem Massentourismus und Skifahren her.74 Robert Post widmete sich 1994 einer ganz anderen Verbindung von Mobilitätsgeschichte 70 | Siehe Th. Alkemeyer, Zeichen, Körper und Bewegung. Aufführungen von Gesellschaft im Sport. Habilitationsschrift, Freie Universität Berlin 2000. Ders., Mensch-Maschinen mit zwei Rädern – Überlegungen zur riskanten Aussöhnung von Körper, Technik und Umgebung. In: Gebauer/Poser, S. 225-249. Ders., R. Schmidt, Technisierte Körper – verkörperte Technik: Über den praktischen Umgang mit neuen Geräten in Sport und Arbeit. In: K.-S. Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004, Teil 1. Frankfurt/New York 2006, S. 569-578. 71 | O. Stieglitz, J. Martschukat, ›Sportgeschichte‹, Version: 1.0. Docupedia-Zeitgeschichte, 27.2.2012, http://docupedia.de/zg/Sportgeschichte?oldid=84658 (9.1.2013). 72 | R. Holt, Sport and the British. A Modern History. Oxford 1989. 73 | Eisenberg, English Sports. 74 | W. König, Massenproduktion und Technikkonsum. Entwicklungslinien und Triebkräfte der Technik zwischen 1880 und 1914. In: W. König, W. Weber, Netzwerke. Stahl und Strom. 1840 bis 1914. = Propyläen Technikgeschichte, 4, S. 265-552, S. 442f. Sowie: Ders., Bahnen und Berge. Verkehrstechnik, Tourismus und Naturschutz in den Schweizer Alpen 1870 – 1939. = Deutsches Museum. Beiträge zur historischen Verkehrsforschung, 2. Frankfurt,

A. Zugang zum Thema

und technisiertem Sportspiel, der Kultur und Technik sogenannter Drag Races (Beschleunigungsrennen mit stark motorisierten, großhubigen Fahrzeugen) in den USA und gab damit Anstoß zu einer modernen technikhistorischen Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Motorsport. Im Rahmen dessen untersuchte David Lucsko Autorennen mit umgebauten Serienwagen, den Hot Rodders; dabei widmet er sich sowohl den Fahrern und deren Motiven für den Umbau als auch dem dahinterstehenden wachsenden Markt für Spezialteile und deren Anbietern. Jeremy Kinney analysiert die Mode von Sportwagenrennen in den 1950er Jahren im Kontext seines Buchprojekts zur Kulturgeschichte amerikanischer Sportwagen, und Alison Kreitzer arbeitet an einer Technik- und Sozialgeschichte von amerikanischen Autorennen.75 2008 entstand ein Themenheft »Sport« der Zeitschrift Technikgeschichte, das Beiträge von Sport- und Technikhistorikern vereint.76 In den letzten Jahren wurde die Entwicklung von Sporträumen zum Thema: So erschien in der Zeitschrift Urban History 2010 ein Band zur Entwicklung von Sportstätten und deren Einfluss auf den Stadtraum.77 Noyan Dinçkal hat 2013 seine Habilitationsschrift zur Bedeutung von Sporträumen veröffentlicht, in der er die Entwicklung des Sports im Stadtraum des frühen 20. Jahrhunderts untersucht und interessante Ansätze für diese Arbeit bietet.78 Erste historische Arbeiten thematisieren Bezüge von Sport und Wissenschaft: Einen auf die Entwicklung in Osteuropa zugeschnittenen Überblick über Sport und Wissenschaft legten jüngst Nikolaus Katzer und Stefan Rohdewald vor.79 Ausgehend von Artefakten beziehungsweise Sportgeräten, Bobschlitten und deren Entwicklung in der DDR

New York 2000. Ders., Aufstiegsschweiß und Abfahrtsglück. Mechanische Aufstiegshilfen und die Metamorphosen des Skilaufs. In: Poser/Zachmann, S. 157-174. 75 | R. C. Post, High Performance. The culture and technology of drag racing 1950 – 1990. Baltimore 1994. Lucsko, The Business of Speed. J. R. Kinney, Racing on Runways: The Strategic Air Command and Sports Car Racing in the 1950s. In: Braun/Poser, S. 193-215. Ders., Cultural History of American Sports Cars (Arbeitstitel, Buchprojekt). A. Kreitzer, The Greatest Show On Dirt: American Dirt Track Automobile Racing (PhD-Projekt, University of Delaware). 76 | Sport. Themenheft, Technikgeschichte, 75 (2008), Heft 3. 77 | N. Katzer, Introduction: sports stadia and modern urbanism. In: Urban History, 37 (2010), S. 249-252. Einzelne Beiträge sind dem Stadionbau in Moskau in der Nachkriegszeit sowie der architektonischen Gestaltung von Sportbauten und deren Umfeld im Fall der Olympiaden in Tokio 1964 und München 1972 gewidmet. 78 | N. Dinçkal, Sportlandschaften: Sport, Raum und (Massen)Kultur in Deutschland, 1880-1930. = Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 211. Göttingen 2013. 79 | N. Katzer, St. Rohdewald, Sport, Wissenschaft und Technik. In: A. Hilbrenner u.a. (Hg.), Handbuch der Sportgeschichte Osteuropas. Projekt des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg, als Pre-print online verfügbar: www.ios-regensburg.de/ fileadmin/doc/Sportgeschichte/Katzer_Rohdewald_Technik.pdf (9.1.2013).

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untersucht Ralf Pulla Wechselwirkungen von Sport, Forschung und Politik.80 Hans-Joachim Braun analysiert am Beispiel der Entwicklung der Fußballtaktik die Bedeutung von Prozessen der Verwissenschaftlichung für das technisierte Spiel.81 Jennifer Alexander arbeitet gegenwärtig an einem Buch, das Einflüsse der biomechanischen Forschung auf Leistungssteigerungen im Sport und Produktivitätssteigerungen in der Industrie zwischen den 1920er und den 1960er Jahren untersucht. Eine Technikgeschichte des Ruderns ist ein Desiderat der Forschung, obwohl – wie sich zeigen wird – das sportliche Rudern unter Nutzung von hochentwickelter Technik erfolgte und erfolgt. Wichtige Quellen sind die seit 1883 erscheinende Zeitschrift Wassersport, das offizielle Organ des Deutschen Ruderverbands, sowie zahlreiche Trainingsanleitungen zum Rudern. Besonderen Stellenwert hat das 1875 erschienene Werk Oars and Sculls des Ruderlehrers Walter Bradford Woodgate, das Vorbildcharakter für Ruderanleitungen bekam, in zahlreichen Auflagen erschien und mehrfach übersetzt wurde.82 Das erste deutschsprachige Buch, Victor Silberers Handbuch des Ruder-Sport, erschien vier Jahre später.83 Medizinische Untersuchungen widmeten sich bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert der körperlichen Arbeit beim Rudern, ingenieurwissenschaftliche den hydrodynami-

80 | R. Pulla, Kalter Krieg im Eiskanal. Die Entwicklung von Bobschlitten in der DDR. In: U. Fraunholz, S. Wölfel (Hg.), Ingenieure in der technokratischen Hochmoderne. Thomas Hänseroth zum 60. Geburtstag. = Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt, 40. Münster u.a. 2012, S. 285-301. Siehe außerdem: Ders., Hybridwesen. Fahrrad und Athlet im Radsport des 20. Jahrhunderts. In: P. Grüneberg, A. Stache (Hg.), Fahrrad – Person – Organismus. Zur Konstruktion menschlicher Körperlichkeit. Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 41-55. 81 | H.-J. Braun, Soccer Tactics as Science? On ›Scotch Professors‹, a Ukrainian Soccer Buddha, and a Catalonian who tries to learn German. In: Braun/Poser, S. 216-243. 82 | W. B. Woodgate, »Oars and Sculls« and how to use them. London 1875; französisch: L’Aviron, théorie pratique et raisonnée. »Rowing and sculling«. Principes de la nage correcte, composition, instruction, entraînement des équipes de courses. Paris 1881, deutsch: Rudern und Scullen. Autorisierte Uebersetzung von O. S. Hamburg. Berlin 1905 (zitiert wird die deutsche Ausgabe). 83 | V. Silberer, Handbuch des Ruder-Sport (1879), 2. vermehrte und ergänzte Auflage, Wien u.a. 1882 (zitiert wird die 2. Auflage). Silberer förderte verschiedene Formen des Sports, organisierte 1868 die erste Wiener Ruderregatta und gab die österreichische »Allgemeine Sportzeitung« heraus. Zu Silberer siehe O. Gusti, Katechismus des Ruder- und Segelsports. Leipzig 1898, S. 5f., sowie E. G. Eder, A. Treude, Zur Geschichte des Wassersports in Österreich: Schwimmen, Rudern, Segeln. In: E. Bruckmüller, H. Strohmeyer (Hg.), Turnen und Sport in der Geschichte Österreichs. = Schriften des Institutes für Österreichkunde, 60. Wien 1998, S. 133-155, S. 147.

A. Zugang zum Thema

schen Eigenschaften von Booten und Antrieb.84 Im Laufe der Zeit sind zahlreiche Festschriften zu Jubiläen großer Rudervereine entstanden, die das Rudern aus historischer Perspektive beleuchten, wobei sie naturgemäß die Vereinsgeschichte in den Vordergrund stellen; einige Arbeiten thematisieren die Sozialgeschichte des Ruderns – so Christopher Dodd, Eric Halladay, Gerhard Reckendorf und Neil Wigglesworth, deren Bücher Anfang der 1990er Jahre erschienen.85 Ein Schwerpunkt der zeitgenössischen wie der historischen Literatur liegt auf der Amateurfrage im Rudersport. Hilfreich waren insbesondere die Arbeiten von Dodd und Halladay, die ein Kapitel beziehungsweise einen Appendix der technischen Entwicklung widmen. Zudem wurde das Rudern in jüngerer Zeit Gegenstand von soziologischen Unteruchungen; so analysierten Soziologen Rudermannschaften und Vereine als Gruppen.86 Gleichzeitig blieb es für die Ingenieurwissenschaften interessant: Ziel einer Dissertation von 1999 war beispielsweise, den Vortrieb von Ruderbooten während des Fahrens zu untersuchen.87 Dieses breit gefächerte wissenschaftliche Interesse macht deutlich, welch ein komplexer Vorgang das sportliche Rudern ist. Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert sind zahlreiche Werke zum Schwimmen und zu Badeanstalten erschienen; die meisten davon verbinden einen historischen Teil mit einer umfassenden Darstellung der zeitgenössischen Gegenwart. Stellvertretend seien das Kompendium Swimming von Ralph Thomas und Leo Vetters Werk Das Bad der Neuzeit und seine historische Entwicklung genannt, die beide 1904 erschienen.88 Dieses Schrifttum spiegelt das wiedergewonnene Interesse am Baden – verbunden mit der Vorstellung, dass nun wieder Bäder entstehen, die antiken Thermen vergleichbar sind. Flankiert wurden die Bauprojekte von umfangreichen Empfehlungen und Richtlinien zur baulich-technischen 84 | Bereits 1882 erschien die Dissertation von Nathanael Mitan »Das Rudern, eine heilgymnastische Uebung«, die einen Überblick über die beim Rudern eingesetzten Muskelpartien gibt; siehe Gusti, S. 6. Einen ingenieurwissenschaftlichen Zugang zum Rudern wählte beispielsweise E.C. Atkinson, A Rowing Indicator. In: Natural Science, 8 (1896), S. 178185; ders., Some more Rowing Experiments. In: Natural Science, 13 (1898), S. 89-102. 85 | Chr. Dodd, The Story of World Rowing. London u.a. 1992. E. Halladay, Rowing in England: a social history. The amateur debate. Manchester, New York 1990. G. Reckendorf, Entwicklungsgeschichte des Ruderns in England und Deutschland. Parallelen, Gegensätze und Interdependenzen der nationalen Entwicklungen. Bochum 1991. N. Wigglesworth, A Social History of English Rowing. London 1992. 86 | Siehe zum Beispiel W. Fritsch, Gruppen im Sport. Eine Untersuchung der Funktionsund Erhaltungsmechanismen von Sportgruppen am Beispiel einer Rudermannschaft. Diss. rer. soc., Tübingen 1983. 87 | A. Ziemann, Experimentelle Untersuchung des Vortriebs durch das Ruderblatt im freifahrenden Boot. Diss. Ing. Berlin 1999. 88 | R. Thomas, Swimming. London 1904. L. Vetter, Das Bad der Neuzeit und seine historische Entwicklung. Stuttgart, Leipzig 1904.

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Konzeption von Badeanstalten, die die dahinterstehenden Institutionen immer wieder aktualisierten. Auch waren die Bäder Thema von Fachzeitschriften wie der Sanitären Technik. Als Quelle sind hier insbesondere drei Zeitschriften zu nennen: die von 1899 bis 1933 erschienenen Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, das seit 1948 erscheinende Archiv des Badewesens, Fachzeitschrift für Praxis, Technik, Wissenschaft und Betriebswirtschaft, das von der Nachfolgeorganisation der Gesellschaft für Volksbäder, der Deutschen Gesellschaft für das Badewesen, gemeinsam mit dem Bundesfachverband Öffentlicher Bäder, dem Verein Deutscher Badefachmänner und dem Verband Deutscher Badebetriebe herausgegeben wird, sowie die international konzipierte Fachzeitschrift Sport- und Bäderbauten,89 die seit 1961 das offizielle Organ der Internationalen Akademie für Bäder-, Sport- und Freizeitbau und des Schwimmstätten-Ausschusses des Deutschen Schwimm-Verbandes ist. Aufgrund der Bandbreite der herausgebenden Institutionen vermitteln diese Zeitschriften ein breites Themenspektrum rund um das Baden. In der der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung wurden Badeanstalten und Schwimmbäder bisher kaum untersucht. Eine Ausnahme bieten Volksbäder, und hier insbesondere die auf eine effiziente, kostengünstige Körperreinigung hin konzipierten Brausebäder des Mediziners Oskar Lassar. Sie wurden retrospektiv im Zusammenhang von Körperreinigung, Disziplinierung und Körperkultur analysiert.90 Manche sportwissenschaftlichen Arbeiten gehen auch auf die historische Dimension ihres Themas ein: beispielsweise die 1980 erschienene Entwicklung des Sportschwimmens von Wolf Pflesser oder die Dissertation von Ilse Hess Die Neuorientierung im Bäderbau 1970 bis 1985 von 1989.91 Einige – im Kontext dieser Darstellung wichtigere – Untersuchungen stammen von Architektur-, Kunst- und Kulturhistorikern. Eine vergleichsweise frühe, beachtenswerte Arbeit ist der Sammelband von Herbert Lachmayer, Sylvia Mattl-Wurm und Christian Gargerle: Das Bad. Eine Geschichte der Badekultur im 19. und 20. Jahrhundert, der 1991 erschien.92 Zu nennen ist außerdem der Bildband Badetempel von Dieter Leistner, Hans-Eberhard Hess und Kerstin Feireiss, in dem 1998 für den Erhalt 89 | Seit 1974 erscheint sie unter dem erweiterten Titel: Sport-, Bäder-, Freizeit-Bauten. Erholungs-, Spiel- u. Sportanlagen. 90 | Einen Brückenschlag zwischen Hygiene und Erholung im Wasser unternimmt aus kunst- und kulturhistorischer Perspektive J. R. Dillon, Modernity, Sanitation and the Public Bath. Berlin 1896 – 1930, as archetyp. PhD-thesis, Duke University, Durham, North Carolina 2007, http://dukespace.lib.duke.edu/dspace/handle/10161/430 (17.5.2012). Zu Lassar siehe ebenda, S. 55ff. 91 | W. Pflesser, Die Entwicklung des Sportschwimmens mit dem großen statistischen Anhang. Meister – Sieger – Rekorde. Celle 1980. I. Hess, Die Neuorientierung im Bäderbau 1970 bis 1985. Unter besonderer Berücksichtigung der historischen Entwicklung. Ahrensburg bei Hamburg 1989. 92 | H. Lachmayer, S. Mattl-Wurm, Chr. Gargerle (Hg.), Das Bad. Eine Geschichte der Badekultur im 19. und 20. Jahrhundert. Salzburg, Wien 1991.

A. Zugang zum Thema

von Jugendstilbädern plädiert wird.93 Im selben Jahr wurde The Springbord in the Pond veröffentlicht, eine Architektur- und Kulturgeschichte des Swimmingpools von Thomas van Leeuwen.94 Jüngst erschien eine architektur- und kulturhistorische Arbeit über den Bäderbau in Berlin von Uta Maria Bräuer und Jost Lehne.95 Die beiden Autoren geben einen Überblick, der bis in die jüngste Vergangenheit reicht. Darüber hinaus entstanden eine Reihe von Lokalstudien, die das 18. und 19. Jahrhundert in den Focus nehmen, während die jüngere Vergangenheit kaum thematisiert wird. Eine technikhistorische Analyse des Badewesens ist bisher ein Desiderat der Forschung. Die Literaturbasis zu Thrill rides am Beispiel von Rutschbergen, Loopingbahnen und Achterbahnen ist vergleichsweise gut. Von Rutschbergen und Loopingbahnen ging im 19. Jahrhundert offensichtlich eine solche Faszination aus, dass sie sogar zum Gegenstand zeitgenössischer Lexikonartikel wurden. In der Sekundärliteratur zur Geschichte von Jahrmärkten und Vergnügungsparks werden sie folglich erwähnt, der Schwerpunkt dieser Arbeiten liegt jedoch – sofern sie sich der Geschichte einzelner Geschäftstypen widmen – auf Achterbahnen. Ein erstes, sorgfältig recherchiertes Buch zur Geschichte von Achterbahnen erschien mit Robert Cartmells The Incredible Scream Machine 1987.96 Insbesondere im Laufe der letzten zehn Jahre sollten zahlreiche weitere Arbeiten folgen, die allerdings überwiegend zur populärwissenschaftlichen Literatur zu zählen sind. Parallel hierzu entstanden Insider-Zeitschriften und Internetforen von Achterbahnfans, die im Zuge der Arbeit mit ausgewertet wurden. Autoskooter und Jahrmarktsautobahnen haben als weniger spektakuläre Geschäfte zu einem deutlich geringeren Interesse von Autoren geführt. Die betreffenden Kapitel bei Dering und Szabo sind hier als Ausgangspunkte zu nennen;97 darüber hinaus finden sich im Wesentlichen kurze Passagen in Werken über einzelne Jahrmärkte und Vergnügungsparks sowie einige Insider-Homepages, die Quellenmaterial bieten. Entsprechend wurden für das Kapitel über Autoskooter und Jahrmarktsautobahnen in besonderem Maße historische Patente genutzt, wobei sich als hilfreich erwies, dass in amerikanischen Patenten zwischen 1880 und 1930 stärker auf den Zweck des patentierten Gegenstandes eingegangen wird als in deutschen. Zu Modellbahnen ist im Laufe der Jahre eine umfangreiche Liebhaberliteratur entstanden. Diese Werke sind zwar keine wissenschaftlichen Darstellungen im 93 | D. Leistner, H.-E. Hess, K. Feireiss, Badetempel. Volksbäder aus Gründerzeit und Jugendstil. Berlin 1993. 94 | Th. A. P. van Leeuwen, The Springbord in the Pond. An Intimate History of the Swimming Pool. Cambridge MA, London 1998. 95 | U.M. Bräuer, J. Lehne, Bäderbau in Berlin: Architektonische Wasserwelten von 1800 bis heute. Berlin 2013. 96 | R. Cartmell, The Incredible Scream Machine. A History of the Roller Coaster. Bowling Green 1987. 97 | Dering, Volksbelustigungen, S. 127ff., Szabo, Rausch und Rummel, S. 73ff.

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Sinne üblicher Sekundärliteratur, jedoch zum Teil mit großer Detailkenntnis verfasst. Zu nennen sind insbesondere J. E. Minns Buch Modell-Lokomotiven aus den 1960er Jahren, das der Entwicklung in England und Amerika im 19. Jahrhundert gewidmet ist, und Gustav Reders in zwei Auflagen erschienenes Werk Mit Uhrwerk, Dampf und Strom von 1970 und 1988.98 Seit der Nachkriegszeit erscheinen zwei deutschsprachige Modellbahnzeitschriften, die seit 1948 in der Bundesrepublik publizierte Zeitschrift Miniaturbahnen, MIBA, und Der Modelleisenbahner, der seit 1951 erscheint, bis zur Wende das Organ des Deutschen Modelleisenbahn-Verbandes der DDR war, und inzwischen von derselben Verlagsgruppe herausgegeben wird wie die MIBA.99 Im letzten Jahrzehnt entstanden zudem zahlreiche Foren im Internet. Die Bandbreite der Beiträge reicht von Empfehlungen und Kommentaren über Firmendarstellungen bis zu Aufsätzen und Bilddokumenten. Eine weitere umfangreiche Quellengruppe bilden Firmenschriften von Modellbahn- und Spielzeugherstellern, die zum Teil sogar als Reprints erschienen sind. So besteht eine gute Basis publizierten Quellenmaterials, während die Zahl valider mehr oder minder wissenschaftlicher Darstellungen beschränkt ist: Als bedeutendes Spielzeug wird die Modellbahn in Darstellungen zur Geschichte von Spielmitteln mit erwähnt.100 Das 1977/78 erschienene Buch Eisenbahnspielzeug von Uwe Reher wurde dem Autor als volkskundliche Dissertation anerkannt. Reher widmet sich der Entwicklung von Modellbahnen zwischen 1835 und 1939 und spannt dabei einen Bogen von der Produktion über die Modellqualität des Eisenbahnspielzeugs und dessen Funktionsweise bis zur Konsumption; im Rahmen dessen geht er auch auf das Spiel ein.101 1985 verfasste der Ausstellungsmacher Bodo-Michael Baumunk das Buch Der HO Modell-Eisenbahner und seine Welt, in dem er verschiedene Aspekte des Phänomens Modellbahn betrachtet und sich im Rahmen dessen auch der Geschichte widmet. 1998 erschien Burkhard Spinnens Band Modelleisenbahn, der im Schnittfeld von Literatur und Philosophie die Passion des Modellbahnspielens und insbesondere des -sammelns untersucht.102 2003 wurde der allerdings 98 | J. E. Minns, Modell-Lokomotiven. Frankfurt a.M. 1969. G. Reder, Mit Uhrwerk, Dampf und Strom. Vom Spielzeug zur Modelleisenbahn. Düsseldorf 1970 (2. erweiterte Auflage 1988). Zitiert wird im Folgenden aus der Erstausgabe. 99 | Zu Geschichte und Bedeutung der MIBA siehe B.-M. Baumunk, Der H0 Modell-Eisenbahner und seine Welt. Marburg 1985, S. 103ff. 100 | Siehe beispielsweise: Hildebrandt, S. 130ff. K. Zachmann, Homo faber ludens junior oder: Die Technisierung des Kinderzimmers. In: Poser/Zachmann, S. 203-225, S. 213f. 101 | U. Reher, Eisenbahnspielzeug. Gestaltung, Produktion, Handel, Anlagen, Spiel. Frankfurt a.M. 1977 (Copyrightvermerk 1977, Vorwort vom Januar 1978). Reher nutzt unter anderem die auch von mir ausgewertete Sammlung Metzeltin, die sich heute im Historischen Archiv des Deutschen Technikmuseums, Berlin, befindet und ein Manuskript seines Buchs enthält. 102 | B. Spinnen, Modelleisenbahn. Kleine Philosophie der Passionen. München 1998.

A. Zugang zum Thema

unternehmensnahe Ausstellungskatalog Mythos Modelleisenbahn. Dem Spiel auf der Spur zur Geschichte des Modellbahnunternehmens Märklin publiziert.103 Mit Rolf-Ulrich Kunzes Sammlung autobiographisch inspirierter Essays, die 2011 unter dem Titel Spurweiten erschien, liegt neuerdings eine historische Arbeit vor, in der die Geschichte von Modellbahnen breiten Raum einnimmt.104 Kunze zieht die Modellbahn als Beispiel heran, um einerseits Technik als autobiographische Konstruktion zu untersuchen und anderseits um Methoden der Technik- und Alltagsgeschichte zu beleuchten.

II. B egrifflichkeit Den der folgenden Untersuchung zugrunde liegenden Begriffen Technik und Spiel ist gemeinsam, dass sie ein relativ breites Bedeutungsspektrum umfassen. Ludwig Wittgensteins Verklammerung der unterschiedlichen Formen von Spielen als »Familienähnlichkeiten« lässt sich annähernd auch auf die zahlreichen Bedeutungsvarianten von Technik übertragen.105

1. Technik Der Begriff Technik geht auf die antike techné zurück, deren Bedeutungsspektrum von handwerklichen Fertigkeiten über Fähigkeiten, die wir heute als Kulturtechnik einordnen würden – wie Musik oder Rhetorik – bis zur menschlichen List reicht. Seit der Neuzeit fallen auch Produkte technischen Handelns unter den Begriff Technik. Damit bezieht sich Technik sowohl auf Handlungen als auch auf Artefakte. Entsprechend dieser Bedeutungsvielfalt beschreibt der Technikphilosoph Jacques Ellul Technik als »die Totalität der Methoden, die rational gewonnen wurden und auf jedem Gebiet des menschlichen Tuns (für ein bestimmtes Entwicklungsstadium) absolute Effizienz haben«.106 Folgt man einer so breit angelegten Definition, so wird Technik zum »konstitutive[n] Element jedes zweck103 | G. Adriani, R. Gaugele (Hg.), Mythos Modelleisenbahn. Dem Spiel auf der Spur [Ausstellungskatalog zur Geschichte des Hauses Märklin von 1859 bis heute]. Ostfildern-Ruit 2003. 104 | R.-U. Kunze, Spurweiten. Technik, Geschichte, Identität u.a. in H0, Normalspur und 1000 mm. = Technikdiskurse. Karlsruher Studien zur Technikgeschichte, 4. Karlsruhe 2011. 105 | L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 66f. Zu ›Technik‹ siehe F. Rapp, Analytische Technikphilosophie. Freiburg, München 1978, S. 31. Zu ›Spiel‹ siehe beispielsweise N. Adamowsky, Homo ludens – whale enterprise: zur Verbindung von Spiel, Technik und den Künsten. In: Poser/Zachmann, S. 57-81, S. 57f. 106 | J. Ellul, La Technique ou l’enjeu du siècle. Paris 1954, S. XXV. Zitiert in der Übersetzung von F. Rapp, Die Dynamik der modernen Welt. Eine Einführung in die Technikphilosophie. Hamburg 1994, S. 20f.

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haften Handelns«.107 Eine solche Sichtweise unterstreicht zwar die Bedeutung von Technik, ist aber weit vom gängigen Sprachgebrauch entfernt und eignet sich aufgrund ihres Ausgreifens auf verschiedenste Formen des Handelns schwerlich, um im Kern technisches Handeln von anderen Handlungsweisen zu unterscheiden. Im Folgenden soll deshalb von den engeren Definitionen Dessauers, MacKenzie/Wajcmans und Ropohls ausgegangen werden. Dessauer weist schon 1956 auf die Bedeutung der Ideen für die Technikgenese hin: »Technik ist reales Sein aus Ideen durch finale Gestaltung und Bearbeitung aus naturgegebenen Beständen.«108 Während er in der Anfangszeit der Computerentwicklung Technik noch als »reales Sein« beschreiben und auf naturgegebene Ausgangsstoffe hinweisen kann, deckte dies dreißig Jahre später nicht mehr alle Ausformungen von Technik ab; entsprechend schließen sowohl Donald MacKenzie und Judy Wajcman als auch Günter Ropohl nicht-materielle Komponenten der Technik in ihre Definitionen ein. MacKenzie und Wajcman unterscheiden 1985 drei verschiedene Ebenen der Bedeutung von Technik/technology: Sie beziehe sich auf materielle und immaterielle Gegenstände, menschliche Aktivitäten sowie systematisches Wissen, gepaart mit praktischen Fähigkeiten.109 Präziser – allerdings unter Auslassung von Ideen und Wissen – formuliert Ropohl 1988, Technik umfasse »die Menge der nutzenorientierten, künstlichen, gegenständlichen Gebilde (Artefakte oder Sachsysteme)« sowie »die Menge menschlicher Handlungen und Einrichtungen, in denen Artefakte [oder Sachsysteme] entstehen [und] die Menge menschlicher Handlungen, in denen Artefakte [oder Sachsysteme] verwendet werden«.110 Anders als Ropohl nennen Dessauer und MacKenzie/Wajcman Zweckrationalität als Eigenschaft technischen Handels in ihren Definitionen nicht; damit bleibt Raum für spielerische Ansätze technischen Handelns. Auch Thomas Hughes’ Definition von Large Technological Systems ist dem Spiel gegenüber offen formuliert: Ausdrücklich nennt er Kunst, Architektur und »even play« als mögliche Gegenstandsbereiche, in denen Large Technological Systems Problemlösungskapazitäten bieten, macht jedoch im Folgenden deutlich, dass er primär die Analyse der Produktionstechnik und deren Rationalisierung im Auge hat.111 Anders als

107 | Rapp, ebenda. 108 | F. Dessauer, Streit um die Technik. 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1956, S. 234. 109 | D. MacKenzie, J. Wajcman, Introduction Essay. In: Dies. (Hg.), The Social Shaping of Technology. How the Refrigerator Got its Hum. Milton Keynes u.a. 1985, S. 2-25, S. 3f. Siehe auch W. E. Bijker, Sociohistorical Technology Studies. In: S. Jasanoff u.a. (Hg), Handbook of Science and Technology Studies. Thousand Oaks u.a. 1995, S. 229-256, S. 231. 110 | G. Ropohl, Zur Technisierung der Gesellschaft. In: W. Bungard, H. Lenk (Hg.), Technikbewertung. Frankfurt a.M. 1988, S. 79-97, S. 83. 111 | Th. Hughes, The Evolution of Large Technological Systems. In: W. E. Bijker, Th. Hughes, T. J. Pinch (Hg.), The Social Construction of Technological Systems. New directions in the sociology and history of technology. Cambridge, London 1987, S. 51-82, S. 53.

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noch in den 1980er Jahren erscheint aus heutiger Perspektive gerade das Spiel nebst seinen Bezügen zur Technik betrachtenswert.

2. Spiel Das Wort Spiel stammt aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutete ursprünglich wohl Scherz und Tanz. Im Zuge der Industrialisierung setzte sich analog zur sprachlichen Entwicklung des Begriffs Freizeit eine Dichotomie von Spiel und Arbeit durch. Entsprechend heißt es in Meyers Lexikon von 1929: »Spiel [ist] im Gegensatz zur Arbeit [eine] Beschäftigung, die ohne die Absicht unmittelbaren materiellen Nutzens … um der Freude an der Tätigkeit selbst, um der Erheiterung oder Zerstreuung willen getrieben wird«.112 Vor dem Hintergrund des Verlusts der klaren Trennung von Arbeit und Freizeit werden in den letzten Jahrzehnten Spiel und Arbeit auch als Komplementärbegriffe gedeutet und entsprechend strukturelle Ähnlichkeiten von Arbeit und Spiel oder auch von Spiel und Alltag herausgestellt. So untersucht beispielsweise Gunter Gebauer Mitte der 1990er Jahre Parallelen des idealisierten Arbeits- und Spielbegriffs und weist auf die Abhängigkeit von Arbeitsverhältnissen und Spielformen hin.113 Spielaktivitäten seien inzwischen, wie Sara Grimes und Andrew Feenberg etwas mehr als zwanzig Jahre später schreiben, »increasingly structured by the same values, priorities, skills, and norms that drive the workday«.114 Infolgedessen ergab sich seit dem späten 20. Jahrhundert eine zunehmende Unschärfe des Spielbegriffs – eine Entwicklung, die sich beim Freizeit- oder auch beim Sportbegriff in ähnlicher Weise nachzeichnen lässt und einer wachsenden Vielfalt von ›postmodernen‹ Arbeitsformen korrespondiert.115 Das heutige Bedeutungsspektrum des Spiels umfasst 112 | Spiel. In: Meyers Lexikon, 11. 7. Aufl., Leipzig 1929, Sp. 622f., Sp. 622. Ähnlich lautet auch der Eintrag in Grimms Wörterbuch von 1904; das Wort Spiel wird hier auf germanische Ursprünge zurückgeführt. Siehe: Spiel. In: J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, 16. Leipzig 1904, Sp. 2275-2321, Sp. 2275, Erstausgabe online: http://woerterbuchnetz.de/ DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GS34541. 113 | G. Gebauer, Spiel in der Arbeitsgesellschaft. Über den Wandel des Verhältnisses von Arbeit und Spiel. In: Paragrana, 5 (2/1996), S. 23-39, S. 23ff. Der Artikel ist zudem enthalten in: G. Gebauer, Sport in der Gesellschaft des Spektakels. = Sport, Spiele, Kämpfe. Studien zur Historischen Anthropologie und zur Philosophie des Sports, 5. Sankt Augustin 2002, S. 31ff. Ein Ausgangspunkt solcher Untersuchungen mag der Sport sein, wo bereits um 1970 Bezüge von Sport und Arbeit untersucht wurden. Siehe beispielsweise B. Rigauer, Sport und Arbeit. Soziologische Zusammenhänge und ideologische Implikationen. Frankfurt a.M. 1969, der Sport als Widerspiegelung kapitalistischer Arbeit sieht. 114 | S. M. Grimes, A. Feenberg, Rationalizing Play: A Critical Theory of Digital Gaming. In: The Information Society, 25 (2009), S. 105-118, S. 107. 115 | So wird Freizeit beispielsweise nun definiert als »alle Zeit, in der freie Selbstbestimmung möglich ist«. R. Freericks, R. Hartmann, B. Stecker, Freizeitwissenschaft. Handbuch

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das Schauspiel ebenso wie das Liebesspiel, harmlose Fingerspiele genauso wie das ›Russische Roulette‹.116 Entsprechend werden auch Sport und Computerspiele als Spiele (games) gesehen.117 Allein Begriffe wie ›Freizeitindustrie‹, ›Spielautomat‹ oder ›Computerspiel‹ belegen, dass die Technisierung auch den Bereich des Spiels entscheidend geprägt hat.118 Das menschliche Spiel folgt eigenen, gegenüber anderen Verhaltensbereichen abgegrenzten Regeln. Es vollzieht sich nach idealtypischer Vorstellung frei von äußeren Zwecksetzungen und Zwängen.119 Entsprechend formuliert Immanuel Kant Ende des 18. Jahrhunderts eine klare Abgrenzung, die den Spielbegriff bis in die Gegenwart prägen sollte: »Eine jede Handlung ist entweder ein Geschafte (was einen Zwek hat) oder ein Spiel (was (Fußnote: zur Unterhaltung dient) zwar eine Absicht hat, aber keinen Zwek). In dem letzteren hat die Handlung keinen Zwek, sondern sie ist selber der Bewegungsgrund«.120 Spiel kann – und dies ist eine zentrale Eigenschaft – einen Bereich der Freiheit und der Offenheit des individuellen Handelns erschließen. »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«, schreibt Friedrich Schiller 1793.121 Zwar stellt er selbst seine Überlegungen in den Kontext der Ästhetik; diese Einschränkung verlor sich jedoch im Laufe der Rezeptionsgeschichte, und Schillers Überlegung wurde zum Referenzpunkt der Theorie des Spiels.122 Eine ähnlich umfassende Rahmenaussage formuliert Johan Huizinga in für Pädagogik, Management und nachhaltige Entwicklung. München 2010, S. 20. Diese Definition geht freilich zu weit, da selbständige Arbeit ihr zufolge zur Freizeit zählt. Zum Sportbegriff siehe Kap. B. I + II dieser Schrift. Zur Veränderung der Arbeit siehe beispielsweise den Sammelband von J. Kocka, C. Offe (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit. Frankfurt, New York 2000. 116 | Das Russische Roulette ist allerdings ein Grenzfall des Spiels, weil es auf Ergebnisse außerhalb der Sphäre des Spiels abzielt und der Selbstmord als mögliches Resultat unumkehrbar ist. Zur Verwendung des Spielbegriffs (game) im Kontext verschiedener Disziplinen siehe beispielsweise Avedon/Sutton-Smith, Introduction, S. 1f. Eine Übersicht zu verschiedenen Themenfeldern die sich unter ›Spiel‹ subsummieren lassen, gibt Sutton-Smith, The Ambiguity of Play, S. 3. 117 | Siehe beispielsweise Grimes/Feenberg, S. 107. 118 | Siehe St. Poser, Die Maschinerie des Spiels. Technik und Spiel als Thema der Technikgeschichte. In: Poser/Zachmann, S. 19-35, insbes. S. 30ff. 119 | Zu idealen Bedingungen des Spiels siehe Caillois, S. 16. 120 | I. Kant, Bemerkungen zur Anthropologie aus den Nachlaß (1769-1804), § 618 (Akademie-Ausgabe, Bd. 15, S. 267). 121 | F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1793). In: Schiller, Werke. Nationalausgabe, 20. Weimar 1962, 15. Brief, S. 359. 122 | Zu Schiller vergleiche R. Buland, Homo ludens – der spielende Mensch – the playful (wo)man. Grundzüge und Ausblicke einer kulturgeschichtlichen Figur. In: Homo ludens – der spielende Mensch [Ausstellungskatalog]. Bonn 2003, S. 12- 31, S. 12f.

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seinem Schlüsselwerk zum Spiel, dem Homo ludens 1938: die menschliche Kultur entstehe »in Form von Spiel [und werde] anfänglich gespielt«.123 An ihn schließt beispielsweise Hans-Georg Gadamer an, der im Spiel »eine elementare Funktion des menschlichen Lebens« sieht.124 Aus ganz anderer Warte zählt die amerikanische Philosophin Martha C. Nussbaum Humor und Spiel zu den »konstitutiven Bedingungen des Menschen«.125 Unter Bezug auf den Entwicklungspsychologen und Epistemologen Jean Piaget messen Erziehungswissenschaftler dem Spiel Bedeutung für die Entwicklung und Formierung des Denkens, für die Identitätsbildung sowie für die Ausprägung von Werten und Normen zu.126 Der Psychoanalytiker Donald W. Winnicott unterstreicht die schöpferische Erfahrung, die man beim Spielen machen könne, ebenso wie dessen therapeutische Bedeutung.127 Brian Sutton-Smith sieht Spiel als »eigene Kommunikationsform«, die der Musik vergleichbar sei.128 Auch wenn insbesondere Huizinga mit seinem Ansatz sehr weit geht, wird die Bedeutung des Spiels aus historischer Perspektive durch das Phänomen immer wiederkehrender Spielverbote129 und Diskurse über Gefahren

123 | Huizinga, Homo ludens. Siehe dazu: N. Karafyllis, Die Phänomenologie des Wachstums. Zur Kulturphilosophie und Wissenschaftsgeschichte des produktiven Lebens zwischen den Konzepten von »Natur« und »Technik«. Manuskript der Habilitationsschrift, Universität Stuttgart 2006, Kap. Homo ludens. 124 | H.-G. Gadamer, Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest. Stuttgart 1977, S. 29. 125 | M. C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben. = Gender Studies. Vom Unterschied der Geschlechter, edition suhrkamp, N. F. 739. Dt: Frankfurt a.M. 1999, S. 49, S. 54f. 126 | Siehe Arnseth, Learning to Play, S. 1-11, S. 2. 127 | D. W. Winnicott, Playing and Reality (1971), dt: Vom Spiel zur Kreativität. 9. Aufl., Stuttgart 1997, insbes. S. 62f. 128 | B. Sutton-Smith, Die Idealisierung des Spiels. In: O. Grupe, H. Gabler, U. Gröhner (Hg.), Spiel, Spiele, Spielen. Bericht über den 5. Sportwissenschaftlichen Hochschultag der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft in Tübingen (1982). = Schriftenreihe des Bundesinstituts für Sportwissenschaft, 49. Schondorf 1983, S. 60-75, S. 74. Tatsächlich können sich bei der Untersuchung von Wechselbeziehungen von Musik und Technik vergleichbare Fragestellungen ergeben; siehe H.-J. Braun (Hg.), ›I Sing the Body Electric‹. Music and Technology in the 20th Century. Hofheim 2000; H.-J. Braun, E. Ungeheuer, Formt die Technik die Musik? Montageästhetik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, 31 (2008), S. 211-225. Siehe außerdem die Beiträge zu Musik und Technik in T. Pinch, K. Bijsterveld (Hg.), The Oxford Handbook of Sound Studies. Oxford, New York 2012, Section V-VII, S. 347ff. 129 | Beispielsweise widmet sich bereits Krünitz ausführlich Spielverboten: Spiel. In: J. G. Krünitz, Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats-, Haus- und Landwirtschaft und der Kunstgeschichte, 157. Berlin 1833, S. 510-617, S. 545ff.

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des Spiels untermauert: Verboten und Diskursen liegt die Vorstellung der Wirkmächtigkeit von etwas zu Grunde. Charakteristisch für das Spiel ist in der Regel eine positive, mitunter gelöste und vergnügliche Grundstimmung der Spielenden. Entsprechend schwingen Vergnügen und Fröhlichkeit in einer Reihe von Begriffen für Spiel und Spielformen mit – beispielsweise im altgriechischen paizein (spielen) und paignion (Spielzeug) oder in der chinesischen Bezeichnung wán (spielen), die sich in erster Linie auf das Kinderspiel bezieht, und gleichzeitig sich amüsieren, ›an etwas Vergnügen finden‹ bedeutet.130 Immanuel Kant verbindet in der Kritik der Urteilskraft Spiel und Vergnügen: Das Spiel ist eine »Beschäftigung, die für sich selbst angenehm ist«;131 und »angenehm heißt jemandem das, was ihn vergnügt«.132 »Vergnügen … scheint jederzeit in einem Gefühl der Beförderung des gesammten Lebens des Menschen, mithin auch des körperlichen Wohlbefindens … zu bestehen«.133 Gerade die positive Grundstimmung und Aufnahmebereitschaft für Neues ist entscheidend für die Rezeption der Umgebung. Deshalb basiert das Konzept dieses Bandes zu Technik und Spiel auf einem Spielbegriff, der Spiel und Vergnügen miteinander verbindet. Was auf den ersten Blick eine Erweiterung des Spielbegriffs zu sein scheint, erweist sich als Zuspitzung, verweist doch die Hinzunahme des Vergnügens auf eine wichtige Rahmenbedingung des Spiels. Eine positive, vergnügliche Grundstimmung der Spielenden schließt die Konzentration auf das Spielgeschehen und eine temporäre körperliche Anspannung nicht aus, markiert aber eine Trennlinie: Während Spiel, das verbissen, ohne Vergnügen daran ›gespielt‹ wird, keinen Freiraum mehr gewährt und trotz Spielambientes zum Nicht-Spiel kippt, in dem die Spielenden eher unter Arbeits-, denn unter Spielbedingungen handeln (Extrembeispiel: ein spielerischer Wettkampf, der so hart geführt wird, dass er zum reinen Kampf kippt), verweist die Kombination mit Vergnügen auf einen Grundzug des Spiels, der für die Bereitschaft, sich auf Neues (hier neue Technik) einzulassen, wichtig erscheint. Hier geht es also um die Wirkung äußerer Einflüsse auf die Spielenden, im historischen Kontext um einen Bereich der Prägung von Zeitgenossen durch ihr jeweiliges historisches Umfeld. Sie verläuft nach Einschätzung des Autors bei einer positiven Grundstimmung während des Spiels anders als in Alltags- und Arbeitssituationen, wo der Umgang mit neuer Technik oft mehr oder minder erzwungen ist (z.B. Handynutzung, neue Software). Im Gegensatz zu ›Freizeit‹ (und ›Vergnügen‹) wird durch den Begriff Spiel das Handeln der Akteure herausgestellt. Das wiederum ist für die Aneignung von Wissen und Kompetenzen wichtig. Bei der Einordnung von Spiel als Form des Handelns ergibt sich ein komplementäres Begriffspaar 130 | Huizinga, S. 39, S. 42. 131 | Zitiert nach Kant, KdU, § 43. Siehe auch: Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (Kap. Von der sinnlichen Lust), § 57 (Ausg. Weischedel), § 60 (Akademieausgabe). 132 | Kant, KdU, § 5. 133 | Kant, KdU, § 54.

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Spiel – Technik (Hubig), das deutlich macht, wieso auch Spiel nicht ohne das Mittel Technik auskommt.134 Bei einer Reihe von moderneren Spieldefinitionen wird auf das Kriterium der Zweckfreiheit verzichtet; stattdessen lassen diese Definitionen Ergebnisse zu, die auch außerhalb eines Spiels Bestand haben. So heißt es schon 1971 in The Study of Games von Elliott M. Avedon und Brian Sutton-Smith games are »an exercise of voluntary control systems, in which there is an opposition between forces, confined by a procedure and rules in order to produce a disequilibrial outcome«.135 Definitionen dieses Typs binden alle Wettkampfspiele, bei denen die Gewinnaufzeichnung als wichtig erachtet wird, in das Spiel ein. Folglich werden sie heute insbesondere in Zusammenhang mit Computerspielen verwendet.136 Diesem Ansatz zufolge zählt auch der Sport nebst seinen Wettkampfergebnissen als Spiel. Ergebniseinbeziehende Spieldefinitionen greifen jedoch noch weiter aus: (i) Sie integrieren Simulationsspiele, in deren Rahmen Handlungsweisen erprobt werden, die sich später auf die Welt außerhalb des Spiels übertragen lassen, oder dezidiert zur Aneignung von Handlungsmustern konzipiert wurden – so pädagogisches Spielzeug, das per definitionem auf Lernprozesse ausgelegt ist.137 (ii) Zudem decken sie serious games ab, deren Spielergebnisse von vorherein in außerspielerischen Kontexten genutzt werden sollen.138 (iii) Schließlich integrieren sie das Basteln, das als eine freiwillige, spielerisch-vergnügliche Handlung von vornherein auf ein Resultat abzielt.139 Der hier vorgestellte Typ von Spielde134 | Chr. Hubig, Homo faber und homo ludens. In: Poser/Zachmann, S. 37-56, S. 37ff. 135 | Avedon/Sutton-Smith, Introduction, S. 7. 136 | Siehe K. Salen, E. Zimmerman, Rules of Play – Game Design Fundamentals. London 2004, S. 70ff.; die Autoren geben folgende Spieldefinition: »A game is a system in which players engage in an artificial conflict, defined by rules, that results in a quantifiable outcome«. Ebenda, S. 80. Siehe auch S. Deterding u.a., Gamification: Towards a Definition. Paper given at the Conference on Human Factors in Computing Systems, CHI 2011. Vancouver, BC, Canada, S. 1-4, S. 2, online: http://hci.usask.ca/uploads/219-02-Deterding,-Khaled,-Nacke,-Dixon.pdf (20.11.2012). 137 | Ein Beispiel eines pädagogisch motivierten Verkehrsspiels beschreibt M. Schönberg, Ein Computersimulationsspiel als Instrument einer partizipativen Evaluationskonstellation. Ein Qualitätsvergleich von zwei Settings zur Bürgerbeteiligung an einer Evaluation. ›TELLUS-Spiel‹ plus Interview versus Lektüre plus Gruppendiskussion. TU-Berlin, Diss. phil., Berlin 2007, URN: urn:nbn:de:kobv:83-opus-15891, URL: http://opus.kobv.de/ tuberlin/volltexte/2007/1589/. 138 | Siehe beispielsweise Lauwaert, The Place of Play, S. 107ff. 139 | Gemäß der klassischen Vorstellung der Zweckfreiheit des Spiels muss Basteln als Grenzbereich verortet werden. Siehe unter Bezug auf Sammeln und Basteln als Hobby: Gelber, Hobbies, S. 23f. Zum Basteln siehe Curtius, Modellbau, S. 191. Dennoch bezeichnet beispielsweise Claude Lévi-Strauss das Basteln schon 1962 als Spiel; er bezieht sich dabei auf Regeln der Basteltätigkeit, die er gegen das Konstruieren von Ingenieuren abgrenzt.

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finitionen erweitert die Sphäre des Spiels gegenüber den die Zweckfreiheit des Spiels hervorhebenden Definitionen beträchtlich. Dies ist mit einem Ausgreifen des Spiels in dessen Randbereiche verbunden, das das Feld Spiel sogar in Richtung des ursprünglichen Gegenbegriffs Arbeit öffnet. Die Entwicklung spiegelt eine tatsächliche Annährung: Vor dem Hintergrund der Freizeit- und Dienstleistungsgesellschaft wurden einerseits immer breitere Bereiche des Spiels massenkonsumgerecht rationalisiert; dies ließ sie strukturell arbeitsähnlicher werden. Andererseits wurden Spielelemente aus ökonomischen Gründen in Kontexte implementiert, die eigentlich keinerlei Bezug zum Spiel haben. Diese als gamification bezeichnete Entwicklung soll dazu dienen, Werbung attraktiver zu machen, den Konsumenten gleichsam als Mitproduzenten, als Prosumer,140 in den Arbeitsprozess einzubinden oder anspruchsvollere Arbeitstätigkeiten durch größere Freiräume für kreatives Handeln interessanter zu gestalten, um letztlich die Produktivität zu steigern; die Grenzen zu den immer weiter expandierenden serious games sind dabei fließend.141 Der erweiterte Spielbegriff ermöglicht mit seinem komplementären Verständnis von Spiel und Arbeit eine Reihe von fruchtbringenden Neuansätzen im Grenzbereich Spiel – Arbeit/Alltag. Ganze Arbeitsprozesse lassen sich als Spiel, als »Arbeitsspiel« (Erlach) betrachten. Spiel kann dabei sowohl zum schönen Gelingen technischen Handelns führen, als auch – im Falle irrationaler Spiele mit Technik – zu Katastrophen, wenn die Verfügbarkeit technischer Möglichkeiten die Zwecke ihres Einsatzes bestimmt.142 Ansätze zum Verhältnis von Sportspielen und Alltag werfen die Frage auf, ob sich bei diesen Spielen Bewegungen wiederfinden, die aus der sozialen Praxis kommen, und inwieweit konstitutive Eigenschaften des Sports zugleich Kennzeichen sozialer Praktiken sind.143 Dabei wird ein Spielbegriff unterlegt, der strukturelle Ähnlichkeiten von Spiel und Alltag hervorhebt. Siehe C. Lévi-Strauss, La pensée sauvage (1962), dt: Das wilde Denken. Frankfurt a.M. 1968, S. 30. 140 | B. Blättel-Mink, K.-U. Hellmann (Hg.), Prosumer revisited. Zur Aktualität einer Debatte. Wiesbaden 2010. 141 | Die Gestaltung von sogenannten serious games als Lernspiele wurde bereits um 1970 vorgeschlagen; sie gewann in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung. Siehe C. C. Abt, Serious Games (1970), dt.: Ernste Spiele. Lernen durch gespielte Wirklichkeit. Köln 1971. Siehe auch Deterding, Gamification, S. 2f. Als Beispiel für diese Entwicklung sei Lego serious play genannt, das zur Unternehmensberatung eingesetzt wird. 142 | Siehe K. Erlach, Das Technotop. = Reihe Technikphilosophie, 2. Münster 2000, S. 98, sowie den Beitrag von K. Kornwachs, Das Spiel mit der Technik und seine Folgen. In: Gebauer/Poser, S. 51-77. 143 | G. Gebauer, Chr. Wulf, Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt. Reinbek 1998, S. 62; sowie Alkemeyer/Schmidt, Technisierte Körper, S. 569ff. Verschiedene Ansätze zum Spielbegriff sind dargestellt in Gebauer/Poser, Kalkuliertes Risiko.

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Unter Zugrundelegung eines erweiterten Spielbegriffs decken die im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Spielphänomene – das Spiel mit Technischem Spielzeug, auf dem Jahrmarkt und beim Sport – Kernbereiche des Spiels ab. Folgt man dem Philosophen und Soziologen Roger Caillois, so lassen sich, wie oben erwähnt, vier verschiedene Kategorien des Spiels unterscheiden – der Wettkampf agon, das Glücksspiel alea, das Rollenspiel mimicry und der Rausch ilinx.144 Den Rausch verortet der Autor primär bewegungsgeneriert und verweist auf dessen Tendenz zur Technikabhängigkeit: Die Generierung eines Rausches bei Erwachsenen verlange »gewaltige Maschinerien [zu] erfinden … Es ist also nicht erstaunlich, daß man eigentlich erst das Industriezeitalter abwarten mußte, um den Rausch wirklich zu einer Kategorie des Spiels werden zu sehen«.145 Für alle hier untersuchten Bereiche des Spiels lassen sich Caillois’ Begriffe unter unterschiedlicher Kombination und Gewichtung der einzelnen Spielaktivitäten gleichsam ›durchexerzieren‹: Während der Sport primär durch agon sowie ilinx geprägt ist und sich im Falle eines Spiels für Zuschauer als mimicry deuten lässt, sind auf dem Jahrmarkt – wie Caillois ausführt – alle Spieltypen denkbar. Er sieht Jahrmärkte und Vergnügungsparks als Hauptbeispiele für ilinx: »Durch tausend unbarmherzige, auf den Jahrmärkten und in den Vergnügungsparks aufgestellte Apparate wird er [der Rausch] … einer gierigen Menge dargeboten«.146 Ein Wettkampf agon kann beispielsweise an Schießbuden oder mit selbststeuerbaren Fahrzeugen wie Autoskootern oder Gokarts stattfinden, das Glücksspiel unter Anwendung von Technik an zahlreichen Automaten und Spielgeschäften, ein Rollenspiel mimicry wird den Besuchern beispielsweise in der Geisterbahn vorgespielt, wobei die Geisterbahnfahrt für sie unter Umständen zu einem rauschhaft-schauerlichen Erlebnis wird, während sie bei zahlreichen Fahrgeschäften zum Thema Verkehr selbst in eine gespielte Rolle als Fahrzeugführer, Flugkapitän oder Schiffer schlüpfen können. Der Rausch ilinx dürfte die am häufigsten gesuchte Form des Spiels auf dem Jahrmarkt sein – sei es durch technisch generierte Bewegungen, bei der er häufig in Kombination mit dem Schwindel vertigo auftritt, oder durch Alkoholkonsum.147 Ähnlich dem Sport sind darüber hinaus 144 | Caillois, S. 18ff. Umfassender, aber weniger klar strukturiert ist die Einteilung der verschiedenen Formen des Spiels, die Sutton-Smith etwa vierzig Jahre später 1997 vornimmt. Der Begriff ›play‹ lässt sich weiter ausdeuten als der deutschsprachige Spielbegriff. Entsprechend unterscheidet er neun verschiedene Spielformen. Darunter fallen Wettkampfspiele und Sport ebenso wie Feiern und Feste, spielerische Vorführungen oder – als Grenzbereich – »vicarious audience play« für Fernsehen, Kino, oder Jazz-Vorführungen. B. Sutton-Smith, The Ambiguity of Play, S. 4f. 145 | Caillois, S. 35. 146 | Zitat: Caillois, S. 35. Siehe auch ebenda, S. 150ff. 147 | Caillois sieht den Alkohol- oder Drogenrausch nicht als ilinx, weil eine dem Spiel entsprechende Rahmung fehle; Caillois, S. 60. Der Kulturwissenschaftler Mark Butler arbeitet hingegen Parallelen zwischen chemisch und physikalisch generierten Rauschzuständen

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Erfahrungen möglich, die an von dem Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi beschriebene flow-Erlebnisse gemahnen.148 Das Spiel mit technischem Spielzeug ermöglicht ebenfalls alle von Caillois genannten Varianten des Spiels: Am häufigsten dürften der agon bei der Selbstfertigung von technischem Spielzeug sein, das zu Wettbewerben eingesandt wird, aber auch Wettkämpfe mit Hilfe von Spielzeug – wie Rennen mit Modellfahrzeugen – sind hier zu nennen. Mimicry dürfte die häufigste Form des Spiels mit bereits fertiggestelltem Spielzeug sein. Ilinx lässt sich bei besonderer Begeisterung für einzelne Spiele beobachten – so im Fall von Computerspielen, für deren Analyse das flow-Konzept Csikszentmihalyis übertragen wurde,149 während alea auf technisch generierten Spieloberflächen genauso denkbar ist wie in jedem Spielambiente, das zufallsabhängige Ergebnisse von Spielen ermöglicht.150 Technisierte Varianten des Glücksspiels boten und bieten insbesondere Spielautomaten und entsprechende Onlinespiele am PC.151 Die Cailloisschen Typen des Spiels lassen sich zwischen den Polen paidia und ludus einordnen. Mit ludus bezeichnet Caillois ein Spiel nach strengen Regeln, in dem Hindernisse gesucht und durch Training meisterhaft überwunden werden; paidia ist hingegen das Prinzip des spontanen, improvisierten Spiels. Es hat eine Komponente des Sich-Auslebens, der unkontrollierten Phantasie und der überschäumenden Lebensfreude.152 Betrachtet man paidia anders als Caillois losgelöst von der griechischen Wurzel pais nicht primär als Kinderspiel, sondern als heraus, die er als Spiel verortet: M. Butler, Im Auge des Zyklons. Vom chemischen Rausch und dem psychotropen Spiel mit sich. In: Ilinx, 1 (2009), S. 243-260, S. 243ff. 148 | Die Konzepte von ilinx und flow haben zwar unterschiedliche Ziele – so beschreibt Caillois eine (von ihm neu eingeführte) Form des Spiels, während Csikszentmihalyi ein im Sport beobachtetes Phänomen auf andere Lebensbereiche zu übertragen sucht – und sind deshalb nicht deckungsgleich, aber beide haben eine gemeinsame Schnittmenge bei bewegungsgenerierten Rausch- oder flow-Erlebnissen. Siehe Caillois, S. 32ff., sowie M. Csikszentmihalyi, Beyond boredom and anxiety (1975), dt: Das flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen. Stuttgart 1985. 149 | A. L. Martin, J. Wiemeyer, Technology-Mediated Experiences of Space while Playing Digital Sports Games. In: International Journal of Computer Science in Sport, 11(1/2012), S. 135-146, S. 141. 150 | Siehe auch J. Fritz, Spielzeugwelten. Eine Einführung in die Pädagogik der Spielmittel. = Grundlagentexte Soziale Berufe (ohne Bandang.). Weinheim, München 1989, S. 210. 151 | Zu ersteren siehe W. König, Von Glücksrittern und einarmigen Banditen. Geschichte des Automatenspiels. In: Poser/Hoppe/Lüke, S. 42-47. 152 | Caillois, S. 36ff. Siehe hierzu S. Krämer, Die Welt, ein Spiel? Über die Spielbewegung als Umkehrbarkeit. In: Deutsches Hygiene-Museum (Hg.), Spielen. Zwischen Rausch und Regel. Begleitbuch zur Ausstellung »Spielen, Die Ausstellung«. 20. Januar – 31. Oktober 2005. Ostfildern-Ruit 2005, S. 11-19, S. 11. Ansatzweise findet sich die Unterscheidung Caillois’ in den englischen Begriffen game und play. Zu letzteren siehe beispielsweise B. Kampmann-Walther, Playing and Gaming. Reflections and Classifications. In: Game

A. Zugang zum Thema

Gegenpol zu ludus, so gewinnen diese Aspekte an Bedeutung. Das Herausschieben (im Fall von ludus) oder Übergehen beziehungsweise Nicht-Wahrnehmen (im Fall von paidia) von Grenzen hat für beide Formen des Spiels zentrale Bedeutung. Erst durch dieses Handeln entsteht der Freiraum, den das Spiel benötigt, sobald es kein Kleinkinderspiel mehr ist. Ein solches Spiel ist folglich mit Risiken verbunden; dabei changiert es zwischen Freiheit und dennoch vorhandenen Zwängen bzw. Einflüssen. Technik – sowohl im Sinne von skill als auch im Sinne technischer Artefakte und Sachsysteme – wird dabei in positiver Sichtweise zum Mittel, um Grenzen und Zwänge zu überwinden. Jenseits derer entsteht im Spiel eine eigene Welt, in die die Spielenden für kurze Zeit eintauchen können, wobei ein Reiz des Spiels in seiner zeitlichen Begrenztheit und dem Alternieren mit anderen Beschäftigungen besteht, zu denen es einen Gegenpol bildet.153 In Abhängigkeit vom Spieltyp haben die Spielenden die Möglichkeit, nicht nur eine Spiel-Eigenwelt, sondern eine Gegenwelt zur Arbeit, wenn nicht zum Alltag schlechthin zu erleben, die Spiel, Freizeit und Fest gemeinsam ist.154 Diese Eigen- und Gegenwelten des Spiels sind freilich nicht losgelöst von der Welt zu sehen – vielmehr spiegeln sie sie und sind damit im selben Maße von gesellschaftlichen Entwicklungen und historischen Wandlungsprozessen geprägt wie sie.155 Ein Beispiel einer Gegenwelt bietet der Karneval: Das Spiel der verkehrten Welt, in der die gesellschaftlichen Regeln weitgehend außer Kraft gesetzt sind und ein Karnevalsregiment symbolisch die Herrschaft übernimmt, bietet zumindest seit der Renaissance immer wieder für einige Tage eine Gegenwelt des Alltags. Zwar sind die Grundregeln gleich geblieben, aber die Inhalte haben sich zeittypisch verändert – nicht zuletzt, weil es eine Funktion dieses Spiels ist, die zeitgenössischen Verhältnisse zu karikieren, Kritik zu üben. So bietet der Karneval eine Fokussierung, die – übertragen auf die Nicht-Karnevals-Zeit beziehungsweise die Phase des Nicht-Spiels, des Alltags – den Geistes- und Sozialwissenschaften Studies, 3 (1/2003), S. 1-12, www. gamestudies.org/0301/walther (16.10.2012). Sowie Salen/Zimmerman, S. 72f. 153 | Ein zeitlich nicht limitiertes Spiel oder auch ein Spiel, das über eine sehr lange Zeit ohne Unterbrechung gespielt wird, würde in Ermangelung eines Gegenpols langweilig. Vgl. Kampmann-Walther, S. 1. 154 | Eine Gegenwelt ist immer auch eine Eigenwelt, während dies umgekehrt der Fall sein kann, aber nicht muss. Also ist die Menge der Gegenwelten eine Teilmenge der Menge der Eigenwelten. 155 | Ohne einen solchen Bezug von Welt und Gegen- bzw. Eigenwelt wären Konzepte der Instrumentalisierung von Spielen – seien sie ökonomischer oder pädagogischer Natur – fruchtlos. Beispielsweise wirbt Clark C. Abt mit dem Rückbezug von Spielen zu – wie er schreibt – »Wirklichkeiten« für serious games, denen gegenüber diesen Wirklichkeiten ein erweiterter Handlungsrahmen zugute komme; Abt, S. 19. Zur Bedeutung des Eigenweltcharakters von Spielen siehe beispielsweise G. Gebauer, Sport in der Gesellschaft des Spektakels, S. 94.

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neue Erkenntnisse über gesellschaftliche Strukturen ermöglicht. Die Soziologin Barbara Ehrenreich betrachtet Sportveranstaltungen als eine moderne Form des Karnevals und stellt das Sich-Ausleben der Zuschauer als Gegenritual zum Alltagsverhalten heraus.156 Insgesamt wird man beim Sport jedoch nur in Teilbereichen von Gegenwelten sprechen können – so beispielsweise bei Risikosportarten, die den Sportlern Grenzerfahrungen bieten, die im Zuge der Industrialisierung aus dem Alltag weitgehend gebannt wurden.157 Für den Sport insgesamt scheint eher das Modell der Eigenwelt oder auch Eigenwelten geeignet.158 Die Umschreibungen des Sports als »Welt in der Welt« oder »Sonderwelt« weisen in eine ähnliche Richtung.159 Analog den Gegenwelten sind diese Eigenwelten an die Welt rückgebunden: die Wahl bestimmter Sportarten und die Weise, in der sie betrieben werden, korrespondiert gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen, die genutzten Materialien und Technologien sind zeittypisch, ihre Entwicklung bleibt selbst bei speziellen Pioniertechnologien, die später aus den betreffenden Sportarten in die Alltagstechnik oder Techniknutzung in Arbeitszusammenhängen Eingang fanden, abhängig von der Entwicklung im jeweiligen technischen Umfeld. Analog dem Sport lassen sich der Jahrmarktsbesuch und das Spiel mit Technischem Spielzeug als Eintauchen in eine Eigenwelt beschreiben, die insbesondere beim Jahrmarkt auch Elemente einer Gegenwelt aufweist. So verwundert es nicht, wenn Lauren Rabinovitz amerikanische Vergnügungsparks um 1900 als »new carnivals of noise, light and motion« beschreibt.160 Allen beschriebenen Eigen- und Gegenwelten des Spiels ist gemeinsam, dass sie wegen ihres Rückbezugs zur Welt neue Perspektiven auf gesellschaftliche Entwicklungen bieten, die das technisierte Spiel zum spannenden Forschungsthema machen. Der erweiterte Spielbegriff, der Spielresultate berücksichtigt, ist insofern für diese Arbeit hilfreich, als Sport und Basteln ihm zufolge eindeutig zum Spiel zählen. Allerdings führt er im Sinne der eingangs erwähnten Unschärfe zu einer Reihe von Abgrenzungsproblemen, insbesondere, weil er eine Instrumentalisierung des Spiels nicht ausschließt. Zentral für dieses Vorhaben ist das Vermögen des Spiels, einen Bereich der Freiheit und der Offenheit des individuellen Handelns 156 | Ehrenreich, S. 225ff. 157 | Siehe beispielsweise St. Kaufmann, Technik am Berg. Zur technischen Strukturierung von Risiko- und Naturerlebnis. In: Gebauer/Poser, S. 99-124, S. 113f. 158 | Zur Eigenwelt des Sports siehe beispielsweise J. Court, Interdisziplinäre Sportwissenschaft. Historische und systematische Studien zur Eigenweltthese des Sports. Frankfurt a.M. u.a. 2000. Folgt man Tobias Werron, so gehört der Aufbau einer eigenen Welt zur Modernisierung des Sports. T. Werron, Der Weltsport und sein Publikum. Zur Autonomie und Entstehung des modernen Sports. Weilerswist 2010, S. 10. 159 | E. Franke, Das Spiel – Fundament oder Fassade des Sports (1997), S. 1-20, S. 18. In: Onlineplattform sport : philosophie der Humboldt Universität zu Berlin, www.sportphi losophie.de/das_spiel_fundament_oder_.pdf (22.1.2013). 160 | Rabinovitz, S. 4.

A. Zugang zum Thema

zu erschließen und die Verbindung von Spiel und Vergnügen, die den Kernbereich des Spiels herausstellt. Dies ermöglicht einen Brückenschlag vom technisierten Spiel im Kinderzimmer über den Sport zum Jahrmarkt; zugleich bietet der Ansatz eine Grundlage, die Analyse spielerischer Elemente von technisierten Arbeitsprozessen einzubeziehen.

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B. Spiel, Sport und Technik I. Technisierung des S ports Sport und Technik sind eng miteinander verwoben; der Grad dieser Vernetzung hat seit der Industrialisierung immer weiter zugenommen und wurde – wie im Folgenden ausgeführt wird – zu einem Charakteristikum des Sports. Diese Entwicklung war schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts so klar erkennbar, dass der Autor des prognostischen Artikels Der Sport in 100 Jahren in Arthur Brehmers 1910 erschienenen Sammelband Die Welt in hundert Jahren davon ausgeht, dass es nur noch technikbasierte Sportarten geben werde.1 In Anlehnung an die Ropohlsche Unterscheidung einer ziel- und mittelorientierten Technikverwendung sieht der Soziologe Klaus Heinemann die Entwicklung des Sports in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren »angebots- bzw. mittelorientiert einer Technik [folgen], die sich dynamisch in einem kulturellen, sozialen, rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmen durch die Entscheidungen einer großen Zahl vielfältig institutionell miteinander verflochtener Akteure entfaltet«.2 Zu ergänzen wäre, dass Spezialfirmen unter Einbeziehung von Trainern und Sportlern neue Technik natürlich zielorientiert entwickelt haben und nach wie vor entwickeln, um bessere Ausgangsbedingungen für Wettkämpfe zu schaffen. Die Technikbasiertheit des Sports betrifft die Sportgeräte und die technischen Sachsysteme, die für die einzelnen Sportarten notwendig sind, ebenso wie die Optimierung der Leistungsfähigkeit von Sporttreibenden. Bezogen auf die Sportler lassen sich vier Ebenen der Leistungssteigerung durch Techniknutzung unterscheiden:

1 | Insbesondere hebt der Autor die rasante Geschwindigkeit hervor, die neue Motoren ermöglichen würden. Siehe Ch. D. Edward, Der Sport in 100 Jahren. In: A. Brehmer (Hg.), Die Welt in 100 Jahren. Berlin 1910, Reprint: 7. Aufl., Hildesheim u.a. 2012, S. 283-286, S. 284. 2 | Heinemann, S. 260. Siehe dazu G. Ropohl, Eine Systemtheorie der Technik. Zur Grundlegung der Allgemeinen Technologie. München, Wien 1979, S. 180.

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1. Die Verbesserung der technischen Ausrüstung (von Geräten bis zu motorgetriebenen Fahrzeugen) betrifft die Dinge, die zur Sportausübung notwendig sind und deren Gestaltung auf die Sportler zurückwirkt, indem beispielsweise bestimmte Muskelpartien besonders ausgeprägt werden oder sich Hornhaut bildet. Es werden also nicht nur die technischen Artefakte dem menschlichen Körper angepasst, sondern sie formen diesen auch, weil bestimmte Körperhaltungen – in der Regel angespannte Muskeln – für den gelungenen, weitgehend schmerzfreien Umgang mit den Sportgeräten notwendig sind.3 2. Die Entwicklung neuer Kleidung betrifft die äußere Hülle der Sporttreibenden. Sie kann, wie im Fall der shark skins von Schwimmern, direkt zur Leistungssteigerung dienen4 oder auch indirekt indem sie das Wohlbefinden während des Sporttreibens erhöht, weil sie beispielsweise atmungsaktiv und regenabweisend ist oder dem Auskühlen vorbeugt. Einzelne Sachsysteme wie Schwimmbäder nebst ihrem technischen Equipment können als zweite technische Hülle der Sporttreibenden verstanden werden. 3. Die Leistungsdiagnostik und Entwicklung von Trainingsgeräten – deren Anwendung auf spielerische bis verbissene Art auch in Fitness-Studios betrachtet werden kann5 – verstärken gezielt das körperliche Leistungsvermögen und formen damit indirekt den Körper. In den letzten Jahren wurden verstärkt Tracking- und Analysesysteme entwickelt, die zu Optimierungszwecken jede Aktion eines Spielers aufzeichnen.6 4. Die Konditionsverbesserung durch entsprechende Ernährung – bis hin zur Einnahme von künstlichen – mittels Technik erzeugten – Präparaten (Doping) verändert den Körper direkt und unmittelbar. Der Einfluss der Technik reicht im Sport also bis ins Innere der betreffenden Menschen hinein. Ihr kommt dabei nach Einschätzung des Sportsoziologen Thomas Alkemeyer eine Rolle als »technische[s] Hilfsmittel in einem Handlungsfeld [zu], das der ›industriellen‹ Logik des unbegrenzten Fortschritts und dem Code der Überbietung folgt.«7 Für außerordentliche sportliche Leistungen ist ein Naheverhältnis zur genutzten Technik notwendig, das der Autor als »Fusion« beschreibt; insbesondere im Falle ›Postmoderner Sportarten‹ könne dies zu einem symbiotischen Verhältnis der Sportler zu ihrem Gerät führen.8 Da Sporttreiben 3 | Th. Alkemeyer, Sport-Spiele. In: Poser/Hoppe/Lüke, S. 147-154, S. 147. 4 | Siehe beispielsweise Alkemeyer, Sport-Spiele, S. 149. 5 | Siehe beispielsweise G. Sobiech, Ausgespielt: Techniknutzung und Körperverwendung in Fitnessstudios. In: Poser/Hoppe/Lüke, S. 155-161, insbes. S. 158f. 6 | Systeme wie Mastercoach oder amisco pro gewinnen beispielsweise im Fußball zunehmend an Bedeutung; freundliche Information von Hans-Joachim Braun. 7 | Alkemeyer, Sport-Spiele, S. 149. 8 | Alkemeyer, Sport-Spiele, S. 149. Ders., Die ›Verflüssigung‹ des Gewohnten. Technik und Körperlichkeit im neuen Wagnissport. In: Poser/Zachmann, S. 175-200, S. 188f.

B. Spiel, Spor t und Technik

eine zeitintensive Beschäftigung ist, sind Sportler länger einer technogenen Prägung ausgesetzt als dies in anderen Bereichen des spielerischen Umgangs mit Technik üblicherweise der Fall ist. Der zeitliche Aufwand für den Sport ist vermutlich am ehesten mit dem zur Arbeit vergleichbar. Hier sind vor allen Dingen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert pathologische Veränderungen bekannt, die direkt auf bestimmte Produktionsverfahren beziehungsweise die zugehörige Techniknutzung zurückzuführen sind.9 Sie machen deutlich, wie gravierend sich eine Dauerbelastung des Körpers durch Techniknutzung auswirken kann. Während Produktionstechnik auf die Erzeugung von Produkten hin optimiert wird, werden Sportgeräte dahingehend optimiert, die Köperkraft möglichst weitgehend auszunutzen, beziehungsweise für sportliche Leistungen verfügbar zu machen. Technik ermöglicht dabei, einzelne Muskelpartien gezielt zu trainieren (z.B. Geräte in Fitnessstudios) oder auch den ganzen Körper gleichmäßig zu belasten (z.B. Rudern). Dies intensiviert die Prägung des Körpers durch den Sport noch einmal. Im Regelfall ist die Formung oder Prägung des Körpers durch Sporttreiben vermutlich spätestens seit der Entwicklung des Natürlichen Sports in den 1920er Jahren gesellschaftlich positiv konnotiert,10 sie kann jedoch selbst im Freizeitsport zu beträchtlichen Schädigungen führen. Im Zuge dieser Argumentation unterstreichen diese bedauerlichen Ereignisse die Wirkmächtigkeit von sportlich-spielerisch genutzter Technik. Ergänzt wird der Einfluss der Technik auf die Sporttreibenden durch den auf die Umgebung: Sport- und spielgerechte technische Sachsysteme entstanden als Orte des Sports. Beispielsweise wurden Schwimmbäder oder Stadien mit ihrem zugehörigen technischen Equipment zu neuen Bauaufgaben und prägten aufgrund ihrer baulichen Größe und Besonderheit das Stadtbild mit oder wurden – insbesondere im Falle von Stadien – gar zu Wahrzeichen. Sachsysteme oder auch Infrastrukturen zu Sportzwecken können aber auch außerhalb von Städten entstehen, wenn beispielsweise eine Region für Sport und Freizeit mit einem Wegenetz durchzogen wird, gar Skipisten, Liftanlagen und Seilbahnen angelegt werden, oder man statt Neubauten stillgelegte Verkehrswege und Industriebrachen umnutzt.11 Die spielerisch-sportliche Techniknutzung verändert also nicht nur die Sporttreibenden, sondern formt auch Stadtbilder und Kulturlandschaften. 9 | Bei Glasbläsern kann beispielsweise infolge des heißen Rohres zum Blasen in den Schneidezähnen eine kreisförmige Aussparung entstehen. Siehe W. Weber, Arbeitssicherheit. Historische Beispiele – aktuelle Analysen. = Kulturgeschichte der Naturwissenschaften und Technik, 18. Reinbek 1988, Abb. 60, S. 151. 10 | Zur Prägung des Körpers durch Sport in der jüngsten Vergangenheit siehe Sobiech, Ausgespielt, S. 155ff. 11 | Die Neuanlage von Infrastrukturen zu Sport und Spiel bedeutet meist eine größere Landschaftsveränderung als die Umnutzung. Die Geschichte von Infrastrukturen für Sport, Spiel und Freizeit ist ein vielversprechendes Thema; siehe hierzu das Schlusskapitel dieser Arbeit.

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Die Technikentwicklung ermöglichte zahlreiche neue Sportarten wie beispielsweise den Rad-, Automobil- und Flugsport im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert; dabei wirkt die sportliche Nutzung wiederum auf die Technikentwicklung zurück. Zudem ist Technik die Grundlage von Sportarten, die unter Nutzung bereits etablierter oder gar veralteter Technologien entstanden, wie das sportliche Rudern und Segeln; für solche Sportarten wurde die betreffende Technik unter Umständen trotz fehlender Anwendungsbereiche außerhalb von Sport und Freizeit weiterentwickelt. Ursprünglich kamen technische Neuentwicklungen meist zunächst dem Leistungssport zugute und diffundierten später in den Freizeitsport. Dies trägt zwar nach wie vor zum Image des Sports als modern und innovativ bei, hat sich jedoch wegen der zunehmenden Bedeutung des Breitensportmarkts und der damit verbundenen Produktion von Sportequipment in großen Serien im Laufe der letzten Jahrzehnte verändert.12 In welchem Maße Sport dennoch ein Feld von Hightech-Entwicklungen und deren Erprobung werden kann, macht ein Beispiel aus jüngster Zeit deutlich, die Entwicklung von Kunstrasen für Fußballstadien. Mit Hilfe eines »künstlichen Athleten«, einer Trägerkonstruktion für Messgeräte, mit der sich das Aufsetzen des Fußes auf den Rasen simulieren lässt, wurden Messungen zu Federeigenschaften natürlichen Rasens bei verschiedenen Belastungszuständen unternommen, deren Ergebnisse in die Entwicklung von Kunstrasen eingingen. Im der Zuge der Entwicklung wurde das ›Verhalten‹ künstlicher Grashalme ebenso simuliert und getestet wie die Kombinationen verschiedener Grasvarianten und Einstreu- sowie Untergrundmaterialien. Ziel der Entwicklung ist es nach Herstellerangaben »noch besser zu werden als das natürliche Grün«. Nicht umsonst titelten die VDI Nachrichten 2009: »Kunstrasen ist eine ›Spielwiese‹ für Hightechentwickler«.13

II. S port und S piel Während die Technisierung des Sports retrospektiv geradezu evident erscheint und hier nicht das ›Ob?‹, sondern die Art und Weise der Technisierung zur Diskussion steht, ist die Frage, in wie weit Sport ein Spiel war und ist, aus historischer Warte erheblich schwerer zu beantworten: Trotz einer eindeutigen Ausgangszuschreibung des Sports als Spiel etablierte sich im Laufe der Entwicklung eine Unschärfe der Bezüge von Sport und Spiel, die sich etwa seit den 1960er Jahren auch in einem Wandel des Sportbegriffs niederschlug. Der Begriff sports entstand im neuzeitlichen England und konnte mit Spiel, Belustigung oder Zerstreuung übersetzt werden. Entsprechend bezeichnete er ursprünglich eine Vielzahl von Spielen und Sportarten wie Kegeln, Wurf- und Ge12 | D. Müller, Innovationen, S. 1f., S. 43f. 13 | K. Buck, Kunstrasen ist eine »Spielwiese« für Hightechentwickler. In: VDI Nachrichten, 41 vom 9.10.2009, S. 7.

B. Spiel, Spor t und Technik

schicklichkeitsspiele; Schienbeintreten zählte genauso hierzu wie Vorformen des Fußballs und des Kricket.14 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eta­blierte er sich im deutschen Sprachraum. Mit seiner umfassenden Wortbedeutung mag es zusammenhängen, dass Sport von älteren Autoren generell als Spiel betrachtet wird. Umgekehrt konnte auch Spielzeug dem Begriff ›Sport‹ zugeordnet werden.15 Im Laufe der 1860er bis 1890er Jahre erfolgte eine ›Versportlichung des Sports‹, die durch die Schaffung nationaler und internationaler Organisationen, durch die Vereinheitlichung der Regelwerke und die damit gegebene Vergleichbarkeit von Rekorden (im modernen Sinne des Wortes) gekennzeichnete war.16 Im Zuge dessen entwickelten sich zahlreiche Sportspiele zu heute international praktizierten Sportarten, andere verblieben auf regionaler Ebene oder fanden ihren Platz fortan auf Festen und Jahrmärkten. Im Rahmen dieser Entwicklung entstanden bis etwa 1900 Strukturen, die den Sport bis in die Gegenwart prägen sollten. Der Kulturhistoriker Mike Huggins weist auf den mit der Versportlichung verbundenen Sportboom hin und bezeichnet die Entwicklung sogar als »sporting revolution«.17 Erst mit Abschluss dieses Prozesses lässt sich, wie der Soziologe Tobias Werron feststellt, vom Sport als Einheit sprechen.18 Die Versportlichung förderte eine paradox anmutende Entwicklung der Verortung von Sport und Spiel: Obwohl der Anteil derjenigen wuchs, die Sport aus freien Stücken beziehungsweise als Freizeitbeschäftigung betrieben und die folglich spielerisch-vergnüglichen oder auch gesundheitsorientiert-masochistischen Kontexten zugeordnet werden können, und ihre Zahl beträchtlich höher sein dürfte als die der Profisportler, wurde das Bild des Sports im Zuge der Versportlichung zunehmend von Profis geprägt. Sie trugen sportliche Wettkämpfe gleichsam als Berufsaufgabe aus. Diese als ›Spiele‹ bezeichneten Veranstaltungen zogen eine wachsende Zahl von Zuschauern in ihren Bann, für die beziehungsweise für deren Einbeziehung in den Sport als zahlende Konsumenten mit dem Bau von Stadien sport- beziehungsweise spielbezogene Sachsysteme geschaffen wurden. 14 | Eisenberg, English Sports, S. 25f. Einen Einblick in das britische Verständnis von sports im frühen 19. Jahrhundert gibt J. A. Paris, Philosophy in sport made science in earnest. Being an attempt to illustrate the first principles of natural philosophy by the aid of popular toys and sports, with sketches by George Cruikshank. London 1831. 15 | Beispielsweise klassifizierte das Patentamt 1886 eine Erfindung zur Steuerung von Spielzeugwagen als Sport: Selbstthätige Umsteuerung an Spiel-Fahrzeugen von Eduard Luchs, Nürnberg. Kaiserliches Patentamt, Patentschrift Nr. 39 046 vom 14.9.1886. 16 | Oft finden sich in diesem Zusammenhang die Bezeichnungen ›modern sports‹ oder ›organised sports‹; Werron, S. 26f. Zur Versportlichung und der Überlagerung moderner und traditioneller Sportformen in England siehe M. Huggins, The Victorians and Sport. London 2004, S. 4ff. 17 | Huggins, S. 6. Der Autor bezieht sich dabei auf das viktorianische England und verweist auf die Problematik des Revolutionsbegriffs. Ebenda S. 250, EN 10. 18 | Werron, S. 27.

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Den Zuschauern boten und bieten diese Veranstaltungen ein theaterähnliches Schauspiel beziehungsweise eine mit Jahrmarktsangeboten und Festattraktionen vergleichbare Schaustellung, die freiwillig aus spielerisch-vergnüglichen Motiven besucht wird.19 Nicht von ungefähr weist der Kunstrezensent und Publizist Karl Scheffler schon 1913 in der Frühphase des Stadionbaus darauf hin, dass das Deutsche Stadion in Berlin »in seiner ganzen Gestalt aus[spricht], daß es die Schaustellung [von Sport] befördern will«.20 Heute scheint die Eventkultur von Sportveranstaltungen zunehmend mit Verkaufsmessen und Volksfesten vergleichbar. Einen Brückenschlag wagt Werron: Er stellt eine Verbindung von gegenwärtigen Sportveranstaltungen zu antiken und vormodernen Wettkämpfen her, verweist auf prinzipiell ähnliche Wettkampfformen, ein ähnliches Erlebnisangebot und verortet moderne Sportwettkämpfe als Gesellschaftsspiele.21 Den Zuschauern bot und bietet ein Sport-Schauspiel neben dem Zuschauen auch Anlass zum eigenen Spiel – man denke an Fußballfans und deren Versuche, die ›eigene‹ Mannschaft zu unterstützen. Die Professionalisierung und Kommerzialisierung des Sports verschob demnach die Bereiche des Spiels im Sport. Zwar verlor die Sporttätigkeit auf der Leistungssportebene ihren Spielcharakter, aber es entstanden SportSchauspiele einer neuen Qualität. Diese boten zudem einen geeigneten Rahmen für neue Spielmöglichkeiten der Zuschauer, die den Sport zwar als Ausgangspunkt nehmen, aber in der Mehrzahl keine sportlichen Betätigungen sind. Weder die Versportlichung, Professionalisierung und Kommerzialisierung des Sports, noch die wachsende Bedeutung des Zuschauersports hatte zunächst Einfluss auf die definitorische Einordnung des Sports als Spiel. So heißt es im Brockhaus von 1895, Sport sei »(engl.), Spiel, Unterhaltung, vorzugsweise eine solche Belustigung, die im Freien vor sich geht und mit Körperübung verbunden ist«.22 Die hier vorgenommene Einordnung des Sports als Spiel ist ähnlich charakteristisch für das Sportverständnis im ausgehenden 19. und frühen 20. 19 | Siehe Caillois, S. 30f. 20 | K. Scheffler, Das Stadion. In: Vossische Zeitung vom 10.6.1913, zitiert nach Dinçkal, Sportlandschaften, S. 90. 21 | Werron, S. 140. Risse, Soziologie des Sports, S. 37, zieht ebenfalls Parallelen zur Antike. Christian von Krockow beschreibt Fußballspiele als Schauspiele und weist auf die lange Tradition von Schauspielen hin. Siehe Chr. Graf v. Krockow, Sport. Eine Soziologie und Philosophie des Leistungsprinzips. Hamburg 1974, S. 162ff. Aus historischer Perspektive sind solche mehrere Epochen übergreifenden Überlegungen im Detail natürlich angreifbar. Zudem scheinen sie zu suggerieren, dass Sport ein überzeitliches Phänomen sei, aber um einen abstrakten Strukturvergleich jenseits von zeittypischen historisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzustellen, sind sie hilfreich. 22 | Sport. In: Brockhaus’ Konversations-Lexikon, 15. 14. Aufl., Leipzig u.a. 1895, S. 188. Siehe auch Sport. In: Meyers Konversations-Lexikon, 15. 4. Aufl., Leipzig 1889, S. 176. Der Hinweis, dass beispielsweise »die Bezeichnung Briefmarkensport, ebenso widersinnig [ist] wie die ausschließliche Anwendung des Wortes S. auf die Pferderennen«, verdeutlicht,

B. Spiel, Spor t und Technik

Jahrhundert wie eine Parallelstellungen oder auch eine synonyme Verwendung beider Begriffe. Entsprechend wurde eine um 1900 erschienene Buchreihe Bibliothek für Sport und Spiel benannt. Sport und Spiel umfassen aus Sicht der Herausgeber »kurzhin alle Betätigungen, deren man sich außerhalb des Berufslebens, aus Liebhaberei oder zum Zeitvertreib, hingibt«.23 Heinz Risse, der 1921 eine erste umfassende Soziologie des Sports verfasste,24 unterscheidet ein weiteres und ein engeres Verständnis des Sports: »sein Begriff wird weiter genommen und schließt dann auch alle Spiele wie Schach, Kegelschieben u.a. ein, enger genommen schließt er aus den körperlichen Uebungen Turnen und Gymnastik aus«.25 Risse nimmt hier zwar noch keine eindeutige begriffliche Trennung von Sport und Spiel vor, vertauscht aber die Oberbegriffe und damit die Wertigkeit beider Tätigkeiten. Dies kann als déformation professionnelle zu deuten sein, mag aber gleichzeitig darauf hinweisen, dass ›Sport‹ als der modernere Begriff positiver konnotiert war als ›Spiel‹; erkennbar sind hier die Anfänge einer Entkoppelung. Während Turnen (aufgrund der Bedeutung der Körperästhetik) und die Gymnastik (als Mittel zum Zweck der Körperbeherrschung) für Risse nicht zum Sport zählen, wird das Turnen (Turnspiel) noch im Brockhaus von 1934 unter »Spiel« genannt, Sport wird hier als »Belustigung, Zeitvertreib« definiert, als »jede Tätigkeit, die um ihrer selbst willen ausgeübt wird, aus Freude an der Überwindung von Schwierigkeiten und meist unter freiwilliger Anerkennung gewisser Regeln; im besonderen eine derartige Tätigkeit im Freien, die mit Leibesübungen verbunden ist. Dem Turnen gegenüber sind im S. mehr das Einzelpersönliche und die Höchstleistung des Einzelnen betont; er ist mehr ein Kampf, ein Spiel der freien Kräfte gegenüber den mannigfachen Bindungen im Turnen«. 26

Hier zeigt sich ein unscharfe Konturierung von Sport und Spiel: einerseits deutet der Autor mit der Formulierung es zähle »das Einzelpersönliche und die Höchstleistung des Einzelnen« die Versportlichung an, andererseits wird Sport als »Spiel der freien Kräfte« gegenüber dem Turnen abgegrenzt, das wiederum im Gegenwie unklar die Bezeichnung noch war. In beiden Bänden sind dem Sport nur kurze Artikel gewidmet, während die Beiträge zum Spiel mehrere Seiten umfassen. 23 | Verlagsankündigung des Grethein-Verlags um 1909, beiliegend der Publikation: B. v. Gaza, Rudersport (Skullen und Training). = Miniatur-Bibliothek für Sport und Spiel. Leipzig u.a. um 1909, Martha-Muchow-Bibliothek der Universität Hamburg, Sign. Ld 34a. 24 | Zu frühen Ansätzen, Sport in der Soziologie zu thematisieren, die in das 19. Jahrhundert zurückreichen, und zu Risse siehe K.-H. Bette, Sportsoziologie. Bielefeld 2010, S. 24ff. 25 | Risse, Soziologie des Sports, S. 6; zur Nichteinbeziehung von Turnen und Gymnastik: Ders., S. 9. Seine Beschreibung von Berufssportarten (S. 37ff.) bezieht Risse nicht auf seine Sportdefinition. 26 | Stichworte »Spiel« und »Sport«. In: Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden, 17. 15. Aufl., Leipzig 1934, S. 679f., S. 722f., Zitat: Ebenda, S. 722.

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satz zum Sport dezidiert als Spiel bezeichnet wird; die allgemeinen Merkmale des Sports (»jede Tätigkeit …«) gleichen jenen des Spiels. Dezidiert als Spiel ordnet der Sportfunktionär Carl Diem den Sport noch 1949 ein: »Sport ist ein geregeltes, ernstgenommenes, steigerbares, zweckfreies Spiel«, schreibt er. Diese Formulierung wurde in mehreren Neuauflagen seines Buches Wesen und Lehre des Sports bis 1969 beibehalten, dürfte damals jedoch bereits altmodisch gewirkt haben, wie sich im Folgenden zeigen wird.27 1954 verortet der Philosoph Ortega y Gasset Sport als Kultur: »Sport ist kein Spaß, sondern im Gegenteil eine Anstrengung. Deswegen ist er der Bruder der Arbeit; aber es gibt zwei Arten von Anstrengungen, die zweckgebundene und die zweckfreie. Nur die letztere ist wahrhaft schöpferisch. Nur ihr verdanken wir die menschliche Kultur. Sporttreiben bedeutet Anstrengung, zweckfreie Anstrengung, Anstrengung aus reiner Freude, die den Menschen freisetzt von Zwängen und ihn so zu sich selbst zurückführt. Und darum ist Sport Kultur«. 28

Er wertet damit den Sport zweifach auf – einmal durch die Verbindung zur Arbeit, die in einer Gesellschaft, deren Selbstverständnis auf Arbeit beruht, positiv konnotiert ist, und einmal durch die Einordnung von Sport als Kulturleistung – wobei dies aus zeitgenössischer Perspektive vor dem Hintergrund des Verständnisses von (Hoch-)Kultur als Gegenbegriff zu Zivilisation eine höhere Wertschätzung ausdrückt als in der Gegenwart. Seine Argumentation baut er auf der Zweckfreiheit des Sports und dessen Freiwilligkeit auf. Damit nennt er zentrale Eigenschaften des Sports wie des Spiels: beide Begriffe erscheinen in dem hier zitierten Abschnitt des Vortrags auswechselbar. Mit ›Arbeit‹ als Referenzgröße des Sports stellt Ortega y Gasset eine Verbindung her, die in den folgenden Jahrzehnten zu einer Neudefinition des Sportbegriffs führen sollte, wobei der von ihm nicht genannte Aspekt der beruflichen Arbeit im Sport zunehmend an Bedeutung gewinnen sollte. Während Risse den Sport 1921 als sinnvolle Betätigung in einer sinnentleerten industriellen Arbeitswelt sieht und ihn damit als Ausgleich zur technikbasierten Arbeitswelt einordnet,29 bezieht der Schriftsteller und Kulturkritiker Friedrich Georg Jünger Sport in 27 | In der direkten Nachkriegszeit ist Diems Einordnung des Sports sicher auch als Abgrenzung gegenüber der NS-Sportpolitik zu lesen, in die der Autor involviert war. Siehe C. Diem, Wesen und Lehre des Sports (1949), weiter erschienen mit erweitertem Titel: Wesen und Lehre des Sports und der Leibeserziehung. 5. Aufl., Berlin 1969, S. 14 (Zitat). Die letzte Ausgabe erschien posthum; dies mag ein Grund dafür sein, dass die Passage nicht geändert wurde. 28 | Vortrag Ortega y Gassets auf dem DSB Bundestag 1954, zitiert nach K. Gieseler u.a. (Hg.), Der Sport in der Bundesrepublik Deutschland. = Ämter und Organisationen der Bundesrepublik, 35. Bonn 1972, S. 29. 29 | Risse, Soziologie des Sports, S. 25f. Ähnlich äußerten sich auch Gewerbemediziner. Siehe N. Dinçkal, »Sport ist die körperliche und seelische Selbsthygiene des arbeitenden

B. Spiel, Spor t und Technik

seine Kritik an Arbeitsbedingungen ein und beschreibt ihn 1959 als »Kennzeichen einer maßlos gewordenen, mechanisierten Arbeitswelt, die auch das Spiel umformt und unter mechanische Bedingungen stellt«.30 Damit verortet Jünger Sport weiterhin als Spiel, weist aber auf (eigentlich nicht mehr neue) Einflüsse infolge der Industrialisierung hin; indirekt stellt er so auch die Bedeutung der Technik für den Sport heraus. Im Ostblock wurde hingegen die sowjetische Bezeichnung fiz’kultura/Körperkultur eingeführt und damit die Bedeutung des Breitensports hervorgehoben, ohne sich auf Spiel und Arbeit als Referenzbegriffe zu beziehen.31 Christian von Krockow diagnostiziert 1974 zwar eine Arbeitsaffinität des Sports und referiert über Zwänge im Leistungssport, arbeitet aber am Beispiel des Fußballs auch dessen Multifunktionalität sowie die spielerisch-beglückende Seite des Sports heraus.32 Ein Definitionsversuch in einem Sportlexikon von 1969 deutet auf den langsamen Umwertungsprozess hin. Der Autor stellt zwar noch in ähnlicher Weise einen Bezug zu »Zerstreuung, Belustigung, [und] Unterhaltung« her wie der Brockhaus von 1895, fährt aber fort: »Heute wird als Sport allgemein die Leibesübung nach dem Leistungsprinzip des Wettkampfes verstanden«.33 Westliche Buchtitel wie Sport zwischen Freiheit und Zwang aus den 1970er und 1980er Jahren verweisen ebenfalls auf eine Neubewertung.34 Schon die Amateurdebatte des 19. Jahrhunderts hatte mit der Abgrenzung von Amateuren und Professionalisten, die Sport um Preisgelder beziehungsweise als Erwerbsquelle betrieben, in Richtung einer Trennung von beruflich betriebenem Leistungssport und mehr oder minder spielerisch betriebenem Breitensport gewiesen, während die Professionalisierung der Teilnehmer Olympischer Spiele (die formal bis 1990 Amateurstatus hatten) deutlich macht, dass es hier zu sprachlichen Überlagerungsphänomenen kommt, die die Vielschichtigkeit des Sports zwischen Spiel und Berufsarbeit spiegeln. ›Postmoderne Sportarten‹ wie Skating, Snowboarding oder Paragliding, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts aufkamen, weisen keine so klar messbare Leistungsorientierung auf wie traditionelle Sportarten. Da die Bewertung der Sporttreibenden auf verschiedenen Parametern basiert, die bewusst Raum für individuelle Ausgestaltung lassen, sind sie dem Spiel nach klassischer Definition Volkes«. Über Arbeit, Leibesübungen und Rationalisierungskultur in der Weimarer Republik [Themenheft Körper im Fordismus – fordistische Körper]. In: Body Politics. Zeitschrift für Körpergeschichte, 1 (2013), S. 71-97, S. 72f. 30 | F.G. Jünger, Die Spiele. München 1959, S. 89, S. 168; zitiert nach Krockow, Sport, S. 157. Was hier als konservative Kulturkritik formuliert wird, vertraten später in ähnlicher Weise die JUSOS; siehe Kap. B.III.6, S. 100. 31 | Siehe beispielsweise: Kleine Enzyklopädie Körperkultur und Sport, 5. Aufl., Leipzig 1979. Sowie aus historischer Perspektive N. Katzer, S. Budy, A. Köhring, M. Zeller (Hg.), Euphoria and Exhaustion. Modern sport in Soviet culture and society. Frankfurt a.M. 2010. 32 | Siehe Krockow, Sport, S. 27, S. 157ff. 33 | A. Petermann, Sportlexikon. Köln, München 1969, S. 550 (Herv. Poser). 34 | P. Jakobi, H.-E. Rösch (Hg.), Sport zwischen Freiheit und Zwang. Mainz 1981.

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sicherlich näher als zahlreiche profihaft betriebene traditionelle Sportarten.35 Die ganze Bandbreite des modernen Sports durch eine Definition abzudecken erweist sich als immer schwieriger. In gegenwärtigen sportwissenschaftlichen Definitionsversuchen wird Sport als »kognitives Konzept … [für] unterschiedliche menschliche Aktivitäten und Verhaltensweisen« betrachtet, um dann einzelne Sportarten zu unterscheiden.36 Als Charakteristika werden die körperliche Eigenleistung im Sport, der Versuch, die eigenen körperbezogenen Fertigkeiten zu verbessern, sowie die freiwillige, friedliche Auseinandersetzung mit anderen Sporttreibenden genannt.37 Die breit angelegten Definitionsversuche des Begriffs Sport durch die Sportwissenschaften weisen darauf hin, dass die gesellschaftliche Bedeutung des Sports im Laufe der Zeit zugenommen hat, dass sich das Spektrum der unter dem Begriff vereinten Tätigkeiten erheblich erweiterte hat, und dass das Selbstverständnis der Sporttreibenden analog zur Vielfalt der Sportarten sehr heterogen geworden ist. Zu den klassischen Gegensätzen von Amateuren und Profispielern sowie Einzel- und Mannschaftssport ist der Gegensatz von Vereinssport und ›postmodernen‹ Ad-hoc-Treffen getreten; dabei ist gerade das Selbstverständnis von Vertretern ›Postmoderner Sportarten‹ und den Vereinsmitgliedern sehr unterschiedlich.38 Um das Spektrum der verschiedenen Sportarten zu fassen, bemühen Sportwissenschaftler inzwischen Wittgensteins auf das Spiel bezogene Idee der Familienähnlichkeit von Begriffen.39 Für eine Untersuchung des Sports im Kontext anderer Tätigkeiten eignen sich die dargestellten ausgreifenden sportwissenschaftlichen Definitionen ebenso wenig wie Elluls Technikdefinition zur Untersuchung von Technik. Allerdings blieb das Spiel auch für Sportwissen-

35 | Gleiches gilt für Sportarten wie Kunstturnen oder Eiskunstlauf, bei deren Bewertung die Preisrichter freier waren als bei anderen traditionellen Sportarten. Siehe Krockow, Sport, S. 18. 36 | N. Haverkamp, Typisch Sport? Der Begriff Sport im Lichte der Prototypenmodelle. = Bundesinstitut für Sportwissenschaft. Wissenschaftliche Berichte und Materialien, 4/2005. Köln 2005, S. 71. Zu den Schwierigkeiten, Sport zu definieren, siehe beispielsweise W. Behringer, Kulturgeschichte des Sports. Vom antiken Olympia bis zur Gegenwart. München 2012, S. 13f. 37 | Siehe beispielsweise C. Tiedemann, Sport (and Culture of Human Motion) for Historians. An Approach to Precise the Central Term(s). In: A. Teja, A. Krüger, J. K. Riordan (Hg.), Sport and Cultures. Proceedings of the 9th International Congress of the European Committee for Sport History (CESH) Crotone, Italy 26 – 29 September 2004, 2. Crotone 2005, S. 410-416, S. 410ff. In etwas veränderter Fassung verfügbar unter: www.sportwissenschaft.uni-hamburg.de/tiedemann/documents/VortragCrotone2004Englisch.pdf (22.11.2014). 38 | Alkemeyer, Verflüssigung, S. 177f. 39 | Haverkamp, S. 71. Der Band ist in einer Reihe des Bundesinstituts für Sportwissenschaft erschienen. Zu verschiedenen Definitionsversuchen siehe Werron, S. 37.

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schaftler ein Referenzpunkt. So widmet beispielsweise Elk Franke 1997 einen Aufsatz der Frage, ob das Spiel nun Fundament oder Fassade des Sports sei.40 Die zunehmende Popularität des Sports führte bereits um 1900 dazu, dass er im Rahmen von Theorien des Spiels als ein eigenständiger Spieltyp gewürdigt wurde. So fragt der Philosoph und Psychologe Karl Groos in seinem 1899 erschienenen Buch Die Spiele der Menschen: »Was macht das Spiel zum Sport?« und sieht dies in Veränderungen im Zuge der Versportlichung: Entscheidend sei die Entwicklung einer »Theorie des Spiels …, die sich mit der vollkommensten Ausführung der Spielthätigkeit, mit den Spielregeln, mit den dazu nöthigen Vorübungen, mit dem ›training‹, mit den geeignetsten Ausrüstungsgegenständen, mit der passendsten Kleidung u.s.w. abgiebt, und nur derjenige, der sich angelegentlich damit beschäftigt, die verschiedenen Anforderungen, die diese Theorie an ihn stellt, zu erfüllen, ist ein eigentlicher Sportsmann. Man kann also den Sport als den durch Reflexion geleiteten, als den wissenschaftlichen Betrieb eines Spieles bezeichnen«. 41

Auch für Huizinga bleibt Sport ein Spiel; die Entwicklungen im Zuge der Versportlichung bewertet er jedoch kritisch: (Sport-)Spiele seien »immer ernsthafter aufgefasst« worden.42 »Im Sport … [haben] wir es mit einer Betätigung zu tun, die bewußt und anerkannt Spiel ist, die jedoch auf eine so hohe Stufe technischer Organisation, materieller Ausrüstung und wissenschaftlicher Durchdachtheit gebracht worden ist, daß in ihrer kollektiven öffentlichen Ausübung die eigentliche Spielstimmung verlorenzugehen droht«, schreibt Huizinga 1938.43 Zufolge der Sichtweise des Sports als Wettkampf, die durch die Caillois’sche Kategorisierung von Spielen untermauert wird, ist Sport zweifelsfrei Spiel. Zudem trifft Caillois’ Beschreibung des Spieltyps ludus als ein Spiel nach strengen Regeln, in dem Hindernisse gesucht und durch Training meisterhaft überwunden werden, auf den Sport zu.44 Die hier referierten Zuordnungen werden durch die neueren, ergebniseinbeziehenden Spieldefinitionen bestätigt, denn nun ist analog zur Ergebnisaufzeichnung und -nutzung bei Computerspielen auch die Aufzeichnung von Wettkampfergebnissen und deren Nutzung im Sport als outcome des Spiels gestattet.45 Diese Definitionen verstärken also die Einbindung des 40 | Franke, Das Spiel – Fundament oder Fassade des Sports (1997). 41 | Groos, Die Spiele der Menschen (1899), S. 150f. (Herv. im Original). Diese Argumentation wird in ganz ähnlicher Form von Modellbahnern genutzt, um ihre Tätigkeit gegenüber dem Spiel abzugrenzen; siehe das Kap. D.III.6 dieser Arbeit. 42 | Huizinga, S. 213. 43 | Huizinga, S. 215 (Herv. Poser). 44 | Caillois, S. 18ff., S. 36ff.; siehe die Einleitung dieser Arbeit. 45 | Eine Unterscheidung zwischen Spiel und Sport am Vorhandensein eines einheitlichen Regelwerks festzumachen, ist auch von klassischen Spieldefinitionen nicht gedeckt; er-

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Sports in das Spiel noch einmal. In der Theorie des Spiels ist die Lage also eindeutig: Sport war und ist Spiel. Die spielbezogenen Theorien aus der Philosophie, der Soziologie, der Pädagogik sowie den Kultur- und Medienwissenschaften stehen den sehr offen formulierten Definitionsversuchen des Sportbegriffs aus der Sportwissenschaft gegenüber. Ein Grund hierfür mögen unterschiedliche Foci der verschiedenen Disziplinen beziehungsweise Forschungsfelder sein: Während die Theoretiker des Spiels das Gesamtsystem Spiel im Auge haben, gehen Vertreter der Sportwissenschaften vermutlich eher von der Praxis aus und stellen entsprechend die Sporttreibenden als Akteure im Mittelpunkt. Beide Ansätze sind also auf unterschiedlichen Ebenen zu verorten, die wenige Berührungspunkte haben. Dennoch lassen auch die sportwissenschaftlichen Definitionen nach wie vor Raum für eine Betrachtung des Sports als Spiel. Denn obwohl die Spielhaftigkeit des Sports von ihnen nicht oder nur am Rande thematisiert wird, bleibt sie indirekt erkennbar: eine Auseinandersetzung von Parteien setzt Regeln voraus, die für Sport und Spiel gleichermaßen bedeutsam sind, weil gerade sie den Freiraum definieren, innerhalb dessen Sport beziehungsweise Spiel stattfinden können; wichtig ist in beiden Fällen das systematische Heranschieben an und das Austesten von Grenzen im Sinne von ludus, das sowohl beim modernen als auch beim ›postmodernen Sport‹ meist im Rahmen von Wettkämpfen agones stattfindet, wobei die Bandbreite vom improvisierten Kräftemessen kleiner Gruppen bis zu reglementierten internationalen Wettkampfveranstaltungen reicht. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Sport verschiedene Bedeutungsebenen aufweist, kann er aufgrund der hier angestellten Überlegungen guten Gewissens als Spiel betrachtet werden. Relevant für die technikhistorische Auseinandersetzung mit dem Sport ist seine Qualität als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen bezüglich des Umgangs mit der Industrialisierung und Technisierung.46 Folgt man von Krockow, so ist – er schreibt dies in den 1970er Jahren – Sport »konzentrierter Ausdruck von Prinzipien und Problemen, die die Industriegesellschaft [hinzufügen muss man hier inzwischen die Dienstleistungsgesellschaft] kennzeichnen«.47 Bezüge von Technik und Spiel sowie deren sozial- und wirtschaftshistorischen Hintergründe werden im Folgenden am Beispiel einer einzelnen Sportart, des Ruderns, ebenso untersucht wie am Beispiel eines technischen Sachsystems zu Sport- und Spielzwecken. Hierzu wird die Entwicklung von Schwimmbädern analysiert.

weiterte Spieldefinitionen schließen internationale Regelwerke und den globalen Vergleich von Sportergebnissen allemal ein. Vergleiche Werron, S. 62f. 46 | Ganz im Sinne dieser Arbeit ist die Abgrenzung Werrons gegenüber nationalen Stilen, wobei er den Sport als eigenständigen Funktionsbereich innerhalb der Gesellschaft sieht; Werron, S. 11. 47 | Krockow, Sport, S. 7.

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III. F allbeispiel : R udern in S portbooten Rudern soll im Kontext dieser Darstellung als technisierte Sportart und als eine Form des Spiels analysiert werden. Für dieses Spiel sind in der Regel Ruder­boote notwendig.48 Die Boote können als Artefakte oder aufgrund ihrer Komplexität auch als technische Sachsysteme gedeutet werden; zudem sind sie (Teil-)Orte des Sportspiels,49 deren Gestaltung auf dessen Ausformung zurückwirkt. Obwohl man das sportliche Rudern auf den ersten Blick nicht mit Technik in Verbindung bringen wird, erweist sich, wie stark die Bezüge sind. Somit kann Rudern eher als repräsentatives Beispiel für die Durchdringung des Sports mit Technik stehen als eine Sportart, die offensichtlich technikbasiert ist. Seine beträchtliche Popularität im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert lässt es ebenso betrachtenswert erscheinen wie die Versportlichung des Ruderns gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Dies ermöglicht, Huizingas These über den Verlust des Spielcharakters von Spielen, insbesondere Sportspielen, im Zuge der Modernisierung und Industrialisierung näher zu untersuchen.50 Die entscheidenden technischen Entwicklungen von Sportruderbooten vollzogen sich bis in die 1870er Jahre. Die Aneignung der nun vorhandenen Technik im Sinne eines technikadäquaten Bewegungsablaufs beim Rudern sollte bis in die 1930er Jahre dauern, während die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch durch kleinere technische Verbesserungen der Boote gekennzeichnet ist – und den Materialwechsel von Holz und Sperrholz zu Kunststoffen, der zu einer Reihe konstruktiver Veränderungen führte. Damit liegt der Untersuchungszeitraum des Ruderns weitgehend in einer Periode, in der der Sport noch unstrittig als Spiel gesehen wurde. Sportboote ermöglichen verschiedene Formen des mehr oder minder sportlichen Ruderns mit unterschiedlichen Akzenten: das Spektrum reicht von der Freizeitgestaltung durch Breitensport und Ausfahrten zur Unterhaltung oder mehrtägige Wanderfahrten, über das sogenannte Stilrudern, bei dem ein ästhetischer Bewegungsablauf im Vordergrund steht, bis zum sportlichen Training und Wettkampf. In allen Fällen kommt einem durch Techniknutzung ermöglichten Natur-

48 | Zu Spiel- und Trainingszwecken lassen sich die Boote auch durch Kisten und Stöcke oder Ruderapparate ersetzen; dies soll jedoch nicht Gegenstand des folgenden Kapitels sein. 49 | Als Ort des Spiels muss der Vollständigkeit halber natürlich auch das Wasser genannt werden; in Abhängigkeit von Dichte (Süß- oder Salzwasser) und Wellengang kann es sogar erheblichen Einfluss auf die Ruderbedingungen haben. 50 | Huizinga, S. 208, S. 214f. Zu Huizingas Technikverständnis siehe D. van Lente, Huizinga’s Children: Play and Technology in Twentieth Century Dutch Cultural Criticism (From the 1930s to the 1960s). In: Braun/Poser, S. 52-74, S. 56ff.

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erlebnis als Gegenwelt zur üblichen städtischen Umgebung Bedeutung zu.51 Der sportliche Wettkampf prägte sowohl das Bild des Ruderns in der Öffentlichkeit als auch dessen technische Entwicklung. Während Wettkämpfe mit filigranen Booten erfolgten und erfolgen, die zunehmend auf Geschwindigkeit optimiert wurden, sind für andere Formen des Ruderns robustere und – insbesondere für Wanderfahrten – breitere Boote mit etwas Stauraum vorteilhaft. Deren technische Entwicklung orientierte sich am Rennbootbau, wobei Innovationen meist mit Zeitverzögerung übernommen wurden.

1. Rudern wird zum Sport Ruderboote sind – Dank der Weiterentwicklung von Booten und Rudertechnik – die schnellsten muskelbetriebenen Wasserfahrzeuge. Moderne Rennboote erreichen problemlos Fahrradtempo und erlauben Wettfahrten mit Binnenschiffen. Technische Voraussetzung dafür ist die vergleichsweise direkte Kraftübertragung von den Rudernden auf das Boot. Während die Kraftübertragung auf Paddelboote oder Kanus durch den Oberkörper erfolgen muss, geschieht dies beim Rudern durch die im Drehpunkt der Ruder (Skulls bzw. Riemen)52 liegende Verbindung mit dem Boot, die Dolle, und deren Befestigung, die bei Sportbooten als Ausleger ausgebildet ist. Das Rudern in Sportbooten ist ein komplexer Bewegungsablauf, der erlernt und trainiert werden muss. Es handelt sich um einen ausgesprochen kraftintensiven Kombinationssport, bei dem nahezu alle Muskeln einbezogen sind.53 Seine Faszination liegt in der Verbindung von Naturerlebnis, dem Dahingleiten auf dem Wasser und dem rhythmischen, gleichförmigen, scheinbar von selbst ablaufenden Bewegungsvorgang des Ruderns, der ein flow-Erlebnis, ein glückvolles sich

51 | Entsprechende Passagen finden sich in einer Reihe von Schriften über das Rudern; siehe beispielsweise E. Goldbeck, Unsere Jungen beim Rudersport. Psychologische Analysen des Erlebniswertes einer Körperübung. Leipzig 1929, S. 63f. Sowie: H. Wilker, Das Rudern. Eine Einführung für Alle in den Rudersport. Stuttgart [1922], S. 51. 52 | Rudernde nutzen entweder einen Riemen von ca. 3.70 m Länge oder zwei Skulls von knapp 3 m Länge. 53 | Charakteristika des Ruderns aus sportwissenschaftlicher Perspektive bieten W. Fritsch, H. Lenk, H. Michna, V. Nolte, W. Schröder, Rudern im Spiegel der Wissenschaft. Ein Überblick. In: W. Fritsch, H. Lenk, V. Nolte (Hg.), Rudern im Spiegel der Wissenschaft. Berichte zur Festakademie zum 100. Jubiläum des Deutschen Ruderverbandes am 18. März 1983 in Köln. Hannover 1987, S. 9-38, S. 16f. Aus sportmedizinischer Perspektive siehe den Sammelband von J. M. Steinacker (Hg.), Rudern. Sportmedizinische und sportwissenschaftliche Aspekte. 4. Symposium der Sektion »Wissenschaft und Lehre« des Deutschen Sportärztebundes in Verbindung mit dem Deutschen Ruderverband … 1987. Berlin u.a. 1988.

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Getragen-Fühlen ermöglicht,54 das man in Anlehnung an die Caillois’schen Spieltypen auch als eine Form des Rausches ilinx beschreiben kann.

Abb. 1: Ausfahrt des Hamburger Ruder Clubs um 1840, zeitgenössische Zeichnung von Otto Speckter. Die Ruderer und Vereinsgründer entstammen der städtischen Oberschicht. Ihr Gigboot, ein schlanker Sechser, wurde aus England importiert. Es ist mit festen Dollen auf der Bordwand ausgestattet, die zum Einlegen von Riemen (langen Rudern) dienen. Damit der Innenhebel der relativ schweren, massiv gefertigten Riemen lang genug ist, wurden die Sitzplätze versetzt angeordnet. Die Ruderblätter haben noch keine Wölbung. Rudern als Sport entwickelte sich in England; es zählte schon im frühneuzeitlichen England zu den populären sports.55 Analog zu anderen Arten von sports umfasste Rudern ein breites Feld von Aktivitäten und Attraktionen spielerischsportlichen Charakters. Hinzu kamen Blumen- und Lampionkorsos, wie sie später auch von Fahrrad- und Automobilclubs organisiert wurden.56 Die heute übliche Form des Rennsports schälte sich erst langsam im Zuge der Versportlichung des Ruderns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert heraus. Bereits im 18. Jahrhundert fanden allerdings regelmäßig Regatten statt, und die ersten 54 | Csikszentmihalyi, Das flow-Erlebnis. Und: Fritsch/Lenk u.a., S. 17. 55 | Eisenberg, English sports, S. 25. 56 | Eine Abbildung siehe bei Wilker, Das Rudern, S. 55, Abb. 25. Zur Bedeutung von solchen Korsos siehe am Beispiel des Radfahrens A.-K. Ebert, Radelnde Nationen. Die Geschichte des Fahrrads in Deutschland und den Niederlanden bis 1940. Frankfurt, New York 2010, S. 208ff.

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namentlich bekannten Vereine entstanden.57 Akteure in den Booten waren zunächst insbesondere die watermen, Angehörige der Londoner Gilde der Fährleute, seit Beginn des 19. Jahrhunderts verstärkt auch Mitglieder des Adels und des gehobenen Bürgertums. Nicht von ungefähr berichtete die erste Sportzeitung, das seit 1792 erscheinende The Sporting Magazine, regelmäßig über Ruderregatten: Rudern entwickelt sich zum Elitesport; schon vor 1800 verfügte Eton über Ruderboote,58 und seit 1829 werden Regatten zwischen den Universitäten Oxford und Cambridge ausgetragen, die im Laufe der Zeit zu Großereignissen mit Tausenden von Zuschauern avancierten.59 1834 erschien mit den British Manly Exercises, containing Rowing and Sailing, Riding & Driving von Donald Walker vermutlich das erste Werk über das Sport- und Freizeitrudern.60 In England sollte Rudern in den nächsten Jahrzehnten zu den Sportarten gehören, über die am meisten publiziert wurde. Es entwickelte sich mehr und mehr zum Zuschauersport; zu Regatten wurden durchaus zwischen 50.000 und 100.000 Besucher erwartet,61 für die eine entsprechende Infrastruktur entstand: Tribünen längs der Regattastrecken, Verkehrswege zur An- und Abreise, Übernachtungsmöglichkeiten und Verpflegung der Zuschauer wurden notwendig. Hand in Hand damit etablierten sich renommierte Rennstrecken wie die Henley-Regatta auf der Themse.62 Damit erfüllte Rudern eine doppelte SpielFunktion: es erlaubte eine aktive spielerisch-sportliche Tätigkeit und ermöglichte gleichzeitig – wie eine Schaustellung – das Zuschauen. Rudern gehört gemeinsam mit dem Pferderennen zu den wenigen Sportarten, die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem Kontinent 57 | Eines der ersten bekannten Rennen war das Doggett’s Coat and Badge-Race, das seit Anfang des 18. Jahrhunderts in London ausgetragen wird – gestiftet von einem Theaterdirektor des Dury Lane Theaters. Siehe Reckendorf, Entwicklungsgeschichte, S. 40f. Frühe Vereine waren der Arrow, der Star und der Shark Club, der älteste bis heute bestehende Verein ist der vermutlich 1818 gegründete Leander-Club. Siehe G. Reckendorf, Leander – der älteste Ruderclub der Welt. In: Der Hamburger und Germania Ruderclub, S. 35-37, S. 35. 58 | Siehe H. Ueberhorst, Hundert Jahre Deutscher Ruderverband. Eine historisch-kritische Würdigung. Minden 1983, S. 15. Zum Sporting Magazine siehe Eisenberg, English Sports, S. 32. 59 | Gemäß R. Pfeiffer, Das Rudern mit Wanderrudern und Skullen als volkstümlicher Sport (um 1900). 2. Aufl., Leipzig um 1910, S. 14, fand ein erstes Rennen bereits drei Jahre zuvor statt; 1829 traten erstmals zwei Achtermannschaften gegeneinander an. 60 | D. Walker, British Manly Exercises, containing Rowing and Sailing, Riding & Driving. London 1834. Das Buch war so erfolgreich, dass es bis 1857 in elf Auflagen erschien. Siehe Thomas, Swimming, S. 243. 61 | Huggins, S. 8, S. 47, S. 157. 62 | Reckendorf, Entwicklungsgeschichte, S. 103f. Zur Anreise mit der Eisenbahn siehe W. König, Geschichte der Konsumgesellschaft. = Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte, 154. Stuttgart 2000, S. 270.

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übernommen wurden; maßgeblich beteiligt an diesem Kultur- und Techniktransfer waren Engländer, die ihre Sportarten bei Reisen oder Auslandsaufenthalten nicht missen wollten.63 Der erste deutsche Ruderclub entstand 1836 in Hamburg mit Hilfe eines Ruderclubs englischer Kaufleute; auch das erste Boot wurde in England gekauft, und die Trainer des Vereins sollten bis zum Ersten Weltkrieg aus Großbritannien stammen (Abb. 1).64 Sowohl im Bootsbau als auch im Training blieb das Ursprungsland des sportlichen Ruderns lange Vorbild. Zu einer größeren Verbreitung des Rudersports in Deutschland kam es seit den 1860er Jahren im Zuge der Versportlichung des Ruderns.65 Die Vossische Zeitung (Berlin) schreibt 1884: »Der Rudersport steht heute in Berlin in voller Blüthe. Hat er auch noch nicht völlig den Grad der Popularität errungen, dessen er sich in England erfreut, so wenden sich ihm doch die lebhaften Sympathien der gebildeten Gesellschaft auch bei uns in immer steigendem Maasse zu.«66 1883 erschien in Berlin die erste Ausgabe des Wassersport, einer »Fach-Zeitschrift für Rudern, Segeln und verwandte Sportzweige«, um eine »tief empfundene Lücke [zu schließen], die durch die bestehenden Sport-Zeitschriften nicht ausgefüllt wird«.67 Auch größere Vereine begannen mit der Publikation eigener Ruderzeitschriften wie den Nachrichten des Berliner Ruder-Clubs.68 Im Brockhaus von 1895 ist dem Rudersport ein eigener Eintrag von anderthalb Spalten gewidmet, in dem sowohl auf die Geschichte des sportlichen Ruderns als auch auf die Bootstypen und deren Konstruktion eingegangen wird.69 Welche Popularität der Rudersport im ausgehenden 19. Jahrhundert auch in Deutschland erlangte, macht beispielsweise eine Publikationsreihe, das Skullerbuch deutlich. In den späten 1880er Jahren begann der Verlag der Zeitschrift Wassersport, Biographien berühmter Ruderer zu publizieren. Ihre Veröffentlichung in zwei Formaten, als günstige kleine Hefte und gleichzeitig als gebundene Buchreihe »in elegantem 63 | Eisenberg, English Sports, S. 152f. Zur Analyse der Popularität des Rudersports in England hat Wigglesworth, S. 197ff., Zeitungsillustrationen und -artikel in der Times sowie Publikationen zum Rudern statistisch ausgewertet; ein erster Höhepunkt lag hier in den 1860/70er Jahren. Zum Beispiel Hannovers siehe St. Nielsen, Sport und Großstadt 1870 bis 1930. Komparative Studien zur Entstehung bürgerlicher Freizeitkultur. Frankfurt a.M. u.a. 2002, S. 255. 64 | Reckendorf, Entwicklungsgeschichte, S. 81. 65 | Nielsen, S. 261ff., Pfeiffer, S. 14f. In Wien wurde beispielsweise 1863 der erste Ruderclub gegründet; siehe Eder/Treude, S. 147. 66 | Zitiert nach: Das Ballfest des Berliner Ruder-Clubs. In: Wassersport. Fach-Zeitschrift für Rudern, Segeln und verwandte Sportzweige, 2 (1884), S. 72f., S. 72. 67 | An unsere Leser! In: Wassersport, 1 (1883), S. 1. 68 | Berliner Ruder-Club. Nachrichten, 1 (1897). Siehe: Festschrift des Berliner RuderClub. 1880 – 1955. 5. November 1955. Berlin 1955, S. 26. 69 | Rudersport. In: Brockhaus’ Konversations-Lexikon, 13. 14. Aufl., Leipzig u.a. 1895, S. 1056.

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Einband« weist darauf hin, dass der Verlag eine größere Leserschaft im Auge hatte.70 In den 1880er und 1890er Jahren entstanden zahlreiche nationale Verbände, darunter 1883 der Deutsche Ruder-Verband; die Fédération Internationale Sociétés d’Avivon (FISA) wurde 1892 gegründet und seit 1900 ist Rudern eine olympische Disziplin. Noch 1910 umschreibt der Ruderlehrer R. Pfeiffer den Elitesportcharakter des Ruderns: »Nachdem der Rudersport mit erheblichen Kosten und größerem Zeitaufwand verbunden ist, gehören hauptsächlich die wohlhabenderen Stände zu seinen Anhängern. … [Zudem] locken die Rennen ein außerordentlich distingiertes Publikum an.«71 In den nächsten Jahrzehnten entwickelte sich das Rudern jedoch zum Breitensport. Zahlreiche Werke der Bildenden Kunst, das Aufkommen von Rudersport-Karussells in Vergnügungsparks und die Produktion von Spielzeug-Ruderbooten sind ein Hinweis darauf, wie populär Rudern im ausgehenden 19. Jahrhundert war. Beispielsweise malte der von Claude Monet beeinflusste Impressionist Alfred Sisley 1874 die Henley-Regatta auf der Themse bei Molesey, während PierreAuguste Renoirs Ölbild »Ruderer bei Chatou« von 1879 dem Freizeitrudern gewidmet ist.72 Der französische Sammler und Impressionist Gustave Caillebotte widmete sich ausführlich dem Paddeln und Freizeitrudern.73 Der amerikanische Realist Thomas Eakins wurde durch seine Ruderbilder bekannt, die heute zu den teuersten amerikanischen Gemälden gehören. Er portraitierte verschiedene Ruderer in ihren Rennboten und widmete sich dem Sujet bis in die Mitte der 1870er Jahre, als die Popularität dieses Sports in den Vereinigen Staaten ihren Höhepunkt erreichte.74 Ein Pastell Max Liebermanns von 1910 zeigt ein Paar mit zwei

70 | W. Werres, Dr. W. R. Patton. = Skullerbuch. Laufbahnen berühmter Ruderer, herausgegeben von Heinrich Wolff, 2. Berlin 1888, Vorsatzblatt. 71 | Pfeiffer, S. 15. 72 | Alfred Sisley: »Regatta in Molesey«, 1874, Ölbild auf Leinwand, 66 x 91,5 cm, Musée d’Orsay, Paris. Pierre-Auguste Renoir: »Ruderer von Chatou«, 1879, Ölbild auf Leinwand, 81 x 100 cm, National Gallery of Art, Washington (D.C.). In Renoirs Oeuvre finden sich eine Reihe weiterer Bilder, die Freizeitruderboote zeigen. 73 | Caillebotte entwarf zudem Segelyachten, sodass sich bei ihm ein Interesse am Bootsbau, am Wassersport und an den damit zusammenhängenden Bildsujets ergab. Siehe D. Charles, Caillebotte und die Boote. In: A.-B. Fonsmark, D. Hansen, G. Hedin (Hg.), Gustave Caillebotte [… anlässlich der Ausstellung »Über das Wasser – Gustave Caillebotte. Ein Impressionist wieder entdeckt«, Kunsthalle Bremen, 29. Juni bis 5. Oktober 2008, Ordrupgaard, Kopenhagen, 17. Oktober 2008 bis 22. Februar 2009, Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid, 16. März bis 14. Juni 2009]. Ostfildern 2008, S. 107-120. 74 | Siehe J. R. Betts, America’s Sporting Heritage: 1850 – 1950. Reading, Mass. u.a. 1974, S. 102. Sowie: H. A. Cooper, Thomas Eakins: the Rowing Pictures. [Catalogue of the exhibitions held at the National Gallery of Art, Washington D.C., Yale University Art Gallery, New Haven and at the Cleveland Museum of Art]. New Haven, Conn. 1996.

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Jollen auf dem Berliner Wannsee.75 Eine expressionistische Zeichnung geht auf Max Beckmann zurück, der sich 1928 als Ruderer portraitierte.76 Unabhängig von den unterschiedlichen künstlerischen Auffassungen, den verschiedenen Bildinhalten und metaphorischen Bedeutungsebenen eint diese Werke, dass Ruderboote und Rudernde ein lohnendes Sujet für Bildende Künstler waren, wobei der Höhepunkt dieser Entwicklung im Impressionismus lag.

Abb. 2: Darstellung eines Wasserkarussells mit Segel- und Ruderbooten, Holzstich aus einer Zeitung um 1890. Rudersportkarussells gehen ebenfalls auf das späte 19. Jahrhundert zurück. Beispielsweise wurden auf dem Wiener Prater in den 1890er Jahren zwei solche Karussells betrieben;77 auch auf dem erheblich kleineren Böhmischen Prater, einem 75 | Max Liebermann: »Zwei Ruderboote mit Flagge« (Wannsee) 1910, Pastell, 29,1 x 44,7 cm, Hamburger Kunsthalle. 76 | Ruderer, 1928, Kreidezeichnung auf Papier, 55.4 x 72.7 cm, Sammlung der Deutschen Bank. Der Deutsche Ruderverband feierte sein hundertjähriges Jubiläum mit einer Ausstellung »Rudern im Spiegel der Kunst«, auf der einige der genannten Werke in Kopie präsentiert wurden; eine Dokumentation der Ausstellung gibt Ueberhorst, S. 169ff. 77 | Das erste Rudersportkarussell bestand von 1891 bis 1904, das zweite wurde 1895 errichtet. In La Speranzas Übersichtskarte des Praters von 1941 sind zwar beide Karussells verzeichnet, aber sie waren damals bereits umgebaut. Siehe M. La Speranza, PraterKaleidoskop. Eine fotohistorische Berg- und Talfahrt durch den Wiener Wurstelprater. Wien

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Vorort-Vergnügungspark, ist eines nachgewiesen. Dieses Rudersportkarussell bestand aus einzelnen, im Kreis angeordneten Rudergeräten zum Trockenrudern; ähnlich wie im Falle von Fahrrad- oder Velocipeten-Karussells mussten die Besucher das Gefährt selbst antreiben.78 Eine Zeitungsillustration der 1890er Jahre zeigt hingegen eine schwimmende Ausführung auf einem Teich in San Francisco. Der Illustration zufolge war dieses Geschäft mit Ruder- und Segelausstattungen versehen, die im Wechsel auf einem großen Ring montiert waren, so dass ein kreisförmiger Schwimmkörper anstelle einzelner Boote entstand (Abb. 2).79 Ob es sich um einen Entwurf oder eine Darstellung eines bestehenden Karussells handelt, ist ebenso unklar wie die Frage, ob dieses Karussell einen zusätzlichen Antrieb benötigte und wie das Problem der wechselnden Position der Segelplätze zum Wind gelöst wurde. Auch wenn Rudersportkarussells nicht zuletzt wegen der aufwendigen und damit anfälligen Konstruktionen keine allzu große Verbreitung fanden,80 unterstreicht der Einzug des Ruderns in das Jahrmarktsvergnügen die Popularität dieses Sports und kann als Vorbote des langsamen Wandels vom Elite- zum Breitensport gewertet werden. In Anbetracht von Ruderbootdarstellungen in der Bildenden Kunst und der Nutzung des Bewegungsablaufs als Spielangebot auf dem Jahrmarkt ist es nicht verwunderlich, dass Ruderboote auch Gegenstand von Spielzeug wurden: Zumindest seit den 1860er Jahren lassen sich Blech- und Holzboote mit Figuren nachweisen, die die Ruderbewegung imitieren. Produziert wurden vorwiegend Einer, aber auch größere Fahrzeuge, deren Vorbild eindeutig Sportboote sind. Sowohl schwimmfähige Exemplare entstanden, als auch Bodenläufer mit Rädern. War ein Antrieb vorhanden, so diente als Energiespeicher meist eine Stahlfeder; bei einigen schwimmfähigen Booten ermöglichte ein aufwendiger Mechanismus die Bewegung der Ruderer mit dem Bootsvortrieb durch die Ruderblätter zu verbinden. In einem amerikanischen Patent von 1869 wird herausgestellt, dass sich der Oberkörper eines Ruderers mit Federantrieb bei der patentierten Konstruktion – originalgetreu – langsamer bewege, als dessen Arme (Abb. 3).81 Gegenüber Modellen, die Schiffe mit zeitgenössisch modernen Antriebsaggregaten wie Schraubendampfer oder Turbinenboote imitierten, war ihre Antriebskonstruktion deutlich aufwendiger. Ruderboote wurden zwar in geringerer Zahl angeboten als 1997, S. 78f., S. 83; und U. Storch, Das Pratermuseum. 62 Stichworte zur Geschichte des Praters. Wien 1993, S. 56. 78 | W. Slapansky, Das kleine Vergnügen an der Peripherie. Der böhmische Prater in Wien. Wien 1992, S. 126. 79 | Zeitungsillustration – vermutlich aus den 1890er Jahren. Einzelblatt, Archiv des Markt- und Schaustellermuseums, Essen. 80 | Freundliche Information von Erich Knocke, dem Gründer und Leiter des Markt- und Schaustellermuseums, Essen. 81 | Toy Row-Boat, Nathan S. Warner, of Bridgeport, Connecticut, United States Patent Office, Patent 86,718, February 9, 1869.

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Modelle großer Schiffe, aber dennoch waren sie bei zahlreichen Herstellern im Programm.82 Der Universal-Spielwaren-Katalog von 1924/1926 zeigt vier Ruderboote deutscher Unternehmen, eines aus Holz, zwei Bodenläufer aus Blech und ein schwimmfähiges Blechboot mit einem Antrieb durch die Ruderbewegung.83

Abb. 3: Spielzeugboot mit Federantrieb, Zeichnungen einer amerikanischen Patentschrift von 1869. 82 | Ein Liebhaberbuch zeigt beispielsweise neun Modelle aus Amerika, Deutschland und Frankreich, die zwischen 1870 und 1950 produziert wurden: J. Milet, R. Forbes, Toy Boats. 1870 – 1955. A Pictorial History. Cambridge 1979, S. 84. 83 | Universal-Spielwaren-Katalog 1924/1926, Reprint unter dem Titel: German Toys. Der Universal-Spielwaren-Katalog 1924/1926. Reprinted from original German catalogs with English, German and Spanish descriptions. Cumberland, Leipzig 1985, S. 50, S. 134, S. 342.

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Die Imitation des sportlich-vergnüglichen Ruderns und seiner technischen Ausstattung auf dem Jahrmarkt sowie zum Spiel mit Spielzeug unterstreicht nicht nur die Popularität des Rudersports im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Zudem macht sie deutlich, dass der bis jetzt begrifflich begründeten gemeinsamen Untersuchung des Spiels in den Bereichen Sport, Jahrmarktsvergnügen und Spiel mit Spielzeug auch eine inhaltliche Ebene korrespondiert: Rudern wurde in allen drei Kernbereichen des technisierten Spiels zum Thema.

2. Technische Entwicklung von Rudersport-Booten a. Konstruktion Die ersten Ruderregatten wurden mit breiten und schweren Transportbooten bestritten. Sie waren – ähnlich größeren Schiffen – mit überlappenden Holzplanken gebaut und hatten fest montierte Sitzbänke für die Ruderer. Der Drehpunkt der Riemen oder Skulls dieser Boote liegt in oder auf der Bordwand; bei einfacheren Booten waren Rundhölzer aufgesteckt, zwischen denen die Ruder beweglich gelagert waren,84 etwas aufwendigere hatten kastenförmige Aussparungen in der Bordwand. Im Prinzip handelte es sich um Boote, wie man sie heute noch beim Bootsverleih erhält. Vierer dieser Konstruktion hatten eine Breite von mehr als einem Meter; ihr Eigengewicht lag bei ca. 150 kg85 und war damit etwa dreimal so hoch wie das moderner Konstruktionen. Mit zunehmender Bedeutung der Regatten wurden spezielle Rennboote entwickelt – zunächst indem man leichter baute; solche Boote haben eine geringere Wasserverdrängung und sind deshalb schneller. Der Effekt ist beachtlich: Rechnerisch ergibt sich bei heutigen Booten aus einer Gewichtseinsparung von nur einem Kilogramm auf einer üblichen Regattastrecke von 2000 m ein Vorsprung von 3.1 m.86 Anstelle der Planken- oder Klinkerbauweise wurde die sogenannte Carweelbauweise eingeführt, bei der die Holzplanken durch eine glatte Außenhaut von wenigen Millimetern ersetzt sind; Gewicht und Strudelbildung werden dabei reduziert.87 Solche Boote bauten der englische Ruderer und Bootsbauer 84 | Diese seit der Antike bekannte Bauweise findet sich heute noch gelegentlich bei kleinen Fischerbooten. 85 | B. Borchert, Der Einfluß des Bootsbaus auf den Ruderstil. In: 150 Jahre Rudern in Deutschland. Der Hamburger und Germania Ruder-Club. [Hamburg 1986], S. 80-89, S. 80. Ein Achter brachte es gar auf 440 kg. 86 | Siehe K. Affeld u.a., Über ein mathematisches Modell des Ruderns. In: Steinacker, S. 168-176, S. 174 (Berechnung von 1988 – vermutlich für ein Skiff, einen Einer ohne Steuermann, bei dem 1 kg ca. 5% des Leergewichts entsprechen). 87 | Für 1857 ist ein Rennen zwischen Oxford und Cambridge mit ungeklinkerten Booten bekannt; siehe Borchert, S. 81. In Deutschland wurden Carweel-Boote erst seit den späten 1870er Jahren gebaut; siehe: Bootbau und Rudersport in Deutschland. In: Wassersport, 8 (1890), S. 36f., S. 36.

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Harry Clasper (1812-1870) und sein Bootsbauerkollege Mathew Taylor seit den 1840er Jahren. Ob die Entwicklung auf Clasper und Taylor oder auf einen weiteren englischen Bootsbauer, Robert Jewitt zurückgeht, ist jedoch unklar.88 Eine Verbesserung bedeuteten etwas schmalere Riemenboote, sogenannte Gigs. Um eine hinreichende Länge des Innenhebels der Riemen (ca. 110 cm) zu gewährleisten, waren die Ruderplätze jeweils versetzt angeordnet; die Bootsbreite ließ sich so zugunsten der hydrodynamischen Eigenschaften des Rumpfes auf etwa einen Meter reduzieren (Abb. 1).89 Vorbild dieses Bootstyps könnte das Beiboot des Kapitäns in der Marine gewesen sein, das schmaler und schneller ausgelegt war als die anderen Beiboote.90 Zudem ließ sich Gewicht bei der Konstruktion von Skulls und Riemen sparen: 1885 unternahm beispielsweise die Berliner Firma Rettig Versuche mit hohlen Riemen, die aus vier Latten zusammengesetzt waren; da die Gewichtsreduktion den Rudernden das Ausheben der Skulls und Riemen aus dem Wasser erleichtert, setzten sich Hohlkonstruktionen durch.91 Eine entscheidende konstruktive Veränderung war die Einführung von sogenannten Auslegern: Der Drehpunkt der Skulls und Riemen wurde mit Hilfe von Metallträgern über die Bordwand hinaus nach außen verlagert. Das ermöglichte eine optimale Hebelarmlänge unabhängig von der Bootsbreite, die nun auf ein Minimum reduziert werden konnte. Erste Versuche mit Outrigger-Booten lassen sich 1828 in England nachweisen; ihre Ausleger bestanden zunächst aus Holz, spätestens seit 1830 aus Metall.92 1834 zeigt Walker zur Beschreibung der Ruderbewegung allerdings noch eine Bilderfolge mit einem konventionellen Boot ohne

88 | Siehe: Harry Clasper. In: Wikipedia, The free encyclopedia. http://en.wikipedia.org/ wiki/Harry_Clasper (7.9.2011). Zu weiteren einflussreichen Bootsbauern an der Tyne siehe Dodd, S. 71. 89 | Borchert, S. 80. 90 | Vergl. H.-R. Rösing, Wassersport. = Führer des Deutschen Schiffahrtsmuseums, 9. Bremerhaven 1978, S. 11. 91 | Hohle Riemen. In: Wassersport, 3 (1885), S. 374. Der (nicht namentlich genannte) Autor bewertet die Versuche wegen des größeren Riemendurchmessers negativ und spricht sich für Mischkonstruktionen mit Metall und wasserfestem Pappmaché aus. Tatsächlich sollte sich die Entwicklung Rettigs durchsetzen; siehe die Würdigung bei Wilker, Das Rudern, S. 10. 92 | Als Erfinder wird häufig der englische professionelle Ruderer und Bootsbauer Harry Clasper (1812-1870) genannt; laut Wikipedia-Eintrag ist ihm die Erfindung des Auslegers nicht eindeutig zuzuschreiben, er sei aber derjenige gewesen, der dessen Bedeutung erkannt habe. Siehe Borchert S. 80, S. 89, En. 3. Sowie Harry Clasper. In: Wikipedia. Zu den ersten Auslegerbooten und Bootsbauern an der Tyne siehe Halladay, S. 198; seiner Ansicht nach baute Clasper erst in den frühen 1840er Jahren Ausleger in seine eigenen Boote. Nach Dodds Einschätzung war Clasper nicht der einzige, der Ausleger baute; siehe Dodd, S. 72. In Hamburg wurden Auslegerboote zumindest seit 1859 genutzt. Siehe: 150 Jahre Favorite Hammonia, S. 34.

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Ausleger.93 Die Outrigger ermöglichten ähnliche Abmessungen wie bei heutigen Rennbooten: Vierer hatten nun eine Länge von ca. 12 Metern und eine Breite von etwa 0.60 Metern.94 1846 traten Oxford und Cambridge zum ersten Mal in Booten mit Vollauslegern gegeneinander an.95 Ein weiterer wichtiger Schritt war es, den Kiel in das Innere des Schiffes hineinzunehmen; die Strudelbildung lässt sich durch diese Konstruktion laut Angabe von Christopher Dood noch deutlicher reduzieren als durch die Nutzung von Auslegern. Einen solchen Einer mit Auslegern baute der englische Bootsbauer Samuel Welsencroft 1844.96 Wie sehr sich Ruderboote verändert hatten, macht auch die Gewichtsangabe für einen Vierer desselben Jahres deutlich: das Boot wog nur 66 kg und war damit geringfügig schwerer als heutige.97 Seit den 1970er Jahren erfolgten im Bootsbau computergestützte Festigkeitsberechnungen mit dem Ziel der weiteren Optimierung des Eigengewichts von Rennbooten.98 Während die frühen Gigboote mehreren Passagieren Platz boten, reicht die Tragkraft solcher Konstruktionen gerade noch, um die Rudernden über Wasser zu halten. Die zweite entscheidende konstruktive Veränderung war die Einführung des Gleitsitzes, sowie später des Rollsitzes, der gegenüber dem Gleitsitz einen geringeren Widerstand (Rollreibung statt Gleitreibung) hat. Die beweglichen Sitze ermöglichen, in Ergänzung der traditionellen Bewegung von Armen und Oberkörper die Beinarbeit ins Rudern einzubeziehen; damit steht erheblich mehr Körperkraft zur Verfügung und der Weg des Ruderblattes durch das Wasser verlängert sich. Gleitsitze wurden ursprünglich 1857 in den USA entwickelt, aber ihre Bedeutung zunächst nicht erkannt; deshalb erlangten sie zunächst keine nennenswerte Verbreitung.99 Dies mag mit dem amerikanischen Ruderstil zusammenhängen, bei dem die Beine im Gegensatz zum britischen kaum genutzt wurden, wie Walter Bradford Woodgate vermutet.100 In Europa sind sie erst um 1870 nachweisbar – zunächst England. 1872 nahmen mehrere Boote mit Gleitsitzen an der Henley-Regatta teil; ein Boot des Cambridger Pembroke College war bereits

93 | Walker, Plate XXIIff., ab S. 73. Beschreibung des Rudervorgangs: Ebenda, S. 78ff. 94 | Rösing, S. 12. Eine ausgereifte Konstruktion von 1885 zeigt Abb. 4 in diesem Band. 95 | Halladay, S. 200. 96 | Dodd, S. 71ff. Weitere frühe Konstruktionen kamen von Harry Clasper, von J.B. Liddledale, einem Schiffbauer aus Liverpool und Matthew Taylor – seine Konstruktion datiert Dodd auf 1854. 97 | Angabe ebenda. 98 | Rudern. In: Kleine Enzyklopädie Körperkultur und Sport, S. 546-553, S. 548. 99 | Halladay, S. 205, nennt den amerikanischen Amateur und Kapitän des Nassau Boat Club in New York, John C. Babcock, der ein Riemenchampion war und 1857 seinen Sitz testete, sowie den Profi Walter Brown, dessen erster Versuch 1861 stattfand; beide griffen erst Ende der 1860er Jahre wieder auf ihre Entwicklungen zurück. Siehe dazu auch Dodd, S. 76. 100 | Woodgate, Rudern, S. 128.

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mit einem Rollsitz ausgestattet und gewann.101 1874 rüstete der englische Trainer Taylor des Germania Ruder Clubs Hamburg mehrere Rennboote mit Gleitsitzen aus, nachdem seine Mannschaft ein Rennen gegen ein Boot mit Gleitsitzen des Hamburger English Rowing Clubs verloren hatte.102 Welchen Innovationsdruck ein Wettkampfergebnis erzeugte, lässt sich daran ablesen, dass im folgenden Jahr die meisten Rennboote von Hamburger Vereinen mit der neuen Technik ausgestattet waren.103 In den 1870er und 1880er Jahren wurden verschiedene Versuche mit Sitzen auf Rädern und Rollen unternommen.104 1883 entstand ein Vorläufer des heutigen Rollsitzes. Entwickelt wurde er von dem Berliner Ruderer Erich Schiller, der Naturwissenschaftler gewesen sein könnte, und dem Ingenieur Brelow, einem Privatdozenten für Maschinenbau an der Bergakademie Freiberg. Schiller lieferte das theoretische Konzept, publizierte Berechnungen des Roll- und Gleitwiederstandes der Sitze und unternahm zahlreiche Versuche mit verschiedenen Ausführungen sowie Materialkombinationen von Rädern und Rollbahn; die Konstruktion stammte vermutlich von Brelow. Verschiedene Ausführungen und kleinere Änderungen gehen auf den Berliner Bootsbauer Winser zurück, der zudem eine der Köperform angepasste Sitzfläche einführte.105 In der Zeitschrift Wassersport wird der Gleitsitz 1883 als »bedeutender Fortschritt« in der Weiterentwicklung des Bootsbaus gewürdigt.106 Zur Gewichtsersparnis waren Rennboote immer flacher geworden und der Höhenunterschied zwischen Sitzbank und Stemmbrett entsprechend geschrumpft. Ohne Anwinkeln der Knie, wie dies der Gleit- und der Rollsitz ermöglichten, war es deshalb für die Rudernden immer schwieriger, in die vordere Auslage zu gehen. Dennoch stellt beispielsweise der Ruderer Bernhard von Gaza in seinem Buch Rudersport um 1908 fest, dass es noch sehr unterschiedliche Auffassungen über das Für und Wider des Rollsitzes gebe; auch über den geeignetsten Bootstyp sei viel diskutiert worden.107 Wegen der langen Durchzugsphase beim (Ruder-)Schlag mit Gleit101 | Halladay, S. 206. 102 | Der Germania Ruder Club. Aus der Festschrift von 1953, bearbeitet von Dirk Schreyer. In: Der Hamburger und Germania Ruder Club, S. 41-60, S. 46. 103 | Vergl. 150 Jahre Allgemeiner Alster-Club. 1844 – 1994. [Hamburg 1994]. S. 52. 104 | Siehe Dodd, S. 76f. Erich Schiller selbst nennt in seiner Beschreibung des neuen Rollsitzes einen englischen Berufsruderer und einen Bremer Ruderverein. E. Schiller, Ueber einen Rollsitz für Ruderboote. In: Wassersport, 3 (1885), S. 283-285, S. 296f., hier: S. 284. 105 | Die Achsen des Rollsitzes von 1883 sind in Messingbuchsen gelagert; etwas später wurden die Rollen auf einem Gestell montiert, das unter dem Sitz in einer Führung läuft. So konnte die Lagerreibung vermieden und eine zusätzliche Auslage ermöglicht werden. Siehe ebenda, S. 284, S. 296. Ein ähnliches Modell, das er bereits 1881 gebaut habe, beschreibt der Bootsbauer Friedrich Veith 1888 im Wassersport: F. Veith, Ueber Rollsitze. In: Wassersport, 6 (1888), S. 173. 106 | Das Ruderboot. In: Der Wassersport 1 (1883), S. 3f., S. 52f., S. 89-91, S. 53. 107 | Gaza, S. 13f.

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oder Rollsitznutzung vergrößerte sich der von den Rudern überstrichene Winkel; anstelle fest montierter Halterungen für Skulls und Riemen wurden deshalb Mitte der 1880er Jahre Drehdollen eingeführt, die das Rudern durch eine bessere Führung der Ruder erleichterten und sich positiv auf die Bootsbalance auswirkten; als erster nutzte sie vermutlich der amerikanische Profi und »Meisterruderer der Welt« Edward Hanlan.108

b. Material Holz blieb über viele Jahrzehnte das entscheidende Baumaterial für Rennruderboote; hinzu kam Metall für Kleinteile, Ausleger, Dollen, Rollsitzräder, -achsen und -bahnen sowie gelegentlich für Verstrebungen.109 In Amerika entstanden Ende des 19. Jahrhunderts extrem leichte Rennboote mit einer Rumpfhülle imprägnierten Papiers, die zwar für einige Saisons erfolgreich, letztlich aber zu empfindlich waren.110 In diesen Jahren wurden einzelne Versuche mit Metallbooten und Aluminiumrudern unternommen, die sich jedoch nicht durchsetzten. Auch in den 1920er Jahren kam es zu Versuchen, Aluminium in den Rennbootbau einzuführen. Unter Hinweis auf den Einsatz von Aluminium für den Automobil‑, Luftschiff- und Flugzeugbau sowie dessen geringen Gewichts wirbt der Autor einer Schule des Rudersports, F. U. Pagels, um 1925 für den Einsatz von Aluminium für Ausleger, Teile des Innenausbaus und zur Beplankung von Rennbooten.111 Nach dem Zweiten Weltkrieg bauten einige Werften Trainingsboote aus dem Leichtmetall.112 Bereits in den 1930er Jahren waren erste Ruderboote aus Sperrholz entstanden, das in den 1950er Jahre für die Außenhaut zunehmende Bedeutung erlangte 108 | »Im Anschluss an die Nachricht, dass Hanlan ein Boot mit beweglichen Rowlocks benutzen werde, theile ich ergebenst mit, dass ich schon vor 2 Monaten ein derartiges Boot gebaut habe«, schreibt ein Wiener Bootsbauer im Januar 1884 im Wassersport und weist auf seine Patentrechte hin. Rubrik Sprechsaal. In: Wassersport, 2 (1884), S. 31. Aus sporthistorischer Perspektive siehe zusammenfassend: Dodd, S. 75, der die Drehdolle dem Amerikaner Mike Davis zuschreibt und schon auf 1874 datiert. 109 | Zu verschiedenen Holzarten für Renn- und Tourenboote siehe: A. Fendrich, Der Sport, der Mensch und der Sportmensch. Stuttgart 1914, S. 46. 110 | Dodd, S. 81. 111 | F. U. Pagels, Schule des Rudersports. Eine neue Darstellung des Werdegangs, der Methoden und des Trainings im Rudern und Rennrudern. Stuttgart u.a. [um 1925], S. 104ff. 112 | Aluminiumskulls und Riemen wurden in Amerika zwischen 1879 und 1914 gefertigt; siehe Dodd, S. 85. Alu-Trainingseiner und ein Vierer aus Hamburg werden in Zeitungen von 1948 und 1949 erwähnt. Über die Anschaffung mehrer Trainingseiner berichtet der Artikel: Wo bleiben Hamburgs Skulltalente? In: Hamburger Abendblatt vom 3.11.1948. Einen Vierer aus Aluminium, mit dem der Hamburger und Germania R.C. trainiere und der »etwas Neues in Hamburg« sei, erwähnt ein halbes Jahr später der Artikel: Hamburgs Ruderer starten in den Frühling. In: Hamburger Echo vom 9.4.1949. Beide Zeitungsartikel sind archiviert in: HHStA, Sportamt 136-2/166, Presseberichte über Rudersport 1947-1960.

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und zunehmend Zedernfurniere ersetzte. Dieses relativ moderne Material ermöglichte aufgrund seiner Steifigkeit gegenüber Holzfurnieren eine abermalige Gewichtsreduktion.113 Mit dem Erlass von Prüfvorschriften durch den Germanischen Lloyd 1952 war der Weg zum Einsatz von Sperrholz im Schiffs- und Bootsbau geebnet.114 Während die Rümpfe sogenannter C-Boote (moderner Gigs in Carweelbauweise) Mitte der 1970er Jahre üblicherweise aus Furnierschalen oder Sperrholz gebaut wurden, hatte sich dünnes Sperrholz bei Rennboten bereits durchgesetzt.115 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Fiberglasboote in den USA entwickelt und verbreiteten sich rasch. 1963 hatte bereits die Hälfte aller auf einer Hamburger Bootsausstellung gezeigten Freizeitboote einen Kunststoffrumpf.116 Seit den 1960er Jahre nahm auch der Einsatz von Kunststoffen beim Bau von Ruderbooten zu: beginnend mit gering belastbaren Einzelteilen, über die Dollen, bis zu ganzen Kunststoff booten aus Glasfaser-Epoxidharz oder aus glasfaserverstärktem Polyester. Frühe Boote erhielten meist zusätzliche Versteifungen aus Sperrholz oder Leichtmetall.117 Diese sehr robusten und kaum pflegebedürftigen Konstruktionen waren aufgrund hohen Gewichts und geringerer Stabilität (im Vergleich zu Holzbooten) zunächst als Trainingsvehikel erfolgreicher denn als Rennboote. Ursprünglich sollte der Kunststoffeinsatz zum Bau schnellerer Rennboote führen; erste Experimente hatten bereits Mitte der 1950er Jahre begonnen.118 1960 nahm das erste Kunststoff boot an einer Olympiade teil und die Zahl der Renneiner aus Kunststoff nahm zu; dennoch dominierte Holz als Baumaterial.119 Erst in den 113 | Zwar ist das spezifische Gewicht von Sperrholz höher als das der Zeder, aber dessen Steifigkeit ermöglichte eine Verminderung der Wandstärken und damit eine Gewichtsreduktion. Siehe beispielsweise W. Empacher, Sperrholz im Rennbootsbau. In: Bootsbau. DRV, H. 1, um 1953, S. 13ff. Siehe auch W. Reuß, Ruder, Boot und Bootshaus. Minden 1964, S. 19f. Folgt man Reuß, so dürften bis 1964 »alle Skeptiker ihre Bedenken gegen das Sperrholz fallengelassen haben«; ebenda, S. 19. 114 | W. Reuß, Prüfvorschriften für Sperrholz. In: Bootsbau. DRV, Heft 1, um 1953, S. 15f. 115 | Autorenkollektiv unter Leitung von Ernst Herberger, Rudern. Ein Lehrbuch für Trainer, Übungsleiter und Sportlehrer. Berlin (O) 1977, S. 47. 116 | Reuß, Ruder, S. 20. 117 | Das Ende der 1970er Jahre gebaute Skiff »Dr. Liebmann« des Arndt-Gymnasiums, Berlin-Dahlem, verfügt beispielsweise über einen Aluminiumspant im Fußraum. 118 | Die Firmen waren Empacher, Ebersbach am Neckar (Fiberglas und Polyester 1955) und Stämpfi, Zürich (Sandwich-Bauweise in zwei Kunststoffschichten, die sich aber nicht richtig verkleben ließen 1956); siehe Dodd, S. 91f. 119 | Das Olympia-Boot war ein Frauen-Zweier ohne Steuerfrau aus der DDR, gebaut aus Glasfasern mit Epoxydharzbinder und einer versteifenden Wabenkonstruktion vom Bootsbauer Klaus Filter in Kooperation mit den Dresdener Flugzeugwerken, Dodd, S. 92. Zum Bau von Renneinern siehe Reuß, Ruder, S. 21. Zu Werkstoffen in den 1960er Jahren siehe beispielsweise: Autorenkollektiv unter Leitung von Ernst Herberger, Rudern. Lehrbuch für Ausbildung und Training. Berlin (O) 1967, S. 51ff.

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1970er Jahren war die Entwicklung so weit fortgeschritten, dass der Deutsche Ruderverband seinen Vereinen 1974 Zuschüsse zum Ankauf von insgesamt fünfzig Kunststoff-Standardvierern zu Trainingszwecken gewährte.120 Tatsächlich war – wie der Ratzeburger Trainer Karl Adam im selben Jahr schreibt – »ein Rezept für ein sehr gutes Billigboot« entstanden.121 Erst in den letzten zwanzig Jahren verdrängten festere Kunststoffrümpfe aus Kohlefaserverbundmaterialien die Holzkonstruktionen auch im Rennbootbau; zudem setzte sich das Material seit den 1990er Jahren für Skulls und Riemen durch – erste Anfänge gehen allerdings auf die Mitte der 1970er Jahre zurück.122 Das spezifische Gewicht kohlefaserverstärkter Kunststoffe ist geringer, ihre Steifigkeit höher als die des Holzes; deshalb sind die Wasserverdrängung der Boote und der Energieverlust beim Schlag geringer. Mit der Einführung von Kunststoffen wandelten sich die Herstellung, das Aussehen der Boote und das Fahrverhalten erheblich.

c. »Feintuning« Die bisher genannten technischen Veränderungen wurden insbesondere im 20. Jahrhundert durch technische Optimierungsmaßnahmen flankiert. Die Anfänge liegen jedoch früher. Zunächst ist hier die Optimierung der Ruderblätter zu nennen: Schon 1773 berichtet Leonard Euler in seiner Schiffstheorie von Experimenten, denen zufolge die Riemen-Blätter nicht größer als einen Quadratfuß sein dürfen, damit die Riemen für die Ruderer handhabbar bleiben.123 Ursprünglich waren die Blätter gerade Erweiterungen des Ruderschafts, seit Beginn der 1840er Jahre sind leicht gewölbte, schaufelförmige Blätter nachgewiesen, die sich in England um 1850 durchsetzten.124 Bis zum Ersten Weltkrieg wurden zahlreiche Optimierungsversuche der Blattform und der Hebelverhältnisse unternommen. Um den Wasserandruck in der oberen Blatthälfte zu verbessern experimentierte man in den 1880er Jahren und abermals um 1910 mit abgeschrägten, unsymmetrischen Blättern für Riemen, die entfernt dem heutigen big blade ähneln, sich 120 | P.-A. Mohnke, Entwicklung des Jungen- und Mädchen-Ruderns in Deutschland nach 1920. Staatsexamensarbeit Sportwissenschaften, Ruhr-Universität Bochum 1974, S. 116. 121 | K. Adam, Anmerkungen zum Problem Normboot, Erstveröffentlichung in: Rudersport, 92 (21/1974), Beilage Trainer-Journal, 31, S. VII, hier zitiert nach K. Adam, Kleine Schriften zum Rudertraining. = DSB Schriftenreihe des Bundesausschusses Leistungssport, Trainerbibliothek, 22. Berlin u.a. 1982, S. 275f., S. 276. 122 | Seit 1972 hatte Empacher Kohlefaser auf seiner Materialauswahlliste und 1973 nutzte Michael Kolbe Ruder mit Karbonstreifen; 1976 folgte das erste Kohlefaserboot, gefahren von einer britischen Olympiamannschaft; Dodd, S. 94f. 123 | Siehe Dodd, S. 84 sowie zur Eulerschen Theorie H. Nowacki, Leonhard Euler and the Theory of Ships = Preprint/Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, 326. Berlin 2007. 124 | Halladay, S. 207; 1842 siegte ein von Harry Clasper gebauter Vierer bei einem Themserennen; eine weitere Neuerung war die Nutzung gleicher Riemen.

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aber nicht durchsetzten.125 In den 1950er Jahren wurde in Ratzeburg im Zuge von geometrischen Analysen und Versuchsreihen das Marcon-Blatt entwickelt, das etwas breiter ist als das klassische Ruderblatt. Das Marcon-Blatt und ähnlich geformte Blätter sollten den Rennsport in den nächsten Jahrzehnten dominieren. In den letzten Jahren ist man zu einer unsymmetrischen Schaufelform, dem big blade (sog. ›Hackebeilchen‹), übergegangen. Diese Formgebung ermöglicht es, die Blätter im Wasser flacher zu führen, und sie optimiert den Wasserdruck auf der Blattfläche. Die Formgebung von Ruderblättern ergibt sich aus der Anforderung, einerseits beim Durchzug möglichst hohe Leistungen zu übertragen und andererseits das Herausheben und Drehen der Blätter nicht zu erschweren.126 Noch wichtiger als die Blattform ist die Optimierung des Hebelverhältnisses durch verstellbare Ausleger, Dollringe, Dollen, Rollbahnen und Stemmbretter.127 Sie ermöglichen das sogenannte Trimmen der Boote, das beim Rudern neben dem Austarieren das Zurichten des Ruderplatzes für die Rudernden bezeichnet. Abstand, Höhe und Winkel der Dolle wurden regulierbar, die Stemmbretter im Leistungssport mit passgerechten Schuhen ausgestattet. Dadurch vergrößerte sich die Zahl der Einstell- beziehungsweise Optimierungsmöglichkeiten. Sie beziehen sich einerseits auf individuelle Einstellungen für jeden einzelnen Ruderer und andererseits auf eine Anpassung an die aktuelle Witterung vor einer Regatta.128 Wie sehr allein die Veränderung der Hebelverhältnisse an Skulls und Riemen durch Versetzen des Dollrings die für den Durchzug aufzuwendende Kraft beeinflusst, wird beispielsweise daran deutlich, dass eine Trainerin in den 1960erJahren zur Kompensation von Gegen- beziehungsweise Mitwind bei etwa drei Metern langen Skulls eine Veränderung des Innenhebels von je einem Zentimeter empfiehlt.129 125 | Die frühen Versuche gehen auf den amerikanischen Ruderer Davis zurück, die späteren auf den Würzburger Bootbauer Anton Kirchner, dessen Riemen patentiert wurden; siehe: Der Riemen der Zukunft? In: Wassersport, 31 (1913), S. 128. Sowie: Riemen der Zukunft. In: Wassersport, 31 (1913), S. 176 (mit Zeichnung). 126 | K. Adam, Die Suche nach der besten Blattform. Erstveröffentlichung in: Rudersport, 79 (1961), S. 718f., abgedruckt in: Adam, Kleine Schriften, S. 263-268. 127 | Ebenda, S. 267. 128 | Vergl. hierzu die Kapitel und Aufsätze zum Trimmen in W. Schroeder, Rudern. Vom Anfänger zum Rennruderer. = Lehrmeister-Bücherei, 656/657. Leipzig [1940], S. 35-38, Autorenkollektiv, Rudern (1977), S. 67-75, und in M. Rulffs, Trimmen von Booten [nebst] Anhang zum Hebelverhältnis von Karl Adam. In: K. Adam u.a., Rudertraining, Bad Homburg 1977, S. 163-178. 129 | Brief der DDR Trainerin Johanna Sperling an die »Sperlinge« in Berlin-Grünau vom 30.8.1963, abgedruckt in H. Karasek, Briefe bewegen die Welt. Triumphe und Tragödien des Sports [Kommentierte Quellensammlung]. Kempten 2012, S. 64-69; zum Feintuning siehe S. 66f. Historische Bedeutung erlangte der Brief, weil er einen frühen Hinweis auf Doping von DDR-Sportlern gibt.

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Mit den konstruktiven Merkmalen Ausleger, schmaler, kielloser, U-förmiger Rumpf sowie Leichtbau, der Drehdolle und dem Rollsitz war die Konstruktionsentwicklung von Rennbooten im ausgehenden 19. Jahrhundert weitgehend abgeschlossen; im 20. Jahrhundert kam ein nicht zu unterschätzendes Feintuning hinzu, das Material wurde verändert und insbesondere in den 1920er und 30er Jahren eine adäquate Rudertechnik für den Rollsitz entwickelt. Am Ende des hier skizzierten Entwicklungsprozesses standen extrem schnelle, bis in technische Details ausgeklügelte Sportboote, die kaum noch Gemeinsamkeiten mit den Transportbooten hatten, die für die frühen Regatten genutzt wurden. Sie waren auch nicht mehr in der Lage, Gepäck oder gar Passagiere aufzunehmen.

3. Innovationen und Technologietransfer Zahlreiche der im letzten Kapitel beschriebenen Inventionen und Innovationen wurden patentrechtlich geschützt.130 Dies lässt sich sowohl als Hinweis auf die wirtschaftliche Bedeutung des Rudersports deuten als auch auf die Modernität der Produktion: der Bau von Sportbooten begann sich schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer traditionellen, der Geheimhaltung verpflichteten handwerklichen Produktion zu einer europäisch-amerikanisch vernetzten Branche zu entwickeln,131 die – wie sich zeigen wird – zahlreiche Innovationen aus anderen Branchen aufgriff. Die Gegend der Tyne, in der Mitte des 19. Jahrhunderts die meisten Innovationen im Rennbootbau entstanden,132 war von Stahlwerken, Waffenherstellung, Schiff bau und Maschinenbau geprägt. Einer der innovativsten Bootsbauer, Harry Clasper, arbeitete zunächst im Kohlenbergbau und als Köhler, bevor er Ruderer und Bootsbauer wurde;133 insofern waren er und seine Kollegen Mitte des 19. Jahrhunderts von moderner, industrieller Technik umgeben. Sie hatten sowohl die Möglichkeit, Neuerungen zu adaptieren als auch sich durch ihr Umfeld zu eigenen Entwicklungen inspirieren zu lassen. In dieses Bild passt die Überlieferung, dass die Rumpfform der Great Eastern für die Konstruktion eines Achters des Liverpooler Bootsbauers J.B. Liddledale Pate gestanden habe.134 130 | Einige amerikanische Patentschriften sind online verfügbar unter B. Miller, Rowing Equipment Patents (U.S.). In: Friends of Rowing History, www.rowinghistory.net/patents. htm (7.8.2014). 131 | Nach Einschätzung von Dodd, S. 69, erfolgte diese Entwicklung erst im Zuge der Einführung neuer Materialien. 132 | Zu Newcastle an der Tyne als einem Zentrum des Rudersports von den 1840er bis 1880er Jahren siehe Huggins, S. 204. 133 | Dodd, S. 70f. 134 | Liddledale stammte aus einer Schiffbauerfamilie; dennoch erscheint die Vorbildfunktion der Great Eastern für Ruderboote aufgrund unterschiedlicher Proportionen relativ unwahrscheinlich; siehe G. C. Bourne, A Text-Book of Oarsmanship. London 1925, erwähnt bei Dodd, S. 73.

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Abb. 4: Entwurf eines Rennruderboots des Bootsbauers Rettig, Berlin 1885. Ausgereifte Bootskonstruktion in hauchdünner Carveelbauweise, mit Auslegern in Gitterkonstruktion, drehbaren Dollen, verstellbaren Stemmbrettern und Rollsitzen. Bereits in den 1840er Jahren könnte es zu einem Technologietransfer in den Bootsbau gekommen sein: Die Optimierung von Riemen- und Skullblättern begann zu einer Zeit, in der auch die Konstruktion von Wasserrädern und Turbinen erfolgreich verbessert wurde, indem man den Zulauf, die Schaufelform und die Dimensionierung modifizierte. Zu Beginn dieser Entwicklung wurden insbesondere die Poncelet-Räder mit ihren gekrümmten Schaufeln bekannt.135 Ein Technologietransfer könnte beispielsweise über den Kontakt mit Mühlenbauern erfolgt sein, oder über den Schiffbau, wo Antriebsräder von Raddampfern ebenfalls mit gekrümmten Schaufeln versehen wurden, lässt sich jedoch vorläufig nicht belegen. Auf ein weiteres Beispiel eines (möglichen) Technologietransfers weist die Vorstellung des Schiller’schen Rollsitzes im Wassersport von 1885 hin, bei der der Autor auf Holzsitze von Eisenbahnwagen III. Klasse verweist, um die körpergerecht geformte Sitzfläche seiner Sitze zu beschreiben.136 Ob auch die Formgebungsidee von dort stammt – also ein Technologietransfer aus einem Randbereich des Eisenbahnwesens vorliegt – oder er den Hinweis lediglich zur Erläuterung bringt, muss jedoch offen bleiben. 135 | Zu geschwungenen Ruderblättern siehe Halladay, S. 207f. Zu Jean Victoire Poncelet 1788-1867 und seinen optimierten Wasserrädern siehe W. Weber, Verkürzung von Zeit und Raum. Techniken ohne Balance zwischen 1840 und 1880. In: W. König, W. Weber, Netzwerke. Stahl und Strom. 1840 bis 1914. = Propyläen Technikgeschichte, 4. Berlin 1990, S. 11-264, S. 21. 136 | E. Schiller, S. 285.

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Besser nachweisbar ist ein Technologietransfer in folgenden Fällen: 1882 erhielt die Berliner Fa. Rettig ein Patent für eine Auslegerkonstruktion, die den beim Schlag entstehenden Druck auf den Bootskörper durch eine Querstrebe zwischen beiden Auslegern abfängt. Zur Gewichtsreduktion waren Rettigs Ausleger in Anlehnung an Gitterträger konstruiert: sie haben einen oberen und einen unteren Hauptträger, die beide durch ein Gitterwerk miteinander verbunden sind (Abb. 4).137 Damit wurde ein gängiges Konstruktionsverfahren aus dem Brückenbau auf die Bootsgestaltung übertragen.138 Obwohl die Gitterkonstruktion die Ausleger bei gleichzeitiger Gewichtsreduktion versteifte, blieben sie Schwachpunkte der Rennboote; 1891 experimentierte man in Cambridge mit röhrenförmigen Stahlauslegern, die ab 1896 in größerer Menge zum Verkauf produziert werden konnten.139 Zu Beginn des Versuchszeitraums waren widerstandsfähige saumlose Stahlröhren neu auf dem Markt; für den konstruktionstechnischen Umgang damit wurden Erfahrungen aus dem Fahrradbau übernommen.140 Die Entwicklung und Herstellung der extrem leichten amerikanischen Rennboote mit einer Rumpfhülle aus imprägnierten Papier, die 1868 patentiert wurden und in den folgenden Jahre sehr erfolgreich waren, erfolgte durch eine Papier- und Kartonfabrik, die Firma Walter, Blach & Company.141 Sie erschloss sich durch den Technologietransfer in den Rennbootbau zunächst erfolgreich ein neues Marktsegment, wurde jedoch wieder verdrängt, weil sich die Lebensdauer der Boots als zu gering erwies. Dennoch blieb die Idee der Papiernutzung so attraktiv, dass beispielsweise ein lothringischer Bootsbauer nach Ablauf der Schutzrechte Papierboote herstellte.142 Während sich die Papierboote auf die Dauer nicht durchsetzen konnten, sollte ein anderes Material die Bootskonstruktion für mehrere Jahrzehnte dominieren: Sperrholz. Sperrholz war in den 1930er Jahren für den Flugzeug- und Automobilbau entwickelt worden; es fand zunächst Verwendung für Flugzeuge. Weil die Imprägnierung für die Belastungen von Fahrzeugkarosserien noch nicht genügte, konnte Sperrholz erst nach Verbesserung des Kunststoffbindemittels auch für Leichtbaukonstruktionen wie die des DKW Meisterklasse verbaut werden. In den frühen 1950er Jahren 137 | Die Rettig’sche Bootskonstruktion. In: Wassersport, 3 (1885), S. 217 (mit Abbildung neben S. 218). 138 | Wissenschaftliche Ansätze zu Gitterkonstruktionen analysiert K.-E. Kurrer, The History of the Theory of Structures. From Arch Analysis to Computational Mechanics. Berlin 2008, S. 486f. 139 | Halladay, S. 208; laut Halladay ging die Idee auf den Eaton Trainer Warre zurück; der Hersteller war Mathew Wood, Putney. 140 | Das Mannesmann-Patent einer Walzmaschine für saumlose Stahlröhren stammt von 1885; das neue Produkt wurde in Deutschland seit 1888 ausgeliefert. L. Hatzfeld, Poensgen in Amerika. In: Technikgeschichte, 35 (1968), S. 56-67, S. 60. 141 | Silberer, Ruder-Sport, S. 65f. Aus historischer Perspektive siehe Dodd, S. 81. 142 | Das erste deutsche Papierboot. In: Wassersport, 8 (1890), S. 454.

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wurde es beispielsweise für den in großen Stückzahlen hergestellten Kleinwagen Lloyd der Firma Borgward genutzt.143 Erste Versuche zur Verwendung von Sperrholz für den Bau von Renn- und Trainingsbooten gab es bereits in den 1930er Jahren, aber die Einführung des neuen Materials erfolgte erst zu einem Zeitpunkt (Mitte der 1950er Jahren), als seine Eignung schon erwiesen war.144 Aufgrund der höheren Steifigkeit des Sperrholzes mussten veränderte Verarbeitungsmethoden entwickelt werden; für einige Bereiche der Außenhaut verwendeten Bootsbauer Sperrholz, das anstelle des üblichen Winkels von 900 im 450-Winkel verleimt und entsprechend biegsam war.145 Zudem wurden Spezialanfertigungen mit einer Außenlage aus Mahagoni- oder Zedernholz verarbeitet. Dass hier ein bereits erprobtes Material eingesetzt wurde und der Sport kaum oder gar nicht als ›Spielwiese‹ diente, dürfe mit kriegs- und nachkriegsbedingten Verwerfungen zusammenhängen. Die Nutzung von Kunststoffen bedeutete für die Bootswerften in den späten 1950er und den 1960er Jahren nicht nur die Einführung völlig neuer Fertigungstechniken, sondern auch eine enge Zusammenarbeit mit großen Industrieunternehmen; dies waren in erster Linie Kunststoff hersteller und Flugzeugbauer. So arbeitete die (west)deutsche Rennbootwerft Empacher, die seit den 1950er Jahren mit Kunststoff booten experimentierte, mit Bayer zusammen, um einen Prozess zur Verbindung von Glasfaser und Polyester zu entwickeln, und produzierte 1956 das erste Kunststoff-Skiff.146 Im Vorfeld der Olympiade 1972 kooperierte Empacher mit Ciba-Geigy; ein weiterer Partner wurde der Flugzeughersteller MesserschmidtBölkow-Blohm. In den 1960er Jahren erschien ein Buch Willi Empachers zum Bau von Kunststoff booten.147 Der (Ost)-Berliner Bootsbauer Klaus Filter kooperierte mit den Dresdener Flugzeugwerken;148 er entwickelte zunächst Boote in Kompositbauweise aus einer Glasfaserepoxid-Hülle mit Holzversteifungen und in einem 143 | Das erste Lloyd-Fahrzeug (mit Sperrholzkarosserie) wurde 1950 in 430 Exemplaren täglich gebaut; das Nachfolgemodell erhielt 1953 allerdings eine Stahlblechschalenkarosserie. Siehe U. Kubisch, Borgward. Ein Blick zurück auf Wirtschaftswunder, Werksalltag und einen Automythos. Berlin 1984, S. 88, S. 92. Zur Sperrholzanwendung siehe auch K. Möser, Grauzonen der Technikgeschichte. = Technikdiskurse. Karlsruher Studien zur Technikgeschichte, 6. Karlsruhe 2011, S. 10. 144 | W. Empacher, Sperrholz im Bootsbau, S. 14. Während Empacher in seinem Aufsatz noch gegen ablehnende bis verhaltene Positionen anderer Autoren anargumentieren musste, hatte sich das Material zehn Jahre später weitgehend durchgesetzt; siehe Reuß, Ruder, S. 19. Siehe auch: Rudern. In: Kleine Enzyklopädie Körperkultur und Sport (1979), S. 548. 145 | Reuß, Ruder, S. 19. 146 | Siehe Die Geschichte der Firma Empacher GmbH, www.empacher.com/ueber_em pacher/index_d.html (5.5.2010), sowie: Dodd, S. 94. 147 | W. Empacher, Der Bau von Kunststoff-Booten. 2. Ausg., Bielefeld 1967. 148 | Zur kurzen Geschichte der Luftfahrtindustrie der DDR (1954 und 1961) siehe beispielsweise B. Zibler, Luftfahrt. In: Verkehrsmuseum Dresden. Leipzig 1994, S. 74-81, S. 81. sowie ders., Exponate auf Flugplätzen. In: Verkehrsmuseum Dresden, S. 106f.

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zweiten Schritt Boote mit wabenförmigen Versteifungen aus demselben glasfaserverstärkten Kunststoff, die rasch zum Vorbild für Sportbootkonstruktionen wurden. Entsprechend stellte der wichtigste Rennbootproduzent der DDR, der VEB Yachtwerft Berlin, schon 1976 die Produktion von reinen Holzbooten ein.149 In den letzten Jahren wurden Kunststoffrümpfe auch in den Bau von Arbeits- und Passagierschiffen eingeführt.150 Die Zeit des Einsatzes von Kunststoffen im Freizeit- und Sportbootsbau kann als eine Versuchs- und Testphase für den weiteren Einsatz im Schiff bau, in der Automobilbranche und im Flugzeugbau gewertet werden. Ein britischer Bootsbauer kooperierte Mitte der 1970er Jahre zum Bau von kohlefaserverstärkten Riemen und Skulls mit dem Mehrspartenunternehmen GKN, das in jener Zeit darauf bedacht war, seine Produktpalette auszuweiten.151 Für den Bootsbauer, der sich später auf die Produktion von Kohlefaserrudern spezialisierte, ging es darum, ein leichteres und widerstandsfähigeres Material zu finden, für GKN war die Kooperation interessant, um Versuchsergebnisse für seine Forschungen zur Anwendung von Kohlefaserverbundmaterialien zu erhalten. Das erste Rennboot mit einem Karbon-Rumpf wurde 1975 von British Aerospace für die Olympischen Spiele des Folgejahres hergestellt.152 Auch hier sollte es seit den 1990er Jahren zu einer wachsenden Verbreitung des Materials in verschiedene Branchen kommen. In der Kleinen Enzyklopädie Körperkultur und Sport werden 1979 für den Rennbootbau Materialien aus der Weltraumfahrt erwähnt, die jedoch nicht näher spezifiziert sind.153 Das amerikanische Flight Research Institute entwickelte 1984 eine Kunststoff haut mit kleinen Vertiefungen in Mikrometergröße, um den Luftwiderstand von Space Shuttles zu verringern. Diese auf bionischer Forschung beruhende haifischähnliche Haut wurde als clink film für Ruder-

149 | J. Schade, Betriebschronik. Vom Werden und Wachsen der Yachtwerft Berlin-Köpenick. Die Geschichte eines 100-jährigen Betriebes des Schiff- und Bootsbaus. Eine Bilanz in Wort und Bild. Manuskript, Berlin 1990, S. 79. Autor dieser Schrift für Werftmitarbeiter, die im Zuge der Auflösung der VEBs durch die Treuhand entstand, ist der damalige Direktor der Werft; freundliche Information von Kay Schatkowski, Berlin. Sowie: BBG-Bootsbau Berlin, Geschichte, auf www.bbg-bootsbau.de/html/geschichte.html (5.5.2010); das Unternehmen ist der Nachfolger des VEB Yachtwerft. Zur Kompositbauweise siehe Rudern. In: Kleine Enzyklopädie Körperkultur und Sport (1979), S. 548. 150 | P. Trechow, Geklebte Kunststoff-Fähre. In: VDI Nachrichten vom 20.3.2009, S. 3. 151 | GKN ist ein traditionsreicher Stahlhersteller, der sich in den 1970er Jahren umorientierte und in die Enwicklung von Fahrzeugen investierte. Zur Geschichte des Unternehmens siehe: Nationalisation and diversification [und:] The drive to automotive. In: GKN 1759 – 2009, auf www.gkn250.com/1900.html (5.5.2010). 152 | Dodd, S. 92ff. 153 | Rudern. In: Kleine Enzyklopädie Körperkultur und Sport (1979), S. 548.

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boote verwendet und ließ sie um etwa zwei Prozent schneller werden.154 Ähnlich den Karbonverbundmaterialien haben die unter den Ausnahmebedingungen von Sport und Raumfahrt getesteten Shark Skin Oberflächen inzwischen erhebliche Verbreitung gefunden. Während die bisher beschriebenen Beispiele für Technologietransfers die Übernahme von Technologien in den Bootsbau betreffen, handelt das folgende von einem Transfer in eine andere Branche: 1917 wurden zwei amerikanische Bootsbauer von der jungen Firma Boeing beauftragt, hölzerne Rümpfe und Schwimmer für Flugzeuge zu bauen.155 Ihr Wissen über Stabilität, Gewicht und Witterungsresistenz von Hölzern und ihre Erfahrung mit sehr leichten Holzkonstruktionen war für den Rennbootbau ebenso wichtig wie für die Flugzeugkonstruktion. Folglich kam es zu einem direkten, persönlichen Technologietransfer aus dem Bootsbau in die entstehende Flugzeugindustrie. Dass die meisten Technologietransfers in den Bau von Ruderbooten einflossen und wohl nur in einem Fall ein Transfer in Gegenrichtung stattfand,156 scheint typisch für eine veraltete Antriebstechnologie zu sein, die für Sportzwecke genutzt wird. Während im Falle der Flugzeugindustrie eine neue Branche auf Erfahrungen aus älteren zurückgreifen musste und der Holzleichtbau hier eine Schlüsselrolle einnahm, war in den meisten Fällen der Abstand der mit der veralteten Technologie ›Rudern‹ verbundenen Technik zu zeitgenössischen Entwicklungen anderer Bereiche so groß, dass es nicht zu Synergieeffekten oder gar Transfers in diese Bereiche kommen konnte. Anders sah beziehungsweise sieht dies bei den genutzten Materialien und materialspezifischen Konstruktionen aus: Allgemeine Eigenschaften wie Stabilität, Zähigkeit oder geringes Gewicht gelten als Konstruktionsziele übergreifend; dies ermöglicht Synergien und Technologietransfers in beide Richtungen. Entsprechend konnte und kann das Rudern – wie der gesamte Sport – hier die Funktion einer Testphase dieser Materialien übernehmen, aus der Erkenntnisse für Innovationen in anderen Bereichen abgeleitet werden können. Am deutlichsten wurde dies im Fall des Kunststoffeinsatzes.

154 | Siehe D.W. Bechert, W.E. Reif, On the Drag Reduction of Shark Skin. In: AIAA-850546 Report. AIAA Conference, March 12-14. Boulder, Colorado 1985; siehe außerdem W. Nachtigall, Technische Biologie und Bionik. In: Ferrum, 72 (2000), S. 33-44, S. 35f. Der clink film wurde allerdings von der FISA verboten: Dodd, S. 107, S. 110. 155 | Die beiden Bootsbauer waren die 1911 aus England immigrierten Gebrüder Pocock; siehe Dodd, S. 104. 156 | Dies ist das einzige, dem Autor bekannte Beispiel.

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4. Rudern als Sportspiel Folgt man den Caillois’schen Spiel-Kategorien, so sind die dem Rudern zuzuordnenden Formen des Spiels in erster Linie der Wettkampf agon und der Rausch ilinx, der beim intensiven Rudern auftreten kann und sich im Sinne Csikszentmihalyis auch als flow-Erlebnis beschreiben lässt. Diese Kombination von ilinx und flow-Erlebnis ist ebenso charakteristisch für zahlreiche Sportarten wie ihre Einordnung als ludus: Rudern ist eine Tätigkeit, die erlernt und trainiert werden muss, um selbst setzbare Leistungsziele zu erreichen. Aber es bietet auch Raum für ausgelassenes, ja subversives Spiel, das Caillois als paidia einordnet. Die in den vorhergehenden Kapiteln dargestellte technische Optimierung der Boote ist – bezüglich des Spiels – zunächst ein Resultat der Versuche, mittels neuer Technik günstigere Wettkampf-Ausgangspositionen zu erlangen. In ihrer Gesamtheit dürften sie dazu beigetragen haben, den Wettkampf beziehungsweise das Sportspiel einerseits durch Beschleunigung längerfristig attraktiv und lebendig zu erhalten sowie es anderseits immer mehr in Richtung eines reinen Wettkampfs unter möglichst geringen Störeinflüssen zu formen.157 In Schriften über das Rudern finden sich vereinzelte Hinweise auf die Motivlage der Rudernden und die Erwartungen, die an sie gerichtet werden, wobei Leistungsanforderungen und Aufforderungen zu einer Lebensführung, die sportlichen Leistungen förderlich sein soll, häufiger zu finden sind als eine Einordnung des Ruderns als Spiel oder auch als Genuss, Vergnügen und Naturerlebnis. Diese scheinen als Ausgangsmotive der sportlichen Betätigung gleichsam vorausgesetzt zu werden. Einen Bogen vom Vergnügen zur körperlichen Arbeit im Sport spannt Bernhard von Gaza in seiner um 1908 erschienenen Einführung in den Rudersport: »Wenn es auch ein herrliches Vergnügen ist, in dem leichten Boote schnell über den Wasserspiegel dahinschießen zu können, und die schwere Beherrschung des Bootes mit den papierdünnen Wänden an sich schon ein Genuß ist, zum Vergnügen allein ist das Rennboot nicht da. Im Vordergrunde des Interesses hat stets das rein sportliche Ziel der Wettkampf zu stehen, und alle Arbeit hat nur diesem eine[n] Zwecke zu gelten«.158

Hier wird eine Mischung Freude am eigenen Knowhow und Rauscherlebnis angedeutet, wobei der Autor gegen Ende der Versportlichungsphase des Ruderns den sportlichen Wettkampf als zeitgenössischen Ausweis von Modernität gegenüber dem Vergnügen höher bewertet. Hinweise auf Genuss, Vergnügen und Spiel finden sich am häufigsten in Schriften der 1920er Jahre. Beispielsweise sieht F. U. Pagels Rudern als »Kunst« 157 | Für die tatsächliche Entwicklung des Ruderns sind freilich weitere ökonomische und technische Faktoren ausschlaggebend. 158 | Gaza, S. 26, S. 28.

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und verweist in seiner Schule des Rudersports um 1925 auf die gründliche Ausbildung, die vonnöten sei, »ehe sie [die Ruderanfänger] an die eigentliche Ausübung und den damit verbundenen Genuß denken« können.159 In der erstmals 1924 erschienenen Ruderfibel Wilm Schroeders wird in einer Neubearbeitung um 1950 einführend über das Gemeinschaftserlebnis beim Rudern, das Dahingleiten auf dem Wasser, das Naturerlebnis und den sportlichen Wettkampf berichtet. Befrage man aktive Ruderer nach ihren Motiven, so heiße es: »Ich rudere, weil mir das alles Freude macht«.160 Einige Autoren bezeichnen Rudern dezidiert als Spiel, wobei sie mitunter von verschiedenen Spielbegriffen ausgehen. So beschreibt der Trainer des Amsterdamer Ruderclubs R.U.Z. de Amstel, Peter Hach, Mitte der zwanziger Jahre die geschmeidigen Bewegungen beim Rudern unter entsprechender Muskelkoordination als »Muskelspiel«.161 Der Ausdruck Spiel ist hier vorrangig auf die Bewegung einzelner Körperpartien bezogen. Entsprechend wird das freie ›Spiel der Wellen‹ – als Gegensatz zum gelenkten Spiel der Muskeln – zu einer Vergleichsebene. Eine zweite Vergleichsebene ergibt sich, wenn man den Hinweis auf die Koordination des Muskelspiels einbezieht: nun ist es der Rudernde, der spielerisch handelt und je nach Betrachtungswinkel seine Muskeln spielen lässt oder den Bewegungsablauf des Muskelspiels so koordiniert, dass daraus die Ruderbewegung entsteht. Eindeutiger als Hach bezieht sich der Lehrer und Ruderlehrer Ernst Goldbeck 1929 auf die Rudernden als Handelnde, die »selbst den Motor [des Boots] … spielen«.162 Er stellt eine Verbindung von Spiel und Technik her, indem er Rudern als ein »kräftig-schöne[s] Spiel« beschreibt, bei dem sich »die Wonne eigener körperlicher Betätigung mit der Freude an dem so sinnvoll erdachten Apparat [verbindet], der die Erleichterung der Anstrengung und die ersehnte Geschwindigkeitserhöhung ermöglicht.« Der »eigentliche ›Wonnekern‹ … liegt – und das kommt gerade beim Rudersport unter günstigen Bedingungen am schönsten heraus – im leichten, sanften Dahingleiten«.163 Damit beschreibt Goldbeck Rudern lange vor Aufkommen der betreffenden Begriffe als Quelle von flow-Erlebnissen oder des Rausches ilinx. Eine Formulierung, die in ähnliche Richtung deutet, findet sich Anfang der 1920er Jahre bei Hermann Wilker: »Muß das schön sein, so dahinzufliegen vom Takt [der Ruderbewegung] getragen«, legt er einem staunenden 159 | Pagels, S. 10f. (Herv. Poser). Eine ähnliche Formulierung verwendet von Gaza, S. 5, der Skullen als »eine ganz individuelle Kunst« beschreibt und sich dabei auf den Ruderstil bezieht. 160 | W. Schroeder, E. Maark (Neubearbeitung), Ruderfibel. Vom Anfänger zum Rennruderer. Minden um 1950, S. 11. Das Buch wurde mehrfach aufgelegt; die Erstausgabe erschien in Leipzig 1924. 161 | P. Hach, Rudern aus der Praxis für die Praxis. Hamburg um 1924, S. 6. 162 | Goldbeck, S. 57. 163 | Goldbeck, S. 28f. Der Autor war für eine psychologische Arbeit »Die Welt der Knaben« bekannt, die in den 1920er Jahren in fünf Auflagen erschien.

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Beobachter in den Mund.164 Auch der Hinweis, alte »Rennhasen können von der unbändigen und urwüchsigen Freude beim Erleben eines Bord-an-Bord-Kampfes oder gar eines Sieges erzählen«,165 in einem Buch der DDR-Ruderlehrer Werner Pfütze und Ernst Herberger aus den 1950er Jahren weist darauf hin, dass das Wettkampfspiel mit dem Erlebnis des Rausches ilinx oder des flow verbunden sein kann. Über die Beschreibung des flows hinaus stellt Goldbeck das Rudern in den Kontext von Geschwindigkeitserlebnissen beim Skilaufen oder auf dem Jahrmarkt: »Das Rudern, Skilaufen, gewisse verwickelte Bahnen auf Rummelplätzen, alles das sind Beispiele … für die eigentümliche Freude der Menschheit an glatten, schnellen Bewegungen«.166 Die technische Entwicklung der Boote scheint zu einer Intensivierung des rauschhaften Spiels respektive des flow-Erlebnisses geführt zu haben: Beim klassischen Pullen kann die Körperkraft nur sehr eingeschränkt zum Vortrieb genutzt werden; in gewissem Maße kommt der Rücken zum Einsatz, die Hauptarbeit leisten jedoch die Arme. Wegen der kleinen Ruder-Blattflächen ist der Durchzug viel leichter als bei Sportbooten; vergleichsweise viel Energie wird für das Ausheben und Rückführen von Skulls und Riemen benötigt, die nicht gewichts- und schwerpunktoptimiert sind. Folglich werden nur einzelne Körperpartien benötigt. Beim Rudern in Sportbooten ist hingegen der ganze Körper gleichmäßig belastet, wobei der zu erbringende Kraftaufwand relativ hoch ist. Diese Anforderung an den Körper scheint in Verbindung mit der gleichförmigen Ruderbewegung einem flowErlebnis Vorschub zu leisten, das sich bei einer längeren Fahrstrecke einstellen kann. Wenn dem so ist, förderte die technische Entwicklung der Boote also das flow-Erlebnis und damit eine bestimmte Form des Spiels, während andere Spielformen – wie sich zeigen wird – in den Hintergrund traten. Schon vor der eigentlichen Versportlichung des Ruderns wurden Regattaregelwerke erlassen, deren Ziel die Schaffung ähnlicher Voraussetzungen für die einzelnen Wettkampfteilnehmer war. Dies geschah nicht zuletzt in Hinblick auf das Wetten bei Sportereignissen: Ähnlich den Pferderennen wurden in England zum Teil beträchtliche Einsätze getätigt. Das Vergnügen des Wettens war kombiniert mit einer Risikokapitalanlage: Die Resultate von Sportwetten galten als kalkulierbar und mussten dies – sollten Sportwetten zur Kapitalakkumulation genutzt werden – auch in gewissem Maße sein. Entscheidend war hierfür die Reduzierung von Zufallsresultaten durch Schaffung gleicher Bedingungen für die Sportler und die Eindeutigkeit von Wettkampfergebnissen. Deshalb gingen vom System der Sportwetten Modernisierungsimpulse aus.167 Die entstehenden Regelwerke unterstütz164 | Wilker, Das Rudern, S. 12. 165 | W. Pfütze, E. Herberger, Wir Rudern. Lehranleitung für Skullen und Riemenrudern. Berlin (O) 1954, S. 10. 166 | Goldbeck, S. 29. 167 | Insbesondere die frühe Entwicklung der Zeitmessung im Sport ist hier zu nennen. Siehe S. Apel, Die Entwicklungsgeschichte der Stoppuhr und ihre Verwendung als Rationa-

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ten letztlich einer Art des Glücksspiels, das Ruderwettfahrten zum Thema hatte und sich in Anbetracht der Akzeptanz von Wetten als Form des arbeitsfreien Gelderwerbs rückblickend als serious game einordnen lässt. Das Rudern bot also den Zuschauern nicht nur das Mitfiebern, das sich als rauschhaftes Erlebnis beschreiben lässt, sondern darüber hinaus Anlass zu Glücksspielen, deren Bandbreite von kleinen Wetten bis zu serious games unter erheblichem Kapitaleinsatz reichte. An die seit dem späten 18. Jahrhundert entwickelten Reglementierungen des Sportgeschehens knüpfte im ausgehenden 19. Jahrhundert die Schaffung international gültiger Regelwerke an, die einen Vergleich von Ergebnissen einzelner Rennen nebst einer Wertung von Rekorden (im zeitgenössisch modernen Sinne sportlicher Bestleistungen) ermöglichte und sich als entscheidender Schritt im Prozess der Versportlichung beschreiben lässt. Tatsächlich beschränkte diese Entwicklung die Vielfalt der Spielmöglichkeiten beim Rudern – zum einen, weil die Reglementierungen immer weiter ausgriffen, zum anderen, weil die damit einher gehende Entwicklung der Bootskonstruktion zu immer leichteren, schnelleren und filigraneren Rennbooten deren Einsatzmöglichkeiten reduzierte. Dies bedeutete, dass im ausgehenden 19. Jahrhundert zahlreiche spielerische Formen des Ruderns mit Sportbooten aufgegeben wurden, zum Teil auch werden mussten, weil sie weder in den durch Konstruktion und Versportlichung gegebenen Kontext der ausschließlichen Geschwindigkeitsorientierung passten, noch mit filigranen Booten realisierbar waren. Dies galt für einen Typ von Wettfahrten, die bumping-races, bei denen sich die Boote gegenseitig anstoßen beziehungsweise rammen, das turnierähnliche Fischerstechen, bei dem sich die Ruderer mit Hilfe langer Stangen gegenseitig ins Wasser werfen, oder die Entenjagd, bei der ein Einer (ein Ruderboot für eine Person) von mehreren Vierern gejagt wird, um ihm eine Fahne abzunehmen.168 Die filigranen Boote waren nicht nur zu empfindlich, um Spielen unter Bootsberührung standzuhalten. Auch das Stehen im Boot war nur noch an einigen, besonders verstärkten Stellen möglich. Dies schloss beispielsweise das sogenannte Fischerstechen aus. So scheint Huizingas These, dass der Spielcharakter von Spielen im Zuge der Industrialisierung und Verwissenschaftlichung verlorenzugehen drohe, zunächst bestätigt. Allerdings verbesserten sich die Vorausetzung für flow-Erlebnisse und die Spielform ilinx gewann an lisierungsinstrument. In: Technikgeschichte, 74 (2007), S. 43-67, S. 50f. Sowie Eisenberg, English Sports, S. 33. Zur Zeitmessung im Rudern siehe: Der Werth der Zeitmessung. In: Wassersport, 1 (1883), S. 64f. 168 | Siehe beispielsweise: 150 Jahre Ruder-Club Favorite Hammonia, S. 34. Sowie: J. Sarrazin, Fischerstechen an der Donau. In: Deutsche Schiffahrt. Informationen des Fördervereins Deutsches Schiffahrtsmuseum e.V. Bremerhaven, 12 (1/1990), S. 11-15. In England finden nach wie vor bumping races statt; gefahren wird mit breiten, stabilen Booten, wie sie auch für Wanderfahrten genutzt werden. Siehe J. Durack, G. Gilbert, J. Marks, The Bumps. An account of the Cambridge University bumping races, 1827-1999. Cambridge 2000.

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Bedeutung. Eine Vielzahl von Spielformen wurde also von einer dominierenden abgelöst. Weil das Rudern in seiner Ausrichtung auf Geschwindigkeitssteigerung monotoner wurde, gewannen Spiele an Bedeutung, die als Ausgleichshandlungen zum Sportspiel Rudern fungierten und fungieren: Hier sind Handlungen wie Spritzen, Wackeln oder anderen Booten den Weg abschneiden zu nennen, die durch materielle Technik – das Bootsmaterial – ermöglicht wurden. Skulls und Riemen lassen sich effizient zum Spritzen in und insbesondere entgegen der Fahrtrichtung nutzen, wenn sie schnell über das Wasser gezogen werden und dieses nur mit der Blattspitze berühren; mit angewinkelten Skulls oder Riemen (Ruder lang) sind auch Ruderer im eigenen Boot erreichbar. Im rechten Winkel zum Boot flach auf dem Wasser liegende Blätter ermöglichen es, ein Ruderboot zu stabilisieren, aber auch – bei entsprechender Auf- und Abbewegung der Innenhebel von Skulls oder Riemen – zu destabilisieren, es so stark wackeln zu lassen, dass ein Ruderer, der seinen Platz wechselt, das Gleichgewicht verlieren kann. In beiden Fällen ist also das technische Equipment der Boote wichtig, während sich das Wegabschneiden mit jedem schnellen Boot realisieren lässt, wofür Bootskonstruktion und Mannschaftsleistung Bedeutung haben. Die hier beschriebenen Formen des Spiels entsprechen nicht der vorgesehenen Techniknutzung und sind mit Ausgelassenheit verbunden, die sich im Sinne Caillois als paidia deuten lässt, während das Rudern als Wettkampfspiel dem Spieltyp ludus zuzuordnen ist. So bieten die paidia Spiele einen Gegenpol zur gleichmäßigen, gleich getakteten Ruderbewegung. Sie können sich sowohl gegen andere Bootsmannschaften richten und so den Gruppenzusammenhalt stärken als auch einzelne Mannschaftsangehörige betreffen und sind – vergleichbar dem Karneval – als subversive Spiele einzuordnen. Hinweise auf diese Spiele finden sind in Ruderlehrbüchern selten und wenn meist indirekt. So weist beispielsweise der Olympiasieger Hermann Wilker 1922 in seiner Einführung Das Rudern darauf hin, dass das »Zusammensein im Boot … das denkbar engste [ist], die Reibungsmöglichkeiten sind infolgedessen sehr groß, da muß [bei Wanderfahrten] gegenseitiges Sichverstehen und Sichineinanderschicken entstehende Schwierigkeiten rasch beseitigen«.169 Eine Abbildung einer Rauferei beschreibt er im Titel der Bildunterschrift als »Ergänzungssport«, im zugehörigen Text heißt es: »Bei einer Ausfahrt wird allerhand Kurzweil getrieben, gelaufen, geworfen, gerungen. – Ein tüchtiger Ruderer kann das alles«.170 Deutlicher wird Goldbeck: er erwähnt in Zusammenhang mit Wanderfahrten bei Pausen ein »lustiges, sogar mit allerlei Schabernack gewürztes Spiel«; etwas »Planschen gehört auch zum ordentlichen Rudern … Spritzen ist mit dabei. Es macht viel Spaß«.171 Es gewannen also im Zuge der Versportlichung des Ruderns neben den zunehmend dominierenden Spielformen agon und ilinx weitere Spiele an Bedeutung, die einen 169 | Wilker, Das Rudern, S. 52. 170 | Ebenda, S. 53, Abb. 23. 171 | Goldbeck, S. 4, S. 7f.

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Ausgleich zum geschwindigkeitsorientierten, sportlichen Rudern boten, während ältere Spiele aus dem sportlichen Rudern verschwanden. Als weitere Spielebene können die mit dem Rudern verbundenen Wettspiele gesehen werden, die den Ablauf von Wettkämpfen beeinflusste und neben der Reglementierung von Regatten auch die Weiterentwicklung der Boote förderte. Hier handelt es sich um wissensbasierte Glücksspiele, weil sinnvolle Wetteinsätze – vergleichbar dem heutigen Fußball-Toto – Kenntnisse über Bootsmaterial, Mannschaften und Trainingsstand voraussetzten. Allerdings nahm die Bedeutung des Wettens aus Gründen, die außerhalb des Ruderns liegen, in dem Maße ab, in dem Wetten ihre Bedeutung als frühe serious games172 und anerkannter Gelderwerb verloren. In den letzten Jahrzehnten wurden vor dem Hintergrund der zunehmenden Konkurrenz durch ›Postmoderne Sportarten‹ Überlegungen zur Modernisierung des Ruderns angestellt. Anstelle oder auch parallel zur Optimierung auf Geschwindigkeit und den damit verbundenen Spielformen sollten Boote demnach unter Beibehaltung der motorischen Grundqualitäten des Ruderns durch mehr Wendigkeit und eine entsprechend robuste Konstruktion Anreiz zu neuen Spielen bieten. Einerseits scheint sich damit der Kreis zu schließen, weil robustere Boote schon im 19. Jahrhundert vor der Versportlichung des Ruderns verschiedene zeittypische Spiele ermöglichten, andererseits laufen zahlreiche Vorschläge zur Veränderung der Bootskonstruktion auf eine Abkehr vom Rudern beziehungsweise auf die Schaffung völlig neuer Boote und Spielformen hinaus.173 Ein Wandel der Spielgewohnheiten führte hier zu einem Diskurs über eine Veränderung der genutzten Technik für das Spiel. Am Beispiel der Entwicklung verschiedener Spielformen beim Rudern wird also deutlich, dass Huizingas These des Verlusts des Spielcharakters von Handlungsweisen in der Moderne nicht zuzustimmen ist. Vielmehr sind mit dem Rudern mehrere Ebenen verschiedener Spiele verbunden, deren Bedeutung sich im Laufe der Zeit veränderte. Während vor der Versportlichung des Ruderns der ausschließlich geschwindigkeitsorientierte Wettkampf Teil eine Reihe spielerisch-sportlicher Wettkämpfe war, gewannen nun vor dem Hintergrund der Entwicklung von agon und ilinx zu den zentralen Spielformen des Ruderns Ausgleichsspiele an Bedeutung, deren Spielebenen gleichsam quer zu den nun dominierenden des sportiven Wettkampfs lagen. Ludus und paidia – als zugehörige Kategorien zum sportlichen Wettkampf beziehungsweise zu den zahlreichen Ausgleichsspielen – basieren beim Rudern auf Technik, die eine positive Gestimmtheit der Rudernden unterstützt.

172 | Eingeführt wurde der Begriff erst um 1970 für Gruppenspiele. 173 | Chr. Wopp, Die Zukunft des Ruderns in der Erlebnisgesellschaft. In: Quo vadis Rudern? Rudersymposium anlässlich der Ruderweltmeisterschaft in Köln 1998. = Berichte und Materialien des Bundesinstituts für Sportwissenschaft, 11. Köln 1999, S. 173-180.

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5. Umgang der Akteure mit dem technischen Gerät Mit Aufkommen des Gentleman-Amateurruderns zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren größere finanzielle Mittel für Verbesserungen und Neukonstruktionen vorhanden; allerdings kamen Anregungen zu technischen Änderungen nach Recherchen Gerhard Reckendorfs das ganze Jahrhundert hindurch meist von Professionals, die gleichzeitig über das modernste Bootsmaterial verfügten.174 Über die Einschätzung der meisten soeben beschriebenen Neuerungen scheint unter den Athleten relativ schnell Einigkeit geherrscht zu haben, und sie setzten sich wegen des Konkurrenzdrucks beziehungsweise wegen höherer Gewinnchancen innerhalb kurzer Zeit durch. Auch die Regattabestimmungen wurden in Aushandlungsprozessen der beteiligten Vereine technischen Erfordernissen angepasst: Da die filigranen Konstruktionen der Rennboote durch Bootsberührung, ja selbst durch schnelles Wenden beschädigt werden können, ging man für Rennboote zu getrennten, geraden Regattastrecken über, auf denen konkurrierende Boote einander nicht mehr ins Gehege kamen.175 Unvorhersehbar verlief die Einführung von Gleit- und Rollsitzen: eine der beiden wichtigsten technischen Neuerungen im Rennbootbau wurde zunächst offensichtlich nicht recht verstanden und benötigte mehr als zehn Jahre, um in Europa Fuß zu fassen. Auch dann wurden die neuen Bewegungsmöglichkeiten nicht hinreichend genutzt: Die Beinbewegung, auf die ein Großteil der Kraftausübung beim Schlag entfällt, wurde lediglich zum bisherigen Bewegungsablauf addiert. Die für den Rollsitz übernommene Rudertechnik der Festsitzboote, einen langen Durchzug durch möglichst weites Vor- und Zurückschwingen des gestreckten Oberkörpers zu erreichen, war, beziehungsweise ist zwar für diesen Bootstyp optimal. Aber sie führt bei Rollsitzbooten zu unnötigem Kraftverschleiß.176 Erst etwa 60 Jahre nach Einführung des Gleitsitzes fand diese technische Neuerung im Bewegungsablauf des »natürlichen Ruderns« ihre Entsprechung, die der in England lebende Australier Steve Fairbairn in den Wettkampf einführte. Die überlegenen Siege eines von Fairbairn trainierten Vierers in Deutschland entfachten dort 1933 eine vehement geführte Diskussion über die richtige Rudertechnik. Einander gegenüber standen Befürworter des traditionellen Ruderschlags mit geradem Rücken und einem Teilkreisschwung des Oberkörpers, dem sogenannten orthodoxen Stil, und Verfechter der neuen Methode Fairbairns, die Beinbewegung ins Zentrum des Schlags zu stellen. Gemäß Fairbairn ist es entscheidend,

174 | Reckendorf, Entwicklungsgeschichte, S. 59. 175 | Zum filigranen Bootskörper siehe Gusti, S. 18f.; zur Veränderung der Regattastrecken siehe beispielsweise: 150 Jahre Favorite Hammonia, S. 33f., sowie mit Plänen: 150 Jahre Allgemeiner Alster-Club, S. 54f. 176 | W. Schröder, Geschichte des Rudertrainings. In: K. Adam u.a., Rudertraining. Bad Homburg 1977, S. 19-30, S. 23f.

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Oberkörper und Arme so einzusetzen, dass die Beinkraft optimal auf die Skulls und Riemen übertragen wird.177 Wichtig für Ausprägung des orthodoxen Ruderstils war Woodgates bereits 1876 erschienenes, weit verbreitetes Ruderlehrbuch Rowing and Sculling, das anderen Autoren als Vorbild diente. Der Autor spricht sich zwar dafür aus, den Rücken beim Rudern nicht sklavisch gerade zu halten, empfiehlt jedoch, die Rückenkrümmung während des Schlags nicht zu verändern, weil dies seiner Einschätzung nach zu einem Energieverlust führt.178 Zum Rollsitz, den er in zwei Kapiteln am Ende des Buches abhandelt, äußert er sich in einer Ausgabe von 1905 nur verhalten positiv: Er stellt fest, dass selbst schlechte Mannschaften mit einem Rollsitz schneller rudern könnten als gut trainierte auf einer konventionellen Sitzbank, weist auf die Gefahr eines schlechten Stils hin und empfiehlt in diesem Fall für einige Zeit zum Festsitzrudern zurückzukehren, damit die Ruderer ihren Rücken wieder »vorschriftsmässig« einsetzten.179 Seine prägnante Beschreibung des Ruderns prägte so letztlich einen Stil, der der Entwicklung es technischen Equipment bereits nicht mehr entsprach. Ein wesentlicher Kritikpunkt der Gegner des natürlichen Ruderns war der gebogene Rücken: »Die Fairbairn-Propheten … stellen selbst schwere Haltungsfehler nicht als Fehler, sondern als erlösendes Heilmittel von einem falschen Ideal hin«, schreibt ein entrüsteter Ruderlehrer 1935 im Wassersport.180 Einen gewissen Abschluss fand die Stildiskussion in Deutschland 1935 mit einer arbeitsökonomischen Analyse des Ingenieurs und ehemaligen Rennruderers Joseph Fremersdorf, der sich schon seit den späten 1920er Jahren mit dem Fairbairn Stil auseinandergesetzt hatte und erläuterte, dass dieser Stil die eingesetzte Körperkraft in viel höherem Grad für den Schlag nutze als der orthodoxe, bei dem entscheidende Energie verloren gehe, weil sie zum Aufrechterhalten des Oberkörpers diene.181 Dennoch erschien die letzte Publikation, deren 177 | St. Fairbairn, Chats on Rowing. Cambridge 1934. Siehe auch Ders., Meine Trainingsmethode (Aus »Rowing Notes«), übersetzt von Bruno Fertig mit erläuternden Aufsätzen von Karl-Heinz Schulz und Josef Fremersdorf. = DRV-Bücherei, 2. Hannover um 1950. Der orthodoxe Stil aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wird beispielsweise beschrieben von Pfeiffer, S. 32. Die Jahrgänge 1933 – 1935 des Wassersport enthalten zahlreiche Beiträge über den Fairbairn Stil. Siehe z.B. H. W. Lumme, Für Fairbairn. In: Wassersport, 51 (1933), S. 778f., oder die Wogen glättend: G. Bartelmann, Betrachtungen eines deutschen Ruderlehrers. In: Wassersport, 53 (1935), S. 132f., S. 133. Bei Schroeder, Rudern, S. 27ff., wird 1940 der Fairbairn Stil beschrieben, ohne den Begriff zu nennen. Rückblickend siehe beispielsweise aus Vereinsperspektive: Festschrift des Berliner Ruder-Clubs, S. 46, S. 144. 178 | Woodgate, Rudern, S. 51ff. 179 | Woodgate, Rudern, S. 132ff., S. 148. 180 | Bartelmann, S. 133. 181 | J. Fremersdorf, Zum Problem der Arbeitsökonomie beim Rudern. Die Notwendigkeit einer grundlegenden Umstellung der Rudertechnik. In: Wassersport, 53 (1935), S. 389392. Sowie R. R.: Wer ist Joseph Fremersdorf? Die rudernde Jugend von heute kennt ihn

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Autor sich für die Beibehaltung des orthodoxen Stils ausspricht, nach Recherchen von Borchert noch 1954 und damit knapp zwanzig Jahre später.182 Hiermit korrespondiert, dass sich auch der Rollsitz nur langsam vom Rennrudern in das Training und in die Schülerausbildung hinein verbreitete. So begann die Umstellung der Boote des Norddeutschen Ruder Bunds 1952 und war erst 1959 abgeschlossen – gegen den »Widerstand der Alten«, wie es in einem Zeitungsartikel heißt.183 Das ungewöhnliche Phänomen, das aus der bisherigen Betrachtung herausfällt, mag folgende Gründe haben: 1. Das Rudern mit geradem Rücken war als Rudertechnik etabliert. Die Einführung des Gleitens erfolgte zunächst mit kurzen Gleitwegen, die erst im Laufe mehrerer Jahrzehnte auf die heute übliche Länge von 70 bis 80 cm verlängert wurden.184 Dieser langsame Prozess gab nur bedingt Veranlassung, über eine Änderung des allgemein anerkannten Bewegungsablaufs nachzudenken, weil die Qualität des völlig Neuen nicht ins Auge sprang. 2. Schon bei dessen Einführung wurde deutlich, dass Rudern mit Gleit- beziehungsweise Rollsitz viel schwieriger ist als ohne.185 Um das trainingsintensive Rudern leichter vermittelbar zu gestalten, bestand bis in die Nachkriegszeit hinein die Vorstellung, dass Anfänger die Bewegung in Einzelschritten erlernen sollen. Folglich begann die Ausbildung mit dem sogenannten Kastenrudern auf dem Trockenen, dann wurden über einen längeren Zeitraum nur Gigboote ohne Rollsitz gefahren. Boote für das Schülerrudern waren entsprechend im Optimalfall mit austauschbaren Fest- und Rollsitzen ausgestattet.186 Beim Übergang zum Rollsitz sollte nach Woodgate zunächst mit verkürzten Bahnen gerudert werden, die die Trainer im Zuge des Ruderunterrichts verlängern.187 Folglich addierten die Rudernden die Bewegung von Rollsitz und Beinen zur bekannten Arm- und Oberkörperbewegung des orthodoxen Stils. Die Schule Fairbairns, die sich nicht nur im Fall des natürlichen Ruderstils, sondern auch in der Ausbildung durchgesetzt hat, empfiehlt hingegen, Anfänger zunächst im Einer das Gleichgewicht und das Gefühl für das Bootsverkaum. In: Wassersport, 53 (1935), S. 389. Einen Überblick aus sporthistorischer Warte gibt W. Schröder, Geschichte, S. 27ff. 182 | Borchert, S. 86; auffinden ließ sich die genannte Publikation nur in einer Vorkriegsausgabe. 183 | Zitat: Frieden im Hamburger Rudersport. In: Hamburger Echo vom 9.12.1959; siehe auch: Ein Jubilar mit großen Plänen. Willy Petzold 25 Jahre an der Spitze des [Norddeutschen] Ruder Bunds. In: Hamburger Morgenpost vom 18.1.1958. Beide Zeitungsartikel sind archiviert in: HHStA, Sportamt 136-2/166, Presseberichte über Rudersport 1947-1960. 184 | W. Schröder, Geschichte, S. 24. 185 | Dodd, S. 76f. 186 | Gusti, S. 100. 187 | Woodgate, Rudern, S. 146.

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halten erproben zu lassen; dieses Verfahren führt leichter zu einer integrierten, natürlichen Ruderbewegung. Ein selbstverständlicher Umgang mit dem Rollsitz erforderte also eine geeignete Ausbildung, die von den traditionellen Bewegungsschemata abwich. 3. Ein gerader Rücken galt als ästhetisch ansprechend und war (zumindest) bis in die 1930er Jahre ein wichtiges Ziel der Kindererziehung.188 So hatte beispielsweise die Einführung des Renn(nieder)rades, auf dem die Rennfahrer in »katzenbuckeliger Lungensuchthaltung« saßen, den Kopf »wie eine Schildkröte« einzogen und den Rücken »katergleich« krümmten, Teil am Prestigeverlust des Radsports.189 Das Fahrrad war – einem Zeitungsartikel von 1896 zufolge – fortan ein »Verkehrsmittel für die unteren, auf die Eleganz der Haltung weniger Werth legenden Stände«.190 Entsprechend sollte das Rudern nicht nur der Fortbewegung dienen, sondern auch einen ästhetischen Bewegungsablauf bieten, zu dem der gerade Rücken als integraler Bestandteil gehörte: »Ein gerader Rücken hat etwas sehr Bestechendes und macht am meisten Eindruck auf den Beobachter«, schreibt Woodgate, der dessen Bedeutung für das Rudern allerdings relativiert.191 Die zeitgenössische Kritik am Rollsitz bezog sich insbesondere auf die Ästhetik des Ruderns: »Man gewinnt vielleicht an Schnelligkeit, aber vernachlässigt den Stil vollständig und das neue Rudern ist nicht mehr eine schöne Kunst, wie das alte«.192 Um einen optimalen Rollsitzeinsatz zu ermöglichen galt es also, sich aus diesem Verhaltenskorsett von langjährigen Trainings- bzw. Bewegungspraxen und Stilvorstellungen zu lösen. Entsprechend schreibt Erich Maak im Vorwort der deutschen Übersetzung von Fairbairns Rowing Notes im Auftrag des Deutschen Ruder-Verbands 1953: Fairbairn »hat die Fesseln gesprengt, die der Rudertechnik durch die Tradition eines Jahrhunderts angelegt waren«.193 Dass dies möglich war, hängt mit einem Wandel der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zusammen, an dem die Industrialisierung Anteil hatte: Zum einen sind hier Rationalisierungsansätze und Bewegungsanalysen von Arbeitsvorgängen im Zuge des 188 | Schon Mitte des 19. Jahrhunderts hatte beispielsweise der Direktor des orthopädischen Instituts der Universität Leipzig, Gottlieb Moritz Schreber, den ›Schreberschen Geradehalter‹ entwickelt, an dem Schulkinder zur Vermeidung von Haltungsmängeln festgegurtet wurden. Siehe zum Beispiel C.-P. Gross, … verliebt … verlobt … verheiratet … unter Adlers Fittichen 1871 – 1918. Berlin 1986, S. 218. 189 | Zitiert nach Eisenberg, English Sports, S. 237. 190 | Ueber das Radfahren. In: Hallesche Vereins-Zeitung, Beilage zu Nr. 5 vom 1.2.1896, S. 3. Zitiert nach: Ebenda. 191 | Woodgate, Rudern, S. 51. 192 | Zitiert nach Woodgate, Rudern, S. 131. 193 | E. Maak (DRV Pressestelle), Vorwort zur 4. Auflage von St. Fairbairn, Meine Trainingsmethode (aus »Rowing Notes«). … = DRV-Bücherei, 2. Hannover 1953, S. 2.

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Taylorismus zu nennen, die auch für den ökonomischen Einsatz von Körperkraft und Technik im Sport von Bedeutung waren, beziehungsweise auf ihn übertragen wurden, wie Hans-Joachim Braun am Beispiel des Fußballs zeigt.194 Zum anderen sind ingenieurwissenschaftliche und medizinische Untersuchungen des Rudervorgangs und der körperlichen Leistung beim Rudern zu nennen, die schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert durchgeführt wurden; im Zuge von deren Disziplingenese kamen im Laufe des 20. Jahrhunderts Arbeiten der Sportwissenschaften hinzu.195 Unter anderem erschienen Publikationen zum Rudern in der Reihe der Preußischen Versuchsanstalt für Wasserbau.196 Der Verwissenschaftlichungsprozess und insbesondere medizinische Untersuchungen zur menschlichen Leistungsfähigkeit beim Rudern verschoben vermutlich den Betrachtungswinkel: Die ästhetisch-formale Betrachtung wurde hier durch eine medizinisch-arbeitsökonomische ersetzt, die einer Ablösung des orthodoxen Stils Vorschub leistete. Zudem gewann ein kraftsparender, natürlicher Bewegungsablauf nach dem Ersten Weltkrieg in zahlreichen anderen Sportarten wie dem Radfahren, Schwimmen oder Skifahren gegenüber starren Stilformen die Oberhand.197 Schließlich dürfte auch die Veränderung ästhetischer Vorstellungen hin zur Akzeptanz einer technikorientierten formalen Gestaltung, wie sie beispielsweise das Bauhaus entwickelte, Einfluss ausgeübt haben; parallel zur Ratio194 | Braun, Soccer, S. 225ff. 195 | Georg Kolb veröffentlichte in den »Beiträge[n] zur Physiologie maximaler Muskelarbeit, besonders des modernen Sports« bereits Ende des 19. Jahrhunderts Untersuchungsergebnisse über das Rudern; siehe Gusti, S. 6. Eine frühe Beschreibung der sportmedizinischen Untersuchung von Ruderern gibt auch F. A. Schmidt, Unser Körper. Handbuch der Anatomie, Physiologie und Hygiene der Leibesübungen (1899). 5. Aufl., Leipzig 1920. Siehe hierzu E. Loosch, C. Böger, Bewegungslehre. In: G. Bäumler, J. Court, W. Hollmann (Hg.), Sportmedizin und Sportwissenschaft. Historisch-systematische Facetten. = Schriften der Deutschen Sporthochschule Köln, Sonderband 48. St. Augustin 2002, S. 217-286, S. 226. Als Arbeiten aus der jüngeren Vergangenheit sei verwiesen auf: F. Angst, Biomechanik des Ruderns. Die Bedeutung der Kraftkurve in Hinblick auf leistungsbestimmende Parameter. Dipl.-Arbeit, Sportwiss., ETH Zürich 1976. Die Arbeit wurde vom DRV nachgedruckt. Sowie: U. Fehr, Elektromyostimulation im Sport. Zur Optimierung des sportartspezifischen Krafttrainings am Beispiel Rudern. Aachen 2011. 196 | Siehe beispielsweise H. M. Weitbrecht, Über Formgebung von Rennbooten für Ruder und Paddel. = Preußische Versuchsanstalt für Wasserbau, 29. Berlin 1937. 197 | Fremersdorf, Arbeitsökonomie, S. 389. Exemplarisch verwiesen sei auf K. Wießner, Natürlicher Schwimmunterricht. Ein neuer Weg zum Schwimmen. Wien 1925. Rückblickend schreibt der Sportlehrer und Direktor des Instituts für Leibesübungen der Universität Kiel, Karl Feige, in den 1950er Jahren, das Rudern habe sich im Vergleich zu anderen Sportarten erst relativ spät gewandelt. Siehe K. Feige, Natürliches Rudern. Lehrbuch des Ruderunterrichts für Anfänger und Fortgeschrittene sowie für Schüler und Jugendliche nach ganzheitlicher und entwicklungsgemäßer Methode. Frankfurt a.M. 1952, S. 4.

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nalisierungsbewegung wurde die traditionelle Ornamentik des Historismus und Jugendstils durch klare, nach Aussagen der Protagonisten funktionsorientierte Formen abgelöst. Tayloristische Konzepte der Rationalisierung, sportmedizinische Untersuchungen und der Umschwung von äthetischen Vorstellungen schufen ein Feld der gedanklichen Freiheit zur Optimierung der Techniknutzung im Sport, die sich auch auf das Rudern auswirkte – in der Praxis setzt sich das natürliche Rudern schließlich durch, weil Fairbairn damit unglaubliche Rennerfolge erzielte.198 Training und Ausbildung wurden der Methode angepasst. Deutlich wird am Beispiel des Natürlichen Ruderns, was für einen Einfluss gesellschaftliche und kulturelle Faktoren auch auf die Techniknutzung zu Spielzwecken haben: Obwohl die Technik des Rollsitzes schon längere Zeit genutzt wurde, bedurfte es entsprechender Einflüsse zur Optimierung der Techniknutzung. Die schleichende Einführung von Rollsitzen und einer adäquaten Bewegungstechnik blieb jedoch eine Ausnahme. Frühzeitig hatte sich das Verfahren etabliert, für wichtige Regatten wie die Henley-Regatta neue Boote anzuschaffen. Bei Trainern und Rudernden setzte sich vermutlich schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Erkenntnis durch, dass technische Neuerungen für das Rudern und den Sieg bei Regatten bedeutsam sind. Entsprechend breiter Raum wurde Neuerungen in der Bootskonstruktion wie beweglichen Dollen, hohlen Riemen oder Rollsitzsystemen auch im Wassersport eingeräumt. Ein Autor berichtet 1883 über Brüche von Auslegern und Dollen aufgrund von Materialschwäche. Er beklagt dabei, dass die Technik für den Bootsbau offensichtlich noch nicht so weit entwickelt sei wie für andere Sportgeräte, wo die »heutige Metalltechnik … so raffinirte Wunderwerke zu schaffen verstanden hat«. Er nennt filigrane Trabrennwagen, Schlittschuhe oder Fahrräder als Beispiele und fährt fort: »Unzweifelhaft kann da noch viel zur Verbesserung gethan werden und sind wir sicher, dass mit einer grösseren Vervollkommnung des Metallwerks im Ruderboot auch der Drehdollen allgemein eingeführt werden wird«.199 Trotz Kritik deutet sich hier ein positives Grundverständnis für Technik an, das typisch für die Jahrzehnte um 1900 ist: Technik wird als Problemlösungsmittel gesehen, das bald ermöglicht, einen bestehenden Mangel zu beheben.200 Allerdings ist eine solche übergreifende Sicht auf die Technikentwicklung in den Selbstzeugnissen von Ruderern, Trainern und Bootsbauern, in denen die Diskussion über einzelne technische Lösungen dominiert, selten nachweisbar. Insgesamt scheinen die Akteure eher die individuellen Konstruktionen der einzelnen Bootsbauer im Blick gehabt zu haben. 198 | Siehe z.B. K.-H. Schulz, Was bedeutet uns Fairbairn? Psychologie und Technik in der Lehre Fairbairns. In: Fairbairn, Trainingsmethode, S. 3-6, S. 3. 199 | Das Ruderboot. In: Wassersport, 1 (1883), S. 91 (Herv. im Original). 200 | Siehe beispielsweise St. Poser, Museum der Gefahren. Die gesellschaftliche Bedeutung der Sicherheitstechnik. Hygiene-Ausstellungen und Museen für Arbeitsschutz in Wien, Berlin und Dresden um die Jahrhundertwende. = Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt, 3. Münster u.a. 1998, S. 223.

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Entsprechend vergleicht sie ein Autor 1914 mit Geigenbauern.201 Ein Ruderlehrer schreibt 1940: »Moderne Sportruderboote sind hoch entwickelte Erzeugnisse der Bootsbaukunst«, und betont damit den besonderen Charakter der Ausführung.202 Obwohl mit dem Übergang von Holz- zu Kunststoff booten auch ein Übergang vom individuellen Bootsbau zur seriellen Produktion erfolgte, scheint diese Entwicklung sich erst langsam auf die Einschätzung der Boote und des Bootsbaus auszuwirken. Entsprechend bleiben auch in der jüngeren Literatur technikbezogene Perspektiven wie die des ehemaligen Ruderers und Sporthistorikers Dodd, der Dollen eines historischen Boots 1992 als Resultat eines »fine engineering« beschreibt,203 eine Ausnahme. Die Erkenntnis, in welchem Maße Ruderboote und das Rudern selbst technikabhängig sind, scheint sich nur sehr langsam durchgesetzt zu haben.

6. Rudern und Industrialisierung – die Perspektiven der Akteure Das sportlich-vergnügliche Rudern kam auf, als die ruderbetriebene Transportschifferei an Bedeutung verlor. Die Kutschen wurden in Verbindung mit besseren Straßen und Brückenbauten zunehmend zur Konkurrenz, später die Dampfschiffe. Dabei ging das sportliche Rudern nach Einschätzung von Christiane Eisenberg nach Einführung der Dampfschifffahrt zunächst zurück, nahm jedoch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder zu.204 Wie in den letzten Kapiteln gezeigt wurde, führte das sportive Rudern zu einer enormen technischen Entwicklung eines ehemaligen Verkehrsmittels, das für wirtschaftliche Zwecke des Personenund Gütertransports bald keinerlei Bedeutung mehr hatte. Für dieses Beispiel der Weiterentwicklung einer überholten Antriebstechnik zu Sportzwecken ließe sich bezüglich der Industrialisierung einerseits argumentieren, dass das sportliche Rudern eine Art Abfallprodukt, eine Sekundärnutzung einer Technologie ist, die bedeutungslos wurde. Andererseits bestehen jedoch enge Bezüge zur Industrialisierung bezüglich des gleichförmigen Bewegungsablaufs beim Rudern. Zahlreiche Sportarten sind durch einen solchen Bewegungsablauf gekennzeichnet, der den Sporttreibenden zwar Glücksgefühle im Sinne eines flow-Erlebnisses verschafft, dem aber auch etwas Maschinenähnliches anhaftet. Beim Mannschaftsrudern wird dies besonders augenfällig, denn Rudern ist zudem ein technikgebundener, maschinell anmutender Bewegungsablauf, dem sich die ein-

201 | Fendrich, S. 46f. 202 | Schroeder, Rudern, S. 13 (Herv. Poser). 203 | Dood, S. 62f.; der Autor bezieht sich auf das Skiff »Nancy« von 1874 im National Maritime Museum in Greenwich. 204 | Eisenberg, English Sports, S. 40.

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zelnen Rudernden anpassen müssen; für individuelles Handeln gibt es keinen Freiraum.205 Werden hier Maschine und Technik gleichsam nachgespielt? Ein englischer Autor der 1880er Jahre beschreibt das Rudern folgendermaßen: Eine wohltrainierte, harmonisch rudernde Mannschaft »is the most beautiful living machine that can be devised, the balanceed power of bodies swinging together and blades gripping the water as every muscle helps drive the firm stroke through, an aesthetic satisfaction of perfect unison of strong bodies and flashing blades.«206 In ähnlicher Weise berichtet der Wassersport 1884 von einem Brüderpaar, über das man sich Wunder erzähle: »sie rudern mit der Exaktheit einer Maschine, nehmen es, was Ausdauer und Fertigkeit betrifft, mit Jedem auf«.207 Gaza schreibt um 1908: Der Ruderer »muß mit der Sicherheit einer Maschine seine Arbeit verrichten können«.208 Beim Ruderlehrer R. Pfeiffer heißt es um 1910: »Der Skuller muß peinlich genau wie eine Maschine im Boote arbeiten und in seinem papierdünnen Fahrzeug an die äußerste Präzision gewöhnt sein«.209 Gerade bei den letzten drei Zitaten wird deutlich, dass der Maschine eine Vorbildfunktion für menschliches Handeln zugesprochen wird. 1922 beschreibt der Olympiasieger von 1912, Hermann Wilker, sportliches Rudern und verbindet dabei die Maschinenmetapher mit dem Ausdruck ›spielend‹ im Sinne von Leichtigkeit: »Gleichmäßig wie eine Maschine arbeiten die acht Leute zusammen und spielend treiben sie das Boot mit großer Schnelligkeit über das Wasser«.210 Die Passage kann als Übergang gewertet werden: Während sich zahlreiche Autoren in der Hochindustrialisierung der Maschinenmetapher bedienen, um den Vorgang des Ruderns zu erklären oder ihrer Anerkennung für einzelne Ruderer Ausdruck zu verleihen, scheint diese Begriffsverwendung seit den 1920er Jahren seltener. Dezidiert setzt sich der Ruderlehrer Julius Melsbach in seiner (in mehreren Auflagen erschienenen) Übungslehre für Schulen von der positiven Sichtweise des Maschinenvergleichs ab: »Dauernd angestrengt gleichmäßige Arbeit zu leisten, ist der Körper nicht imstande, er ist keine Maschine«.211 Damit nimmt er eine Position ein, die den Übergang zum natürlichen Rudern unterstützt haben dürfte, bezieht sich aber ebenso auf die Maschinenmetapher 205 | Allerdings kann die Gruppendynamik der Mannschaft Einfluss auf das Rudern haben und wurde entsprechend zum Forschungsgegenstand; siehe H. Lenk, Leistungsmotivation und Mannschaftsdynamik. = Beiträge zur Lehre und Forschung der Leibeserziehung, 37. Schondorf 1970. 206 | R.C. Lehmann, Are our Oarsmen Degenerate? In: New Review, 7 (1882), zitiert nach Wigglesworth, S. 6. 207 | Nachrichten – Wien. In: Wassersport, 2 (1884), S. 287. 208 | Gaza, S. 28. 209 | Pfeiffer, S. 20. 210 | Wilker, Das Rudern, S. 12. 211 | J. Melsbach, Rudern. Einführung in die Übungslehre und Lehrweise des Ruderns in Schule und Verein. 2. Aufl., Leipzig 1932, S. 43.

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wie seine älteren Kollegen. Ähnlich Melsbach weist Ernst Goldbeck 1929 auf »eng gesteckte Grenzen« des »Mensch[en] als Motor seiner selbst« hin.212 Ontologisch ordnet er das Rudern als Beispiel von »Mischformen« ein, »in denen der Mensch sein eigener Motor bleibt, aber sich doch der Maschine bedient, entweder um den Energieverbrauch herabzusetzen oder besonders um die Geschwindigkeit zu erhöhen«.213 Seine Vergleichsebene bilden allerdings sowohl Zugtiere als auch motorische Antriebstechnologien; er bezieht sich also nicht ausschließlich auf Technik im Sinne von Artefakten oder Sachsystemen. Anders als vor dem Ersten Weltkrieg steht bei den beiden letztgenannten Autoren nicht mehr die Maschine, sondern der Mensch mit seinen Leistungs- und Handlungsmöglichkeiten im Mittelpunkt. Dennoch sollten Maschinen und Technik auch im weiteren Verlauf ein Bezugspunkt bleiben. Im Zuge der Diskussion um negative Folgen des Leistungssports und die Bedeutung von sportlichen Erfolgen für die Gesellschaft kritisierten die bundesdeutschen JUSOS 1971, dass Spitzensportler » als leistungsfähige Muskelmaschinen … zu maschinellen Medaillenproduzenten [werden]«.214 Während die klassische Maschinenmetapher hier für den Leistungssport im Allgemeinen mit negativem Vorzeichen verwendet wurde, analysierten die bundesdeutschen Ruderlehrer Karl Adam und Walter Schröder sowie ihre Trainerkollegen aus der DDR das Rudern unter Gesichtspunkten der Kybernetik.215 Damit bezogen sie sich auf die modernste zeitgenössische Theorie der Regelungstechnik, die sie – mit unterschiedlichen Akzenten – für nutzbringend hielten. Zwar ging die Bedeutung der Kybernetik als Modewissenschaft und universell anwendbares Theoriegebäude in den Naturwissenschaften bereits wieder zurück; sie blieb jedoch nach wie vor zumindest in außerwissenschaftlichen Bereichen ein Ausweis von Modernität.216 Im Ruderlehrbuch eines DDR-Autorenkollektivs unter Leitung von Ernst Herberger heißt es 1977: »Das spezifisch Menschliche [beim Erlernen des Ruderns] ist – in deutlicher Unterscheidung zu den Möglichkeiten eines elektronisch gesteuerten maschinellen Systems, daß durch Bewußtsein und Willen die Bewegung auf ein Ziel gerichtet, daß Entschlüsse und Entscheidungen getroffen werden. … Mit fortschreitender Vervollkommnung kann das Rudern zu einem guten Teil im Sinne der Kybernetik in Form eines gesteuerten und selbstregulierenden 212 | Goldbeck, S. 28. 213 | Ebenda. 214 | Bremer Beschlüsse von 1971, zitiert nach Krockow, Sport, S. 11. 215 | Die ersten Ansätze scheinen hier auf Adam zurückzugehen, der 1962 Grundbegriffe der Kybernetik in die Trainingslehre einführte: K. Adam, Die Entstehung der modernen Trainingsformen. In: Rudersport, 80 (1962), Lehrerbeilage 2. Zu Vorüberlegungen und zum kybernetischen Ansatz siehe auch Mohnke, S. 52ff. 216 | Ph. Aumann, Mode und Methode. Die Kybernetik in der Bundesrepublik Deutschland. = Deutsches Museum. Abhandlungen und Berichte – Neue Folge, 24. Göttingen 2009, S. 383ff.

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Systems verlaufen.«217 Walter Schröder hingegen wendet die Kybernetik auch auf das Anfängertraining an, indem er die biokybernetische Theorie des Zusammenspiels von Muskeln und Nerven als ein selbstregelndes System aus mehreren hierarchisch angeordneten Regelkreisen auf das Rudern überträgt. Demnach bilden Boot und Rudernde gegebenenfalls unter Einbeziehung eines Trainers mehrere miteinander verbundene Regelkreise. Gerade für die Anfängerausbildung sei ein Einer hervorragend geeignet, weil das Boot dem Rudernden bei allen Fehlern eine sofortige Rückmeldung gebe, die auf dem Umweg über den Trainer nicht so rasch und präzise vermittelt werden könne.218 Karl Adam entwickelt unter Bezug auf Norbert Wieners Modell der black box und der white box eine Theorie der Intuition von Trainern. Demnach müssen für das Training verschiedene Eingangs- und Ausgangsvariablen definiert und miteinander in ein widerspruchsfreies Verhältnis gebracht werden. Adams Hinweis, dass man bei diesem Verfahren möglichst einfach zu bestimmende Messwerte zugrunde legen solle, machen die Grenzen des Modells deutlich.219 Zur Erläuterung des kybernetischen Ansatzes bezeichnet ein weiterer Autor der 1970er Jahre nicht mehr die Ruderer – wie seine Kollegen der Zeit um 1900 – sondern das Boot als Maschine: bei dieser Herangehensweise werde das »Skiff als Lehrmaschine« genutzt.220 Dennoch: Während der Maschinenvergleich im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert für das Rudern metaphorisch und damit auf einer sehr allgemeinen Ebene genutzt wurde, und zudem die Ruderer wie Trainer Neuerungen im Bootsbau eher im Kontext individueller Fertigkeiten denn im Kontext der technischen Entwicklung sahen, wandten einige professionelle Trainer in den 1970er Jahren mit der Kybernetik eine Techniktheorie auf einzelne Bereiche von Rudern und Training an; die Deutung des Ruderns als technischer Vorgang erfolgte nun tiefergehend als zuvor. In den folgenden Jahren vollzog sich eine immer weitergehende technikwissenschaftliche Durchdringung des Rudervorgangs, sowie eine zunehmende sportmedizinische und medizintechnische Durchleuchtung der Ruderer. Beides unterstreicht, dass das Rudern nach wie vor von Wissenschaft und Hightech-Einsatz geprägt ist.

7. Rudern – Ergebnisse Beginnend im 17. Jahrhundert entwickelte sich das Rudern, das ursprünglich als Tätigkeit von Sklaven und Gefangenen im Mittelmeerraum bekannt war, in England zu einem Sportspiel. Eine technische Optimierung des Bootsmaterials und 217 | Autorenkollektiv, Rudern (1977), S. 76. 218 | W. Schröder, Moderne Ruderanfängerausbildung – Voraussetzung für ein modernes Rudertraining. In: Adam, Rudertraining, S. 31-70, S. 32ff. 219 | K. Adam, Entwurf einer Theorie des Rudertrainings. In: Adam, Rudertraining, S. 71162, S. 73ff. 220 | Beschreibung des Trainingskonzepts Walter Schröders von Mohnke, S. 133.

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des Umgangs mit den neuen technischen Möglichkeiten von Sportbooten setzte ein. Im Zuge dessen wurde eine veraltende Antriebstechnologie zu Sport- und Spielzwecken so intensiv weiterentwickelt, dass sich von Hightech-Entwicklungen sprechen lässt und Sportruderboote zu den schnellsten muskelbetriebenen Wasserfahrzeuge avancierten. Nicht umsonst bezeichnet Kurt Möser die Boote als »Muskelkraftkonverter«, um ihren technischen Charakter zu unterstreichen.221 Neue technische Konstruktionen waren für eine immer optimalere Muskelraftnutzung ebenso vonnöten, wie neue Materialien. Ausgehend von individuellen handwerklichen Bootsbautechniken entwickelte sich ein internationaler Austausch von Konstruktionsverfahren, der durch zahlreiche Patente abgesichert wurde. Die Optimierung der Boote zur Geschwindigkeitssteigerung brachte sehr filigrane Leichtbaukonstruktionen, die die mit dem Rudern verbundenen Spiele ebenso beeinflussten wie die Versportlichung des Sports im ausgehenden 19. Jahrhundert: Sportboote eigneten sich zunehmend besser für geschwindigkeitsbezogene Wettkämpfe agones sowie flow- und Rauscherlebnisse. Entsprechend gewann die Spielform ludus mit selbst gesetzten Leistungsanforderungen an Einfluss. ›Rudern‹ konnte und kann dabei zu flow und ilinx führen, weil es im Kontext Sport eine freiwillige Handlung ist, die die Rudernden positiv stimmt. Dies ändert sich durch Technik zwar nicht grundlegend, doch die Bedingungen für flow und ilinx werden durch den mittels Technik optimierten kraftintensiven, gleichförmigen Bewegungsablauf verbessert, während traditionelle Formen von Mannschafts- oder Gruppenspielen in Ruderbooten wie das sogenannte Fischerstechen oder die Entenjagd, die Elemente von ludus und paidia enthalten, weitgehend verdrängt wurden. In Kompensation der steigenden Leistungsanforderungen erlangten tendenziell subversive Spiele wie Spritzen oder Wackeln, die paidia zuzuordnen sind, größere Bedeutung. Beide, ludus und paidia, basieren beim Rudern auf technischen Mitteln, die seit Beginn der Industrialisierung optimiert wurden und eine positive Gestimmtheit förderten. Rudern erscheint aufgrund seines gleichmäßigen, maschinenähnlichen Bewegungsablaufs als ein Sport, der die Industrialisierung charakterisiert wie kaum ein anderer. Entsprechend wurde die Maschinenmetapher zu Beschreibungen des Ruderns in zeittypisch unterschiedlicher Konnotation genutzt. Auch der Abhängigkeit ihrer Leistungen von der technischen Entwicklung scheinen sich Rudernde seit dem 19. Jahrhundert bewusst zu sein. Aber die technische Weiterentwicklung wurde kaum als Prozess thematisiert, sondern meist einzelnen Bootsbauern und Trainern zugeschrieben. Damit stehen zwei Zuschreibungen des Ruderns nebeneinander: die Betonung der individuellen sportlichen und konstruktionstechnischen Leistung von Rudernden und Bootsbauern sowie die Betrachtung des Ruderboots als symbolische Maschine.

221 | Möser, Fahren und Fliegen, S. 46.

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IV. F allbeispiel : S chwimmen und S chwimmbäder Technisierte Spiele sind auf geeignete technische Sachsysteme angewiesen – im Fall des Ruderns besteht dieses Sachsystem zunächst aus dem Boot, das das Rudern ermöglicht und in spezifischer Weise formt; ferner lassen sich auch Bootshäuser und Werkstätten von Bootsbauern einbeziehen. Als ein Beispiel für Wechselwirkungen zwischen technischen Sachsystemen und spielerisch-sportlichen Tätigkeiten wird im Folgenden das Baden und Schwimmen in entsprechenden Anlagen untersucht.222 Bäder werden so als Orte des Spiels betrachtet; in technischer Hinsicht sind sie aufwendige, mehrschichtige Systeme, die eine technikbasierte spielerisch-sportliche Betätigung ermöglichen. Dies weist eine beachtliche Tradition auf: Schon Römische Thermen waren mit ihrem Angebot verschieden warmer Räume und Wasserbecken sowie den dazu notwendigen Hypokaustenheizungen und Systemen der Wasserzu- und Ableitung in beträchtlichem Maße technisiert.223 Ähnlich aufwendige Konstruktionen zum Baden und Schwimmen entstanden erst im 19. und 20. Jahrhundert wieder, als Bäder mit einer zunehmend komplexer werdenden technikbasierten Infrastruktur ausgestattet wurden und das Bild der modernen Stadt mitprägten. Auf diesen Zeitabschnitt ist die folgende Darstellung fokussiert. Während das Kapitel zur Geschichte des Ruderns nach einzelnen Konstruktionsarten von Ruderbooten gegliedert ist, weil die Hauptfunktion der Boote für Rennzwecke gleich blieb, und Veränderungen des sportiven Ruderns mit der Weiterentwicklung der Bootskonstruktion verbunden waren beziehungsweise sind, erweist sich für das folgende Kapitel eine etwas andere Vorgehensweise als sinnvoll: Hier erfolgt eine Strukturierung nach Schwimmbadtypen und ihren spezifischen Schwimmmöglichkeiten. Sie kann auch als chronologische Einteilung gelesen werden, denn die Hauptfunktion der Bäder wandelte sich seit Beginn der Industrialisierung mehrfach. Damit verbunden war sowohl eine Veränderung von Equipment und Technik als auch ein Wandel des Schwimmens beziehungsweise des Spiels im und mit dem Wasser.

222 | Analog der Entwicklung von Definitionen des Sports wird im Schwimmsport etwa seit den 1970er Jahren auf eine Unterscheidung des Badens und Schwimmens Wert gelegt, während sich bis in die 1960er Jahre die Einordnung des Sportschwimmens als Spiel hielt; siehe beispielsweise Pflesser, S. 12f. 223 | Zu Thermenanlagen sowie deren Beheizung und Wasserversorgung siehe beispielsweise E. Brödner, Die Römischen Thermen und das antike Badewesen. Eine kulturhistorische Betrachtung. Darmstadt 1983.

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1. Das Spiel im Wasser und sein technisches ›Gehäuse‹ Folgt man dem Architektur- und Kulturhistoriker Thomas van Leeuwen, so oszilliert Schwimmen zwischen Angst und Vergnügen: er verortet Schwimmen als »game, played by man, Eros and Thanatos«.224 Die Hauptmotive zum Aufenthalt im Wasser wandelten sich allerdings seit dem 18. Jahrhundert beträchtlich. Zunächst waren es Ärzte, die den seit den Pestzügen verbreiteten common sense der Gefährlichkeit des Wassers durchbrachen und Heilbäder verordneten, gelegentlich sogar selbst einrichteten und damit einen ›Wiedereinstig‹ ins Wasser ermöglichten. Dieser erfolgte üblicherweise in Wannenbädern. Mit der Aufklärung begann sich die Auffassung zu verbreiten, dass Schwimmunterricht ein sinnvoller Bestandteil der Erziehung sei. Auch wenn die Zahl von Nichtschwimmern nur sehr langsam abnahm, diente der Aufenthalt im Wasser oder auch der Schwimmbadbesuch – neben der Heil- und Reinigungsfunktion – nun der spielerischen Freizeitgestaltung und sportlichen Betätigung. Dabei ergaben sich im Laufe der Zeit wandelnde Interessenschwerpunkte, denen jeweils spezifische Bädertypen entsprachen. Mit diesen Anlagen wurden also verschiedene Bereiche des technikbasierten Vergnügens bedient: während im 19. Jahrhundert die Ziele Körperreinigung und Freizeitgestaltung dominierten, gewannen der Schwimmsport und der Bau von Sportbädern in den 1920er Jahren an Bedeutung. Bäder dieses Typs dominierten bei Neubauten bis in die 1970er Jahre, als sie zunehmend von sogenannten Freizeitbädern abgelöst wurden. Letztere eignen sich in der Regel nicht zum sportlichen Schwimmen, bieten dafür aber zahlreiche technikbasierte Vergnügen wie Wasserrutschen oder Wellenbäder. Der Badebetrieb in diesen Anlagen nähert sich – wie zu zeigen sein wird – in gewissem Maße an die Spiel- und Vergnügungsmöglichkeiten auf dem Jahrmarkt an. Ein bereits 1538 in Ingolstadt erschienenes Buch Columbetes, sive de arte natandi, dialogus des Hochschullehrers Nicolaus Weinmann gibt eine Anleitung zum (Brust-)Schwimmen im freien Wasser. Damit wirft es die Frage auf, ob Baden und Schwimmen nach den großen Pestzügen und vor dem (Wieder-)Aufschwung des Badewesens zu Beginn des 18. Jahrhunderts in nennenswertem Maße praktiziert wurde.225 Im 18. Jahrhundert dominierte zunächst das Baden als medizinische Therapie. Die Anfänge des Schwimmens als Teil einer Leibeserziehung zum ganzheitlich gebildeten Menschen in der Aufklärung zielte auf Jugendliche; frühe Impulse gab bereits John Locke, der 1693 die Forderung erhob, dass Knaben zur Förderung ihrer körperlichen Entwicklung schwimmen lernen sollten. 224 | Leeuwen, S. 3. 225 | N. Weinmann (Nicolaus Wynmannus), Columbetes, sive de arte natandi, dialogus. Ingolstadt 1538. Das Buch wurde 1889 wieder aufgelegt und mit dem Titelzusatz: »Das erste Schwimmbuch der Welt« versehen. Siehe dazu Thomas, Swimming, S. 67. Thomas gibt 1904 einen umfassenden Überblick über die Entwicklung des Schwimmens sowie über englische, französische und deutsche Literatur zum Thema.

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In den deutschsprachigen Ländern waren es insbesondere die Philanthropen, die das Schwimmen einführten. Christoph Friedrich GutsMuths veröffentliche 1798 sein Kleines Lehrbuch der Schwimmkunst für den Selbstunterricht; seine Lehrmethode sollte mehr als ein Jahrhundert den Schwimmunterricht prägen.226 Größere Verbreitung erlangte das Schwimmen mit der Einführung von Militärschwimmschulen, weil es nun Bestandteil der militärischen Ausbildung wurde.227 In England begann sich ein organisierter Schwimmsport zu entwickeln und Schwimmvereine entstanden; 1837 wurde die National Swimming Society gegründet.228 Auch beim Bau von Bädern wurde England zum Vorbild für den Kontinent: 1846 erließ die englische Königin den Act to Encourage the Establishment of Public Baths and Wash-Houses, in dem bereits die Förderung der Anlage von Bade-Becken vorgesehen war; das Hauptanliegen war zwar zunächst eine Verbesserung der sanitären Verhältnisse, aber in den folgenden Jahrzehnten entstanden auch zahlreiche große Bäder mit Schwimmbecken.229 Der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege setzte sich seit 1879 für das Schwimmen und den Bau geeigneter Anlagen ein; er formulierte das Vereinsmotto »Duschen ist gut, Baden ist besser, das Beste ist das Schwimmen«.230 Seit den 1880er Jahren kam es zu einer erheblichen Bautätigkeit, sodass sich von einem ersten Boom des Bäderbaus sprechen lässt.231 Ein Ausgangspunkt der Verbreitung des Schwimmens wurde das Rudern: in England war vereinsmäßiges Rudern nur Schwimmern gestattet, in Deutschland wurden beide Sportarten durch Wilhelm II. gefördert.232 Um 1900 begann die Einführung des Schwimmens als Teil des schulischen Turnunterrichts in Deutschland; in England bestanden 1913 schon 226 | Chr. F. GutsMuths, Kleines Lehrbuch der Schwimmkunst für den Selbstunterricht. Gotha 1798. Aus historischer Perspektive siehe Eder/Treude, S. 135ff. Sowie: G. Pirhofer, R. Reichert, M. Wurzacher, Bäder für die Öffentlichkeit – Hallen- und Freibäder als urbaner Raum. In: Lachmayer/Mattl-Wurm/Gargerle, S. 151-177, S. 152. 227 | Siehe beispielsweise Leeuwen, S. 27ff. Sowie M. Frey, Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760 – 1860. = Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 119. Göttingen 1997, S. 241ff. 228 | Huggins, S. 54. 229 | Act to Encourage the Establishment of Public Baths and Wash-Houses, 26 th August 1846; siehe dazu I. Gordon, S. Inglis, Great Lengths. The historic indoor swimming pools of Britain. Swindon 2009, S. 31ff. Zur Rolle Englands siehe Dillon, S. 86ff. 230 | Zitiert nach: C. M. Peuser, M. Peuser, Charlottenburg in königlicher und kaiserlicher Zeit, die reichste Stadt Preußens, 1. São Paulo 2004, S. 83. 231 | Eine Aufzählung und Kurzbeschreibung einzelner Bäder gibt Vetter, Das Bad der Neuzeit, S. 55ff. In den 1880er Jahren wurden so viele Bäder gebaut wie in den drei Jahrzehnten zuvor. 232 | Siehe C. Prausnitz, Die neuere Entwicklung des öffentlichen Badewesens in England. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 6-3. Berlin 1913, S. 329-344, S. 330, sowie Eisenberg, English Sports, S. 210, S. 236.

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zahlreiche Schulbäder. Sportschwimmen war bereits bei der ersten neuzeitlichen Olympiade 1896 eine olympische Disziplin, neben dem Brust- und Rückenschwimmen wurde das Kraulen um 1900 wiederentdeckt und 1906 durch den Australier Cecil Healy zum ersten Mal in Deutschland vorgeführt.233 Als Breitensport und Freizeitbetätigung gewann das Schwimmen in den 1920er Jahren an Popularität; in diese Zeit fällt analog zum Natürlichen Rudern die Entwicklung des Natürlichen Schwimmens, das eine Abkehr von der seit GutsMuths praktizieren Lehrmethode des Trockenschwimmens mit sich brachte.234 Die veränderte Lehrmethode ließ das Schwimmen deutlich attraktiver werden. Spätestens in den 1970er Jahren war Schwimmen gemäß einer damals begonnenen Langzeitstudie des Allensbacher Instituts für Demoskopie in Deutschland sogar die beliebteste Freizeitsportart – mit beträchtlichem Abstand gefolgt von Turnen und Gymnastik (bei Frauen) und Jogging (bei Männern).235 Entscheidend für das Schwimmen war die Schaffung eines geeigneten Raumes mit entsprechenden Wassertemperaturen; hierfür entstanden aufwendige Gebäude und apparatetechnische Systeme. Die wichtigsten Akteure bei der Schwimmbadplanung waren kommunale Ämter sowie Gesellschaften, die sich für den Bäderbau einsetzten wie der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege und die 1899 gegründete Deutsche Gesellschaft für Volksbäder, die von Medizinern, Technikern und Beamten getragen wurden. In der Bundesrepublik sind die hier beheimatete Internationale Akademie für Bäder- Sport- und Freizeitbau, das Deutsche Institut für Bäder- Sport- und Freizeitbauten, der Verein Deutscher Badefachmänner und die seit 2010 mit ihm vereinigte Deutsche Gesellschaft für das Badewesen zu nennen. Auf der Nutzerseite waren lange Zeit nur Sport- und Schwimmvereine organisiert; ihre Gründung geht – wie im Fall des Ruderns – meist auf das 19. Jahrhundert zurück. Sie erlangten in den 1920er und verstärkt in den 1950er Jahren Einfluss auf die Bäderplanung, als die Bedeutung der öffentlichen Bäder für Hygiene und Körperreinigung in Anbetracht entsprechend ausgestatteter Privathaushalte zurückging und der Freizeitsport als Erholung und Ausgleich zur Arbeit verstärkt in das Blickfeld der Fachöffentlichkeit geriet.

233 | Die typische Kraulbewegung ist bereits auf assyrischen Reliefs zu sehen. Vergleichbar der Geschichte des Natürlichen Ruderns gab es auch gegen die Einführung des Kraulens in Deutschland und Österreich Widerstand, der mit ästhetischen Vorstellungen begründet wurde. Eder/Treude, S. 142f. 234 | Hier ist insbesondere zu verweisen auf Wießner, Natürlicher Schwimmunterricht (1925). 235 | Im Rahmen dieser Untersuchung gaben 1990 (unter Mehrfachnennung) 68% aller Befragten Schwimmen als ihren Lieblingssport an, 47% der Frauen Turnen und Gymnastik und 31% der Männer das Jogging. Zur Auswahl stand eine Liste von 15 Sportarten. Siehe: Schwimmen weiterhin beliebtester Freizeitsport. In: Archiv des Badewesens, 44 (1991), S. 458.

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Anders als im Falle des Ruderns kann das Schwimmen an sich zwar als Kulturtechnik gesehen werden, ist als solches jedoch nicht direkt mit Technik im Sinne von Artefakten und Sachsystemen verbunden. Technik kommt in zeittypisch unterschiedlicher Ausprägung zum einen als Sicherungstechnik für Nichtschwimmer, als Unterstützung zum Erlernen und Trainieren des Schwimmens sowie als ergänzende Ausstattung insbesondere im Profisport zum Einsatz. Zum anderen basiert das Sachsystem Schwimmbad auf Technik, die zudem zu dessen Betrieb und für zusätzliche Spielangebote im Wasser notwendig ist. Waren Bäder seit dem 18. Jahrhundert üblicherweise Holzbauten in Flüssen, deren Anordnung das Umziehen und Baden in separaten, geschützten Bereichen ermöglichte, so kamen seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Anlage von Hallen- und später auch Freibädern außerhalb von natürlichen Gewässern zusätzliche Funktionen hinzu, die unter Technikeinsatz bereitgestellt werden mussten: das Heizen, Filtrieren und Desinfizieren des Wassers, das Heizen der Halle, die Wellenerzeugung für Wellenbäder sowie Pumpen für Gegenstrom- und Massageanlagen. So entstand zur Körperreinigung und für spielerisch-sportliche Aktivitäten ein technisches Sachsystem, dessen Genese und Bedeutung für das technisierte Spiel im Folgenden untersucht werden soll. Das konstituierende Element von Schwimmbädern ist Wasser. Zum Spielen ist es derartig attraktiv, dass sich das nasse Spiel mit Technik durch alle drei Kernbereiche des Themenfeldes zieht: Spielzeug zur Wassernutzung und als Ergänzung zum Schwimmen beziehungsweise Planschen ist außerordentlich zahlreich. Darunter findet sich auch Technisches Spielzeug. Es reicht von Booten verschiedener Qualität und Größe über Tiere wie Kunststofffische mit Federantrieb oder Roboterquallen bis zu diversen Gegenständen zum Spritzen. Aber nicht nur das: auch ganze Schwimmbäder werden als Spielzeugmodelle für Miniaturwelten angeboten. So hat der Hersteller des Systemspielzeugs Playmobil kleine Schwimmbäder im Programm, und weitere waren als Modellbahnzubehör erhältlich.236 Auch auf dem Jahrmarkt wird Wasser genutzt – sei es zur Steigerung der Spannung in Form von Fontainen, die unter einem Fahrgeschäft aufsteigen, als konstitutives Element bei Wasserrutschen oder als Verkehrsfläche für Wasserkarussells oder Wasserskooter. Die Zahl von technikbasierten Wassersportarten ist ebenfalls beachtlich; Schwimmbäder bieten nicht nur Raum für einige von ihnen, sondern auch für die Nutzung Technischen Spielzeugs.

236 | ›Playmobil‹ bot ein kleines, rundes Bad und ein Freibad an; nun hat die Firma ein Erlebnisbad im Programm (Nr. 3205, 4858, 5433). Der Modellbahnzubehör-Hersteller ›Gebrüder Faller‹ offerierte seit den 1970er Jahren verschiedene Bausätze mit Schwimmbädern. Darunter finden sich Häuser mit Pool und größere, öffentliche Schwimmbäder, wie beispielsweise die Bausätze B-256 oder B-572.

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a. Heilbäder und luxuriöse Reinigungsbäder im 18. Jahrhundert Zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstanden erste Fluss- und Seebäder wie in Wien (1717) oder Brighton (1736), die medizinischen Prophylaxe- und Therapiezwecken dienten.237 England und Frankreich waren Vorbilder für die Wiedereinführung von Bädern in den deutschsprachigen Ländern. Beispielsweise warb Georg Christoph Lichtenberg nach seinen Englandreisen im Taschen Calender für 1793 für die Einrichtung von Seebädern an der deutschen Nord- und Ostseeküste.238 Bereits 1761 wurde in Paris ein frühes, opulent ausgestattetes Badeschiff für warme und kalte Wannenbäder auf der Seine verankert. In den nächsten Jahrzehnten etablierten sich in zahlreichen europäischen Großstädten luxuriöse Wannen- und Dampf bäder, die ihr Badeangebot mit Speisen und Getränken ergänzten.239 Ab 1811 gab es militärisch genutzte Badeanstalten an der Spree in Berlin, 1813 wurde in Wien eine k. u. k. Militärschwimmschule eröffnet, die auch Zivilisten offen stand, 1817 folgte der Bau der ersten preußischen Militär-Schwimmanstalt.240 Schon bei Bädern im 18. Jahrhundert waren technische Lösungen zur Abwicklung des Badebetriebs gefragt: zur baulich-architektonischen Abtrennung der einzelnen Baderäume und deren separater Zugänglichkeit sowie zur Anordnung von größeren Becken im Raumgefüge, zur Erwärmung des Badewassers oder zur Konstruktion von Badewagen. Diese Mitte des 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts in Seebädern gebräuchlichen Wagen ermöglichten den Besuchern, sich – abgeschirmt von anderen – umzukleiden und Meerbäder zu nehmen; Badefreunde stiegen an Land in einen solchen Wagen und ließen sich hinreichend weit ins Wasser ziehen.241 Alle diese technischen Konstruktionen dienten nicht nur dazu, das Baden gesellschaftlichen Moralvorstellungen entsprechend zu gestalten, sondern auch, das Bade- beziehungsweise Wassererlebnis durch eine zumindest scheinbare Domestizierung des Wassers zu ermöglichen.

237 | Zur Frühgeschichte der Wiener Bäder siehe: Tröpferlbad – Schwimmbad – Wellnessoase. Badebetrieb in Wien im Wandel der Zeit. = Veröffentlichungen des Wiener Stadtund Landesarchivs, Reihe B, Ausstellungskataloge, 75. Wien 2007, S. 6f. Eine Fallstudie im Kontext Vergnügen bietet U. Rosseaux, Freiräume. Unterhaltung, Vergnügen und Erholung in Dresden (1694-1830).= Struktur und Norm, 27. Köln 2006, S. 211ff. 238 | Siehe U. Quecke, Von Badekarren und Schaluppen. – Zur Geschichte des Seebadens an Nord- und Ostsee. In: S. Grötz, U. Quecke (Hg.), Balnea. Architekturgeschichte des Bades. Marburg 2006, S. 123-137, S. 123. 239 | S. Grötz, K. J. Philipp, Badehäuser. Ein Thema der Architektur um 1800. In: Grötz/ Quecke, S. 99-121, S. 109f. 240 | [C.] Wolff, Öffentliche Bade- und Schwimmanstalten. Leipzig 1908, S. 40. Pirhofer, S. 153. 241 | Quecke, S. 123ff.

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b. Der Einzug des Schwimmens in die Badeanstalten des langen 19. Jahrhunderts Mit den sogenannten ›gedeckten Schwimmschulen‹ entstand in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine neue Architekturaufgabe, das Hallenbad. Diese mit Glas- und Eisenkonstruktionen überspannten Bäder zählen gemeinsam mit Bahnhöfen, Ausstellungshallen und Kaufhäusern in die Reihe neuer städtischer Zweckbauten des 19. Jahrhunderts.242 Die erste kontinentaleuropäische Winterschwimmschule wurde 1842 als Teil des Wiener Dianabades eröffnet. Das 1802 erbaute Haus bot bereits luxuriös ausgestattete Wannen- und Salonbäder, die um einen Arkadenhof herum gruppiert waren. Der Arkadenhof und ein Foyer mit ausliegenden Journalen waren als Treffpunkt und Kommunikationsort vorgesehen, während sich das Baden selbst individuell und abgeschirmt vollzog. Dies änderte sich mit der Inbetriebnahme der Schwimmschule, deren Bassin nun – nach Geschlechtern getrennt – ebenfalls Raum für Kommunikation und für gemeinsame spielerisch-sportliche Betätigung bot. Die Schwimmhalle wurde zunächst ganzjährig genutzt, wegen der hohen Betriebskosten jedoch bald in der Wintersaison zum Ballsaal umfunktioniert.243 Seit der Jahrhundertmitte stattete man in den deutschsprachigen Ländern große Badeanstalten mit Badetrakten und einem Schwimmbassin aus. Diese blieben zwar zunächst Einzelexemplare, und noch um 1900 war der weit überwiegende Teil der Bäder in Deutschland noch nicht mit einem Schwimmbecken versehen,244 aber im Falle großer Anlagen lässt sich an der Größe des Bassins in Relation zu den Badetrakten (Wannenbäder, Brausen, Dampfbäder) die wachsende Bedeutung des Beckenaufenthalts ablesen. Grundrisse machen dabei deutlich, dass Schwimmbassins bautechnisch erst in die Badeanstalten integriert werden mussten: Beispielsweise war das Becken des 1881 erbauten Altonaer Bades getrennt von den 242 | Pirhofer, S. 157. Siehe auch D. Meyhöfer, Das Volksbad. Anmerkungen zu einem Bautypus aus der zweiten deutschen Kaiserzeit. In: Leistner, Badetempel, S. 11-23, S. 17. 243 | Wolff, Öffentliche Bade- und Schwimmanstalten, S. 42. Pirhofer, S. 154, S. 156ff. Das Dianabad wurde mehrfach umgebaut und ersetzt; auf dem Grundstück befindet sich heute ein modernes Bad. 244 | Nach Wolff, Öffentliche Bade- und Schwimmanstalten, S. 46, gab es 1905 2848 Warmbadeanstalten, 232 hatten ein Schwimmbad. Wolff weist insbesondere auf die Verbreitung von Brausebädern für Arbeiterbezirke hin und nennt den Mediziner Oskar Lassar in diesem Zusammenhang. Vetter, Das Bad der Neuzeit, S. 105, gibt eine tabellarische Aufstellung der im Land Württemberg abgegebenen Schwimm-, Wannen- und Dampfbäder zwischen 1878 und 1899. Insgesamt ist eine erhebliche Zunahme aller Badeformen zu verzeichnen. Schwimmbäder wurden allerdings erst seit 1893 erfasst; von 1893 – 1899 stieg die Zahl der abgegebenen Dampfbäder um ca. 30%, die der Wannenbäder um etwa 45% und die Zahl der jährlichen Schwimmbadbesuche um etwa 60%. Weitere Angaben zu einer Gemeinde (Stuttgart-Berg) und zu einem Bad in Stuttgart entsprechen allerdings nicht dem landesweiten Ergebnis.

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anderen Badetrakten in einem eigenen Gebäudebereich untergebracht.245 Die Bedeutung des Schwimmens wuchs bis zum Ersten Weltkrieg: Um 1910 verkauften beispielsweise die fünf Hamburger Volksbäder fast doppelt so viele Eintrittskarten für ihre Schwimmbäder wie für Wannen- und Brausebäder zusammen.246 Mit dem Stadtwachstum einerseits und der wachsenden Bedeutung des Staates anderseits wurde der Bäderbau im Deutschen Kaiserreich zunehmend zu einer kommunalen Aufgabe, während Bäder im 19. Jahrhundert meist in Privatbesitz waren. Mit den opulent ausgestatteten neuen kommunalen Bädern entstand den alten, kleinen Privatbädern eine Konkurrenz, der sie kaum gewachsen waren, zumal der Bau- beziehungsweise Umbau und der Unterhalt solcher Anlagen erhebliche finanzielle Mittel erforderte.247 Hier kam es zu einem Verdrängungsprozess, der sich etwa 80 Jahre später im Zuge der Verbreitung von Freizeitbädern mit umgekehrten Vorzeichen wiederholen sollte. 1912 veröffentlichte der Fabrikbesitzer, Ingenieur und Redakteur der Zeitschrift Die Badeanstalt, Julius Rößler, Vorschläge zur Modernisierung von Bädern. Er zielte dabei auf höhere hygienische Standards, ein ökonomischeres technisches Equipment und eine Erweiterung des Badeangebots von Privatbädern.248 Die zeitgenössische Gegenwart sieht er als »Zeitalter des Badewesens«: »Stadtverwaltungen bauen große Volksbadeanstalten, kaufmännische Unternehmungen rufen mit bedeutenden Geldopfern luxuriös eingerichtete Prachtbadeanstalten ins Leben, Freibäder über Freibäder entstehen, Familienbäder wachsen wie die Pilze aus dem Boden, …«249

Eines der größten Häuser dieser Periode war die 1903 bis 1905 erbaute städtische Badeanstalt Goseriede in Hannover; sie sei, so der Verfasser eines 1909 erschiene245 | Hess, S. 83, S. 245, Abb. 34. 246 | Es wurden 1.4 Mio. Eintrittskarten für Schwimmbäder, 615.000 für Wannen- und 264.000 für Brausebäder ausgegeben. W. Grunow, Die Wirtschaftlichkeit kommunaler Badeanstalten. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 6-3. Berlin 1913, S. 386-389, S. 387. 247 | In welchem Maße der Unterhalt der Bäder auch die Kommunen belastete, wurde wohl erstmals nach dem Ersten Weltkrieg und während der Inflationszeit deutlich, als zahlreiche Bäder über Jahre hinaus geschlossen blieben, weil weder der Unterhalt, noch der Besuch finanzierbar waren. Siehe E. Holzmann, Die Entwicklung des öffentlichen Badewesens in den Kriegs- und Nachkriegsjahren. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 7-4. Berlin 1925-26, S. 324-331, S. 326ff. 248 | J. Rößler, Wie modernisiere ich meine Badeanstalt? Eutin [1912]. Vetter argumentiert 1904, dass häufig geäußerte Bedenken wegen der Schädigung privater Anbieter infolge der wachsenden Verbreitung des Badens (und Schwimmens) unberechtigt seien; siehe Vetter, Das Bad der Neuzeit, S. 104. 249 | Beide Zitate: Rößler, Einleitung, unpaginiert [S. 1]. Ähnlich – allerdings mit nationalistischem Einschlag – siehe auch Vetter, Das Bad der Neuzeit, S. 106.

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nen Kompendiums über Bäder und Badeanstalten, der Hochschullehrer Wilhelm Schleyer, »ein Werk, … das mit den bedeutendsten Bädern der Neuzeit den Vergleich nicht zu scheuen braucht, vielmehr in bezug auf Größe und Zweckmäßigkeit, und ganz besonders auch in Betreff der räumlichen Disposition und der künstlerischen Ausgestaltung neben wenigen mit an erster Stelle genannt werden muß«.250 Das Bad verfügte über drei Schwimmbecken (Männerbad, Frauenbad, Volksbad) sowie Schwitzbäder und Wannenbäder. Eine große Vorhalle ergänzte das Ensemble. Opulent ausgestattete, große Bäder mit zahlreichen Abteilungen wurden zu Aushängeschildern von Städten. So prägten Gebäude, die Spiel und Erholung dienten, gemeinsam mit Bauten für Handel und Verkehr das Bild der modernen Stadt im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg kam eine Entwicklung auf, die die 1920er Jahre prägen sollte: frischer Luft und Sonne wurde eine zunehmende Bedeutung für die Gesundheit zugemessen. Entsprechend entstanden die ersten Licht-, Luft- und Sonnenbäder; für die Lüftung von Schwimmhallen wurde das Baden im Freien als Maßstab genannt.251 Von dieser Entwicklung profitierten große Freibäder wie das Freibad Wannsee in Berlin, das bis heute das größte Bad der Stadt ist.252

c. Schwimmbadbau und Gesundheitsbewegung in der Zwischenkriegszeit In den 1920er Jahren rückte der Sport als sinnvolle, zur Rekreation und Gesundheitsvorsorge geeignete Freizeitbeschäftigung zunehmend ins Blickfeld der Öffentlichkeit. So räumte beispielsweise das Internationale Arbeitsamt in Genf 1924 in seinen Empfehlungen zur Freizeitfrage von Arbeitern sportlicher Betätigung prominenten Raum ein: Ziel sei es, »die körperliche Kraft und Gesundheit des Arbeiters durch Ausübung von Sport zu fördern, der den unter die äußerste Arbeitsteilung moderner Industrie fallenden Arbeitern Gelegenheit zur freien Entfaltung

250 | W. Schleyer, Bäder und Badeanstalten. Leipzig 1909, S. 489. Eine kurze Übersicht gibt der Architekt der Anlage, Carl Wolff; siehe [C.]Wolff, Öffentliche Bade- und Schwimmanstalten. Leipzig 1908, S. 108ff. Siehe auch Ders.: Die städtische Badeanstalt an der Goseriede in Hannover. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 3. Berlin 1906, S. 503-528. 251 | Siehe beispielsweise Werdelmann, Die Lüftung und Heizung von Hallenbädern. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 4. Berlin 1908, S. 53-59, S. 55; sowie: Empfiehlt es sich, das Dach bei den Schwimmhallen von Volksbädern zum Oeffnen einzurichten? [Diskussionsbeitrag von Dr. Czaplwski, Direktor des Bakteriologischen Laboratoriums der Stadt Köln] In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 4. Berlin 1908, S. 535f. Außerdem: Du Mont, Ueber die Verbindung von Licht-, Luft- und Sonnenbädern mit unseren Schwimmhallenbädern. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 5. Berlin 1911, S. 315f. 252 | Siehe beispielsweise Bräuer/Lehne, S. 111ff.

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seiner Kräfte gibt und sie mit neuer Spannkraft und neuem Wetteifer erfüllt«.253 So verwundert es nicht, dass sich der Vertreter des Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen, Brossmer, auf einer Tagung der Gesellschaft für Volksbäder für den gemeinsamen Bau von Sportplätzen (bei ihm als Spielplätze bezeichnet) und Schwimmbädern einsetzte.254 In seiner einflussreichen Schrift Natürlicher Schwimmunterricht empfahl der Schwimmlehrer Kurt Wiesner bereits 1925 die Anlage von Sportbecken sowohl für Schulbäder als auch für Hallen- und Freibäder.255 Auf der Düsseldorfer Ausstellung über Gesundheitspflege, Sozialfürsorge und Leibesübungen, GESOLEI von 1926, die Sport beziehungsweise Leibesübungen als einen Ausstellungsschwerpunkt aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtete, wurden Musterschwimm- und Sonnenbäder gezeigt, die man zum Teil für Sportveranstaltungen nutzte. Zu den ausgestellten Anlagen gehörte auch ein Wellenbad, das Planscharium.256 Der Reichsverband Deutscher Bäder und Kurorte war mit einem eigenen Pavillon vertreten; seine Präsentation stellte die Bäder ebenso in den Kontext freizeitorientierter Gesundheitsvorsorge wie der (Haupt-)Ausstellungsbereich zu Sportstätten und Bädereinrichtungen.257 Ein richtungweisendes Hallenbad wurde ebenfalls 1926 fertiggestellt, das Amalienbad in Wien. Es entstand im Rahmen eines umfangreichen BäderbauProgramms der Gemeinde, zählt zu den wichtigsten Bauwerken des Roten Wiens und sollte insbesondere Arbeitern den Besuch eines Bades ermöglichen.258 Konzeptionell nahm es mit einem sportgerechten Becken die Sportbewegung der 1920er Jahre auf und bot zudem Plätze zum Licht- und Sonnenbaden sowie für elektrische ›Lichtbäder‹.259 Richtungsweisend war auch die technische Ausstat253 | Vorschlag betreffend die Benützung der Freizeit der Arbeiter. Sechste Jahrestagung 1924. In: Internationales Arbeitsamt: Von der Internationalen Arbeitskonferenz auf den ersten sechs Jahrestagungen (1919-1924) angenommene Entwürfe von Übereinkommen und Vorschläge. Genf 1924. – Abgedruckt in J. Krüger, Zur Frage der Freizeittätigkeit des männlichen Industriearbeiters. Eine Einleitung in begrifflicher, problematischer und methodologischer Hinsicht. Diss. jur., maschinenschriftlich, Hamburg 1935, Anhang, S. IV. 254 | Brossmer, [Ansprache auf der Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder]. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 7-4. Berlin 1925-26, S. 257f., S. 257. 255 | Wießner, S. 51ff. 256 | Einen Überblick über den Sport auf der GESOLEI gibt A. Stercken, Die GESOLEI als Schaubild des Körpers, Sektionen, Überblick. In: H. Körner, A. Stercken (Hg.), Kunst, Sport und Körper. 1926 – 2002. GESOLEI, [3 Bde., 1]. Ostfildern-Ruit 2002, S. 99-123, S. 115ff. 257 | J. Wiener, Städte- und Institutionenpavillons. In: Stercken, GESOLEI, 3, S. 47f. 258 | Eine Neuerung des Bauprogramms war auch die Anlage von Kinderfreibädern. Pirhofer, S. 173f. Zum Amalienbad siehe auch: Tröpferlbad, S. 17f. 259 | Ein Lichtbad ähnelt in der Anordnung heutigen Kabinen zur Infrarotbestrahlung; die Idee war, Sonnenlicht durch Glüh- oder Bogenlampen zu ersetzen. Zum elektrischen Licht-

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tung mit einer Filtrations- und Chlorierungsanlage, die das häufige Wechseln des Beckenwassers ersparte. Ende der 1920er Jahre sind Ansätze zu verzeichnen, die Bäder verstärkt auch für spielerische, nicht sportorientierte Badebesuche attraktiv zu machen. Entsprechend wurden häufig Wellenmaschinen vorgesehen, und in den Grundsätzen zur Bäderplanung von 1932 wird das paidia-orientierte Ziel formuliert, Wasserflächen für fröhliche, gesunde Menschen zu schaffen, »die baden, schwimmen, springen, tauchen und sich tummeln können«.260 Ein Beispiel für die damalige Freizeitorientierung ist die 1928 entstandene Studie Thermenpalast. Kur-, Erholungs-, Sport-, Schwimm- und Badeanlage des Ingenieurs J. Goldmerstein und des Ingenieur Architekten Karl Stodieck zur Planung sehr großer Bäder. Der Grundgedanke der Autoren war, Einwohnern von Großstädten ganzjährig ein Surrogat für Naturgenuss und Sommerferien zu bieten: »In dem großen luftigen und lichtvollen Raum hat der Besucher das Empfinden, draußen in freier Luft zu sein. Die Peripherie der Halle wird künstlerisch mit allen Hilfsmitteln der modernen Bühnentechnik plastisch und bildlich so ausgestattet, daß die Besucher vermeinen, sich in einem unbegrenzten Raum mit weitem Rundblick zu befinden«. 261

Die Konzeption der Anlage entsprach folglich einem riesigen Panorama. Das Bad sollte über ein kreisförmig angelegtes Becken, beheizte Sandstrände, zahlreiche Räume für sportliche und kulturelle Aktivitäten sowie ein Restaurant verfügen. Konzeptionell nahm diese im renommierten Bauwesen-Verlag Ernst & Sohn erschienene Studie Elemente von Freizeitbädern vorweg. In der NS-Zeit wurde die Orientierung auf Sport-Schwimmbäder aus der Weimarer Zeit beibehalten. Ein Propaganda-Ausschuss zur Förderung des Schwimmsports sollte Gemeinden Hilfestellung beim Bau von Schwimmbädern geben und arbeitete eine Übersicht über verschiedene Schwimmbadtypen aus, die 1938 erschien.262 Grundüberlegung dafür war, dass der geringe Bäderbestand bad, das schon um 1900 als Therapie bekannt war, siehe Vetter, Das Bad der Neuzeit, S. 194ff. 260 | Siehe den Bericht des Stadtbaudirektors Fischer, Chemnitz, im Jahresbericht für das Badewesen 1932. Zitiert nach J. Behrendt, Freizeitspaß-Bad. Planen – Bauen – Betreiben. = Edition Sport und Freizeit, 9. Aachen 1999, S. 30. 261 | J. Goldmerstein, K. Stodieck, Thermenpalast. Kur-, Erholungs-, Sport-, Schwimmund Badeanlage. Berlin 1928, S. 7. Zum Projekt siehe aus historischer Perspektive G. Gröning, J. Wolschke, Thermenpalast – eine bemerkenswerte Freizeitbad-Konzeption der Weimarer Zeit. In: Archiv des Badewesens, 39 (1986), S. 428-433; die Autoren brachten ihren Fachkollegen das Projekt in Anbetracht der Diskussion über Freizeitbäder in Erinnerung. Siehe außerdem Dillon, S. 241f. 262 | H. Hermann, Das Sport-Schwimmbad. Sportgerechte Schwimmbäder in Stadt und Land. Berlin 1938.

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– insbesondere in kleineren Städten und auf dem Lande – sich negativ auf die Schwimmfähigkeit der Bevölkerung auswirke und dies Rückwirkungen auf die ›Volksgesundheit‹ und ›Wehrfähigkeit‹ zeitige.

d. Sportbäder als Charakteristikum der Nachkriegszeit Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in deutschen Kommunen zunächst mit medizinischen Argumenten für den Wiederauf bau von Badeanstalten geworben. Bis in die frühen 1950er Jahre führte man Bäder zum Teil noch als Wannen- und Schwimmbäder aus, um die kriegsbedingt schlechten Wohnverhältnisse mit mangelnden privaten Möglichkeiten der Körperhygiene durch entsprechende kommunale Angebote auszugleichen.263 Bald wurde beim Bau von Badeanstalten jedoch wieder an die 1920er und 1930er Jahre angeknüpft und der Bau von Sportbädern fortgeführt. Dabei empfahl ein Badefachmann wegen der geringen Schwimmfähigkeit der Besucher zunächst große Nichtschwimmerbecken.264 Zwischen den späten 1950er und den 1980er Jahren entstanden vor dem Hintergrund einer prosperierenden Wirtschaft zahlreiche kommunale Bäder. Etwa 80% aller in der Bundesrepublik gebauten kommunalen Hallen- und Kombibäder entstanden in diesem Zeitraum.265 Grundlage hierfür wurde der erstmals 1962 veröffentlichte Goldene Plan der Deutschen Olympischen Gesellschaft, der Empfehlungen zur Versorgungsdichte mit Schwimmbädern gab; wurden 1962 nur 0,005 qm Hallenbad-Wasserfläche pro Einwohner in Ballungsräumen als Richtwert genannt, so waren es 1976 bereits 0,01 qm.266 Es kam zu einem regelrechten Bauboom: während es 1960 in der Bundesrepublik knapp 250 Hallenbäder gab, waren es zehn Jahre später 850 und 1980 bereits 1500.267 In der Hochphase des 263 | H. Beling, Medizinische Bäder und Sauna in einer Groß-Badeanstalt. In: Sanitäre Technik, 6 (1951), S. 176-179, S. 176. Fünf Jahre später wird diese Aufgabe in Anbetracht der nun vorhandenen Neubauten mit Badezimmern als nicht mehr so vordringlich bezeichnet. Siehe W. Drobek, Bau und Betrieb von Frei- und Hallenbädern. Sonderdruck aus Sanitäre Technik, Heft 9-11 (1956), S. 1-19, S. 4f., archiviert im HHStA, Kapsel Badewesen 1 und 2. Ein originelles Sportbad war der Leeds International Pool von John Poulson 1967; siehe die Bilddokumentation: R.I.P The Leeds International pool …The Poulson project, https:// www.flickr.com/photos/phill_dvsn/sets/72157604030812905/ (2.1.2015). 264 | Drobek, Bau und Betrieb von Frei- und Hallenbädern, S. 7. 265 | Zahlen von 1991; dies dürfte sich bis heute nicht prinzipiell verändert haben, weil die meisten Bäderneubauten in den folgenden Jahrzehnten im Auftrag von Unternehmen erfolgten. Siehe: Situation der kommunalen Bäder von 1974 – 1991, ausgewertet durch Bernhard Wyns. Essen 1993, S. 37. 266 | Deutsche Olympische Gesellschaft: Der Goldene Plan in den Gemeinden. Frankfurt a.M. 1962, zitiert nach J. Schmidt: Schwimmen in Bädern und Badelandschaften. In: Bauwelt, 70 (2/1979), S. 63-73, S. 73. 267 | Siehe dazu: E. Blank, Zur Situation der öffentlichen Schwimmbäder. [Hauptreferat des Deutschen Städtetags]. In: Archiv des Badewesens, 35 (1982), S. 28ff. Sowie Hess, S. 90.

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Schwimmbadbaus in den frühen 1970er Jahren investierten die westdeutschen Kommunen insgesamt jährlich 200 bis 300 Mio. DM.268 Im Zuge einer Besichtigungsreise des Hamburger Sportamtes zu modernen bundesdeutschen Schwimmbädern entspann sich Ende der 1950er Jahre eine Diskussion um den vertretbaren Bauaufwand bei städtischen Bädern. Anlass hierfür war die Besichtigung des neuen Hauptbades in Essen, das als Kombibad zur Verbindung von Hallen- und Freibadbereich mit einer versenkbaren Glaswand ausgestattet war. Eine solche Anlage entsprach dem zeitgenössischen Postulat beim Bau von Hallenbädern, »eine Verbindung zur Natur zu suchen und herzustellen«, weil die Kombination von Natur und Wasser optimale Erholungsmöglichkeiten biete, wie der Geschäftsführer der Hamburger Wasserwerke, Drobek, 1956 schrieb.269 Ein öffentliches Bad solle »gewissermaßen eine Oase im Stadtgebiet sein. Sie soll den Besucher die Hetze des Alltags vergessen lassen und ihm nach Möglichkeit auch durch ein Luft- und Sonnenbad Erholung bieten«.270 Zurück geht die Idee eines Kombibades auf das ›Gartenhallenbad‹ aus den 1920er Jahren, das Schwimmenden ermöglichen sollte, vom »starren Gehäuse« des Gebäudes in das Grün der Umgebung zu gelangen.271 Der Essener »Prachtbau« gebe »zum Denken Anlaß«, heißt es in einem Schreiben des zuständigen Amtsmannes Sietas im Sportamt an den Ingenieur und Verleger Bodo Cousin (Verlag Wasser und Baden). Sietas fährt fort: »Ich bin der Meinung, daß wir mehr auf die Zweckmäßigkeit solcher Einrichtungen achten sollten, anstatt übertriebene und kostspielige Einrichtungen wie Vorhallen, Gaststätten und Zuschauertraversen zu bauen. Dem Badegast ist mit solchen exaltierten Bauten meines Erachtens nicht gedient. Entscheidend ist doch, daß Schwimmhallen … in ausreichendem Maß geschaffen werden, in denen der Besucher Freude und Erholung finden kann.« 272

Das Resultat waren Bauten, die ebenso monofunktional auf das sportliche Schwimmen als Freizeitbeschäftigung zugeschnitten wurden wie öffentliche Brausebäder im ausgehenden 19. Jahrhundert auf die Körperreinigung. Ein von 1963 bis 1966 errichtetes städtisches Hallenbad in Berlin-Zehlendorf bietet ein Beispiel: Die Anlage entstand in der Boomphase des Bäderbaus, war

268 | Stellungnahme des Präsidenten [der Deutschen Gesellschaft für Badewesen] zur allgemeinen Situation des Sport-, Bäder- und Freizeitbaues in den kommenden Jahren. In: Archiv des Badewesens, 27 (1974), S. 236. 269 | Drobek, Bau und Betrieb von Frei- und Hallenbädern, S. 3f., archiviert im HHStA, Kapsel Badewesen 1 und 2. 270 | Ebenda. 271 | Wießner, S. 56. 272 | Brief Sietas an Cousin bezügl. Kombibad Essen vom 27.10.1959, HHStA, Sportamt, 136-2/324.

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geringfügig älter als die meisten bundesdeutschen Hallenbäder273 und entsprach bis auf eine zusätzliche Sauna dem Typ des monofunktionalen Sportbades. Im Vorfeld der Bauplanung wurden Besichtigungsreisen zu westdeutschen Bädern unternommen, um das Bad »nach dem neuesten Stand der modernen Bädertechnik« zu konzipieren.274 Das Ergebnis entsprach im Wesentlichen einem in den späten 1920er Jahren entwickelten Bautyp mit einer hellen, großen Hallenkonstruktion.275 Eine große Halle barg ein sportgeeignetes 25 m Schwimmerbecken und eine kleineres Nichtschwimmerbecken, in dem ein Planschbecken für Kleinkinder abgeteilt war. Neu war die Kombination des Bades mit verschiedenen gesundheits- und sportbezogenen städtischen Einrichtungen.276 Das Archiv des Badewesens widmete diesem vergleichsweise unscheinbaren Bad einen erstaunlich langen Aufsatz von sechs Seiten. »In der Art der Ausführung ist das Stadtbad … ein ausgesprochener Zweckbau, in dem keinen Wert auf übertriebenen Komfort gelegt wurde, sondern ausschließlich Einfachheit, Schlichtheit und Sachlichkeit sowie der Einsatz des geringmöglichsten Personals als Richtschnur … diente«, führen die beiden Autoren aus.277 Der Aufenthalt war auf 60 Minuten begrenzt, um einer möglichst großen Personenzahl einen Schwimmbadbesuch zu ermöglichen. Schon Ende der 1970er Jahre wurde deutlich, dass ein »Bad derart funktionaler Eindeutigkeit«, die in der Regel noch durch eine dem Hygienegedanken entspringende gestalterische »Sterilität unterstrichen wird, … in jeglicher Konkurrenzsituation mit anderen Freizeiteinrichtungen den kürzeren ziehen« wird.278 Das Zehlendorfer Hallenbad erscheint mit seiner Einrichtung und den wenigen Möglichkeiten, die es Besuchern bot, rückblickend ebenso typisch für Schwimmbäder der Nachkriegszeit wie sein weiteres Schicksal: es wurde nach dreißig Jahren abgerissen und durch ein deutlich kleineres Wellnessbad eines privaten Anbieters ersetzt, der das Schwimmen nun in den Rahmen eines breiten Wellness- und Freizeitangebots stellte.279 273 | Das Durchschnittsbaujahr von Hallenbädern in den alten Bundesländern lag Anfang der 1990er Jahre bei 1968. Siehe die Studie: Situation der kommunalen Bäder von 1974 – 1991, S. 37. 274 | W. Rothkegel, Geisler, Das neue Zentralbad in Berlin-Zehlendorf. In: Archiv des Badewesens, 19 (1966), S. 425-431, S. 426. 275 | Die Stadt Berlin hatte beispielsweise Ende der 1920er Jahre einen Wettbewerb zur Entwicklung eines neuen Typs von Volksbädern ausgeschrieben; siehe M. E. Lesser, Volksund Sportbäder. In: E. J. Margold (Hg.), Bauten der Volkserziehung und Volksgesundheit. Berlin-Charlottenburg 1930, S. 185ff., S. 185. 276 | Vergleiche Bräuer/Lehne, S. 189. 277 | Rothkegel/Geisler, S. 426. 278 | Schmidt, Schwimmen, S. 64. 279 | Schwimmbad in der Zehlendorfer Welle lädt ein. In: Berliner Morgenpost vom 24.10.2008, www.morgenpost.de/printarchiv/bezirke/article961730/Schwimmbad_in_ der_Zehlendorfer_Welle_laedt_ein.html (15.10.2012).

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In einem Diskussionspapier des Hamburger Sportamtes wird 1955 darauf hingewiesen, dass die Bedeutung des Schwimmens über reine Leibesübungen hinausgehe: »Besonders für die Großstadtmenschen, denen es an Erholungsmöglichkeiten in der Natur mangelt, sind sie [die Bäder] mehr als irgendein Ausgleich gegenüber körperlich-geistiger Arbeit und mehr als bloße Freizeitgestaltung«.280 Worin dieses ›Mehr‹ besteht wird allerdings nicht ausgeführt und im Folgenden lediglich mit der »Volksgesundheit« argumentiert; der Passus »bloße Freizeitgestaltung« mit der damit verbundenen tendenziellen Abwertung der Freizeit verdeutlicht, dass die zunehmende Freizeitorientierung der Gesellschaft noch bevorstand. Etwa ein Jahrzehnt später sollte sich die Wertschätzung von Sport und Freizeit verschieben: Die späten 1960er und frühen 1970er Jahren sind durch ein zunehmendes Interesse am Thema ›Freizeit‹ gekennzeichnet, das der nun folgenden Bäderentwicklung ein Stück weit den Boden bereitete.

e. Freizeitbäder seit den 1970er Jahren Bereits in den 1960er Jahren waren sogenannte Freizeitbäder in England aufgekommen. Im größten dieser frühen Bäder, dem 1967 eröffneten Billingham Forum, Teeside, wurde das Schwimmbad mit einer Eisbahn, einem Theater und einer Sporthalle kombiniert.281 In Deutschland standen verschiedene Ansätze zur Diskussion, um die Attraktivität der Bäder durch zusätzliche Angebote zu steigern. 1970 lagen die Ergebnisse einer internationalen Studie vor, in der erstmals die Bezeichnung »Freizeitbad« zur Nomenklatur von Bädern genutzt wurde.282 Ein Hinweis auf die Veränderung der Gewichtung von Sport und Freizeit war das Thema »Bäder als Mittelpunkt von Freizeitzentren« des Weltbäderkongresses 1970, auf dem Richard Neutra als Gastreferent sprach.283 Im selben Jahr stellte die britische Zeitschrift Baths Services des Institute of Baths Management ihren Titel

280 | Ein weiteres Argument für den Bau von Schwimmbädern war die mangelnde Wasserqualität der Alster, die infolge zerstörter Kläranlagen unter einer erheblichen Abwasserbelastung litt. Entwurf des Hamburger Sportamts zu einem Gespräch mit Senatoren über die Finanzierung von Bädern vom 8.6.1955. Archiviert unter: HHStA, Sportamt, 136-2/323. 281 | Gordon/Inglis, S. 233, S. 235. Beispiele von englischen Freizeitbädern siehe ebenda, S. 258f. 282 | D. Fabian, Freizeitbäder. Begriffsbestimmung, Raumplanung, Objektplanung. In: Sport-, Bäder- und Freizeit-Bauten, 17 (1977), S. 274 + S. 302, S. 274. 283 | Die Namensgebung ist etwas irritierend; es handelt sich um eine international ausgelegte Tagung bundesdeutscher Institutionen. Zum Programm siehe: Weltbäderkongreß Sindelfingen 1. bis 5. April 1970. In: Sport- und Bäderbauten, 10 (1970), S. 17ff. Kurzfassungen der Referate siehe unter: Bäder als Mittelpunkt von Freizeitzentren. Weltbäderkongreß DSV/IAB, Sindelfingen 1970. In: Sport- und Bäderbauten, 10 (1970), S. 153-162, S. 153f. Tatsächlich war allerdings nur ein kleiner Teil der Beiträge dem Rahmenthema gewidmet.

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auf Baths Services and Recreation Management um.284 Gleichzeitig eröffnete das erste Freizeitbad in Deutschland, das Alpamare in Bad Tölz.285 Es war für Ganztagesbesuche ausgelegt, bot ein Thermalbad, eine Sauna, ein Wellenbad und einen Freibadbereich, der über einen Schwimmkanal mit dem Innenraum verbunden war. Zusätzliche Attraktionen waren eine Luftsprudelanlage (Hot Whirl), Massagedüsen sowie Unterwassermusik und -beleuchtung; sie wurden in den 1980er Jahren von großen Rutschen ergänzt,286 die sich zu besonderen Attraktionen von Freizeitbädern entwickeln sollten. Nach wenigen Jahren sprossen, wie ein Badefachmann 1979 schreibt, die Freizeitbäder »wie Pilze aus dem Boden«.287 Damals waren 49 Anlagen in Betrieb und weitere 20 in Planung. Diese Bäder boten beziehungsweise bieten Schwimmen im Kontext weiterer Freizeit- und später auch Wellnessaktivitäten wie Saunabesuchen, Restaurants oder Massageangeboten. Das sportliche Schwimmen wurde zugunsten von spielerischen (zum Teil auch gesundheitsorientierten) Handlungen wie Rutschen, Wellenbaden und Unterwassermassagen zurückgedrängt; Musik und wechselnde Beleuchtung ergänzten das Angebot, während die Beckengröße häufig auf Maße schrumpfte, die für sportliches Schwimmen nicht mehr geeignet waren, und die Wassertemperaturen in Bereiche angehoben wurden, die für Badegäste angenehmer, für Sportler aber zu warm waren. Die neuen Bäder boten damit Aktivitäten in drei Bereichen: (1) Baden in warmem Wasser mit Meeres- und Tropenassoziationen, (2) Braun-sein und Braun-werden mit Hilfe von Solarien und (3) Sport, Spiel und Spaß – nicht zuletzt als Anlass zur Kommunikation, die vom »›Freizeitmenschen‹ mehr denn je gesucht« werde, wie ein zeitgenössischer Autor formuliert.288

284 | Die vor dem Zweiten Weltkrieg als Baths & Baths Engineering gegründete Zeitschrift war seit 1949 als Baths Services erschienen; siehe Gordon/Inglis, S. 227, S. 257. 285 | Ein Autor des Archivs des Badewesens, der Münchner Baudirektor Rost, erwähnt auch amerikanische Vorbilder: Rost, Wandel im Bäderbau – ein Blick zurück in die Zukunft. In: Archiv des Badewesens, 35 (1982), S. 233-238, S. 236. In der Anfangszeit wurde dieses Bad, das heute als Pionierunternehmung gilt, vermutlich als weniger bedeutsam eingeschätzt; so widmete das Archiv des Badewesens dem Alpamare nur einen Artikel von einer Seite, während ein Sportbad, das auch über Freizeiteinrichtungen verfügte, das Olympia Sport- und Kongresszentrum in Tirol in derselben Ausgabe ausführlich vorgestellt wurde. Siehe: Alpamare Freizeit-Center. In: Archiv des Badewesens, 29 (1976), S. 445; sowie: Olympia Sport- und Kongresszentrum Seefeld/Tirol. In: Archiv des Badewesens, 29 (1976), S. 434-441. 286 | Hess, S. 100f. Sowie: Auf Tagebuchaufzeichnungen basierendes Gespräch mit Claudia und Rita Streblow, Hamburg, am 15.4.2011. 287 | Schmidt, Schwimmen, S. 64. 288 | Am meisten gesucht: Sport, Spiel und Spaß (Bad Tölz). In: amusement Industrie, (4/1972), S. 157.

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Mit diesen Anlagen etablierte sich eine neue Generation von Bädern, deren Aufenthaltsmöglichkeiten nicht mehr für 60 Minuten, sondern für Tagesbesuche ausgelegt wurden. Die technische Ausstattung der Bäder musste wegen der mit höheren Wassertemperaturen verbundenen höheren Keimbelastung aufwendiger dimensioniert werden;289 hinzu kamen diverse zusätzliche Aggregate für ihre neuen Wasserattraktionen beziehungsweise »Wassertechnische[n] Erlebnisbereiche«.290 Vor diesem Hintergrund erscheint die zeitgenössische Wortschöpfung »Erholungsmaschine« treffend.291 Gemeinsam ist den neuen Bädern nach damaliger Einschätzung, dass sie »zum Entspannen ein[laden], und … zum Spiel im und mit dem Wasser« animieren.292 Die neuen Freizeitbäder waren zunächst umstritten; ihr Angebot wurde beispielsweise als »neue Form der Freizeitausfüllung, aber nicht der Erfüllung in der Freizeit« kritisiert,293 und eine Förderung durch die Kommunen war ebenfalls strittig. Der Wiesbadener Bürgermeister Alfred Herbel wandte sich beispielsweise 1978 gegen die Änderung des Badeangebots vom sportlichen Schwimmen zum spielerischen Aufenthalt im Wasser und verortete sich damit in der Reihe der Zeitgenossen, für die Spiel etwas Anrüchiges hatte: »Das Vergnügen mancher Menschen in solchen Spaßbädern, die weitgehend nur Lustgefühle vermitteln, rechtfertigt nicht das Interesse der öffentlichen Hand und damit auch nicht das der Deutschen Gesellschaft für das Badewesen«.294 Die Umbenennung der seit 1961 erscheinenden Zeitschrift Sport- und Bäderbauten in Sport-, Bäder- und Freizeit-Bauten 1974 verweist jedoch auf den zunehmenden Wandel der Bäderlandschaft zu Orten von Freizeit- und Erholung, die einen »kleinen Urlaub« gewähren sollten.295 Bei den neuen Bädern kam der Inszenierung des Aufenthalts große

289 | Siehe beispielsweise R. Wegner, Auswirkungen des Warmwassertages auf die Hefekontaminierung der Hamburger Hallenbäder. Medizinisch-mykologische Untersuchungen mit praktischen Vorschlägen zu Prophylaxe. Diss. med. Hamburg 1970, hier insbes. S. 88f. 290 | G. Gansloser, Wassertechnische Erlebnisbereiche im Becken (Möglichkeiten, Techniken und Betriebskosten). In: Sport-, Bäder- und Freizeit-Bauten, 26 (1986), S. S 78 – S 82. 291 | Wohnen. Hinten grün. In: Der Spiegel, 23 vom 3.6.1974, S. 131f. Verfügbar im Onlinearchiv unter http://wissen.spiegel.de/wissen/image/show.html?did=41722224&aref =image035/E0536/PPM-SP197402301310134.pdf&thumb=false (21.9.2013). 292 | Schmidt, Schwimmen, S. 66. In der zeitgenössischen Literatur werden sie entsprechend auch als ›Naherholungszentren‹ beschrieben. Siehe beispielsweise: J. und W. Lippert u.a., Naherholungszentrum Miramar-Weinheim. In: Sport- und Bäderbauten, 13 (1973), S. 824-831. 293 | A. Herbel, Das Freizeitbad – Resümee einer Besichtigungsreise. In: Archiv des Badewesens, 31 (1978), S. 158-163, S. 162. 294 | Herbel, S. 163. (Herv. Poser). 295 | Auf die Ausgabe Sport- und Bäderbauten, 13 (1973) folgte der Jahrgang Sport-, Bäderund Freizeit-Bauten, 14 (1974). Zur Einschätzung des Wandels siehe auch: Tröpferlbad, S. 3.

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Bedeutung zu; in einem zeitgenössischen Spiegelartikel wird das Freizeitbad entsprechend als »Badeoper« vorgestellt.296 Tatsächlich entstanden in den 1970er Jahren auch Mischformen zwischen Sportbädern und Freizeitbädern, die die hier skizzierte Trennung der Bädertypen für diesen Zeitabschnitt etwas relativieren: Beispielsweise gehörten große Gummireifen als Spielutensilien zur Ausrüstung eines neuen französischen Gartenhallenbades, das für sportives Schwimmen ausgelegt war.297 Im Rahmen eines gemeinsamen Forschungsprojekts der Internationalen Akademie für Bäder- Sportund Freizeitbau, des Deutschen Instituts für Bäder- Sport- und Freizeitbauten und des Deutschen Schwimmverbandes entstanden mehrere Bäder für kleinere Gemeinden, die zum Teil als kommunale Mehrzweckbauten geplant wurden. Die Bäder selbst waren nicht nur hinsichtlich der Betriebskosten optimiert, sondern nahmen mit Saunen, Restaurants und Kinderspielräumen für die Badegäste Elemente der neuen Freizeitbäder auf.298 Bis Mitte der 1980er Jahre hatte sich dann der Typ des Freizeitbades so weit durchgesetzt, dass ein »relativ großer Nachrüstungsmarkt entstanden« war, um die Rentabilität konventioneller Bäder zu erhöhen und die Anlagen an die neuen Besucherwünsche anzupassen.299 Welchen Erfolg Bäder dieses Typs hatten, wird beispielsweise anhand eine Studie über Hamburger Bäder von 1983 deutlich: Anlass des dahinterstehenden Forschungsprojekts waren rückläufige Besucherzahlen, die 1980 zu einem Defizit der hansestädtischen Badebetriebe von 50 Mio. DM geführt hatten. Dabei war die Stadt keine Ausnahme: obwohl Prognosen 1975 noch von einem zusätzlichen Bedarf ausgingen, war die Besucherzahl seit 1977 in öffentlichen Bädern im gesamten Bundesgebiet rückläufig. Provozierend stellte der Spiegel 1981 fest: »Es gibt zu viele Bäder, und die meisten entsprechen nicht mehr den Freizeitbedürfnissen«.300 Das Forschungsprojekt umfasste eine psychologische Grund296 | »Warm woget die Welle«. Wandel der Badesitten: Spaßbäder und Badetempel in der Bundesrepublik. Auszug aus »Der Spiegel« (24/1987), abgedruckt in: Archiv des Badewesens, 41 (1988), S. 376-379, S. 379. 297 | H. Blanchet, Gartenhallenbad St. Germain-en-Laye. In: Sport- und Bäderbauten, 13 (1973), S. 785-791, S. 789f. 298 | W. Böhme, D. Kazich u.a., Freibad Luthe. In: Sport- und Bäderbauten, 13 (1973), S. 622-631. 299 | Gansloser, S. S 78, S. S 81. Der Autor führt aus, dass die Betriebskosten für nachgerüstete Wasserattraktionen wesentlich geringer seien als die Mehreinnahmen durch eine höhere Besucherzahl. Siehe auch: W. J. Richtsteig, Bauliche und technische Umrüstungen bei der Freizeitorientierung. In: Archiv des Badewesens, 40 (1987), S. 373-376. Sowie: Auswahlkatalog zur Freizeitorientierung in den Bädern. In: Archiv des Badewesens, 47 (1994), S. 495. 300 | H. W. Opaschowski, Freizeit in öffentlichen Schwimmbädern. Ursachen des Besucherrückgangs, Lösungsansätze zur Profilierung als Freizeitbad, Ergebnisse eines dreijährigen Forschungs- und Erprobungsprogramms des BAT Freizeit-Forschungsinstituts in Hamburger

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lagenuntersuchung über das Freizeitprofil der Hamburger Bäder, eine Ist- und Wirkungsanalyse der traditionellen Hallenbäder Altona und Volksdorf, die ein unterschiedliches Besucherprofil aufwiesen, sowie die exemplarische Durchführung und Auswertung eines zeitgenössisch modernen Freizeit-Programms.301 Besucherumfragen ergaben, dass die Baulichkeiten Aufenthaltsräume, Rückzugsnischen und eine Restauration im Badebereich sowie Solarien und Fitnessräume aufweisen sollten; zudem wurden bessere Schallschutzmaßnahmen von einem Drittel der Besucher gewünscht. Darüber hinaus regten die Befragten vielfältige Freizeitangebote wie Wassergymnastik, Wasserspiele oder Tauchkurse an.302 Tatsächlich wirkten sich die Überarbeitung des Bäderkonzepts und die freizeitorientierte Umgestaltung der Baulichkeiten positiv aus: die Modernisierung eines Bades unter Einbau einer großen Wasserrutsche und der Entwicklung eines Freizeitkonzepts führte zu einer Verdoppelung der Besucherzahlen, während sie in anderen Bädern stagnierte oder sank.303 Nicht von ungefähr liefen die genannten baulichen Veränderungen und die Maßnahmen zur Freizeitgestaltung im Bad auf eine Annäherung der klassischen Bäder an den neuen Typ des Freizeitbades hinaus. Mit ihrem breiten Angebot von Freizeitaktivitäten im und um das Wasser nahm die neue Badearchitektur im Grunde das in Vergessenheit geratene Spektrum der Attraktionen von Bade- und Vergnügungspalästen aus dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in transformierter Form wieder auf.304 Deren Konzeption war mit Lesebereichen, Salons und Restaurants zum Teil an Römische Thermen angelehnt; insbesondere englische Bäder nahmen verschiedene Sportangebote als zeitgenössisch moderne Form der körperlichen Betätigung auf. Vielleicht das prominenteste Beispiel der Bade- und Freizeittempel um 1900 ist der um 1910 im Berliner Stadtzentrum errichtete Admiralspalast. Das Haus bot neben mehreren Schwimmbecken ein luxuriös ausgestattetes Russischrömisches Bad und eine der größten Eisbahnen Europas. Eine Bar, ein Cafehaus und ein Restaurant gehörten ebenso zu dieser Anlage wie eine Kegelbahn, ein Kino und Clubräume.305 Bädern. Hamburg 1983, S. 1. Sowie: Situation der kommunalen Bäder von 1974 – 1991, S. 20. Zu Prognosen der Freizeit- und Bäderentwicklung 1975 siehe: Jeden Tag ein neues Schwimmbad. Der Bedarf an Freizeiteinrichtungen im Jahre 1980. In: Der Spiegel, (7/1975) vom 10.2.1975, online verfügbar unter www.spiegel.de/spiegel/print/d-41559111.html. – Zitat: Freizeit. Spaß rein. In: Der Spiegel, (22/1981) vom 25.5.1981, Online-Archiv, www. spiegel.de/spiegel/print/d-14333767.html (beide 21.9.2012). 301 | Opaschowski, S. 1. 302 | Ebenda, S. 8ff., sowie Tab. 4f. 303 | Ebenda, Anhang, Tab. 2f. 304 | Vergl. Schmidt, Schwimmen, S. 66. 305 | Das Gebäude ist – unter mehreren Funktionswandeln – bis heute erhalten. Siehe H.-Chr. Täubrich, Kunstwelten. Eispaläste, Freiluftbahnen und die Mode am Rande. In: Cen-

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Das breite Angebot von Aktivitäten in einer einzigen Freizeitbadanlage, der Ganztagesaufenthalt, die Verbindung von Bad, Restaurants und Hotel, aber auch die vergleichsweise aufwendige Gestaltung der Innenräume mit der Inszenierung einer künstlichen, scheinbar natürlich gehaltenen Flora und Fauna sind Elemente, die richtungweisende Bedeutung für die Planung künstlicher Ferienwelten hatten. Tatsächlich bieten inzwischen eine Reihe von Freizeitbädern Gesamtpakete zum Aufenthalt im und rund um das Wasser an, die in verschiedenen Bereichen der Bäder alle Altersgruppen ansprechen sollen und so dimensioniert sind, dass ein mehrtägiger Aufenthalt notwendig ist, um alle Angebote zu testen. Zu diesen Bädern werden auch Hotelanlagen geplant, sodass sie sich zunehmend zu (künstlichen) Ferienwelten entwickeln. In Anbetracht eines solchen Angebots und entsprechender Ausbaupläne für die Therme Erding bei München schreibt ein Autor des Magazins der Süddeutschen Zeitung 2012, das Bad ähnele »mehr und mehr einem Freizeitresort, einer Clubanlage am Mittelmeer oder in der Karibik«.306

2. Bädertechnik und Technologietransfer Die Bauaufgabe, mit Badeanstalten beziehungsweise Schwimmbädern Räume für das Spiel im Wasser zu schaffen, stellt spezifische Anforderungen. Sie beziehen sich sowohl auf die räumlich-architektonische Gestaltung, als auch auf die die Wasserauf bereitung sowie auf Konstruktionen, die zusätzlichen Spielmöglichkeiten im Bad dienen. In Anbetracht hoher Betriebskosten war und ist zudem die Energieeinsparung ein wesentlicher Parameter des Schwimmbadbaus. Die räumliche Aufteilung der Gebäude und die Gestaltung ihrer Bassins schufen Spiel-Voraussetzungen, prägten den Ablauf von Bäderbesuchen und beeinflussten damit das Spiel im Wasser teils mittelbar, teils unmittelbar. 1877 wurde in Bremen das erste Bad in Deutschland erbaut, bei dem mit sogenannten Stiefelgängen eine Trennung zwischen straßen- und badeseitigem Bereich des Schwimmbads durch die bauliche Konzeption vorgegeben wurde.307 Dies entwickelte sich in den folgenden Jahren zum Standard. Bäder aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sind dabei mit Umkleidekabinen direkt am Schwimmbad-Umgang oder auf einer darüber liegenden Galerie versehen; später entstanden eigene Umkleide- und Reinigungstrakte, die durchquert werden mussten, um in das Becken zu gelangen. Diese Konzeption entsprach einerseits dem im Zuge der Bauhausarchitektur aufkommendem Bedürfnis nach mehr Helligkeit und lichtdurchfluteten Räumen, trum Industriekultur Nürnberg, Münchner Stadtmuseum (Hg.), Unter Null. Kunsteis, Kälte und Kultur. München 1991, S. 182-199, S. 186f., sowie Pirhofer, S. 162f. 306 | R. Stadler, Der Himmel der Bayern. Das unheimliche Wachstum der Therme Erding: Wie aus einem Acker bei München Europas größtes Erlebnisbad wurde. In: Süddeutsche Zeitung, Magazin, (1/2012), Online-Ausgabe, S. 3, http://sz-magazin.sueddeutsche.de/ texte/anzeigen/36809 (sowie …/2 und …/3 – 18.2.2012). 307 | Vetter, Das Bad der Neuzeit, S. 57f.

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andererseits erleichterte sie die Planung der Besucherwege und ermöglichte den Einbau eines Duschbereiches vor dem Zugang zum Becken.308 Der Bau von Schwimmbecken ist infolge des großen Gewichts der gefüllten Becken eine statische und bautechnische Herausforderung. Für die Konstruktion gelangten zwei moderne Baumaterialien des ausgehenden 19. Jahrhunderts zum Einsatz, Eisen und Beton: Zunächst wurden häufig Ganzmetallbecken aus Stahl verwendet – das erste solche Bassin in Deutschland entstand vermutlich 1882 im Stadtbad Essen. Wegen Korrosionsschäden führte man in den folgenden Jahrzehnten hauptsächlich gekachelte Beton-Schwimmbecken aus; dieses Material gewann auch für andere Einbauten an Bedeutung. Entsprechend brachte der Berliner Zementverlag 1930 ein Heft zur Bedeutung von Beton und Eisenbeton im Sportanlagenbau heraus, in dem Schwimmbäder und der Bau von Becken ausführlich behandelt werden. Die Feststellung, Holz und Eisenteile seien »nach und nach vollständig aus den Badeanstalten verschwunden und haben ihre Anwendungsgebiete dem Eisenbeton überlassen müssen«,309 blieb zwar ein wohl von der beginnenden Wirtschaftskriese beförderter Wunschtraum, aber der Band weist sowohl auf das wirtschaftliche Potential des Schwimm- und Sportanlagenbaus hin, auf das die Herausgeber setzten, als auch auf die Modernisierung des Sportstättenbaus mit Hilfe dieses modernen Baumaterials. Mit vorgespanntem Beton versuchte man in den 1960er Jahren sogar große 50-m-Becken aus einem Stück zu fertigen und auf Dehnungsfugen zu verzichten.310 In den 1980er Jahren gingen die Auftraggeber allerdings wegen des arbeitsaufwendigen Verlegens von Kacheln für Schwimmbecken wieder zu Metallkonstruktionen über – nun aus rostfreien Stählen.311 In den 1920er Jahren wurde bereits mit elektrischen Vorwärmgeräten experimentiert, die preisgünstigen Nachtstrom nutzten.312 Als eine kostengünstige Lösung kam schon vor dem Ersten Weltkrieg die Nutzung von Abwärme zur Warmwasserbereitung in die Diskussion. Entsprechend wurden in den Veröffentlichungen

308 | Drobek, Bau und Betrieb von Frei- und Hallenbädern, S. 5f., archiviert im HHStA, Kapsel Badewesen 1 und 2. 309 | [P.] Riepert (Hg.), Neuzeitliche Sportanlagen. = Zementverarbeitung, 24. Berlin [1930], S. 62ff., Zitat: Ebenda, S. 75. Ein Abschnitt thematisiert Probleme bei einem neu gebauten Bad und erläutert deren bauliche Hintergründe. Artikel über die Nutzung von Stahlbeton für Schwimmbecken aus den 1960er Jahren machen deutlich, dass die Nutzung des Materials auch noch dreißig Jahre später infolge der Beckendimensionen und der hohen Gewichtsbelastung durch das Wasser auf Probleme stieß. Siehe beispielsweise R. v. Kölsterlein, Erfahrungen mit Stahlbeton-Schwimmbecken. In: Archiv des Badewesens, 21 (1968), S. 12ff. 310 | P. Krapp, Vorgespannte Beckenkonstruktionen. In: Archiv des Badewesens, 20 (1967), S. 11ff., S. 11. 311 | Behrendt, S. 30. 312 | Ein Beispiel ist das 1926 erbaute Ottakringer Bad in Wien; siehe Tröpferlbad, S. 18.

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der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder verschiedene Möglichkeiten der Nutzung von Kühlwasser von Maschinenanlagen und des Fernwärmetransports vorgestellt: »So wie die Ausnutzung des Abdampfes die Hebung der Wirtschaftlichkeit von Maschinenanlagen zur Folge hat, so liegen auch in der Verwertung des Kühlwassers für Bade- und Heizungszwecke dieselben nicht zu unterschätzenden Vorteile. Die möglichst vollständige Nutzbarmachung der in den verhältnismäßig immer großen Kühlwassermengen enthaltenen Wärme ist dazu geschaffen, die Lebensfähigkeit einer Badeanstalt auch unter ungünstigen Verhältnissen zu sichern«

schreibt ein Ingenieur, empfiehlt die Nutzung der Abwärme von städtischen Elektrizitätswerken und betont, dass die Einrichtungen »in keiner Weise den Wirkungsgrad der Maschinenanlagen« beeinflussten.313 Je nach Anlage sei das Kühlwasser direkt verwendbar oder müsse über einen Wärmetauscher genutzt werden, für dessen Konstruktion er das Gegenstromprinzip empfiehlt. Auf der Hauptversammlung der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder 1913 wurde vor dem Hintergrund der Energieeinsparung die Frage diskutiert, ob der ölhaltige Abdampf von Dampfmaschinen so gereinigt werden könne, dass er direkt zur Warmwasserversorgung von Badeanstalten verwendbar sei.314 Für das 1914 eröffnete Uhlandbad in Tübingen war beispielweise eine Warmwasserversorgung aus einem knapp zwei Kilometer entfernten städtischen Gaswerk geplant, die die Abstrahlung von Öfen und Retorten nutzen sollte; zeitgenössische Berechnungen gingen von auf 50o Celsius erwärmtem Wasser und einem Wärmeverlust während des Transports von zwei Grad aus. Die einmaligen Anlagekosten sollten unterhalb der prognostizierten jährlichen Heizkosten für eine Kohleheizung liegen.315 Zudem entstanden Badeanstalten wie das Stuttgarter Schwimmbad, deren Heizkessel mit Turbinen zur Elektrizitätsgewinnung kombiniert wurden. Diese Bäder deckten ihren Wärmebedarf aus der Abwärme, versorgten sich mit Elektrizität selbst und speisten den überwiegenden Teil der gewonnenen Elektroenergie in das städtische Netz ein;316 so wurde ein modernes, gegenwärtig gefördertes Ener313 | C. Endrich, Ausnutzung des Kühlwassers von Maschinenanlagen für Bade- und Heizungszwecke. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 6-3. Berlin 1913, S. 389-391, S. 389f. In ähnlichem Tenor: Klaus, Die badetechnische Einrichtung des Stadtbades Mühlheim a. d. Ruhr. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 6-3. Berlin 1913, S. 350-363, S. 351. 314 | Gibt es brauchbare und nicht zu kostspielige Verfahren zur Entfettung des Abdampfwassers der Fabriken? Welche sind das bejahendenfalls? [Anfrage von O. Plarre.] In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 6-3. Berlin 1913, S. 365. 315 | Eine Warmbadeanstalt ohne Feuerungskosten. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 6-3. Berlin 1913, S. 401f. 316 | L. Vetter, Der Großbetrieb Deutscher Badeanstalten und seine fortschrittliche Entwicklung. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 4. Berlin 1908,

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giekonzept, die Kraft-Wärmekoppelung, schon vor dem Ersten Weltkrieg umgesetzt. Die katastrophale Finanzsituation der Kommunen in der Weimarer Zeit förderte letztlich – nach schleppender Wiederinbetriebnahme – die Umstellung bestehender Bäder auf Fernwärme. So wurde beispielsweise die Kesselanlage des 1896 erbauten Charlottenburger Volksbades 1926 stillgelegt und das Haus mit Warmwasser aus dem nahe gelegenen Kraftwerk Charlottenburg versorgt.317

Abb. 5: Filteranlage für Schwimmbecken. Zeichnung aus einer englischen Patentschrift für Oliver Matthews Row, auf den die Entwicklung von Filtersystemen für Schwimmbäder zurückgeht, 1913. Der hohe Energieverbrauch der Bäder war sogar während der Phase sehr günstiger Energiepreise in den 1960er und frühen 1970er Jahren Anlass, über Maßnahmen der Energieeinsparung beziehungsweise Kostenreduktion für den Unterhalt der Bäder nachzudenken. So wurde schon 1968 – und damit etwa zehn Jahre, bevor Wärmepumpen im Zuge des aufkommenden Umweltbewusstseins an Bedeutung gewannen – im Archiv des Badewesens ein Aufsatz über den Einsatz von WärmeS. 276-282, S. 278f. Sowie ders., Badeanstalt in Verbindung mit Elektrizitätswerk. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 5. Berlin 1911, S. 409-413. 317 | Bräuer/Lehne, S. 65.

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pumpen für Schwimmbäder veröffentlicht. Der Verfasser, ein Ingenieur, schlägt drei Konstruktionsvarianten vor, die Nutzung von Wasser zum Entzug von Wärme, die Nutzung der Umgebungsluft und den kombinierten Betrieb eines Schwimmbads mit einer Eisbahn. Nach dem Verfahren, dem Grundwasser mittels einer Wärmepumpe Energie entziehen, wurde damals bereits ein Ulmer Freibad beheizt.318 Vor dem hier skizzierten Hintergrund erscheint die These naheliegend, dass Badeanstalten bei Maßnahmen zur Energieeinsparung eine Pionierrolle zukam. Aufgrund des kontinuierlichen Wasseraustauschs und des Ablassens, Reinigens und neu Befüllens der Schwimmbassins, das aus hygienischen Gründen vor Einführung von Filtern alle 1 – 3 Tage erfolgen sollte,319 war der Energieverbrauch für warmes Bassinwasser besonders hoch. In Gegenden mit sehr weichem Wasser verschärfte sich das Problem, weil das Wasser binnen kurzer Zeit trüb wurde.320 Zur Ausstattung der Schwimmhallen zählten entsprechend leistungsstark dimensionierte Pumpen und Rohrleitungssysteme. Stand der Technik um 1900 waren kolbenlose Dampfpumpen, die als Pulsometer bezeichnet wurden.321 Beides veränderte sich mit dem Einbau von Filteranlagen vor dem Ersten Weltkrieg und deren Ergänzung durch Chlorierungsanlagen seit den frühen 1920er Jahren: nun konnte der Wasseraustausch reduziert werden. Unter Nutzung von

318 | H. Schantz, Einsatz der Wärmepumpe zur Aufheizung von Schwimmbecken unter vier verschiedenen Betriebsbedingungen. In: Archiv des Badewesens, 21 (1968), S. 53f. Die im Titel genannten vier Betriebsbedingungen ergeben sich aus der getrennten Beschreibung verschiedener Anlagen gleichen Konstruktionsprinzips. Zum Ulmer Bad siehe A. Laepple, Miniatur-Golf, Tischtennis, Turngeräte und Spielplätze in Freibädern. In: Archiv des Badewesens, 21 (1968), S. 133-136, S. 135. Eine Wirtschaftlichkeitsberechnung gibt: H. d. Vries, Wirtschaftlichkeit von Wärmepumpen im Sport- und Bäderbau. In: Sport- und Bäderbauten, 13 (1973), S. 518-524. Erste Versuche zur Gebäudebeheizung mittels Wärmepumpen wurden allerdings schon in den späten 1920er Jahren unternommen. 319 | Eine Übersicht über die Wasserverschmutzung und den beachtlichen Wasserverbrauch der Berliner Bäder um 1910 gibt der Direktor des Städtischen Untersuchungsamtes für hygienische und gewerbliche Zwecke in Berlin, Proskauer; siehe Proskauer, Die angestrebte Wiederverwendung des gebrauchten Bassinwassers unter Berücksichtigung der gemachten Erfahrungen bei den Untersuchungen der Berliner Schwimmbäder. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 5. Berlin 1911, S. 128-137, S. 128f. Siehe auch H. Lühr, Reinigung von Schwimmbeckenwasser. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 8-3. Berlin 1928, S. 271-276, S. 271. 320 | Gibt es chemische Mittel, um weiches Wasser, welches in den Schwimmbehältern sofort trüb wird, wenigstens zwei Tage blank und durchsichtig zu erhalten? [Anfrage von P. Knoch]. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 6-3. Berlin 1913, S. 375f. 321 | Zu Pulsometern siehe C. Matschoss, Geschichte der Dampfmaschine. Berlin 1901, S. 300f.

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Filtersystemen war es möglich, das Badewasser bis zu drei Wochen zu nutzen, bei gechlorten Bädern unter Zugabe von Frischwasser bis zu einem Jahr (Abb. 5).322 Die Aufbereitung des Badewassers war mit mehreren Technologietransfers verbunden und führte zu einer weiteren Ebene der Technisierung von Bädern: Für die Filtration des Badewassers wurden Filtertechnologien sowie in den 1950er und 1960er Jahren auch Flockungsmittel und Zugaben zum Korrosionsschutz aus der Trinkwasseraufbereitung übernommen.323 Da infolge der Chlorierung das Reinigen des leeren Beckens nur noch jährlich erfolgte, wurden seit etwa 1920 Unterwassereinigungsgeräte eingesetzt, die Staubsaugern ›nachgebildet‹ waren.324 Hier fand offensichtlich ein Technologietransfer zeitgenössisch moderner Haushaltstechnik in das Badewesen statt. Der Übergang von offenen zu geschlossenen Filtersystemen in den 1960er Jahren machte einen neuen Schritt der Technisierung von Badeanstalten notwendig: Weil die Überwachung der Filter nun durch Messgeräte erfolgen musste, kam es zum verstärkten Einbau von Mess- und Re-

322 | Tatsächlich ließ sich die Anzahl der Vollentleerungen des Hamburger Bades in der Hohen Weide, das als eines der ersten Bäder in Deutschland eine Filteranlage erhielt, 1909 von 250 auf 70 jährlich reduzieren. Unter Einbeziehung der Amortisationskosten bedeutete dies Einsparungen von 12.000 Mark jährlich. Diskussionsbeitrag von Bauinspektor Holthusen, Hamburg, zum Vortrag von Proskauer. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 5. Berlin 1911, S. 137 f, S. 138. Probleme mit Filtersystemen infolge der Chlorierung deutet beispielsweise an: Scheidt, Wasserreinigung nach dem Oxydations-Filtersystem [Diskussionsbeitrag]. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 7-4. Berlin 1925-26, S. 261-265, S. 262. Positiv zur Chlorierung äußert sich: König, Ueber die Frage der Erfolge der Oxydations-Filter, System Scheidt [Diskussionsbeitrag]. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 7-4. Berlin 1925-26, S. 265f. 323 | Zur Entwicklung der Filtertechnologie siehe beispielsweise: Hat man in Deutschland schon Erfahrung gemacht mit der Badewasserreinigung (englisches Patent Row) durch Belüftung und Filtration (D. R. P. angemeldet)? In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 4. Berlin 1908, S. 539ff. Sowie die Patente: Improvements in Apparatus for use in connection with the Straining Aerating, Filtering and Reheating of Bath water and the like. [Oliver Matthews Row a.o., British Patent Office, Patent] No 7346, A.D. 1906. Und: Improved Method of and Means for Purifying Bath Water. [Oliver Matthews Row a.o., British Patent Office, Patent] No 1945, A.D. 1913. Zur Entwicklung in den 1950er und 60er Jahren siehe: Drobek, Bau und Betrieb von Frei- und Hallenbädern, S. 10f., archiviert im HHStA, Kapsel Badewesen 1 und 2. Sowie: H. Börner, Die Aufbereitung von Schwimmbeckenwasser. In: Archiv des Badewesens, 19 (1966), S. 36-39, S. 36ff.,und K. Stelter, Filterkonstruktion und Filtertechnik. In: Archiv des Badewesens, 19 (1966), S. 39-42, S. 39ff. 324 | Lühr, S. 275.

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gelungstechnik, die wiederum den Einbau von Schaltzentralen zur Überwachung und Steuerung der gesamten Schwimmbadtechnik sinnvoll erscheinen ließ.325 Die besonderen baukonstruktiven sowie heizungs- und lüftungstechnischen Anforderungen, das System der Wasserauf bereitung und die Mess- und Regelungstechnik ließen Bäder, insbesondere Hallenbäder, zunehmend zu Technotopen werden, in denen nicht einmal mehr das Wasser – das Ausgangselement der Bäder – natürlich ist, sondern in der Regel lediglich möglichst naturnah sein soll. Erst in den letzten Jahren zeichnet sich hier ein Zurück-zur-Natur ab, im Zuge dessen auf die Chlorierung einiger Freibäder zugunsten natürlicher Reinigungsverfahren verzichtet wird.326 Die bisher genannten technischen Einrichtungen dienten zum Betrieb der Bäder. Sie sind zwar eine Voraussetzung für Schwimmbadaufenthalte, beeinflussten deren spielerische Nutzung im Einzelnen aber meist nur mittelbar. Die technische Anlage von Badeanstalten, die am deutlichsten direkt dem Spiel dient, ist sicherlich die Wellenmaschine. Ihre Technik soll deshalb im Folgenden eingehender beschrieben werden. Ein enthusiastischer Konstrukteur schreibt 1975: »Das Spiel im Wasser, um so mehr das Spiel im durch Wellen bewegten Wasser, läßt alle künstlichen Hemmungen fallen und gibt den Menschen ihre angeborene Natürlichkeit wieder«.327 Folgt man dem Autor, so dient Technik in Fall von Wellenbädern dazu, Natürlichkeit zu befördern; Spiel ist demnach Teil dieser Natürlichkeit. Ein Zeitgenosse weist darauf hin, dass man Wellenmaschinen und andere Badeeinrichtungen »nach dem Stand unserer Technik« bauen solle, die Bäder »aber doch so gestaltet … [sein müssen], daß die Technik nicht abschreckt«.328 Wellenmaschinen ermöglichten die ersten wassertechnischen Erlebnisbereiche, die später Freizeitbäder prägen sollten. Ihre Geschichte reicht bis in das 19. Jahrhundert zurück. So entstanden in Berlin seit den 1870er Jahren mehrere Wellenbäder mit Dampfantrieb als Teil von Flussbadeanstalten. Bei diesen Bädern wurden als Wellenerzeuger Schaufelräder eingesetzt,329 die zwar auch Wellen, aber insbesondere Strömung erzeugt haben dürften. Neuere, zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte Wellenmaschinen waren hingegen Spezialkon­ struktionen, die meeresähnliche Wellen hervorbrachten. Zwischen 1905 und 1921 325 | F. Vollmer, Fragen der Heizung – Lüftung in Hallenbädern. In: Archiv des Badewesens, 19 (1966), S. 56-60, S. 60. 326 | Siehe beispielsweise: Naturbad Olfen. In: Ruhr Guide. onlinemagazin für das ruhrgebiet, www.ruhr-guide.de/freizeit/badeseen-und-schwimmbaeder/naturbad-olfen/231 05,0,0.html (10.8.2014). 327 | H. Caspar, Wellenbäder als Freizeitanlage. In: Archiv des Badewesens, 28 (1975), S. 360ff., S. 360. 328 | S. Schuster, Konstruktionsarten, Bau und Betrieb von Wellenbädern. In: Archiv des Badewesens, 28 (1975), S. 345-348, S. 348. Nachdruck eines Artikels von 1969. 329 | I. da Silva Matos u.a., Stadt – Bad – Fluss. Berliner Bade- und Wasserkultur im Wandel [Ausstellungskatalog]. Berlin 2010, S. 10. Bräuer/Lehne, S. 27, S. 34.

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bestand in Starnberg das mit einer Wellenmaschine des Münchner Unternehmens H. Recknagel ausgestattete Undosa-Bad, das oft als das erste Wellenbad in Deutschland genannt wird; ein Sandstrand und Strandkörbe vervollständigten vielleicht das Ensemble.330 Der Konstrukteur des Planschariums auf der GESOLEI, Ingenieur C.A. Rambke, würdigte seinen Kollegen Recknagel im Rahmen eines Vortrags auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder 1928 als denjenigen, der »den Gedanken, Hallenschwimmbäder mit künstlicher Wellenerzeugung zu bauen, als erster verwirklicht hat«.331 Wilhelm Schleyer erwähnt in seiner Darstellung des Badewesens 1909 eine als System Höglauer332 bezeichnete Versuchsanlage Recknagels: Über einen Exzenter oder einen Zylinder werden leicht gekrümmte Platten in Bewegung gesetzt; bei drei Wellen/Min. und einer Wellenhöhe von einem Meter betrage die benötigte Maschinenleistung weniger als 1 PS pro Meter erzeugter Wellenfläche. Die Anlage lasse die Erzeugung von Stutzwellen und einer »förmlichen Meeresbrandung« zu.333 Eine Wellenmaschine werde »zweifellos für Viele von großem Reiz sein … und die Wirkung des Bades auf den Organismus auch der Nichtschwimmer erheblich steigern, weil … [die Wellen] dessen Muskeltätigkeit kräftig anregen.«334 Der Hinweis auf die medizinische Bedeutung der Maschine mag auch mit ihrer Genese zusammenhängen: Tatsächlich scheint die Entwicklung von Wellenmaschinen für Schwimmbäder mit der von medizintechnischen Apparaten verknüpft zu sein. Leo Vetter beschreibt 1904 eine motorisch angetriebene Wanne, System Höglauer, hergestellt von Recknagel, für Wellen- Strom- und Quellbäder zur medizinischen Anwendung. Er betont die »kräftigende« (durchblutungsfördernde) Wirkung auf den Organismus. Die Wanne eigne sich insbesondere für Neurastheniker, deren Beschwerden die Therapie lindere, und fettleibige Personen, die durch das Anarbeiten gegen die Wellenbewegung in kaltem Wasser abnähmen.335 »Das Hög330 | [C.A.] Rambke, Lichtbildervortrag über Bau und maschinellen Betrieb von Wellenbädern. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder. Die Tagung in Coburg am 10.und 11. Juni 1928, 8-3. Berlin 1928, S. 277ff., S. 277. Aus historischer Perspektive siehe: Starnberger Zeitgeschichte. Das legendäre Tanzcafe Undosa. Bayerischer Rundfunk, BR online, 23.8.2008, www.br-online.de/bayerisches-fernsehen/schwa ben-und-altbayern/schwaben-altbayern-240808-undosa-starnberg-ID1219429193005. xml?_requestid=126971 (11.1.2012). 331 | Rambke, S. 277. 332 | Schleyer, S. 332. Recknagel selbst erwähnt den Geheimen Hofrat Höglauer als Erfinder der Wellenmaschine für Wannen und Schwimmbäder. Siehe H. Recknagel, Künstliche Wellenerzeugung für Bassin- und Wannenbäder. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 3. Berlin 1906, S. 266ff., S. 266. 333 | Schleyer, S. 333. 334 | Schleyer, S. 332f. 335 | Vetter, Das Bad der Neuzeit, S. 164ff., zur medizinischen Bedeutung ebenda, S. 167ff.

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lauer-Recknagelsche Wellen[wannen]bad … bietet mit seiner höchst sinnreichen maschinellen Einrichtung den denkbar vollkommensten Ersatz für das natürlich stark bewegte Wasser unsrer Flüsse, des Meeres und als Quellbad für die mit Recht so geschätzten Wildbäder«.336 Die Wellen der von Vetter beschriebenen Wanne werden in einer Seitenkammer der Wanne durch eine hin- und her schwingende Wippe erzeugt; laut dieser Beschreibung ähnelt der Antrieb den beiden Skizzen, die Schleyer für die Wellenerzeugung der großen Versuchsanlage bringt.337 Recknagel selbst stellte Wellenmaschinen 1906 im Rahmen eines Vortrags für die Deutsche Gesellschaft für Volksbäder vor und beschrieb sie als »ein vorzüglich geeignetes Mittel, die Anziehungskraft der Badeanstalten zu erhöhen«.338 Er unterstreicht, dass der Wellenschlag in den Becken »demjenigen am Meere in keiner Weise nachsteht«.339 Als technische Lösung nennt er eine üblicherweise von Dampf angetriebene Kurbelwelle, die entweder Holzkästen in das Wasser drückt oder ein Blech um einen Drehpunkt hin- und herbewegt. Der Autor erläutert, dass man sich bei der Wellenerzeugung an der Eigenschwingung der Welle orientieren müsse, um durch Überlagerung eine optimale Leistungsausbeute zu erreichen. Während Schleyer eine Erprobung der Neuerung in einer größeren Schwimmhalle empfahl, ging bereits 1911 eine weitere Anlage in Deutschland auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung, Dresden, in Betrieb. Eine Abbildung zeigt das Bad mit beachtlicher Wellenbildung und zahlreichen Besuchern; zur Anlage gehörten eine Terrasse am Beckenrand und eine Besuchertribüne.340 Ein abnehmbares Dach ermöglichte den Besuchern, unter freiem Himmel zu baden.341 Die mit einer Dampfmaschine betriebene Undosa Wellenmaschine Recknagels wurde nach Schließung der Hygiene-Ausstellung vom Besitzer eines 1905 eröffneten Licht-Luft-Bades, Friedrich Eduard Bilz (1842-1922), erworben und in Radebeul bei Dresden wieder aufgebaut, wo sie bis heute in Betrieb ist (Abb. 6 und 7).342 Die Wellenbewegung wird durch große Holzkästen erzeugt, die in einem abge336 | Vetter, Das Bad der Neuzeit, S. 164. 337 | Schleyer, S. 332, Abb. 246. 338 | Recknagel, Künstliche Wellenerzeugung, S. 266. 339 | Recknagel, Künstliche Wellenerzeugung, S. 266f. 340 | Werbebeilage der D.R.U.-Beratungsstelle »Niedersachsen« für Bäderbau u. TurnSport-Uebungsstätten, Nr. 33, Werbedruck IV/1929, einliegend in: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 7-4. Berlin 1925-26, Sign. Bs 164 der MarthaMuchow Bibliothek, Universität Hamburg. 341 | Das Undosa-Wellen-Schwimmbad auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1911. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 6-2. Berlin 1912, S. 274f., S. 275. Recknagel wurde für den Bau mit einer Goldmedaille der Hygiene Ausstellung und mit dem Ehrenpreis der Stadt Dresden ausgezeichnet. 342 | Die Anlage ist bis heute erhalten. Zur Geschichte des Bades: Das Bilzbad – Geschichte. Im Juni 2005 – 100 Jahre Bilzbad. Homepage der Stadtbäder und Freizeitanlagen GmbH, Radebeul, www.baden-in-radebeul.de/bilzbadgeschichte.html (19.2.2012).

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trennten Bereich an der Stirnseite des Beckens ins Wasser gedrückt werden. Mit der Wellenmaschine erweiterte Bilz den Funktionsbereich seines Bades, indem er seine naturheilkundlichen Ansätze mittels neuer Technik auf vergnüglich-spielerische Weise dem Publikum näher brachte. Die Wellenanlage ermöglichte ihm einen Einstieg in die vergnügliche Bädernutzung, die dazu geführt oder zumindest beigetragen haben mag, dass das Bad bis heute erhalten blieb.

Abb. 6: Besucher im Wellenbad. Bilzbad, Radebeul bei Dresden, 1986.

Abb. 7: Die 1911 erbaute Wellenmaschine des Bilzbades; Photo von 1986. Die Wellenbewegung wird durch große Holzkästen erzeugt, die ins Wasser gedrückt werden. Im Vordergrund der Abbildung ist ein Transmissionsrad zu sehen, im Hintergrund sind die Gestänge erkennbar, die die Bewegung auf die Holzkästen im Schwimmbad übertragen. Das 1916 eröffnete Leipziger Stadtbad verfügte über eine Wellenmaschine mit elektrischem Antrieb; über eine Riemenscheibe und Kurbeltriebe wurden zwei Holzkästen in einem abgeteilten Bereich des Beckens auf- und abbewegt. Die

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Wellenmaschine erzeugte ebenfalls etwa einen Meter hohe Wellen für das 32 x 12 m große Bassin des Männerbades.343 Eine weitere frühe Anlage entstand beispielsweise im Wiener Dianabad.344 Ein ausgesprochen großes Wellenbad bot die GESOLEI 1926 mit dem 40 x 12 m Becken ihres Planschariums, das von Rambke gemeinsam mit dem Architekten Hans Schaffrath geplant wurde. Es entsprach den medizinischen und gesundheitspflegerischen Kontexten der Ausstellung, stellte aber den Badebesuch durch ein Strandambiente in einen spielerisch-vergnüglichen Zusammenhang; zudem erweckte der Name – als Gegenpol zum Planetarium der GESOLEI – spielerisch-vergnügliche Assoziationen, die das Bad mehr an den Jahrmarktsbereich der Ausstellung anbanden als an die ernsthaften Ausstellungsbereiche. Gleichzeitig wurde mit der Formulierung des Ansinnens, Ozeanwellen im Schwimmbad zu imitieren, Exotik geschaffen, vielleicht auch Fernweh bedient. Maßstäbe setzte neben der Wellenanlage auch die Dachkon­ struktion, die es erlaubte, das Dach bei schönem Wetter großflächig zu öffnen.345 Als Antrieb diente eine Niederdruck-Dampfturbine, die über einen Kurbelantrieb, ein Zahnradvorgelege und einen Riemenantrieb mit dem Wellenerzeuger verbunden war und diese mit einer Tourenzahl von 16 – 18 in der Minute bewegte. Der Wellenerzeuger scheint aus einem leicht gebogenen Blech bestanden zu haben, das am Boden so befestigt war, dass er ein Segment einer Rotationsbewegung mit einem überstrichenen Winkel von ca. 45 Grad ausführte. Der Autor weist darauf hin, dass die Zahl der Bewegungen pro Minute sowohl auf den Neigungswinkel des Wellenerzeugers und den Neigungswinkel der Beckensole als auch auf die Länge des Bassins abgestimmt sein müsse. Anders als Recknagel gibt Rambke den Kraftbedarf zur Erzeugung einer Welle von einem Meter Höhe und einem Meter Breite mit 2.5 bis 3 PS an.346 Diese Maschinenleistung entspricht etwa den Motoren für Wellenmaschinen, die noch in den 1970er Jahren eingebaut wurden.347 Nach dem Muster des Planschariums errichtete Rambke ein weiteres Wellenbad im Lunapark Berlin-Halensee, das mit 40 x 15 m noch etwas größer war. Generell empfiehlt der Autor als Antrieb für Wellenmaschinen Dampfturbinen, weil deren Abdampf zur ökonomischen Wassererwärmung genutzt werden könne. Die Wellen dieses Bades wurden jedoch durch Elektroantrieb erzeugt, da eine Kraftzentrale (ein kleines Kraftwerk) mit Dieselaggregaten zur Verfügung stand, deren Abwärme für das Badewasser genutzt werden konnte.348 Charakteristisch für bei343 | Das denkmalgeschützte Bad wurde 2004 geschlossen; eine Stiftung setzt sich für seinen Erhalt ein. Siehe außerdem Schuster, Konstruktionsarten, S. 346. Sowie Förderstiftung Leipziger Stadtbad, Stadtbad Leipzig, Geschichte. www.herz-leipzig.de/stadtbad/ geschichte/geschichte/r-geschichte-a-467.html (18.2.2012). 344 | Tröpferlbad, S. 11. 345 | Es handelte sich um ein leicht gebautes Segeltuch-Dach. Rambke, S. 278. 346 | Rambke, S. 278. 347 | Siehe hierzu die Beispiele der Wellenbäder auf Sylt und in Büsum am Kapitelende. 348 | Rambke, S. 279. Sowie Silva Matos, S. 32. Siehe auch Bräuer/Lehne, S. 80.

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de Anlagen war, dass sie gemäß dem Konzept des Schwimmbadbaus der 1920er Jahre auch für eine sportliche Nutzung gedacht waren und hierzu über entsprechende Startblöcke und Sprungbretter verfügten. Für Wettkämpfe ließ sich der Wasserspiegel um einen Meter anheben, um eine hinreichende Beckentiefe zu erhalten; dieses Verfahren wurde für Wellenbecken der 1960er und 1970er Jahre übernommen. Abschließend führt der Autor aus, dass »die Wirtschaftlichkeit [beider Anlagen] außer allem Zweifel« stehe.349 In den folgenden Jahren entstanden tatsächlich zahlreiche Wellenbäder; folgt man dem Architekten Moritz Ernst Lesser, so wurde 1930 »fast jedes Bassin mit künstlicher Wellenmöglichkeit gebaut«.350 Nach einer Phase der Wiederherstellung und des Nachholens entstanden in den 1960er Jahren eine Reihe von Wellenbädern in Touristenorten – so beispielsweise in Westerland auf Sylt 1964 und in Büsum an der Nordsee 1967. Aber auch in Großstadtbädern wurden wieder Wellenmaschinen eingebaut – so im Zentralbad Düsseldorf, wo eine Wellenmaschine für ein 50 m-Sportbecken entstand, das den Anforderungen des internationalen Schwimmsportverbands FINA entsprechen sollte; ein beweglicher Beckenboden ermöglichte, den verschiedenen Anforderungen an die Wassertiefe von Wellenbädern und Sportbecken zu genügen; zur Reduktion der vom Elektroantrieb gelieferten Rotationsgeschwindigkeit wurde ein Schiffswendegetriebe eingesetzt.351 Die Anlagen auf Sylt und in Büsum waren als reine Wellenbäder ohne weitere Becken oder Beckenfunktionen konzipiert. Das Büsumer Bad bot mit einem Vogelmuseum und einem Aquarium allerdings schon weitere Attraktionen, die über einen reinen Badebetrieb hinauswiesen. Mit Abmessungen von 12,5 x 34 m und 15 x 32 m waren die Becken beider Anlagen ähnlich dimensioniert; in Büsum erzeugten zwei Kolbenwellenmaschinen eine raue See, die von je einem 30 PS Motor angetrieben wurden. Die Becken beider Bäder endeten mit einem flachen Kachelboden und gekachelten Treppen, die als Ruhezone dienen sollten.352 Als Alternative zu den bisher gebräuchlichen mechanischen Wellenmaschinen wurden Mitte der 1960er Jahre pneumatische Wellenmaschinen entwickelt, die als preisgünstig, wenig störanfällig und zudem leicht regulierbar angepriesen wurden.353 349 | Rambke, S. 279. 350 | Lesser, S. 186. 351 | Auch der Drehstrommotor mit 120 PS war eine »Sonderbauart«. Siehe: Wellenschwimmbad in sportgerechtem 50-m-Schwimmbecken. In: Archiv des Badewesens, 19 (1966), S. 355. Sowie: F. Grünberger u.a., Zentralbad Düsseldorf. In: Sport- und Bäderbauten, 9 (1969), S. 107-117, zur Wellenmaschine ebenda, S. 116. 352 | D. Fabian, Bäderbauten/aquatic buildings. Handbuch für Bäderbauten und Badewesen. Anlage, Ausstattung, Betrieb, Wirtschaftlichkeit. München 1970, S. 330ff. Zu Büsum siehe auch: H. Albecht, Meerwasser-Hallen-Wellenbad Büsum. In: Sport- und Bäderbauten, 9 (1969), S. 486-489. 353 | S. Schuster, Wellenmaschinen, Hubböden, Wendebrücken, Überlaufrinnen. In: Sport- und Bäderbauten, 9 (1969), S. 416-429, S. 496-502. Ders., Konstruktionsarten,

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In einer Ausgabe der Richtlinien für den Bäderbau von 1977 werden sowohl mechanische als auch pneumatische Wellenmaschinen beschrieben; die mechanische Lösung sei korrosionsanfälliger, die pneumatische benötige mehr Energie.354 Die Neuentwicklung der pneumatischen Wellenmaschinen fiel in eine Zeit, in der die puritanische Phase des kommunalen Baus reiner Sportbäder zwar noch nicht von aufwendigeren Anlagen abgelöst war, aber eine Entwicklung in dieser Richtung begann. Im Zuge dessen wurden wieder mehr Wellenbäder eingerichtet, zumal die Preise von Wellenanlagen fielen.355 In Freizeitbädern sollten Wellenmaschinen schließlich zu den üblichen technikbasierten Attraktionen gehören.

3. Bäder, Freizeitgestaltung und Spiel Schon 1991 werfen Gottfried Pirhofer, Ramon Reichert und Martina Wurzacher in einer Publikation zur Geschichte des Badewesens rhetorisch die Frage auf, ob das Bad ein spielerischer, ludischer oder ein ritueller Ort sei.356 Die Wiedereinführung des Badens geht zwar auf Mediziner und nicht auf Spielende zurück, aber sobald Berührungsängste mit dem nassen Element zurückgegangen waren, erlangten Spiele beträchtliche Bedeutung. Sie prägten das Verhalten im Wasser so weit, dass größeren Spielräumen – Bassins – etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts gegenüber Wannenbädern und Dampf bädern der Vorzug gegeben wurde. Die spielerische, auf Planschen und Entspannung orientierte und die spielerischsportive Wassernutzung scheinen immer deutlicher in den Vordergrund getreten zu sein, wobei die Gewichtung beider verschieden austariert wurde. Die wichtigsten Spieltypen beim sportlichen Schwimmen in Bädern sind der Wettkampf agon und der mit flow-Erlebnissen verbundene Rausch ilinx, sowie das Abarbeiten an selbst gesetzten Zielen ludus, während das Planschen der paidia zuzuordnen ist. Zusätzliche wasserbasierte Attraktionen ermöglichten sowohl paidia-, als auch ludus-Spiele. Im Folgenden soll zunächst der Frage nachgegangen werden, in welcher Form die verschiedenen, zeittypischen Ausprägungen des Sachsystems Schwimmbad das Baden und Schwimmen prägten. Anschließend soll untersucht werden, wie sich zusätzliche technikbasierte Attraktionen auf das Spiel im Wasser auswirkten. S. 345-348, S. 345ff. Die pneumatische Wellenerzeugung wurde Schuster und Ch. Boes 1966 patentiert. Eine frühe Maschine ging 1967 im Meerwasserwellenbad Langeoog in Betrieb: Latta, Hölscher, Meerwasserwellenbad Langeoog. In: Sport- und Bäderbauten, 9 (1969), S. 311-315, zur Wellenanlage siehe ebenda, S. 314. 354 | Koordinierungskreis Bäder (Hg.), Richtlinien für den Bäderbau. Nürnberg 1977, S. 79f. 355 | Schuster, Konstruktionsarten, S. 345. Siehe auch: W. Teichmann, Planungsempfehlungen für Wellenbäder. In: Archiv des Badewesens, 28 (1975), S. 349-356, S. 349. 356 | Die Autoren neigen zu Letzterem; ihr Artikel ist Bädern im urbanen Raum gewidmet; siehe Pirhofer, S. 151.

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Im frühen 19. Jahrhundert werteten Bäder die Berührung mit dem Wasser durch ein luxuriöses Ambiente, Räumlichkeiten, die einen Rahmen zur Konversation boten, und ein entsprechendes Angebot an Speisen und Getränken auf: »Jetzt besitzt jedes Viertel elegante, bequeme, äußerst saubere Bäder. Man kann dort zudem ausgezeichnete Stärkungsmittel, gute Weine und herzhafte Liköre haben«, heißt es beispielsweise 1828 in einem Paris-Reiseführer.357 Einerseits erfolgte mit diesen Maßnahmen eine an Kurbädern des Adels orientierte Einpassung der Institution Badeanstalt in das bürgerliche Leben, anderseits wurde der Moment des Alleinseins im Angesicht des Wassers durch wohltuende, vergnügliche Aktivitäten vor oder nach dem Baden kompensiert. Badekarren und Wannenbäder boten ein technikbasiertes Refugium zur behutsamen Annäherung, die durch erwärmtes Badewasser unterstützt wurde. Die wachsende Bedeutung der Bassins seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Begriffswechsel von ›Badeanstalt‹ zu ›Schwimmbad‹ nach dem Zweiten Weltkrieg machen deutlich, dass sich am Verhältnis der Besucher zum Wasser etwas verschob. Mit den Bassins entstand ein neuer, nicht mehr an geographische und klimatische Gegebenheiten gebundener Raum für spielerische und sportliche Aktivitäten im Wasser, der allerdings ein durch Baulichkeiten und Reglements beschränkter Freiraum blieb. Im Gegensatz zu den meisten natürlichen Gewässern begrenzt jedes Schwimmbecken mit seiner relativ kleinen Wasserfläche gleichzeitig den Spielraum der Besucher. Im Sinne des Spiels ist damit ein abgegrenzter Bereich gegeben, der spielspezifisches Handeln gemäß eigenen Regeln ermöglicht. Insbesondere dessen bauliche Ausgestaltung wirkt sich allerdings auf die Art und Weise des Spiels aus. Zudem gilt dies für Bereiche der Techniknutzung zum Betrieb der Badeanstalten und für Einbauten, die zusätzliche Spielmöglichkeiten gewähren. Mittels Technik werden hier »Formungsbedingungen« des Spiels im Wasser gesetzt.358 Beispielsweise ist beim Wiener Amalienbad der »Plan für die Schwimmhalle … mit besonderer Rücksicht auf ihre Verwendung als Sportbad ausgearbeitet worden. … Das Schwimmbassin ist 12,5 Meter breit und 33 1/3 Meter lang, in dem sechs Schwimmer nebeneinander starten können und in dem drei Längen 100 m ergeben«, heißt es in einer zeitgenössischen Publikation.359 Hinzu kamen Sprungbretter verschiedener Standardhöhen und Zuschauertribünen für Wettkämpfe.360 Richtungweisend waren sowohl die Ausstattung des Schwimmerbeckens mit schwarzen Unterwassermarkierungen der Schwimmbahnen als auch die Trep357 | Zitiert nach Pirhofer, S. 154. 358 | Zu Formungsbedingungen mitttels Technik siehe am Beispiel der Musik: Braun/Ungeheuer, Formt die Technik die Musik?, insbes. S. 221ff. 359 | J. Barousch, Vortrag über den Ausbau des Amalienbades in Wien. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 7-4. Berlin 1925-26, S. 241-249, S. 243f. 360 | Ebenda. Damit waren alle bautechnischen Voraussetzungen für Schwimmwettkämpfe gegeben; vergleiche Drobek, Bau und Betrieb von Frei- und Hallenbädern, S. 6, archiviert im HHStA, Kapsel Badewesen 1 und 2.

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pen, die die Bahnlänge nicht tangieren. So sind durch die baulichen Gegebenheiten bestimmte Bahnlängen vorgegeben, und die Kennzeichnung der Bahnen führt offensichtlich dazu, dass der überwiegende Teil der Besucher unabhängig von den eigenen Motiven des Badbesuchs tatsächlich diesen Bahnen folgt. Im (älteren) Budapester Gellert-Bad ist hingegen eine Schwimmrichtung im Uhrzeigersinn durch Pfeile am Beckenrand vorgegeben, die ebenfalls in der Regel befolgt wird.361 Ähnliches gilt für Sprünge, deren verschiedene Sprunghöhen durch die Baulichkeiten definiert sind. Während der von den 1920er bis in die 1970er Jahre andauernden Phase, in der beim Schwimmbadbau eine Orientierung auf Sport vorherrschte und Schwimmen als spielerische Tätigkeit in diesen Rahmen gestellt wurde, bestand eine starke Tendenz zur Vereinheitlichung der Bäder. Sie lässt die technikbasierten Formungsbedingungen für das Schwimmen klar hervortreten: Sowohl die Beckenlängen als auch die Höhe von Startblöcken und Sprungbrettern wurden durch die internationale Schwimmsportvereinigung FINA festgelegt. Um einheitliche Bedingungen für Wettkämpfe zu schaffen und Ergebnisse sportlichen Schwimmens vergleichbar zu machen, wurden damit einer individuellen Gestaltung362 und daraus folgenden individuellen Schwimmerlebnissen deutliche Grenzen gesetzt. Diese Bäder waren auf agones hin optimiert und boten damit sehr gute Bedingungen für ein Sich-Abarbeiten an selbst gesteckten spielerischsportlichen Zielen im Sinne von ludus. Zudem ermöglichen sie durch langes Schwimmen den Rausch ilinx in der Variante eines flow-Erlebnisses durch eigenes Handeln. In das Bild der sportorientierten Bäder passt, dass die Startblöcke und Sprungbretter des 1966 eröffneten Stadtbad Zehlendorf in Berlin beinahe die einzigen Spielmöglichkeiten waren, die über das reine Schwimmen hinaus gingen: Eine einzige (!) zusätzliche Variante spielerisch-sportlichen Agierens boten Ringe, die die Bademeister zum Tauchen ausgaben. Rückblickend erscheinen Sportbäder der Nachkriegszeit nicht nur wegen der durch Technik unterstützten beziehungsweise vorgegebenen Fokussierung des Wasseraufenthalts auf sportliches Schwimmen gegenüber Freizeitbädern rasch an Publikumsinteresse verloren zu haben, sondern auch wegen der Zwangsführung der Badegäste während des Schwimmbadbesuchs. Sie kann als Versuch gesehen werden, die Gäste an das technische Sachsystem Schwimmbad anzupassen: »Das öffentliche Bad zwingt seinen Besucher vom Anfang bis zum Ende in ein Ablaufschema, gegen das er nicht ankommen kann. Als einzelner, als Person, hat er keine Bedeutung in diesem Schema; er kommt, wird abgefertigt, durchläuft das System, und wird entlassen. Der Vorgang ist perfekt durchorganisiert und durchkonstruiert; nur wozu er dem Besucher dienen soll, wird an keinem Punkt … verständlich« 361 | Eigene Beobachtungen. 362 | Das Rechteckbecken geriet schon in den 1950er Jahren in die Kritik; siehe z.B. Keil, Gestaltung von Freibadeanlagen. In: Archiv des Badewesens, 8 (1955), S. 6-14, S. 11.

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heißt es in einer Studie 1983.363 In einem Aufsatz des Geschäftsführers der Hamburger Wasserwerke wurde hingegen Mitte der 1950er Jahre empfohlen: »Zur Erhaltung eines klaren und bakterienfreien Wassers ist eine zwangsmäßige Führung des Badegastes vom Eintritt in die Badeanstalt bis zu seinem Austritt anzustreben«.364 Dies ging so weit, dass in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre sogenannte Duschgänge oder -schleusen eingebaut wurden, die die Besucher passieren mussten, um die Schwimmhalle zu betreten.365 Einerseits wirft die Zwangsführung ein Licht darauf, dass Techniknutzung zum Spiel in vielen Fällen mit einer Anpassung der Spielenden an die Technik verbunden ist, andererseits entspricht sie der Notwendigkeit, eine geeignete Atmosphäre, einen Freiraum zum Spielen zu gewähren, in keiner Weise. Vor dem Hintergrund der geringen Schwimmfähigkeit der Bevölkerung war das Planschen im Wasser bis zum Ersten Weltkrieg vermutlich die weitaus häufigere Spielform in Bädern als das sportliche Schwimmen. Englische Bäder offerierten zumindest in dieser Zeit ein größeres Spiel- und Vergnügungsangebot als ihre Pendants in Deutschland. Beispielsweise wurden bereits in den 1870er Jahren Vorformen des Wasserpolos gespielt, die, als Wettkämpfe ausgetragen, zahlreiche Zuschauer anzogen. Das Spiel werde sowohl in Seebädern als auch in Hallenbädern von Schwimmclubs häufig gespielt, berichtet ein Autor um 1910.366 Dabei gebe es – fährt er fort – sportliche Schauveranstaltungen für Zuschauer und Angebote für den Zeitvertreib. Hallenbäder waren nach 1900 oft nicht nur mit Rutschen, sondern auch mit Trapezen und Ringen ausgestattet, die das Schaukeln über dem Wasser und akrobatisch-sportliche Einlagen ermöglichten. Einige Bäder wie das Carnegi Bath im schottischen Dunfermline verfügten zusätzlich über Sporträume.367 Als neue Einrichtung in Londoner Bädern beschreibt ein Zeitgenosse ein sogenanntes Taucherbrett, dessen Beschreibung einer Rutsche ähnelt: Das Brett sei im 450 -Winkel geneigt und reiche bis ins Wasser; es stürze fortwährend Wasser auf ihm herab. Das Gerät ermögliche in erster Linie 363 | Opaschowski, S. 4 (Herv. Poser). Eine Studie über öffentliche Bäder der Deutschen Gesellschaft für Badewesen von 1993 belegt einen beträchtlichen Rückgang der Besucherzahlen; Freizeitbäder sind nicht genannt, wohl aber andere Sport- und Freizeitaktivitäten, die als Ursache für den Besucherzahlenrückgang ausgemacht werden; siehe: Situation der kommunalen Bäder von 1974 – 1991, S. 20, S. 23. 364 | Drobek, Bau und Betrieb von Frei- und Hallenbädern, S. 6, archiviert im HHStA, Kapsel Badewesen 1 und 2. 365 | Ein Plädoyer für Duschschleusen gibt D. Fabian, Duschgänge in Bädern. In: Sportund Bäderbauten, 5 (1965), S. 32f. Als Beispiel siehe F. Krieger u.a., Hallenfreibad Datteln. In: Sport- und Bäderbauten, 6 (1966), S. 361-368, S. 367, Abb. 4. 366 | H. Pudor, Londoner Schwimmbäder. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 5. Berlin 1911, S. 305f. Aus historischer Perspektive siehe Gordon/ Inglis, S. 61. 367 | Gordon/Inglis, S. 74f., S. 76, S. 120. Zum Carnegi Bath siehe ebenda, S. 132ff.

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regelrechtes Tauchen, aber »gewährt viel Gelegenheit zur Unterhaltung und zum Spaß«.368 Mit diesen Einrichtungen ermöglichten die Bäder vielfältige spielerisch konnotierte Bewegungserfahrungen im und um das Wasser. Trapeze und Schaukeln luden sowohl zum Abarbeiten an selbst gesteckten Zielen im Sinne von ludus und agon ein, als auch zum vergnüglichen, ausgelassenen Spiel der paidia. Zeitgenössische Indoor-Rutschen und Tauchbretter ermöglichten aufgrund ihrer geringen Länge Kindern vielleicht ein kräftiges Rauscherlebnis, das dem auf großen Wasserrutschen und Thrill rides vergleichbar ist; auf jeden Fall boten sie Raum für paidia. Aufgrund der zahlreichen Spielmöglichkeiten, die diese Bäder offerierten, hatte die Präformierung des Schwimmens durch die Beckengestaltung im Vergleich zu den deutschen Bädern geringere Bedeutung. Während die Konzeptionen von öffentlichen Hallenbädern in Deutschland von den 1920ern bis Mitte der 1970er Jahre weitgehend der Idee der monofunktionalen Schwimmhalle folgten und das Spiel damit wie eben beschrieben vorgeformt wurde, gestaltete man Freibäder schon frühzeitig so, dass sie zusätzliche Spielmöglichkeiten für Ganztagesaufenthalte boten. So finden sich beispielsweise einfache Rutschen bereits auf Abbildungen aus den 1920er Jahren (Abb. 8).369 Auch die rechteckige Beckenform wurde bei einigen Freibädern wie dem 1954 gebauten Bad des Ortes Bad Kissingen variiert, und es entstanden in Anlehnung an das zeitgenössische Nierentischdesign amorph geformte Becken mit gerundeten Rändern.370 Die zusätzlichen Spiel- und Erlebnismöglichkeiten, die diese Bäder gegenüber Sportbädern boten, bedeuteten eine Veränderung des Spielraums. Bestand er bei Sportschwimmanlagen aus dem Bassin und dessen unmittelbarem Rand (Startblöcke, gegebenenfalls Sprungtürme), so boten sie Spielmöglichkeiten im und um das Wasser, die sich auf das gesamte Freigelände erstrecken konnten und Spiele einschloss, die unabhängig vom Angebot Wasser und Schwimmen waren. Damit ist das ganze Spektrum von Caillois’schen Spielkategorien denkbar, wobei hier nur Spiele mit Wasser untersucht werden sollen. Gerade das Beispiel der Rutsche macht dabei deutlich wie hier neue Spielangebote unter Einbeziehung des Wassers entstanden, die den Spielraum sowohl örtlich als auch inhaltlich beziehungsweise typologisch erweiterten. Diese Entwicklung sollte sich mit Freizeitbädern fortsetzen.

368 | Pudor, Londoner Schwimmbäder, S. 306. 369 | Als frühes Beispiel sei die Rutsche des Strandbads Wannsee in Berlin genannt (Abb. 8 dieses Bandes). Ältere Rutschen scheinen auch in Deutschland denkbar: Eine Rutsche in einem kalifornischen Bad aus den 1880er Jahren zeigt Cartmell, S. 56, Abb. IV:4. 370 | Eine Beschreibung des Bades gibt D. Fabian, Bäder. Handbuch für Bäderbau und Badewesen. München 1960, S. 347ff.

B. Spiel, Spor t und Technik

Abb. 8: Schwimmerin auf einer Wasserrutsche, Strandbad Wannsee, Berlin um 1926.

Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Freizeit, die in Deutschland zwar in den 1920er Jahren begonnen hatte, aber erst in den 1960ern an Bedeutung gewann,371 diskutierten Badefachleute über Spielangebote in Freibädern. Ein Referent plädierte 1968 dafür, ergänzende Spielangebote so zu gestalten, dass sie möglichst viele Alternativen sportlicher und spielerischer Betätigung lassen. Es gehe darum, Spielräume zu schaffen: Man »überlasse es dem Einzelnen, diese oder jenes Spiel zu entwickeln«, statt den Besucher »zu ganz bestimmten Verhaltensweisen [zu] zwingen und so seine Findigkeit, sein Improvisationsvermögen und seinen Ideenreichtum einschlafen [zu]

371 | Siehe beispielsweise J. Dumazedier, Vers une civilisation du loisir? Paris 1962. D. Richter, Pädagogische Analyse und Bewertung des Freizeiterlebens von Jugendlichen im Zeitvergleich von 20 Jahren. = Europäische Hochschulschriften, XI/486. Frankfurt a.M. u.a. 1992. A. Schildt, Moderne Zeiten: Freizeit, Massenmedien und »Zeitgeist« in der Bundesrepublik der 50er Jahre. = Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 31. Hamburg 1995.

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lassen, statt ihn zu wecken«.372 Mit seinem Plädoyer man »hüte sich, um jeden Preis eine hektische Betriebsamkeit zu erzeugen« und ermögliche stattdessen das »schöpferische Spiel«,373 argumentiert der Referent, ein städtischer Beamter, genau in entgegengesetzter Richtung zu der Entwicklung, die sich mit ihrer Verquickung von Spiel und Konsum im Laufe der nächsten Jahrzehnte durchsetzen sollte. Mit dem Aufkommen der Freizeitbäder änderte sich das Spielangebot in den Bädern inhaltlich und strukturell. Bereits bei der Planung hatten Architekten wesentlich größere Spielräume, weil das Ziel nun lautete, ein besonderes Bad zu schaffen und den Aufenthalt zu einem so eindrucksvollen Erlebnis werden zu lassen, dass die Besucher bereit waren, erheblich höhere Eintrittspreise zu zahlen. Das Angebot zur spielerischen Freizeitgestaltung wurde nun einerseits erweitert, andererseits in neuer Form präformiert, wenn nicht standardisiert: Freizeitbäder ermöglich(t)en die spielerische Annährung an das Element Wasser, das in unterschiedlicher Intensität zur Verfügung gestellt wurde – vom Tropfenvorhang über verschiedene Strahlen im und außerhalb des Wasserbeckens bis zur geschlossenen Wasserfläche in unterschiedlich temperierten Becken. Verstärkt wurden Wellenmaschinen eingebaut, um zusätzliche Anreize zu bieten und Meeres- beziehungsweise Urlaubsillusionen zu vermitteln. Hinzu kamen Inseln, Innenraum-Felsformationen, im Falle des Tropical Islands, eines vollüberdachten und klimatisierten Freizeitparks bei Berlin, sogar kleine Mangrovenwälder. Verschiedene Rutschen, Springseile und Klettergerüste im Wasser rundeten das Inventar jener neuen Badeensembles ab. So ergab sich eine beachtliche inhaltliche Erweiterung der Spielmöglichkeiten durch zusätzliche Attraktionen. Sie führte sowohl zu einer zunehmenden Konsumorientierung des Angebots und der Besucher als auch zu einer zunehmenden Eingrifftiefe der Technik in das Spiel: Ging es zunächst darum, mit Hilfe von Technik einen Freiraum für spielerische und zunehmend sportliche Aktivitäten im Wasser zu schaffen, so begann spätestens in Freizeitbädern eine emotionale Beeinflussung der Besucher mittels Technik. Anfänge einer solchen emotionalen Beeinflussung der Besucher lassen sich jedoch bereits bei frühen technischen Konstruktionen zur Bereicherung des Badens und Schwimmens ausmachen. Hier sind insbesondere Wellenmaschinen zu nennen, die mittels künstlicher Wasserbewegung nicht nur zusätzliche Spielmöglichkeiten bieten, sondern gleichzeitig Meeres- und Urlaubsstimmung vermitteln. Entsprechend unterstreicht Recknagel bereits 1906 die vergnüglich-spielerische Aufgabe der Anlagen: »Je mehr es gelingen wird, unsere Badeanstalten zu Vergnügungsplätzen auszubilden, je reizvoller sich das Baden für Schwimmer und Nichtschwimmer gestalten läßt, desto mehr dürfen wir darauf rechnen, daß

372 | A. Laepple, Miniatur-Golf, Tischtennis, Turngeräte und Spielplätze in Freibädern. In: Archiv des Badewesens, 20 (1968), S. 133-136, S. 134. 373 | Laepple, S. 135.

B. Spiel, Spor t und Technik

das Baden populärer wird«.374 In einem Diskussionsbeitrag zu einer Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder argumentiert er 1913 mit der »besondere[n] Freude« am »Kampf mit den Wellen«, die jeder Schwimmer habe, und empfiehlt den Einbau von Wellenmaschinen.375 Zum vergnüglichen Sich-Abarbeiten an den Wellen, das als ludus gedeutet werden kann, kam die Erfahrung der Kraft des Wassers, die Besuchern gegenüber ruhendem Wasser gerade fernab vom Meer neue Körpererfahrungen ermöglichte, und ebenso wie zur Anstrengung zum Planschen und Sich-Tragen-Lassen animierte. Einerseits wurden Wellenbäder von Sportschwimmern als »schwimmsport-unfreundlich«376 empfunden und einige Becken waren in den 1960er Jahren so konzipiert, dass sie wahlweise als Wellen- und Vergnügungsbad oder als Orte des Schwimmsports genutzt werden konnten. Andererseits boten und bieten Wellenbäder eine große Bandbreite verschiedener spielerisch-vergnüglicher Handlungsmöglichkeiten, die von sportiver Anstrengung und gegebenenfalls Rauscherlebnissen über ausgelassene paidiaSpiele bis zum entspannenden Bewegt-Werden reichen. Gegenstromanlagen scheinen in den 1960er Jahren zunächst aus funktionalen Gründen entwickelt worden zu sein, um Schwimmen in kleinen Pools zu ermöglichen. Sie eröffnen sowohl Möglichkeiten des sportlichen Schwimmens im Sinne von ludus als auch der Körpermassage, die zwar auch Heilbehandlungen dienen, aber insbesondere neue Körpererfahrungen vermitteln können. Verbunden mit einem Strömungskanal sind Erfahrungen des Schwimmens und Planschens in verschieden starken Strömungen möglich. Folglich bieten Gegenstromanlagen eine Bereicherung des Spiels im Wasser und wurden bald in Freizeitbäder integriert. Basierend auf Gegenstromanlagen entstanden seit den 1970er Jahren Indoor-Surfanlagen, die den Badegästen ein zusätzliches Feld sportlicher Betätigung eröffneten.377 Verbunden war das Hallensurfen mit ludus und agon, aber auch mit der Möglichkeit rauschhafter flow-Erfahrungen. 1993 stellte ein Unternehmen Wasserkarussells für Bäder und Wasserparks vor: Diese »ersten hydraulisch angetriebenen Wasserkarussells der Welt« ermöglichten den Besuchern, sich auf zwei nebeneinander montierten Sesseln durch das Wasser gleiten zu lassen; die Anlage ist als Hängekarussell mit festen Trägern konzipiert, die um eine Mittelachse rotieren. Die Sesselpaare sind drehbar gelagert, damit sie 374 | Recknagel, Künstliche Wellenerzeugung, S. 266f. 375 | Wie verbessern wir die Rentabilität der städtischen Badeanstalten? [Diskussionsbeitrag Recknagels]. In: Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, 6-3. Berlin 1913, S. 368f., S. 368. 376 | Pflesser, S. 91. 377 | O. Frenzl, »Surfing-Pool« als Skipistensimulator. In: Sport-, Bäder- und FreizeitBauten, 17 (1977), S. 338-340. Siehe auch: Ders., Neue Einrichtungen als Publikumsmagnet für Hallenbäder. Das Beispiel Surfanlage. In: Sport-, Bäder- und Freizeit-Bauten, 26 (1986), S. 126ff. In seinem Beitrag von 1986 verweist der Autor darauf, dass Surfanlagen inzwischen Industrieprodukte seien.

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von den Fahrenden zusätzlich in Rotation versetzt werden können; zudem erzeugen die im Wasser befindlichen Körperteile einen »erhebliche[n] Wellengang«.378 Damit ermöglichen die Karussells Erfahrungen mit strömendem Wasser, laden zum Plantschen ein und bedienen so vermutlich das Spielelement der paidia. Bei dieser Einrichtung ist das Vorbild von Karussells auf dem Jahrmarkt evident; zudem lassen sich um 1900 bereits Jahrmarkts-Wasserkarussells nachweisen, bei denen die Besucher allerdings über dem Wasser schwebten.379 Während Wellenmaschinen eine große Bandbreite verschiedener Spiele und Surfanlagen eine neue Form der sportlichen Betätigung in Bädern ermöglichten, weisen Wasserkarussells und Wasserrutschen einen engen Bezug zum Jahrmarkt auf: In Amerika entstanden wohl seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert große, als toboggan bezeichnete hölzerne Wasserrutschen, die den Besuchern ermöglichen, aus einiger Höhe mit einem kleinen Wagen ins Wasser zu sausen. Diese Wagen waren so konstruiert, dass man einige Zeit über das Wasser glitt, bevor sie so weit abgebremst waren, dass sie eintauchten. Die toboggans entsprachen etwa den großen Wasserrutschen, die zeitgleich auf Jahrmärkten und in Vergnügungsparks auftauchten, und den sogenannten Rutschbergen, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts ihren Besuchern Rauscherlebnisse ermöglichten.380 Die Anlagen standen wohl meist in Strandbädern, waren häufig Teil eines Vergnügungsparks und gehörten zudem zum Angebot von Karussellbaufirmen.381 Toboggans wurden auch im Winter als Eisrutschen betrieben; diese scheinen noch populärer gewesen zu sein als die Sommeranlagen. Tobogganing wurde als Sport und Freizeitaktivität so populär, dass sich in amerikanischen Zeitungen der 1880er Jahre analog zu bicycle craze der Ausdruck toboggan craze findet: »as there seem to be no signs the toboggan craze dying out«, produziere ein Chicagoer Unternehmen 378 | Wasserkarussells für Bäder und Wasserparks. In: Archiv des Badewesens, 46 (1993), S. 229. Wasserkarussells dieses Typs scheinen allerdings kein Erfolgsmodell zu sein: Im Netz ist nach wie vor eine etwas altertümlich anmutende Website eines Herstellers zugänglich, auf der dafür geworben wird, einen Prototyp aufzustellen. Weitere Einträge beziehen sich auf Jahrmarkts-Anlagen mit Booten. Unternehmenswebsite www.luxus-liegen. de/waka/index.htm (19.2.2012). 379 | Beispielsweise ist im Vergnügungspark Ittertal bei Solingen ein Wasserkarussell für Kinder erhalten, das sich seit 1907 nachweisen lässt. Siehe: Vom Ittertaler Volksgarten zum Familienparadies. Website des Märchenwalds Ittertal, www.fun-fair.eu/index. php?id=2120 (18.2.2012). 380 | Siehe hierzu das Kapitel C.III. 381 | Beispielsweise stieg Herbert Sellners, der Gründer des Karussellbau-Unternehmens Sellner Manufacturing in Faribault (Minnesota) 1923 mit dem Bau eines Water Toboggan in die Branche ein. Siehe beispielsweise A. Fox, Carnival Time: Dreamland Amusements and Sellner Manufacturing. In: Blog Fantastical Andrew Fox, 29.3.2012, www.fantasticalandrewfox.com/2012/03/29/carnival-time-dreamland-amusements-and-sellner-manufacturing/ (16.6.2013).

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bereits im Sommer Zubehör für Winter toboggans, berichtet eine Lokalzeitung 1887.382 Mit den Worten »Those who have the toboggan craze« beginnt die New York Times einen Artikel über tobogganing im folgenden Jahr.383 Das Rutschvergnügen wird hier sowohl als Sport, als auch als »pastime« und »little amusement« verortet.384 Vergleichbar der späteren Entwicklung bei Achterbahnen führte die Popularität von Toboggans dazu, dass der Begriff auch auf andere gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen wurde. So heißt es beispielsweise in einer im Jahr 1900 erschienenen Biographie: »This gentleman finally went ›down the toboggan slide‹ in a business way«.385 Anders als in den USA verlief hingegen die Entwicklung in Deutschland und Österreich: Der Ausdruck toboggan wurde hier zur Bezeichnung hoher, spiralförmiger Jahrmarktsrutschen eingeführt, die als Vergnügungs- und Geschicklichkeitsgeschäfte den Aufstieg meist mit einer Fahrt auf einem schnellen Förderband verbanden.386 Schwimmbad-Wasserrutschen entsprachen hingegen bis etwa in die 1970er Jahre Rutschen auf Spielplätzen;387 erst im Zuge der Entwicklung von Freizeitbädern kam es zum Bau großer Rutschanlagen. Zwei junge Besucherinnen (8 und 15) waren in den 1980er Jahre besonders von einer (ersten) langen Rutsche im Alpamare fasziniert; für die jüngere wurde sie zur Mutprobe und zum zentralen Anziehungspunkt des Bades, während die ältere trotz der Attraktion Schwimmmöglichkeiten vermisste.388 382 | A Summer Industry. Chicago Women Making Toboggan Caps for the Next Winter’s Trade. In: Bridgeport Morning News vom 15.7.1887, S. 3, als pdf verfügbar auf http://news. google.com/newspapers?nid=2279&dat=18870715&id=dngmAAAAIBAJ&sjid=GgEGAA AAIBAJ&pg=4671,459473 (20.6.2013). Siehe auch: A Lively Brush (Advertisement). In: Boston Evening Transcript vom 15.1.1886, S. 8, als pdf verfügbar auf http://news.google. com/newspapers?nid=2249&dat=18860115&id=boIzAAAAIBAJ&sjid=hjgHAAAAIBAJ& pg=2455,957498 (20.6.2013). 383 | Tobogganing on Sunday. In: The New York Times vom 11.2.1888, verfügbar über das Onlinearchiv der Zeitung, http://query.nytimes.com/mem/archive-free/pdf?res=F00A14F C3B5C10738DDDA80994DA405B8884F0D3 (20.6.2013). 384 | Ebenda. Zum Bau von Schlitten und zur Verbreitung des Tobogganing siehe F. da Lice, Wintersport in Amerika. Toboggan. In: Wassersport, 6 (1888), S. 168. 385 | A. C. Anson, A Ball Player’s Career. Being the Personal Experiences and Reminiscensces of Adrian C. Anson. Chicago 1900, www.aolib.com/reader_19652_0.htm oder www. gutenberg.org/files/19652/19652-h/19652-h.htm (20.6.2013). 386 | Ein Toboggan aus der direkten Nachkriegszeit ist auf dem Wiener Prater erhalten. Siehe beispielsweise La Speranza, S. 140, S. 236, Abb. 233. 387 | Eine Rutsche aus den 1920er Jahren zeigt Abb. 8. Eine Musterkonstruktion gibt: Wasserrutsche in einem Freibad. Konstruktion und Detail 34. In: Sport- und Bäderbauten, 6 (1966), S. 231. 388 | Auf Tagebuchaufzeichnungen basierendes Gespräch mit Claudia und Rita Streblow, Hamburg, am 15.4.2011.

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Rutschanlagen in Bädern haben inzwischen eine solche Popularität erlangt, dass sie in zahlreichen Touristenzentren entstehen, die ersten Reisebüros eigene Kataloge im Programm haben und sogar Kreuzfahrtschiffe neuerdings mit Wasserrutschen ausgestattet werden.389 Die Entwicklung der Rutschanlagen fiel beziehungsweise fällt in den Konstruktiven Ingenieurbau; der TÜV setzte Sicherheitsstandards und eine DIN-Norm wurde formuliert. Erste Großrutschen in Deutschland scheinen auf die Mannesmann-Demag AG zurückzugehen.390 Nach anfänglicher Skepsis der Verantwortlichen entstanden immer aufwendigere Anlagen,391 deren Formgebung sich zunehmend an Achterbahnen orientierte und gerade in den letzten Jahren immer schwindelerregender wurde: So werden die Benutzer des 2010 fertiggestellten Doppelloopings L2 im Bad Wasserwelten in Wögl/Tirol nach einem »Raketenstart« auf einer 14 m langen nahezu senkrechten Strecke beschleunigt. Ein Wasserfilm minimiert die Gleitreibung der Rutschenden.392 Sie passieren zwei geneigte Loopings von sieben beziehungsweise 3,50 m Höhe, werden 3 g (dreifacher Erdbeschleunigung) ausgesetzt und erreichen eine Geschwindigkeit von 65 km/h; die gesamte Rutsche ist 25 m hoch und knapp 130 m lang.393 Die »technisch sehr komplexe« Attraktion bedurfte – wiederum Achterbahnen vergleichbar – aufwendiger Berechnungen.394 Sie richtet sich an

389 | Chr. Haas, Wasserrutschen: Adrenalinkick im Haifischbecken. In: Spiegel online vom 16.8.2012, www.spiegel.de/reise/aktuell/wasserrutschen-highspeed-abfahrten-doppelloopings-und-raketenstarts-a-850421.html (12.11.13). Als Beispiel für Kataloge von Reiseveranstaltern siehe: Die besten Wasserrutschen der Welt, Website des Unternehmens Restplatzbörse.at, www.restplatzboerse.at/blog/die-besten-wasserrutschen-der-welt (ohne Datum – abgerufen am 18.2.2012). 390 | Wasserrutschbahnen: Eine runde Sache? Anzeige der Fa. Rolba Freizeittechnik GmbH. In: Sport-, Bäder- und Freizeit-Bauten, 26 (1986), S. 148. Empfehlungen zur Anlage von Rutschbahnen gibt in den 1980er Jahren: H.-J. Tröger, Wasserrutschen. Gestaltung und Betrieb. In: Sport-, Bäder- und Freizeit-Bauten, 26 (1986), S. S 93 - S 98. 391 | Die Bedenken schienen so gravierend, dass in einer Anzeige eines Herstellers darauf eingegangen wird: Wasserrutschbahnen: Eine runde Sache, S. 148. 392 | Beobachtung von Johanna Poser am Beispiel einer Wasserrutsche im Schwimmbad Dortmund-Wischlingen. 393 | Siehe: Bau der »L2« in den Wörgler Wasserwelten. Pressemitteilung der Wörgler Wasser Welt GmbH & CoKG, Herbst 2009 (undatiert – abgerufen am 18.2.2012), www.openPR. de/news/362257/Bau-der-L2-in-den-Woergler-Wasserwelten.htm. Und: Erste DoppelLooping-Rutsche der Welt in Tirol. In: Kleine Zeitung vom 25.3.2010, Internetausgabe, www. kleinezeitung.at/nachrichten/chronik/2320937/erste-doppel-looping-rutsche-welt-tirol. story (29.8.2014). 394 | Das verschiedene Gewicht der Besucher und deren damit verbundenen unterschiedlichen Wegstrecken durch eine Rutsche macht die Berechnung der Konstruktionen nach Einschätzung des Mathematikers Ralph Latotzki aufwendiger als bei Achterbahnen; siehe

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Jugendliche und junge Erwachsene395 und wird ähnlich einer Jahrmarktsattraktion beworben: »›L2‹ ist die erste Doppellooping-Rutsche der Welt. Sie ist das Extremste und Geilste, was es an Looping-Wasserrutschen gibt. Jetzt wartet sie … darauf, von dir ›berutscht‹ zu werden. Aber Vorsicht: L2 ist nichts für WarmduscherInnen, BeckenrandschwimmerInnen und Weicheier! … Mit einer Spitzengeschwindigkeit bis zu 65km/h fetzt du durch eine dunkle Röhre. Zwei Loopings wirbeln dich umher. Dein Blut kocht und das Adrenalin schießt dir durch die Adern. Wenn du unten ankommst, bist du die Größte/der Größte! Wenn du ankommst …« 396

Geführte Bahn, rasante Beschleunigung in verschiedener Richtung, hohe Geschwindigkeit und Mutprobe – das sind die entscheidenden Charakteristika von Wasserrutschen und Achterbahnen.397 Inzwischen werden auf Rutschen Geschwindigkeiten erreicht, die wegen der Gefahr von Abschürfungen durch Reibung nicht mehr ohne einen schützenden Gleitfilm realisierbar sind, sodass hierfür nur Wasserrutschen (bei denen Wasser eingespritzt wird, das die Wandung benetzt und die je nach Ausführung ohne Hilfsmittel, mit Reifen oder Matten genutzt werden) und Bahnen mit Schlitten oder Wagen in Frage kommen, bei denen die Fahrenden die Wandung nicht berühren. Wasserrutschen richten sich mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen an ein ähnliches Publikum wie Achterbahnen. Die folgenden Besucherbeschreibungen handeln von Wasser-Rutscherlebnissen der jüngsten Vergangenheit, könnten sich aber auch auf Achterbahnfahrten beziehen, über die sich ähnliche Berichte finden: »Man spürt starke G-Kräfte und … ist mörderisch schnell«.398 »Anschließend beginnt die endlos wirkende, stockdunkle Rechtsspirale. Man wird hier immer schneller und verliert komplett die Orientierung«.399 Um zu Rutschen – also am Spiel teilnehmen zu können – ist es notwendig, sich der Technik auszusetzen. Dies wird hier zur Mutprobe: »Meine erste Rutsche dieser Art. Dementsprechend mulmig war es mir bei meinem ersten R. Latotzki, Wasserrutschen. Attraktionen. In: Blog Latotzki.de, Über Strukturen, Spaß und Warteschlangen, www.latotzki.de/?p=177 (18.5.2013). 395 | Erste Doppel-Looping-Rutsche, Kleine Zeitung. 396 | Schiss? – L2, die erste Doppel-Looping-Wasserrutsche der Welt. Internetseite des Unternehmens Wögler Wasserwelt, www.diewildsau.com/ (Herv. im Original, abgerufen am 18.2.2012). 397 | Zur Mutprobe auf Achterbahnen siehe das Kap. C.III.3. 398 | Besucherbeschreibung der Rutschanlage eines Freizeitbades im schweizerischen Renes: Aquasplash Renes vom 19.8.2012. In: Rutscherlebnis.de, www.rutscherlebniscommunity.de/erlebnisberichte/aquasplash-renens-19-8-2012/ (14.5.2013). 399 | Besucherbeschreibung der Rutschanlage eines Freizeitbades: Palm Beach (Rutschtest) vom 20.1.2013. In: Rutscherlebnis.de, www.rutscherlebnis-community.de/erlebnisberichte/palm-beach-%28rutschentest%29-793/ (14.5.2013).

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Rutschvorgang. … traut sich wohl keiner das Ding«.400 Parallelen gibt nicht nur zu Achterbahnfahrten, sondern auch zum Schlittensport: So vergleicht ein Entwicklungsingenieur des Berliner Instituts für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES) die Schlittenfahrt mit Jahrmarktserfahrungen: »Ja … es war beeindruckend. Man sitzt im Bob, macht eigentlich nichts, kommt aber unten an und ist völlig erledigt. Wie bei einem krassen Rummel-Erlebnis«.401 Das Sich-Aussetzen bedeutet, dass die ›Reisenden‹ auf der Rutsche, im Bob oder in der Achterbahn eine körperlich anstrengende, technische Bearbeitung ihres Körpers zulassen, die durch rasante Geschwindigkeit und kräftige Beschleunigungswechsel gekennzeichnet ist und beim Rutschen sogar zu kleinen Verletzungen wie blauen Flecken oder Abschürfungen führt, aber so starke Reize auslöst, dass dadurch ein mit dem Schwindel vertigo verbundener technogener Rausch ilinx ermöglicht wird.402 Dieser Weg zum kurzen, kräftigen Rausch ist mit ganz anderen Körperempfindungen verbunden als der mit einem flow-Gefühl einhergehende Rausch durch eigene, monotone Bewegung, der charakteristisch für das Rudern und Schwimmen ist. Technik eröffnete den Badegästen auf der Rutsche einen neuen Weg zum Rausch ilinx, der mit neuen Erlebnissen verbunden ist, die auf Jahrmarktsbesuche verweisen. Im Fall von Rutschen und Achterbahnen ist das Rauscherlebnis offensichtlich so attraktiv, dass sich im Laufe der letzten Jahrzehnte Fangemeinden gebildet haben, die beträchtliche Anfahrzeiten zu den betreffenden Attraktionen in Kauf nehmen und sich in Insiderpublikationen oder -Foren über die Anlagen austauschen.403 Gefördert von Freizeitbad-Unternehmen entwickelten sich sportliche oder sportsuggerierende Wettkämpfe, die auf Wasserrutschen ausgetragen werden; entsprechend sind die Bahnen mit Sensoren zur Zeitmessung ausgestattet, wie sie sich in ähnlicher Weise sowohl bei Racing Coasters, einer Spezialform von Achterbahnen, als auch beim Bobbahnen für den Schlittensport finden. Insbesondere in der sportlichen oder sportsuggerierenden Nutzung von Wasserrutschen besteht eine Parallelität zum Bobfahren: Hier legen bemannte Schlitten in ähnlicher Weise eine Strecke durch seitlich überhöhte Bahnen zurück wie die Nutzer moderner Wasserrutschanlagen dies tun. Beide – Bobfahrer und Rutschende – haben nur relativ geringe Einflussmöglichkeiten auf den Fahrtverlauf, Achterbahnreisende gar keinen. Bei allen drei Anlagen, den Wasserrutschen, den Bobbahnen und den 400 | Ebenda. 401 | A. Schadwinkel, »Die Jungs im Bob sind die wahren Maschinen«. Hightech im Viererbob. [Interview mit dem Entwicklungsingenieur Michael Nitsch, Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES)]. In: Zeit Online vom 26.2.2010, http://pdf.zeit. de/wissen/2010-02/technik-sport-nitsch.pdf (14.5.2013). 402 | Siehe dazu ausführlich die Kapitel C.II und C.III.3. 403 | Genannt seien stellvertretend die im Jahr 2000 gegründete Internetzeitschrift Coasters and more – Das Achterbahn-Magazin, www.coastersandmore.de, sowie das Schwimm- und Erlebnisbadportal Rutscherlebnis.de, www.rutscherlebnis.de, dessen Beiträge bis 2008 zurückgehen.

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Achterbahnen scheint das Fahrterlebnis ähnlich, wobei es vermutlich bei Rutschen ohne Hilfsmittel noch unmittelbarer ist als bei den Fahrzeug- beziehungsweise Schlittenbahnen, die dafür deutlich schneller sind als Rutschen. In Freizeitbädern bestand beziehungsweise besteht ein sehr vielfältiges Angebot von Handlungsoptionen; sie sind mit zahlreichen Möglichkeiten verbunden, verschiedene Sinneseindrücke aufzunehmen. Die Bandbreite reicht von rauschhaften Erlebnissen über echte und scheinbare Wettkämpfe bis zum entspannenden Vor-Sich-Hinspielen beziehungsweise Plätschern im Wasser. Allerdings sind diese Möglichkeiten relativ genau vorgegeben, die Rutschen in bestimmter Weise geformt, die Rotationsmöglichkeiten im Wasserkarussell durch die Dimensionierung der Anlage festgelegt, die möglichen Entdeckungen auf den Inseln oder im Mangrovenwald zuvor eingebaut, die Wasserstrahlen und Wellen in ihrer Verschiedenheit endlich. Zudem ist das Sich-selbst-Bewegen in viel geringerem Maße notwendig als im Sportbad; vielmehr werden die Besucher bewegt, massiert, bestimmten Beschleunigungen und Fliehkräften ausgesetzt. Zeitgenossen beschrieben diese Veränderung in den 1980er Jahren als »unübersehbarer Übergang vom aktiven zum passiven Baden«, das sich immer mehr durchsetze. Dieses Phänomen lasse verstärkt den Einbau von Technik notwendig werden.404 Ähnlich dem Jahrmarktsbesuch und der Auswahl eines Fahrgeschäfts wählen die Badegäste eines Freizeitbades einen Bereich, in dem etwas mit ihnen geschieht; das Erlebnis ist für sie zwar unter Umständen neu, aber prinzipiell vorgeplant und bei verschiedenen Besuchern weitgehend ähnlich. Der Wasseraufenthalt hat etwas Spielerisches, was das Sich-Ausprobieren, die Mutprobe und das Rauscherlebnis beim Rutschen oder das Reagieren auf unerwartete Reize betrifft; zudem wird es in heutigen Freizeitbädern mit Aktivitäten wie Wellensurfen möglich, gleichsam einen Hauch von verschiedenen Sportarten zu erleben. Die neuen Bäder bieten hier ein wachsendes Spielangebot im beziehungsweise mit dem Wasser, das mehr Anreize gewährt als Sportbäder. Im Fall von Freizeitanlagen wie dem Tropical Island oder der Therme Erding wird das Baden Teil eines umfassenden Erlebnis-, Sport- und Wellnessangebots. Der Aufenthalt im Wasser wird bei Freizeitbädern und -anlagen letztlich zum Konsumerlebnis, bei dem deshalb wenig direkte eigene Anstrengung notwendig ist, weil diese durch technisch generierte Bewegungen ersetzt wird; auch hierin besteht eine Gemeinsamkeit mit dem Jahrmarktsbesuch. Eine Gemeinsamkeit der Einrichtung von Freizeitbädern mit Jahrmarktsattraktionen besteht auch im Zwang zu ständigen Neuerungen. Die FreizeitbadEinrichtungen bieten von sich aus wenig freie Spielmöglichkeiten und verlieren daher – vergleichbar einzelnen Kinofilmen – an Interesse, wenn das Angebot nicht verändert wird; zudem gilt es für die Betreiber, in ihrem Bad besondere Attraktionen zu bieten um sich von der Konkurrenz abzuheben. So führt die Konsumorientierung von Freizeitbädern und Jahrmärkten dazu, dass immer neue tech404 | H. Althaus, D. Pacik, Samadhi-Tank: Ein neuer Badespaß?, auch hygienisch vertretbar? In: Archiv des Badewesens, 37 (1984), S. 88-92, S. 88.

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nische Konstruktionen notwendig sind und entsprechende Investitionen getätigt werden müssen, um neue Erlebnismöglichkeiten zu generieren. Die Bandbreite der dabei angebotenen Spiele reicht von agones über mimicry bis zu ilinx und ist im Feld von ludus und paidia zu verorten.405 Für neue Attraktionen müssen die Bäder letztlich noch häufiger modernisiert werden als klassische Anlagen, die lediglich zum kostengünstigen Schwimmen optimiert wurden und deren Wirkung auf die Besucher – im Sinne der Wahrnehmung als modern, unmodern oder historisch interessant – eher an Veränderungen der Architekturstile gebunden war.

4. Technik für das Spiel – die Perspektiven der Akteure Anders als im Fall des Ruderns, wo den Ruderern und Trainern trotz metaphorischer Nutzung des Maschinenbegriffs die Bedeutung der Technik für ihre sportlichen Leistungen wohl lange Zeit nur bedingt bewusst war und wo bei der Wahrnehmung der Verbesserung von Konstruktionen die individuellen Lösungen der Bootsbauer im Vordergrund standen, war den zeitgenössischen Fachleuten, die sich mit Badeanstalten befassten, die Technikbasiertheit dieser Einrichtungen geläufig. Schon die Namensgebung bathing machine für Badekarren406 verweist auf die Bedeutung der Technik. Für die meisten Autoren, die um 1900 den Bau von Badeanstalten darstellten, gehörte eine ausführliche Beschreibung der genutzten Technik dazu. Eine Veränderung der Bewertung von Technik thematisierte der Architekt und Barmener Regierungsbaumeister Werdelmann in seinem Vortrag auf der Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder 1906: »Bei der Anlage von Hallenbädern ist hinsichtlich der Lüftung und Heizung und ganz besonders bei der sonstigen maschinellen Einrichtung in früherer Zeit arg gesündigt worden; man verwandte alle Sorgfalt auf eine würdige architektonische Anlage und Ausgestaltung der Badeanstalten und behandelte die maschinelle Einrichtung durchaus als Nebensache, als notwendiges Übel. … Erst in neuerer Zeit fängt man an, der maschinellen Einrichtung mehr Aufmerksamkeit zu schenken; wenigstens sieht man jetzt meist doch von vorn herein schon bei der Grundrißbildung entsprechende Räume hierfür vor. … Die maschinelle Einrichtung ist das Herz der Badeanstalt, und tritt hier eine Störung ein, so erleidet der Betrieb der Anstalt sofort eine Unterbrechung«. 407

Die Einstufung von Bädern als technische Aufgabe wird auch bei Stellungnahmen zum Projekt des Thermenpalastes zwei Jahrzehnte später deutlich: Die Autoren gehen detailliert auf die konstruktionstechnischen Anforderungen des Projekts ein 405 | Vor diesem Hintergrund entstanden beispielsweise die Ausbaupläne der Therme Erding. Siehe R. Stadler, Der Himmel. 406 | Siehe Prausnitz, S. 330, der Badekarren 1913 als antiquiert beschreibt. Aus historischer Perspektive: Quecke, S. 125. 407 | Werdelmann, S. 54.

B. Spiel, Spor t und Technik

– von der großen Hallenkonstruktion über die Wasserreinigung, Heizung und Lüftung bis zu einer Maschine, die zur Reinigung eines künstlichen Sandstrandes vorgesehen ist. In einem Abschnitt zur Geschichte des Badewesens schreibt der Berliner Hochschullehrer W. Franz 1928: »Erst im vorigen Jahrhundert hebt wieder eine neue Entwicklung an. Sie ist – was die Gebäude und ihre Einrichtungen betrifft – getragen und gefördert durch die Fortschritte der Technik in der Errichtung großer wasserdichter Becken, weitgespannter Eisen- und Eisenbetondächer, Warmhaltung der Raumluft, Beschaffung und Reinhaltung des Badewassers u.v.a.« 408

Sein Kollege J. Brix unterstreicht in seiner Befürwortung des Thermenpalastes von Goldmerstein und Stodieck die Bedeutung der Technik für Hygiene und Gesunderhaltung; insbesondere verweist er auf technische Heilmittel wie künstliche Höhensonnenbäder, elektrische Bäder oder die Hydrotherapie, die in Badeanstalten zum Einsatz kommen.409 Ein Autor der Zeitschrift Sanitäre Technik von 1951 unterstreicht fast fünfzig Jahre nach Werdelmann die zunehmende Technisierung von Schwimmbädern in ähnlicher Weise: man müsse heute »der technischen Einrichtung, dem Herz der gesamten Anlage, wesentlich mehr Beachtung schenken … als früher. … Eine Vollbadeanstalt mit allen bädertechnischen Einrichtungen [Raumheizung, Lüftung, Warmwasserbewirtschaftung] gleicht heute mehr denn je einem technisierten Betrieb«.410 Die Wahrnehmung von Technik als entscheidendem Bereich von Bäderbauten bezog sich nicht nur auf deren Ausgestaltung als technische Hülle des Schwimm- und Badespiels, sondern auch auf Konstruktionen, die Spiel und Vergnügen im Bad dienten. Anlagen zur künstlichen Wellenerzeugung wurden bereits zu Beginn ihrer Entwicklung als Maschinen bezeichnet, deren Konstruktion unter Nennung technischer Daten wie der benötigten Maschinenleistung und der Tourenzahl der Wellenerzeuger entsprechend dargestellt wurde. Recknagels Argumentation, der Einbau von Wellenmaschinen mache das Baden reizvoller und führe deshalb zu einer Zunahme der Besucherzahl, verdeutlicht, dass die Vorstellung, mehr Technik ermögliche mehr Vergnügen – beziehungsweise ein reizvolleres Spiel – bereits vor dem Ersten Weltkrieg vorhanden war. Die hier skizzierte Art und Weise der Thematisierung von Technik scheint von Badefachleuten fortgeführt worden zu sein. Die Einführung von Freizeitbädern erfolgte schließlich genau der Recknagelschen Argumentation gemäß, wobei sehr viel mehr Technik die Spielmöglichkeiten erweitern und die neuen Bäder zu Attrak408 | W. Franz, Der Thermenpalast [Stellungnahme zum Bauprojekt]. In: Goldmerstein/ Stodieck, S. 3-5, S. 4. 409 | J. Bix, [Stellungnahme zum Bauprojekt Thermenpalast]. In: Goldmerstein/Stodieck, S. 12-15, S. 12f. 410 | A. Jung, Die technischen Einrichtungen eines modernen Bäderbetriebes. In: Sanitäre Technik, 16 (1951), S. 159-163, S. 159.

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tionen werden lassen sollte. Entsprechend bewirbt ein Hersteller von Freizeittechnik seine Wasserrutschen in einer Fachzeitschrift 1993 mit dem Slogan »Technik, die fasziniert«.411 Etwas anders erscheint die Wahrnehmung der Bädertechnik durch die Besucher: Während sich die Innenarchitektur an die Nutzer richtete, blieben die technischen Einrichtungen zum Bäderbetrieb für sie üblicherweise unsichtbar: Trotz der Bedeutung der technischen Anlagen für die Bäder und obwohl sich Badefachleute zumindest seit der Wende zum 20. Jahrhundert der Technikbasiertheit des Badens im Schwimmbad bewusst waren, wurde und wird sie weiterhin in historistischer Architekturtradition dem Auge des Betrachters verborgen. Um 1900 erschienen zwar zahlreiche repräsentative Publikationen, die sowohl die bauliche Gestaltung als auch die technische Einrichtung von Badeanstalten thematisierten, aber die Betrachter und potentiellen Besucher blieben hier auf die Rezeption einer medial vermittelten Welt beschränkt. Besucher von Sportbädern der 1960er bis 1980er Jahre nahmen unter Umständen Anstoß an den mit Technik verbundenen Formungsbedingungen des Bäderbesuchs wie dem Zwang, Badekappen zu tragen oder einen Duschgang zu passieren. Vergleichbar der Beschäftigung mit Achterbahnen beschreiben Fans etwa seit den 1990er Jahren Rutschanlagen unter Einbeziehung ihrer technischen Konstruktion. In jüngerer Zeit kam ein Interesse am morbiden Charme ehemaliger Schwimmbäder auf, das sich in Bildbänden, Führungen und zahlreichen mehr oder minder künstlerischen Photos im Internet niederschlägt. Thematisiert werden im Zuge dessen sowohl die Räumlichkeiten, als auch die Relikte deren technischer Einrichtungen.412 So erreicht die Technizität der Schwimmbäder deren Besucher erst nach Einstellung des Badebetriebs.413

5. Schwimmen und Bäder – Ergebnisse Bäder erweiterten und erweitern generell die Zugangsmöglichkeiten zur sportlich-spielerischen Wassernutzung, indem sie den Aufenthalt im Wasser unabhängig von Jahreszeiten und geographischen Gegebenheiten ermöglichen. Deshalb waren und sind Bäder üblicherweise Teil einer städtischen und stadtnahen Infrastruktur oder werden zur Attraktivitätssteigerung von Touristenregionen gebaut. Neben Gesunderhaltung und Vergnügen war ein zusätzliches Argument zugunsten des Bäderbaus in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs die Verschmut-

411 | 365 Tage Wasserspaß, Anzeige der Fa. Behrmann Freizeit-Technik GmbH, Hagen. In: Archiv des Badewesens, 46 (1993), S. 237. 412 | Siehe beispielsweise Leistner, Badetempel (schon 1993). Sowie Leeds International Pool. In: 3jbu reports, 18.5.2009, www.j3bu.com/?s=leeds+international (20.8.2014). 413 | Freilich ist hier von verschiedenen Besuchergruppen auszugehen.

B. Spiel, Spor t und Technik

zung der natürlichen Gewässer.414 Damit trugen ein primär technogenes Problem und dessen mangelnde Bewältigung dazu bei, dass Schwimmen und Baden zunehmend in einem technisieren Ambiente – den Schwimmbädern – stattfand. Bereits in den 1840er Jahren entstanden frühe Hallenbäder, sogenannte gedeckte Schwimmschulen. Diese technischen Sachsysteme zum innerstädtischen Baden und Schwimmen entwickelten sich zu charakteristischen Gebäuden moderner Städte um 1900. Ihr breites Angebot wurde in den 1920er Jahren von Sportbädern abgelöst. Solche Häuser entstanden in der Nachkriegszeit in großer Zahl als monofunktionale Sporteinrichtungen, bis sie seit den 1970er Jahren durch Freizeitbäder ersetzt wurden, die verschiedene Spielmöglichkeiten im und um das Wasser anboten. Die Loslösung des Wasservergnügens von Flussläufen und Seen bedeutete ei­ nen erheblichen technischen Aufwand zum Bau und Betrieb von Bädern: Neue architektonische Konzepte für große Hallen mit Wasserbecken und deren technische Infrastruktur sowie zur Strukturierung des Betriebsablaufs waren vonnöten. Hinzu kamen Einrichtungen wie Wellenmaschinen und Rutschen, die zusätzliche Spielmöglichkeiten boten. Aufgrund ihrer hohen Betriebskosten kam den Bädern – und damit speziellen Anlagen zur sportlichen und spielerischen Freizeitgestaltung – eine Pionierrolle bei der Einführung von Energiesparmaßnahmen zu. Badeanstalten, Schwimm- und Freizeitbäder boten unterschiedliche, zeittypisch charakteristische Formen des Aufenthalts und Spiels im Wasser. Ging es zunächst um Planschen, Baden und Schwimmen, so erlangte das sportliche Schwimmen in den 1920er Jahren Einfluss; sowohl Schwimmwettkämpfe als auch das Freizeitschwimmen wurden durch diese Entwicklung bis in die 1970er Jahre hinein geprägt. Bei Sportbädern standen ludus und gegebenenfalls agon im Vordergrund; zudem konnten sich Erlebnisse von flow und ilinx durch eigenes Handeln ergeben. Das Aufkommen der Freizeitbäder bedeutete einen Übergang vom aktiven zum passiven Schwimmen: anstelle des Selbsthandelns trat ein jahrmarktsähnlicher Konsum vielfältiger Wasserattraktionen. Die Bandbreite der Erlebnisse reicht von einem entspannenden Bearbeiten-Lassen des Körpers, über neue Körpererfahrungen im spielerisch-vergnüglichen Umgang mit Wasser, der oft paidia zuzuordnen ist, bis zu Thrill-Erlebnissen auf Rutschen, deren Spielqualitäten mit Mutprobe, Schwindel und Rausch als Hauptelementen jenen von Achterbahnen ähneln. Infolge der Bau- und Betriebsanforderungen lag der technische Charakter von Bädern auf der Hand. Spätestens um 1900 war allen an Bau und Betrieb beteiligten Akteuren klar, dass der Technik von Bädern erhebliche Bedeutung zukommt: Zahlreiche Beschreibungen in technischen und repräsentativen Werken thematisierten deren architektonische Gestaltung ebenso wie die technischen Anlagen. Eine umfangreiche Fachliteratur war entstanden, deren Autoren Ingenieure, Mediziner und Badefachleute waren; technische Lösungen zur Optimierung der 414 | Diskussionspapier des Hamburger Sportamts zu einem Gespräch mit Senatoren über die Finanzierung von Bädern vom 8.6.1955. Archiviert unter HHStA, Sportamt, 136-2/323.

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Bäder nahmen weiten Raum ein. Aber im Bäderbau wurde bis heute eine historistische Architekturtradition im Umgang mit Technik beibehalten: die Betriebstechnik wird vor den Bade-Besuchern verborgen und ihnen die Technizität der Bäder lediglich medial vermittelt.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks I. J ahrmark tstechnik Technik war und ist für Spielangebote auf Jahrmärkten und in Vergnügungsparks von eminenter Bedeutung.1 Gleichzeitig boten Jahrmarktsveranstaltungen einen hervorragenden Rahmen zur Vorführung von Technik. Schon Bau und Bereitstellung der Attraktionen sind mit technischem Knowhow und Fertigkeiten verbunden. Während des Betriebs sind technische Effekte, Antrieb und Steuerung als Hauptbereiche der Nutzung von Technik zu nennen. Die Darstellung von Technik umfasst eine breite Palette verschiedener Technologien. Insbesondere gewannen Motive aus der Mobilitätstechnik als Besatz von Fahrgeschäften an Bedeutung, wobei die Bandbreite von frühen Eisenbahnen, Fahrrädern und Schiffen bis zu Weltraumfahrzeugen reicht. Entscheidend war jeweils die Modernität des Gezeigten. Exemplarisch sei dies an einer jahrmarktsähnlichen Präsentation von Technik zu Beginn des 19. Jahrhunderts erläutert: 1808 stellte Richard Trevithick seine Lokomotive Catch-me-who-can in London der Öffentlichkeit vor. Die Lok zog einen kutschenähnlichen Wagen über einen Schienenkreis. Besucher konnten gegen Eintritt zwischen der Betrachtung des kleinen Zuges, der hinter einem Bretterzaun verborgen war, und einer Fahrt damit wählen.2 Es standen ihnen also die beiden jahrmarktstypischen Möglichkeiten der Annährung an Technik zur Wahl: Anschauen oder Ausprobieren respektive Mitfahren. So wurde das neue Verkehrsmittel lange vor der Eröffnung der ersten Eisenbahnlinie mit Hilfe einer jahrmarktsähnlichen Anlage popularisiert. Dabei unterstrich die an ein Kinderspiel gemahnende Namensgebung des Fahrzeugs, das für Zeit1 | Jahrmarkt wird hier als Sammelbegriff für temporäre Festveranstaltungen wie Kirmes, Schützenfest und Jahrmarkt genutzt; zudem sind Vergnügungsparks eingeschlossen. Inhaltlich ist diese Herangehensweise durch das prinzipiell ähnliche Angebot beider gerechtfertigt (s.u.). Dies korrespondiert dem Ansatz von Deborah Philips, unter dem Titel Fairground Attractions Weltausstellungen, Vergnügungsparks und Themenparks auf ihre karnevalesken Elemente hin zu untersuchen. Siehe Philips, S. 7ff. 2 | Siehe beispielsweise H. Ellis, The Pictorial Encyclopedia of Railways. Feltham 1968, S. 14.

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genossen vermutlich als ein futuristisch, eventuell auch gefährlich anmutendes ›Hightechprodukt‹ erschien, das Spielerische dieses ersten Beginns des Eisenbahnwesens. Trat hier eine Schlüsseltechnologie des 19. Jahrhunderts den Weg zu ihrer Erfolgsgeschichte an? Üblicherweise bestand der Karussellbesatz bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts aus allegorischen Figuren und Holztieren, insbesondere Pferden nebst reich verzierten Wagen und Gondeln.3 Nun sollten kleine Züge zu Attraktionen von Vergnügungsparks werden – und damit zu den ersten Karussellfahrzeugen, die moderne Technik repräsentierten. So entstand beispielsweise 1844 – wenige Jahre nach Eröffnung der ersten österreichischen Eisenbahnlinie – im Wiener Prater ein Eisenbahnkarussell, auf dem zwei dampf betriebene Lokomotiven mit kleinen Zügen im Kreis herumfuhren.4 Etwa zwanzig Jahre später folgten Velocipeten-Carusells mit Fahrrädern, die zunächst durch Körperkraft, später auch mit Dampfmaschinen angetrieben wurden.5 Bis in die 1870er Jahre blieben solche Fahrgeschäfte gegenüber anderen Jahrmarktsattraktionen allerdings in der Minderheit. Das Vergnügungsangebot wurde von Schaustellungen dominiert, die zwar Technik thematisierten,6 aber nur als eines von vielen Themen. Zentral wurde die Bedeutung der Technik für den modernen Jahrmarkt, der im Zuge der Hochindustrialisierung entstand. Nun gewannen Fahr-, Belustigungs- und Geschicklichkeitsgeschäfte zunehmend an Einfluss.7 3 | Ein sehr schönes Beispiel eines Karussells mit traditionellem Besatz ist im Ecomusée d’Alsace erhalten worden und wurde 2012 vom Europa-Park Rust übernommen. Karussells dieses Typs wurden auch weiterhin gefertigt, später kombinierten die Schausteller Pferde auch mit Kraftfahrzeugen. Häufig sind heute Ausführungen von Pferdekarussells aus Kunststoff im Retrodesign. Siehe M. Grodwohl, La fantastique épopée des carrousselssalons. Obelin 1991. Poser, Vergnügliche Industrialisierung, S. 120. A. Stadler, KarussellKünstler und Künstler-Karussells. Eine kleine Karussellgeschichte. Eine Frage des Blickwinkels. In: Szabo, Kultur des Vergnügens, S. 159-186, S. 177f. Europa-Park übernimmt traditionsreiches Salon-Karussell. Medieninformation des Europa Parks vom 24.4.2012, http://presse.europapark.com/de/presse/nachricht/datum/2012/04/24/europa-parkuebernimmt-traditionsreiches-salon-karussell/ (10.10.2013). 4 | Betreiber des Karussells war der Taschenspieler Basilio Calafati. Siehe La Speranza, S. 103f.; Storch, S. 55. 5 | Siehe beispielsweise Dering, Volksbelustigungen, S. 86ff. 6 | Meist wurden Wissenschaft und Technik gemeinsam thematisiert. Siehe St. Poser, Geistererscheinungen, Kunstfiguren und Maschinen. Schaustellerei in der Romantik. In: B. Baumüller, St. Krestin (Hg.), Zwischen Traum und Wissenschaft – Aspekte zum Zeitalter der Romantik. Publikation der wissenschaftlichen Beiträge der Romantiktagung der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus vom Herbst 2002. Cottbus 2005, S. 153-162, S. 156ff. 7 | Zur Struktur von Jahrmärkten und ihren verschiedenen Geschäftstypen siehe A. Lehmann, S. 52; sowie Dering, Volksbelustigungen, S. 9.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

Um 1900 waren etwa die Hälfte aller Jahrmarktsattraktionen Fahrgeschäfte wie Karussells, kleine Eisenbahnen oder Riesenräder und große Schaukeln, die in England sogar mit Dampf betrieben wurden.8 Wenige Jahre später folgten die ersten Achterbahnen. Damit waren nicht nur Strukturen entstanden, die den heutigen ähneln, sondern auch die Technikbasiertheit des Jahrmarktsvergnügens trat klar hervor. Zeitgenossen scheinen die modernen Plätze mit ihrer berauschenden Schnelligkeit, den lauten Orchestrien und ihrer hellen, bunten Beleuchtung den Eindruck eines beachtlichen technischen Fortschritts vermittelt zu haben. So heißt es bei Werner Sombart in einem Aufsatz zum Verhältnis von Technik und Kultur 1911: »… wenn ein großstädtischer ›Vergnügungspark‹ dem Volke mit allem Raffinement der Technik sinnbetäubende und sinnbetörende Vergnügungstricks an Stelle der alten, einfachen, harmlosen Verlustierungen bietet, so akzeptiert sie die Masse gern«. Der Autor verweist darauf, dass man sich im Vergnügungspark »als Kind einer ›großen‹ Zeit, die solche Wunderwerke der Technik schafft, fühlen kann«.9 Bereits in den 1860er Jahren waren zunächst in England, später auch in Deutschland spezielle Karussellfabriken entstanden, darunter solche wie das englische Pionier-Unternehmen Savage in King’s Lynn, das technisch aufwendige Konstruktionen fertigte und Mitte der 1860er Jahre die ersten dampf betriebenen Karussells herstellte.10 Im ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden große Fahrgeschäfte wie Riesenräder, deren Bau nicht mehr mit handwerklichem Knowhow bewältigbar war, sondern einer Ingenieurkonstruktion bedurfte.11 Die Konstruktion von ›Fliegenden Bauten‹ entwickelte sich nicht nur zur Ingenieuraufgabe, sondern mit riesigen Hebelarmen, Pneumatiken, Hydrauliken und um mehrere Achsen rotierenden Bauteilen zu einer Sonderform des Großmaschinenbaus.12 8 | Siehe beispielsweise Braithwaith, Savage, S. 76f. 9 | W. Sombart, Technik und Kultur. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 33 (1911), S. 305-347, S. 346. 10 | Braithwaite, Savage of King’s Lynn. Sowie A. Stadler, Karussellfabriken, S. 205. Als besonderer kommerzieller Erfolg erwiesen sich Schiffskarussells. 11 | Sowohl das Ferris Wheel auf der Chicagoer Weltausstellung 1893 war eine Ingenieurkonstruktion, als auch das 1897 erbaute Wiener Riesenrad, mit dessen Bau das Londoner Ingenieurbüro Basset beauftragt wurde. Siehe H. Heimann, Das Ferris-Rad. In: Zeitschrift des Vereines deutscher Ingenieure, 38 (1894), S. 7-16, Th. Hoech, Das Ferris-Rad in Chicago 1893, sowie Bauart und Berechnung von Fahrrädern, aufgehängten Wasserrädern, Schaukelrädern, Zeltdächern, Gasbehälter-Füllungen und Kuppeldruckringen. In: Zeitschrift für Bauwesen, 44 (1894), Sp. 585-598. Zum Wiener Rad: Storch, S. 54. Siehe auch F. Beck, Das Wiener Riesenrad. Fernsicht und Beschreibung. Wien 1937. 12 | Entsprechend sind Fahrgeschäfte auch ein Thema für Ingenieure: M. Burazerovic, Fliegende Bauten. Hightech im Vergnügungspark. In: VDI Nachrichten, Beilage Ingenieur Karriere, (4/2004), S. 22ff. Sowie: C. Causer, Screams, Themes, and Dreams: Your Ticket to Amusement Park Engineering. In: Potentials, IEEE, (5/2012), S. 15-22.

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Prinzipiell war das Angebot auf temporären Jahrmärkten und in stationären, ganzjährig geöffneten Vergnügungsparks jeweils zeittypisch ähnlich. Aufgrund des aufwendigen Transports waren Fahrgeschäfte im 19. Jahrhundert allerdings früher in Vergnügungsparks zu finden als auf Jahrmärkten. Seit Ausprägung des modernen Jahrmarkts bestanden zwar Unterschiede in der Größe der stationären und transportablen Fahrgeschäfte, wichtiger für die Ausgestaltung sind jedoch Lage, Größe und Adressatenkreis der Plätze. Die Jahrmärkte und Parks werden im Kontext dieser Darstellung gleichermaßen als Orte des Spiels gesehen, die bestimmte, spezifische Spielformen ermöglichen. Hierzu sind Artefakte und technische Sachsysteme notwendig, nämlich die einzelnen Geschäfte nebst ihrem Besatz, dem Antrieb und den ›Kraftzentralen‹, die die materielle Grundlage zum Spiel auf dem Jahrmarkt bilden. Jahrmarktsgeschäfte und ihre Nutzung werden deshalb im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen. Die Plätze selbst boten ursprünglich lediglich günstig gelegene Stellflächen, sodass ihre Bedeutung als Orte des Spiels gegenüber der als Teil des technischen Sachsystems Jahrmarkt bei weitem dominierte. Im Laufe der Zeit wurde zudem ihre Integration in das Sachsystem stärker, weil sie – ähnlich Campingplätzen – für die Schausteller Energie und gegebenenfalls Wasser aus den städtischen Versorgungsnetzen bereitstellten.13 Für die Besucher bedeutete und bedeutet die Nutzung eines jahrmarktsspezifischen Produkts des Großmaschinenbaus ein Sich-der-Technik-Aussetzen. Insbesondere im Fall der Thrill Rides mit ihren schnellen Bewegungen und ihrer rasanten Beschleunigung resultiert daraus, dass die Jahrmarktstechnik vergleichbar dem Technikeinsatz im Sport auf das Innere der Fahrenden einwirkt. Anders als beim Sport sind sie in Fahrgeschäften jedoch gezwungen, mehr oder minder passiv zu bleiben, und werden für die Fahrtdauer der Technik alternativlos ausgesetzt. Viel größer sind die Freiräume der Besucher im Falle der Darstellung von Technik. Hier ist ihnen die Betrachtung des Gezeigten ebenso möglich wie beispielsweise die Fahrt mit einem Fahrzeug oder die (begrenzte) Aneignung von Technikkompetenz. Dies kann zu Technikbegeisterung führen, die wiederum auf die Distribution neuer Technik zurückwirkt, wie dies im Falle der Catch-mewho-can denkbar ist. Welche Bedeutung die Technik für das Jahrmarktsgeschehen erlangt hat, wird vielleicht am besten daran sichtbar, dass inzwischen selbst Schausteller mit einem klassischen Vergnügungsangebot Technik in ihre Präsentationen integrieren – so beispielsweise die Artistenfamilie Traber, die Autos und Motorräder auf dem Hochseil nutzt.14 13 | Die Lage der Jahrmärkte im Weichbild der Stadt sowie deren infrastrukturelle Anbindung wurde beispielsweise frühzeitig von David Nye am Beispiel der USA untersucht: D. Nye, Electrifying America. Social Meanings of a New Technology, 1880 – 1940. Cambridge MA, London 1990, S. 11f. Das Thema weiterzuverfolgen würde den Rahmen der Arbeit sprengen. 14 | Bereits 1948 setzte Familie Traber ein Motorrad auf dem Hochseil ein; siehe einen Bericht der Deutschen Wochenschau vom 16.4.1948, archiviert auf der Homepage des Un-

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

II. J ahrmark tsspiele Der Redakteur der Schaustellerzeitschrift Komet, Alfred Lehmann, beschreibt Fahrgeschäfte 1952 als »Maschinen des Vergnügens«.15 Tatsächlich ist für das Jahrmarktsgeschehen eine besonders enge Koppelung von Technik, Spiel und Vergnügen charakteristisch. Jahrmarkt und Vergnügungspark bieten ihren Besuchern ähnlich dem Karneval oder dem Zuschauersport eine Gegenwelt zum Alltag,16 eine Welt voll Unbekanntem, Skurrilem, Bestaunenswertem und Berauschendem, die in beträchtlichem Maß technikbasiert ist und zahlreiche verschiedene Spielformen ermöglicht – allen voran den Rausch ilinx. Anders als im Fall des Sports hat sich allerdings bisher kein kontroverser Diskurs darüber entwickelt, ob und in wie weit der Jahrmarkt Spielmöglichkeiten bietet. Roger Caillois führte mit ilinx in den späten 1950er Jahren eine neue Kategorie in die Theorie des Spiels ein, »deren Reiz darin besteht, für einen Augenblick die Stabilität der Wahrnehmung zu stören und dem klaren Bewußtsein eine Art wollüstiger Panik einzuflößen. Es geht hier stets darum, sich in einen tranceartigen Betäubungszustand zu versetzen, der mit kühner Überlegenheit die Wirklichkeit verleugnet«.17 Als Hauptbeispiel wählt er den Jahrmarkt: »Die Jahrmarktsplätze und die Vergnügungsparks … stellen … vornehmlich die Orte dar, an denen sich die Verlockungen, die Fallen und die Aufforderungen des Rausches sammeln«,18 schreibt der Autor und fährt fort: »Der Jahrmarkt oder der Vergnügungspark erscheinen als eigentliches Gebiet der schwindelerzeugenden Apparate, der Maschinen der Rotation, der Oszillation, des Schwebens, des Sturzes, die gebaut sind, um ein Durcheinander der Organe hervorzurufen«.19 Um eine Vorstellung von der Bedeutung des Rausches auf dem Jahrmarkt zu bekommen, müsse man »nur den Umfang, die Bedeutsamkeit und die Komplexität der Geräte betrachten, die die Trunkenheit in regelmäßigen Abständen von drei bis sechs Minuten verternehmens Traber, www.traber-show.de/seiten/videos/wochenschau.html, sowie: Weltrekorde, www.traber-show.de/seiten/weltrekorde/weltr.html (3.5.2013). 15 | A. Lehmann, S. 36. 16 | Den Gegenweltbegriff nutzt auch H. Weber, Technik für den Taumel. Erlebniswelten der Berliner Unterhaltungskultur von 1880 bis 1910. In: Poser/Hoppe/Lüke, S. 36-41, S. 41. Michael Balint sieht den Jahrmarktsbesuch als »Bruch in der täglichen Routine« und vergleicht ihn diesbezüglich mit Feiertagen und Urlauben; M. Balint, Thrills and Regressions. London 1959. Dt: Angstlust und Regression. Mit einer Studie von Enid Balint. 6. Aufl., Stuttgart 2009, S. 17. Sacha Szabo beschreibt ihn als »zweite Wirklichkeit«: Szabo, Rausch und Rummel, S. 201f. 17 | Caillois, S. 32. Eine Beschreibung von durch Drehschwindel ausgelösten Rauschoder Extasezuständen versucht K. Hoffman, Drehschwindel und Extase auf dem Jahrmarkt. In: Szabo, Kultur des Vergnügens, S. 257-266, S. 257ff. 18 | Caillois, S. 151. 19 | Caillois, S. 151.

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mitteln«.20 Trotz der Dominanz des Rausches macht Caillois allerdings deutlich, dass der Jahrmarkt auch ein Ort weiterer Spielformen ist: »Aber alle Kategorien des Spiels treten hier [auf dem Jahrmarkt und im Vergnügungspark] in Konkurrenz und häufen ihre Verführungen«.21 Mit ilinx führte Caillois eine Kategorie in die Theorie des Spiels ein, deren Schwerpunkt auf dem körperlichen sowie dem physischen Erleben liegt, und die zudem aggressiven, destruktiven Tendenzen Raum lässt.22 Er ist mit diesem Ansatz, der der Idee eines schöpferischen Spiels zu widersprechen scheint, weitgehend auf Zustimmung gestoßen: Die Zuordnung des Rausches ilinx zum Jahrmarktsgeschehen wurde breit und transdisziplinär rezipiert, der Begriff ilinx verwendet und zum Teil ergänzt.23 Die Cailloissche These, dass der industrialisierte Jahrmarkt mit seinen großen Maschinen erheblich zur Etablierung des Rausches als Form des Spiels beigetragen habe,24 blieb nach Wissen des Autors dieser Arbeit bisher unwidersprochen. Etwa zeitgleich mit Caillois entwickelte der Psychoanalytiker Michael Balint seine Theorie der Angstlust, wobei ihm ebenfalls der Jahrmarkt als ein Hauptbeispiel gilt. Er fasst Schiffsschaukeln, Karussells, Berg- und Talbahnen »sowie ihre immer komplizierter und raffinierter werdenden modernen Formen« als eine Gruppe zusammen: 20 | Caillois, S. 152. 21 | Caillois, S. 151. 22 | Beispiele von Jahrmarktsaktivitäten, die aggressives und destruktives Verhalten im Spiel zulassen, sind Büchsenwerfen, Schießen oder auch Autoskooter fahren. Augenfällig wird dies insbesondere bei Schießscheiben mit Motiven wie ›Brautpaar‹ oder ›Mutter und Kind‹, die es mittels Technik ermöglichen, gängige Sinnbilder eines glücklichen Lebens zu attackieren. Die genannten Schießscheiben zählen zum Sammlungsbestand des Marktund Schaustellermuseums, Essen. Vergleiche K. Ebeling, ilinx. Zur Physik der Sensation in der surrealistischen Spieltheorie. In: Ilinx, 1 (2009), S. 141-175, S. 149. Folgt man dem Autor, so handelt es sich um eine surrealistische Konzeption. 23 | Siehe beispielsweise die wirtschaftssoziologische Arbeit von F. Goronzy, Spiel und Geschichten in Erlebniswelten: Ein theoriegeleiteter Ansatz und eine empirische Untersuchung zur Angebotsgestaltung von Freizeitparks. Berlin 2006, S. 53. Aus soziologischer Sicht siehe S. Szabo, Rausch und Rummel, S. 63ff. Als Beispiel einer ethnologischen Studie sei genannt: Th. Lipp, Gol – das Turmspringen auf der Insel Pentecost in Vanuatu. Berlin, Wien 2008, S. 339f. Der Autor bezeichnet das zwischen Ritual und Spiel angesiedelte Turmspringen, das gewisse Ähnlichkeiten mit dem Bungee-Springen aufweist, als »riskantes Spektakel«; ebenda, S. 378. Als Beispiel einer germanistischen Arbeit siehe Y. J. Gu, Transformation des Schwindels. Von der physischen Täuschung zum poetischen Schöpfungsakt bei W. G. Sebald. Berlin 2012, S. 74ff. Die Autorin geht in einem Kapitel über den technisch generierten Schwindel auf den Jahrmarkt ein. Aus philosophischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive untersucht Knut Ebeling die Genese von Caillois’ Theorie des Spiels mit Schwerpunkt auf dem Rausch: Ebeling, ilinx, S. 141-175. 24 | Caillois, S. 35, S. 150ff., auszugsweise zitiert in der Einführung dieser Arbeit.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks »Alle Vergnügungen dieser Gruppe sind mit Schwindel verbunden, das heißt, mit einer Situation, in der eine bestimmte Form von Angst geweckt und ertragen wird. … In allen Lustbarkeiten und Vergnügungen dieser Art lassen sich drei charakteristische Haltungen beobachten: a) ein gewisser Betrag an bewußter Angst, oder doch das Bewußtsein einer wirklichen äußeren Gefahr; b) der Umstand, daß man sich willentlich und absichtlich dieser äußeren Gefahr und der durch sie ausgelösten Furcht aussetzt; c) die Tatsache, daß man in der mehr oder weniger zuversichtlichen Hoffnung, die Furcht werde durchgestanden und beherrscht werden können und die Gefahr werde vorübergehen, darauf vertraut, dass man bald wieder unverletzt zur sicheren Geborgenheit werde zurückkehren dürfen.« 25

Der Autor nutzt zur Beschreibung des Jahrmarktsgeschehens die Bezeichnungen ›Vergnügungen‹ und ›Spiele‹ (games) synonym.26 Durch das Schwindelvergnügen sieht er ein Gefühl der »primäre[n] Liebe« befriedigt und bringt die damit verbundene Angstlust in Verbindung mit einer Regression der Betreffenden.27 Auch bei Caillois klingt das Phänomen der Angstlust als Teil des Rausches durch: Die Fahrgeschäfte fügten – wie er beobachtet – den Besuchern nur »einen vorübergehenden Schrecken [zu], der sich rasch in Lachen verwandelt, … [oder] sich … beim Verlassen der infernalischen Maschine sofort in eine unaussprechliche Erleichterung umsetzt«.28 Tatsächlich werden die Wünsche von Praterbesuchern in einem zeitgenössischen Büchlein in ähnlicher Weise beschrieben: Die um 1900 üblichen Illusionen hätten an Bedeutung eingebüßt, stattdessen bevorzuge »der Besucher von heute eine Funktion des Vergnügungsparks … den sensorischen, physiologischen Reiz. Er will geschleudert und gedreht, gestürzt und aufgefangen werden und genießt die Angriffe auf seinen Vestibularapparat«.29 In einer Arbeit über das Phänomen des Schwindels von 2012 wird der Lunapark aus historischer Perspektive »als repräsentativer Ort … [moderner Technik hervorgehoben], an dem der Schwindel zum Gegenstand des lusterregenden Spiels wird«.30 Vergleicht man das Spielangebot auf Jahrmärkten mit dem von Kinderspielplätzen, so fällt bei unterschiedlicher, altersangepasster Intensität der Erlebnismöglichkeiten eine prinzipielle Ähnlichkeit auf: Geschicklichkeit, Schwindel, Rausch scheinen die geräte- beziehungsweise technikbasierten Hauptelemente des Spiels an beiden Orten zu sein; das Glücksspiel ist ver25 | Balint, S. 20. 26 | Spiel/game: Balint, englische Originalausgabe, S. 20, deutsche Ausgabe, S. 18. 27 | Balint, S. 83. 28 | Caillois, S. 32. Zitat: Ebenda, S. 153. 29 | F. Pernkopf, H. Leiter, Rund um das Riesenrad. Ein Buch vom Wiener Prater. Wien 1966, S. 25 (Herv. im Original). Das reich illustrierte Buch dürfte als Reiselektüre oder -andenken gedacht gewesen sein. 30 | Gu, S. 76. Lunaparks gab es Anfang des 20. Jahrhunderts an vielen Orten; zur Frage, ob es sich nur um einen neuen Namen handelte, oder um eine neue, aus den USA übernommene Konzeption siehe Puttkammer/Szabo, S. 7ff.; sowie Mohun, Amusement Parks, S. 102ff.

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treten, und einige Angebote bieten Anreiz zum Wettkampf oder zum Rollenspiel. Folgt man dieser Überlegung, so erscheint der Jahrmarkt als ein Spielplatz für alle Altersgruppen, wobei der Schwerpunkt auf Jugendlichen und Erwachsenen liegt.31 Der Soziologe und Kulturtheoretiker Sacha Szabo unternimmt es, Jahrmarktsangebote auf die Cailloisschen Spieltypen hin zu untersuchen. Im Spielbegriff verbinden sich für ihn auf dem Festplatz »das eigentliche Tun (also der Besuch einer Fahrattraktion) und das rauschhafte Erleben eines Jenseits der Alltagswelt«.32 Das Glücksspiel alea ist seiner Einteilung nach, die auch Verkaufsgeschäfte wie Losbuden und Restaurationen auf dem Jahrmarkt einbezieht, nur schwach vertreten, während er die Hälfte aller Attraktionen dem Rausch ilinx zuordnet.33 Szabos Ansatz wird im Folgenden Hauptbezugspunkt der historischen Spiel-Analyse sein. Dies soll wiederum an Beispielen bestimmter Fahrgeschäfte geschehen, 1) den Thrill Rides, die neue Körpererfahrungen vermitteln, wenn sich die Besucher der Technik aussetzen, und 2) den Selbstfahrgeschäften, die – wie Autoskooter – den Fahrenden eine relative Autonomie gewähren, ihnen Möglichkeiten zu ersten Erfahrungen im selbstständigen Umgang mit Technik, zur Aneignung von Technikkompetenz geben. Mit der exemplarischen Betrachtung dieser beiden Gruppen scheint der Bogen der möglichen Umgangsformen mit Technik auf dem Jahrmarkt von zwei Eckpunkten her aufgespannt. Ebenso charakteristisch wie Spiel und Vergnügen ist die kommerzielle Ebene des Jahrmarkts, dessen Treiben sich in Anlehnung an seine ursprüngliche Marktfunktion als scheinbar spielerisches Einüben von Regeln der Konsumgesellschaft deuten lässt.34 Für die Veranstalter bedeutet das Vergnügungs- und Spielangebot – wiederum vergleichbar dem Zuschauersport – harte Arbeit, von der sie ihren Lebensunterhalt bestreiten.35 Dennoch liegen Spiel und Vergnügen nicht nur auf der 31 | Siehe dazu Szabo, Rausch und Rummel, S. 49f. 32 | Szabo, Rausch und Rummel, S. 68. 33 | Szabo, Rausch und Rummel, S. 65. 34 | Zur ursprünglichen Funktion der Jahrmärkte zur Warendistribution siehe beispielsweise U. Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914. = Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 3. München 1999, S. 36f. 35 | Zur sozialen Stellung von Schaustellern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe beispielsweise die Regionalstudie von U. Hinrichsen, S. Hirschbiegel, »Gewerbe, welche eine herumtreibende Lebensart mit sich führen«. Hausierer und Schausteller in SchleswigHolstein zwischen 1774 und 1846. = Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins, 39. Neumünster 1999. Eine Darstellung der Geschichte einzelner Schaustellerfamilien und ihrer Geschäfte seit dem späten 19. Jahrhundert gibt Slapansky, Der Böhmische Prater. Susanne Abel untersucht das Schaustellerleben am Beispiel Bremens in der Nachkriegszeit: S. Abel, Bremer Schausteller 1945-1985. Zum Wandel von Arbeit und Leben. = Schriftenreihe der Volkskundlichen Kommission für Niedersachsen, 3; Beiträge zur Volkskunde in Niedersachsen, 2. Göttingen 1988. Einen Überblick bis in die jüngste Vergan-

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

Seite der Besucher: Schausteller spielen nicht nur für das Publikum, sondern auch mit ihm, indem sie eine bestimmte Atmosphäre schaffen, die Besucher in außergewöhnliche Situationen bringen und Emotionen schüren.36 Hierzu ist – wie sich zeigen wird – die Technik von eminenter Bedeutung. Die ›Jahrmarktsmischung‹ aus Ernst und Spiel, aus Vergnügen, dessen kommerziellem Angebot und dem ausgesprochenen Zwang, sich als Geschäftsinhaber dem jeweiligen Publikumsgeschmack anzupassen, lässt die Volksbelustigung zu einem Spiegel der Gesellschaft werden, an dem sich Vorlieben, Einstellungen und Themen einer Zeit ebenso ablesen lassen wie Moden und langfristige Entwicklungen. Nicht von ungefähr empfiehlt schon Ernst Bloch, den Jahrmarkt zu analysieren: »Es ist eine Welt, die zu wenig auf ihre spezifischen Wunschgegenden untersucht worden ist«.37

III. F allbeispiel : Thrill rides Fahrgeschäfte sind zentrale Jahrmarktsorte des technisierten Spiels und Vergnügens, gelegentlich auch spielerisch-sportlicher Leistungen. Das folgende Kapitel ist der Fahrt auf sogenannten Thrill rides gewidmet, außerordentlich schnellen Fahrgeschäften, die ihre Reisenden erheblichen Beschleunigungen aussetzen. Dabei sollen die mit der Fahrt verbundenen Spielformen in Zusammenhang mit der technischen Entwicklung der rides analysiert werden. Da technische und kommerzielle Bedingungen für Schaustellungsgeschäfte ineinandergreifen, soll die kommerzielle Ebene im Rahmen der Untersuchung dort einbezogen werden, wo sich das finanzielle Interesse der Schausteller über die technische Konstruktion auf das Spielangebot auswirkte. Anders als beim Rudern und Schwimmen oder auch bei Fahrgeschäften, die den Besuchern selbsttätiges Fahren ermöglichen, geht es bei Thrill rides nicht um das Erlernen einer Aktivität im Sinne der Aneignung einer Kulturtechnik, vielmehr ist für die Fahrt ›lediglich‹ die Bereitschaft des Sich-der-Technik-Aussetzens notwendig, das unterschiedlich bewußt und aus verschiedenen Motiven geschehen kann. Ein Sich-Technik-Aussetzen ist in verschiedenen Varianten und Intensitätsgraden eine charakteristische Anforderung an Mitglieder technisierter Gesellschaften und kann zur Mutprobe werden, wenn es bewußt geschieht. Die Mutprobe und der mit Schwindel vertigo verknüpfte Rausch ilinx sind denn genheit vermittelt M. Ramus, Schausteller. In: Szabo, Kultur des Vergnügens, S. 209-223. Zur Geschichte der Arbeit für Festveranstaltungen sei exemplarisch auf Rainer Leng verwiesen, der die Arbeit von Büchsenmachern für höfische Feuerwerke des 16./17. Jahrhunderts beschreibt. Siehe R. Leng, Feuerwerk zu Ernst und Schimpf – Die spielerische Anwendung der Pyrotechnik im Lustfeuerwerk. In: Poser/Zachmann, S. 85-111, S. 98ff., insbes. S. 104. 36 | Ein Beispiel bieten Steilwandfahrten; siehe Opschondek/Dering/Schreiber, S. 7, S. 19, S. 24, sowie zur Interpretation Poser, Vergnügliche Industrialisierung, S. 117. 37 | E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1. Frankfurt a.M. 1969, S. 421.

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auch die zentralen Spielformen, die im folgenden Kapitel behandelt werden. Dabei wird sich erweisen, dass die technische Perfektionierung der Fahrgeschäfte und die damit verbundene Intensivierung von Beschleunigungserlebnissen mit einer Zuspitzung des Spiels auf Mutprobe und ilinx einherging, während andere Spielmöglichkeiten eingeschränkt oder unterbunden wurden. In diesem Kapitel wird ein Bogen von frühen Rutsch- und Loopingbahnen, die Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts vermutlich die ersten technikbasierten Rauscherlebnisse im Kontext Jahrmarkt ermöglichten, über Achterbahnen um 1900 bis zu modernen Roller Coasters gespannt,38 die dieses Rauscherlebnis in perfektionierter Form anbieten. Vergleichbar dem Kapitel über Schwimmen und Badeanstalten ergibt sich dabei eine Strukturierung nach einzelnen Attraktionen, die weitgehend als chronologische Einteilung gelesen werden kann: Rutschen und Loopingbahnen verloren auf den Festplätzen in Deutschland nach 1900 gegenüber Achterbahnen an Bedeutung39 – mit Ausnahme von Wasserrutschen, die häufig mit Achterbahnfahrstrecken kombiniert wurden. Bau und Nutzung dieser Rutschen unterstreichen die Ähnlichkeit des technisierten Spiels in Freizeitbädern und auf dem Jahrmarkt.

1. Technikgeschichte von Rutschen, Loopings und Achterbahnen Anfang des 19. Jahrhunderts gewann das Rutschen als technikbasiertes Spielund Freizeitvergnügen zunehmende Popularität. Vom »Wunder der Rutschberge« berichtet entsprechend das Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode 1817.40 Bereits 1816 war in Paris sogar ein erstes Theaterstück, eine Komödie, über das Rutschen entstanden.41 Ausgehend von einem Wintervergnügen auf künstlichen, vereisten Hügeln wurden für den Sommerbetrieb Wagen eingeführt. Auf großen Rutschanlagen rollten die Besucher in spurgeführten Wagen eine geneigte, oft auch wellenförmig gestaltete Fläche hinunter. Dazu entstanden Holzgerüste oder Türme mit Rampen für die Abfahrt. Rutschbahnen sind sowohl hinsichtlich der Transporttechnik als auch in Bezug auf das Erlebnis- beziehungsweise Spielangebot Vorläufer von Achterbahnen.

38 | Diese Attraktionen lassen sich je nach Perspektive einem oder verschiedenen Fahrgeschäftstyp/en zuordnen. Hinsichtlich ihres Spielangebots liegt Ersteres nahe, hinsichtlich ihrer technischen Ausführungen Letzteres; hier werden sie als verschiedene Unterkategorien oder Ausprägungen des Geschäftstyps Thrill rides betrachtet. 39 | In England blieben Jahrmarktsrutschen hingegen erhalten und zählen nach wie vor zum Standardgeschäft; F. Lanfer, 100 Jahre Achterbahn. o. O. 1998, S. 12. 40 | Die Rutschberge in Paris. In: Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, 32 (1817), S. 627-632, S. 628. Online verfügbar über die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (ThULB), http://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_ jpvolume_00055985. 41 | Les montagnes russes, ou le temple de la mode, vaudeville en 1 acte. Paris 1816.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

Abb. 9: La course des montagnes russes à Paris, satirische Graphik aus der Serie ›La suprême bon-ton‹ von 1816. Bei St. Petersburg entstand zwischen 1762 und 1774 der große, dreiflügelige Gartenpavillon Katalnaya Gorka mit einer Rutschbahn. Sie verfügte für die Sommerperiode über spurgeführte Wagen, die nach der Abfahrt über zwei mit Seilwinden versehene Rückwege rechts und links der Strecke wieder zur Startposition gezogen wurden; diese Anlage, an deren Beispiel bereits der mit Rutschbahnen verbundene technische Aufwand erkennbar ist, wird von mehreren Autoren als die erste Sommerbahn genannt.42 Schon 1665 ist jedoch im Versailler Schlosspark eine als »ramasse« und »roulette« bezeichnete Rutsche nachgewiesen: Ein mit Rollen oder Rädern versehener, großer hölzerner Schlitten für acht bis neun Personen fuhr mit hoher Geschwindigkeit auf hölzernen Schienen einen Hügel herab. Ob eine Verbindung dieser Anlage zu den Ende des 18. Jahrhunderts in Russland entstandenen Sommerrutschbahnen besteht, die für weitere Rutschbahnen in ganz Europa namensgebend sein sollten, ist unklar.43

42 | Siehe beispielsweise Cartmell, S. 20. Der Autor gibt die Inbetriebnahme mit 1784 an. Siehe auch Dering, Volksbelustigungen, S. 50f., sowie: Szabo, Rausch und Rummel, S. 153f. 43 | M. Seiler, Die russische Rutschbahn auf der Pfaueninsel. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, 89 (1993), S. 117-124, S. 120f. Der Autor verweist auf M. Raynal, L’escarpolette et la ramasse. Marly 1691.

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1804 wurde eine Rutschbahn mit Wagen in Paris gebaut; sie war so attraktiv, dass nicht nur ihr Name Montagnes russes prägend werden sollte, sondern es zu einer wahren Rutschbahneuphorie kam (Abb. 9). Gemeinsam mit Loopingbahnen, die als Centrifugal Railway und Chemin du Centrifuge parallel in England (1843) und Frankreich (1846) entstanden, sollten Rutschbahnen die Thrill rides des 19. Jahrhunderts werden. Sie hatten damit eine Funktion, die im 20. Jahrhundert mit Achterbahnen verbunden wird. Diese Fahrgeschäfte kamen Ende 19. Jahrhunderts in den USA auf, wurden 1908 in Deutschland eingeführt und gehörten bald zu jedem großen Festplatz. Im Französischen ist der im 19. Jahrhundert für Rutschbahnen eingeführte Begriff Montagnes russes für Achterbahnen erhalten geblieben und stellt eine Verbindung zu deren Vorläufern her. Die Sprachfigur jouer aux montagnes russes verweist auf das Spielerische der Fahrt. Während die Sommerrutschbahn bei St. Petersburg, die in einem Teil eines Schlossparks, dem Orienbaum-Garten, errichtet wurde, vermutlich höfischem Publikum diente, begann etwa dreißig Jahre später mit dem Bau der Montagnes russes in Paris eine Popularisierung des Rutschvergnügens von europaweitem Einfluss: Im Zuge der nun beginnenden Rutschbahn-Euphorie entstanden Anlagen in zahlreichen europäischen Städten.44 So wurden allein in Paris fünf oder sechs und im Umfeld Berlins mindestens drei große Rutschen errichtet. An den Pariser Champs Elysées erbaute man 1817 mit den Promenades Aériennes eine große doppelläufige Anlage, die eine kontinuierliche Fahrt ermöglichte und damit konzeptionell als erste Achterbahn gesehen werden kann. Eine weitere Rutschanlage von 1817, die Niagara Fälle im Pariser Jardin Ruggieri, endete in einem zwanzig Meter tiefer liegenden Fluss und lässt sich als Vorläufer von Wasserrutschen einordnen.45 Rutschberge waren so attraktiv und infolgedessen so bekannt, dass sie nicht nur in Frankreich begriffsbildend wirkten. So veränderte sich die auf das gleichnamige italienische Städtchen zurückgehende Bezeichnung Tivoli für Vergnügungsorte im Laufe des frühen 19. Jahrhunderts: sie wurde zunehmend auf Orte beschränkt, die auch eine Rutsche boten. Umgekehrt wurden Rutschberge als

44 | Rutschberge. In: Pierer’s Universal-Lexikon, 14. Altenburg 1862, S. 632, www.zeno. org/nid/20010788867. Rutschberge. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon, 17. Leipzig 1909, S. 340. Aus historischer Perspektive siehe A. Lehmann, S. 42ff., Dering, Volksbelustigungen, S. 50ff.; U. Geese, Eintritt frei, Kinder die Hälfte. Kulturgeschichtliches vom Jahrmarkt. Marburg 1981, S. 101ff. 45 | Cartmell, S. 22. Zum frühen Vergnügungsgarten Jardin Ruggieri siehe J. Weisser, Zwischen Lustgarten und Lunapark. Der Volksgarten in Nymphenburg (1890-1916) und die Entwicklung der kommerziellen Belustigungsgärten. München 1998, S. 36. Krünitz unterscheidet russische, englische, französische und Schweizer Rutschberge, Cartmell nennt ägyptische. Siehe Cartmell, S. 22. Sowie: Rutschberge, Rutschbahnen. In: Krünitz, 129 (1823), S. 160-167, S. 162.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

Tivoli bezeichnet und damit zum Synonym für Orte von Spiel und Vergnügen.46 Entsprechend war im Kreuzberger Tivoli bei Berlin 1829 eine Rutsche die Hauptattraktion. Sie war so anziehend, dass sie als Motiv eines frühen Neuruppiner Bilderbogens ausgewählt wurde, deren beachtliche Verbreitung wiederum erheblich zur Popularisierung der Rutschanlage beigetragen haben dürfte.47 Bereits die Preisgestaltung des Tivoli verweist auf den Publikumsandrang und damit die Faszination, die von der Rutschbahn ausgegangen sein muss: So kostete der Eintritt für den gesamten Vergnügungspark fünf Silbergroschen, während sich das Unternehmen eine einzige Rutschfahrt mit zweieinhalb Silbergroschen bezahlen ließ. Das Geschäft ging so gut, dass die Betreiber schon ein Jahr später eine Restauration mit Vergnügungsangeboten namens Tivoli bei Wien eröffneten, deren Hauptattraktion ebenfalls eine Rutschbahn war.48 Dem entspricht, dass die Pariser Rutschberge im Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode 1817 als Goldberge beschrieben werden, die ihren Besitzern erhebliche Einnahmen bescheren.49 Der Kopenhagener Tivoli wurde 1843 mit einer doppelläufigen zweitürmigen Rutschbahn eröffnet.50 Eine Fahrt auf der ebenfalls doppelläufigen und zweitürmigen Schwedischen Rutschbahn mit elektrischer Beleuchtung zählte noch 1888 zu den begehrtesten Vergnügungsangeboten des Parks Zum Sternecker in Weißensee bei Berlin.51 Rutschbahnen schienen so bedeutend, dass mehrere zeitgenössische Lexika – darunter bekannte Werke wie Krünitz‹ Oekonomische Encyklopädie (1823) und Das Große Conversations-Lexicon von Meyer (1851) – ihnen ausführliche Artikel widmeten.52 Erst mit dem Aufkommen von Achterbahnen sollte ihre Bedeutung abnehmen – mit Ausnahme von Wasserrutschen.53 46 | Tivoli. In: Allgemeines deutsches Conversations-Lexicon für die Gebildeten eines jeden Standes … in 10 Bänden, 10. Leipzig 1841, S. 218f. 47 | A. Lehmann, S. 42, S. 47. 48 | Siehe beispielsweise: Tivoli. In: L. Helling, Geschichtlich-statistisch-topographisches Taschenbuch von Berlin und seinen nächsten Umgebungen … Berlin 1830, S. 414f. Folgt man dem Autor, so bot der Kreuzberger Tivoli eine »Kreisfahrbahn, [die] fälschlich Rutschbahn genannt« wird (S. 414). Zu Wien siehe: M. Bermann, Alt und Neu Wien. Geschichte der Kaiserstadt und ihrer Umgebungen seit dem Entstehen bis auf den heutigen Tag und in allen Beziehungen zur gesammten Monarchie. Wien u.a. 1880, S. 1078. Siehe auch: Tivoli. In: F. Czeike (Hg.), Das grosse Groner-Wien-Lexikon. Wien u.a. 1974, S. 809. Das Lexikon bringt eine Abbildung eines geraden Rutschberges. 49 | Die Rutschberge in Paris. In: Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, 32 (1817), S. 628. 50 | Siehe L. Skak-Nielsen, Tivoli og verden uden for. Kopenhagen 2000, S. 29. 51 | Abbildung bei H. Weber, Technik für den Taumel, S. 39. 52 | Rutschberge, Rutschbahnen. In: Krünitz, 129 (1823), S. 160-167. Rutschberge. In: Das große [Meyers] Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände, II/6. Hildburghausen u.a. 1851, S. 807. 53 | Dering, Volksbelustigungen, S. 117.

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Wasserrutschen boten und bieten mit ihren Rutschgefährten, die gleichzeitig als Boote fungieren und von der Bahn ins Wasser sausen, gegenüber den herkömmlichen Rutschbergen eine zusätzliche Erlebnisebene, vermutlich zusätzlichen Thrill. Sie verbreiteten sich als Jahrmarktsattraktion seit den 1890er Jahren; frühe große Rutschen dieses Typs boten der Vergnügungspark der Chicagoer Weltausstellung 1893 und der Pariser Jardin de Paris mit seinen 1895 oder 1896 errichteten Montagnas nautiques.54 Eine der ersten großen Wasserrutschen in Deutschland wurde für die Berliner Gewerbe-Ausstellung in Treptow (bei Berlin) 1896 errichtet. Spätestens in den 1920er Jahren entstanden transportable Wasserrutschen; beispielsweise hatte das Hannoversche Schaustellerunternehmen Haase von den 1920er bis in die 1950er Jahre mindestens eine Wasserbahn in Betrieb.55 Solche Wasserrutschen blieben im Gegensatz zu den üblichen Rutschen mit Wagen trotz der Verbreitung von Achterbahnen Bestandteil des Jahrmarktsangebots; bei moderneren Geschäften wird die Wasserfahrt meist mit einer achterbahnähnlichen Landstrecke kombiniert.56 Frühe Loopingbahnen entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst in Paris und London. Im Anschluss an eine steile Gefällestrecke sauste ein spurgeführter Wagen durch einen Looping. Das englische Year Book of Facts in Science and Art berichtet 1843 über eine eiserne Centrifugal Railway, die in London und Liverpool gezeigt wurde. Ein junger Mann und eine junge Frau seien beide »without the slightest inconvenience«57 nach einer Loopingfahrt aus dem Wagen gestiegen. Gezeigt wurde hier zunächst eine Schaustellung: »The exhibition is exceedingly curious, as well worthy to attention of the public«.58 In einem Pressebericht über die Pariser Chemin du Centrifuge eines Ingenieurs oder Ingenieurbüros Clavières von 1846 wird die ›unglaubliche‹ (und sicherlich überschätzte oder bewusst zu hoch angegebene) Eintrittsgeschwindigkeit von 150 Meilen pro Stunde in den

54 | E. B., Im Vergnügungspark der Berliner Gewerbe-Ausstellung. Zeitungsartikel mit Stich einer Wasserrutsche – vermutlich aus der Illustrirten Zeitung zwischen Mai und Oktober 1896, Privatbesitz. Siehe auch G.-A. Langlois, Folies, tivolis et attractions: les premiers parcs de loisirs parisiens [Ausstellungskatalog]. Paris 1991, S. 53. 55 | F. Lanfer, 100 Jahre Achterbahn, S. 54. 56 | Aufgrund der Größe der Anlagen eignen sie sich für Vergnügungsparks und große Jahrmärkte; so ist beispielsweise auf dem Hamburger Dom in den letzten Jahren eine Wasserrutsche vertreten (eigene Beobachtung). 57 | The Year-Book of Facts in Science and Art, Exhibiting the Most Important Discoveries and Improvements of the Last Year, in Mechanics and the Useful Arts, Natural Philosophy, Electricity, Chemistry … London 1843, S. 15. 58 | The Year-Book of Facts in Science and Art (1843), S. 15. Auch ein Londoner Ankündigungsblatt um 1850, das Schützmannsky, S. 47, zeigt, deutet eher auf eine Schaustellung, denn auf ein Selbstfahrgeschäft hin.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

Looping genannt.59 Auch Loopingbahnen verbreiteten sich rasch. Sie wurden so bekannt, dass sie – wie schon die Rutschbahnen – Eingang in zeitgenössische Lexika fanden. Beispielsweise widmet Meyers Großes Konversations-Lexikon von 1909 Loopings unter dem Stichwort Schleifenfahrt einen kleinen Eintrag; im Artikel Rutschberge wird erläutert, dass man auch Rutschen baue, »die am Ende des Weges oft eine aufrechte Schlinge bilden, die man, durch die Zentrifugalkraft gehalten, mit nach unten hängendem Kopf durchfährt«.60 Eine Vielzahl von Zeitungsartikeln und Anzeigen vermittelt das Bild einer beachtlichen Popularität von Loopings, das durch die Lexikoneinträge bestätigt wird. Dieses Ergebnis erscheint zunächst verblüffend, weil Loopingfahrten nicht ganz ungefährlich waren: Waren die Loopings als Kreise ausgeführt, in die die Gefällestrecken ohne Übergangsradien hineinführten, so wurde die Beschleunigung am Übergang in den Kreisbogen so hoch, dass dies zu Rückenschäden führen konnte. Hinzu kamen Abstürze, weil die Wagen noch keine Sicherung gegen ein Herabfallen aus dem Looping hatten. Trotz der Risiken blieb die Attraktivität dieser Anlagen zumindest im langen 19. Jahrhundert ungebrochen. Tatsächlich weisen beispielsweise zwei Loopingbahnen auf Coney Island Standzeiten von sieben und neun Jahren auf. Sie müssen also hinreichend attraktiv gewesen sein, um sich wirtschaftlich zu rentieren, und sicher genug, um einem Verbot zu entgehen.61 Auch in den 1930er Jahren waren Loopings offensichtlich noch so populär, dass 1933 eine »Überschlagschaukel« unter dem Namen Looping the Loop eingeführt wurde.62 Erst ein Paradigmenwechsel in der Bewertung von Risiken, der sich vermutlich auf dem Jahrmarkt langsamer auswirkte als in der Pro-

59 | Journal du Havre von 1846, ausschnittweise in englischer Übersetzung abgedruckt bei Cartmell, S. 27. 60 | Schleifenfahrt. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon, 17 (1909), S. 840. Zitat: Rutschberge. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon, 17 (1909), S. 340. Siehe auch: Centrifugal-Eisenbahn. In: Pierer’s Universal-Lexikon, 19 (1865), S. 823. 61 | Die New York Times berichtete um 1900 regelmäßig über (zahlreiche) Unfälle in Vergnügungsparks; Loopingbahnen werden selten genannt. Der Loop the Loop, die zweite Anlage in Coney Island, wurde wegen seines Betriebsrisikos von der Polizei lediglich ein Mal für eine knappe Woche geschlossen; zudem berichtet die Zeitung über einen schweren Unfall bei einer Vorführung eines Radfahrers sowie eine nicht näher spezifizierte Erkrankung eines Besuchers von Coney Island, der dort primär auf der Loopingbahn gefahren sei. Siehe: Giddy Loop-the-Loop Stopped by the Police. In: The New York Times vom 23.7.1901. Und: Loop the Loop Open Again. In: The New York Times vom 28.7.1901. Zum Unfall und zur Erkrankung siehe: Too Much »Loop-the-Loop«. In: The New York Times vom 10.8.1901. Sowie: Accident Affected Woman. In: The New York Times vom 10.8.1903. 62 | Es handelte sich um eine Schaukel mit einer drehbar gelagerten Kabine, die bei entsprechendem Schwung kreisförmige Bewegungen ermöglichte. Siehe Dering, Volksbelustigungen, S. 115, der sich auf den Komet, Nr. 2529 (1933), S. 17, bezieht.

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duktion,63 und eventuell neue medizinische Erkenntnisse über Rückenschäden dürften dazu geführt haben, dass Loopingbahnen kritischer betrachtet wurden. So entstand beispielweise in Zusammenhang mit einer deutschen Loopinganlage in den frühen 1950er Jahren ein Verein von Loopinggeschädigten, und das betreffende Fahrgeschäft wurde – wie einige Jahre zuvor eine Achterbahn mit Looping auf dem Wiener Prater – geschlossen.64 Dies wirkte sich offensichtlich auch auf historische Darstellungen aus, die nach der Entwicklung von Berechnungsmethoden für sanfte, gesundheitsverträgliche Loopings in den frühen 1970er Jahren erschienen sind: In Abschnitten zu historischen Loopingbahnen stellen sie die Gesundheitsbelastung und Verbote in den Vordergrund. Während The New York Times 1901 von gefüllten Loopingwagen berichtet und den Loop-the-Loop als »one of the principal sights of the [Coney] Island« einstuft,65 schreibt beispielsweise Dering aus historischer Perspektive 1986: »Wahrscheinlich funktionierten alle diese Bahnen auf die Dauer nicht zufriedenstellend«.66 In den 1880er und den frühen 1890er Jahren entstanden in den Vereinigten Staaten zahlreiche eisenbahnähnliche Fahrgeschäfte, die zum Teil auf Rauscherlebnisse hin konzipiert waren. Ausgehend von sogenannten Switch-Back Railways und großen Rutschen entstanden Anlagen mit Aufzügen; einige wiesen bereits Achterbahnfahrstrecken auf.67 Im Zuge dessen wurden sogenannte Scenic Railways entwickelt. Am bekanntesten wurde eine 1887 errichtete Anlage des Karusellbauers LaMarcus A. Thompson in Atlantic City, New Jersey, die als erste Scenic Railway gilt.68 Sie war mit einer aufwendigen Dekoration versehen, bei der einzelne Effekte durch die vorbeifahrenden Wagen geschaltet wurden. Folgt man Cartmell, so wurde die mit verschiedenfarbigen Grotten und biblischen Szenen illustrierte Bahn bald »the most popular and famous amusement device in the

63 | Poser, Museum der Gefahren, S. 109ff. Zur Entwicklung von Sicherheitsstandards Mohun, Risk, S. 216. 64 | Schützmannsky S. 48. 65 | Giddy Loop-the-Loop Stopped by the Police. In: The New York Times vom 23.7.1901. 66 | Dering, Volksbelustigungen, S. 124ff., Zitat: Ebenda, S. 125. Siehe auch Schützmannsky, S. 48ff. 67 | So wurde 1887 ein Sliding Hill and Toboggan mit einer acht-förmigen Bahn von Byron B. Floyd, Massachsetts, patentiert; seine Bahn, die vermutlich von 1887 bis 1890 in Betrieb war, hatte in die Strecke integrierte Rollen und wurde mit üblichen Tobogganschlitten befahren. Sliding-Hill and Toboggan to be used Therewith, Byron B. Floyd, of Haverhill, Massachusetts. United States Patent Office, Patent 374,736, December 13, 1887. Eine zeitgenössische Beschreibung ist abgedruckt bei Cartmell, S. 73. 68 | Zum Werdegang des Achterbahndesigners siehe den Nachruf: L. A. Thompson Dead. In: The New York Times vom 9.3.1919. Zur Anlage siehe beispielsweise Cartmell, S. 47ff. Eine Abbildung zeigt die parallel verlaufenden out-door Strecken der Bahn; ebenda, Abb. III:11, S. 48.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

world«.69 Thompson erhielt mehr als dreißig Patente zu achterbahnähnlichen Anlagen und leistete einen maßgeblichen Beitrag zu deren Entwicklung; sein Unternehmen expandierte beträchtlich und wurde auch in Europa zum Lieferanten zahlreicher Bahnen.70 Nach 1900 verbreiteten sich sogenannte Schleifen-Fahrten, Figur-Acht-Bahnen und thematisch gestaltete Scenic Railways – so die zeitgenössischen Bezeichnungen – rasch in Europa; 1908 wurde vermutlich die erste Achterbahn in Deutschland im Vergnügungspark der Ausstellung München 1908 errichtet.71 Besonders populär scheinen bis in die 1920er Jahre Scenic Railways gewesen zu sein, die mit Gebirgssujets gestaltet waren; sie entsprachen mit ihrer verhüllten Konstruktion eher dem ästhetischen Empfinden der Öffentlichkeit in den Jahrzehnten um 1900 als die kahlen, funktionalen Ständer von Achterbahnen, die dennoch auf einigen Abbildungen um 1900 zu sehen sind.72 Für das Fahrerlebnis auf Scenic Railways war – vergleichbar den in den 1930er Jahren aufkommenden Geisterbahnen – die szenische Inszenierung der Fahrstrecke entscheidend, die für die Fahrgäste filmähnlich gewirkt haben könnte.73 Eine der letzten Scenic Railways ist die 1950 errichtete und bis heute betriebene Hochschaubahn im Wiener Prater, deren ›Gebirge‹ Alpenmotiven um den Großglockner nachempfunden ist, und die eine abgebrannte Bahn von Thompson ersetzte.74 Mit der Einbettung von Fahrgeschäften in Themenparks und der Darstellung eines Sujets pro Geschäft entstand ein der Scenic Railway vergleichbares Konzept in jüngerer Zeit neu.75 Langsames Hinaufgleiten in schwindelerregende Höhe, das metallische Klackern der Zugkette, das die Spannung steigen lässt, rasante Beschleunigung, auf und ab, rechts, links, der Wind pfeift, Bauchkribbeln, Angst, Lachen, die riesige technische Konstruktion, ein Adrenalinschock jagt den nächsten … Dies sollte sich seit dem Bau von schnellen Scenic Railway und Schleifenfahrten etwa um 1900 69 | Cartmell, S. 47. 70 | Ein Portrait Thompsons gibt Cartmell, S. 42ff. Beispielsweise errichtete Thompsons Unternehmen Luna Park Limited Company 1909 auf dem Wiener Prater die erste Hochschaubahn; siehe La Speranza, S. 86f. Bis heute erhalten ist Thompsons Achterbahn im Kopenhagener Tivoli von 1914; siehe Skak-Nielsen, S. 132f. 71 | Dering, Volksbelustigungen, S. 119 ff; Szabo, Rausch und Rummel, S. 163. 72 | Siehe beispielsweise eine Postkarte einer noch vor dem Ersten Weltkrieg von Hugo Haase angeschafften Achterbahn bei Szabo, Kirmes, S. 45. 73 | Vergleiche Cartmell, S. 49. Zur Verbindung von Thrill ride und Kino siehe Rabinovitz, S. 67f. Zu Geisterbahnen: St. Poser, Heiraten Sie auf der Achterbahn! Jahrmarktsvergnügen aus sozial- und technikhistorischer Perspektive. In: Poser/Zachmann, S. 113-133, S. 130f. 74 | La Speranza, S. 86f., S. 145f. 75 | Als Beispiel einer Achterbahn, die mit einem Thema verbunden ist, sei die 1997 eröffnete ›Euro-Mir‹ im Europa-Park Rust genannt; im Eingangsbereich wurde ein Trainingsmodul der sowjetischen Raumstation aufgestellt; verspiegelte, zylindrische Baukörper und die silberblaue Farbgebung nehmen das Weltraummotiv auf.

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nicht mehr prinzipiell ändern. Allerdings wurden die Bahnen im Laufe der folgenden hundert Jahre erheblich verändert, Holz meist durch Stahl ersetzt, die Streckenführung umkonzipiert, Geschwindigkeit und Beschleunigung gesteigert und damit sowohl die Geräuschkulisse als auch das Fahrerlebnis erheblich anders gestaltet. Schon in der Anfangszeit waren Achterbahnen besondere Attraktionen;76 aus Perspektive des ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhunderts erscheinen sie geradezu als Inbegriff des Jahrmarkts.77 Die Achterbahn steht nicht nur stellvertretend für zahlreiche andere Fahrgeschäfte, sondern avancierte auch in völlig verschiedenen Zusammenhängen zu einem Symbol des modernen Lebens: Das Berufsleben, der Aktienmarkt und die gesamte Wirtschaftsentwicklung werden ebenso mit ihr in Verbindung gebracht wie psychische Erkrankungen und Liebesgedichte.78 Die Bandbreite reicht vom individuellen Erleben des Einzelnen bis zu strukturellen Entwicklungen auf staatlicher oder gar globaler Ebene. Die (scheinbare) Unvorhersehbarkeit der Bewegung, das schnelle ›Auf und Ab‹ und die Emotionen, die auf der Fahrt geweckt werden, sind für diese Metapherbildungen entscheidend. Die Faszination, die von Achterbahnen ausgeht, führte in den letzten Jahren insbesondere auf dem amerikanischen Markt zu einer Reihe populärer Bücher zu Konstruktion und Betrieb der Anlagen.79 Die Bahnen wurden sogar zum Thema von Kinder- und Jugendbüchern.80 Selbst die Encyclopaedia Britannica widmet Roller Coasters einen Artikel ihrer aktuellen Ausgabe.81 So schließt sich der Kreis zu den Rutschbergen des frühen 19. Jahrhunderts und den zahlreichen Lexikonartikeln über sie: Beide Fahrgeschäfte boten grundlegend ähnliche Spielformen mit Technik, beide genossen eine beachtliche Popularität, die sie als geeignete exemplarische Untersuchungsobjekte für das technisierte Spiel im Kontext Jahrmarkt ausweist. 76 | Beispielsweise zeigen Photos beträchtliche Warteschlangen vor Gebirgs- oder Achterbahnen; auf einer Postkarte aus dem Berliner Lunapark Halensee von 1910 weist ein handschriftlicher Eintrag des Schreibenden auf die »6 km lange Gebirgsbahn« hin, die auf der Karte schwer erkennbar ist. Eine Abbildung siehe in: Puttkammer/Szabo, S. 39, Abb. 43. 77 | Zur Bedeutung von Achterbahnen als architektonisches Symbol für amerikanische Vergnügungsparks siehe bereits 1981: J. M. Neil, The Roller Coaster: Architectural Symbol and Sign. In: The Journal of Popular Cultur, 15 (1981), S. 108-115, S. 108ff. 78 | Berufsleben: Die Zeit vom 19.10.2002, Beilage. Aktienkurse und Wirtschaftsentwicklung: Die Zeit vom 24.10.2002, S. 1. Psychische Erkrankungen: Th. Bock, Achterbahn der Gefühle. Leben mit Manien und Depressionen. Freiburg [u.a.] 1998. Einen Band mit Liebesgedichten »Auf der Achterbahn« veröffentlichte: C. Staudacher (Hg.), Auf der Achterbahn. Liebesgeschichten von heute. München, Zürich 1996. 79 | Siehe beispielsweise R. Cocker, Roller Coasters. A Thrill Seeker’s Guide to the Ultimate Scream Machines. Gilroy 2004. 80 | Siehe beispielsweise M. Frazee, Roller Coaster [Kinderbuch]. San Diego u.a. 2003. 81 | D. Pescovitz, Roller Coaster. In: Encyclopædia Britannica Online, www.britannica. com/EBchecked/topic/1245496/roller-coaster (15.4.2013). Weitere Jahrmarktsgeschäfte sind zurzeit nicht berücksichtigt; Stichwortsuche am 15.4.2013.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

Auf organisatorisch-institutioneller Ebene entwickelten sich seit den späten 1970er Jahren Fanclubs,82 in denen sich Achterbahn-Enthusiasten zusammenschlossen, um gemeinsam verschiedene Bahnen zu befahren, dabei besondere Nutzungskonditionen wie Erstfahrten zu erhalten, und sich über ihre Fahrerlebnisse auszutauschen. Die Ausrichtung dieser Clubs ist etwas unterschiedlich: Das Ziel, in kurzer Zeit viele Achterbahnen zu befahren, »möglichst viele ›Counts‹ abzuräumen«,83 findet sich ebenso wie Freizeitparks unter besonderer Berücksichtigung von Achterbahnen zu besuchen und soziale Kontakte zu pflegen. Namensgebungen wie »Coaster Junkies« verweisen spielerisch auf die rauschhafte, ›süchtig‹ machende Komponente der Fahrten. Diese Entwicklung scheint parallel zur Entstehung entsprechender Communities von Rutschbahn-Freunden entstanden zu sein, die Freizeitbäder bereisen. Zwischen beiden Personengruppen sind aufgrund ähnlicher Mitgliederinteressen personelle Überschneidungen gut denkbar. In beiden Fällen handelt es sich um Organisationsformen, deren Ziele denen von Sportvereinen strukturell vergleichbar erscheinen, sodass hier auf struktureller Ebene eine Symmetrie zwischen Sporttreibenden, Rutschfans und den Nutzern von Jahrmarktsattraktionen besteht. Eng ist der Bezug von Rutschen, Looping- und Achterbahnen zu Spielzeug: Loopingbahnen sollen ein Anfang des 19. Jahrhunderts in Frankreich entwickeltes Spielzeug als Vorbild haben, bei dem ein Ball mittels Schienen im Anschluss an eine Gefällestrecke durch einen Looping geführt wird; es sei, wie Robert Cartmell schreibt, in England und Frankreich damals sehr beliebt gewesen.84 Hier dürfte gleichzeitig ein enger Bezug zwischen wissenschaftlichen Modellen und Spielzeug bestanden haben, denn Modelle von Loopingbahnen wurden auch im wissenschaftlichen Kontext vorgeführt und als »curiosity« bewundert.85 Ein verbreitetes Murmelspiel aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts namens Tivoli soll gemäß Eintrag im Allgemeinen deutschen Conversations-Lexicon von 1841 auf Rutschbahnen zurückgehen.86 Zudem wurden Jahrmarktsrutschen zum Gegenstand von Blechspielzeug: Beispielsweise bot das Nürnberger Unternehmen Fleischmann 1908 eine große Rutschbahn mit Kassenhäuschen an.87 Auch Ach82 | Eine Übersicht gibt die Homepage Roller Coaster Clubs, www.themeparkbrochures. net/misc/clubs.html (11.9.2013). 83 | Coaster Junkies Germany. Der Achterbahn Fanclub Nr. 1. Über uns, www.coaster-junkies.de/about.html (11.9.2013). 84 | Cartmell, S. 26. 85 | Siehe einen Bericht des Liverpool Couriers vom 20.4.1842 über eine Präsentation in der Liverpooler Mechanic’s Institution, auszugsweise abgedruckt in: Centrifugal Railway. In: Mechanic’s Magazine, Museum, Register, Journal and Gazette, 978 vom 7.5.1842, S. 360. 86 | Tivoli. In: Allgemeines deutsches Conversations-Lexicon, 10 (1841), S. 218f. 87 | Rutschbahn Nr. 182 aus dem Fleischmann-Katalog von 1908, abgebildet in: J. Franzke (Hg.), Fleischmann. Vom Blechspielzeug zur Modelleisenbahn 1887 – 2000. = Schuco, Bing & Co. Berümtes Blechspielzeug aus Nürnberg, 3. Nürnberg 2000, S. 4.

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terbahnen wurden rasch zum Spielzeugmotiv: Schon 1912 – vier Jahre nach dem Import der ersten Achterbahn nach Deutschland – bot beispielsweise der bedeutende Blechspielzeughersteller Bing eine »Schleifenbahn mit Elektromotor-Antrieb für Schwachstrom« an, die das Unternehmen als »sehr originell« anpreist.88 Die Bahn wurde mit zwei Wagen geliefert und hatte eine Streckenlänge von ca. 350 cm bei einer Höhe von 40 cm. Im Mittelpunkt stand – nach dem Vorbild Hugo Haases – ein Turm mit Flagge. Ein Wagen durchfuhr jeweils die Achterbahn, während der andere gehoben wurde. Zum Transport in die Höhe diente – ähnlich dem Original – eine Kettenhebe-Vorrichtung, die bei Bing von einem Elektromotor angetrieben wurde. In den 1920er Jahren stellte beispielsweise ein unbekannter deutscher Hersteller eine Blechspielzeugbahn für rennwagenartige Automodelle her, die eine als Toboggan bezeichnete Rutsche mit einer Kettenhebevorrichtung für Handbetrieb kombinierte: die kleinen Autos wurden – ähnlich der Funktionsweise einer Achterbahnrampe – mittels Kette nach oben befördert und sausten dann auf einer um einen zentralen Turm gewundenen Spirale wieder zum Beginn der Hebevorrichtung zurück.89 So wurden zwei populäre Jahrmarktsaktivitäten der 1920er Jahre – die Achterbahnfahrt und die Autofahrt – in einem Spielzeug verbunden. Während achterbahnähnliche Spielwaren vor dem Zweiten Weltkrieg vergleichsweise selten waren, verbreiterte sich in den 1950er und 1960er Jahren das Angebot erheblich. So stellte beispielsweise das bundesdeutsche Unternehmen Technofix von 1957 bis 1959 unter der Bezeichnung Coney Island eine Spielzeugachterbahn her. Auf einer aus Blech und Kunststoffelementen geformten ›Landschaft‹ fahren zwei Wagen mit Federantrieb; die Anlage ist analog zu einer Achterbahn so ausgelegt, dass der Federantrieb nur zur Bewältigung der Anfangssteigung und zur Zwischenbeschleu88 | Bing war in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einer der weltweit größten Blechspielzeughersteller. Gebrüder Bing AG, Nürnberg. Spezialpreisliste über mechanische, optische und elektrische Spielwaren und Lehrmittel. Ausgabe 1912ff., erschienen als Reprint: C. Jeanmaire (Hg.), Gebrüder Bing, 1912 – 1915. Spielzeug zur Vorkriegszeit. Technisches Spielzeug aus der ›guten alten Zeit‹. Händler-Hauptkatalog und Nachträge. = Archiv Nr. 29. Villingen 1977. Im Folgenden zitiert als ›Bing-Spielwaren‹ mit Jahresangabe – hier: Bing-Spielwaren 1912, S. 317, Reprint, S. 302. 89 | Eine Aufschrift ›Toboggan‹ befindet sich auf dem Spielzeug. Hier bezieht sich die Namensgebung auf große, spiralförmige Rutschen ohne Wagen. Dem Spielzeug fehlt das für Toboggans dieser Bauform typische Förderband; solche Toboggans verbreiteten sich in den 1910er Jahren auf Festplätzen in Deutschland. Siehe Toy Rollercoaster. In: BBC one, Antiques Road show, www.bbc.co.uk/programmes/b006mj2y/features/toy-rollercaster&docid=7OXGPkVhHhFwqM&imgurl=ht tp://static.bbci. co.uk/programmeimages/976xn/images/live/p01105b6.jpg&w=976&h=549&ei=yid xUde0NcH x4QTOk Y DoBQ& zoom=1&iac t=hc&vpx=819&vpy=447&dur =4527&ho vh=168&hov w=300&t x=78&t y=188&page=1&tbnh=143&tbnw=240&st ar t= 0&ndsp=34&ved=1t:429,r:22,s:0,i:155 (19.4.2013). Sowie Dering, Volksbelustigungen, S. 141.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

nigung genutzt wird (Abb. 10).90 Eine etwas größere Achterbahn desselben Herstellers mit der Bezeichnung Big Dipper verfügt über Wagen mit Batteriebetrieb.91 Das Buch Das Spiel mit Stahl, das in den frühen 1960er Jahren für Metallspielzeug wirbt, zeigt eine als »Bergbahn« bezeichnete achterbahnähnliche Anlage aus bedrucktem Stahlblech mit zwei Uhrwerkfahrzeugen.92 Auf die Tradition der Rutschbahnen greift eine Spielzeugbahn aus der Sowjetunion zurück: sie kombiniert in den 1960er Jahren unter der Bezeichnung ›Russische Berge‹ einen Zufahrtsbus und eine Kabinenbahn auf einer Rutsche, die mit Skisportszenen gestaltet ist.93

Abb. 10: Achterbahn ›Coney Island‹ des deutschen Spielwarenproduzenten Technofix, 1957 – 1959. Mischkonstruktion aus Blech und Kunststoff; die Wagen haben einen Zahnradantrieb, der primär bei Steigungen genutzt wird. Als Energiespeicher dient eine Stahlfeder. 90 | Große moderne Achterbahnen sind zum Teil mit Passagen zur Zwischenbeschleunigung ausgestattet. Dass die Waggons der Technofix-Bahn als Autos gestaltet waren, hatte vermutlich in erster Linie wirtschaftliche und technische Gründe: die Autos waren auch für andere ›Landschaften‹ des Herstellers verwendbar, der Federantrieb musste untergebracht werden und zudem mag die Modernität des Autos die Anlage attraktiver gemacht haben. Achterbahn Coney Island, Exponat des Deutschen Technikmuseums Berlin. 91 | Achterbahnblechspielzeug Big Dipper von Technofix, Ebay-Angebot 190768709440 vom 10.3.2013. 92 | F. E. Braun, Das Spiel mit Stahl. Technische und pädagogische Grundlagen des Metallspielzeugs. Nürnberg 1964, S. 106, Abb. 82. Der Autor verzichtet auf die Nennung der Herstellernamen. 93 | Eine Abbildung gibt Cartmell, S. 33, Abb. I:30.

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Im Laufe der folgenden Jahre verbreiterte sich das Angebot nochmals erheblich, wobei ein Schwerpunkt auf den letzten zehn bis fünfzehn Jahren zu liegen scheint. Spielzeugachterbahnen gibt es für alle Altersstufen in Holz wie in Kunststoff, als fertige Anlagen ebenso wie als Konstruktionsbaukästen oder Bausätze für Modellbahnen. Auch eine Reihe von Computerspielen ist Achterbahnen gewidmet. Zwei Beispiele: Das Simulationsspiel NoLimits, dessen Erstversion 1999 erschien, ermöglicht es, Fahrten zu simulieren und selbst Achterbahnen virtuell zu entwickeln.94 Für das gleichalte Spiel RollerCoaster Tycoon ist der ›Roller coaster‹ Namensgeber und – folgt man Bildern im Netz – zentrales Fahrgeschäft; es gilt einer Wirtschaftssimulation, im Rahmen derer Spieler einen Vergnügungspark betreiben und dazu verschiedene Geschäfte errichten; das Spielsujet ließ es zu einem der erfolgreichsten Tycoon-Spiele werden.95 Die Vielzahl und Verschiedenheit der hier kursorisch beschriebenen Spiele, die Rutschen, Loopings und Achterbahnen zum Gegenstand haben, macht exemplarisch deutlich, wie eng die Verbindung des Spielangebots auf dem Jahrmarkt mit dem von (technischem) Spielzeug ist. Gleichzeitig weist die Entwicklung des Achterbahnspielzeugs darauf hin, wie rasch Achterbahnen in der Anfangszeit hinreichend populär wurden, um sie auch als Sujet für Spielzeug zu nutzen, und in welch erstaunlichem Maße sich ihre Popularität bis heute gehalten hat. Die Vielzahl des Achterbahnspielzeugs korrespondiert der Rolle der Bahn als Metapher des modernen Lebens. Aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind verschiedene Kupferstiche von Rutschbahnen und Loopings überliefert, während Darstellungen von Achterbahnen in erster Linie durch Photos erfolgten und in der Bildenden Kunst um 1900 vergleichsweise rar sind; einige künstlerische Werke zeigen sie als Teil von Stadtansichten mit Jahrmärkten oder Vergnügungsparks.96 Der Luna-Park in BerlinHalensee bot seinen Besuchern 1920 und 1921 als besonderen Anziehungspunkt eine »Kubistische Schnellbahn«, deren Bühnenmalerei möglicherweise auf Hans Belling und Max Pechstein zurückgeht.97 Während hier die Kulisse einer Schlei94 | Siehe NoLimits [Roller Coaster Simulation]. In: Wikipedia, http://de.wikipedia.org/ wiki/NoLimits (12.4.2013). 95 | Siehe RollerCoaster Tycoon. In: Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/RollerCoaster_Tycoon (12.4.2013). Zu PC-Spielen siehe außerdem: Die Achterbahn für zu Hause. In: Coasters and more, (2001), www.coastersandmore.de/rides/games/gamesmain.shtml (13.5.2013). 96 | Vladimir Tatlins Modell für ein Denkmal der Dritten Internationalen von 1919, das Cartmell, S. 90, wohl aus formalen Gründen in Verbindung mit Achterbahnen bringt, ist vom Künstler aufgrund seiner politischen Funktion sicherlich nicht in diesen Kontext gestellt worden. 97 | Die übliche Schleifenbahn-Gebirgsszenerie scheint den Publikumsgeschmack besser getroffen zu haben als die künstlerisch gestalteten Farbflächen. Eine Abbildung der Bahn und einer Fahrkarte siehe bei: R. Ohrt, Die aktive Linie – Pfade, Netze, Architekturen. In: St.

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fenbahn Ausgangspunk eines Kunstwerks wurde, finden sich in der modernen Kunst mehrere Arbeiten, die durch die Formgebung von Achterbahnen inspiriert sind oder zu sein scheinen. Dies gilt beispielsweise für eine Reihe von Antiobjekten der Künstlergruppe Gefecht, die in den 1960er Jahren entstanden; einer ihrer Ausgangspunkte ist die städtische Mobilität.98 Auch bei Frank Stella gemahnen einige Arbeiten an Achterbahnen. Eine neue künstlerische Arbeit spielt mit der Erwartung des Geschwindigkeitsrausches: 2011 entstand in Duisburg eine begehbare Skulptur in Form einer Achterbahn, Tiger and Turtle. Während sie von Ferne eine rasante Achterbahnfahrt verheißt, wird aus der Nähe deutlich, dass es sich um aufgeständerte Wege mit zahlreichen Stufen handelt; durch die Wegführung werden Blicke auf die Konstruktion und die Umgebung inszeniert, wobei sich der Wechsel der Blickrichtung im Fußgängertempo vollzieht.99

2. Technische Entwicklung und Technologietransfers Rutschberge, Wasserrutschen, Loopings und Achterbahnen weisen eine erhebliche Bandbreite unterschiedlicher Konstruktionen auf. Schon im 19. Jahrhundert entstanden verschiedene Vorläufer von Achterbahnen, deren Merkmale in die Konstruktion der ersten Schleifenbahnen und Scenic Railways (Achterbahnen mit einer Kulisse) einflossen. Gemeinsam ist allen Bahnen auf technischer Ebene, dass sie konstruktiv als Brückenkonstruktionen verstanden werden können, die insbesondere bei Achterbahnen durch zusätzliche Verwindungen und eine besonders hohe dynamische Beanspruchung charakterisiert sind.100 Während für die Konstruktion der Strecken vor allen Dingen Knowhow aus dem Brückenbau notwendig war und ist, wurden für den Betrieb als schienengebundene Anlagen in erster Linie Technologien aus dem Eisenbahnwesen transferiert.101 Schmidt-Wulffen (Hg.), Die Gruppe Geflecht. Antiobjekt. 1965 – 1968 [Ausstellungskatalog]. München 1991, S. 74-92, S. 80f. 98 | Die Antiobjekte 1965 – 1968. In: Schmidt-Wulffen, S. 113-146. 99 | Siehe beispielsweise M. Staffa, C. Kemme, Begehbare Achterbahn in Duisburg. In: Bautechnik, 90 (3/2013), S. 193-196. Sowie: C. Sauerbrei, Beschleunigte Langsamkeit. Stahlskulptur »Tiger & Turtle/Magic Mountain«, Duisburg. In: Deutsche Bauzeitschrift, 60 (11/2012), S. 42-49. 100 | Vergleiche: Achterbahnen sind das Inbild der Symbiose von Vergnügen und Ästhetik der Baukunst. Interview Sacha Szabos mit Frank Lanfer. In: Szabo, Kultur des Vergnügens, S. 267-274, insbes. S. 271. Zur mechanischen Analyse von Achterbahnkonstruktionen siehe das umfangreiche Kapitel in R. Müller, Klassische Mechanik. Vom Weitsprung zum Marsflug. = De Gruyter Studium. 2. Aufl., Berlin u.a. 2010, S. 407ff. 101 | Aufgrund der konstruktionstechnischen Nähe zur Eisenbahn sicherte sich beispielsweise ein Patentnehmer einer Pleasure-Railway seine Erfindung 1891 auch für »other forms of railways«: Power and Gravity Railway, Stephen E. Jackman, [Firmen-Mitinhaber] of Haverhill, Massachusetts … United States Patent Office, Patent 452,791, May 26, 1891.

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Die Anfang 19. Jahrhunderts gefertigten Rutschberge oder Rutschbahnen waren Holzkonstruktionen. Dies entsprach nicht nur dem französischen und russischen Vorbild, sondern war in Anbetracht der Wahl zwischen Holz und Stein beziehungsweise Ziegeln das günstigere und geeignetere Baumaterial, um größere Gebäude rasch zu errichten. Aufgrund seiner guten Formbarkeit und der vergleichsweise einfachen Verarbeitungsmöglichkeiten sollte Holz trotz der Verfügbarkeit von Eisen noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts das wichtigste Material im Schaustellergewerbe bleiben. Zeitgenössische Darstellungen der 1804 erbauten Montagnes russes zeigen zwei etwa zehn Meter (drei Stockwerke102) hohe Türme. Sie haben jeweils auf einer Seite eine Besuchertreppe, auf der anderen führt eine gekrümmte Bahn herab und läuft ebenerdig aus; auf zwei Stichen ist die Gefällestrecke fast parabelähnlich überhöht dargestellt, auf einem anderen hingegen deutlich flacher, vielleicht zu flach.103 Parallele Bahnen mit zwei Türmen ermöglichten den Besuchern, am Ende einer Fahrstrecke zur Rückfahrt auf den Turm der anderen Strecke zu steigen. Bereits die erste Pariser Rutschbahn war mit spurgeführten Wagen ausgestattet: »Damit diese [dreirädrigen] Wagen nicht zur Seite ausgleiten können, ist die Vorrichtung getroffen, daß nicht nur die beiden Hinterräder, sondern auch das sich in der Mitte befindende Vorderrad fast bis an die Axen in künstlichen hölzernen Geleisen laufen«.104 Ob die Wagen tatsächlich dreirädrig (und damit instabil) oder eher vierrädrig waren, muss offen bleiben; auf jeden Fall scheinen sie von robust dimensionierten Führungsschienen gehalten worden zu sein.105 Die Wagen einiger Rutschbahnen waren bereits mit einer zusätzlichen Führung durch horizontal angebrachte kleine Räder versehen, über die Achterbahnen üblicherweise verfügen.106 Allerdings bot auch die bei den Montagnes russes von 1804 genutzte Variante des Wagens mit Führungsschiene im Boden aus zeitgenössischer Perspektive hinreichend Sicherheit.107 Die Gefährte der ersten Rutschbahn bei Berlin, die 1818 auf der zum BerlinPotsdamer Schlösserkomplex gehörenden Pfaueninsel entstand, waren ursprüng102 | Angabe von Krünitz in: Rutschberge, Rutschbahnen. In: Krünitz, 129 (1823), S. 162. 103 | Zwei verschiedene Abbildungen sind abgedruckt bei Cartmell, S. 25, Abb. I:9,10. Eine weitere siehe als Abb. 9 in diesem Band. 104 | Rutschberge, Rutschbahnen. In: Krünitz, 129 (1823), S. 162. 105 | Auf einem Kupferstich der Anlage sind drei Führungsschienen zu sehen, die aber entgegen der Beschreibung von Krünitz wie Eisenbahnschienen wirken, auf denen die Räder laufen, während eine andere vier Führungsschienen für eine dreispurige Bahn zeigt. Siehe auch: Rutschberge. In: Pierer’s Universal-Lexikon, 14 (1862), S. 632. 106 | Ueber das von Hrn. Arnoux vorgeschlagene System, um mit den Locomotiven und Waggons auf Eisenbahnen Krümmungen von jedem Halbmesser ungestört befahren zu können; ein der französischen Akademie der Wissenschaften erstatteter Bericht. In: Dingler’s Polytechnisches Journal, 78 (1840), S. 174-188, S. 176. 107 | Siehe dazu das folgende Kapitel zu Spielmöglichkeiten auf den Bahnen.

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lich mit vier eisernen Rädern ausgestattet, die bald zunächst gegen Messingräder und dann gegen Rollen getauscht wurden; letztere dürften aufgrund des höheren Rollwiderstands die Geschwindigkeit etwas reduziert und seitliches Ausbrechen besser vermieden haben. Die Wagen sind für eine Person ausgelegt; auf einer hölzernen Grundplatte wurde ein Sessel mit einer U-förmigen, in gleicher Höhe umlaufenden, relativ hohen Lehne montiert; Messingknäufe auf dem rechten und linken Lehnenabschluss ermöglichten den Fahrenden, sich festzuhalten.108 Eine Bestandszeichnung von 1877 und eine Postkarte von 1928 zeigen eine Strecke mit zwei Bahnen und hohen Führungsschienen.109 Das Inventarbuch der Insel von 1833 weist vier Rollwagen aus; außerdem wird eine »eiserne Winde, mit starker Leine«110 genannt, die vermutlich zum Heraufziehen der Wagen diente. Mit einem sechs Meter hohen Turm war die Bahn relativ klein. Einer asymptotisch verlaufenden Gefällestrecke von knapp zwanzig Metern folgte ein etwa doppelt so langer Auslaufbereich, sodass sich eine maximale Fahrstrecke von sechzig Metern ergab. Bereits die Anlage von Rutschbergen bedurfte technischen Wissens; entsprechend wurde für den Bau der ersten Rutschbahn bei Berlin 1818 ein Modell aus Russland gesandt;111 der mehrfache Radwechsel der Wagen (Eisenräder, Messingräder, Eisenrollen) deutet darauf hin, dass die Bahn nach dem Try-and-Error-Prinzip optimiert wurde. Beides – der Bau nach einem Modell und die Optimierung der fertigen Anlage – ist als wissensbasiertes technisches Handeln zu bewerten. Technisch aufwendiger und zudem höher als die Pariser Montagnes russes und die Berliner Bahn waren die prachtvoll gestalteten Promenades Aériennes, die 1817 an den Champs Elysées eröffnet wurden. Um den Besuchern eine kontinuierliche Fahrt zu ermöglichen, beförderte man die beladenen Wagen vergleichbar den späteren Achterbahnen durch einen Schrägaufzug auf den Rutschberg. Hierfür diente ein umlaufender Schleppgurt mit Schlaufen. Das Konstruktionsprinz des Transportsystems war beispielsweise von Becherketten bekannt; die Nutzung zum Bewegen von Wagen scheint jedoch neuartig; zudem waren beträchtliche Kräfte zu bewältigen. Um ein Zurückrollen zu vermeiden, waren die Waggons mit einer Sperre versehen. Der Antrieb erfolgte über einen großen Pferdegöpel und ein untersetztes Getriebe, dessen größtes Rad mit einem Durchmesser von 25 Fuß gleichzeitig als Schwungmasse gedient haben dürfte. Zwar handelte es sich hier um eine traditionelle Technik, aber mit acht Pferden war die Anlage von ungewöhnlicher Größe.112 108 | Ein Wagen dieser Bahn, die bis in die 1930er Jahre bestand, ist in der Sammlung Schlösser und Gärten Berlin erhalten geblieben. Seiler, S. 118, S. 123. 109 | Abbildungen bei Seiler, S. 117, S. 120. 110 | Inventarium der Königl. Gebäude auf der Pfauen-Insel 1834, Vol. II, S. 85, Sammlung Schlösser und Gärten Berlin. Zitiert nach Seiler, S. 118. 111 | Vermutlich traf das Modell allerdings erst nach Fertigstellung der Anlage ein; siehe Seiler, S. 118. 112 | Ein Nachweis eines größeren Göpels aus dem Bergbau findet sich bei Krünitz: KunstGezeug. In: Krünitz, 55 (1791), S. 251-301, S. 279, Fig. 3269.

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Die Neuerung des Fahrvergnügens wurde demnach mit einer Kombination von traditioneller und neuer Technik erreicht, wobei die Dimensionierung beachtlich war. Nicht umsonst erwähnt Krünitz auch die »Kunst des Mechanismus«, in der die Promenades Aériennes alle anderen Rutschberge überträfen.113 Eine dem modernen Rutschvergnügen entsprechende Modernität der Örtlichkeit dürfte insbesondere die Beleuchtung vermittelt haben, die auf mehreren Stichen der Montagnes russes zu sehen ist. Entsprechend führt Krünitz in seinem Artikel über Rutschberge aus, dass die Promenades Aériennes nachts beleuchtet seien und hebt hervor: Von einem »sehr passend angebrachten Leuchtthurme [auf dem Gipfel des Rutschberges] strahlt dann über das Ganze noch ein künstliches Sonnenfeuer herab«.114 Genutzt wurden Gaslampen, die man Anfang der 1820er Jahre als Beleuchtung für wichtige, lichtabhängige Gebäude wie Opernhäuser und große Theater einführte. Mit der hellen Beleuchtung weisen die beiden Rutschberge bereits ein Merkmal von Jahrmarkts- und Vergnügungsparkgebäuden auf, das diese Orte bis etwa in die 1960er Jahre selbst in Großstädten gegenüber dem sonstigen Stadtbild hervorhob.115 Einige große Rutschen mit Doppelturm und zwei Abfahrten, wie die 1888 gebaute Sterneckersche Rutschbahn in Weißensee bei Berlin, waren mit Aufzügen für die Fahrzeuge ausgestattet und ermöglichten so eine Rundfahrt.116 Sie kombinierten das Rutscherlebnis mit dem einer Fahrstuhlfahrt im Wagen und waren zudem für die Betreiber effizienter, weil der Rücktransport der Wagen nun Teil der Attraktion war. Konzeptionell nahmen sie das Prinzip der ununterbrochenen Wagennutzung der alten Pariser Promenades Aériennes auf. Gegenüber den klassischen Rutschen bedeuteten Jahrmarkts-Wasserrutschen eine zusätzliche Erlebnisdimension, die allerdings zusätzlichen technischen Aufwand erforderte. Entsprechend waren technische Lösungen für die Anlage eines künstlichen Gewässers nebst Wasserversorgung und Spezialeffekten wie Wasserfällen sowie für die Ausgestaltung der Fahrzeuge als besonders belastbare Boote notwendig. Hinzu kam technischer Aufwand zur Ermittlung einer geeigneten 113 | Rutschberge, Rutschbahnen. In: Krünitz, 129 (1823), S. 163. 114 | Rutschberge, Rutschbahnen. In: Krünitz, 129 (1823), S. 166. Dezidiert auf Gaslicht wird hingewiesen in: Die Rutschberge in Paris. In: Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, 32 (1817), S. 631. 115 | Jahrmärkte und Vergnügungsparks sind zwar bis heute hell erleuchtet, aber sie haben in Anbetracht der generellen Zunahme künstlicher Beleuchtung in Städten die Helligkeit als Alleinstellungsmerkmal verloren. Entsprechend finden sich die letzten Quellen, in denen die helle Beleuchtung der Jahrmärkte bewundernd hervorgehoben wird, um 1970. Siehe beispielsweise zum Hamburger Dom: R. Niese, Hamburger Dom – Volksfest des Nordens [Frühlings-Dom, Sommer-Dom, Winter-Dom]. Hamburg um 1970. 116 | Siehe beispielsweise J. Bennewitz, »Bal champêtre« und Riesenfeuerwerk. Das Weltetablissement Schloss Sternecker. In: Berlinische Monatshefte, (5/2001), S. 76-82, S. 80, www.luise-berlin.de/bms/bmstxt01/0105detb.htm#seite82 (7.7.2013).

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Eintauchgeschwindigkeit der Gefährte. Ein zeitgenössischer Zeitungsartikel über den Vergnügungspark der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896 stellt die aufwendig ausgeführte Wasserrutsche, die durch eine künstliche Felslandschaft gerahmt war, in den Mittelpunkt. Wie die Sterneckersche Rutschbahn verfügte sie über einen Fahrstuhl für Boote beziehungsweise Fahrzeuge mit Gästen. Der Autor beschreibt 1896 die technische Einrichtung ausführlich: Demnach benötigte die Rutschbahn eine Maschinenanlage mit zwei Dampfmaschinen – eine zur Luftkompression für den druckluftbetriebenen Aufzug zur Abfahrtsplattform in 15 Metern Höhe, sowie eine weitere für die Wasserpumpen, die einen künstlichen Wasserfall versorgten und Wasserverluste des ›Sees‹ der Anlage ausglichen. Die zugehörige Abbildung zeigt für den Turm und die Rutsche eine Metallgitterkonstruktion, die vermutlich aus Röhren bestand; auffällig sind auch bei dieser Darstellung die zahlreichen Lampen, die aus der Perspektive von Zeitgenossen eine erhebliche Helligkeit verbreitet haben dürften. Die Bahn führt im leichten Bogen unter dem künstlichen Wasserfall hindurch in das Gewässer hinein.117 Das mit sechs Passagieren und zwei ›Matrosen‹ besetzte Boot lief gemäß dieser Abbildung während der Rutschpartie auf Rädern mit einem hohen Radkranz; zudem wird eine zusätzliche Führungsschiene gezeigt. Der Konstrukteur der Berliner Anlage, Ing. Engel, wurde mit der Entwicklung zu einem erfolgreichen Ingenieur-Unternehmer, der mit seiner in Leipzig ansässigen Europäischen Wasserbahn-Gesellschaft in den nächsten Jahren Bahnen in zahlreichen europäischen Städten aufstellte.118 Eine Postkarte der Gesellschaft von 1898 zeigt eine mehrbahnige gerade Rutsche, die in einem größeren See endet; dort werden die Rutschgefährte als Boote genutzt.119 Andere Wasserrutschen wie eine Ausführung im Wiener Prater von 1928 hatten Schienen, die zunächst die Rutschbahn hinunter und dann an der Wasseroberfläche entlang durch ein Becken führten.120 Diese Bahnen benötigten keine schwimmfähigen Boote, und das enorme Spritzen ließ diese Rutschen noch attraktiver erscheinen; zudem vereinfachte und beschleunigte die Konstruktion den Fahrtablauf. Eine technische und thematische Verbindung zwischen Wasserrutschen und Achterbahnen stellte der amerikanische Roller Coaster-Designer Fredrick Thompson her: er kombi117 | Da die Rutsche nicht als Photo, sondern als Stich gezeigt wird, könnte die Bahnkrümmung künstlerische Freiheit sein, die der Bildaufteilung zugutekommt. Siehe E. B., Im Vergnügungspark der Berliner Gewerbe-Ausstellung. Zeitungsartikel mit Stich einer Wasserrutsche – vermutlich aus der Illustrirten Zeitung zwischen Mai und Oktober 1896, Privatbesitz. 118 | Dering, Volksbelustigungen, S. 117. 119 | Postkarte »Gruß von der Wasserbahn« der Europäischen Wasserbahn Gesellschaft, Leipzig, postalisch gelaufen 1898 – mit Hinweis auf Gebrauchsmusterschutz des Deutschen Reichs, Nr. 54458 und Nr. 54452. Ebay-Artikelnummer: 300938418616 (1.5.2013). 120 | Siehe beispielsweise eine Abbildung der Niagara-Wasserfahrt auf dem Wiener Prater, die von 1928 bis 1931 (Abbruch wegen Sturmschadens) bestand; La Speranza, S. 162, Abb. 29.

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nierte eine Jahrmarkts-Wasserrutschbahn 1906 mit einem als Achterbahnstrecke ausgebildeten Fahrbereich, sodass die Besucher in ihren Booten auf Rädern zunächst eine Achterbahnfahrt absolvierten, die streckenweise durch einen künstlichen Wildbach führte, und dann ins Wasser sausten.121 Anders als Rutschbahnen benötigten Loopingbahnen aufgrund der erheblichen Kräfte, die auf die Konstruktion ebenso wirken wie auf das Fahrzeug und die Fahrenden, zumindest für den Looping einen Fahrweg aus Eisenschienen. Für die erste englische Centrifugal Railway wurde Gusseisen verwendet,122 dessen Belastbarkeit allerdings nicht allzu hoch gewesen sein dürfte, weil die Zentrifugalkräfte im Looping auf das Material eine Belastung in Knickrichtung ausüben, während Gusseisen nur bei Stauchung eine hohe Festigkeit aufweist. Zudem war das Risiko von Unfällen höher als auf den einfachen Rutschen, zumal die frühen Wagen nur eine seitliche Führung hatten, die keinen Schutz gegen Herabfallen bot.123 Vor dem Hintergrund der Eisennutzung und der Notwendigkeit, sowohl die Loopinggröße als auch das Fahrzeuggewicht richtig zu bestimmen, ist es nicht verwunderlich, dass der französische Entwickler der Loopingbahn einen Ingenieurabschluss hatte.124 Er oder sein Büro benötigten nach eigenen Angaben 13 Jahre Entwicklungsarbeit, um die Loopingbahn so auszulegen, dass sie zum Transport von Menschen geeignet war.125 Auch wenn die Entwicklung von Loopings als zusätzliche Attraktion von Rutschbahnen naheliegend ist, dürfte es sich bei der Umsetzung durchaus um eine komplexe technische Bauaufgabe gehandelt haben. Zudem bedeutete die Nutzung von Eisen die Wahl eines Industrieprodukts, dessen Einbau mit einem modernen Produktionsprozess unter 121 | Fredrick Thompson zeichnete für das Konzept des ersten Luna Parks auf Coney Island verantwortlich; siehe Rabinovitz, S. 30. Zur Wasser-Achterbahn siehe beispielsweise eine kurze Beschreibung in der New York Times, deren Autor besonders auf »new thrills« eingeht: Coney Island Opens in its Overcoat. In: The New York Times vom 15.5.1910. Siehe auch J. Stanton, Coney Island History Articles. Chapter Coney Island – Roller Coasters [list], revision June 2, 2004, no. 25, Mountain Torrent, www.westland.net/coneyisland/ articles/coasterlist.htm (14.6.2013). 122 | The Year-Book of Facts in Science and Art (1843), S. 15. 123 | Selbst eine 1952 eröffnete Achterbahn mit Looping wurde noch ohne Sicherung des Wagens betrieben; Dering, Volksbelustigungen, S. 125. 124 | Der oder die Entwickler werden als ›Ingenieur Clavieres‹ bezeichnet; siehe Cartmell, S. 26; Schützmannsky, S. 46. Hutchinson und Higgins, die ihre Bahn beim englischen Registration Office anmeldeten, sind ohne Titel genannt. 125 | Cartmell, S. 26. Diese lange Entwicklungszeit scheint typisch für proto- und frühindustrielle Entwicklungen, die außerhalb des Mainstream lagen; ähnlich lange benötigte beispielsweise ein steiermärkischer Tischler, Mathias Tendler, Anfang des 19. Jahrhunderts zum Bau eines Automatentheaters, mit dem er dann umherzog. St. Poser, Schausteller, Automatenfiguren und Technikverständnis im 19. Jahrhundert. Die Automatenbauer Mathias Tendler und Christian Tschuggmall. In: Technikgeschichte, 59 (1992), S. 217-240, S. 220.

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Anlieferung vorgefertigter Teile verbunden war. In dieser Hinsicht waren Loopingbahnen moderner als die fast 50 Jahre später aufkommenden Achterbahnen.

Abb. 11: Die Rigi-Turmbahn des Schaustellers und Ingenieurs Siebold, Bremen, in heller Beleuchtung, um 1925. Auf dieser großen Holzachterbahn entstand vermutlich das Photo der beiden älteren Damen, das auf dem Einband dieses Buches abgebildet ist. In den USA entstanden in den 1880er Jahren zahlreiche Rutschbahnen oder auch Achterbahnvorläufer nach dem für Bergbahnen genutzten Prinzip der SwitchBack Railway: Eine zweigleisige Strecke ist an beiden Enden mit Weichen verbunden. Anstelle des kontinuierlichen Fahrgasttransports in Kombination von Rutsche und Aufzug, den große zeitgenössische Rutschanlagen boten, erfolgte die Hin- und die Rückfahrt mit einem Richtungswechsel. Die Reise endete etwa in halber Höhe schräg unterhalb der Startposition; von dort aus wurden die Wagen wieder nach oben gezogen. Fahrtechnisch boten diese Anlagen zwar wenig Neues, aber sie erlangten in der Geschichte von Achterbahnen Bedeutung, weil auf diesen Konstruktionen auf bauend weitere Schritte auf dem Weg zur Achterbahn unternommen wurden. So ersetzte beispielsweise Charles H. Alcoke, der eine sehr erfolgreiche Bahn auf Coney Island baute, die zwei Weichen der SwitchBack Railways durch eine geschlossene Streckenführung .126 Auch LaMarcus A. Thompson arbeitete vor dem Bau seiner Scenic Railway an der Entwicklung von Switch-Back Bahnen für Vergnügungszwecke. 1885 wurden eine als Roller Costing

126 | Gravity-Railway, Charles H. Alcoke, of Hamilton, Ohio. United States Patent Office, Patent 317,273, May 5, 1885.

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Structure bezeichnete Konstruktion und eine Gravity Switch-Back Railway von ihm patentiert.127 Erfahrungen mit einzelnen Konstruktionsbestandteilen wie Bremsen und Entgleisungsschutz gingen zwei Jahre später in Thompsons Neukonstruktion der Scenic Railway ein, die nun mit einem Schrägaufzug ein zentrales Element von Achterbahnen aufwies. Zudem war sie opulent mit elektrischem Licht ausgeleuchtet.128 Die Wagen des dampfbetriebenen Fahrgeschäfts wurden zum Aufwärts-Transport in ein Kabel eingeklinkt; die weitere, schwerkraftbasierte Fahrt verlief allerdings zumindest zum Großteil auf parallel führenden, wellenförmig gestalteten Gleisen ähnlich wie bei Rutschen und einfachen Switch-Back Railways.129 Zwar bedeutete diese sehr erfolgreiche Bahn einen Schritt in Richtung von Achterbahnen, die entscheidende Neuerung bestand allerdings eher in der Szenerie als in den durch Technik vermittelten Bewegungserlebnissen. In den folgenden Jahren sollten Scenic Railways und Achterbahnen mit aufwendigeren Streckenführungen entstehen, die zudem für höhere Geschwindigkeiten konzipiert waren.130 Sie wurden bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts üblicherweise als Holzkonstruktionen errichtet, die meist mit Holz- gelegentlich mit Stahlschienen ausgestattet waren (Abb. 11). Die ersten Stahlachterbahnen entstanden bereits vor dem Zweiten Weltkrieg. Beispielsweise wurde in den frühen 1930er Jahren eine kleine Achterbahn im niederländischen Freizeitpark De Waarbeek in Hengelo erbaut.131 Nach Angaben des Betreibers wurde die Anlage, die mit einem Höhenunterschied von nur vier Metern arbeitet und sich wohl primär an Kinder richtet, selbst gefertigt. Die Wagen fahren auf Schienen mit einem eisenbahnähnlichen Profil, haben nach Vorbild 127 | Roller Coasting Structure, LaMarcus A. Thompson of South Chicago, Illinois. United State Patent Office, Patent 310.966, January 20, 1885. Und: Gravity Switch-Back Railway, LaMarcus A. Thompson, United States Patent Office, Patent 332.762, December 22, 1885. 128 | Zu Thompsons Scenic Railway siehe beispielsweise Cartmell, S. 47ff.; J. Futrell, Amusement Parks of New Jersey. Mechanicsburg 2004, S. 26; sowie S. Rutherford, The American Roller Coaster. Osceola 2000, S. 14ff. 129 | Siehe Cartmell, S. 48, Abb. III:11. 130 | Die ausgereifteste Scenic Railway von Thompson entstand nach Einschätzung von Rutherford in Venice, Kalifornien; siehe Rutherford, S. 16. Aufwendige Anlagen ließen sich beispielsweise John B. Maxwell 1892, Charles A. Ideler 1894 und James A. Griffiths 1896 patentieren. Siehe: Gravity-Railway, Jacob B. Maxwell, of Middletown, Delaware. United States Patent Office, Patent 477,059, June 14, 1892. Electric and Gravity Pleasure-Railway, Charles A. Idler of Atlantic City, New Jersey. United States Patent Office, Patent 527,990, October 23, 1894. Combined Electric and Gravity Pleasure-Railway, James A. Griffiths, of Philadelphia, Pennsylvania. United States Patent Office, Patent 572,111, December 1, 1896. 131 | Die Bahn ist bis heute in Betrieb. Siehe: Familienfreizeitpark De Waarnbeek, Hengelo, Geschichte, www.waarbeek.nl/algemeen/geschiedenis (13.5.2013). Siehe dazu: Rodelbaan – Ein europäischer Klassiker. In: Coasters and more, (2002), www.coastersandmore.de/rides/rodelbaan/rodelbaanmain.shtml (13.5.2013).

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der großen Bahn Laufräder mit Spurkränzen und verfügen über eine zusätzliche Spurführung, die neueren Datums sein mag. Sowohl die Schienen, als auch die Ständer sind aus Stahl gefertigt. Diese kleine Achterbahn ist weitgehend unbekannt; so nennt Schützmannsky eine Bahn der italienischen Firma Pinfari von 1953 als erste Stahlachterbahn: Vier Jahre später habe das Unternehmen, das für kleine, kompakte Achterbahnen bekannt werden sollte, mit der Serienproduktion begonnen; die erste deutsche Stahlkonstruktion folgte 1964.132 Hersteller war das süddeutsche Unternehmen Schwarzkopf, das in den folgenden Jahren zu einem der innovativsten deutsche Karussellbauer wurde. Stahl ermöglichte, die Geschwindigkeit und die Beschleunigung beträchtlich zu erhöhen: Während schnelle ältere Achterbahnen mit etwa 40 km/h, maximal 60 km/h unterwegs sind und dies auch für Stahlachterbahnen der 1960er Jahren gilt, erreichen heutige Bahnen leicht über 100 km/h; für einige Anlage werden sogar mehr als 150 km/h angegeben.133 Eine solche Geschwindigkeitssteigerung war ohne konzeptionelle und produktionstechnische Änderungen nicht realisierbar. So kam zum Materialwechsel der Bau von höheren Bahnen, deren größere potentielle Energie den Einsatz höherer kinetischer Energie ermöglichte. Verbunden damit war die Nutzung schwererer Wagen, die wiederum stabilere Konstruktionen erfordern, eine Veränderung des Antriebskonzepts, zusätzliche Sicherheitstechnik und Präzisionsvorfertigung, die etwa seit den 1980er Jahren rechnergestützt erfolgte. Holzbahnen wurden hingegen Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch von bekannten Achterbahnbauern in situ entsprechend handwerklicher Tradition weitgehend aufgrund empirischer Kenntnisse und praktischer Versuche errichtet – oftmals auch unter Veränderung der Streckenführung während des Baus.134 Einen Zwischenschritt auf dem Weg zur 132 | Siehe Dering, Volksbelustigungen, S. 123, der sich nur auf Schwarzkopf als ersten deutschen Hersteller bezieht, sowie Schützmannsky, S. 18ff. Zu Pinfari siehe die Homepage der Firma Interpark Amusements, Modena: About Interpark Amusements Srl, www. pinfari.com/company/about-interpark-amusements.html (26.6.2013). Aus technischer Perspektive siehe R. Heinzinger, Fliegende Bauten. Technische Entwicklung, gesetzliche Bestimmungen und Vorschriften. In: Volksfeste und Märkte. Herausgegeben als Jubiläumsbuch 100 Jahre Der Komet. Pirmasens 1983, S. 57-66, S. 59. 133 | Beispielsweise gibt der Tivoli in Kopenhagen für seine Achterbahn von 1914 als Höchstgeschwindigkeit 60 km/h an; Faltblatt von 2007, Privatbesitz. Für die Bahn Milenium force in Cedar Point, Ohio, die im Jahr 2000 für wenige Monate die schnellste Achterbahn der Welt war, werden 150 km/h als Höchstgeschwindigkeit angegeben; Schützmannsky, S. 153. Angeblich erreicht die 2010 gebaute Achterbahn Formula Rossa in Abu Dhabi 240 km/h; J. Peschel, Linear Induktions Motoren – Mit Volldampf auf der Magnetwelle. In: Coasters and more, (2008), www.coastersandmore.de/rides/lim/lim_lsm.shtml (26.6.2013). 134 | Zu handwerklich tradierten Bauformen im Achterbahnbau siehe Mohun, Risk, S. 223. Zu den Auswirkungen von geringfügigen Höhendifferenzen moderner Achterbahntrassen siehe Schützmannsky, S. 79.

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ingenieurmäßigen Konstruktion bedeutete der Bau nach Funktionsmodellen, den eine Journalistin 1942 am Beispiel der Firma Mack beschreibt: An einem Modell werde mit »einer Kugel … die richtige Neigung der Berg- und Talbahn ausprobiert. Erst wenn diese vorschriftsmäßig ihren Weg nimmt, kann der Bau der großen Achterbahn beginnen«.135 Um auf 150 km/h zu beschleunigen, hat beispielweise der im Jahr 2000 gebaute Roller Coaster Millenium force in Cedar Point, Ohio, einen ersten Turm von fast 100 Metern Höhe. Anstelle der klassischen Schrägaufzüge mit Laufkette entwickelte das Unternehmen Schwarzkopf schon Mitte der 1970er Jahre einen Schwungscheibenantrieb, der zur rasanten Beschleunigung der Wagen einer Loopingbahn, des Shuttle Loop, eingesetzt wurde. Ein technisches Problem war zunächst die Haltbarkeit der außerordentlich großen Kupplung: Sie musste als Verbindung der Motoreinheit mit Schwungscheibe und dem Seil, in das der Achterbahnwagen eingeklinkt wurde, in der Lage sein, die Energie zum Antrieb des zehn Tonnen schweren Fahrzeugs zu übertragen. Da zunächst kein Unternehmen bereit war, für eine Kupplung dieser Dimensionierung eine Garantie zu übernehmen, wurden die ersten Anlagen mit einem Antrieb durch ein 42 t schweres Gewicht gebaut, bis ein Hersteller eine entsprechende Haltbarkeitsgarantie gab.136 Bauteile von erheblicher Größe wie diese Kupplung, entsprechende Lager oder auch große Druckzylinder sind in Einzelfällen wie bei der Konstruktion von Riesenrädern schon im ausgehenden 19. Jahrhundert ein geschäftstypischer Technikbedarf.137 Spätestens seit den 1960er Jahren galt ein solcher Bedarf für zahlreiche Fahrgeschäfte, darunter insbesondere die schnellen Thrill rides mit ihrer hohen Materialbelastung. Die Anforderungen an große Bauteile lagen an der Grenze des technisch Realisierbaren, sodass es hier zu Impulsen für technische Innovationen kommen konnte.138 Erste Überlegungen zu einem neuen, extrem leistungsstarken Antrieb für die Loopingbahn von Schwarzkopf hatten Linearmotoren gegolten, ließen sich aber aus Kostengründen Mitte der 1970er Jahre nicht realisieren.139 Zwanzig Jahre später wurden dann die ersten Anlagen mit Linearmotoren ausgestattet, deren Konzept 135 | Die Bezeichnung ›Berg- und Talbahn‹ muss sich auf die Streckenführung einer Achterbahn beziehen. In dem zitierten Abschnitt wird vermutlich die Vorkriegsproduktion beschrieben; Besuch einer Journalistin in den Mack Werken, Waldkirch, zitiert nach W. Thoma, Faszination Karussell- und Wagenbau. 200 Jahre Heinrich Mack Waldkirch. Waldkirch 1988, S. 223f. 136 | Schützmannsky, S. 60ff., S. 144. 137 | So wurde beispielsweise die Welle des Ferris Wheel 1893 aus dem größten jemals hergestellten Schmiedestück gefertigt; das Rad löste eine regelrechte Riesenrad-Mode aus. Siehe König, Konsumgesellschaft, S. 336. 138 | Ein Beispiel einer Neukonstruktion von Druckzylindern für ein Auslegerflugkarussell aus den 1950er Jahren gibt Dering, Volksbelustigungen, S. 100. 139 | Schützmannsky, S. 61.

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seit den späten 1960er Jahren für Magnetbahnen entwickelt wurde. Die Motoren werden neben der Anfangsstrecke auch an weiteren Stellen der Anlage eingebaut, um durch Zwischenbeschleunigen oder Bremsen jeweils die Geschwindigkeit für den folgenden Streckenabschnitt vorzugeben. Mit dieser Antriebsform wird die klassische Schwerkraftlösung ersetzt und gleichzeitig auf ein Charakteristikum von Achterbahnen verzichtet. Die für Achterbahnen benötigten Antriebe sind bedeutend größer als die Linearmotoren, die in den letzten Jahrzehnten für Anwendungen in der Industrie entstanden; sie stellen damit eine Verbindung zu solchen Motoren her, die für den kommerziellen Personenverkehr entwickelt wurden, deren Einsatz aber bisher kaum über Referenzstrecken hinausgegangen ist.140 So ermöglichte dieser Technologietransfer auf den Jahrmarkt Herstellern Daten über die Dauernutzung von größeren Linearmotoren zu sammeln, die für deren Weiterentwicklung hilfreich sein konnten. Vergleichbar dem Einsatz neuer Technik zu Testzwecken im Sport bietet der Jahrmarkt demnach ein Feld zu Langzeitstudien, von denen Impulse für die Technikentwicklung ausgehen können. Ein prägnantes Beispiel dafür, welchen Einfluss die Weiterentwicklung der Konstruktion von Thrill rides auf die Veränderung ihres Fahrverhaltens und damit die vermittelten Fahrerlebnisse haben kann, stammt aus den 1970er Jahren: Mit Hilfe von Klothoiden – Kurven mit zunehmendem bzw. abnehmendem Radius, die aus dem Autobahnbau bekannt waren – gelang es, Loopings so zu berechnen und konstruieren, dass sie keine Gefahr von Rückenschäden infolge von Überlastung mehr bargen – etwa siebzig Jahre nachdem der Erbauer des Loop the Loop, Edwin Prescott, auf empirischem Weg eine sanfte Einlaufkurve für seinen Looping konstruiert hatte.141 Die Nutzung der Klothoide führte seit den 1970er Jahren zu einer erheblichen Verbreitung von Loopings. Darunter gab es sowohl klassische Anlagen, die – ähnlich den Centrifual Railways im 19. Jahrhundert – eine reine Loopingfahrt anboten, als auch ergänzende Teilstücke zu Achterbahnen. Tatsächlich sind die Grenzen des Machbaren beim Bau von Achterbahnen inzwischen durch die Belastbarkeit des Menschen gegeben, die kurzzeitig bei etwa 9 g Vertikalbeschleunigung (dies entspricht dem neunfachen Körpergewicht) liegt.142 An die physischen (bzw. rechtlich zugelassenen) Belastbarkeitsgrenzen wird herankonstruiert, um den Be140 | W. Pester, Linearmotor gilt als Bahnantrieb der Zukunft. In: VDI Nachrichten vom 24.2.2006, www.ingenieur.de/Themen/Bus-Bahn/Linearmotor-gilt-Bahnantrieb-Zukunft (26.6.2013). 141 | Centrifugal Railway, Edwin Prescott, of Arlington, Massachusetts. United States Patent Office, Patent 667,455, Febr. 5, 1901. Siehe Cartmell, S. 86f. Th. Zeller, Straße, Bahn, Panorama. Verkehrswege und Landschaftsveränderung in Deutschland von 1930 bis 1990. = Deutsches Museum, Beiträge zur Historischen Verkehrsforschung, 3. Frankfurt, New York 2002, S. 238ff. 142 | Dies ist ein durch Training erreichbarer Grenzwert; Astronauten sind beim Start lediglich 3 g ausgesetzt. In DIN 4112 (Fliegende Bauten) ist die maximal zulässige Belastung von Fahrgästen mit 6 g Vertikalbeschleunigung und 3 g Horizontalbeschleunigung festge-

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suchern durch neue Bewegungserlebnisse und Körperempfindungen ein rauschhaftes Fahrgefühl zu ermöglichen und den Eindruck eines Spiels mit dem Risiko zu erwecken, das tatsächlich jedoch nicht gegeben sein darf.143 Zur Risikoreduktion von Achterbahnfahrten war und ist ein komplexes Sicherheitssystem notwendig, weil die Anlagen im Vergleich zu Rutschen und Loopingbahnen sehr lang und unübersichtlich sind. So waren frühe Achterbahnen analog der Praxis bei der Eisenbahn mit Signalen und Arbeitsplätzen für Bremser ausgestattet.144 Um den Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Wagen zu wahren, wurden Blockstreckensysteme eingeführt, die auch heute Grundlage der automatisierten Steuerung sind. Je schneller die Bahnen wurden, desto aufwendigere, redundante Sicherungssysteme erwiesen sich als notwendig. In die Konstruktion von Achterbahnen flossen dazu auch sicherheitsrelevante Ergebnisse aus der Kraftfahrzeugforschung und der Konstruktion von Sportgeräten ein – so beispielsweise in die Formgebung von Sitzen und Haltegriffen.145 Ende der 1980er Jahre untersuchte eine interdisziplinäre Forschungsgruppe die Belastungen bei der Nutzung Fliegender Bauten unter besonderer Berücksichtigung von Achterbahnen.146 Auch wenn dabei deutlich wurde, wie schwer sich Erfahrungen und Messverfahren aus anderen Sparten übertragen lassen, gelang es doch, die Wirkung von Vertikal- und Horizontalbeschleunigung genauer zu fassen. Dies erlaubte ein präziseres Konstruieren und folglich genauere technische Vorlagen für Sinneseindrücke der Besucher. Für Thrill rides ist ein Zusammenhang von technischer und sicherheitstechnischer Entwicklung mit der (zumindest scheinbaren) Attraktivitätssteigerung der Geschäfte charakteristisch, der in ganz ähnlicher Form aus der industriellen Techniknutzung und aus der Mobilitätstechnik bekannt ist: Sicherheitseinrichtungen machen zwar eine vorhandene Technik sicherer, ermöglichen aber gleichzeitig einen nächsten Schritt des Technikeinsatzes. Es entsteht eine Wachstumsspirale von Technikeinsatz und Sicherheitsmaßnahmen, bei der – selbst wenn die Wahrlegt; Schützmannsky, S. 87. Eine Übersicht über die Konstruktionsdaten verschiedener Anlagen siehe ebenda, S. 140-154. 143 | St. Poser, »Kannst Du bremsen, Geliebter?« Wechselbeziehungen zwischen Technik, Spiel und Risiko. In: Gebauer/Poser, S. 15-37, S. 27ff. Sieht man von Loopingbahnen ab, so waren die physischen Belastungsgrenzen bei Flugzeugen früher erreicht – vermutlich Anfang der 1920er Jahre; Möser, Grauzonen der Technikgeschichte, S. 89f. 144 | Eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaute Achterbahn, die noch mit Bremsern betrieben wird, ist auf dem Tivoli in Kopenhagen erhalten. 145 | Ein solcher Technologietransfer lässt sich bereits um 1970 nachweisen; siehe K. Meier, Fahrgastsitze in fliegenden Bauten. In: Jahrbuch des Schaustellergewerbes der 70er Jahre. Herausgegeben aus Anlaß des 22. Delegiertentages des Deutschen Schaustellerbundes vom 20. bis 24. Januar 1971 in Stuttgart. Gerlingen 1971, [unpaginiert, S. 79ff.]. Karl Meier war beim TÜV München für Fliegende Bauten zuständig; Dering, Volksbelustigungen, S. 100. 146 | Schützmannsky, S. 82ff.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

scheinlichkeit eines Unfalls sinkt – das Gefahrenpotential wächst.147 Vergleichbar der Entwicklung im Eisenbahnwesen wurden für Thrill rides infolge wachsender Geschwindigkeiten zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen notwendig,148 die wiederum höhere Geschwindigkeiten sowie im Fall der Thrill rides gewagtere Bewegungskombinationen und Streckenführungen ermöglichten. Dies sei am Beispiel von Achterbahnen erläutert: Infolge der vergleichsweise hohen Geschwindigkeit der Bahnen und der gewollten Unübersichtlichkeit der Streckenführung war für den Passagierbetrieb ein am Eisenbahnwesen orientiertes, mehrstufiges Sicherheitssystem notwendig. Entsprechend ermöglichten die Einrichtung von Signalen und Blockstrecken, der Einbau von Bremssystemen oder die Optimierung der Chaisenführung jeweils eine Erhöhung der Geschwindigkeit, der Beschleunigung und der Lastwechsel. Hinzu kam der Übergang zu Stahlkonstruktionen. Im Ergebnis verfünffachte sich die Höchstgeschwindigkeit der Achterbahnwagen im Laufe des 20. Jahrhunderts; die Beschleunigungswerte und -wechsel nahmen zu. Die entsprechend höhere kinetische Energie führte allerdings dazu, dass das Gefahrenpotenzial bei modernen Bahnen erheblich höher ist als bei langsamen älteren Typs.149 Die skizzierte Entwicklung begann frühzeitig. So führt Andy Brown, der Chefkonstrukteur des von 1891 bis 1941 tätigen Achterbahnbauers John Miller, dessen Erfolg auf Sicherheitstechnik zurück: Millers »designs were always more thrilling than others because the safety devices he invented allowed them to be more severe«.150 Er entwickelte beispielsweise einen Rückrollschutz, Bremssysteme sowie – dies dürfte seine wichtigste sicherheitstechnische Entwicklung sein – ein Gegenrad, das von unten an die Schienen greift, um den Wagen in allen 147 | Diese Spirale hat überhaupt erst Großanlagen wie Atomkraftwerke mit ihren mehrstufigen Kontrollsystemen oder Hochgeschwindigkeitszüge mit ihrem elektronischen Fahrt­ü berwachungssystem ermöglicht. Zur Wachstumsspirale im Falle ›ernsthafter‹ Technikanwendung siehe Poser, Museum der Gefahren, S. 211. 148 | Das Gefahrenpotential der Entwicklung sei anhand des Eisenbahnunglücks von Eschede verdeutlicht, bei dem ein Hochgeschwindigkeitszug ICE 1998 eine Brücke zum Einsturz brachte: Ein an sich harmloses Ereignis, das Abspringen eines Radreifens, führte infolge der hohen kinetischen Energie des Zuges (und einer unglücklichen Verkettung von Ereignissen) zu einem der schwersten Eisenbahnunglücke in der deutschen Geschichte. Ein hohes Niveau der Sicherheitseinrichtungen reduziert zwar die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Unfalls, aber jedes Versagen während einer Hochgeschwindigkeitsfahrt kann ungleich gefährlicher werden als bei langsamer Fahrt. Zu Eschede siehe K. Knothe, A. Böhmer, Einige Bemerkungen zur Dauerfestigkeit von Eisenbahnradsätzen. In: Internationales Verkehrswesen, 49 (11/1998), S. 542-546. Sowie A. Böhmer, Th. Klimpel, K. Knothe, Dynamik und Festigkeit von gummigefederten Radsätzen. In: Zeitschrift für Eisenbahnwesen und Verkehrstechnik, ZEV + DET, Glasers Annalen … ,124 (2, 3/2000), S. 223-230. 149 | Poser, Kannst du bremsen? S. 30. 150 | Aufzeichnung eines Interviews mit Andy Brown 1973, zitiert nach Cartmell, S. 117. Zu John Miller siehe ausführlich Cartmell, S. 117ff., sowie Mohun, Risk, S. 222f.

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Positionen vor dem Entgleisen zu bewahren; letzteres ermöglicht den Passagieren später in Kombination mit Schutzbügeln Erlebnisse annähernder Schwerelosigkeit, die zu einem besonderen Merkmal von Achterbahnen wurden und außerhalb des Jahrmarkts kaum zu finden sind (Abb. 12). Schon in der Patentschrift von 1919 heißt es entsprechend, die Erfindung »will make riding more sensational but … at the same time will make such riding entirely safe«.151 »People thought he [Miller] was going beyond what the body could stand«, erinnert sich Brown.152 Dank Sicherheitstechnik hätten Millers Achterbahnen auf die doppelte Höhe üblicher Bahnen ausgelegt werden können. Sie ermöglichten höhere Geschwindigkeiten und Fliehkräfte. Alle hier beschriebenen Maßnahmen zur Geschwindigkeitssteigerung, zur Erhöhung der Beschleunigung und zu rasanteren Kurvenfahrten dienten einer Steigerung der technikbasierten Reize, die einen Rausch ilinx auslösen können. Der Preis dieser Entwicklung ist allerdings ein Zweifacher: 1. Sehr geringe Fehlertoleranzen moderner Anlagen; infolgedessen kann es schon bei kleinen Montagefehlern zu Unfällen kommen, die aufgrund der hohen kinetischen Energie der Fahrzeuge wesentlich schlimmer ausfallen als auf älteren Bahnen.153 2. Die immer weitergehende Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Fahrgäste: während Mutige in älteren Bahnen aufstehen konnten um das Fahrgefühl zu intensivieren, sind sie nun so im Fahrzeug fixiert, dass sie unter Umständen nicht einmal mehr die Arme bewegen können. Das Modell der Spirale macht sowohl die Grenzen der technischen Möglichkeiten deutlich, die gleichzeitig limitierend von den physischen Belastbarkeitsgrenzen der Fahrgäste bestimmt werden, als auch die Grenzen einer sinnvollen Achterbahnentwicklung hinsichtlich des Spiels: Denn Spielmöglichkeiten müssen genommen werden, um eine Spielform, den Rausch ilinx zu intensivieren. Auf dem Jahrmarkt taucht hier ein ähnliches Phänomen auf, wie es beim Sport im Zuge der Versportlichung des Ruderns und dessen Konzentration auf den ausschließlich geschwindigkeitsorientierten Wettkampf agon beschrieben wurde.

151 | Das Millersche Under Friction Wheel wurde 1919 patentiert: Pleasure Railway Structure, John A. Miller. United States Patent Office, Patent 1.319.888, Oct. 28, 1919. Zu Millers Sicherheitstechnik-Patenten siehe Cartmell, S. 117; solche Räder wurden in Verbindung mit Seitenrädern zum Standard von Achterbahnfahrzeugen; siehe Schützmannsky, S. 97ff., der eine Skizze eines modernen Fahrzeugs liefert. 152 | Interview mit Andy Brown 1973, zitiert nach Cartmell, S. 117. 153 | Zwei Beispiele von Unfällen auf moderneren Bahnen bespricht Schützmannsky, S. 78f., S. 93ff.

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Abb. 12: Gegenrad zur Fixierung von Achterbahnwagen auf der Schiene: Eine L-förmige Konstruktion am Wagen greift unter die Schiene und verhindert so dessen Abheben. Das Rad dient dabei zur Verringerung der Reibung. Die Bauweise ermöglicht Streckenführungen, bei denen die Fahrgäste einen Moment von ihrem Sitz gehoben werden und ein Gefühl der Schwerelosigkeit verspüren können. Zeichnung zum Patent des amerikanischen Achterbahnpioniers John Miller von 1919.

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3. Spiel Rutschbahnen, Loopingbahnen und Achterbahnen eröffnen ihren Besuchern in erster Linie zwei Spielmöglichkeiten, die Mutprobe, eine Bahn zu besteigen, und gleichsam als Belohnung einen technisch generierten Rausch ilinx. »Man spielt, um durch eine rapide Rotations- oder Fallbewegung in sich selbst einen organischen Zustand der Verwirrung und des Außersichseins hervorzurufen (ilinx)«, heißt es entsprechend bei Caillois.154 Dieser Rausch ist mit dem Schwindel vertigo verbunden. Zudem bieten die Bahnen Schaulustigen ein Schauspiel mit akustischer Untermalung, nämlich die Betrachtung der Reisenden, die ihren Emotionen durch »Juchhe … und Aufkreischen« oder »Schreie zwischen Lust und Angst« Luft machen – so die Beschreibung einer Wasserrutschfahrt um 1900 und der Titel eines Berichts über neue Achterbahnen in der Illustrieren Stern aus den 1970er Jahren.155 Welche Bedeutung dem Schwindel vertigo für den Besuch von Fahrgeschäfte zukommt, lässt sich auch daran ablesen, dass vertigo häufig als Name für Thrill rides genutzt wird.156 Die Applikation technikgenerierter Bewegung – insbesondere durch rasch wechselnde Beschleunigungen – erfolgt zwar nur für wenige Minuten, ist aber so gravierend, dass sie zu Schwindel und Rauschzuständen führt. Auslöser für ilinx lassen sich folglich in die rides hineinkonstruieren. So geht es letztlich um die Beherrschbarkeit von Emotionen mittels Technik; hierfür ist die Intensität oder mit anderen Worten die Dosierung der Beschleunigung von entscheidender Bedeutung: Vergleichbar einer medizinischen Anwendung darf die wechselnde Beschleunigung weder zu hoch sein, weil dies zu Unwohlsein oder gar Gesundheitsschäden führt, noch zu gering ausfallen, weil sich dann kein Rauschzustand einstellt und die Fahrt als langweilig empfunden wird.157 Die Mutprobe des Sich-Technik-Aussetzens lässt sich im Sinne Caillois’ sowohl als ludus, als das bewusste Hinausschieben der eigenen Grenzen deuten, als auch als Wettkampf agon, den die Reisewilligen mit sich selbst oder auch mit anderen Mitgliedern einer Besuchergruppe führen. Zudem kann die Mutprobe 154 | Caillois, S. 19. 155 | E. B., Im Vergnügungspark der Berliner Gewerbe-Ausstellung. Zeitungsartikel mit Stich einer Wasserrutsche – vermutlich aus der Illustrirten Zeitung zwischen Mai und Oktober 1896, Privatbesitz. Sowie: W. Unger, Schreie zwischen Lust und Angst. In: Der Stern, (40/1978), S. 39ff. 156 | Freundliche Information von Brigitte Aust, Markt- und Schaustellermuseum, Essen, Dezember 2013. 157 | Die physiologische Wirkung und medizinische Bedeutung des Drehschwindels wurde bereits im 19. Jahrhundert untersucht. Ende der 1950er Jahre folgten Untersuchungen zur Belastbarkeit von Raumfahrenden. Siehe Ladewig, Apparaturen des Schwindels, S. 261f., S. 266ff. Für Fahrgeschäfte auf dem Jahrmarkt wurden erst erstaunlich spät – in den späten 1980er Jahren – Grenzwerte erlassen. Siehe Schützmannsky, S. 87.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

auch als Rollenspiel mimicry im Umgang mit Technik und als Teil einer Selbstinszenierung gedeutet werden: ›X ist der/diejenige, der/die sich immer überwindet‹.158 Die mit den Fahrten verbundenen Ängste scheinen mit der Flugangst vergleichbar. Ein findiger Freizeitparkbetreiber veranstaltete sogar Seminare, um die Angst vor Achterbahnfahrten abzubauen,159 wobei das Überwinden der Angst den potentiellen Reisenden den Genuss der Angstlust (Balint) der Fahrt ermöglichen und den Betreibern der Anlagen entsprechende Mehreinnahmen bringen soll. Bereits bei den ersten Rutschbahnen war das Angebot des Fahrvergnügens mit dem des Zuschauens verbunden, das einerseits dazu diente, zum Besuch beziehungsweise zur Nutzung der Anlagen zu animieren, und andererseits durch die Präsentation der mehr oder minder hilflos agierenden Fahrenden ein belustigendes Schauspiel zu bieten. Dieses doppelte Angebot sollte sich bis in die Gegenwart halten und findet sich in ähnlicher Form auch bei anderen Fahrgeschäften. Einige, wie der Rotor, bei dem die Fahrgäste durch Fliehkraft an die Wand eines Zylinders gedrückt werden, sind so ausgelegt, dass sowohl die Nutzer der Attraktion als auch das Publikum (auf einer Zuschauertribüne) zahlen müssen.160 Das hier gegebene Schauspiel ist in allen Fällen der Umgang von Menschen mit Technik unter erschwerten Bedingungen: Technik bringt die Nutzer aus dem Gleichgewicht, setzt sie ungeahnten Beschleunigungen und optischen Reizen aus, Gebläse wehen ihnen die Röcke hoch. Das hier gezeigt Bild der Hilflosigkeit und Lächerlichkeit der Besucher, durch das auch die ersten Autoskooter geprägt sind, bildet einen deutlichen Kontrast zur üblichen affirmativen Darstellung von Technik auf dem Jahrmarkt wie sie für technikthematisierende Schaugeschäfte charakteristisch ist und sich beispielsweise bei Jahrmarktsautobahnen findet. Die hier beschriebenen Möglichkeiten des Spiels und dessen Betrachtung als Schauspiel bieten Rutschen, Looping- und Achterbahnen gleichermaßen. Veränderungen unterliegt hingegen die spezifische Ausprägung der genannten Spielformen, die sich sowohl zeitbezogen (im historischen Kontext) als auch objektbezogen (in Anbetracht verschiedener Fahrgeschäfte beziehungsweise Geschäftstypen) wandelte. Dies soll im Folgenden untersucht werden. Auf Rutschbergen dürften Vergnügungssuchende zum ersten Mal Erfahrung mit einem technisch generierten Rausch ilinx gemacht haben. Das beeindrucken158 | Eine weitere Deutungsebene der Achterbahn-Mutprobe bietet die Betrachtung als Initiationsritus; siehe Szabo, Rausch und Rummel, S. 158. 159 | Nach Angaben des Spiegels von 2004 leiden 16% der Deutschen unter Flugangst; ähnlich Zahlen dürften für Achterbahnen gelten. A. Blinda: Anti-Achterbahn-Angst-Seminar: »Die Bahn tut euch nix«. In: Spiegel Online, 24.5.2004, www.spiegel.de/reise/europa/ anti-achterbahn-angst-seminar-die-bahn-tut-euch-nix-a-301147.html (11.9.2013). Siehe auch: 1. Anti-Angst-Achterbahn Seminar. In: Coasters and more, (2004), www.coastersandmore.de/rides/egfangst/angstreport.shtml (13.5.2013). 160 | Zum in den 1940er Jahren von einem Ingenieur entwickelten und patentierten ›Rotor‹ siehe Szabo, Rausch und Rummel, S. 139, Fn. 192; Ebeling, ilinx, S. 142f.

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de Spielerlebnis wurde Ausgangspunkt der beachtlichen Popularität der Bahnen. Ein zeitgenössischer Kupferstich, La course des montagnes russes a Paris von 1816, gibt einen Hinweis: Zuschauer betrachten, wie drei ›Reisende‹ am Ende der extrem steil dargestellten Rutschbahn eintreffen. Ein korpulenter älterer Herr ist mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund fast karikierend dargestellt; er hält Rock und Zylinder fest und ist sichtlich überfordert. Eine Dame mit wehender Kopf bedeckung wirkt etwas angespannt; sie blickt in Richtung einer jungen Frau, die in ihrem Wagen aufgestanden ist und sich dem begeisterten Publikum als triumphierende Heldin präsentiert (Abb. 9).161 Techniknutzung ermöglichte der Gruppe augenscheinlich eine völlig neue Erfahrung, den Geschwindigkeitsrausch. Man fahre die Bahn »mit der Schnelligkeit eines Pfeiles herunter«, heißt es im Rheinischen Conversations-Lexicon, und Das Große Conversations-Lexicon beschreibt das Rutschen als »rasche und betäubende« Vergnügung.162 Tatsächlich dürfte eine Rutschfahrt für Zeitgenossen mit dem Erlebnis einer unbekannten Geschwindigkeitsdimension verbunden gewesen sein. Der in Zusammenhang mit den ersten Eisenbahnfahrten aufkommende Diskurs darüber, ob hohe Geschwindigkeiten überhaupt gesundheitsverträglich seien, scheint hier nicht stattgefunden zu haben. Vielmehr bestanden Spiel und Vergnügen für die Rutschbahn-Enthusiasten offensichtlich darin, die psychische und physische Belastung der Abfahrt zu bewältigen und dabei in einen Rauschzustand zu gelangen. Die Zuschauer konnten sich daran ergötzen, in welchem Maße dies gelang. Nicht von ungefähr werden Rutschberge in Pierer’s Universal-Lexikon von 1862 – neben Schaukeln und Russischen Schaukeln – als Beispiele für Orte genannt, an denen man sich in einen Schwindelzustand versetzen könne, »in welchem sich die Seele die Gegenstände nicht deutlich als getrennt, sondern als verwirrt vorstellt«.163 Zwar thematisiert der Autor den Reiz des Schwindels nicht, beschreibt hier aber einen organischen Zustand der Verwirrung (Caillois), in die sich die Rutschenden und Schaukelnden bewusst bringen; damit wiederum wird die Handlungsweise benannt, die Caillois hundert Jahre später als Weg zum Rauscherlebnis herausstellt. Zur Mutprobe, zum Schwindel und zum Rausch ilinx traten Elemente des Wettkampfs agon: So berichtet Krünitz, die »Sicherheit [der Pariser Montagnes russes] hat mehrere, besonders kecke und wettlustige Engländer verlei-

161 | Auch wenn die Rutschanlage hier zur Karikatur genutzt wurde, sind die unterschiedlich starken Auswirkungen der Fahrt auf die Passagiere und deren Umgang damit in naheliegender Weise herausgearbeitet. Eine bildliche Gegenüberstellung der Montagnes Russes und der Promenades Aériennes bringt A. Lehmann, S. 44, Abb. 22f. Siehe auch ebenda, S. 42, S. 47. 162 | Rutschberge (pariser), In: Rheinisches Conversations-Lexicon, 9. Köln, Bonn 1828, S. 733; Rutschberge. In: Das große [Meyers] Conversations-Lexicon, II/6 (1851), S. 807. 163 | Schwindel. In: Pierer’s Universal-Lexikon, 15 (1862), S. 689-690.

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tet, aufrecht stehend hinabzufahren; auch haben dieses Wagestück einige Pariser Damen, unter andern eine junge Actrice vom Theatre français versucht«.164 Betrachtet man in zeitgenössischen Beschreibungen die Hinweise auf Fahrerlebnisse, so wird deutlich, dass Rutschbahnen auf Grundlage zeitgenössisch konventioneller und moderner Technik bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts das gesamte Spektrum von schwindelerregenden Spielmöglichkeiten boten, das mit Thrill rides verbunden ist: den Rausch ilinx infolge der pfeilschnellen Fahrt, die Mutprobe des Sich-der-Technik-Aussetzens, Wettkämpfe agones und in Verbindung damit ein Rollenspiel mimicry um die Frage, wer der oder die Mutigste in einer Gruppe potentieller Reisender ist. Die Veränderungen und Neuerungen, die sich bis zum Entwicklungstand moderner Thrill rides ergeben haben, beziehen sich demnach nicht auf die Grundstruktur des Spiels, sondern auf die Intensität der physischen und psychischen Belastung und die damit verbundene Erlebnisqualität, die Angebotsvielfalt und die Gewichtung der einzelnen Spieltypen untereinander. Aus Krünitzens Artikel über Rutschberge von 1823 geht hervor, dass verschiedene Pariser Rutschanlagen bereits für unterschiedliche Geschwindigkeiten und Rutscherlebnisse ausgelegt waren. Während man die Montagnes russes, die älteste Pariser Bahn auf gerader Strecke »pfeilschnell hinab« fahre, wird bei den Promenades Aériennes, die eine Rundfahrt ermöglichen, die »Geschwindigkeit des Hinaufrutschens der eines starken Trottes gleich gebracht. Die Schnelligkeit des Hinabfahrens ist vollkommen mit der des Luftballons zu vergleichen«.165 Für den gesamten Kreis gibt er eine Durchschnittsgeschwindigkeit von sieben Meilen pro Stunde an. Die Abfahrt fand auf einer im großen Bogen geführten Strecke statt, die fast dreimal so lang war wie die Bergfahrt. Als entscheidende neue Erlebnisqualität würdigt der Autor die Möglichkeit zu Rundfahrten ohne Unterbrechung, die technisch durch ein automatisches Einhaken der Wagen in Schlaufen des Transportbandes für die Bergfahrt umgesetzt wurde. Zudem werden die zusätzlichen Anziehungspunkte dieser »Vergnügungsanstalt« wie der Garten, Cafehäuser, nächtliche Beleuchtung und die Aussicht von einem künstlichen Berg eingehend beschrieben. Dabei wird deutlich, dass die Promenades Aériennes ein frühes Gesamtkunstwerk für Spiel und Vergnügen waren, das Krünitz als »ein eben so sinnreich erdachtes, als kolossal ausgeführtes und in … [seiner] Art ganz einziges Werk« vorstellt.166 Bei der Wasserrutsche der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896 gehörte – vergleichbar den Promenades Aériennes und den Scenic Railways – bereits der Weg zur Abfahrt zum Erlebnis. Die Gäste bestiegen ein Boot, das zu einem Aufzug 164 | Rutschberge, Rutschbahnen. In: Krünitz, 129 (1823), S. 162f. 165 | Rutschberge, Rutschbahnen. In: Krünitz, 129 (1823), S. 162, S. 166. Der Vergleich zum »Luftballon« dürfte sich auf frühe Fallschirmsprünge aus Ballons beziehen, die bis etwa in die 1830er Jahre populär waren; siehe: Fallschirm. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6 (1906), S. 301. 166 | Rutschberge, Rutschbahnen. In: Krünitz, 129 (1823), S. 163.

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fuhr, der es samt Passagieren auf eine 15 Meter hohe Abfahrtsplattform brachte; »jedes Boot schießt [nun] auf einer geneigten Ebene, von seiner eigenen Schwere getrieben … pfeilschnell in den See hinab. Das spritzt und schlägt gewaltige Wogen«.167 Dort glitten die Boote – so die Beschreibung – noch einem Moment über das Wasser, bevor sie so weit abgebremst waren, dass sie in Richtung Landungssteg fahren konnten. Die Rutsche diene – so der Autor eines zeitgenössischen Zeitungsartikels – einer »Volksbelustigung, … die sich sehr gefährlich ausnimmt, in Wirklichkeit aber völlig gefahrlos ist und bei Theilnehmern und Zuschauern das ›unbändigste Vergnügen‹ hervorruft«.168 Scheinbare Mutprobe bei weitgehender Gefahrlosigkeit, ›unbändigstes Vergnügen‹, Rausch … hier wird die strukturelle Ähnlichkeit von Erlebnissen auf Jahrmarktsattraktionen wie Wasserrutschen, Rutschen, Loopings und Achterbahnen mit Rutscherlebnissen in Bädern offensichtlich,169 wobei sich allerdings eine erhebliche zeitliche Diskrepanz ergibt: während diese Formen des Spiels bereits im 19. Jahrhundert auf dem Jahrmarkt geboten wurden und in Amerika mit den water toboggans etwa zeitgleich große Wasserrutschen an Stränden entstanden, ergab sich der Bau größerer Rutschen zumindest in deutschen Schwimmbädern erst mit der Neukonzeption von Bädern als Spaß- und Freizeitwelten seit den späten 1960er Jahren. In den letzten Jahrzehnten entstanden mit Wortschöpfungen wie ›Wasserwelten‹ oder ›Wasserparks‹ Bezeichnungen,170 die die konzeptionelle Nähe dieser Bäder zu Freizeitund Vergnügungsparks auch begrifflich spiegeln. Anders als Rutschberge wurden Loopingbahnen in den 1840er Jahren zunächst als Schaustellungen gezeigt. Von den frühen Fahrten für Besucher wird über einen beachtlichen Publikumsansturm berichtet, wobei Pressemeldungen immer wieder hervorheben, dass es sich bei der Loopingfahrt um eine Attraktion für beide Geschlechter handelt.171 Die Passagiere »were whirled round within the 167 | E. B., Im Vergnügungspark der Berliner Gewerbe-Ausstellung. Zeitungsartikel mit Stich einer Wasserrutsche – vermutlich aus der Illustrirten Zeitung zwischen Mai und Oktober 1896, Privatbesitz. 168 | E. B., Im Vergnügungspark der Berliner Gewerbe-Ausstellung. Zeitungsartikel mit Stich einer Wasserrutsche – vermutlich aus der Illustrirten Zeitung zwischen Mai und Oktober 1896, Privatbesitz. 169 | Siehe auch Szabo, Rausch und Rummel, S. 156f. 170 | Zahlreiche Bäder firmieren unter diesen Begriffen; beispielsweise führt das Internetportal Freizeitparkworld.de eine Rubrik ›Wasserwelten und Bäder‹; siehe www.freizeitparkworld.de/61-1-wasserwelten-&-baeder.php, der Sender Kabel Eins bietet auf seinem Internetportal eine Rubrik ›Wasserparks‹; siehe www.kabeleins.de/tv/abenteuer-leben/ online-spezial/wasserparks-weltweit (beide Seiten: 20.6.2013). 171 | Siehe beispielsweise: Zoological Gardens [Bericht über eine Loopingbahn]. In: Liverpool Mercury vom 5.7.1844, Zeitungsausschnittsammung ›Early Centrifugal Railways‹ des Pharmakologen Victor Canfield, www.personal.psu.edu/faculty/v/a/vac3/centrifugal. html (20.5.2013).

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upright circle to their own satisfaction and the gratification of the on-lookers«, heißt es 1858 in einem Zeitungsbericht.172 Dem Bild von Zufriedenheit oder Behagen der Fahrenden und Vergnügen der Besucher entspricht auch ein Zeitungsartikel über eine der ersten Fahrten mit einer Loopingbahn in Frankreich 1846, der sich aber auch als Hinweis auf die berauschende Wirkung der Fahrt deuten lässt: Ein Pionier berichtet, er habe vor der Einfahrt in den Looping die ganze Umgebung gesehen, im Looping selbst hingegen gar nichts mehr; dafür habe er ein so herrliches Gefühl verspürt, dass er gleich noch einmal starten wolle.173 In einer Zeitungsnotiz über eine englische Grand Centrifugal Railway von 1851 wird dieses technisch vermittelte Gefühl benannt als »the thrilling effect of a speedy trip by centrifugal force«.174 Ein Coney Island Besucher berichtet etwa fünfzig Jahre später, er sei mit zahlreichen Attraktionen gefahren, »but none pleased him so much as the centrifugal railway«, sodass er die Loopingfahrt »several times« wiederholt habe.175 Die Mischung von Rausch, Wiederholungswunsch und körperlicher Belastung von Loopingfahrten beschreibt der österreichische Schriftsteller Robert Müller 1915. Der Protagonist seines Romans Tropen, ein Ingenieur, befährt mit einer Freundin wiederholt eine Loopingbahn und erinnert sich während seines Tropenaufenthalt mit einer gewissen Distanziertheit an sein Leben vor Beginn der Reise: er sei »die große Schleifenbahn, das looping the loop, in Coney Island, immer und immer wieder abgefahren – hopp, da standen wir auf dem Kopfe, hopp, da waren wir herum, hopp, da sausten wir die Vertikale hinunter und hatten den Magen zwischen den Zähnen, weil er oben bleiben wollte! Hopp, wie meine Gedanken sprangen, wie mein Gehirn in rasend fallender Kurve die große Schleifenbahn des Lebens nahm!«176 Obwohl Achterbahnen beziehungsweise Scenic Railways im Vergleich zu Loopingbahnen weniger spektakulär erscheinen, weisen Berichte um 1900 auf Rauschzustände der Reisenden hin: 1905 berichtete die New York Times über den Besuch von Teilnehmern eines internationalen Eisenbahnwesen-Kongresses auf 172 | Zoological Gardens. The Storming of Delhi [Bericht über eine Loopingbahn]. In: Liverpool Mercury vom 11.5.1858, www.personal.psu.edu/faculty/v/a/vac3/centrifugal. html (20.5.2013). 173 | Bericht im Journal de Havre über eine Loopingbahn in einer Parkanlage bei Paris, abgedruckt bei Cartmell, S. 27. Bei diesem Bericht stellt sich die Frage, in wie weit er zu Werbezwecken verfasst war. Bei einer Belastung von 5 g kann kurzfristig das Sehvermögen ausfallen; das Phänomen ist auch von Steilwandfahrten bekannt; Opschondek/Dering/ Schreiber, S. 24. 174 | St. Helena Gardens, Rotherhithe. Grand Centrifugal Railway. In: The Era (London) vom 10.8.1851, www.personal.psu.edu/faculty/v/a/vac3/centrifugal.html (20.5.2013). 175 | Der Besucher führt eine Erkrankung auf exzessives Loopingfahren zurück: Too Much »Loop-the-Loop«. In: The New York Times vom 10.8.1901. 176 | R. Müller, Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs. München 1915, S. 24.

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Coney Island; im Mittelpunkt stand eine Fahrt mit der zu diesem Zeitpunkt in Europa noch unbekannten Scenic Railway. Der Herausgeber der portugiesischen Gazette des Chemins de Fer, L. de Mendoca e Costa, habe trotz der zahlreichen Eindrücke sein Notizbuch gezückt und genaue Eintragungen zur Scenic Railway gemacht, die er als »the last extremity of railroad ingenuity« beschreibe, während andere Teilnehmer von der Fahrt überwältigt gewesen seien: Mit »mon Dieu zis is ze cr-r-racy railroad, but it is clever – it is … clever … Ha ha«, versucht der Autor Gesprächsfetzen, unterbrochen von Steilabfahrten, Kurven und Tunneln einzufangen.177 Beschrieben werden soll hier offensichtlich das Einsetzen eines Rauschzustandes, gegen den sich die Fahrgäste zunächst zu stemmen versuchen. Deutlich wird zudem, dass Technik als Auslöser hierfür gesehen wird. Die Inszenierung der Fahrten auf Rutschen und Achterbahnen war etwas unterschiedlich: Während der Anstieg oder eine Aufzugfahrt zur Startplattform bei Rutschen meist noch keinen oder allenfalls einen schwachen dramaturgischen Bezug zur Rutschpartie hatten, betonte die Aufwärtsfahrt auf einer Achterbahntrasse aufgrund der freien Rundumsichte die (scheinbar) schwindelerregende Höhe der Startposition; zudem steigerte die langsame, unaufhaltsame Annährung an die Abfahrtsposition das Angstgefühl. Rutschende blickten beim Start die ganze Bahn hinab, sahen also dem ganzen Schrecken ins Auge, während die Fahrgäste einer Achterbahn immer nur einzelne Ausschnitte der Strecke einsehen konnten, bei älteren Bahnen jedoch so viel, dass sie die geschwindigkeitsreduzierende Aufwärtsstrecke nach der ersten Talfahrt weitgehend im Blick hatten. Deshalb wirkte und wirkt eine Achterbahn zunächst harmloser als eine Rutsche; allerdings ermöglicht die gewundene, nicht einsehbare Streckenführung den Einbau zahlreicher Reizauslöser, bis hin zu besonderen psychologischen Effekten wie Beinahe-Kollisionen. Hinzu kam die Fahrtdauer: sie betrug bei Rutschen einige Sekunden, bei frühen Scenic Railways hingegen durchaus fünf Minuten.178 Wenige Sekunden rauschhafter Einwirkung standen hier einer ›gefühlten‹ Reise mit zahlreichen Effekten gegenüber. Entsprechend waren Achterbahnen durchaus eine attraktive – vermutlich die attraktivere – Alternative zu Rutschen. Vor diesem Hintergrund erscheint sowohl der Versuch der Eisenbahnexperten auf der Scenic Railway in Coney Island naheliegend, sich gegen den Rausch zu stemmen, als auch das langsame ihm Anheimfallen, das sie nach mehreren Berg- und Talfahrten mit zunehmender Begeisterung reagieren ließ. Trassenführungen, die um 1900 zahlreiche Gäste in einen technisch generierten Rausch versetzten, scheinen bereits dreißig Jahre später zu harmlos: Mit der Verbreitung von automobiler Mobilität und der damit verbundenen Fahrerfahrung wuchsen offensichtlich die Anforderungen an Achterbahnen, weil der 177 | Foreign Railroad Men See Our Coney Island. In: The New York Times vom 1.6.1905. 178 | Beispielsweise dauerte eine Fahrt auf der alten Hochschaubahn im Wiener Prater 5 Min.; La Speranza, S. 86f. Diese langen Fahrzeiten erwiesen sich jedoch als ungünstig, weil die stündliche Transportkapazität der Anlagen gering war.

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Umgang mit Geschwindigkeit im Auto die Reizschwelle der Achterbahnfahrgäste erhöhte. Entsprechend stellt der amerikanischer Roller Coaster-Designer William F. Mangels bereits Ende der 1920er Jahre fest: »The public wants speed … the automobile has completely revolutionized riding devices. People used to be willing to poke along, but now when they go out for a good time they want it quick and fast«.179 Hier wirkten die technische Entwicklung und die wachsende Verbreitung einer Technologie sich nicht direkt – wie im Falle der Übernahme von Innovationen, sondern indirekt – über eine Veränderung der Gewohnheiten von Technikkonsumenten auf das Jahrmarktsspiel aus. Die Geschwindigkeitssteigerung von Achterbahnen, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Übergang zu Stahlachterbahnen noch einmal an Bedeutung gewann und nun in den Zeitraum der Massenmotorisierung in Westeuropa fiel, hat diesen Überlegungen gemäß nicht nur den jahrmarktsimmanenten Grund der Konkurrenz um Besucherzahlen180 mit Hilfe moderner Technik, sondern unterlag auch außerhalb des Jahrmarktsvergnügens liegenden Einflüssen der Technisierung. Zwar veränderte sich das Spiel infolge veränderter Anforderungen nicht grundlegend, aber es scheinen sozusagen härtere Bandagen in Form von größeren Beschleunigungsveränderungen und psychologischen Tricks notwendig geworden zu sein, um einen Rauschzustand zu ermöglichen. Entsprechend zitiert Der Spiegel 1953 den Hamburger Schaustellungsunternehmer Joseph Schippers: »Der modere Rummelplatz-Besucher will geschüttelt, geschwenkt, auf den Kopf gestellt werden und das alles immer noch schneller; er will nicht mehr schlicht enthemmt, der Zwangsjacke des Alltags entledigt, sondern gleich erschlagen sein«.181 Eine typische psychologische und gleichzeitig bautechnische Maßnahme zu diesem Zweck war und ist es, plötzlich (scheinbare) Hindernisse auftauchen zu lassen. Dieses Verfahren würdigt ein Journalist bereits 1906: »Easily the best sensation on the [Coney] Island is the scenic railway with a wooden beam that looks as if it was going to hit you in the head«.182 Bei einem als Switch-Back Railway konzipierten Fahrgeschäft wurde der Effekt eines Beinahe-Zusammenstoßes ausgereizt: Auf der 1904 in Coney Island gebauten Leap-Frog Railway sausten zwei Elektrotriebwagen auf einer eingleisigen Strecke aufeinander zu; auf den Wagen montierte Schienen sorgten dafür, dass im letzten Moment anstelle eines Zusammenstoßes ein Wagen über den anderen hinwegfuhr.183 179 | H. Croy, There’s Money in it, but … In: Popular Mechanics, 49 (1/1928), S. 59; zitiert nach Mohun, Risk, S. 225. 180 | Siehe Szabo, Rausch und Rummel, S. 164. 181 | Schausteller, Vergnügungsbetriebe. Nervenkitzel dreidimensional [Portrait des Unternehmens Schippers-van de Ville]. In: Der Spiegel vom 23.9.1953, S. 28-32, S. 30. 182 | Ch. Davis, Renaissance at Coney. In: Outing (8/1906), S. 519, zitiert nach Mohun, Risk, S. 225. 183 | A New Coney Island Rises from the Ashes of the Old. In: The New York Times vom 8.5.1904. Aus historischer Perspektivert siehe A. Lehmann, S. 50f. (mit Abbildung).

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Der übliche Preis des Thrill-Erlebnisses oder auch des Rauschzustands, der wegen der erheblichen Kräfte im Looping mit größerer Wahrscheinlichkeit eingetreten sein dürfte als bei einer zeitgenössischen Rutschbahn, war eine Form von Freiheitsberaubung durch Beschleunigung und Zentripetalkraft. Dies wird in einem amerikanischen Zeitungsartikel von 1863 treffend beschrieben: »The car for the moment [in the loop] is Rome, and the passenger in its whirl finds himself obliged to do precisely as it does, with no volition in the matter at all«.184 Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts zeichnete sich demnach eine Entwicklung ab, die Thrill rides im Laufe des 20. Jahrhunderts nehmen sollten: Konzentration auf die zentrale Aufgabe, die technische Vermittlung eines Rausches, bei parallelem Rückgang zusätzlicher Spielmöglichkeiten und immer weitergehender mechanischer Fixierung der Fahrgäste. Ein Bericht über eine Loopingbahn in San Francisco widmet sich 1863 deren tatsächlichem Risiko und dem öffentlichen Interesse an riskanten Vorführungen: Unfälle geschähen bei Loopingbahnen, die es in Europa schon seit zwanzig Jahren gebe, hin und wieder. Tatsächlich sei das Unfallrisiko vermutlich nicht höher als bei einer Reise mit dem Zug oder einem Binnenschiff. Aber »the chief charm of these exhibitions … lies simply and purely in the danger they involve. … Sporting men will always bet you odds that the performer of these difficult feats will break his neck within a certain length of time«.185 Schaustellungen und spektakuläre Selbstfahrgeschäfte boten dem Publikum also offensichtlich in Ergänzung der Faszination des (fremden) Risikos eine Meta-Spielmöglichkeit, das Glücksspiel alea. Prinzipiell ließe sich zu jedem Anlass wetten; die Wette als solche ist technikunabhängig, aber Technik lässt beziehungsweise ließ den Wettgegenstand interessanter werden. Zusätzliche Spielmöglichkeiten boten zwei Variationen der Achterbahnentwicklung, die Racing Coaster und die Flying Turns: Bei Racing Coasters scheint neben Mutprobe und Rausch ilinx der Wettkampf agon von zentraler Bedeutung zu sein. James A. Griffiths, der später Geschäftspartner von LaMarcus A. Thompson wurde, führte diese modifizierte Achterbahnversion, bei der zwei (oder mehr) Bahnen parallel zueinander so errichtet werden, dass sie gleich lang sind, 1895 als Racing Dips in den Vereinigten Staaten ein.186 LaMarcus A. Thompson ließ sich 1913 eine solche Anlage unter dem Namen Racing Coaster patentieren.187 Der Achterbahntyp, für den Thompson auch ein aufwendiges Anzeigesystem ent-

184 | Centrifugal Railways. In: Daily Evening Bulletin (San Francisco) vom 23.7.1863, www.personal.psu.edu/faculty/v/a/vac3/centrifugal.html (20.5.2013). 185 | Centrifugal Railways. In: Daily Evening Bulletin (San Francisco) vom 23.7.1863, www.personal.psu.edu/faculty/v/a/vac3/centrifugal.html (20.5.2013). 186 | Cartmell, S. 47, S. 87. 187 | Racing Coaster, by LaMarcus A. Thompson, United States Patent Office, Patent 1.070.082, August 12, 1913.

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wickelte, das ebenfalls patentiert wurde,188 wird bis heute gebaut, erlangte aber im Vergleich zu konventionellen Bahnen nur untergeordnete Bedeutung. Wichtig ist er hingegen bezüglich des Spielangebots von Thrill rides: Ließen die Betreiber zwei Wagen zum selben Zeitpunkt starten, so ermöglichte der Racing Coaster Wettfahrten. Bei einem ähnlichen Gewicht der beladenen Wagen ergaben sich nur minimale Geschwindigkeitsdifferenzen, die die Fahrten umso spannender machten. Das Anzeigesystem, das den Start, verschiedene Zwischenstände, das Fahrt-Ende und den Gewinner anzeigte, ließ sich so aufstellen, dass es sowohl für die Reisenden als auch für das Publikum sichtbar war, um die Spannung der Wettfahrt zusätzlich zu intensivieren. Entsprechend heißt es in der Patentschrift, die Aufgabe des Anzeigesystems sei: »thereby arousing the interest and curiosity of the public and increasing the pleasure and excitement of the riders«.189 Das Messund Anzeigesystem war – vergleichbar einem Rundenzähler auf einer Rennstrecke – ein wesentlicher Bestandteil des Ensembles, um die Parallelfahrten der Achterbahnchaisen als sportliche Wettkämpfe erscheinen zu lassen. So kam zu den zentralen Spielelementen ilinx und Mutprobe nur scheinbar der Wettkampf agon, tatsächlich jedoch das Rollenspiel mimicry: zwar war die Fahrt im Racing Coaster durch das Ambiente sportlich gerahmt, tatsächlich bestand allerdings weder die Möglichkeit eines geeigneten Trainings, noch hatten die Reisenden direkten Einfluss auf das Wettfahrtergebnis, in das lediglich ihr Gesamtgewicht einging. Damit fehlte den ›Wettkämpfen‹ auf dem Racing Coaster das zentrale Element der sportlichen Leistung; vielmehr wurden die Kämpfe inszeniert und damit die Fahrenden wie die Zuschauer in ein Rollenspiel integriert, das ihnen die Möglichkeit gab, sich als Teilnehmer eines Wettkampfs beziehungsweise einer Sportveranstaltung zu fühlen. Eine Möglichkeit zu echten Jahrmarkts-Wettkämpfen unter sportähnlichen Bedingungen bot vermutlich die erste Generation der seit 1929 gebauten Flying Turns. Sie gehen auf einen englischen Flugpionier, John Norman Bartlett, zurück, der dafür 1927 in den USA sowie 1928 in England ein Patent erhielt und die ersten Anlagen gemeinsam mit dem amerikanischen Achterbahnenspezialisten John Miller umsetzte.190 Sie verbinden Elemente von Rutschen beziehungsweise Achterbahnen und Schlittenbahnen miteinander.191 Gegenüber Achterbahnen haben 188 | Signalling Device for Racing Coasters, LaMarcus A. Thompson. United States Patent Office, Patent 1.102.821, July 7, 1914. 189 | Signalling Device for Racing Coasters, LaMarcus A. Thompson. United States Patent Office, Patent 1.102.821, July 7, 1914. 190 | Improvements in Amusement Devices. John Norman Bartlett. United States Patent Office, Patent 16.333.204, June 21, 1927. Improvements in Amusement Devices. [British] Patent Specification no 279109, complete accepted Aug. 2, 1928. 191 | Einschränkend ist zu vermerken, dass sich in den dem Autor bekannten, auf die technische Konstruktion bezogenen Beschreibungen keine Hinweise auf eine Wettkampfnutzung finden.

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sie durch den Einsatz freilaufender Wagen in einer Holz- und später Stahlrinne den physikalischen Vorteil, dass sie die Horizontalbeschleunigung bei Kurvenfahrten durch einen vergrößerten Kurvenradius beziehungsweise ein Aufsteigen des Wagens an der Wandung ausgleichen und dadurch die Fahrt sanfter wird. Allerdings ließen die frei laufenden Wagen Fying turns gefährlicher erscheinen als klassische Achterbahnen.192 Thematisch haben die Flying Turns Eisbahnen für Bobschlitten zum Vorbild. Deren Nutzung entwickelte sich nach einer anfänglichen Mischung von Amateuren und Profis spätestens seit den 1950er Jahren zu reinen Spitzen- und Zuschauersportereignissen, die sich aufgrund ihrer Popularität als Referenz für Jahrmarktsgeschäfte anboten und -bieten.193 Vergleichbar den Bobschlitten müssen die gemäß Patentzeichnung für eine Person ausgelegten, frei beweglichen Wagen der frühen Jahrmarkts-Bobbahnen auf ihrer als Wanne ausgebildeten Fahrstrecke durch Gewichtsverlagerung in gewissem Maße steuerbar gewesen sein, sodass individuelle Fahrergebnisse erzielt werden konnten.194 Damit entsprachen die frühen Schlittenbahnen dem in den 1920er Jahren aufgekommenen Interesse am selbständigen Fahren, dem auch das Spielangebot von Autoskootern und Jahrmarktsautobahnen galt.195 Anders als bei den bisher vorgestellten Thrill rides war hier die spielerische Aneignung von Handlungskompetenz im Umgang mit den Fahrzeugen möglich: Zwar fuhren die Wagen auch aufgrund ihres Eigengewichts die Bahn hinunter (wobei sich ihr Streckenverlauf jeweils nach dem Gewicht der Insassen richtete), aber die Reisenden hatten bei entsprechendem Können be192 | Siehe Cartmell, S. 124. Dies mag auch mit der Wagenkonstruktion zusammenhängen: Wagen eines Nachbaus wiesen einen so schlechten Fahrkomfort auf, dass sie nicht verwendet werden konnten. J. Peschel, Die Geschichte der Flying Turns bis zur »modernen« Bobbahn. In: Coasters and more, (2010), www.coastersandmore.de/rides/flyingturns/fly ingturns.shtml (14.5.2013). 193 | Seit einigen Jahren werden jedoch Bobmitfahrten für Touristen angeboten; so beispielsweise in Innsbruck in einer Sportanlage der 1970er Jahre. Da die sportliche Leistung beziehungsweise Arbeit von zwei professionellen Mitfahrern übernommen wird, handelt es sich hier für die Besucher um ein achterbahnfahrtähnliches Erlebnis. Siehe St. Przybilla, Bobfahren in Innsbruck: Hopp, hopp, hopp, hopp! Spiegel online, vom 22.1.2013, www.spiegel.de/reise/europa/urlaub-in-oesterreich-bobfahren-fuer-jedermann-in-inns bruck-a-878767.html (13.11.2013). Zur Bedeutung der technischen Konstruktion von Bobschlitten und der Organisation der dahinter stehenden ingenieur- und sportwissenschaftlichen Forschung siehe Pulla, Kalter Krieg im Eiskanal, S. 285ff. 194 | In der Patentschrift wird die automatische Steuerung der Chaisen durch das Zusammenspiel ihres Gesamtgewichts mit der nach innen gewölbten Fahrbahn hervorgehoben. Die automatische Steuerung war notwendig, um den Betriebsablauf unabhängig vom Können der Fahrgäste sicher zu stellen. Improvements in Amusement Devices. [British] Patent Specification no 279109, complete accepted Aug. 2, 1928. 195 | Siehe hierzu das folgende Kapitel.

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schränkte Möglichkeiten, die Kurven enger zu nehmen oder weiter auszufahren und damit die Fahrt zu beschleunigen oder zu verlangsamen. Spätere Anlagen boten diese Spiel- und Lernmöglichkeit, die auch für den Umgang von Sportlern mit ihrem Gerät charakteristisch ist, aus ökonomischen Gründen zugunsten höherer Transportkapazitäten mit größeren Waggoneinheiten nicht mehr.196 So ähnelt zwar das Fahrgefühl Bobschlittenfahrten,197 und einige Bahnen wurden als Wintersportanlagen inszeniert, aber die Passagiere haben genauso wenig Einfluss auf den Fahrtverlauf wie bei üblichen Achterbahnen. Die Hereinnahme des Spielangebots ›Sport‹ in die Spielmöglichkeiten, die Achterbahnen boten, sowie die Inszenierung von Bahnen als Sportstätten, verweisen zum einen auf die zunehmende gesellschaftliche Bedeutung des Sports im beginnenden 20. Jahrhundert, zum anderen auf die Nähe von Sportspielen und Jahrmarktsspielen, die einen solchen Brückenschlag, wie er beispielsweise auch beim Rudersportkarussell stattfand, ermöglichten. Entsprechend wurden Achterbahnen in der jüngeren Vergangenheit auf einer neuen Ebene zum Gegenstand sportähnlicher Veranstaltungen, sogenannter Roller Coaster Challenges, die sich seit der Jahrtausendwende nachweisen lassen: Mit Unterstützung von Freizeitpark-Betreibern und Fanclubs versuchten und versuchen Achterbahnfans, innerhalb einer vorgegebenen Zeit möglichst viele Bahnen an mehreren Orten zu befahren. »Die Teilnehmer [einer zweitägigen Reise] werden auf über 18 Kilometer Achterbahnschienen umhergewirbelt. Am Ende der Tour werden sie insgesamt 55 Minuten auf den Achterbahnen verbracht haben. Als Verkehrsmittel wird ein Bus genutzt, der die Teilnehmer direkt zu den Eingangsbereichen der acht Parks bringt. Maximal eine Stunde beträgt der Aufenthalt, bis zu sieben Achterbahnen gibt es pro Park zu bezwingen – jede Sekunde zählt. … Ab acht Uhr tickte die Stoppuhr … Coastersandmore.de begleitete diesen aberwitzigen Wettlauf gegen die Zeit«.198 196 | Bereits 1930 entstand in Cleveland, Ohio, eine Bobbahn, die mit einem gekoppelten Wagenverband befahren wurde; Cartmell, S. 124. Erhaltene Bahnen, die seit Mitte der 1980er Jahre gebaut wurden, haben große Wagen oder Einzelwagen-Züge, die sich nicht mehr individuell steuern lassen. Sie ermöglichen es, mehrere Einheiten gleichzeitig fahren zu lassen. Ein Nachbau einer historischen Anlage wird in einem Freizeitpark in Pennsylvania versucht. J. Peschel, Die Geschichte der Flying Turns bis zur »modernen« Bobbahn. In: Coasters and more, (2010), www.coastersandmore.de/rides/flyingturns/flyingturns. shtml (14.5.2013). 197 | Ebenda. 198 | Zitat: Roller Coaster Challenge. In: Coasters and more (2004), www.coastersandmore.de/rides/rcc/live.php (11.9.2013). Siehe auch den Film mit Begleittext von D. Hampling, 24 Hour Roller Coaster Challenge, www.youtube.com/watch?v=4KDWKX1A4ug (11.9.2013). Sowie: 48h Roller Coaster Challenge. In: Themenpark.de. Erlebnis- und Freizeitparks im Internet, www.themenpark.de/news-57.html# (11.9.2013).

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Einträge sind zum Teil als live ticker gekennzeichnet, bei Filmen wird eine laufende Uhr eingeblendet. Zwar ist eine tatsächliche sportliche Leistung der Teilnehmer nur sehr begrenzt gegeben, da sie sich im Wesentlichen auf die zu Fuß zurückzulegenden Strecken zwischen den genutzten Transportmitteln reduziert, während deren Geschwindigkeit von ihnen nicht beeinflussbar ist. Aber die Vorstellung der Fans, eine Achterbahnfahrt »zu bezwingen«,199 mit der Fahrt etwas zu leisten, der willkürlich aufgebaute Zeitdruck, die Rahmung seitens der Freizeitparkbetreiber und die sportähnliche Berichterstattung auf Insider-Homepages rücken die Challenges in die Nähe von Sportveranstaltungen.

4. Technik für das Spiel – die Perspektiven der Akteure Die Frage, in wie weit die frühen Thrill rides Anfang bis Mitte des 19. Jahrhundert als Technik gesehen und die von ihnen vermittelten Bewegungserlebnisse als technisch generiert eingeschätzt wurden, lässt sich für Rutschberge nur in Ansätzen beantworten. Bei Loopings ist die zeitgenössische Verortung als Technik wesentlich klarer und bei Achterbahnen liegt sie auf der Hand. Die technischen Beschreibungen der Rutschberge in zeitgenössischen Lexika, die bei Krünitz besonders detailliert erfolgt, weist darauf hin, dass die Autoren jene Bahnen als technische Leistungen verorten. Deutlich wird dies insbesondere durch Krünitz‹ Würdigung der »Kunst des Mechanismus« der Promenades Aériennes.200 Für eine zeitgenössische Einordnung von Rutschen als technische Anlagen spricht auch die Verleihung eines französischen Schutzbriefes, eines Brevets d’Invention für eine rutschbahnähnliche Anlage 1826; dabei gewährte man ihr sogar einen Schutz von zehn Jahren.201 Eindeutig ist hingegen die Beschreibung der Wasserrutsche auf der Berliner Gewerbe-Ausstellung gegen Ende des Jahrhunderts: Die Rutsche sei eine »Errungenschaft der modernen Technik«, die wegen ihres »grossen maschinellen Apparat[s]« mit »grossem Sachverständniss construirt … und gut geleitet« werden müsse, heißt es in einem Zeitungsartikel.202 Englische Loopingbahnen wurden Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst als wissenschaftliche Vorführungen angepriesen. So wird eine Bahn 1842 in der Man199 | Roller Coaster Challenge. In: Coasters and more (2004). 200 | Rutschberge, Rutschbahnen. In: Krünitz, 129 (1823), S. 163. 201 | Die als ›Voltige‹ bezeichnete Konstruktion sollte nach Angaben des Erfinders Lebouyer de St. Gervais »in den öffentlichen Gärten das Spiel der russischen Rutschberge ersezen«, wie es in Dingler’s Polytechnischem Journal heißt. Siehe: Lebouyer de St. Gervais. In: Alphabetisches Verzeichniß der Brevets d’Invention, de perfectionnement und d’importation, welche im Jahre 1826 in Frankreich verliehen wurden. In: Dingler’s Polytechnisches Journal, 24 (1827), S. 87. 202 | E. B., Im Vergnügungspark der Berliner Gewerbe-Ausstellung. Zeitungsartikel mit Stich einer Wasserrutsche – vermutlich aus der Illustrirten Zeitung zwischen Mai und Oktober 1896, Privatbesitz.

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chester Times and Gazette als »striking scientific novelty« beworben, und gemeinsam mit einer Voltaschen Säule gezeigt; bei einer anderen Ausstellung wurden gleichzeitig Versuche mit einem Gaslicht sowie weitere, nicht näher beschriebene wissenschaftliche Experimente durchgeführt.203 Eine solche Kombination von verschiedenen Vorführungen oder Versuchen ist für Schaustellungen aus der erste Hälfte des 19. Jahrhunderts charakteristisch.204 In einem Anzeigentext aus dem englischen Derby Mercury von 1843 wird eine Centrifugal Railway mit Doppellooping sogar als »one [of] the greatest scientific wonders ever produced« apostrophiert.205 Auch in Zeitungsartikeln wurden die Loopingvorführungen als wissenschaftlich beschrieben.206 Der Verortung der Vorführungen als ›wissenschaftlich‹ entsprach, dass an manchen Orten lediglich Modelle oder zunächst ein Modell und dann die richtige Bahn gezeigt wurden. Die Vorgehensweise bei der Präsentation, zunächst verschiedene Gegenstände auf die ›Reise‹ zu schicken und dann erst Schausteller oder Freiwillige fahren zu lassen, unterstützte den Eindruck der Wissenschaftlichkeit ebenso wie die Kombination der Centrifugal Railway mit anderen ›wissenschaftlichen‹ Vorführungen. Einige Präsentationen fanden in technikerausbildungsnahem Kontext statt, wie die eines Loopingmodells in der Liverpooler Mechanics’ Institution 1842,207 andere in Theatern, wobei die Wahl des Ortes die Konnotation der Präsentation als Wissenschaft und Technik oder als Schauspiel ebenso mitbestimmt haben dürfte wie Zeitungsberichte und Anzeigen. Die Erfinder der Centrifugal Railway, Hutchinson und Higgins, bekamen vom englischen Registration Office für das Design ihrer Bahn einen Schutz von drei Jahren bewilligt.208 Ein Bericht im Mechanic’s Magazine würdigt die Bahn 1842 als ›Erfindung‹: »The principle of the thing is well known, through the application of it to enabling people to travel with their heels uppermost is, doubtless, 203 | Centrifugal Railway Exhibition. Anzeige in: The Manchester Times and Gazette vom 2.4.1842. Sowie: Extraordinary Exhibition. Anzeige in: Liverpool Mercury vom 22.4.1842. Beide Anzeigentexte: www.personal.psu.edu/faculty/v/a/vac3/centrifugal.html (20.5.2013). 204 | Siehe beispielsweise Poser, Geistererscheinungen, S. 156ff. 205 | Grand Double Centrifugal Railway. Anzeige in: The Derby Mercury vom 5.7.1843, www.personal.psu.edu/faculty/v/a/vac3/centrifugal.html (20.5.2013). 206 | Siehe beispielsweise: Centrifugal Railway. In: The Belfast News-Letter vom 26.4.1842, www.personal.psu.edu/faculty/v/a/vac3/centrifugal.html (20.5.2013). Sowie mit etwas ironischem Unterton: Centrifugal Railways. In: Daily Evening Bulletin (San Francisco) vom 23.7.1863, www.personal.psu.edu/faculty/v/a/vac3/centrifugal.html (20.5.2013). 207 | Centrifugal Railway. In: Mechanic’s Magazine, Museum, Register, Journal and Gazette, 978 vom 7.5.1842, S. 360. Zur Bedeutung der Institutionen für die Verbreitung von technischem Wissen siehe beispielsweise Philips, S. 188. 208 | Centrifugal iron Railway, von Hutchinson, Higgins and others, Registration No. 1196, April 14, 1842. Siehe: List of Designs Registered between March 27th and April 27th, 1842. In: Mechanic’s Magazine, Museum, Register, Journal and Gazette, 977 vom 30.4.1842, S. 350.

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new.«209 Entsprechend wurde ein Artikel über die Centrifugal Railway auch in The Year-Book of Facts in Science and Art von 1843 aufgenommen.210 Zudem werden die Bahnen in mehreren englischsprachigen Zeitungsartikeln als »machine« und »extraordinary machine« bezeichnet.211 Eine französische Karikaturenserie von 1846 thematisiert Schwierigkeiten von Eisenbahnfahrten durch Loopings.212 Unter dem Stichwort Eisenbahn heißt es 1858 in Pierer’s Universal-Lexikon: »Das physikalische Spielwerk, die Centrifugal-E., ist nur als Curiosum zu betrachten«; eingeordnet ist die Bahn als Transportmittel, dessen »Betrieb durch Schwerkraft« erfolgt.213 Der Eintrag macht mehreres deutlich: (i) Loopingbahnen wurden durchaus als technische Anlagen gesehen. (ii) Ihre Einordnung in die Kategorie ›Transportmittel‹ war offensichtlich nicht ganz eindeutig,214 sondern bedurfte (iii) einer Positionierung, die mit der Verortung in einem Artikel über ein zweckorientiertes, hochmodernes Transportsystem des 19. Jahrhunderts einerseits als moderne Technik und andererseits als »physikalisches Spielwerk« – somit als Gegenstand wissenschaftlichen Spiels – und »Curiosum« erfolgte. Für Loopingbahnen lässt sich also sowohl eine zeitgenössische Einordnung als wissenschaftliches und technisches Artefakt wie auch als Spiel festhalten, die vielleicht auf die Abkunft der großen Bahnen von Spielzeug-Loopingbahnen verweist. Achterbahnen und ihre Vorläufer in Form von Switch-Back Railways oder Rutschen mit Aufzügen wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert vor allen Dingen in den USA in großer Zahl patentiert; sie erhielten damit gleichsam eine offizielle Einordnung als technische Anlagen. Analog zu Loopingbahnen wurden sie durch die Bezeichnung Railway auch begrifflich einem technischen System zugeordnet. Die Einordnung als Railway, die zwar nicht ihrer Funktion, aber der technischen Konzeption der Bahnen und deren Sicherheitseinrichtungen entspricht, wurde – wenn man in diesem Punkt einem Bericht der New York Times Glauben schenkt – auch von europäischen Eisenbahnexperten übernommen, die 1905 eine Scenic Railway kennenlernten.215 Eindeutiger als Rutschbahnen oder Loopings wurden Achter209 | Centrifugal Railway. In: Mechanic’s Magazine, Museum, Register, Journal and Gazette, Nr. 978 vom 7.5.1842, S. 360. 210 | The Year-Book of Facts in Science and Art (1843), S. 15. 211 | »Extraordinary machine«: St. Helena Gardens, Rotherhithe. Grand Centrifugal Railway. In: Lloyd’s Weekly Newspaper (London) vom 13.7.1851. ›Machine‹: St. Helena Gardens, Rotherhithe. Grand Centrifugal Railway. In: The Era (London) vom 10.8.1851, www. personal.psu.edu/faculty/v/a/vac3/centrifugal.html (20.5.2013). 212 | L’Ilustration Journal Universel von 1846, abgedruckt bei Cartmell, S. 28. 213 | Eisenbahn. In: Pierer’s Universal-Lexikon, 5 (1858), S. 572-582, S. 575. 214 | Diese Überlegung wird durch entsprechend vorsichtige Formulierungen in zeitgenössischen Zeitungsartikeln nahegelegt; siehe beispielsweise Centrifugal Railways. In: Daily Evening Bulletin (San Francisco) vom 23.7.1863, www.personal.psu.edu/faculty/v/a/ vac3/centrifugal.html (20.5.2013). 215 | Foreign Railroad Men See Our Coney Island. In: The New York Times vom 1.6.1905.

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bahnen demnach schon zu Beginn ihrer Entwicklung als technische Anlagen oder Systeme wahrgenommen, die zu Spiel und Vergnügen konzipiert worden waren. Das für Fahrten auf Thrill rides notwendige Sich-der-Technik-Aussetzen war und ist eng mit der Wahrnehmung technikbasierter Ereignisse während der Fahrt verbunden. Bei Scenic Railways dominierten die gezeigten Szenerien vermutlich,216 während bei Rutschen, Loopings und Achterbahnen ohne szenische Gestaltung die technikbasierten Empfindungen im Vordergrund standen. Dies ermöglichte den Besuchern, ein Gespür für die genutzte Technik und ihre Wirkungsweise zu entwickeln. Vielfahrer beziehungsweise Fans können aufgrund ihres Erfahrungswissens Fahrten einordnen, Bahnen vergleichend bewerten, deren Wirkung vor einer Erstfahrt einschätzen, oder auch Vorlieben für bestimmte Streckenführungen entwickeln.217 Die Motivation für Fans scheint eine Mischung aus Technikfaszination und der Freude am Rauscherlebnis zu sein. Gerade in Anbetracht des technikbasierten Rausches ilinx, auf den sich Mitglieder dieser Besuchergruppe bewusst einlassen, stellt sich die Frage, in wie weit es hier zu einem Gefühl der Verschmelzung mit Technik kommen kann, wie dies von Sportlern im Umgang mit ihrem Gerät bekannt ist.218 Auf analytischer Ebene können Spezialisten sogar Konstruktionsstile einzelner Hersteller erspüren; zumindest wird dies vorgegeben. Wenn dem so ist, geht es nicht nur um die Wahrnehmung von Technik als solcher, sondern um das Erfassen bestimmter Technikstile.219 Entsprechend heißt es in einer Beschreibung eines Inverted Coasters des Schweizer Unternehmens Bolliger & Mabillard von 1999 im Insidermagazin Coasters and more: »Betrachtet man … die [beiden] Anlagen [des aus zwei Bahnen bestehenden Coasters] isoliert voneinander, so bieten deren … Strecken eher ›nur‹ Bolliger & Mabillard Durchschnitt.«220 Diese Wahr216 | Scenic Railways waren entsprechend als Aussichtsbahnen konzipiert und sollten kleine touristische Reisen inszenieren; Szabo, Rausch und Rummel, S. 162. 217 | In der Sendung ›Mission Nervenkitzel‹ versuchen zwei Achterbahnfans, ihre Begeisterung zu vermitteln; dabei wird deutlich, dass sich ihre Erfahrungen nur teilweise in Sprache fassen lassen. Mission Nervenkitzel, Spiegel TV, 27.5.2005, 22.00 – 23.00 Uhr, VOX. Ankündigungstext: www.spiegel.de/sptv/tvthema/a-356311.html (11.9.2013). 218 | Alkemeyer, Verflüssigung, S. 188ff. 219 | Die Analyse von Technikstilen zählt zu den klassischen Fragestellungen der Technikgeschichte, die in verschiedenen Kontexten thematisiert und rethematisiert wurde; siehe dazu Heßler, Ansätze und Methoden, S. 52. Als Beispiele seien genannt W. König, Künstler und Strichezieher: Konstruktions- und Technikkulturen im deutschen, britischen, amerikanischen und französischen Maschinenbau zwischen 1850 und 1930. Frankfurt a.M. 1999. Sowie: A. Fickers, »Politique de la grandeur« versus »Made in Germany«. Politische Kulturgeschichte der Technik am Beispiel der PAL-SECAM-Kontroverse. = Pariser historische Studien, 78. München 2007. 220 | J. Peschel, Dragon Challenge – Inverted Coaster Duo der besonderen Art. In: Coasters and more, 54 (2012), www.coastersandmore.de/rides/duelingdragons/duelingdragonsmain.shtml (13.5.2013).

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nehmung könnte auf eine bewusste Produktpflege der Hersteller hinweisen, die – vergleichbar der Entwicklung im Automobilbau – in Anbetracht immer ähnlicher werdender Konstruktionen in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen haben dürfte, zumal das Spektrum von Konstruktionsmöglichkeiten im Achterbahnbau inzwischen weitgehend ausgereizt ist.221 Nicht als Fan, sondern eher als wohlwollender Kritiker befuhr Florian Dering im Zuge seiner Sammlungstätigkeit für das Münchner Stadtmuseum zahlreiche Achterbahnen. Er beschreibt das Fahrgefühl auf einer historischen Holzachterbahn als völlig anders als auf modernen Anlagen: »Im Gegensatz zur geschmeidigen Fahrt auf heutigen Bahnen [aus den 1980er Jahren] rumpelt hier [bei einer 1932 erbauten Achterbahn mit Holzgerüst und Metallschienen, auf der Wagen mit Metallrädern eingesetzt sind] der Zug in die Kurven, die Wagen schlagen an die Banden, bei Talfahrten rattern die Räder, in den einfachen Sitzen wird man dauernd hin- und hergeschüttelt – man fühlt den Direktkontakt zur wirklich ›harten‹ Schiene«.222 Der Autor macht deutlich, dass es nicht unbedingt moderne Bahnen sein müssen, die die Emotionen besonders stark ansprechen: Bei einer Wilden Maus aus den 1950er Jahren, einem relativ langsamen Achterbahn-Fahrgeschäft, das infolge scharfer Kurven dennoch erhebliche Beschleunigungswerte aufweist »verging mir die Gelassenheit. Bei jeder Kurve dachte ich, aus dem Wagen geschleudert zu werden – bei dieser Bahn bekam ich zum ersten Mal richtig Angst«.223 Technisch unterstützt wurde Derings Erlebnis neben den geringen Kurvenradien durch einen langen Vorbau der Wagen, der den Besuchern in Kurven den Eindruck vermittelt, gleich abzustürzen. Tatsächlich können ältere Anlagen höhere Beschleunigungswerte aufweisen und damit leichter zu einem Rauscherlebnisführen, weil aufgrund medizinischer und sicherheitstechnischer Untersuchungen geringere Grenzwerte für die Vertikal- und Horizontalbeschleunigung bei Fahrten auf Neubauten erlassen wurden.224

221 | Der Leiter der Entwicklungsabteilung der Fa. Mack Rides, Thorsten Köbele, wies in seinem Vortrag »Wie konstruiert man den ›Kick‹ in eine Achterbahn hinein? Zum Bau von Fahrgeschäften für moderne Vergnügungsparks« im Arbeitskreis Technikgeschichte des VDI Berlin-Brandenburg am 22. März 2007 darauf hin, dass das Spektrum der Konstruktionsmöglichkeiten im Achterbahnbau weitgehend ausgereizt ist; vor diesem Hintergrund gehe es nun eher um den Bau von Bahnen an ungewöhnlichen Orten – und um die Anpassung der Bahnen an dortige Gegebenheiten. 222 | Dering, Volksbelustigungen, S. 127. Siehe auch Puttkammer/Szabo, S. 11. Eine weitere Beschreibung der Bahn im Vergnügungspark Bakken bei Kopenhagen gibt ein Artikel in einem Insider Magazin: Bakkens Rutschebanen nach dem Umbau. In: Parkscout plus (2010), www.parkscout.de/magazin/bakkens-rutschebanen-nach-dem-umbau/ (11.6.2013). 223 | Dering, Volksbelustigungen, S. 127. 224 | Schützmansky, S. 82ff.

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Ein weitgehend absehbarer, perfekter Fahrt- und Spielverlauf, wie ihn modernere Stahlachterbahnen bieten, bedeutet in letzter Konsequenz Langeweile. So verwundert es nicht, dass es zu einer Renaissance von Holzkonstruktionen im Achterbahnbau kam, die trotz geringerer Geschwindigkeiten und weniger gewagten Streckenführungen zu bieten scheinen, was Passagiere moderner Stahlachterbahnen offensichtlich vermissen: »Geht es nach den Liebhabern des klassischen »shake, rattle, rolls«, muss eine Fahrt auf dem Woodie [einer Holzachterbahn] ruckeln, schütteln und holpern«, schreibt ein Ingenieur in einem Insider-Magazin mit sanfter Ironie.225 Dabei nähmen Enthusiasten in Kauf, dass »50 Prozent aller Holz-›Klassiker‹ … bereits bei der ersten Fahrt Kopfschmerzen [verursachen]. Das dauernde Vibrieren und Rütteln der Züge auf der weichen, aus etwa sieben bis zehn Holzbrettern gebogenen und genagelten Schiene ist nicht jedermanns Sache«, heißt es warnend.226 Auch wenn dieser Ausbruch aus dem Mainstream signalisiert, dass die Entwicklung immer schnellerer, immer exakter funktionierender Bahnen den Nutzern nicht unbedingt gerecht wird, lässt sich dies als allgemeine Entwicklungsrichtung seit den späten 1950er Jahren festhalten. Dabei wandelte sich der Spielcharakter von Thrill rides immer mehr von einem Spiel der Besucher zu einem Vorspiegeln des Spiels durch die Unternehmen. Achterbahnen wurden mit der Wiedereinführung von Holztrassen in den 1990er Jahren Gegenstand einer Nostalgiebewegung, die sich nicht nur auf die äußere Gestaltung der Anlagen bezog und bezieht, sondern auch, vielleicht sogar primär, auf das durch die Bahnen vermittelte Fahrgefühl. Vergleichbar anderen technischen Retroprodukten227 sind die neuen Holzachterbahnen allerdings moderne Konstruktionen, die mit neuen, schweren Chaisen betrieben werden und entsprechend robust ausgelegt sein müssen; zudem wurden sie wesentlich höher und steiler gebaut als ihre bis in die 1950er Jahre errichteten Vorläufer. Mit ihren – im Vergleich zu Stahlachterbahnen – dichten Holzfachwerkkonstruktionen erreichen sie eine beachtliche Massivität und imponieren Betrachtern bereits durch schiere Größe.228 Sie bieten dem Publikum gewohnte, starke Reize und ein Fahrerlebnis, das das auf modernen Stahlachterbahnen mit dem einer Fahrt auf einer alten Holzachterbahn kombiniert. Unter Kompromissen hinsichtlich des Designs und der Leistungsfähigkeit des Materials229 entstehen – und das ist typisch für Nostalgieprodukte – eigenständige Konstruktionen und Fahrerlebnisse, die an 225 | Coastersandmore.de – Das Achterbahn Magazin: Ausgabe 53 – August 2012 (Editorial). In: coaster and more, 2012, www.coastersandmore.de/index.php (8.6.2013). 226 | Ebenda. 227 | Man denke an Autos, deren Gestaltung nicht nur an bekannte historische Namen anknüpft, sondern auch an deren Design. 228 | Hinweis von Andrea Stadler, Markt- und Schaustellermuseum, Essen, Oktober 2013. 229 | Der Ingenieur und Herausgeber des Insidermagazins Coasters and more, Jochen Peschel, gibt die Grenzen der Belastbarkeit bei modernen Retrodesign-Anlagen mit etwa 40 Metern Höhenunterschied und einer Geschwindigkeit von 100 km/h an. Siehe Coaster-

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die historischen lediglich gemahnen. Dennoch verweisen die Nostalgieachterbahnen auf eine Veränderung. Hierzulande hatte die Nostalgiewelle den Jahrmarkt bereits in den frühen 1980er Jahren in Verbindung mit einem wiederentstehenden Interesse an Flohmärkten und ›Antiquitäten‹ erreicht. Während sich nostalgische Angebote damals auf traditionelle, handwerklich gefertigte Produkte, entsprechende Esswaren sowie Karussells mit Tierbesatz oder gar lebendigen Reittieren bezogen,230 wurde in den 1990er Jahren die ›ultra-modern-gewesene‹ Technik zum Gegenstand des Interesses. In England, dem Mutterland des technisierten Jahrmarkts, hatte eine vergleichbare Entwicklung sogar Jahrzehnte früher eingesetzt: Schon in den 1960er Jahren wurden historische Lokomobile auf sogenannten Steam Fairs gezeigt.231 Im Laufe der letzten Jahre entstanden auch in Deutschland ganze historische Jahrmärkte mit alten Fahrgeschäften,232 sodass historische Jahrmarktstechnik zum Kulturgut (im traditionellen Sinne) mutierte.

5. Rutschen, Loopings und Achterbahnen – Ergebnisse Rutschen wurden seit dem frühen 19. Jahrhundert errichtet, Loopings und Achterbahnen folgten in den 1840er Jahren beziehungsweise gegen Ende des Jahrhunderts. Ihre Aufgabe war, im Kontext jahrmarktsähnlicher Veranstaltungen Erlebnisse schneller, rauschhafter Fahrten zu gewähren. Diese Erlebnisse variiersandmore.de – Das Achterbahn Magazin: Ausgabe 53 – August 2012 (Editorial). In: Coasters and more, 2012, www.coastersandmore.de/index.php (8.6.2013). 230 | Siehe A. Krus-Bonazza, »Auf Cranger Kirmes«. Vom Pferdemarkt zum Oktoberfest des Westens. = Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, 80. Münster 1992, S. 397ff. Auf dem Wiener Prater wurde beispielsweise in den 1980er Jahren ein historisches Ponykarussell rekonstruiert; eine nostalgische Gestaltung des Eingangsbereichs erfolgte nach 2000. 231 | Siehe beispielsweise eine Homepage der Great Dorset Steam Fair, die seit 40 Jahren veranstaltet wird: Steam-fair.de, www.steam-fair.de (23.4.2014). Noch etwas älter sind Steam Rallies, Wettfahrten mit Lokomobilen, die seit den 1950er Jahren veranstaltet werden; freundliche Information von Brigitte Aust, Markt- und Schaustellermuseum Essen, im Oktober 2013. 232 | So findet beispielsweise seit Mitte der 2000er Jahre ein historischer Jahrmarkt als gemeinsame Veranstaltung der Jahrhunderthalle Bochum und der Historischen Gesellschaft deutscher Schausteller statt. Seit 2010 werden im Rahmen des Münchner Oktoberfests historische Geschäfte auf der sogenanten Oide Wies’n präsentiert, und in Kornelimünster bei Aachen veranstaltet das Unternehmen Roncalli, das über eine große Sammlung historischer Geschäfte verfügt, Roncallies Historischen Jahrmarkt. Siehe beispielsweise N. Ullmann, Historischer Jahrmarkt lockt immer mehr Besucher an. Jahrhunderthalle Bochum. In: Münstersche Zeitung.de vom 18.2.2013, www.muensterschezeitung.de/ lokales/bochum/Jahrhunderthalle-Historischer-Jahrmarkt-lockt-immer-mehr-Besucheran;art932,1913326 (11.9.2013).

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

ten jeweils zeitspezifisch und in Abhängigkeit von verschiedenen Baukonstruktionen. Gemeinsam ist allen drei Bahnen, dass sie als extrem schnelle Thrill rides eingeordnet werden können. Sie benötigten relativ anspruchsvolle Konstruktionen, die zum Teil als Hightech-Produkte bezeichnet werden müssen. Die Bandbreite des Spielangebots von Rutschen, Looping- und Achterbahnen war beachtlich: Schwerpunkt ist seit dem beginnenden 19. Jahrhundert bis heute der Rausch ilinx, der bei diesen Attraktionen in Verbindung mit dem Schwindel vertigo auftritt. Hinzu kommt die Mutprobe im Umgang mit Technik, die sich als ludus, agon und mimicry ausdeuten lässt. Zudem boten einige Anlagen Anlass zu Wett- beziehungsweise Glücksspielen. Seit Ende des 19. Jahrhundert kam es zudem zur Inszenierung von Thrill rides als Orten von Sportspielen; dies führte mitunter zu Wettkämpfen, eher jedoch zur Entstehung einer weiteren technikbasierten Ebene des Rollenspiels mimicry durch Imitation des Sports. Sowohl die Weiterentwicklung von Konstruktions- und Berechnungsmethoden für statisch-dynamische Systeme, die ein weicheres Fahrgefühl bei höheren Geschwindigkeiten ermöglichten, als auch sicherheitstechnische Auflagen, die die Maximalbeschleunigung begrenzten, wirkten sich auf das Fahrerlebnis und den technisch generierten Rausch ilinx aus. Diese Entwicklung führte zu klinisch reinen Fahrten ohne scheinbar störende Nebeneffekte und mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit, in einen Rauschzustand versetzt zu werden. So gesehen lässt sich die Geschichte von Thrill rides als die Geschichte einer immer präziseren Steuerung von Emotionen deuten – wenn auch wegen individueller Reaktionen der Fahrenden eine gewisse Bandbreite bleibt.233 Eine Verortung der Bahnen als technische Leistung gewann vermutlich erst im Zuge der Industrialisierung an Bedeutung. Für frühe Rutschberge ist sie nur in Einzelfällen eindeutig. Beim Aufkommen von Loopingbahnen Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich dies gewandelt. Zudem wirkten Loopings aufgrund des modernen Baumaterials Eisen ›technischer‹ als Rutschbahnen; entsprechend wurden sie als wissenschaftliche Leistungen und ›extraordinary machines‹ gewürdigt. Bei der Einführung von Achterbahnen um 1900 war schon durch die Namensgebung Scenic Railway der Bezug zur Technik klar. Etwa 50 Jahre später wurde ihr Bau mit dem Übergang von Holz zu Stahl eindeutig eine Ingenieuraufgabe, die sich insbesondere in den letzten Jahrzehnten wachsender Beliebtheit erfreute. Parallel dazu entstanden Fangemeinden, die sich zusammenschlossen, um gemeinsam Achterbahnfahrten zu erleben. Was im Bereich der Konsumgüter beziehungsweise der Technik für den Alltag primär auf der Ebene der Werbung gelang, wurde auf dem Jahrmarkt für wenige Minuten Wirklichkeit: Insbesondere Achterbahnen wurden zu Wunsch-Erfüllungsmaschinen, die ihrer Auf233 | Thorsten Köbele unterstreicht die Bandbreite der individuellen Reaktionen bei Achterbahnbesuchern: Vortrag »Wie konstruiert man den ›Kick‹ in eine Achterbahn hinein? Zum Bau von Fahrgeschäften für moderne Vergnügungsparks« im Arbeitskreis Technikgeschichte des VDI Berlin-Brandenburg am 22. März 2007. Vergleiche Poser, Heiraten Sie, S. 130ff.

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gabe für einen kurzen Moment sogar so gut gerecht werden, dass der Wunsch nach ›Mehr‹ geweckt wird. Allerdings hatten sich die klinisch reinen, scheinbar sanften Fahrten auf Stahlachterbahnen mit zunehmender Perfektion weit vom Fahrgefühl auf historischen Holz-Achterbahnen entfernt; damit leisteten sie der Wiedereinführung von Holztrassen Vorschub und es entstand in den 1990er Jahren eine Nostalgiebewegung, die sich sowohl auf die Gestaltung der Bahnen als Holzbauten wie auf das durch diese Konstruktionen vermittelte Fahrgefühl bezieht. Sie stehen im Kontext eines wachsenden Interesses an historischen Fahrgeschäften, das sich in anderer Weise beispielsweise auch bei Skootern findet, die als Selbstfahrgeschäfte im folgenden Kapitel untersucht werden.

IV. F allbeispiel : S elbstfahrgeschäf te Im Mittelpunkt des folgenden Kapitels sollen sogenannte Selbstfahrgeschäfte234 stehen, die den Reisenden einen weitgehenden Freiraum zu Ausgestaltung ihrer Fahrt lassen. Dieser Freiraum verlangt von Spielwilligen den Erwerb rudimentärer Technikkompetenzen, die sich auf Fahrzeuge und Verkehrssysteme beziehen. Vor dem Hintergrund wachsender individueller Mobilität und der zunehmenden Bedeutung des Autos entwickelten sich Selbstfahrgeschäfte in den 1920er Jahren zu einem neuen Geschäftstyp auf dem Jahrmarkt, dessen Verbreitung sich – sieht man von kriegsbedingten Einbrüchen ab – in den kommenden Jahrzehnten noch beträchtlich steigern sollte. Die Jahrmarktsgeschäfte, denen dieses Kapitel gewidmet ist, stellen Technik zu Spielzwecken auf einer optischen und einer funktionalen Ebene dar: Zum einen sind die Fahrzeuge häufig modellhafte oder auch abstrahierende Abbildungen entsprechender Originale, zum anderen bieten sie technikbasierte individuelle Mobilität, die sich an der Funktionsweise der betreffenden Fahrzeuge orientiert. Charakteristische Spielmöglichkeiten, die im Folgenden näher untersucht werden sollen, sind in erster Linie das Rollenspiel mimicry sowie der Wettkampf agon und der Rausch ilinx. Die prominentesten Vertreter der Selbstfahrgeschäfte sind sicherlich Autoskooter, die sich seit den 1920er Jahren verbreiteten und bald zum klassischen Bestand von Jahrmärkten gehörten. Zu Selbstfahrgeschäften zählen zudem Wasserskooter, die ähnlich Autoskootern individuelles Fahren in kleinen Booten ermöglichten, aber wegen des erheblichen Transport- und Betriebsaufwands nur vergleichsweise geringe Verbreitung fanden,235 sowie Jahrmarktsauto234 | Zu Definitionen siehe beispielsweise Dering, Volksbelustigungen, S. 127; oder P. Parnicke, Oldenburger Jahrmarktstradition. Geschichte und Geschichten zu Oldenburger Schaustellermärkten. Oldenburg 1995, S. 82. 235 | Aufgrund ihrer geringen Verbreitung werden Wasserskooter im Sinne einer stringenten Darstellung hier nicht weiter behandelt. Siehe dazu beispielsweise Dering, Volksbelustigungen, S. 131; La Speranza, S. 82, S. 170, Abb. 48.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

bahnen. Diese Geschäfte, die gleichfalls in den 1920er Jahren entwickelt wurden, waren mit speziellen Benzin- oder Elektrofahrzeugen ausgestattet. Sie bestehen in etwas modifizierter Form als Gokartbahnen bis heute. ›Jahrmarktsautobahn‹ soll im Folgenden als Überbegriff für diesen Typ von Fahrgeschäften genutzt werden.236 Anhand von Autoskootern und Jahrmarktsautobahnen soll wiederum die Verschränkung von technischer Entwicklung und Spiel untersucht werden.

1. Technikgeschichte von Autoskootern und Jahrmarktsautobahnen Die Entwicklung von Autoskootern geht in die frühen 1920er Jahren zurück: Max und Harold Stoehrer, die in Lawrence, Massachusetts, hierzu die Stoehrer & Pratt Dodgem Corporation gegründet hatten, wurde 1921 das erste Patent für diesen neuen amusement apparatus erteilt.237 Zahlreiche weitere sollten folgen. Seit 1923 produzierte und exportierte das Gothaer Unternehmen Fritz Bothmann ›ElektroSelbstfahrer‹.238 1927 begannen Joseph und Robert Lusse in Philadelphia, einen Autoskootertyp zu produzieren, der mit zur Etablierung von Skootern beitrug.239 Sehr erfolgreich waren die italienische Firma Bacchiega aus Bergantino, die ebenfalls 1927 mit der Herstellung von Autoskootern begann, das französische Unternehmen Gaston Reverchon in Samois-sur-Seine, das von 1927 bis 2008 Skooter (und seit den 1970er Jahren auch Thrill rides) fertigte, sowie die Firma Ihle aus 236 | Die von Dering genutzte Bezeichnung ›Benzinautobahn‹ bezieht sich auf die am weitesten verbreitete Antriebsvariante der Fahrzeuge dieser Bahnen, ist aber insofern im Kontext einer technikhistorischen Darstellung irritierend, als sie die (äußerlich gleichen) Fahrzeuge mit Elektroantrieb nicht berücksichtigt. Geese und La Speranza nutzen die Bezeichnung ›Gokartbahn‹ auch für Anlagen, die Dering als Benzinautobahnen beschreibt. Die Unterscheidung zwischen Benzinautobahnen (beziehungsweise Elektroautobahnen) und Gokartbahnen ist als historische Periodisierung hilfreich und wird als Unterkategorie beibehalten. Dering, Volksbelustigung, S. 131; Geese, S. 125, Abb. 127. Siehe auch F. Peters, Freimarkt in Bremen. Geschichte eines Jahrmarkts. Bremen 1962, S. 130. Sowie La Speranza, S. 125, S. 203. 237 | Amusement Apparatus, Max and Harold Stoehrer, Methuan, Massachusetts, Assignator of the Stoehrer & Pratt Dodgem Corporation. United States Patent Office, Patent 1,373,108, Mar. 29, 1921. Zur frühen Entwicklung von Skootern siehe Pursell, Fun Factories, S. 86ff. 238 | M. Ramus, Kulturgut Volksfest. Architektur und Dekoration im Schaustellergewerbe. Köln 2013, S. 58. 239 | Braithwaite, Fairground Architecture, S. 101ff. Bereits 1922 hatte Joseph Lusse ein Patent zu Steuerung und Antrieb von Skootern eingereicht, das 1928 patentiert wurde. Lusses Konstruktion war auf eine einfache Beherrschbarkeit des Fahrzeugs ausgerichtet. Vehicle Controlling Apparatus, Joseph Lusse of Philadelphia, Pennsylvania, Assignor to the Firm of Lusse Brothers, of Philadelphia, … United States Patent Office, Patent 1,665,103, Apr. 3, 1928.

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Bruchsal. Sie begann in den 1930er Jahren mit der Fertigung von Benzin- und Elektrowagen für Schausteller und wurde in der Nachkriegszeit zum führenden Hersteller von Autoskootern in Deutschland, musste aber um 2010 den Betrieb einstellen.240 In Deutschland erregten Skooter 1926 Aufsehen, als sie auf der Ausstellung über Gesundheitspflege, Sozialfürsorge und Leibesübungen, GESOLEI in Düsseldorf fuhren, die über einen großen Bereich mit Vergnügungsangeboten verfügte. Diese Autoskooter hatte der Hannoversche Schaustellungsunternehmer Hugo Haase aus den USA importiert.241 Im Herbst desselben Jahres beschickte sein Kollege, der Bremer Ingenieur Friedrich Wilhelm Sieboldt, den Bremer Freimarkt mit einem solchen Geschäft, im folgenden Jahr war der erste »Elektro-Selbstfahrer« – so eine zeitgenössische Bezeichnung – auf dem Oktoberfest in München vertreten.242 Die Etablierung des Autoskooters habe eine erhebliche Umwälzung für das Jahrmarktsgeschäft bedeutet, urteilt der Autor einer Geschichte des Bremer Freimarkts, Fritz Peters, rückblickend.243 Welche Bedeutung der Neuentwicklung von Produzenten und Schaustellern zugemessen wurde, illustriert das Beispiel Haases, der sich 1927 und 1928 als Weiterentwicklung des Stoehrer-Patents von 1921 eine Autoskooterchaise in Deutschland, Frankreich und Großbritannien patentieren ließ. In der Patentschrift wird bereits der Bezug von Skootern zu Autos hergestellt: »Ils sont faites comme des automobiles«, heißt es in der französischen Ausfertigung.244

240 | Gente del Viaggio. Storie di vita, immagini e macchine degli spettacoli viaggianti di Bergantino, a cura di Elisabetta Silvestrini. Bologna 2000, S. 98. Reverchon Industries. In: Wikipedia, http://fr.wikipedia.org/wiki/Reverchon_Industries (22.8.2013). W. Block, Zur Geschichte der Gebrüder Ihle (2009). In: Gebrüder Ihle Autoskooter [Private Homepage], http://gebr-ihle-autoskooter-forum.de/homepage82012/Seite23.html (22.8.2013). 241 | Siehe beispielsweise Dering, Volksbelustigungen, S. 128. 242 | Haase und Sieboldt importierten vermutlich beide ihre Geschäfte aus den USA; sie waren in den 1920er und 1930er Jahren die einflussreichsten deutschen Schausteller; beide stellten ihre Attraktionen in eigenen Unternehmen selbst her und hatten zahlreiche Angestellte, die mit den Geschäften von Ort zu Ort fuhren. Die Münchner Schaustellerfamilie Lindner importierte ihren Skooter ebenfalls aus den USA. Siehe B. Götz, »Mit Romantik hat unser Beruf nichts zu tun«. Münchner Schaustellerfrauen erzählen aus ihrem Leben. München 1999, S. 70. Zur Begriffsgeschichte siehe Dering, Volksbelustigungen, S. 128f. 243 | F. Peters, Freimarkt, S. 129. 244 | Voiturettes mécaniques utilisé pour le plaisir, Hugo Haase. République Française. Ministère du commerce et de l’industrie. Direction de la propriété industrielle. Brevet d’invention, No A 656,052 de 18.6.1928; Improvements in Motor Vehicles for Amusement Purposes, Hugo Haase. [British] Patent Specification, no 317,930 issued 29.8.1928, beide basierend auf einem Patent des Deutschen Patentamts vom 20.6.1927.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

Abb. 13: Plakat Carnival and Fun Fair, Leicester um 1930. Im Vordergrund der Darstellung steht ein neues Selbstfahrgeschäft mit kleinen Fahrzeugen.

Ein um 1930 im englischen Leicester gedrucktes Plakat, das unter dem Titel Carnival and Fun Fair für eine Jahrmarktsveranstaltung wirbt, dokumentiert die zeitgenössische Bedeutung von Selbstfahrgeschäften: Im Vordergrund ist eine große Fläche mit mehreren autoähnlichen Fahrzeugen zu sehen. Hinter dem Fahrgeschäft erkennt man Karussells und Verkaufsgeschäfte, die um einen Platz im mittleren Bereich des Bildes gruppiert sind, sodass der Blick des Betrachters auf den Schriftzug oben im Bild und auf die mit Autos bestückte Selbstfahranlage im Vordergrund gelenkt wird. Eine Polizistenfigur zum Anstoßen weist darauf hin, dass hier Verkehr gespielt wird – sei es mit kleinen Benzinfahrzeugen oder mit Skootern (Abb. 13).245 Nach anfänglichen Startschwierigkeiten gehören Autoskooter seit den 1930er, spätestens seit den 1950er Jahren zum klassischen Jahrmarktsangebot – bis heute.246 Der Produktionsumfang vergrößerte sich so, dass 245 | Die große freie Fläche spricht für Skooter, weil Benzinautobahnen meist im Oval angelegt waren; allerdings wurde in der Darstellung auf die Stange des Stromabnehmers und das Hallendach verzichtet, wobei dies aus graphisch-ästhetischen Gründen geschehen sein kann. Plakat aus der Schausammlung des Markt- und Schaustellermuseums, Essen. 246 | Vergleiche M. Stoop, S’isch Chilbi-Ziit. Ein illustrierter Querschnitt durch vergangene Chilbijahre (mit einem Seitenblick in die Gegenwart). Stäfa 1997, S. 75.

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beispielsweise das Unternehmen Mack in Waldkirch Mitte der 1960er Jahre eine ganze Werkshalle ausschließlich zur Skooterfertigung nutzte.247 Für Schausteller wurden Skooter zu einem verlässlichen, soliden Geschäft, das ihnen die Einkünfte sicherte, während Achterbahnen zwar spektakulär wirken, aber aufgrund der hohen Investitions- und Betriebskosten ökonomisch hochriskant sind. Zudem haben Skooterhallen eine weitere, tragende Funktion innerhalb der Schaustellercommunity, die ihren Besitzern Anerkennung bringt: Als große, überdachte Flächen sind sie der Ort für Familienfeiern, Hochzeiten, sogar Gottesdienste.248 Etwa gleichzeitig mit Autoskootern entstanden Jahrmarktsautobahnen für kleine Spezialfahrzeuge, die mit gering dimensionierten Benzin- oder auch Elektromotoren ausgestattet waren. Sie wurden entsprechend als Benzinauto-Bahn oder Auto-Bahn bezeichnet.249 Kleinfahrzeuge für solche Auto-Bahnen boten in den 1920er und 1930er Jahren zahlreiche Autoskooterchaisen- und Karussell-Hersteller an – so beispielsweise Bothmann, Gotha, Moosebach und Sohn, Nordhausen, oder Ihle, Bruchsal.250 Ein Abnehmer dieser Fahrzeuge war das Hamburger Schaustellerunternehmen Schippers und van der Ville, das von 1929 bis 1968 eine Avusbahn mit Benzinwagen betrieb; die Anlage wurde während ihres knapp vierzigjährigen Betriebszeitraums einmal, in den späten 1950er Jahren, grundlegend umgebaut und erweitert.251 Die Verbreitung von Jahrmarktsautobahnen war unter Umständen in den 1920er und 1930er Jahren größer als die von Autoskootern; in den 1950er Jahren waren beide ähnlich häufig auf der Festwiese vertreten.252 Im 247 | Thoma, Faszination Karussell- und Wagenbau, S. 224. 248 | Gespräch mit Brigitte Aust, Markt- und Schaustellermuseum, Essen, am 3.8.2013. 249 | Die Schreibweise mit Bindestrich dient hier der begrifflichen Klarstellung. 250 | Siehe beispielsweise: Anzeige des Unternehmens Bothmann, Gotha. In: Komet, Nr. 2057 (1926), S. 19. Anzeige des Unternehmens Moosebach und Sohn, Nordhausen. In: Komet, Nr. 2795 (um 1935), S. 18. Ein Fahrzeug des Unternehmens Ihle aus den 1930er Jahren ist im Markt- und Schaustellermuseum, Essen, erhalten. 251 | Im Zuge des Umbaus wurde die Anlage um etwa ein Drittel von 24 x 12 m auf 32 x 12 m erweitert und die Holzkonstruktion des Gebäudes durch ein Metallskelett verstärkt. Bauscheine und Pläne des Umbaus von 1958 sind im Hamburger Staatsarchiv erhalten: HHStA, Baubehörde I, Erteilung und Verlängerung eines Bauscheins für eine Avus-Bahn »C« der Firma Schippers u. van der Ville, 321 – 3 I 325. 252 | So zählt Krus-Bonazza, S. 142, S. 321, beispielsweise für die Cranger Kirmes 1928 drei Benzinautobahnen und eine Motoradbahn, aber noch keinen Skooter; für die 1950er Jahre nennt sie vier verschiedene Skooterhallen (wobei offen bleibt, ob sie gleichzeitig in Betrieb waren) und drei Autobahnen. Auf dem Wiener Prater scheinen vor dem Zweiten Weltkrieg zwei Benzinautobahnen, eine Elektroautobahn für Selbstfahrer und ein Skooter bestanden zu haben; La Speranza, S. 83, 93, 96, 113. Für die durch zahlreiche Wechsel gekennzeichnete Entwicklung auf dem Prater in der Nachkriegszeit lässt sich festhalten, dass sich Selbstfahrgeschäfte immer weiter verbreiteten, wobei Gokartbahnen auch noch in den 1980er und 1990er Jahren neu entstanden; La Speranza, S. 119ff.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

Laufe der 1960er Jahre wurden diese Bahnen meist zu Gokart-Bahnen modernisiert;253 zwar errichteten Schaustellerbetriebe zudem bis in die jüngste Vergangenheit neue Gokartstrecken, aber ihre Zahl nahm nach der (Benzinautobahn-) Hochphase der 1950er Jahre langsamer zu als die der Autoskooter.

Abb. 14: Die Opel-Bahn des Bremer Schaustellers und Ingenieurs Siebold auf der Dresdener Vogelwiese, um 1927. Auf den Notsitzen im Heck sind die ›Fahrlehrer‹ beziehungsweise eigentlichen Fahrer der Wagen zu erkennen. Mit dem Wandel von Autobahnen zu Gokartbahnen änderte sich das Grundkonzept der freien Beweglichkeit angetriebener Fahrzeuge nicht, das Benzinautobahnen, Elektroautobahnen, Gokart-Bahnen und Autoskooter gemeinsam haben, sodass sich für den Fahrgeschäftstyp Jahrmarktsautobahn analog zu Skootern ein Nutzungszeitraum von den 1920er Jahren bis heute ergibt. Dabei deckten und decken diese Bahnen, deren Wagen zwar mit Stoßstangen und einem Flankenschutz versehen, nicht aber zum Rammen gedacht sind, eher spielerische Fahrerfahrung und sportorientierte Wettkampfspiele ab, während Skooter mit Unfallspielen gleichzeitig eine Persiflage des Verkehrsgeschehens boten und bieten. Ein Spezialfall von Benzinautobahnen sind Opel-Bahnen, die mit echten Kleinwagen dieses Herstellers betrieben und mit großer Wahrscheinlichkeit auch von 253 | Siehe Dering, Volksbelustigungen, S. 131, der aufgrund von Gesprächen mit den Besitzern der Unternehmen Ihle und Mack den Umbau von Autobahnen zu Gokartbahnen für Deutschland auf 1966 datiert.

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ihm direkt angeboten wurden.254 Opel-Bahnen waren von 1927 bis in die Mitte der 1930er Jahre auf zahlreichen großen Jahrmärkten und in Vergnügungsparks vertreten (Abb. 14);255 eine Anlage befand sich beispielsweise im Berliner Luna Park in Halensee, eine andere im Wiener Prater; auch auf dem Bremer Freimarkt, der Dresdener Vogelwiese, dem Hamburger Dom und dem Münchner Oktoberfest fuhren die Wagen.256 Betrieben wurden sie von verschiedenen Schaustellern; ob alle technisch ähnlich waren und auf ein Patent von 1926 zurückgehen, das sich sein Inhaber, Arthur Franke, Berlin, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich und der Schweiz schützen ließ, muss offen bleiben.257 Dass Siebold die Patentrechte Frankes erwarb,258 verdeutlicht, welches Potential dem Geschäft seitens der Schausteller beigemessen wurde, obwohl es aufgrund des teuren Materials – der Originalautomobile – und des aufwendigen Betriebs mit einem Angestellten pro Fahrzeug teuer in der Anschaffung und im Unterhalt gewesen sein dürfte – selbst wenn Sonderkonditionen des Herstellers geboten wurden. Autoskooter und Auto-Bahnen entwickelten sich nicht nur auf dem Jahrmarkt zu Anziehungspunkten, die zum Spiel mit Technik reizten, sondern sie wurden in abermals verkleinerter Form auch als Spielzeug angeboten.259 Die Bandbreite der modellhaften Darstellung von Auto-Bahnen ist nahezu unerschöpflich; unter den Spielzeugbahnen sind solche, die analog zu den Jahrmarktsautobahnen Autorennen als technisiertes Spiel anbieten, besonders zahlreich. Am bekanntesten ist in Deutschland die Carrera-Bahn des Nürnberger Spielwarenherstellers Neuhierl, die 254 | Komet, Nr. 2223 (1927), S. 12; Dering, Volksbelustigungen, S. 131. Siehe auch Krus-Bonazza, S. 142. Die Aufmachung der Geschäfte spricht für ein Engagement des Herstellers. 255 | Erstnennung 1927: Krus-Bonazza, S. 142; Dering, Volksbelustigungen, S. 131. Beispielsweise bestand die Opel-Bahn auf dem Wiener Prater bis 1934; La Speranza, S. 113. 256 | Photos aus dem Nachlass Siebolds zeigen seine Opel-Bahn auf dem Bremer Freimarkt, der Dresdener Vogelwiese und dem Münchner Oktoberfest; Archiv des Markt- und Schausteller-Museums Essen. Auf dem Hamburger Dom war der Schausteller Engelbrecht mit einer Opel-Bahn vertreten; Krus-Bonazza, S. 142. Eine Bahn stand 1929 im Berliner Lunapark; siehe H. Weber, Technisiertes Vergnügen: Unterhaltung im kaiserzeitlichen Berlin. Mag.-Arb. Berlin 2000, S. 90. Zur Bahn im Wiener Prater siehe La Speranza, S. 113, S. 160, Abb. 22, 23. 257 | Kraftwagen für Volksbelustigung. Arthur Franke in Berlin. Deutsches Reich, Reichspatentamt, Patentschrift Nr. 461971 vom 27. November 1926. Die Konstruktion ließ der Anmelder, Arthur Franke, zudem in Österreich und in der Schweiz schützen. Schweizerische Eidgenossenschaft, Eidgen. Amt für Geistiges Eigentum, Patentschrift Nr. 130048, veröffentlicht am 2.1.1929; Österreichisches Patentamt, Patentschrift Nr. 111600, ausgegeben am 10.12 1928. 258 | Eine undatierte Abbildung einer Anzeige Siebolds bringt St. Heins, Opel 4PS als Kirmesattraktion – und Fahrschulauto? In: Opel Clubmagazin, 205 (o.J.), S. 40ff., S. 42. 259 | Von Skootern und Jahrmarktsautobahnen sind zwar historische Photos überliefert, Darstellungen in der bildenden Kunst sind dem Autor hingegen nicht bekannt.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

seit 1963 gefertigt wird. Bahnen mit Autos wurden als Systemspielzeug wohl seit den 1930er Jahren angeboten; überliefert sind spurgeführte Fahrzeuge mit Feder- und Elektroantrieb, die auf Bahnen aus Blech fuhren. Analog zu elektrischen Modellbahnen waren die Elektrofahrzeuge getrennt regelbar, sodass Rennen gefahren werden konnten.260 Das Unternehmen Schuco entwickelte in den frühen 1950er Jahren ein Fahrsystem mit langen Spiraldrähten, die zur Spurführung von Fahrzeugen mit Federantrieb auf dem Fußboden ausgelegt werden konnten.261 Während Auto-Bahnen als Spielzeug und als Jahrmarktsgeschäft gleichermaßen formal wie funktional die Originale imitierten und jeweils eine für die entsprechenden Spielzwecke geeignete Technik genutzt wurde, bezieht sich Autoskooter-Spielzeug ausschließlich auf die entsprechenden Jahrmarktsgeschäfte. Tatsächlich tauchten Skooter als Blechspielzeug in den 1950er Jahren auf. So fertigte beispielsweise das New Yorker Unternehmen J. Chein & Company ein autoskooterähnliches Spielzeug mit zentralem Federantrieb, bei dem figurenbesetze Wagen über eine ovale Bahn geführt werden und die Köpfe der Insassen wackeln, wenn die Fahrzeuge aneinanderstoßen.262 Der Nürnberger Blechspielzeugfabrikant Hoch & Bechmann fertigte in den 1950er Jahren personenbesetzte Spielzeugautoskooterchaisen mit Federantrieb und fahnengeschmückten Stromabnehmern, die amerikanische Autos der frühen 1950er Jahre imitieren.263 Dieses Spielzeug, mit dem zwei zentrale Elemente des Skooterspiels, die Unfälle und das Fahren zeitgenössisch moderner, beeindruckender Automodelle aufgenommen wurden, gibt einen Hinweis auf die Popularität von Autoskootern in den 1950er Jahren. Sie blieb so hoch, dass bis heute mehrere Hersteller Spielzeugchaisen in aktuellem und historischem Design anbieten. Ein ModellbahnzubehörFabrikant nahm sogar einen kompletten Autoskooter in das Programm.264 260 | Eine Spielzeugautobahn aus Blech mit Uhrwerkautos aus den 1930er Jahren ist beispielsweise im Sammlungsbestand des Deutschen Technikmuseums, Berlin, erhalten. Eine um 1930 gefertigte Autobahn mit Elektrofahrzeugen ist unter Ebay-Artikelnummer 360713004512 im Internet dokumentiert (30.8.2013). Ähnliche Bahnen aus den 1950er und frühen 1960er Jahren zeigt F. E. Braun, Das Spiel mit Stahl, S. 106f., Abb. 81ff. 261 | Privatbesitz. 262 | Datenbank für altes Spielzeug www.historytoy.com/Chein-340-Spielzeug Autosc ooter&docid=armDlB1Dt0VCKM&imgurl=www.history.nimg.de/Bilder/Blechspielzeug/ Chein/340-lampella.jpg&w=1248&h=567&ei=NVogUvnBBIbAswbfx4GoDw&zoom=1&ia ct=hc&vpx=1147&vpy= 238&dur=4743&hovh=151&hovw=333&tx=77&ty=168&page=1 &tbnh=132&tbnw=254&start=0&ndsp=49&ved=1t:429,r:16,s:0,i:130 (30.8.2013). Als Herstellungsdatum der Anlage ist 1953 angegeben. 263 | Eine Abbildung siehe in: Virtuelles Spielzeug-Museum. Blechspielzeug und andere alte Spielsachen. Kirmesspielzeug aus den 1950/60er Jahren, www.blechspielzeug-museum.de/kirmes/kirmesspielzeug.html (30.8.2013). 264 | Siehe die Homepage des Unternehmens Faller, www.faller.de/App/WebObjects/ XSeMIPS.woa/cms/page/pid.14.17.90.132/agid.1179/atid.402/ecm.at/AutoscooterTop-In.html (30.8.2013).

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2. Technische Entwicklung Bereits 1890 wurde das für Skooter genutzte Prinzip, Elektrofahrzeuge über eine stromführende Fläche überkopf und eine geerdete Leiterplatte auf dem Boden mit Strom zu versorgen, in den USA patentrechtlich geschützt; als Hauptanwendungsbereich wird in der Patentschrift »a place of simple amusement« genannt und damit auf den Nutzen dieser technischen Entwicklung für das Spiel hingewiesen.265 Allerdings scheint die Erfindung nicht weiter verfolgt worden zu sein.266 Jedenfalls konnten sich Max und Harold Stoehrer 1921 dasselbe Prinzip noch einmal patentieren lassen – ergänzt um den Auf bau einer Skooterhalle und die Konstruktion eines lenkbaren Elektrofahrzeugs, das Strom über einen Stromabnehmer von der Hallendecke und über seine Räder von einer Metallplatte auf dem Boden bezieht.267 Da sie gleichzeitig mit der Produktion begannen und zu diesem Zweck ihre Firma gründeten, werden sie heute meist im Kontext der Erfindung von Autoskootern genannt.268 In technischer Hinsicht bieten Autoskooter ein Beispiel einer Spezialentwicklung für den Jahrmarkt, die neue Spielvarianten ermöglichte und gleichzeitig durch die Veränderung dieser Spiele beeinflusst wurde. Die grundlegenden, für das Spiel relevanten Entwicklungen von Autoskootern erfolgten im Wesentlichen in den 1920er bis 1950er Jahren. Wichtige Neuerungen der Nachkriegszeit wie die Einführung von Münzautomaten und Veränderungen der Hallenkonstruktion waren Rationalisierungsschritte zur Optimierung der Betriebsabläufe, die sich zwar auf die Gestaltung und die Arbeitsbedingungen, nicht hingegen auf das Spielangebot auswirkten.269 265 | Electrically-Propelled Vehicle, James Adair, of New York. United States Patent Office, Patent 421,887, Feb. 25, 1890. 266 | Pursell, Fun Factories, S. 86. 267 | Amusement Apparatus, Max and Harold Stoehrer, Methuan, Massachusetts, Assignator of the Stoehrer & Pratt Dodgem Corporation. United States Patent Office, Patent 1,373,108, Mar. 29, 1921. Das Patent von Adair wird hier nicht genannt. 268 | Siehe beispielsweise Braithwaite, Fairground Architecture, S. 101. Der Autor verweist auf die USA und ordnet Stoehrers Patent als »primitive form of Dodg’em« Wagen ein. Dering weist auf England und Amerika als Ursprungsorte hin und nennt das Jahr 1921; Dering Volksbelustigung, S. 129. Geese nennt Stoehrer; Geese, S. 96, S. 101. 269 | Von Relevanz für die Arbeitsbedingungen war insbesondere die Einführung von SkooterMünzautomaten in den 1950ern: Vor Einbau der Automaten in jedes Fahrzeug erlitten die unter Zeitdruck arbeitenden Kassierer in der Halle häufig Fußverletzungen. Das Bild von humpelnden Kassierern prägte sich ein. Gespräch mit Brigitte Aust, Markt- und Schaustellermuseum, Essen, 3.8.2013. Die Entwicklung von Hallen mit zahlreichen Stützen zum sogenannten Zweisäulenskooter bedeutete eine Zeit- und Arbeitsersparnis, die sich ebenfalls in sinkenden Zahlen von Arbeitsunfällen niederschlug. Im Sinne einer stringenten Darstellung werden diese Entwicklungen hier nicht weiterverfolgt. Siehe dazu beispielsweise Dering, Volksbelustigungen,

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

Abb. 15: Steuerung eines Autoskooters. Zeichnungen aus der französischen Patentschrift für den Schaustellungsunternehmer Hugo Haase, Hannover, von 1928. Die Gestaltung des Skooters nach dem Vorbild zeitgenössischer Autos und der charakteristische Gummiwulst sind sichtbar. Fahrgeschäfte, die Mobilitätstechnik für den Individualverkehr zu spielerischen Zwecken darstellen, gehen in das 19. Jahrhundert zurück. Beginnend mit Fahrrädern (1869) und Automobilen (1904)270 fanden diese Fahrzeuge sehr schnell ihren Weg auf Karussells. Auch einige Scenic Railways wurden nach der Jahrhundertwende mit autoförmigen Chaisen ausgestattet.271 Gerade bei Fahrrädern und Autos gewährten Fahrgeschäfte ein Stück weit den – nahezu unerschwinglichen – Traum vom eigenen Gefährt. Der Verkehr, vor allen Dingen das Selbst-Fahren, S. 130. Sowie: St. Poser, Glücksmaschinen oder Mechanismen des gestörten Gleichgewichts? Technik auf dem Jahrmarkt. In: Szabo, Kultur des Vergnügens, S. 101-121, S. 106f. 270 | Die Zahlen beziehen sich auf Deutschland. 271 | Cartmell, S. 79.

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wurde und wird hier zum Erlebnis.272 Bis zum Aufkommen von Skooter-Vorläufern scheint es allerdings nur wenige Jahrmarktsattraktionen gegeben zu haben, die wirkliches Selbstfahren boten;273 vielmehr waren die Besucher weitgehend auf verschiedene spurgeführte Fahrmöglichkeiten angewiesen. Direkte Skooter-Vorläufer entstanden vor dem Ersten Weltkrieg: Auf einer sogenannten Wellenbahn, die auch als ›Eiserne See‹ bezeichnet wurde, fuhren die Fahrgäste in kleinen lenkbaren Wagen. Analog zum Karussell erfolgte der Antrieb zentral. Die einzelnen Fahrbahnsegmente bestanden aus Eisenblechen, die leicht angehoben wurden, um die Wagen so auf einer schiefen Ebene von einem Fahrbahnsegment zum nächsten zu beförderten. Eine solche Anlage wurde 1912 im Berliner Lunapark errichtet, eine weitere ab 1913 von Hugo Haase in seinem Vergnügungspark in Hamburg-Stellingen betrieben.274 Eine Wellenbahn stand bis 1924 regelmäßig auf dem Bremer Freimarkt und fand großen Zuspruch, war jedoch nicht mehr rentabel, als Autoskooter aufkamen.275 Gegenüber den Skootern mit Einzelantrieb, deren Fahrzeuge zunächst denen der Wellenbahn ähnelten, war die Anlage mit größerem technischen Aufwand verbunden; zudem blieben die Steuerungsmöglichkeiten für das Publikum begrenzt. Die Wellenbahn erweist sich mit ihrem zentralen Antrieb zur Lösung einer Konstruktionsaufgabe, die aus heutiger Warte Einzelantriebe benötigt, als ein Beispiel für die Pfadabhängigkeit technischer Entwicklungen.276 Der Elektroeinzelantrieb, der bei einigen wenigen Karussells angewandt wurde, hatte sich auch in der Industrie nur lang-

272 | Poser, Vergnügliche Industrialisierung, S. 114ff. Zur gesellschaftlichen Verbreitung von Rädern und Autos sowie sinkenden Preisen siehe beispielsweise König, Massenproduktion, S. 442f. 273 | Ein Beispiel für ältere Selbstfahrgeschäfte sind sogenannte Velodrome, Plätze, auf denen man mit Fahrrädern fahren konnte, die zum Teil so umgebaut waren, dass die Fahrt zu einer artistischen Übung wurde. Ein Velodrom stand beispielsweise von 1901 bis 1962 auf dem Oktoberfest: F. Dering, U. Eymold, Das Oktoberfest 1810 – 2010, offizielle Festschrift der Landeshauptstadt München. München 2010, S. 162f. 2013 wurde im historischen Bereich des Oktoberfests wieder ein Velodrom errichtet; freundliche Information von Andrea Stadler, Markt- und Schaustellermuseum, November 2013. 274 | Ein weiteres neues Fahrgeschäft der frühen 1920er Jahre, der Wilde Esel, lässt sich ebenfalls als Skootervorläufer betrachten; hier wurden allerdings Passagiere von einem Chauffeur gefahren; deshalb fällt das Geschäft nicht unter die hier betrachteten Selbstfahrer. Zum Wilden Esel und zu Haases Eisernen See siehe Dering, Volksbelustigungen, S. 127f., zur Eisernen See im Berliner Lunapark H. Weber, Technisiertes Vergnügen, S. 87. 275 | F. Peters, Freimarkt, S. 129. 276 | Zum Modell der Pfadabhängigkeit und dessen Geschichte siehe zusammenfassend König, Technikgeschichte, S. 86ff.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

sam und unter kontroversen Diskussionen durchgesetzt; allerdings war dieser Prozess am Vorabend des Ersten Weltkriegs schon weitgehend abgeschlossen.277 Anders als Achterbahnen entwickelten sich Skooter nicht zu Hightech-Produkten;278 vielmehr basierten sie bereits in den 1920er Jahren weitgehend auf gängiger Technik: Elektromotoren, ja Elektrofahrzeuge waren lange bekannt; dasselbe gilt für das Konzept des Einzelantriebs. In technischer Hinsicht neu war hingegen die Realisierung der Stromeinspeisung auf einer ganzen Fläche anstelle von Gleis und Stromschiene oder Oberleitung. Diese Lösung verhalf den Skootern innerhalb einer abgegrenzten Spielfläche zu einer Bewegungsfreiheit, die der von Individualverkehrsmitteln entspricht. Obwohl Autoskooter sich – mit Ausnahme der Stromabnahme von geladenen Flächen – nicht durch spektakuläre Konstruktionen auszeichnen, sind eine Reihe von charakteristischen technischen Entwicklungen mit ihnen verbunden: • Analog zu Autos waren die Skooter zunächst mit einem Hinterradantrieb ausgestattet. Noch in den 1920er Jahren erfolgte der Übergang zum Frontantrieb unter Kombination von Motor und Lenkung, wozu verschiedene, noch nicht ganz ausgereifte Lösungen entstanden: Hugo Haase entwickelte eine 1927 patentierte Steuerungs- und Antriebseinheit für Autoskooter mit einem beweglichen, horizontal gelagerten Motor, dessen Antriebsenergie über Zahnräder und eine Kette durch einen ringförmigen Schlitz auf das Vorderrad übertragen wurde.279 Gemäß einer Patentschrift der Dodgem Corporation von 1930 sollte ein vertikal ausgerichteter Motor fest über der Achse montiert werden und die Lenkung auf eine Mantelkonstruktion wirken, die die Antriebswelle umhüllte; eine Weiterentwicklung von 1932 sah einen ebenfalls vertikal montierten, beweglichen Motor vor, der jedoch mit der Achse gedreht wurde.280 Mit 277 | Der VDI bot hier ein Diskussionsforum. Siehe beispielsweise: Sitzungsberichte der Bezirksvereine. Berliner Bezirksverein [Vortrag Hartmann: Elektrischen Kraftübertragung – mit kontroverser Diskusion]. In: Zeitschrift des Vereines deutscher Ingenieure, 37 (1893), S. 657f. 278 | Die Technik sei gleich geblieben, berichtet die Münchner Schaustellerin Hanneliese Lindner 1998 – vermutlich in Bezug auf die Entwicklung seit den frühen 1970er Jahren, als sie einen Skooter von ihren Eltern übernahm. Götz, S. 75. 279 | Hugo Haase in Hannover. Für die Vergnügungseinrichtung gemäß Patent 352 769 [von Stoehrer 1921] bestimmter Selbstfahrer. Deutsches Reich, Reichspatentamt, Patentschrift Nr. 493552 vom 21. Juni 1927. Anders als in diesem Patent wird in der englischen Fassung der Vorderradantrieb genannt: Improvements of Motor Vehicles for Amusement Purposes [für Hugo Haase]. [British] Patent Specification no. 317, 930, Complete Accepted Aug. 29, 1929. 280 | Amusement Device, Fred L. Markey, Assignor to Dodgem Corporation, of Lawrence, Massachusetts, United States Patent Office, Patent 1,772,220, Aug. 5, 1930. Sowie: Amusement Device, Fred L. Markey, Assignor to Dodgem Corporation, of Lawrence, Massachusetts, United States Patent Office, Patent 1,839,981, Jan. 5, 1932.

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dem steuerbaren Frontantrieb war die Grundkonzeption von Skootern gegeben und gleichzeitig ein Prinzip realisiert worden, das im Automobilbau zur Diskussion stand. Die damit verbundenen technischen Lösungen waren zwar anders als im PKW-Bau, wo der erste Vorderradantrieb 1930 für einen Wagen von Stoewer gebaut wurde, aber die Argumentation in der Patentschrift von 1930, der Antrieb ermögliche eine verbesserte Traktion und Steuerung, entsprach derjenigen für den Frontantrieb bei Personenwagen.281 • Die umlaufenden Stoßstangen und Gummiwülste, die Passagiere und Fahrzeuge bei Zusammenstößen schützen sollten, waren Spezialentwicklungen für Jahrmarktsfahrzeuge. Ein frühes Patent für Puffer »for circular cars or tubs such as are used in amusement devices of various kinds« wurde 1923 erteilt; der Patentinhaber bezieht sich als Anwendungsbereich ausdrücklich auf die Stoehrerschen Skooter.282 Obwohl hier bereits luftgefüllte Puffer empfohlen werden, sollten sich luftgefüllte Gummiwülste erst in der Nachkriegszeit durchsetzen. In einer Gebrauchsmusterschutzanmeldung aus den 1960er Jahren wird ein Zusammenhang zwischen dieser Sicherheitstechnik und der Fahrzeuggeschwindigkeit hergestellt: »Gegenstand der Neuerung ist eine Stoßdämpfereinrichtung für Autoskooter, die derart wirksam ist, dass die mögliche Höchstgeschwindigkeit dieser Fahrzeuge heraufgesetzt werden kann«.283 • Weil Funkenbildung bei der Stromabnahme die Netze in den Skooterhallen so heiß werden lässt, dass bei üblichen, im Nachhinein verzinkten Netzen kleine Zinktropfen aus den Kreuzungspunkten der Maschen herabfallen und zu Augenverletzungen führen können, musste das Produktionsverfahren geändert werden. Die Firma Ihle entwickelte beispielsweise in den späten 1960er Jahren unter Hinweis auf die Verletzungsgefahr eine Ersatzlösung, die die Stromabnahme aus dem Überkopfnetz vermied.284 Inzwischen werden die Netze aus bereits verzinktem Material hergestellt; zudem wurden die Stromabnehmer

281 | R. Bauer, Per aspera ad astra. Zu den Krisenreaktionen des deutschen Automobilbaus in den frühen 1930er Jahren und deren mittelfristigen Folgen. In: Technikgeschichte, 78 (2011), S. 25-44, S. 35ff. Sowie Amusement Device, Fred L. Markey, Assignor to Dodgem Corporation, of Lawrence, Massachusetts, United States Patent Office, Patent 1,772,220, Aug. 5, 1930. 282 | Revoluble Buffer, Earl J. Silvius, of Saalem, New Hampshire. United States Patent Office, Patent 1, 467, 456, Sept. 11, 1923. Zudem nennt der Autor ein Fahrgeschäft von William F. Mangels. 283 | Stoßdämpfereinrichtung für Autoskooter, Anmelder: Cesare Pelucchi, Mailand, Aldo Cordoni, Mailand, Enzo Soli, Reggio Emilia. Bundesrepublik Deutschland. Deutsches Patentamt, Gebrauchsmustereintrag Nr. 1922368 vom 26.8.1965. 284 | Fahrbahn und darauf bewegliches Elektrofahrzeug, insbesondere für das Vergnügungsgewerbe, Anmelder Dieter Ihle. Bundesrepublik Deutschland. Deutsches Patentamt, Offenlegungsschrift 1963165 vom 24.6.1971.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

umkonstruiert, um Funkenbildung zu reduzieren.285 Damit fiel allerdings ein Charakteristikum der Autoskooter, das Zischen und Funkenschlagen weg, das einen Teil ihrer Faszination beim Fahren wie beim Zuschauen ausmachte.286 Besondere Bedeutung für das Spiel mit Skootern hatte die Einführung des Rückwärtsfahrens 1956.287 Diese Möglichkeit bestand zwar bei den frühen Fahrzeugen von Stoehrer, deren Antrieb gemäß Patentbeschreibung beliebig drehbar ist,288 die folgenden Modelle waren hierfür jedoch nicht eingerichtet. Durch eine volle Umdrehung des Lenkrads wird das Vorderrad nun mit dem Antrieb um 1800 Grad gedreht; die Laufrichtung des Motors bleibt unverändert. So erreichten und erreichen die Wagen eine beachtliche Wendigkeit, die den Spaß am Fahren steigerte.289 Für Jahmarktsautobahnen wurden kleine Zweisitzer gebaut, deren Gestaltung sich an zeitgenössische Sportwagen anlehnte, wobei einige Wagen deutlich einzelne Automarken imitierten. Als Antrieb dienten Benziner wie beispielsweise Fahrrad-Hilfsmotoren sowie Elektromotoren mit Autobatterien oder einer Unterflur-Stromversorgung. Entsprechend ließ sich die technische Entwicklung dieser Fahrzeuge weitgehend von gängigen Kleinfahrzeugen ableiten. So verwundert es nicht, dass der Hersteller Ihle vor seinem Einstieg in die Sparte der Jahrmarktsfahrzeuge Fahrräder und Sportwagen auf Basis von Kleinwagenchassis baute.290 Eine Benzinautobahn auf dem Wiener Prater wurde vermutlich in den 1950er und 1960er Jahren mit Ihle-Zweitaktern betrieben, die 4,5 bis 6 PS leisteten; das Anlassen erfolgte wie bei Außenbordmotoren über einen Reversierstarter, und eine Fliehkraftkupplung ermöglichte, den Motor auch im Stand laufen zu lassen. Eine groß dimensionierte Trommelbremse sorgte für ein rasches Abbremsen der ca. 170 kg schweren Wagen.291 Ein anderes Beispiel bietet eine Mitte der 1950er Jahren in der DDR entstandene Autobahn für Kinder, die Halle-Saale-Schleife der Schau285 | »So eine Fahrt, das ist etwas Herrliches«. Interview mit Werner Stengel In: Szabo, Kultur des Vergnügens, S. 145-157, S. 155. 286 | Entsprechend erinnert sich ein Zeitzeuge, dass er um 1968 über eine Skooterpiste ›donnerte‹ »und die Funken an den Fahrstangen sprühen« sah. A. Rolla, Gehse aufe Kirmes … . Ein bunter Streifzug über die Festplätze an Emscher, Ruhr und Rhein durch 1000 Jahre Kirmesgeschichte. 4. Aufl., Bottrop 2008, S. 54. 287 | F. Peters, Freimarkt, S. 130. 288 | Amusement Apparatus, Max and Harold Stoehrer, Methuan, Massachusetts, Assignator of the Stoehrer & Pratt Dodgem Corporation. United States Patent Office, Patent 1,373,108, Mar. 29, 1921. 289 | R. Bogena, Faszination Auto-Skooter. In: Kirmes & Park Revue (7/2001), S. 46-49, S. 46f. 290 | Block, Geschichte der Gerbrüder Ihle, unpaginiert. 291 | Die Anlage bestand als Gokartbahn bis 1993; La Speranza, S. 125. Der Besatz muss zwischendurch von kleinen Benzinwagen auf Gokarts umgerüstet worden sein, die der Autor terminologisch nicht unterscheidet.

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stellerfamilie Adebar. Dem Fahrbetrieb dienten industriell hergestellte BenzinKinderautos, die mit einem 1 PS Aggregat für Fahrräder motorisiert waren, das ihnen eine Geschwindigkeit von bis zu 8 km/h verlieh. Das Starten erfolgte durch Anschieben, eine Fliehkraftkupplung ermöglichte das Anhalten bei laufendem Motor, und ein Dekompressionsventil diente zum Abschalten.292 Ein großer betriebstechnischer Nachteil der Bahnen mit Benzinfahrzeugen oder batteriegetriebenen Elektrofahrzeugen bestand gegenüber Skootern darin, dass die Motoren nur von den Fahrzeugen aus gestoppt werden konnten und sich kein Skootern vergleichbarer Generalabschalter vorsehen ließ. Eine Ausrüstung der Fahrzeuge mit Zeitschaltern, wie sie einige Bahnen für Kinder zumindest seit den späten 1960er Jahren haben,293 ermöglichte zwar, dass die Wagen nach einer definierten Zeit stehenblieben, aber in Notfällen ließ sich der Betrieb nicht unterbrechen, was immer wieder zu Hackenverletzungen und Chaos führte.294 Dieses technische Manko und die Konzeption, die Wagen zwar für alle Fälle mit Stoßstangen und Flankenschutz, nicht jedoch mit unfallgeeigneten und damit unfallprovozierenden Gummiwülsten zu versehen, bedingten eine bestimmte Streckenführungen: Anstelle der freien Fläche von Skootern war eine straßenähnliche Fahrstrecke notwendig, die den Fahrtverlauf automatisch reglementierte; nicht nur die Fahrtrichtung war so bestimmt, sondern auch das Anhalten zum Fahrgastwechsel ließ sich leichter einrichten beziehungsweise erzwingen. Diese technischen und organisatorischökonomischen Bedingungen galt es für die Schausteller spielerisch zu rahmen. Opel-Bahnen boten in den 1920er und 1930er Jahre für knapp ein Jahrzehnt durch die Nutzung von originalen Kleinwagen als Jahrmarktsfahrzeuge den Besuchern den Reiz des Authentischen. Für den beteiligten Hersteller handelte es sich um eine exzellente Werbemaßnahme. Die Bahnen wurden mit dem ersten mit Einsatz von Fließbandfertigung hergestellten Wagen deutscher Provenienz, dem unter der Bezeichnung ›Laubfrosch‹ bekannten Opel 4 PS betrieben und Opel-Bahnen oder Opel-Fahrschulen genannt. Einige Geschäfte präsentierten auf ihrer Schauseite den Wagen,295 auf dessen gute Vermarktung das Unternehmen

292 | Die 1956 in Betrieb genommene Halle-Saale-Schleife war das einzige Fahrgeschäft dieses Typs in der DDR. Siehe: Kirmes-Special. Schausteller und Volksfeste der DDR. Sonderband der Kirmes & Park Revue. Reichertshausen 2006, S. 84. 293 | Eine solche Anlage, bei der als Motorräder gestaltete Elektrofahrzeuge für Kinder auf einer abgegrenzten Freifläche fuhren, bestand beispielsweise in Diano Marina, Norditalien, Ende 1960er Jahre; Betreiber einer vergleichbaren Anlage des Restaurants Freischütz bei Schwerte (Ruhrgebiet) geben ein ähnliches Alter ihrer Fahrzeuge an, die zuvor allerdings als Karussellbesatz dienten. Gespräch mit dem Betreiber in Schwerte, März 2013. 294 | Halle-Saale-Schleife. In: Kirmes Special DDR, S. 84. 295 | Siehe beispielsweise ein Geschäft Friedrich Wilhelm Siebolds um 1930, Photographie, Nachlass Siebold, Markt- und Schaustellermuseum, Essen.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

infolge vergleichsweise hoher Produktionszahlen angewiesen war.296 Vor diesem Hintergrund wurde dezidiert auf die Möglichkeit zur Technik-Traum-Verwirklichung auf dem Jahrmarkt hingewiesen: hier böte sich die Gelegenheit, »mit einem Original-4-PS-Opel-Kleinauto zu fahren und [es] selbständig zu steuern. Die sechs in Betrieb stehenden Normalwagen sind so konstruiert, daß jedermann die Führung des Wagens übernehmen kann. Somit bedeutet diese Bahn die Erfüllung einer lang gehegten Sehnsucht, denn hier ist jeder sein eigener Chauffeur«.297 Dieses Fahrgeschäft weckte vermutlich nicht nur Technikakzeptanz der Chauffeure, sondern deren Technikbegeisterung. Gleichzeitig ermöglichte oder suggerierte es ihnen eine erste flüchtige und spielerische Aneignung der Technikkompetenz, die zwanzig bis dreißig Jahre später in Mitteleuropa zum allgemeinen Standard werden sollte, und trug so zur Entwicklung des Automobilismus bei. In Anbetracht der relativ komplizierten technischen Handhabung von zeitgenössischen Automobilen, gepaart mit den geringen Vorkenntnissen der Besucher sowie in Anbetracht der vergleichsweise hohen Schadenskosten im Falle von Unfällen, musste die ›Erfüllung der langgehegten Sehnsucht‹ durch Technik und Knowhow unterstützt werden. »Erreicht wird dies dadurch, daß sämtliche Bedienungshebel für Lenkung, Bremsung usw. im hinteren Teil des Wagens angeordnet sind und daß eine vorn befindliche Lenkeinrichtung … von der hinteren Lenkeinrichtung durch einen mitfahrenden ›Fahrlehrer‹ oder Kraftwagenlenker außer Wirkung gesetzt werden kann. … Die Bedienung des Schalthebels, der Kupplung und der Bremse erfolgt ausschließlich von dem Fahrlehrer … Die Lenkung des Wagens kann dagegen auch von den vorn sitzenden Passagieren bedient werden«

heißt es dazu in Frankes Patent eines Kraftwagens für Volksbelustigung von 1926.298 In technischer Hinsicht wurde für die Jahrmarktswagen die Anordnung der Plätze für Fahrer und Passagiere vertauscht. Franke interpretierte die Lenkung als das zentrale Element des Fahrzeugs, dessen Mitbedienung den Fahrgästen ein Gefühl des Selbstfahrens vermitteln sollte. Entsprechend findet sich in der Patentschrift die Empfehlung, die Lenkung des ›Fahrlehrers‹ so zu gestalten, dass ihre Funktion für die Fahrgäste nicht erkennbar sei. Trotz der Spezialkonstruktion der Opel-Jahrmarktswagen mag eine Fahrt den lenkenden Besuchern neben Technikbegeisterung auch ein gewisses Maß an 296 | Das Unternehmen steigerte seine Kapazitäten erheblich. Zur Produktion des Opel 4 PS siehe beispielsweise J. Bönig, Die Einführung von Fließbandarbeit in Deutschland bis 1933. Zur Geschichte einer Sozialinnovation, 1. Münster 1993, S. 443. Ähnliches gilt auch für Motorroller-Fabrikanten. So wurde ein Heinkel-Roller 1960 vom Hersteller eigens für Steilwandfahrten entwickelt. Siehe Opschondek/Dering/Schreiber, S. 30. 297 | Komet, Nr. 2223 (1927), S. 12 (Herv. Poser); zitiert nach Dering, S. 131. 298 | Kraftwagen für Volksbelustigung. Arthur Franke in Berlin. Deutsches Reich, Reichspatentamt, Patentschrift Nr. 461971 vom 27. November 1926.

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Handhabungskompetenz vermittelt haben. Denn Lernen erfordert eine Komplexitätsreduktion. Sie erfolgt bei einem technischen Sachsystem – wie es ein Auto ist – durch die Konzentration auf einen Vorgang, während weitere Vorgänge, die im Rahmen einer Mensch-Maschine-Interaktion notwendig sind, von anderen Personen (hier dem ›Fahrlehrer‹) übernommen werden müssen. Dennoch: Das Motto »Jeder kann auteln!« der Opel-Bahn im Berliner Lunapark entsprach demnach eher den Tatsachen als der in der Schaustellerzeitschrift Komet überlieferte Werbespruch »hier ist jeder sein eigener Chauffeur«, weil ›auteln‹ offen lässt, wer die Herrschaft über den Wagen hat.299 In den 1960er Jahren wurden Gokarts in Europa populär, während das Angebot des Autofahrens in Anbetracht der zunehmenden Motorisierung nur noch für Kinder und Jugendliche interessant blieb. Dieser Wandel betraf insbesondere Benzinautobahnen mit etwas größeren Fahrzeugen, deren Fahrgäste wohl primär jüngere Erwachsene waren.300 Entsprechend bot sich für die Schausteller ein Umrüsten auf Gokartbahnen an, die technische und ökonomische Vorteile mit dem Flair des Modernen verbanden. Die kleinen Spezialfahrzeuge von Benzinautobahnen haben etwa die Abmessungen von Gokarts, sodass sie sich leicht austauschen ließen. Gokarts waren aufgrund ihres geringen Gewichts und ihres niedrigen Schwerpunkts wendiger und zudem mit ihrer einfachen Konstruktion deutlich billiger, zumal man auf Wagen aus dem Sport- und Freizeitbereich mit höheren Produktionszahlen zurückgreifen konnte.301 Für Schausteller motivierend war sicher auch, dass sich Hersteller von kleinen Benzinwagen und Skootern wie das Unternehmen Ihle in den 1960er Jahre auch in der Gokart-Entwicklung betätigten.302 Die Entwicklung von Gokarts zu Sport- und Freizeitzwecken 299 | Erstes Zitat nach H. Weber, Technisiertes Vergnügen, S. 90; zweites Zitat nach Dering, Volksbelustigungen, S. 131. 300 | Siehe dazu beispielsweise die Photos in G. Eberstaller, Schön ist so ein Ringelspiel. Schausteller, Jahrmärkte und Volksfeste in Österreich. Geschichte und Gegenwart. Wien 2004, S. 64; La Speranza, S. 172, Abb. 53. Ähnliches galt auch für die Opel-Bahn in der Vorkriegszeit; siehe La Speranza, S. 160, Abb. 22, 23; sowie die Photographie der Sieboldschen Opel-Bahn, Abb. 14. 301 | Frühe Gokarts waren mit Motoren von Rasenmähern oder Motorsägen ausgestattet; ein amerikanisches Unternehmen bot einen Gokart mit Benzinmotor 1958 für 130 USD an, während ein Autoskooterwagen 1971 um 3000 DM kostete. Anzeige »It’s a Go-Kart« des Unternehmens MFG, CO, Monrovia, California, aus der Zeitschrift Car Craft (9/1958), online verfügbar unter: Die Geschichte des Kartsports, www.mabroselvisworld.com/Kart/ geschichte%20des%20kartsports.htm (22.8.2013). Zum Preis von Skootern in den frühen 1970er und den 1990er Jahren: Stoop, Chilibi, S. 79; Götz, S. 75. 302 | B. G. Wagner, Kart-Sport in Deutschland. 2. Aufl., Stuttgart 1973, S. 14, S. 71. Sie auch: 50 Jahre Kartsport. Jahre 1961 und 1962: Strukturen entstehen. In: Kart-Magazin.de (2010), www.kart-magazin.de/index.php/50-jahre-kartsport/123/2232-jahre-1961-und1962-strukturen-entstehen (22.8.2013).

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

stammt aus den USA und reicht in die Mitte der 1950er Jahre zurück; 1959 wurden sie in Frankreich vorgestellt, und 1960 fand das erste Rennen in Deutschland statt. Einfache Gokarts der ersten Generation, die zunächst mit getunten Motoren von Rasenmähern oder Kettensägen angeboten wurden, hatten bis zu 5 PS und entsprachen damit der Motorisierung von Benzinautobahnwagen, waren aber mit einem Gewicht von 25 bis ca. 60 kg deutlich leichter und wendiger.303 Die Modernisierung von Jahrmarktsautobahnen unter Ausstattung mit Gokarts reflektiert die Popularität dieser Sportfahrzeuge in den 1960er Jahren und förderte sie mutmaßlich. Nicht von ungefähr kamen Gokarts zum Treten nun auch als Kinderfahrzeuge auf.304 Das Gokartdesign betonte die bereits bei den Autobahnwagen vorhandene sportliche Note noch einmal in zeitgemäßer Weise; zudem wurden die Gokartbahnen meistens in die Höhe gebaut und die Fahrbahn durch mehrere Etagen geführt; dies ermöglichte eine längere Fahrstrecke auf einer kleineren Grundfläche und machte die Fahrt durch zahlreiche Kurven attraktiver.

3. Spiel Die Skooterhalle markiert mit ihrem etwas erhöhten Umgang, der verhindert, dass Fahrzeuge über die Fahrbahn hinausschießen, eindeutig ein Spielfeld. So verwundert es nicht, dass im ersten Skooterpatent der Stoehrer & Pratt Dodgem Corportion der Fahrbereich der Skooterhalle als »playing field« bezeichnet wird.305 Innerhalb des Spielfelds findet zirkuläre Mobilität nach eigenen, außerhalb nicht gültigen Regeln statt, die beispielsweise das gegenseitige Rammen der Verkehrsteilnehmer zulassen. Zudem bieten Skooter die Möglichkeit, anstelle einer Fahrbahn eine ganze Fläche zu befahren; das damit verbundene Freiheitsgefühl ist außerhalb der Anlage selten erlebbar. Skooter boten in den 1920er Jahren mit motorgetriebenem Selbstfahren etwas gänzlich Ungewohntes. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg wussten Kinder in Westdeutschland mit dem Spielangebot ›Steuerrad‹ an Fahrzeugen noch wenig anzufangen.306 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass gegenüber den Autoskootern in den Anfangsjahren eine gewisse Scheu bestand – ganz im Gegensatz zu späteren Jahren, als sie vom hohen gesellschaftlichen Stellenwert des Autos und der zunehmenden Motorisierung profitierten. »Erster Tag, die Leute 303 | Gewichtsangabe für Rennfahrzeuge, Wagner, Kart-Sport, S. 21, S. 25. 304 | So produzieren beispielsweise die Unternehmen Kettler, Ense-Parsit, und Puky, Wülfrath, seit den 1960er Jahren Gokarts für Kinder; Kettler gibt 1962 als Jahr der Markteinführung an. 305 | Amusement Apparatus, Max and Harold Stoehrer, Methuan, Massachusetts, Assignator of the Stoehrer & Pratt Dodgem Corporation. United States Patent Office, Patent 1,373,108, Mar. 29, 1921. 306 | Beobachtung Erich Knockes, des Besitzers und Leiters des Markt- und Schaustellermuseums, Essen, aus der Anfangszeit seiner Tätigkeit als Schausteller in der direkten Nachkriegszeit; Gespräch im Oktober 2010.

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sind gestandn, ham geschaut und keiner wollt fahrn«, bis sich endlich ein Paar getraut habe, berichtet eine Schaustellerin über den Probelauf des ersten Skooters in Passau 1927.307 Selbst auf dem Wiener Prater hatte das erste Autodrom 1926 Startschwierigkeiten.308 Auch noch für die 1940er Jahre beschreibt ein Schweizer Schausteller Ähnliches: »Die Skooter waren anfänglich kein grosser Erfolg. Die Leute hatten Angst vor dem Neuen, sie mussten sich daran gewöhnen«.309 Die Spielidee, die den ersten Skootern Anfang der 1920er Jahre zugrunde lag, war etwas anders als bei späteren Anlagen. Die Fahrzeuge wurden so ausgelegt, dass »in the hands of an unskilled operator, they will follow a promiscuous irregular, or undefined path over the floor«.310 Technisch realisierten die Produzenten dies durch ein großes, völlig frei steuerbares Antriebsrad mit drei (ebenfalls) um 3600 drehbaren Rädern, die lediglich mit einem feststehenden Laufrad kombiniert waren. Die Konstruktion sollte Kollisionen mit anderen Fahrzeugen und mit der gepolsterten Randbegrenzung fördern, »to produce sensations and thrills not obtainable through devices which are intended to follow a direct or straight path as in case of the ordinary automobile«.311 Das Auto wird hier sowohl zum Vorbild für das Spiel als auch zum Objekt der Abgrenzung, weil es nach Einschätzung der Patentnehmer konstruktionsbedingt weniger Spaß vermittelt als ihre unberechenbaren Skooter-Gefährte. Tatsächlich stellte die Zeitschrift Scientific American bei einem Test 1921 fest, dass die Fahrzeuge der Dodgem Corporation »highly unmanageable« seien und dass »the steering is only relative.«312 Diese Skooter waren gemäß Eintrag in der Patentschrift in weitaus höherem Maße auf Thrill-Erlebnisse und neue Körpererfahrungen ausgelegt als spätere Konstruktionen; gemeinsam haben sie dieses Ziel mit Thrill rides.313 Die hohe Belastung bei Zusammenstößen, die nach Aussagen des Achterbahndesigners Werner Stengel zu Beschleunigungswerten bis zu

307 | Der Probeaufbau und -lauf des ersten Skooters für das Oktoberfest fand auf einem kleinen Jahrmarkt in Passau statt; Götz, S. 71. 308 | Autodrom ist die österreichische Bezeichnung für Skooterhalle. Siehe La Speranza, S. 93. 309 | Y. Messen-Jaschin, F. Dering, A. Cuneo, P. Sidler, Die Welt der Schausteller vom XVI. bis zum XX. Jahrhundert. Le monde des forains du XVIe au Xxe siecle. Lausanne 1986, S. 50. 310 | Amusement Apparatus, Max and Harold Stoehrer, Methuan, Massachusetts, Assignator of the Stoehrer & Pratt Dodgem Corporation. United States Patent Office, Patent 1,373,108, Mar. 29, 1921. 311 | Ebenda. 312 | Zitiert nach S. Gussow, Going Bum in the Night. A Short History of Bumper Cars. In: Automobile Magazine, (11/1997), www.lusseautoscooters.com/html/legend_history. html (14.7.2013). 313 | Siehe beispielsweise: Roller Coasting Structure. LaMarcus A. Thompson, of South Chicago, Illinois. United States Patent Office, Patent 310.966, January 20, 1885.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

8 g führen kann,314 und die häufigen, schwer vorhersehbaren Kollisionen förderten im Fall früher Skooter Rauscherlebnisse vielleicht stärker als dies später der Fall sein sollte. Jedenfalls lag hier der intendierte Hauptspielzweck. Zwar entsprachen diese frühen Autoskooter den Konstruktionsprinzipien späterer Anlagen, ihr Spielzweck und die geringen Einflussmöglichkeiten der Nutzer auf den Spielablauf verorten sie jedoch eher im Kontext von Attraktionen mit unlenkbaren Gefährten, in denen die Passagiere verschiedenen Ereignissen ausgesetzt wurden, wie sie beispielsweise William F. Mangels Tickler beziehungsweise Wackeltopf von 1906 bot: Die Fahrgäste wurden in kleinen, frei beweglichen und drehbaren Wagen mittels Schrägaufzug auf eine Anhöhe gebracht, von der aus sie unter zahlreichen Drehungen und Stößen eine mit Hindernissen versehene schräge Ebene hinabrollten. Diese, auf einen »exiting ride« ausgelegte Anlage, deren erste Version einem übergroßen Einarmigen Banditen ähnelt, kombinierte Elemente einer Achterbahn mit kleinen, antriebslosen Wagen.315 Die Unternehmer Stoehrer mögen das dem Rollenspiel ›Autofahren‹ innewohnende Potenzial trotz der Autobegeisterung zu Beginn der amerikanischen Massenmotorisierung unterschätzt und deshalb Thrill und neue Körperempfindungen oder – um es mit Caillois zu formulieren – ilinx als Spielmöglichkeit in den Vordergrund gestellt haben. Aufgrund ihrer großen Popularität waren Achterbahnen unter Umständen zumindest für amerikanische Jahrmärkte und Vergnügungsparks der frühen 1920er derartig prägend, dass ein neues Fahrgeschäft ohne das Angebot vergleichbarer Thrill-Erlebnisse als zu langweilig empfunden worden wäre. Der Hinweis Max und Harold Stoehrers auf ›unskilled operators‹ macht deutlich, dass die frühen Autoskooter über zwei Spielebenen verfügten, die der 1. Fahrgäste im Umgang mit den technischen Artefakten und die der 2. Schausteller und Produzenten, die durch das Angebot schwer beherrschbarer Gefährte die Fahrenden jahrmarktstypischen Überraschungen aussetzten und damit eine zusätzliche Belustigung boten.

314 | So eine Fahrt, Interview mit Werner Stengel, S. 155. Stengel dürfte hier übertrieben haben, um zu zeigen, dass Skooter gefährlicher seien als seine eigenen Produkte. 315 | Amusement Device, William F. Mangels, of New York. United States Patent Office, Patent 820,805, May 15, 1906. Siehe auch Cartmell, S. 81. Umgesetzt wurde der Tickler vermutlich in einer sicherheitstechnisch optimierten Form mit einem genauer vorgegebenen Fahrweg, die im Folgejahr patentiert wurde: Amusement Device, William F. Mangels and Charles N. Brewster, of New York. United States Patent Office, Patent 873,570, Dec. 10, 1907. In der zweiten Version war der Tickler unter der Bezeichnung »Wackeltopf« beispielsweise auf mehreren Berliner Rummelplätzen und im Berliner Lunapark in Halensee aufgestellt; siehe I. Heinrich-Jost, Wer will noch mal? Wer hat noch nicht? Aus der Geschichte der Berliner Rummelplätze. Berlin 1985, S. 56; H. Weber, Technisiertes Vergnügen, S. 85.

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Bei Autoskootern der nächsten Generation entfiel die zweite Ebene; das Publikum wurde nun eher über die gute Performance einzelner Fahrender unterhalten, die Bewegung auf der Anlage, bald auch in Kombination mit wechselnder Beleuchtung und Musik, während die Belustigung durch unfreiwillige Zusammenstöße demgegenüber abnahm. Die Anforderungen beim Skooterfahren mit frühen Fahrzeugen gingen – was das Steuern anbelangt – über die der werdenden Kulturtechnik ›Autofahren‹ hinaus und konnten nur an Ort und Stelle durch mehr oder minder spielerisches Versuchen erlernt werden. Dieses Erfahrungslernen im Umgang mit Technik316 lässt sich im Sinne Caillois als ludus interpretieren, als spielerische Annährung an ein selbst gestecktes Ziel. Es hatte jedoch gegenüber dem Erfahrungslernen auf späteren Skootern den Nachteil, dass die Fahrenden zunächst fast unausweichlich mit ihrer eigenen Ungeschicklichkeit konfrontiert wurden. Im Gegensatz zu Fahrgeschäften wie Karussells, Riesenrädern oder Achterbahnen, bei denen Betrachtern klar war, dass sie im Fall einer Fahrt praktisch keinen Einfluss auf die Geschehnisse haben würden, und im Gegensatz zu Velodroms, deren Gästen aufgrund der Konstruktion der zur Verfügung stehenden Spezialräder bewusst war, dass es sich um Geschicklichkeitsspiele handelte,317 vermittelten Autoskooter den Eindruck, steuerbare Fahrzeuge zu seien. So dürften zahlreiche Besucher bei ihrer ersten Skooterfahrt an ihren Fähigkeiten gezweifelt haben. Tatsächlich ging die Dodgem Coporation schon nach kurzer Zeit vom ihrem ilinx-orientierten Spielangebot ab und veränderte die Konstruktion der Wagen so, dass sie leichter steuerbar waren. In der betreffenden Patentschrift wird auf diese Veränderung nur an versteckter Stelle eingegangen: Ziel sei ein leichter und praktikabler Wagen mit geringen Produktionskosten, der die Sicherheit der Fahrenden gewährleiste, heißt es im einführenden Abschnitt. Erst inmitten der Beschreibung taucht der Hinweis auf, dass sich dieser Wagen nach den Wünschen des Fahrers steuern lasse.318 Die Zeichnungen zeigen nun anstelle einer runden eine ovale Chaise mit einem lenkbaren Vorderrad, Hinterradantrieb und zwei fixierten Laufrädern; zusätzliche Stabilisatoren im vorderen Bereich vermeiden ein Umkippen des Skooters bei engen Kurvenfahrten.319 Deutlicher wird die neue Zielrichtung in einem Patent von 1930 formuliert, in dem mit einer Ver316 | Siehe dazu A.-N. Nohl, Pädagogik der Dinge. Bad Heilbrunn 2011, S. 73ff. 317 | Unter den Fahrzeugen waren ›einfache‹ Hochräder ebenso vorhanden wie Niederräder, die sich infolge von Spezialeinbauten auf ungewöhnliche Art antreiben und lenken ließen oder mit Exzentern ausgestattet waren. Eine Reihe solcher Räder hat das Markt- und Schaustellermuseum, Essen, im Sammlungsbestand. 318 | Amusement Device, F. Stoehrer, of Methuen, Massachusetts, Assignor to Stoehrer and Pratt Dodgem Corporation of Laurence, Massachusetts. United States Patent Office, Patent 1,652,840, Dec. 13, 1927. Das Patent war bereits 1923, 2 ½ Jahre nach Inkrafttreten des ersten Patents, beantragt worden. 319 | Ebenda, Fig. 1f.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

besserung der Fahreigenschaften und der leichteren Handhabbarkeit der Chaise durch »inexperinced operators« für die Neukonstruktion mit Frontantrieb argumentiert wird.320 Gegenüber dem ersten Patent der Firma von 1921 bedeutete dies eine Kehrtwende, die auf einen Wandel des Spiels mit Autoskootern hinweist: Deren Nähe zu Autos war nun wichtiger, der Hauptspielzweck der Skooter wurde das Autofahren, das als technikthematisierendes Rollenspiel mimicry eingeordnet werden muss. Entsprechend lehnten die Dodgem Corporation und andere Hersteller auch die äußere Formgebung der Wagen an Automobile an. Diese formale Gestaltung, die über die Nutzung jeweils zeitgenössisch moderner Vorbilder sowohl Modernität vermittelte, als auch auf den Spielzweck Autofahren hinweist, sollte sich bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert halten. Zudem wurden in den 1930er Jahren Skooter-Motorräder entwickelt.321 Die Dekoration einiger Skooterhallen trug zumindest in den 1930er bis 1950er Jahren durch Gestaltungselemente wie Verkehrsschilder oder Polizistenfiguren, die auf der Fläche postiert wurden, zu einer entsprechenden Atmosphäre bei.322 Wagen mit Tiergestalten, die in der Skooterhalle an einen Zirkus gemahnen sollten, stießen hingegen auf beiden Seiten des Atlantiks auf wenig Resonanz, obwohl ein Lautsprechersystem den Fahrenden die Kontaktaufnahme untereinander erleichterte und damit zusätzliche Spielmöglichkeiten bot.323 In einer zeitgenössischen Anzeige der Dodgem Corporation wird die Ähnlichkeit des Skooter-Fahrerlebnisses mit dem Autofahren herausgestellt: »Each car seats two persons side by side, and is equipped with a steering wheel and starting pedal so that either one or both riders can start, stop and steer the car about the floor. This is a feature that appeals to men, women and children of all classes, as it is a wellknown fact that almost everybody is anxious to drive an automobile. For the experienced automobile driver, greater thrills are afforded, as they collide, sideswipe and chase one another around. Everyone delights in the Dodgem Junior combination of automobile driving features and dashing performance«. 324

Friedrich Wilhelm Siebold setzte mit dem Ruf »Jeder sein eigener Chauffeur ohne Führerschein« und der Verortung seines Skooters als »originellsten Auto320 | Amusement Device, Fred L. Markey, Assignor to Dodgem Corporation, of Lawrence, Massachusetts. United States Patent Office, Patent 1,772,220, Aug. 5, 1930. 321 | Siehe beispielsweise Amusement Appartus, Harold Stoehrer, Manatee, Fla. and Fred L. Markey, Exeter, N.H., Assignors to Dodgem Corporation, Lawrence, Mass. United States Patent Office, Patent 2,005,400, June 18, 1935. 322 | Siehe beispielsweise das Plakat Carnival and Fun Fair aus Leicester (um 1930), Abb. 13. 323 | Braithwaite, Fairground Architecture, S. 103f. 324 | Anzeigentext der Dodgem Corporation um 1926/27, zitiert nach B. H. Woodman, The Salisbury Beach Dodgem: A Smashing Ride (1920-1980), www.lusseautoscooters.com/ html/legend_history.html (1.8.2013).

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sport« von Anfang an auf Autofahren und Sport als Spielinhalt.325 Eine 1926 in der Schaustellerzeitung Komet geschaltete Anzeige des Karussellbauunternehmens Bothmann, Gotha, zeigt die Fahrzeuge, ein kleines Auto mit Flankenschutz und einen Skooterwagen, dessen Gestaltung denen der Gebrüder Stoehrer ähnelt, zentral positioniert; darunter befindet sich eine ovale Skooterhalle, die etwas kleiner dargestellt ist als die Fahrzeuge. Die Firma biete – so der Anzeigentext – »Elektro-Selbstfahrer mit Automobilen oder kleinen, zweisitzigen Fahrzeugen, die auf einer großen Fahrbahn von den Fahrgästen selbst geführt werden«.326 Eine Anzeige des Unternehmens Moosebach und Sohn, Nordhausen, kommt knapp zehn Jahre später allein mit zwei Fahrzeugen aus, deren Gestaltung sich in beiden Fällen an Automobilen orientiert.327 Sowohl die Hersteller-Anzeigen als auch die Werbung des Schaustellers Siebold weisen darauf hin, dass bei den sich nun etablierenden Spielen mit Autoskootern das Rollenspiel mimicry im Umgang mit Auto-Mobilitätstechnik im Vordergrund steht. Bei Autoskooterbesuchen hat die Möglichkeit, ›Unfall‹ zu spielen, wesentlichen Anteil am Reiz der Fahrt.328 Im Fall der seit den späten 1920er Jahren verbreiteten Autoskooter sind Unfälle in geringerem Maß dem Zufall geschuldet als bei älteren Modellen, sondern können infolge der vereinfachten Steuerung von einzelnen Teilnehmern gezielt herbeigeführt werden. So wird ein im Alltag negativ bewertetes Ereignis, dessen Eintritt jedoch zum üblichen Risiko der automobilen Gesellschaften gehört, für das Spiel positiv umgedeutet. Entsprechend lassen sich Skooterunfälle zwar auch als Aggressionsventil deuten, zumal aggressivem und destruktivem Verhalten in Caillois Konzept Raum gegeben wird.329 Aber primär lassen sie sich als karnevaleskes Spielelement der paidia interpretieren, das die Fahrfreude und Automobilbegeisterung verstärkt, ohne als (intendierte) Verhaltensweise aus dem Freiraum der Spielfläche heraus in den Alltag übertragen zu werden. Die lustvolle symbolische Zerstörung von Autos scheint hier eher einen kanalisierenden Effekt zu haben als aufzurütteln.330 Gerade Unfällen kommt beim Skooterfahren noch eine andere Rolle zu: Sie werden zur technikbasierten 325 | Bremer Nachrichten vom 20.10.1926, zitiert nach F. Peters, Freimarkt, S. 129f. 326 | Anzeige des Unternehmens Bothmann, Gotha. In: Komet, Nr. 2057 (1926), S. 19. 327 | Anzeige des Unternehmens Moosebach und Sohn, Nordhausen. In: Komet, Nr. 2795 (um 1935), S. 18. 328 | Siehe dazu auch Stoop, Chilibi, S. 79. 329 | Siehe Eberstaller, S. 60. Zu aggressiven und destruktiven Tendenzen des rauschhaften Spiels bei Caillois vergleiche Ebeling, ilinx, S. 149; siehe Kap. C.II dieser Arbeit. 330 | Aufzurütteln gelang beispielsweise Wolf Vostell mit einer Reihe von Happenings in den 1950er bis 1970er Jahren, die Autos, Unfälle und (ruhenden) Verkehr thematisierten. Als Werkübersicht siehe beispielsweise: Vostell. Retrospektive 1958 – 1974. Neuer Berliner Kunstverein in Zusammenarbeit mit der Nationalgalerie Berlin, Staatl. Museen Preuß. Kulturbesitz; 12. April bis 1. Juni 1975 in der Neuen Nationalgalerie [Ausstellungskatalog]. Berlin 1975.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

Kommunikationsmöglichkeit, zum Mittel der Kontaktaufnahme mit Fremden, vorrangig des anderen Geschlechts. Die Möglichkeit dieser Kontaktaufnahme ist jahrmarktstypisch und wird bei zahlreichen Attraktionen technisch wie atmosphärisch unterstützt. Skooter sind mit ihrer offenen Hallenkonstruktion besonders geeignet, weil sie Blickkontakte begünstigen und gezielte Zusammenstöße zur weiteren Kontaktaufnahme dienen können.331 Alfred Lehmann stellt bei seiner Beschreibung von Autoskootern 1952 das Fahren und die Unfälle heraus; dabei deutet er die unangenehme Seite der Zusammenstöße an: »Die Wünsche, selbst an einem Steuer zu sitzen, gehen hier in Erfüllung … [aber] wir geraten [wegen der direkten Steuerung] in Fahrtrichtungen, die wir gar nicht einschlagen wollen – ein wahres Glück, daß unten am Wagenrand Gummischutz vorhanden ist, denn die Zusammenstöße sind recht unsanft! Aber sie machen Spaß, und das ist die Hauptsache«. 332

Das Interesse am Unfallspiel war und ist sowohl individuell als auch altersspezifisch unterschiedlich, wobei insbesondere jüngere Kinder zwar Interesse am Ereignis haben, ihnen aber die harten Stöße oft unangenehm sind; bei Jugendlichen ist das Unfallspiel als Rollenspiel im Umgang mit Automobiltechnik und als technisch unterstütztes Kommunikationsspiel in stärkerem Maße doppelt belegt als bei Kindern. Fahrt wie Unfall ermöglichen Wettkämpfe agones, die Sacha Szabo als Hauptspielkategorie der Skooter einstuft und als Weitere den Rausch ilinx nennt.333 Auch die für spielerische Auto- und Motorradfahrten konstruierten Skooter bieten ilinx durch die schnelle Fahrt, das Gefühl selbst zu Lenken, eventuell auch durch Zusammenstöße und schließlich unterstützt durch Lichter und Musik. Der auf Selbsthandeln beziehungsweise Selbststeuern basierende Rausch hat dabei eine andere Erlebnisqualität als der dem Körper ohne eigenes direktes Zutun zugefügte, mit vertigo verbundene, der für Thrill rides charakteristisch ist. Ob die Komponente des Rauschs bei Skootern, die seit den späten 1920er Jahren gebaut wurden, tatsächlich geringer ausfiel als bei ihren auf Thrill hin designten Vorgängern, muss offen bleiben.334 Von entscheidender Bedeutung scheinen dem Autor dieses Buches jedoch die technikbasierten sowie technikunterstützten Rollenspiele mimicry. Der Ende der 1920er Jahre entstandene Typ von Autoskootern war es, der Caillois veranlasste, diese Attraktionen als Hauptbeispiel für das Spiel auf dem Jahrmarkt zu nennen: 331 | Siehe Szabo, Rausch und Rummel, S. 75. Und: So eine Fahrt, Interview mit Werner Stengel, S. 155. 332 | A. Lehmann, S. 50. 333 | Szabo, Rausch und Rummel, S. 73. 334 | Zur genaueren Analyse dieser Frage müssten genügend Quellen mit Fahrtberichten aus den 1920er und 1930er Jahren vorliegen.

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Glücksmaschinen und Maschinenglück »Das vollkommene Bild der Jahrmarktsfreunden [ilinx] wird … dargestellt durch die Autoscooter, bei denen sich dem Spaß, ein Steuer zu halten (man muß das ernste, beinahe feierliche Gesicht mancher Wagenlenker sehen), das elementare Vergnügen hinzugesellt, das der paidia, der Katzbalgerei, nämlich der Verfolgung der anderen Wagen, ihrer Flankierung, dem Versperren ihres Durchganges, der unaufhörlichen Hervorrufung von Pseudounfällen … entstammt; kurz, genau das, und zwar bis zum Überdruß zu tun, was in der Wirklichkeit die Verbote am meisten untersagen«. 335

»Das Vergnügen besteht in der Erregung und der Illusion, im gewollten Ausnahmezustand, in aufgefangenen Stürzen, ungefährlichen Stößen, harmlosen Kollisionen«.336 Bei alledem sei entscheidend, dass »alles … Spiel [bleibt], das heißt [es] bleibt frei, abgetrennt, begrenzt und verabredet«.337 Beginnend in den 1960er Jahren vollzog sich ein weiterer Wandel des Skooterspiels, der an der Veränderung der Gestaltung ablesbar ist: Die Autoskooterhallen wurden mit Lichtorgeln und glitzernden Spiegelkugeln ausgestattet; die Atmosphäre begann Diskotheken zu ähneln.338 Bereits Mitte der 1950er Jahren hatten zunächst einzelne Schausteller ihre Geschäfte zu Orten moderner Unterhaltungsmusik – damals Rock ’n‘ Roll – gemacht und mit dieser zusätzlichen Form des Vergnügens und des rauschhaften Genusses beachtliche Zahlen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mobilisiert, die sich zunächst wohl primär an schnellen Raupenbahnen trafen.339 Aufgrund ihres großen Zuschauerbereichs und der mittig angeordneten Spielfläche eigneten und eignen sich Skooter als Treffpunkte besonders gut; sie partizipierten bald an dieser Entwicklung. Die Kombination von modernem Jahrmarktsfahrgeschäft und moderner U-Musik scheint insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren für diese Besuchergruppen besonders attraktiv gewesen zu sein, stößt aber bis in die Gegenwart auf Interesse.340 Auf großen Jahrmärkten mit mehreren Geschäften werden häufig bewusst verschiedene Musikprogramme angeboten, die sich an unterschiedliche 335 | Caillois, S. 154. 336 | Caillois, S. 154. 337 | Caillois, S. 153. 338 | Frühe Skooter waren analog zu Karussells mit Jahrmarktsorgeln ausgestattet – so eine 1926 errichtete Anlage auf dem Prater; La Speranza, S. 93. Zum Wandel: Szabo, Rausch und Rummel, S. 75. Siehe außerdem den Bericht eines Zeitzeugen, der einen Autoskooterbesuch im Ruhrgebiet 1968 beschreibt in: Rolla, S. 54f. 339 | Raupen kombinieren die Kreisfahrt eines Karussells mit einer geneigten, leicht gebogenen Grundfläche; für ihr Musikfahrgeschäft bekannt wurden beispielsweise die Brüder Manfred und Waldo Parparlioni aus Herford. Siehe Krus-Bonazza, S. 302ff. 340 | Entsprechend gehören nicht nur das regelmäßige Auswechseln der Chaisen und die Aktualisierung der Hallengestaltung zum Unterhalt einer Skooterhalle, sondern auch eine Sammlung aktueller Musik und die Modernisierung der Musikanlage; siehe beispielsweise Götz, S. 75; Parnicke, S. 83; Rolla, S. 54.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

Interessengruppen richten, wobei die Musik am Tag, wenn die Gäste primär Familien mit Kindern sind, und am Abend, wenn Jugendliche und jüngere Erwachsene dominieren, entsprechend wechselt.341 Drei Berichte über Jahrmarktsbesuche von Jugendlichen aus den 1950/60er Jahren, den 1980ern und den 2000ern machen die langsame Verschiebung der Gewichtung von den verschiedenen Autoskooterspielen deutlich, im Zuge derer das Autofahren als Spielangebot etwas an Bedeutung verlor: der Journalist Reinhard Bogena gibt 2001 einen autobiographischen Bericht über seine Jahrmarktserlebnisse als Jugendlicher. Der Autoskooter sei das größte und wichtigste Geschäft des Platzes gewesen; es »machte uns Halbwüchsigen am meisten Spaß«.342 Das Hauptinteresse seiner Alterskohorte habe um 1960 auf den Fahrzeugen, deren Fahreigenschaften und ihrer Gestaltung gelegen. Die in seinem Heimatort um 1964 eingeführten Wagen, die durch eine Lenkradumdrehung Vorwärts- und Rückwärtsfahrt ermöglichen, hätten den »Spaßfaktor [beim Fahren] gleich um hundert Prozent« erhöht.343 Bogena geht darauf ein, dass es ein wichtiges Ziel war, Mädchen als Mitfahrerinnen zu gewinnen und erwähnt die Möglichkeit, sich vom Betreiber vor der Fahrt geeignete Musikstücke zu wünschen. Hier wird die Ebene des Skooterspiels sichtbar, die dem Autofahren in den folgenden Jahrzehnten den Rang streitig machen sollte. Zu Skootern in den 1980er Jahren berichtet der Journalist Hermann Gutmann in seinem Buch über den Bremer Freimarkt von einem etwa 16-jährigen Jugendlichen: »Und nun kommt Jan. Der sacht, nee, ins Bierzelt geh’ ich nich. … hab’ … immer ’ne Dose [Softdrink] … bei mir, und dann geh’ ich na’m Top-in. Weißt, was das is? Autoscooter. Oberaffengeile Musik sach ich dir, und immer was los. Stehst da und kuckst, schon hast Blickkontakt mit’m Mädchen, kuckst noch mal – schon sitzt mit der im Autoscooter, schön eng zusammen sach ich dir«. 344

Wichtig seien weniger die Jahrmarktsattraktionen als die Kommunikation. Ein anderer Besucher sagt: »Und dann setzt’ dich in’n Autoscooter – Mann, im Grunde sind das ja lahme Dinger, reißt doch normal keinen mit vom Hocker. Aber da kannst annere mit anbumsen. Und auch das is Kommunikation«.345 Der hier ge341 | Gespräch mit Brigitte Aust, Markt- und Schaustellermuseum, Essen, am 3.8.2013. 342 | Bogena, S. 46. 343 | Ebenda, S. 47. 344 | H. Gutmann, Bremer Freimarkt oder: Renade, sach ma ehrlich, was finst eintlich an’n Freimaak so gut? Bremen 2002, S. 94. Der Autor paraphrasiert eventuell die Aussagen seines Gesprächspartners. Die Bremer Schaustellerfirma Robrahn betreibt seit den späten 1960er Jahren Skooter unter diesem Namen; siehe: Top-in im Detail, www.der-topin.de/ details_top_in.php (4.8.2013). 345 | Gutmann, S. 94.

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gebenen Darstellung korrespondiert dem Bericht eines 16-Jährigen über seine Besuche auf dem Gallimarkt in Leer, Ostfriesland, zwanzig bis dreißig Jahre später: »›Natürlich. Da wird aufgetakelt, die Haare müssen stimmen und ich ziehe meine besten Klamotten an‹. … Oft beginnt der Marktgang beim Auto-Scooter, wo man [Freunde trifft,] guckt, quatscht, alles Mögliche tut, nur nicht Auto-Scooter fährt«.346 Mit dem langsamen Rückgang der Bedeutung des Autos als gesellschaftlicher Prestigeträger und dem Übergang zu einem speziellen Jahrmarktsdesign der Chaisen etwa Anfang der 1990er Jahre ging ein tendenzielles Abrücken vom Spiel des Autofahrens einher: Zwar blieb es tagsüber für Kinder der wichtigste Spielinhalt, während abends in der Spielzeit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen Musik, Bewegung und Kommunikation eine Synthese eingingen, die Szabo als Tanz mittels Maschinen beschreibt.347 So wird der Tanz, den Caillois neben dem technisch generierten Rausch auch als Spielform ilinx einordnet, unter Einbindung von Technik erlebbar. Während Tanzen zweifelsfrei dem Spiel zugeordnet wird, das ja auch etymologisch auf den Tanz zurückgeht, mag die Cailloissche Zuordnung der Nutzung von Jahrmarktsattraktionen zum Spiel zunächst ungewöhnlich erscheinen. Die Einheit von Maschine und Tanz bei Autoskootern der jüngeren Vergangenheit bestätigt noch einmal seine Zuordnung von technikgenerierten Empfindungen auf dem Jahrmarkt zur Spielkategorie ilinx. Beim Autoskootertanz kann gerade in Verbindung mit dem Rausch ilinx ein Mensch-Maschine-System entstehen, bei dem die Skooterfahrenden vergleichbar Motorradenthusiasten nahezu mit ihrer Maschine verschmelzen.348 Hier ergeben sich Parallelen zum Sport und der symbiotischen Beziehung einiger Sportler zu ihrem Gerät.

346 | R. Schröder, »Is man eenmaal Gallmarkt«. 500 Jahre Gallimarkt in Leer. Die Ostfriesen und ihr großes Volksfest 1508 – 2008. Leer 2008, S. 169. 347 | Szabo, Rausch und Rummel, S. 76. Zur Bedeutung des Tanzens für die Selbstverortung Jugendlicher siehe am Beispiel des Breakdance: R. Bohnsack, A.-M. Nohl, Youth culture as practical innovation. Turkish German youth, ›time out‹ and the actionisms of breakdance. In: European Journal of Cultural Studies, 6 (2003), S. 366-385, S. 374ff. 348 | Alkemeyer, Mensch-Maschine, S. 225ff. Ralf Pulla beschreibt Fahrradfahrer entsprechend als Hybridwesen: R. Pulla, Hybridwesen. Fahrrad und Athlet im Radsport des 20. Jahrhunderts. In: P. Grüneberg, A. Stache (Hg.), Fahrrad – Person – Organismus. Zur Konstruktion menschlicher Körperlichkeit. Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 41-55.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

Abb. 16: Fahrt mit einem umgebauten Autoskooter durch Paris? Was hier 1970 zu Werbezwecken geschah, ist in den letzten Jahren insbesondere in den USA zu einer Freizeitaktivität von Fans historischer Skooter geworden. Darauf, dass sich das Skooterfahren in der jüngeren Vergangenheit noch einmal gewandelt hat, weist die Nostalgiesierung alter Autoskooter hin. Gleichzeitig ist sie der autoähnlichen Gestaltung dieser Wagen geschuldet, die aus ästhetischen Gründen zu Sammelobjekten wurden.349 Alte Chaisen werden in den letzten Jahren aufwendig restauriert, ganze Hallen von einzelnen Schaustellern wie dem Bochumer Richard Müller wieder aufgebaut und mit historischen Fahrzeugen bestückt, obwohl der Auf- und Abbau dieser Hallen wesentlich zeitintensiver und damit teurer ist als der der neueren Zweisäulenskooter.350 Homepages zur 349 | Siehe dazu Bogena, S. 49. 350 | Müller restaurierte Fahrzeuge aus den 1970er Jahren und eine Skooterhalle, die vermutlich aus den 1950er Jahren stammt. Zu besonderen Anlässen betreibt er die Anlage und spielt dazu historische Musikstücke. Sein Publikum sind insbesondere diejenigen, die in den 1960er und 70er Jahren Kinder und Jugendliche waren. Siehe Interview Richard Müller. In: Kirmes & Park Revue, 165 (4/2011), www.der-selbstfahrer.de/kpr165. html (29.7.2013).

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Geschichte der Firma Lusse (Philadelphia) und Ihle (Bruchsal) geben Restaurierungstipps und bieten Tauschbörsen für Ersatzteile. Für Lusse-Skooter werden sogar Umbauten zu straßen- oder besser fußwegtauglichen Fahrzeugen mit Batteriebetrieb angeboten (Abb. 16). Andere Skooter werden in den USA auf Fahrgestelle von Quads montiert und so zu regulären Straßenfahrzeugen umgebaut.351 Wie groß die dahinter stehenden Fangemeinden sind, lässt sich schwer abschätzen; ihrer Herangehensweise nach scheint sie denen von Oldtimer-Besitzern und Autobastlern zu entsprechen. Parallelen mögen sich auch zu amerikanischen Hot-Rodder Enthusiasten ergeben.352 In der Hand der Sammler und Freaks werden ehemalige Autoskooterchaisen zum Ausgangspunkt eines weiteren Spiels, des privaten Restaurierens und Bastelns, das zum Teil durch detaillierte vorhergehende Recherchen vorbereitet wird. Auch Jahrmarktsautobahnen verfügten beziehungsweise verfügen mit ihrer Fahrbahn über eine abgegrenzte Fläche für das Spiel, die normalerweise während der Spielzeit nicht mit dem Auto oder Gokart verlassen werden konnte, wobei eine an eine Straße gemahnende geschlossene Fahrstrecke den Eindruck einer Spielfläche weniger überzeugend vermittelt als die Freifläche der Skooterhalle; hinzu kommt, dass Skooterchaisen dezidiert auf die Spielfläche angewiesen sind, während die meisten Benzin- und Elektrofahrzeuge auch außerhalb fahren könnten. Namensgebungen von Jahrmarktsautobahnen wie AVUS-Bahn oder Nürburgring machen deutlich,353 dass diese Fahrgeschäfte in ihrer Ausrichtung primär am Motorsport orientiert waren. Diese Spielform entsprach den konstruktionstechnischen und organisatorisch-ökonomischen Anforderungen, weil für einen Rennkurs eine bestimmte Fahrtrichtung festgelegt werden musste und das Rennen nach einer gewissen Rundenzahl als beendet erklärt werden konnte. Historische Abbildungen zeigen tatsächlich in einer Reihe aufgestellte, startfertige Fahrer mit 351 | Essen Motor Show: Bumper-Cars. In: ATV & QUAD. Das Magazin für die ATV- und QuadSzene in Deutschland, Österreich und der Schweiz (ohne Datumsangabe), www.atv-quadmagazin.com/aktuell/essen-motor-show-bumper-cars/&docid=fxA8yzwtEJtubM&imgurl =www.atv-quad-magazin.com/wp-content/blogs.dir/1/gallery/2011/20111100imo069. jpg&w=800&h=531&ei=spLtUciYD4jcsgbY5IDoAg&zoom=1&iact=hc&vpx=651&vpy=524 &dur=1249&hovh=183&hovw=276&tx=165&ty=121&page=1&tbnh=140&tbnw=209&st art=0&ndsp=48&ved=1t:429,r:23,s:0,i:157 (21.7.2013). 352 | Zwar sind die Ziele dieser Gruppen – Restaurierung beziehungsweise Veränderung – einander auf den ersten Blick entgegengesetzt, aber die Herangehensweisen dürften ähnlich sein. Zu Hot-Rodder Fans und der dahinterstehenden industriellen Entwicklung siehe Lucsko, The Business of Speed. Im Vorwort erwähnt der Autor entsprechend, dass er sowohl Oldtimer gefahren, als auch Automodelle gebaut hat; ebenda, S. IXf. 353 | Benzinautobahn ist in den 1920er Jahren noch als Benzinauto-Bahn zu lesen, nicht als ›Autobahn‹. Der Name AVUS-Bahn bezieht sich auf die 1921 fertiggestellte, sogenannte Autoversuchsstrecke AVUS bei Berlin, die bis in die 1980er Jahre für Rennen genutzt wurde. AVUS-Bahn findet sich auch als Name von älteren Autoskootern.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

›ihren‹ Fahrzeugen.354 Auch eine Fahrbahn für Elektroautos mit Unterflur-Stromversorgung, die sich das Karussell- und Waggonbauunternehmen Fritz Bothmann 1926 als Alternative zu Autoskootern patentieren ließ, war als Rennstrecke konzipiert: ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass die Schaltung der Anlage »ein Wettfahren« der einzelnen, auf der Fahrbahn frei beweglichen Fahrzeuge ermögliche.355 Abbildungen von Rennwagen auf der Schauseite der Geschäfte trugen zum Sportambiente ebenso bei wie das Fahrzeugangebot: hier scheint es sich im Wesentlichen um Sport- beziehungsweise Rennwagenmodelle gehandelt zu haben. Die Musik der Autoskooter war bei Benzinauto- und Gokartbahnen durch das Motorengeräusch ersetzt: Das Röhren der Motoren, das schon die Futuristen aufgegriffen hatten und das auch ein wichtiges inszenierendes Element der Vorführung von Steilwandfahrten war,356 unterstrich – gepaart mit dem Geruch verbrannten Benzins – die Atmosphäre eines technisierten Sports. Demnach galten die Bahnen dem Erlebnis des spielerisch-sportlichen Umgangs mit Technik, das durch die Präsentation eines Sportambientes gerahmt wurde; damit verbunden waren das Rollenspiel mimicry (in der Rolle der Gäste von Autofahrern und Sportlern), der Wettkampf agon und der Rausch des Fahrens ilinx. Die Opel-Bahn stellte das Erlebnis des Autofahrens und den damit verbundenen Erwerb technischer Kenntnisse in den Mittelpunkt, wobei letztere durch einen sogenannten Opel-Führerschein attestiert wurden. Einige Schausteller unterstrichen die Ebene des Lernens zudem durch die Namensgebung »Fahrschule«, wobei der Rahmen Jahrmarkt und der (im Vergleich zu Fahrstunden niedrige) Fahrpreis verdeutlichten, dass es sich hier nur um einen Hauch von Schule oder ein Fahrschulspiel handeln konnte: »Fahrpreis incl. Unterricht a Person 75 Pf«, ist beispielsweise Ende der 1920er Jahre am Kassenhäuschen einer Sieboldschen Opel-Bahn auf der Dresdener Vogelwiese angeschlagen.357 Scheinbar war das Angebot also näher an der Fahrt mit Kraftwagen orientiert als im Fall von Skootern und kleinen Benzin- oder Elektrofahrzeugen. Tatsächlich blieb jedoch auf der patentierten Opel-Bahn dem Passagier-Fahrer nur das Lenken, während alle anderen Aktivitäten für ihn scheinbar automatisch abliefen. De facto waren die technischen Anforderungen und gleichzeitig die Handlungsmöglichkeiten im Spiel geringer als bei Skootern und kleinen Benzin- oder Elektrowagen, aber gemäß 354 | Start der Wagen auf einer Benzinautobahn; siehe beispielsweise Eberstaller, S. 64. 355 | Firma Fritz Bothmann in Gotha, Vergnügungsvorrichtung mit auf einer Fahrbahn beliebiger Gestaltung sich bewegenden elektrischen Automobilen o. dgl. Fahrzeugen. Deutsches Reich, Reichspatentamt, Patentschrift Nr. 452 185 vom 11.5.1926. Auf der zugehörigen Prinzipienskizze ist eine ovale Fahrbahn zu sehen. 356 | Zu den Futuristen siehe das Kap. E.I.6, zur Geräuschkulisse von Steilwandfahrten Opschondek/Dering/Schreiber, S. 24, S. 33. 357 | Opel-Bahn auf der Dresdener Vogelwiese, Photographie aus dem Nachlass Siebold, Archiv des Markt- und Schaustellermuseums Essen, Abb. 14.

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Patentschrift war das Entscheidende gar nicht das Selbstfahren: »Das Reizvolle des Erfindungsgegenstandes für das die Kraftwagenbahn besuchende Laienpublikum besteht in der Illusion, daß es völlig selbstständig den Kraftwagen steuert oder zu steuern glaubt«.358 Die Illusionsvermittlung scheint so gelungen, und der Reiz der Authentizität im Rahmen dieses Spiels so hoch gewesen zu sein, dass die Geschäfte trotz hoher Fahrpreise sehr erfolgreich waren. Am Beispiel der Opel-Bahn mag ein Charakteristikum des Spiels von Erwachsenen – solche sind als Fahrgäste auf zeitgenössischen Photos fast ausschließlich zu sehen – deutlich werden, das sich in ähnlicher Weise zum Beispiel bei Modellbahnern findet: ein Reiz des Spiels scheint auch in der Perfektion des Spielobjekts zu liegen; diese war – mit einem Originalkraftfahrzeug anstelle eines Modells – nicht zu überbieten. Da es sich um professionell geführte Fahrten handelte, werden im Gegensatz zu Autobahnen mit kleinen Fahrzeugen Wettkämpfe zwischen einzelnen Fahrzeugen auf der Opel-Bahn kaum oder allerhöchstens zum Schein stattgefunden haben. Dafür bot die Bahn ein doppeltes Rollenspiel mimicry im Umgang mit Mobilitätstechnik. Zum einen konnten die lenkenden Fahrgäste analog zu Skootern und Fahrzeugen anderer Autobahnen spielerisch die Rolle von Autofahren übernehmen; dieses Spiel war einerseits mit ›echten‹ Autos authentischer als bei der Nutzung kleiner Jahrmarktsfahrzeuge, zum anderen erfolgte es gegenüber dem Normalbetrieb unter deutlich vereinfachten Rahmenbedingungen, die eine Teilnahme auch mit geringen technischen Vorkenntnissen ermöglichten. Daraus ergab sich die zweite Ebene des Rollenspiels, die der als ›Fahrlehrer‹ bezeichneten professionellen Fahrer auf dem Notsitz: ihre Aufgabe war es nicht nur, für einen sicheren und technisch reibungslosen Fahrtverlauf zu sorgen, sondern dabei die »Illusion« des Publikums zu wahren, dass es »völlig selbstständig den Kraftwagen steuert bzw. zu steuern glaubt«,359 und deshalb ihre eigene Funktion zu verschleiern. Ein ähnliches Spielangebot wie die Opel-Bahnen der Vorkriegszeit boten Motorrollerbahnen nach dem Zweiten Weltkrieg: das Fahrerlebnis mit ›echten‹ Fahrzeugen, die die Besucher frei auf einer mehrspurigen Kreisbahn lenken konnten. Bei Motorrollern waren die Fahrer zwar auf sich gestellt, aber analog zur OpelBahn wurde die Bedienung gegenüber üblichen Straßenfahrzeugen vereinfacht. Der Schausteller und spätere Museumsgründer Erich Knocke kombinierte sein Angebot mit einer sportlichen Note. Bereits der Name seiner Motorrollerbahn verweist auf den Sport: Die »City-Fix Rennbahn« bot »Verfolgungsrennen, Hindernisrennen, Überholungsrennen«.360 Knockes Geschäft war zu Beginn der 1950er Jahre »schon was Modernes« und lief entsprechend gut, das Interesse ging jedoch 358 | Kraftwagen für Volksbelustigung. Arthur Franke in Berlin. Deutsches Reich, Reichspatentamt, Patentschrift Nr. 461971 vom 27. November 1926 (Herv. Poser). 359 | Ebenda. 360 | Ankündigungsblatt Erich Knockes; Abbildung in M. Zimmermann, »Eine vergessene Kultur«. Erich Knocke und das Essener Markt- und Schaustellermuseum. In: E. Knoc-

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

mit zunehmender Motorisierung ebenso zurück wie das an Benzinautobahnen, die, wie der Schausteller berichtet, »nur kurz ein Schlager« waren.361 Gegenüber den bisher beschriebenen Geschäften boten Gokartbahnen seit Beginn der 1960er Jahre eine zeitgemäße Alternative, die sich nicht nur auf die äußere Gestaltung, die Betonung des Sports und die genutzten Fahrzeuge bezog, sondern auch auf das Spielangebot: die leichten, schnellen, wendigen Gokarts vermitteln ein anderes Fahrgefühl als konventionelle Straßenfahrzeuge und die schweren, bisher genutzten Jahrmarktsgefährte. Beim Besuch der Gokartbahnen wies das laute Motorengeräusch der hochdrehenden Maschinen schon von Ferne darauf hin, dass die Fahrenden hier rennwagenähnliche Gefährte lenkten.362 Hersteller bewarben die ersten Gokarts mit »thrills of fantastic manouverability«, die Gokarts auch für Sportwagenfahrer und Hot-Rodder interessant mache.363 Demnach verschob sich der Inhalt des Rollenspiels mimicry vom Auto- oder Rollerfahren zur Rennwagenfahrt, zudem gewann der Rausch ilinx gegenüber den anderen Jahrmarktsautobahnen stärker an Bedeutung. Der Wettkampf agon mag auf Gokarts wegen ihrer Nähe zum Rennsport reizvoller anmuten als auf anderen Gefährten, de facto hatte die Fahrzeugwahl jedoch keinen Einfluss, weil eine vollständige Umstellung erfolgte, entsprechend alle Fahrer in einem Geschäft mit demselben Fahrzeugtyp fuhren und sich deshalb ihre Gewinnchancen relativ zueinander gegenüber einer Runde auf einer Anlage mit einem älteren Fahrzeugsatz nicht änderten.

4. Technik für das Spiel – die Perspektiven der Akteure Im Fall von Autoskootern und Jahrmarktsautobahnen war allen beteiligten Akteuren aufgrund der ästhetisch-formalen und der funktionsbezogenen Darstellung von Autos durch Skooter und kleine Autobahnwagen klar, dass sie Technik nutzen. Die Gruppe der Schausteller agierte (und agiert) dabei in der Doppelrolle, Technik einerseits zu nutzen und andererseits zu präsentieren, um potentielle Fahrgäste zur Nutzung zu motivieren. Neue Technik war über viele Jahrzehnte – bereits vor Aufkommen der Selbstfahrgeschäfte – eine Möglichkeit für Schausteller, Interesse zu wecken, sich von der Konkurrenz abzuheben und aufgrund

ke (Hg.), Gesammeltes Vergnügen. Das Essener Markt- und Schaustellermuseum. Essen 2000, S. 11-19, S. 16. 361 | Erich Knocke zitiert nach Zimmermann, Erich Knocke, S. 15. 362 | Schon zu Beginn seines Buches weist der Gokartfahrer Botho G. Wagner auf die Ähnlichkeit von Gokarts zu Rennwagen hin – freilich ohne auf die Geräuschentwicklung einzugehen; Wagner, Kart-Sport, S. 9. 363 | Anzeige »It’s a Go-Kart« des Unternehmens MFG, CO, Monrovia, California, aus der Zeitschrift Car Craft (9/1958), online verfügbar unter: Die Geschichte des Kartsports, www.mabroselvisworld.com/Kart/geschichte%20des%20kartsports.htm (22.8.2013).

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der Neuheit der eigenen Attraktionen auskömmliche Geschäfte zu tätigen.364 So bestand eine ökonomische Notwendigkeit zur Einführung neuer Technik, die zudem durch die Zulassungsverfahren für Jahrmärkte gefördert wurde: Besitzer alter oder heruntergekommener Anlagen liefen Gefahr, keine Zulassung für weitere Festveranstaltungen zu erhalten. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Brigitte Aust Schausteller als »Hightech-Leute« beschreibt, deren Interesse dem Neuen gilt; sie hebt hervor, dass vielen Schaustellern auch das Heranführen des Publikums an etwas Neues ein besonderes Anliegen ist.365 Im Fall von Selbstfahrgeschäften hängt dieses Neue im Wesentlichen mit Mobilitätstechnik und ihrem Design zusammen. Entsprechend modernisieren Besitzer von Autoskootern insbesondere ihren Fahrzeugpark immer wieder.366 Die Faszination der ›Fahrgäste‹ für das Fahren beziehungsweise die spielerische Techniknutzung im Skooter und auf der Jahrmarktsautobahn scheint über mehrere Jahrzehnte eng an die formale Ähnlichkeit der Fahrzeuge mit ›echten‹ Autos gekoppelt zu sein; hier hatten Auto-Bahnen gegenüber Autoskootern Vorteile, weil ihre Fahrzeuge und deren Funktionsweise dem Original näher waren. Besonders deutlich wird dies im Fall der Opel-Bahn in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren, die mit ihren (im Zweifel gedrosselten) Originalwagen erfolgreich war, obwohl sie vermutlich langsamer und behäbiger fuhren als kleine, wendige Jahrmarktsbenziner. Das Interesse wurde unter Umständen durch neue Wagen gesteigert, insbesondere wenn sie Automarken imitierten, mit denen werbetechnisch Träume von Prestigegewinn und Freiheit verbunden waren, die den Besuchern Anknüpfungspunkte boten. Entsprechend waren Skooterchaisen häufig großen und schnellen, sportlichen Wagen nachgebildet.

364 | Poser, Die vergnügliche Industrialisierung, S. 109. 365 | Führung von Brigitte Aust durch das Markt- und Schaustellermuseum, Essen, am 3.8.2013. 366 | Neben der Modernität der Fahrzeuge ist eine attraktive, moderne äußere Gestaltung der Halle wichtig. Die Musikanlage muss zwar nicht an Moden, aber an technische Standards angepasst werden; hinzu kommt der Austausch von Verschleißteilen. Das Bremer Schaustellerunternehmen Werner Robrahn gibt an, seine Fahrzeuge etwa alle fünf Jahre und die gesamte Skooteranlage etwa alle 15 Jahre zu wechseln. Siehe: Top In im Detail, Homepage des Unternehmens Robrahn, www.der-topin.de/details_top_in.php (30.8.2013). Sowie: Ursprung der Firma Werner Robrahn, Homepage des Unternehmens Robrahn, www.der-topin.de/robrahn_boecker.php (30.8.2013). Im Falle einer Rüsselsheimer Schaustellerfamilie stammt ihr Skooter aus den 1970er Jahren, als die bis heute gängigen Zweisäulenskooter aufkamen. Die Fahrzeuge und die Musikanlage wurden seither mehrfach gewechselt. Siehe: »Damit es nicht so rumhuppelt«. Main-Fest – Aufbau nahezu abgeschlossen – Rüsselsheimer Schaustellerfamilie Biebel mit sieben Geschäften dabei. In: Echo [Regionalzeitung] vom 25.4.2013, www.echo-online.de/region/ruesselsheim/ Damit-es-nicht-so-rumhuppelt;art1232,3881729 (25.4.2013).

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

Reinhard Bogena berichtet beispielsweise für die Zeit um 1960: Fachkundig »begutachtete [man] die vielleicht neuen Modelle der ›Box-Autos‹ mit schimmerndem und glitzerndem Lack«.367 Die schicken Karosserien hatten, wie der Autor ausführt, Aufforderungscharakter und luden auf der nächtlich erleuchteten Bahn zum Träumen ein. »Dass sie [die Chaisen] wie ein richtiges Auto, oder besser gesagt wie ein Traumwagen, aussehen und nicht wie ein UFO aus einem Science-Fiction-Film, war uns damals wichtig. Denn nur damit konnten wir Träume und Phantasien ausleben«.368 Zudem beobachteten die Jugendlichen sehr genau, bevor sie sich für einen Skooter entschieden: Er und seine Freunde seien fest davon überzeugt gewesen, dass die Chaisen verschieden schnell liefen, berichtet der Autor. Beobachten, Fachsimpeln, Testen/Fahren, vielleicht liebevoll über den Lack streichen – hier imitierten und trainierten (primär) männliche Jugendliche am Spielobjekt Verhaltensweisen und Kommunikationsgebaren ihrer Väter im Umgang mit dem Fetisch Automobil.369 Dieser Ebene des Umgangs mit Technik konnten Gokartbahnen in ihrer Orientierung auf Rennsport weiterhin genügen, als das gesellschaftliche Interesse an ›normalen‹ Autos infolge ihrer ausufernden Verbreitung langsam zurückging und sich auf besondere Formen der Autonutzung sowie die zugehörigen Personengruppen (Oldtimer Fans, Bastler, Rennsportfreunde) konzentrierte. Während Gokartbahnen mit der Präsentation und dem Nutzungsangebot dieser Miniaturrennwagen offensichtlich bis in die jüngste Vergangenheit ein Klientel motorsportinteressierter (vermutlich primär jugendlicher) Besucher befriedigen, wandelten sich die Skooter. Die Darstellung von Automobiltechnik wich einem – ebenso Moden unterworfenen – jahrmarktstypischen Design; die Nutzung von Technik nahm zwar durch zusätzliche Beleuchtungseffekte und immer leistungsfähigere Musikanlagen zu, trat aber in den Hintergrund. Dies entsprach – wie Interviewausschnitte aus den 1980er und den 2000er Jahren belegten – dem Interesse Jugendlicher (und junger Erwachsener), für die Techniknutzung bereits zum Alltag gehörte. Skooter entwickelten sich für sie zum Hauptaufenthaltsort auf dem Jahrmarkt, der ihnen die Möglichkeit zum (technikbasierten) Musikhören in einer diskothekähnlichen Atmosphäre, zur Kommunikation und zur Teilnahme an Maschinentänzen (Szabo) bot. Wenn beziehungsweise weil Jugendliche und junge Erwachsene sich auf diese technikbasierten Mischung aus Musik, Licht, Maschinenbewegung und die von ihr angeregten Emotionen einlassen, fühlen sie sich in der Skooterhalle wohl. Dies führt zu einem physischen und psychischen Naheverhältnis zur Technik, das etwas anders gelagert ist als das bedingungslose Sich-Ausliefern an Thrill rides und das symbiotische Verhält367 | Bogena, S. 46. 368 | Ebenda, S. 48. 369 | Welche Bedeutung das Auto in den 1950er und 1960er Jahren erlangte, wird am eindrucksvollsten durch die zeitgenössische Stadtplanung deutlich: siehe H. B. Reichow, Die autogerechte Stadt. Ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos. Ravensburg 1959.

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Glücksmaschinen und Maschinenglück

nis von Sportlern zu ihrem Gerät. Die von Technik angeregten Emotionen sind weitaus weniger gesteuert als bei Thrill rides; sie schließen gleichzeitig an eigene, insbesondere mit der Musikrezeption verbundene Erlebniswelten an. Skooterfahrten ermöglichen in diesem Kontext für kurze Zeit ein Verbundenheitsgefühl mit Technik, das aber weniger Können voraussetzt als bei Sportgeräten und deshalb auch weniger intensiv sein dürfte. Das Selbstfahren mit Jahrmarktsfahrzeugen wird vermutlich in Benzinwagen der 1930er bis 1950er Jahre dem Fahren von Autos am ähnlichsten gewesen sein. In Wagen der Opel-Bahn waren wesentliche Fahraufgaben allein dem ›Fahrlehrer‹ übertragen, Gokarts und Skooter weisen ein eigenständiges, deutlich anderes Fahrverhalten auf als Autos. Autoskooter und Jahrmarktsautobahnen ›lebten‹ zwar über viele Jahrzehnte primär vom Nimbus des Automobils und dem Spielangebot, selbst zu fahren, tatsächlich waren die Jahrmarktsfahrten jedoch weiter entfernt vom Autofahren, als dies den Anschein hatte. Folglich vermittelten sie nur wenige funktionale Kompetenzen, die sich auf das Auto übertragen ließen, aber sie vermittelten das Gefühl, aufgrund der angeeigneten Jahrmarkts-Fahrkompetenzen mit moderner Technik umgehen zu können und in der Technischen Moderne angekommen zu sein. Die Nostalgiewelle, die Autoskooter in den 1990er Jahren erreichte, spiegelt eine neue gesellschaftliche Sicht der Technik. Sie führte nicht nur zu einer Aufwertung alter, schrottreifer Chaisen, wie sie Michael Thompson in seiner Rubbish Theory beschreibt,370 sondern in den meisten Fällen zu einer völligen Umwertung und Neu-Kontextualisierung. Nur wenige Autoskooter wurden als historische Fahrgeschäfte wieder in Betrieb genommen, die meisten Chaisen wurden als Sammlungsstücke zu heimischen Dekorationsobjekten oder Museumsexponaten, wobei die Funktion, historische Technik zu repräsentieren, Teil des neuen Kontextes sein konnte, aber nicht musste. In einen neuen technischen Kontext gestellt sind solche Fahrzeuge, die zum hallenunabhängigen Fahren umgebaut oder als Karosserie von Quads genutzt wurden. Diese Fahrzeuge sind unter dem Aspekt einer neuen Spielfunktion und dem damit verbundenen kreativen Umgang mit Technik interessant, aber die Eingriffe in die Originalsubstanz und die Funktionsveränderung sind hier so gravierend, dass man kaum noch von historischen Skootern sprechen kann.

5. Autoskooter und Jahrmarktsautobahnen – Ergebnisse Autoskooter und Jahrmarktsautobahnen entstanden vor dem Hintergrund zunehmender individueller Mobilität in den 1920er Jahren als neuer Geschäftstypus, der das Selbstfahren als Jahrmarktsspiel ermöglichte. Schausteller reagierten 370 | Thompsons Beispiele sind freilich andere; sie stammen sowohl aus dem Alltag als auch aus der bildenden Kunst. M. Thompson, Rubbish Theory. The creation and destruction of value. Oxford 1979.

C. Jahrmärkte und Vergnügungsparks

mit diesem Angebot in erster Linie auf das wachsende Interesse am Autofahren. Dabei kam ihren Jahrmarktsgeschäften eine Pionierfunktion zu: sie boten den selbstständigen oder zumindest scheinbar selbständigen Umgang mit der attraktiven neuen Technik für wenige Minuten, weckten mutmaßlich den Wunsch nach mehr, nach einem eigenen Fahrzeug. Charakteristisch für Skooter und Jahrmarktsautobahnen ist die gestalterische Anpassung der Chaisen an das jeweilige Design zeitgenössischer Automobile, die bei Autoskootern erst in den 1990er Jahren aufgegeben wurde, als die gesellschaftliche Bedeutung des Autos als Prestigeobjekt langsam abnahm. Benzinund Elektroautobahnen waren bereits in den 1960er Jahren Gokartbahnen gewichen, die mit ihren agilen Fahrzeugen mehr Spaß am Fahren boten und zudem für die Schausteller billiger waren. Weder Skooter noch Jahrmarktsautobahnen entwickelten sich zu Hightech-Produkten, aber beide weisen technische Spezialentwicklungen für den Jahrmarkt auf, die Auswirkungen auf das Spielangebot der Geschäfte hatten. Gemeinsam ist Autoskootern und Jahrmarktsautobahnen das Angebot des Rollenspiels mimicry im Umgang mit Technik; zudem kommen dem Wettkampf agon der einzelnen Fahrenden und dem Fahrt-Rausch ilinx erhebliche Bedeutung zu. Entstand das Spielinteresse zunächst aufgrund der Besonderheit des Autos, so trat im Zuge der Massenmotorisierung der Traum der eigenen Verfügungsmöglichkeit hinzu, während seit etwa den 1960er Jahren in Europa die Normalität des Autofahrens der Eltern für Kinder und Jugendliche zum Ausgangspunkt des Spiels wurde. Mit Schwerpunkt auf den 1950er und 1960er Jahren wurden Skooter und Jahrmarktsautobahnen für ältere Kinder und Jugendliche nicht nur zum Ort der Aneignung von funktionsbezogenen Fahr-Technikkompetenzen, sondern auch zu einem Ausgangspunkt der Aneignung von Kommunikationskompetenzen im Themenfeld Fahrzeuge und Technik. Seit den 1960er Jahren erlangte die Kombination der Fahrt mit moderner Musik ebenso an Bedeutung wie die diskothekenähnliche Ausgestaltung der Skooterhallen. Musikhören und Kommunikation traten für Jugendliche und junge Erwachsene seit den 1980er Jahren gegenüber dem Auto-Fahren in den Vordergrund. Dennoch blieben die Skooterchaisen wichtig, waren sie doch bestimmende Elemente des ausgewählten Aufenthaltsortes. Die Bewegung der Chaisen bei wechselnder Musik und Beleuchtung prägte und prägt dessen besondere Atmosphäre. Sie ist durch eine Art Maschinentanz geprägt, sodass ilinx in der Skooterhalle an Bedeutung gewann – nun jedoch in der Verbindung von Tanz und Rausch. Unter sichtbarer Techniknutzung entstanden hier Orte des Spiels, an denen sich Jugendliche und junge Erwachsene gerne aufhielten. Skooterhallen wurden zu Technotopen, die vielleicht Vorlieben jüngerer Menschen prägten.

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D. Technisches Spielzeug I. Technisierung des S piel zeugs Ähnlich dem Sport und dem Jahrmarktsbesuch ist das Spiel mit Spielzeug seit der Industrialisierung zunehmend durch Technik geprägt. Technik ermöglichte neue Formen des artefaktbasierten Spiels ebenso wie neue Spielsujets; zudem dienten die zeitspezifische Darstellung und Nutzung von Technik zur Modernisierung bekannter Spiele. Die Bezeichnung Spielzeug lässt sich seit der Renaissance nachweisen; ihre Hauptbedeutung war bereits Spielgerät; sie bezog sich in der Regel auf Kinderspielzeug.1 Wesentlich jünger ist der Ausdruck Technisches Spielzeug, der erst um 1900 entstand. Bis heute ist er nicht klar umrissen; im Allgemeinen wird er als Sammelbezeichnung für Dampfmaschinenmodelle, Spielzeugautos, und -lokomotiven verstanden, was jedoch zu kurz greift.2 Anders als beim Sport, dessen Unschärfe zwischen Spiel und Nicht-Spiel es zu analysieren galt, ist hier der Bezug zum Spiel evident, während die Frage, welche Artefakte und Systeme als Technisches Spielzeug bezeichnet werden können, einer genaueren Betrachtung bedarf. Deshalb soll im Folgenden die Darstellung der Begriffsgenese mit einer Definition verbunden werden. Die Bezeichnung Maschine findet sich in Verbindung mit Spielzeug bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert, wobei sie ein breites Feld von Maschinen und Geräten abdeckt. So lautet beispielsweise der Titel eines Nürnberger Versandkatalogs von 1788: Museum mathematicum, physicum, chemicum et curiosum atque experimentale, oder Erläuterndes Verzeichniß von älteren und neueren mathematischen, physikalischen, chemischen und belustigenden Maschinen.3 Der Nürnberger 1 | Spielzeug. In: J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, 16 (1904), Sp. 2429f. 2 | Siehe: A. Schleinzer, Spiel-Figuren. 3 | Johann Konrad Gütle, Museum mathematicum, physicum, chemicum et curiosum atque experimentale, oder Erläuterndes Verzeichniß von älteren und neueren mathematischen, physikalischen, chemischen und belustigenden Maschinen, welche von dem Verfasser, so wie dem Verleger dieses Museums für billige Preiße auf Verlangen versendet werden. 3 Hefte, Nürnberg 1788. Zitiert nach K.-U. Pech, Vorratskammern der Gesellschaft. Zur Funktion der

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Glücksmaschinen und Maschinenglück

Spielwaren- und Lehrmittelhändler Georg Hieronymus Bestelmeier bot fünfzehn Jahre später in seinem Magazin von verschiedenen Kunst- und anderen nützlichen Sachen, zur lehrreichen und angenehmen Unterhaltung der Jugend, als auch für Liebhaber der Künste und Wissenschaften Maschinenmodelle an, die protoindustrielle Technik thematisieren. Im Vorwort nennt er Technologie als ein Themengebiet; seine »Sammlung hydraulischer und hydrostatischer Maschinen im Kleinen« enthielt beispielsweise ein ober- und ein unterschlächtiges Wasserrad, eine Saugpumpe und ein Paternosterwerk, aber auch Wasserwaagen.4 1833 widmet Johann Georg Krünitz dem Spielzeug einen ausführlichen Artikel seiner Oekonomischen Encyklopädie.5 Er strukturiert Spielsachen aufgrund von Materialien. Dabei listet der Autor bereits Bergwerke, Windmühlen, Kutschwagen und Fuhrwerke sowie hydraulische Maschinen auf, die man aus heutiger Perspektive als Technisches beziehungsweise Wissenschaftliches Spielzeug bezeichnen würde, ordnet sie jedoch unabhängig voneinander den betreffenden Herstellungsmaterialien zu.6 Kategoriale Zuordnungen nach abgebildeten technischen Gegenständen scheinen zunächst in Herstellerkatalogen aufzutauchen. Anika Schleinzer zeigt, dass ursprünglich nur Dampfmaschinenmodelle eindeutig als Technisches Spielzeug betrachtet und dementsprechend ihre Qualität als technisches Artefakt durch blaumetallene Kessel nebst Messgeräten unterstrichen wurde. Unter der Rubrizierung Technisches Spielzeug boten Hersteller zunächst zahlreiche Artefakte an, deren Bandbreite von Spielzeugküchenherden und -nähmaschinen über optisches Spielzeug und Baukästen bis zu Eisenbahnmodellen reichte. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Bedeutung der geschlechtsspezifischen Erziehung und in Anpassung an sich etablierende Technikvorstellungen wurden aus diesem Konglomerat in den nächsten Jahren technische Spielwaren im engeren Sinne herausgelöst, die nun primär an Jungen adressiert und von Wissenschaftlichem Spielzeug und Spielzeughaushaltsgeräten für Mädchen getrennt wurden.7 So weist ein Katalog der Nürnberger Spielwarenfabrik Bing von 1902 DampfmaTechnikdarstellungen in der Kinder- und Jugendliteratur im 18. Jahrhundert. In: U. Troitzsch (Hg.), »Nützliche Künste«. Kultur- und Sozialgeschichte der Technik im 18. Jahrhundert. = Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt, 13. Münster u.a. 1999, S. 203210, S. 210. Ein Scan der Bayerischen Staatsbibliothek ist verfügbar unter http://reader. digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10048745_00005.html (22.11.2014). 4 | Retter, S. 130f. 5 | Spielzeug, Spielsachen. In: Krünitz, Bd. 158 (1833), S. 295. 6 | Spielzeug, Spielsachen. In: Krünitz, Bd. 158 (1833), S. 297f. Weniger ausführliche Lexikonartikel nennen Materialien, Herstellungsregionen und allgemeine Anforderungen an Spielzeug; siehe beispielsweise Spielzeug. In: Pierer’s Universal-Lexikon, 16 (1863), S. 551. 7 | Schleinzer, Spiel-Figuren. Die von Schleinzer beschriebene Mischung verschiedener Spielzeugtypen zeigt beispielsweise ein Ausschnitt aus einem Inserat des Unternehmens Bing von 1886; Reher, Eisenbahnspielzeug, Abb. 17, S. 35.

D. Technisches Spielzeug

schinen, Eisenbahnen und Schiffe in eigenen Kapiteln aus; eine neue »Abteilung Automobilwesen« zeigt »Kraftwagen mit Uhrwerk und Dampf betrieb in modernen Formen und hocheleganter Ausstattung«.8 Trotz dieser Strukturierung des Spielwarenangebots, die von anderen Herstellern übernommen wurde, blieb die Zuordnung zur Kategorie des Technischen Spielzeugs variabel. Die der Entwicklung zugrunde liegende genderspezifische Erziehung sollte sich nach ihrer prägnanten Ausformung im späten Kaiserreich zumindest bis in die 1960er Jahre hinein halten.9 Paul Hildebrandt, der mit seinem Buch Das Spielzeug im Leben des Kindes 1904 eine erste deutschsprachige Übersicht über Spielsachen veröffentlichte, fasst Technisches Spielzeug im Wesentlichen als »Maschinen-Spielzeug und mechanische Kunstwerke« zusammen; Unterkapitel sind dem Eisenbahnspiel, Schiffsund Wasserspielen, industriellen und landwirtschaftlichen Maschinen, sowie mechanischen Kunstwerken gewidmet.10 Letztere haben eine Sonderstellung: Während die ersten Unterkapitel die Darstellung von Technik thematisieren, beschreibt der Autor hier zooamorphe und anthropomorphe Figuren mit mechanischen Einbauten, die in der Tradition von figürlichen Automaten stehen; Technik wird also genutzt, aber nicht dargestellt. Werkzeugkästen für Kinder, sowie Spielutensilien der Holz- und Metallbearbeitung, die technische Artefakte im Original oder in miniaturisierter Ausführung zu Spielzwecken bieten und deren intendierte Spielhandlung eine technische ist, verortet Hildebrandt als »Gewerbliche und Berufsspiele«; in Zusammenhang mit einzelnen Berufen verweist er auf die betreffenden Unterkapitel seines Kapitels zu Maschinen-Spielzeug.11 Damit nutzt und präzisiert Hildebrandt die bereits in Spielzeugkatalogen vorhandene Kategorisierung des Technischen Spielzeugs im Kontext einer wissenschaftlich-systematischen Herangehensweise. Die Bezugnahme auf Technik in einem Brockhaus-Artikel über Spielzeug von 1934 macht deutlich, dass Technik als Thema von Kinderspielzeug nun in der zeitgenössischen Öffentlichkeit angekommen war: 8 | Bing Katalog von 1902, zitiert nach A. Schleinzer, Eingespielte Technik – Die Definition technischen Spielzeugs im frühen 20. Jahrhundert (Manuskript 2014). 9 | Zur Kindererziehung und Spielzeug im Deutschen Kaiserreich sei verwiesen auf den bereits in den 1970er Jahren erschienenen Ausstellungskatalog: Puppe, Fibel, Schießgewehr. Das Kind im kaiserlichen Deutschland. Ausstellung in der Akademie der Künste vom 5. Dezember 1976 bis zum 30. Januar 1977. Berlin 1977, sowie den vor einigen Jahren veröffentlichten Band von B. Ganaway, Toys, Consumption, and Middle-class Childhood in Imperial Germany, 1871 – 1918. = German Life and Civilization, 48. Oxford u.a. 2009. Ein Beispiel aus den USA thematisiert R. Oldenziel, Boys and Their Toys. The Fisher Body Craftsman’s Guild, 1930-1968, and the Making of a Male Technical Domain. In: Technology and Culture, 38 (1997), S. 60-96. Roger Horowitz publizierte 2001 einen Sammelband: Horowitz, Boys and their Toys. 10 | Hildebrandt, Spielzeug, S. 124ff. 11 | Hildebrandt, Spielzeug, S. 98ff., S. 110.

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»In seiner einfachsten Form ist es [das Spielzeug] zeitlos, und nur bes. ausgeprägte Erscheinungen seiner Entstehungszeit, wie die Ritter des Mittelalters, die Eisenbahn oder andere techn. Erzeugnisse der Neuzeit, wurden in seinen Darstellungskreis aufgenommen«.12 Die spielerische Nutzung von Technik bezieht sich ebenso auf Werkzeuge und Produktionsmaschinen, die im Rahmen des Bastelns zu Spielmitteln werden oder direkt als Spielzeug für Kinder und Do-it-Yourself Handwerker konzipiert sind, wie auf vorgeformte Bauteile.13 Deren Bandbreite reicht von einzelnen Konstruktionsbestandteilen bis zu technischen Sachsystemen, wie im Fall von Technischen Baukästen und Modellen von Mobilitätsmaschinen (Kurt Möser). Weiterhin bezieht sich die spielerische Nutzung von Technik auf Utensilien für technische oder auch chemische und physikalische Effekte, wie sie beispielsweise bei Experimentierkästen – oder auch für Schaustellungen auf dem Jahrmarkt – genutzt werden, sowie auf die Anwendung von Computerprogrammen zu Spielzwecken. Neben der spielerischen Nutzung von Technik ist die Darstellung geeigneter technischer Artefakte und Sachsysteme ein charakteristisches Merkmal Technischen Spielzeugs. Dabei bezieht sich die verkleinerte Wiedergabe eines technischen Gegenstands nur auf dessen äußeres Erscheinungsbild, während die für das Spielzeug genutzte Technik dem Original zwar entsprechen kann, aber nicht muss: Beispielsweise stellt ein Tretauto ein Kraftfahrzeug da, aber sein Antrieb ist eine spezielle, zweckorientierte technische Lösung für Kinder. Darstellung und Nutzung von Technik können zwar Hand in Hand gehen, doch ist auch dies nicht zwingend. Eng verbunden mit der Darstellung von Technik ist die Imitation technischen Handelns. Ihr kommt für das Spiel mit Technischem Spielzeug besondere Bedeutung zu – sei dies bei der spielerischen Fertigung und Nutzung von Werkzeug, beim Spiel mit Fahrzeugmodellen oder bei Auf bau und Überwachung eines ganzen technischen Spiel-Sachsystems wie einer Modellbahnanlage. Dabei ist die Grenze von der Imitation Technischen Handelns mit Spielzeug und eigenständigem, spielerischen Technischen Handeln fließend. Als Technisches Spielzeug soll hier solches gelten, das technische Artefakte und Sachsysteme darstellt, sowie solches, für dessen Betrieb technische Artefakte und Sachsysteme genutzt werden. Seine Nutzung ist mit wenigen Ausnahmen durch Technisches Handeln gekennzeichnet. Die Bandbreite verschiedener Ausführungen reicht von Brettspielen oder Blechspielsachen, die Technik in Abbildung oder Modell darstellen, bis zu Automatenfiguren, bei denen man trotz Techniknutzung das Spielen damit wohl kaum als Technisches Handeln bezeichnen wird, oder dem Spiel mit selbst gefertigtem Werkzeug, dessen Herstellung und 12 | Spielzeug. In: Brockhaus, 17 (1934), S. 683f., S. 683. 13 | Zu Motiven der »Heimwerker« und der Entwicklung des Werkzeug- und Maschinenangebots für Laien seit den 1960er Jahren siehe A. Hornung, T. Nowak, V. Kuni, »Do It Yourself: Die Mitmach-Revolution«. Eine Einführung in die Ausstellung. In: Do It Yourself, S. 8-18, S. 10. Sowie: A. Honer, Heimwerker-Typen. In: Do It Yourself, S. 26-30.

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Nutzung eine spielerische technische Handlung ist. Entsprechend ist zwischen Technischem Spielzeug im engeren und im weiteren Sinne zu unterscheiden: Als Technisches Spielzeug im engeren Sinne wird im Folgenden solches Spielzeug verstanden, das die Nutzung von Technik zu Spielzwecken mit deren Darstellung dergestalt verbindet, dass das Spiel damit zum Technischen Handeln wird. In diese Kategorie gehören beispielsweise Modellbahnen und Konstruktionsbaukästen. Letztere dienen dazu, eine Form Technischen Handelns, das Konstruieren, spielerisch zu imitieren; dafür benötigen die Nutzer baukastenspezifische technische Kenntnisse über die einzelnen Bauelemente, die ihnen technisches Handeln im Rahmen des Spiels ermöglichen. Dazu bieten die Kästen unterschiedliche Bauteile, die in der Regel eine modellhafte Verkleinerung technischer Artefakte oder/ und kleine technische Originalteile sind: Bausteine aus verschiedenen, zeitspezifischen Materialien, Metall- oder Kunststoffträger, Verbindungselemente, Räder und Achsen, eventuell kleine Motoren. Zudem lässt sich jeder Baukasten als ein spezifisches technisches Sachsystem betrachten, das dem Spiel dient. Bei einigen Computerspielen, wie NoLimits Rollercoaster Simulation, wird der Konstruktionsbaukasten durch eine Simulation ersetzt und damit Technik auf virtueller Ebene zum Spielinhalt. Solche Spiele, die wie alle Computerspiele technikbasiert sind und zudem Technik thematisieren, zählen ebenfalls zu Technischem Spielzeug im engeren Sinne. Technisches Spielzeug im weiteren Sinne ist solches, bei dem die Darstellung oder die Nutzung von Technik keinen oder nur mittelbaren inhaltlichen Bezug zum Spiel hat. Einerseits betrifft dies Spielsachen, bei denen die Präsentation von Technik auf der Ebene des Spielsujets verbleibt und keine Nutzung von Technik im Sinne von Artefakten oder Sachsystemen erfolgt. Andererseits gehört Spielzeug in diese Kategorie, für das Technik genutzt wird, ohne sie zum Spielthema zu machen. Beispiele der ersten Gruppe wären Brettspiele, die technischen Inhalten gewidmet sind, Beispiele der zweiten Kategorie sind Sprechpuppen oder Automatenfiguren, bei denen das Verstecken der Techniknutzung erst das für sie charakteristische Spiel mit dem scheinbar Lebendigen ermöglicht, und solche Computerspiele, die zwar auf Techniknutzung basieren, deren Spielinhalte jedoch nicht-technische sind. Technisches Spielzeug scheint zwar – gemessen an Angebot und Absatz – über viele Jahrzehnte zunehmende Bedeutung gewonnen zu haben, stand aber offensichtlich nicht in dem Maße im Fokus der zeitgenössischen Diskussion wie die industrielle Massenproduktion von Spielwaren. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts entstand in der Tradition Fröbels eine pädagogische und kunsterzieherische Reformbewegung, die in Ablehnung der industriellen (Massen-)Fabrikation einfaches Spielzeug für Kinder forderte. Ihre Argumente waren ästhetischer und pädagogischer Natur: Schlichtes, formschönes und zahlenmäßig begrenztes Spielzeug fördere das Empfinden für Schönheit und rege die Phantasie an, wogegen

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allzu detailgetreue Nachbauten sie beschränkten.14 Diese Argumentationslinie lässt sich unter Modifikationen bis in die jüngere Vergangenheit nachweisen; erst in den letzten Jahrzehnten verlor das Thema gegenüber der Auseinandersetzung mit Video- und Computerspielen an Bedeutung.15 Technische Spielsachen sind in der Mehrzahl Produkte der Massenfabrikation und zählten deshalb zur Gruppe des Spielzeugs, das diesen Überlegungen gemäß die Phantasie einengt, entwickelten sich aber dennoch gleichsam im Windschatten dieses Diskurses. Selbst während der Hochindustrialisierung sahen nur wenige Pädagogen wie Max Enderlin, der sich bereits 1907 für Technischen Unterricht an Schulen einsetzte, in Technischem Spielzeug eine Möglichkeit für Kinder, sich mit mechanischen Problemen auseinanderzusetzen und so durch das Spielzeug technische Bildung vermittelt zu bekommen.16 Hildebrandt verspricht sich 1904 von Technischem Spielzeug Impulse für die Technikentwicklung und formuliert ein Plädoyer für die Erziehung zur Technikakzeptanz, wenn nicht gar Technikbegeisterung: »Für unsern Fortschritt und für unsere gesamte Entwickelung wäre es von größtem Vorteile, wenn die Freude und das Interesse der ... Kinder an den kleinen Modellen unserer großartigen Erfindungen so zunehmen würde, daß ein Geschlecht heranwachsen würde, das schon im Kinderspiel die Begeisterung eingesogen hätte für die Verwertung, Verbesserung und Vervollkommnung unserer technischen Errungenschaften«.17

In welchem Maße es zu der von Hildebrandt erhofften Entwicklung kam, wird an der retrospektiven Einschätzung Byran Ganaways deutlich: »Just like heavy industry, toy makers seemed to be able to solve any difficulty sent their way, tempt-

14 | Eine frühe Positionierung stammt von dem Erzieher, Privatlehrer und Schriftsteller A.W. Grube, Von der sittlichen Bildung der Jugend im 1. Jahrzehnt des Lebens. Leipzig 1855, S. 241. Eine ähnliche Argumentation findet sich beispielsweise in den 1930er Jahren im Artikel: Spielzeug. In: Brockhaus, 17 (1934), S. 683. Zum begrenzten Erfolg des Anliegens siehe bereits um 1880: G. M. Bizyēnos, Das Kinderspiel in Bezug auf Psychologie und Pädagogik. Leipzig 1881, S. 73f. Aus historischer Perspektive siehe Retter, S. 136ff. sowie Zachmann, Homo faber ludens junior, S. 220. 15 | Siehe beispielsweise K.-P. Meyer-Bendrat, Die Warenförmigkeit kindlicher Spielarbeit. Die Verformung des Spiels im Lichte industrieller Erkenntnisinteressen. = Europäische Hochschulschriften, XI, Pädagogik, 329. Frankfurt a.M. u.a.1987, S. 212ff., der gleichzeitig einen Ausblick auf die neue Medienwelt gibt. Aus prakitscher Perspektive: S. Stöcklin-Meier, Das rechte Spielzeug zur rechten Zeit. Für Babys und Kinder im Krabbel-, Spielgruppen-, Kindergarten- und Grundschulalter. Zürich 1987, S. 8. 16 | M. Enderlin, Das Spielzeug in seiner Bedeutung für die Entwicklung des Kindes. = Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung, 24. Langensalza 1907, S. 38f. 17 | Hildebrandt, Spielzeug, S. 124.

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ing many adults to imagine that mechanical technology promised never-ending improvements to modern, middle-class lifestyles«.18 Gegenüber dem Nutzer und aus Perspektive des historischen Betrachters ist Spielzeug ein Vermittlungsmedium, das ein Bild gesellschaftlicher Vorstellungen und Strukturen seiner Entstehungszeit gibt. Diese Eigenschaft macht historisches Spielzeug für die Geschichtswissenschaften und für die museale Präsentation interessant.19 Schon Ende des 19. Jahrhunderts begann beispielsweise das Germanische Nationalmuseum Nürnberg Spielzeug – insbesondere historische Puppenstuben – zu sammeln, die den Museumsbesuchern nun einen Eindruck des bürgerlichen Wohnens vermitteln sollten.20 Vermutlich vor diesem Hintergrund verweist Hildebrandt auf die zukünftige historische Bedeutung eines besonders aufwendigen Modellbahnzugs: »Dieser Nordexpresszug … [wird] noch späteren Zeiten ein richtiges plastisches Miniaturbild des Standes unserer heutigen Eisenbahnausstattung geben«.21 Die verkleinerte Darstellung von etwas, sei es ein Lebewesen oder ein Artefakt, ist charakteristisch für das meiste Spielzeug. Allerdings finden sich Vorbilder für Spielzeug – wie der Brockhaus-Autor der 1930er Jahre formuliert – »nur in bes. ausgeprägten Erscheinungen … [ihrer] Entstehungszeit«.22 Eine solche charakteristische und jeweils zeittypische Rolle hat seit Beginn der Industrialisierung in besonderem Maß die Technik. Entscheidend sowohl für die Darstellung von technischen Artefakten und Systemen als auch für ihre Popularisierung sind auratische Wirkung und Bekanntheitsgrad: Sie erleichtern es, einen Bezug zu den betreffenden Dingen aufzubauen. Entsprechend werden Verkehrsmittel besonders häufig als Vorbild für Spielzeug genutzt. Auch hier ist die Bandbreite groß; sie reicht von Brettspielen mit zeitgenössisch modernen Sujets und vergleichsweise einfachen Modellen bis zu hochkomplexen Anlagen, von Alltagstechnik bis zu Spitzentechnologien.

II. F ormen des S piels Anders als im Falle des Sports ist bei Spielzeug beziehungsweise Technischem Spielzeug unstrittig, dass es in der Hauptsache dem Spiel dient, das Handeln mit ihm Spiel ist. Dabei sind alle von Caillois genannten Spieltypen denkbar: der Wettkampf agon, das Glücksspiel alea, das Rollenspiel mimicry und der Rausch 18 | Ganaway, S. 136. 19 | Einen Überblick über Ansätze in der Spielmittelforschung gibt Fritz, Spielzeugwelten, S. 18ff. 20 | G. Korff, Puppenstuben als Spiegel bürgerlicher Wohnkultur. In: L. Niethammer (Hg.), Wohnen im Wandel. Beiträge zur Geschichte des Alltags in der bürgerlichen Gesellschaft. Wuppertal 1979, S. 28-43, S. 28ff. 21 | Hildebrandt, Spielzeug, S. 135. 22 | Spielzeug. In: Brockhaus, 17 (1934), S. 683.

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ilinx; als Spieltyp dominiert zumindest im Falle Technischen Spielzeugs im engeren Sinne mimicry. Folglich ist Technisches Handeln zentraler Spielinhalt. Dabei sind verschiedene Formen des Spiels zu beobachten: das der Entspannung dienende, lockere Spiel neben dem anstrengenden, aber auch dem konzentrierten, anspruchsvollen Spiel, bei dem es zu spielerischem Lernen, zur Aneignung technischen Wissens kommen kann, oder auch das Basteln, bei dem spielerische Konzentration der freiwilligen, unbezahlten Erzeugung eines Produkts gilt. Der in der pädagogischen Forschung der 1980er Jahre nachweisbare Begriff Spielarbeit23 lässt sich als Hinweis auf die angestrengt konzentrierten Phasen (kindlichen) Spiels interpretieren und verdeutlicht, dass auch im eindeutig dem Spiel zugeschriebenen Feld des Spielzeugs Nährungsbereiche von Spiel und Arbeit vorhanden sind. Handlungsbezogen sind solche Nährungsbereiche auch außerhalb des Technischen Handelns dort gegeben, wo Spielende im Sinne von ludus selbst gesteckte Ziele zu erreichen suchen; hier besteht eine Parallelität zum Sport. Dies gilt beispielsweise für das Basteln, das als Arbeitsspiel, als freiwilliges, selbstbestimmtes technisches Handeln zwischen Arbeit und Spiel gedeutet werden kann. Artefaktbezogen bestehen Nährungsbereiche dort, wo die Arbeitswelt zu Spielzwecken abgebildet wird und die Möglichkeit zur spielerischen Imitation technischen Handelns gegeben ist – so beim Technischen Spielzeug in Form von Dampfmaschinen, Modellen von Fabrikationsanlagen oder Modelleisenbahnen. Explizit zwischen Spiel und Arbeit verortet sind serious games aufgrund ihrer Funktion, Spielergebnisse für außerspielerische, meist ökonomische Zwecke zu generieren. Aufgrund der Vielzahl der Ausformungen Technischen Spielzeugs kann eine Untersuchung wiederum nur exemplarisch erfolgen; dies soll aufgrund der Vielfältigkeit der damit verbundenen Spielmöglichkeiten am Beispiel von Modellbahnen geschehen. Sie bieten ein Beispiel eines Spielzeugs, das im Laufe der Zeit immer wieder an neue technische Entwicklungen und neue Formen des Spiels angepasst wurde; so blieb es über mehr als 150 Jahre attraktiv. Gleichzeitig vereinen Modellbahnen als Miniaturwelten nicht nur Artefakte und technische Sachsysteme zu Spielzwecken, sondern ermöglichen auf verschiedenen Ebenen spielerisches technisches Handeln.

23 | Siehe beispielsweise Meyer-Bendrat. Die Begriffswahl in den 1980er Jahren gibt zudem einen Hinweis auf die zeitgenössische Ausdeutung zahlreicher Handlungen als ›Arbeit‹. Der Begriff selbst ist älter, aber sein Kontext veränderte sich: er wurde bereits im 18. und frühen 19. Jahrhundert genutzt, um eine besonders leichte Arbeit zu beschreiben und in Grimms Wörterbuch aufgenommen: Spielarbeit. In: J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, 16 (1904), Sp. 2321.

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III. F allbeispiel : M odelleisenbahnen 1. Technikgeschichte von Modelleisenbahnen Die ersten Modell-Dampflokomotiven entstanden als Experimental- und Versuchsmodelle noch vor dem Bau größerer Lokomotiven, die zum Transport von Personen oder Gütern geeignet waren. So baute Richard Trevithick drei Modelllokomotiven, bevor er die Catch-me-who-can konstruierte; sein ältestes Modell geht wohl auf das Jahr 1796 zurück.24 Zudem wurden frühe Modelle als Anschauungsobjekte zur Auftragsvergabe genutzt beziehungsweise gefertigt.25 Bei der Kon­struktion und Erprobung früher Modelllokomotiven mag es sich jeweils im Einzelfall um spielerisches Experimentieren oder Vorführen gehandelt haben, sodass man ihre Bedeutung für eine Spielphase während der Entwicklung einer neuen Technologie herausarbeiten kann, wie es im Rahmen dieser Darstellung für die Fahrten der Catch-me-who-can in London und für eine Reihe von neuen Technologien und Materialien im Falle der sportlichen Nutzung geschehen ist; Technisches Spielzeug – dem dieses Kapitel gewidmet ist – waren diese Modelle jedoch nur in einem übertragenen Sinne. Erste Spielzeugeisenbahnen, die lediglich einen Eindruck der Gestalt von Lokomotiven und Wagen vermitteln sollten, entstanden fast gleichzeitig mit den ersten Eisenbahnen. Entsprechend stammen nicht nur die ersten großen Bahnen, sondern auch die ersten Spielzeugeisenbahnen aus England. Beispielsweise erwarb Johann Wolfgang von Goethe 1829 ein frühes Pappmodell eines Zuges mit einer Rocket als Maschine, einem Tender und einem kutschenähnlichen Wagen aus England; das wohl zwischen 1826 und 1829 gefertigte Modell war nicht primär als Spielzeug gedacht, sondern als Anschauungsobjekt einer hypermodernen Technik. Es wurde nach Weimar importiert, noch bevor die ersten deutschen Eisenbahnstrecken fertiggestellt waren.26 In England lässt sich der Bau von fahrfähigen Modelllokomotiven zu Spielzwecken seit etwa 1840 nachweisen; seit Mitte der 1840er Jahre nahm die Zahl der Hersteller zu und ihre Produktpalette vergrößerte sich Zusehens. So ergab sich eine Zeitspanne von etwa 15 Jahren zwischen den ersten Anfängen der Eisenbahn und dem Beginn einer Spielzeugproduktion größeren Umfangs,27 die dem langsam zunehmenden Bekanntheits24 | Minns, S. 12ff. 25 | Mit der Anfertigung von Modellen als Verhandlungsgrundlage für die Auftragsvergabe wurde auf traditionelle Verfahrensweisen zurückgegriffen wie sie beispielsweise im Schiffbau bis in das 19. Jahrhundert praktiziert wurden. 26 | A. Gottwaldt, Spielzeug Eisenbahn. In: Poser/Hoppe/Lüke, S. 78-83, S. 78. Das Modell ist erhalten und gehört heute zum Bestand des Goethe-Museums in Weimar (Stiftung Weimarer Klassik). 27 | Chr. Väterlein, Eisenbahnspielzeug. Die Schienenwelt im Kleinen. In: Zug der Zeit – Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahn 1835 – 1985, 2. Berlin 1985, S. 600-615, S. 602.

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und Verbreitungsgrad des neuen technischen Systems korrespondiert: Einerseits erschien das neue Spielzeug für das Gros der Spielwarenkäufer erst attraktiv, als sie der Bedeutung der Eisenbahn gewahr wurden, andererseits kam den kleinen Modellen eine Rolle bei der Verbreitung von Information über die Eisenbahn und gegebenenfalls auch für deren Popularisierung zu. Seit etwa den 1860er Jahren entwickelte sich auch der Eisenbahnmodellbau von Laien. Zu dieser Zeit tauchen auch in Spielzeugkatalogen deutscher Provenienz Eisenbahnen auf, allerdings haben sie bis zu Beginn der 1890er Jahre noch vergleichsweise geringe Bedeutung.28 Ein frühes Beispiel eines Spielzeugs ist die Miniatureisenbahn Rotary Railway Express mit einer 1A1 Lokomotive, einem Tender und zwei Wagen aus Bleiguss mit angelöteten Zinnböden. Der nur 30 cm lange Zug ist über einen Draht mit einem stationären Federantrieb verbunden, der von einem Bleigewicht beschwert wird. Die Konstruktion ermöglichte Kreisfahrten auf einer glatten Fläche; gemäß Produktbeschreibung konnte der Zug bis zu 100 m zurücklegen.29 Rechtzeitig zur Eröffnung der Strecke von Nürnberg nach Fürth 1835 erschienen Ausschneidebögen und Zinnfigurenensemble.30 Zum einen sollte sich diese enge zeitliche Verbindung des Erscheinens von Original und Modell fortsetzen, zum anderen wurden insbesondere englische Modelle schon frühzeitig nach historischen Vorbildern gefertigt, so dass sie, wie Minns schreibt, schon für Zeitgenossen »den Reiz des Altertümlichen besaßen«.31 Anfang des 20. Jahrhunderts verkörperte Geschwindigkeit in solchem Maß Modernität, dass Eisenbahnfahrzeuge für Schnellfahrten wie ein Schnellbahnwagen der Versuchsstrecke Berlin-Zossen oder der an Flugzeuge und Luftschiffe gemahnende ›Schienenzeppelin‹ des Flugzeugkonstrukteurs Kruckenberg etwa zeitgleich mit ihrer Indienststellung als Modell angeboten wurden.32 Auch der ›Fliegende Hamburger‹, der erste Schnellverkehrsdieseltriebwagen der Reichsbahn, wurde sofort von den Herstellern Bing und Märklin als Modell herausgebracht. In einem Artikel der RTA Nachrichten von 1934 wird die enge Zusammenarbeit zwischen den Spielzeugherstellern und der Reichsbahn betont und unterstrichen, dass das Modell des Fliegenden Hamburgers »in seiner beschei28 | Siehe Reher, Eisenbahnspielzeug, S. 9. 29 | Siehe Minns, S. 56, Abb. 52, sowie S. 59, S. 62. 30 | Väterlein, S. 602. Ein Exemplar ist im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg erhalten; Reder, Uhrwerk, S. 10. 31 | Minns, S. 59. 32 | Bei dem Schnellbahnwagen handelt es sich um das Fahrzeug von Siemens & Halske von 1903; Spielzeughersteller nennt Hildebrandt generell nicht. Hildebrandt, Spielzeug, S. 134. Den Schienenzeppelin stellten Bing und Märklin her. Welche Popularität gerade dieses Fahrzeug hatte, mag auch daran deutlich werden, dass es in einem Vorlagenheft des Berliner Unternehmens Walther als Stabilbaukastenmodell gezeigt wurde. Eine Abbildung findet sich bei: Spur Null – Liebmann & Zeuke etc., www.spur-null.de/dies_und_das/ stabil.html (6.5.2012).

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denen Weise eine nicht zu unterschätzende Werbung für den ›Großen Bruder‹ ausübte«.33

Abb. 17: Modelleisenbahn Spur N (1 : 160) in einem Geigenkasten; dieser Eigenbau eines Eisenbahners wurde auf der Leipziger Messe 1988 ausgestellt.

Geschwindigkeit beziehungsweise Rekordfahrten waren zwar ein Kriterium für den raschen Nachbau, aber auch spektakuläre Nahverkehrssysteme wie die Berliner Hochbahn und die Wuppertaler Schwebebahn wurden bald als Modelle angeboten.34 Bis in die Gegenwart bemühen sich Modellbahnhersteller um Modernität ihrer Modelle, indem sie Neuentwicklungen möglichst zeitnah zur Indienststellung der Originale bei der ›großen Eisenbahn‹ präsentieren. Während die Modellbahnhersteller noch in den 1930er Jahren auf die Modernität ihrer Bahnen verwiesen, werden seit den 1950er/1960er Jahren vermehrt Modelle historischer Lokomotiven und Wagen produziert, zu denen inzwischen eine der deutschen Eisenbahngeschichte entlehnte detaillierte Epocheneinteilung entstanden ist. Dies spiegelt zweierlei: die Vergangenheitsorientierung der Modellbahner, deren Durchschnittsalter heute deutlich über 50 liegt, und die beeindruckende Vergangenheit der Eisenbahn, der eine erheblich weniger eindrucksvolle Rolle in der Gegenwart gegenübersteht: die Bedeutung der Bahn als Verkehrsmittel war bis in die 1950er Jahre ungleich höher als in den letzten sechs Jahrzehnten. Vor diesem 33 | Der Autor war allerdings Leiter der Entwicklungsabteilung von Märklin: O. Bang-Kaup, Vom Spielzeug zum Modell. In: RTA-Nachrichten vom 19.12.1934, S. 1 (bis Ende 1933 VDINachrichten). Zu Bang-Kaup siehe Adriani/Gaugele, S. 102f. 34 | Hildebrandt, Spielzeug, S. 133f.

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Hintergrund stellt sich die Frage, ob sowohl bei der Eisenbahn als auch bei der Modelleisenbahn in den letzten Jahrzehnten der Niedergang eines technischen Systems zu konstatieren ist. Jedenfalls lässt sich die Geschichte der Modellbahn als die Geschichte eines Mediums schreiben, das trotz moderner Funktionstechnik zunehmend zur Darstellung der Vergangenheit genutzt wird. Frühe Lokomotiven und Züge waren sogenannte Bodenläufer, die ohne ein rahmendes technisches Sachsystem auskamen; mit der Einführung von Schienen wandelte sich die Modelleisenbahn zum System, das im Laufe der Zeit entsprechend ausgebaut wurde. Ein frühes Foto einer schienengeführten Spielzeuggartenbahn datiert Uwe Reher auf 1859.35 Erste Schienen zu Modelleisenbahnen wurden in England angeboten; um 1887 hatte auch das Nürnberger Unternehmen Jean Schönner Schienen zu seinen Modellbahnen im Programm; allerdings bereiteten Kurvenfahrten Schwierigkeiten; entsprechend heißt es im Katalog: »Diese Lokomotive läuft nur in geradem Wege … daher [sind] event. auch nur gerade Schienen anwendbar«.36 Vorreiter für den Systemcharakter der Modellbahn war Märklin: Die Firma brachte 1891 ein komplettes Eisenbahnsystem mit Schienen und Zubehör auf den Markt. Besondere Bedeutung kam den Weichen zu, die es ermöglichten, komplexe Gleisanlagen zu erstellen. Auch Signale und Läutwerke, ganze Gebäude aus Blech und ein Tunnel wurden angeboten.37 Schienen und Bahnzubehör ließen die Eisenbahn zu einem Systemspielzeug von zunehmender Komplexität werden. Die Entwicklung von Modelleisenbahnen war im 20. Jahrhundert durch zwei grundlegende Entwicklungslinien gekennzeichnet, die Miniaturisierung und den Trend zu immer originalgetreueren Modellen. Während um 1900 noch Bahnen im Maßstab von etwa 1 : 32 dominierten, setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Spurweite H0 (1 : 87) durch, die bis heute am weitesten verbreitet ist. 1972 brachte Märklin eine Modellbahn im Maßstab 1 : 220 auf den Markt, die so klein ist, dass eine komplette Anlage in einen Koffer passt,38 und seit 2007 fertigt der Hersteller KK Eishindo in Osaka die weltweit kleinste funktionsfähige Bahn.

35 | Die Anlage wurde vermutlich für die französischen Prinzen im Park von St. Cloud errichtet. Reher, Eisenbahnspielzeug, S. 34, Abb. 14, S. 56. 36 | Katalogseite Jean Schönners, abgebildet bei Reder, Uhrwerk, S. 14, Abb. 13 (Herv. im Original). 37 | Zur Bedeutung Märklins siehe Minns, S. 72ff., sowie Reder, Uhrwerk, S. 24ff. Siehe gleichzeitig die firmennahe Schrift von Adriani/Gaugele, S. 24ff. Das älteste in Katalogen abgebildete Gebäude ist Märklins »Centralbahnhof« von 1889. Auch der Spielwarenkatalog von Bing enthält verschiedene Komplettanlagen: Bing-Spielwaren 1912, S. 153f., Reprint, S. 165f. 38 | Modelleisenbahn im Koffer, Märklin Spur Z, Ebay-Kleinanzeige, Nr. 53317969 vom 21.2.2012, http://kleinanzeigen.ebay.de/anzeigen/s-anzeige/baden-wuerttemberg/modellbau/u7328880 (8.5.2012).

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Sie hat eine Spurweite von nur 3 mm bei einem Maßstab von 1 : 480.39 Während die großen Modelleisenbahnen aus Platzgründen üblicherweise auf dem Fußboden fuhren und nach kurzer Zeit wieder abgebaut werden mussten, ermöglichte die Miniaturisierung Anlagen, die ohne Demontage verstaubar waren.40 Sie waren die technische Grundlage der großen Verbreitung von Modellbahnen in der Nachkriegszeit (Abb. 17). Die Entwicklungslinie zur Originalgetreue reicht in das 19. Jahrhundert zurück: Das Angebot englischer und französischer Spielzeugeisenbahnen zeichnete sich frühzeitig durch einen hohen Anteil aufwendig gefertigter Messingmodelle aus, die relativ originalgetreu waren. Materialwahl, Aufwand und Präzision hingen sowohl mit dem vergleichsweise hohen Lohnniveau zusammen, das bei der Fertigung hochpreisiger Modelle nicht in dem Maße ins Gewicht fiel wie bei einfachen Produkten, als auch mit entsprechenden Konsumentengewohnheiten beziehungsweise -ansprüchen und nicht zuletzt mit der handwerklichen Fertigkeit der Modellbahnproduzenten, die häufig Instrumentenbauer waren.41 Die meisten deutschen Hersteller fertigten Modelleisenbahnen für den Spielzeugmarkt hingegen bis in die 1950er Jahre eher als prototypische Darstellungen; hier überwog Weißblech, das seit den 1890er Jahren üblicherweise bedruckt verarbeitet wurde.42 Die beiden großen Unternehmen Bing und Märklin boten für den englischen Markt besonders detailgetreu gearbeitete Modelle an. Für den heimischen Bedarf fertigte Bing weniger detailreiche, dafür aber preisgünstigere Modelle als Märklin.43 Der Nürnberger Hersteller Jean Schönner, der zwischen 1887 und 1913 Modellbahnen herstellte, war beispielsweise für sehr detaillierte, originalgetreue Lokomotiven bekannt.44 Für Modelle großer Lokomotiven orientierten sich die 39 | Als Übersicht sei verwiesen auf: Maßstäbe der Modelleisenbahn. In: Wikipedia, http:// de.wikipedia.org/wiki/Ma%C3%9Fst%C3%A4be_der_Modelleisenbahn (16.3.2012). Eine Übersicht über die Verbreitung von Modellbahngrößen gibt St. Eckstaller, Marktanteile der [Modellbahn-]Spuren, http://modelleisenbahn.info/marktanteile.html (16.3.2012). 40 | Zwar hatte Märklin bereits 1920 eine komplette Landschaftsanlage mit Häusern für die (große) Liliputbahn 00 von 26 mm im Angebot, aber sie bot trotz Abmessungen von 1.40 x 1 m nur eine recht kleine Schienenstrecke; eine Abbildung siehe bei Adriani/Gaugele, S. 56. 41 | Minns, S. 23. Auch Firmen, die Schiffsmodelle für Verkaufszwecke fertigten, stiegen im 19. Jahrhundert in das neue Modelleisenbahngeschäft ein – beispielsweise das Unternehmen ›Clyde Model Dockyard‹ in Glasgow; siehe Reder, Uhrwerk, S. 19. 42 | Zum Produktionsvorgang siehe am Beispiel des Blechspielzeugproduzenten Lehmann: J. & M. Cieslik, Ein Jahrhundert Blechspielzeug. Ein Jahrhundert E. P. Lehmann. München 1981, S. 186ff. 43 | In zahlreichen Schriften finden sich vergleichende Abbildungen; siehe beispielsweise Minns, S. 61, Abb. 56. 44 | Eine Übersicht über Modellbahnhersteller bis 1939 bietet Reder, Uhrwerk, S. 203ff. Zu Schönner siehe ebenda, S. 206. Siehe auch Minns, S. 71ff., der eine Abbildung einer Lokomotive Schönners bringt, die 1900 auf der Pariser Weltausstellung gezeigt wurde.

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Unternehmen bereits vor dem Ersten Weltkrieg an beeindruckenden Originalen, wie der bayerischen Versuchslokomotive S 2/6 im Fall Bings.45 Nach Einrichtung einer eigenen Abteilung für Konstruktion und Entwicklung wurden bei Märklin in den 1930er Jahren möglichst originalgetreue Prototypen entwickelt; insbesondere galt dies für Modelle der seit 1935 angebotenen Miniatur-Tischbahn 00 (später H0), die sich jedoch erst nach dem Krieg durchsetzen sollte.46 In dieses Bild passt, dass in Katalogen von Modellbahnherstellern schon in den Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg die Originalgetreue der Modelle häufig thematisiert wird – gefolgt von der Bedeutung der Modelleisenbahn als technischem Lehrmittel.47 Noch Anfang der 1950er Jahre witzelte der Autor eines Artikels in den Bundesbahn-Mitteilungen über die Anbieter von Modellbahnen, bei denen »jedes Schräubchen dem großen Original genau nachgebildet ist. Sie verfechten sozusagen den naturalistischen Standpunkt«; andere Anbieter hingegen fertigten einfache Lokomotiven und verträten damit »sozusagen die expressionistische Richtung«.48 Ungeachtet unterschiedlich detailgetreuer Modelle und verschiedener Firmencharakteristika entwickelte sich die originalgetreue Wiedergabe bei Modellbahnen in Deutschland erst in den 1960er Jahren zu einem dominierenden Qualitätsmaßstab. Die damit einhergehende Veränderung der Modellpolitik ließ Modellbahnen auch für Sammler attraktiv werden und half, steigende Preise zu rechtfertigen. Orientiert man sich an Modellbahnzeitschriften, die die Originalgetreue zu einem wichtigen Bewertungsmaßstab machten, so lag dieser Wandel im Interesse von Modellbahnfans: Die Artikel der historischen und aktuellen Zeitschriftenausgaben unterscheiden sich zwar in der Diktion, in der Sache hingegen kaum. So heißt es beispielsweise im Modelleisenbahner von 1975 zu einer Dampflok von Trix: »Besonderen Wert hat der Hersteller auf die Detaillierung aller Einzelheiten gelegt. … das Führerhaus weist eine nahezu nicht mehr zu überbietende Innenausstattung« auf.49 Unter der Überschrift »Che bella trovata!« schreibt ein Autor 45 | Mit der ungewöhnlichen Achsfolge 2'B2' entspricht das Modell der Schnellfahrversuchslokomotive S 2/6; ob dies beabsichtigt war oder sich die zwei Treibachsen für die Dampfvariante aus der Konstruktion des Antriebs ergaben, ist unklar. Mit Uhrwerk- und Starkstromantrieb wurde eine sehr ähnliche Expresszuglokomotive mit der gängigen Achsfolge 2'C1' angeboten; das Original hierzu, die bayerische S 3/6 hat jedoch zwei Dampfdome und einen anderen Schornstein; diese Aufbauten entsprechen bei allen drei Bing-Modellen der S 2/6. Bing-Spielwaren 1912, S. 106, S. 152, S. 315, Reprint, S. 119, S. 164, S. 300. 46 | Ein Werbeblatt für Händler wies im Juni 1935 auf das Anliegen des Unternehmens hin, möglichst detailgetreue Modelle anzubieten; Adriani/Gaugele, S. 81. Zur Originalgetreue der Modelle siehe außerdem ebenda, S. 78f., S. 146f. 47 | Siehe Reher, Eisenbahnspielzeug, S. 101. 48 | Einmal Präsident einer Eisenbahn sein … In: Bundesbahn-Mitteilungen, 47 vom 15.12.1951, S. 5. 49 | Siehe beispielsweise: Trix-H0-Modell der BR 5415-17. In: Der Modelleisenbahner, 24 (1975), S. 102.

D. Technisches Spielzeug

der Modellbahn Illustrierten 2012 über das Modell einer modernen Diesellok des italienischen Herstellers A.C.M.E: »Optische Highlights sind zweifelsohne die toll aussehenden, geätzten Lüftergitter auf dem Dach, die mit äußerster Präzision ausgeführten Bremsscheibenimitationen, die separat gesteckten Griffstangen«.50 Im Falle der bundesdeutschen MIBA lässt sich das Engagement für möglichst originalgetreue Modelle sogar bis in das Gründungsjahr der Zeitschrift (1949) zurückverfolgen. Für die Hersteller war ein Grund zur Umorientierung der sogenannte ›Pillenknick‹: Der 1966 einsetzende Geburtenrückgang hätte für die Unternehmen unter Beibehaltung ihrer Orientierung auf Kinder (und deren Eltern) zwischen 1976 und 1986 zu einem Nachfragerückgang von etwa 40% geführt, der sich durch eine Erweiterung des Kundenkreises auf erwachsene Modellbahner und Sammler vermeiden, im Endeffekt für mehrere Jahrzehnte weit überkompensieren ließ.51 Insbesondere deutsche Hersteller vernachlässigen nun allerdings bis zur Krise der Modellbahnbranche in den 1990er Jahren das Angebot für Kinder und trugen damit zu einem Nachwuchsproblem bei. Inzwischen gibt es für – bereits sehr detaillierte – Serienmodelllokomotiven bekannter Hersteller ergänzende Bausätze mit Ventilen, Handrädern, Rohrleitungen und dergleichen aus hochpräzise gefertigtem Messingguss. Sogar langsam laufende Motoren sind erhältlich, die dem Modell zu einer weitgehend maßstabsgerechten Geschwindigkeit verhelfen. Etwa ein Monat Arbeits- beziehungsweise Bastelzeit wird zur Umrüstung einer Modellbahnlokomotive benötigt.52 Ein abstraktes, Architekturmodellen ähnelndes Fahrzeugdesign, das Märklin Anfang der 1990er Jahre vorstellte, stieß hingegen auf wenig Gegenliebe und wurde rasch wieder vom Markt genommen.53 Drei beziehungsweise vier hier skizzierte Entwicklungsrichtungen prägten die Geschichte von Modelleisenbahnen: die Miniaturisierung, die mit einer Komplexitätssteigerung verbunden war, die zunehmend originalgetreue Darstellung und die Kombination von moderner Technik für den Betrieb der Modellbahnanlagen mit einer zunehmenden Bedeutung der Vergangenheit als Sujet.

50 | H. Wild, Che bella trovata [Bericht über eine TRAXX-Diesellok von A.C.M.E.]. In: Modellbahn Illustrierte, (3/2012) S. 24f., S. 25. 51 | Selbst spielt der Mann. In: Welt am Sontag, 50 vom 12.12.1976, S. 11, archiviert in DTMB, Historisches Archiv, Nachlass Metzeltin, 1.4.027 Nr 391. 52 | Modellbahn im Originalnachbau – warum eigentlich? Vortrag von Gebhard Reitz, Fa. Reitz-Modellbau, Schloßberg, dessen Firma sehr präzise Zusatzteile zur Umrüstung von Lokomotiven herstellt, in der Reihe Technik und Vergnügen des AK Technikgeschichte des VDI Berlin-Brandenburg, November 2005. 53 | Freundliche Information von Alfred Gottwaldt, Oberkustos Schienenverkehr, Deutsches Technikmuseum, Berlin.

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2. Genese eines Publikationsfeldes und Institutionalisierung Das Interesse an Modellbahnen ist sowohl an der Entwicklung der Publikationstätigkeit in diesem Feld als auch an der Gründung von Vereinen ablesbar: Schon im 19. Jahrhundert wurden zahlreiche englischsprachige Bücher über Dampfmaschinen und Modellbahnen publiziert, seit 1898 erschien das britische Model Engineer Magazine,54 und zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es mit der Gründung von Modellbahnvereinen auch zu einer Institutionalisierung des Modellbahnwesens. Das erste Buch über Dampfmaschinen und Modelllokomotiven ist wohl das 1868 veröffentlichte Buch The Model Steam Engine von A. Steady Stoker.55 Gustav Reder verfasste nach eigenen Angaben 1925/1926 das erste deutschsprachige Buch zu diesem Thema: Die Modelleisenbahn. Ihre Wirkungsweise und ihr Betrieb nebst einer Anleitung zum Selbstanfertigen von Eisenbahnen mit Zubehör.56 Die ersten deutschen Modellbahnvereine entstanden in den 1920er Jahren; bis in die 1950er Jahre erfolgte in den meisten europäischen Ländern die Gründung von Vereinen und nationalen Dachverbänden.57 Ausstellungen, die diese Vereine veranstalteten, dürften zur Popularisierung der Modellbahn beigetragen haben, zumal es in der Frühzeit des Modellbahnwesens gelang, bekannte Ausstellungsorte wie das Haus der Technik in Berlin zu bespielen, dessen Ziel es war, jeweils neueste Technik zu präsentieren.58 54 | Die Webseite Model Engineer Magazine – Database and Index of Published Articles, www.itech.net.au/modelengineer/ (5.1.2013) bietet eine Suchmaschine, die alle Bände der von 1898 bis 2010 erschienen Zeitschrift durchforstet. 55 | A. St. Stoker, The Model Steam Engine. How to Buy, How to Use and How to Make It. London 1868. 56 | G. Reder, Die Modelleisenbahn. Ihre Wirkungsweise und ihr Betrieb nebst einer Anleitung zum Selbstanfertigen von Eisenbahnen mit Zubehör. Stuttgart u.a. 1925. 57 | Klaus Gerlach nennt in seinem Modellbahn-Handbuch die 1925 gegründete »Vereinigung Modelleisenbahn Hamburg« als ältesten Modellbahnclub in Deutschland; K. Gerlach, Modellbahn-Handbuch, überarbeitet von J. M. Hill, Redakteur der Zeitschrift »moderne eisenbahn«, Düsseldorf. (Originalausgabe: Berlin-Ost), Düsseldorf 1965, S. 17. In Berlin wurde um 1930 ein »Erster Eisenbahn-Modellbau-Verein, E.E.M.V.« gegründet, der sich jedoch rasch wieder auflöste und 1932 als »Modell-Eisenbahn-Klub Berlin, MEC« wieder gegründet wurde. Dessen Rechtsnachfolger, der »Modelleisenbahn Klub Berlin e.V. 1932« besteht bis heute. Siehe: Der Modell-Eisenbahn-Klub Berlin e.V. 1932. – Ein Streifzug durch 70 Jahre Vereinsgeschichte, S. 1f., S. 1. In: Homepage des Modelleisenbahnklub Berlin 1932 e.V., www.mekb.de/Geschichte.html (31.10.2003). 1958 wurde als Dachverband der Bundesverband Deutscher Eisenbahn-Freunde, BDEF, gegründet, der sich primär an Modellbahner richtet und zahlreiche Publikationen herausgibt. Siehe W.-D. Machel (Red.), 50 Jahre Bundesverband Deutscher Eisenbahn-Freunde e.V. 1958 – 2008. Hannover 2008. 58 | Der Modell-Eisenbahn-Klub Berlin e.V. 1932, S. 1. Zum Haus der Technik siehe H. Möbius, Vierhundert Jahre technische Sammlungen in Berlin. Von der Raritätenkammer der

D. Technisches Spielzeug

Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in Amerika, wo die ersten Modellbahnvereine in den 1930er Jahren gegründet wurden.59 Spätestens Mitte der 1930er Jahre kamen in Großbritannien und in den USA die ersten Spezialzeitschriften für Modellbahnen auf den Markt, die britische Zeitschrift Model Railway Constructor und das amerikanische Blatt Model Railroader, 1937 folgte die französische Loco-Revue.60 Nach einer ersten Zeitschrift, der Modelleisenbahn, die in den 1930er Jahren in unregelmäßiger Folge herauskam,61 erschienen in der frühen Nachkriegszeit auch deutschsprachige Zeitschriften: seit 1949 die westdeutsche Zeitschrift Miniaturbahnen (mit heutigem Namen MIBA), und seit 1952 der in Ostberlin publizierte Modelleisenbahner.62 Bis in die 1960er Jahre war die Zahl von Modellbahn-Vereinen und -publikationen beträchtlich angewachsen.63 Erste Spurweitenfestlegungen in Deutschland waren bereits 1890 erfolgt; in den USA entstanden die ersten normenähnlichen NMRA-Standards für Modellbahnen, die europäischen Pendants, die als Normen Europäischer Modellbahnen, NEM bezeichnet werden, folgten in den 1950er Jahren, zudem entstand 1954 ein europäischer Dachverband, der Modelleisenbahn-Verband Europa, MOROP.64 Damit war eine Ebene der formalen Institutionalisierung des Modellbahnwesens erreicht, die beispielsweise in der InstitutioKurfürsten zum Museum für Verkehr und Technik. = Berliner Beiträge zur Technikgeschichte und Industriekultur. Schriftenreihe des Museums für Verkehr und Technik Berlin, 2. Berlin 1983, S. 77. 59 | J. Larrabee, The Art of Model Railroading: serious play at the consumption production junction. Vortrag im Rahmen der Sektion Sport, Leisure and Play: Science Technology and Culture (organiser H.-J. Braun, St. Poser, J. Williams) auf dem 39 th Symposium of the International Committee for the History of Technology, ICOHTEC, in Barcelona 2012. Das Abstract ist veröffentlicht in: ICOHTEC. 39 th Annual Meeting. Technology, the Arts & Industrial Culture. Final Programme. Book of Abstracts. 10 – 14 July 20012 – Barcelona, Spain. ETSEIB – Escola Tèchnica Superior d’Enginyeria Industrial. [Barcelona 2012], S. 49. 60 | Siehe: Model Railway Constructor. In: Wikipedia, http://en.wikipedia.org/wiki/ Model_Railway_Constructor; dem Artikel zufolge erschien die Zeitschrift seit Mitte der 1930er Jahre. Siehe auch: Our History. About Model Railroader magazine (since 1934), http://mrr.trains.com/Magazine/Our%20History/2006/05/About%20Model%20Railroader%20magazine.aspx Und: Loco-Revue, le premier magazine français de modélisme ferroviaire, www.locorevue.com/ (alle 5.1.2013). 61 | Der Modell-Eisenbahn-Klub Berlin e.V. 1932, S. 1. 62 | Beide Zeitschriften werden bis heute verlegt, ältere Ausgaben der MIBA wurden vollständig digitalisiert. 63 | Eine Zeitung von 1963 gibt 4000 Vereine für die Bundesrepublik an, Gerlach nennt 2000 Vereinsmitglieder von Modellbahnvereinen und bezieht sich dabei vermutlich auf die DDR. Siehe: Freizeit im Maßstab 1 : 45. Zeitungsausschnitt vom 22.12.1963 aus der Sammlung Metzeltin, DTMB, Historisches Archiv, Nachlass Metzeltin, 1.4.027 Nr 391. Und: Gerlach, S. 18. 64 | Siehe z.B. Gerlach, S. 17f.

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nalisierung von Sportarten – wenn auch mit erheblich höheren Mitgliederzahlen der betreffenden Vereine – ihre Entsprechung findet.

3. Modellbahntechnik und Technologietransfer Aufgrund des langen Zeitraums, seitdem Eisenbahnmodelle für Spielzwecke hergestellt werden, kam eine große Bandbreite von jeweils zeittypischen Materialien zum Einsatz; ähnliches gilt für die Produktionsprozesse und die Technik, die für die Modelle und die zugehörigen technischen Systeme genutzt wurde. Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt auf der Funktionstechnik von Modelleisenbahnen beziehungsweise deren Anlagen sowie auf Technologietransfers in das Modellbahnwesen.

a. Materialien und Produktionsweise Modelllokomotiven und -wagen wurden im 19. Jahrhundert meist aus Messing gefertigt, wobei die Hersteller sowohl Gussteile als auch Bleche nutzten; hinzu kamen Edelhölzer für den Waggonbau. Das Zentrum der Modellbahnproduktion war England. Diese Modelle wurden sowohl von kommerziellen Anbietern als auch von Liebhabern handwerklich gefertigt, während sich für die kommerzielle Herstellung gegen Ende des 19. Jahrhunderts fabrikmäßige, arbeitsteilige Produktionsformen durchsetzten. Als Material hierfür dominierte vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die 1950er Jahre Weißblech, Zentrum dieser Spielwarenproduktion wurde Süddeutschland, wobei insbesondere Nürnberg zu nennen ist. Ursprünglich waren die Weißblechmodelle analog zu ihren Vorgängern aus Messing handbemalt; ab 1890 setzte sich das lithographische Bedrucken zur Kolorierung durch: Die Bleche wurden erst bedruckt,65 dann gestanzt und mit Tiefziehpressen plastisch verformt und schließlich montiert, wobei preisgünstige Ausführungen oft lediglich zusammengesteckt wurden. Hatten in größeren Serien hergestellte Weißblechprodukte schon zu einer erheblichen Reduktion der Herstellungskosten geführt, so galt das um so mehr für die leichter und unter geringerem Energieeinsatz bearbeitbaren Kunststoffe: Mitte der 1930er Jahre begannen einige Modellbahnproduzenten wie Trix, Bakelit als neuen Werkstoff einzusetzen, in den 1950er Jahren folgten thermoplastische Kunststoffe, die sich mit Hilfe des Spritzgussverfahrens bedeutend schneller und unkomplizierter verarbeiten ließen als Bakelit, das formgepresst und ausgehärtet werden muss. Da die Kunststoffnutzung ermöglichte, kostengünstig zahlreiche Details abzubilden, kam sie dem Anliegen entgegen, Modelle möglichst originalgetreu zu gestalten. So setzte sich der neue Werkstoff für Wagen, Schienen und Zubehör rasch gegen Holz und Metall durch; insbesondere wurde Plastik das Material für das wachsende Häusermeer auf den Modellbahnanlagen der 1950er bis 2000er Jahre, während hierfür in der letzten Zeit bedruckte und geprägte Pappe an Bedeutung 65 | Eine Abbildung eines solchen Blechs siehe beispielsweise bei Adriani/Gaugele, S. 102.

D. Technisches Spielzeug

gewann. Lokomotiven wurden und werden herstellerabhängig mit Kunststoff- oder Metallgehäuse gefertigt, wobei auch Mischkonstruktionen vorkommen. In der Nachkriegszeit verwendeten einige Hersteller wie das österreichische Unternehmen Kleinbahn Holz und Metall, andere materialmangelbedingt Aluminium. Dessen Nutzung dürfte wegen seines geringen Gewichts und wegen seines schlechten Images als ›Ersatzstoff‹ nicht weiter verfolgt worden sein. Auf die Dauer setzten sich neben Kunststoffen der in den 1930er Jahren entwickelte Zinkdruckguss und – für teure Modelle – der Rotguss durch. Zinkdruckguss ist aufgrund seiner vergleichsweise geringen Verarbeitungstemperatur und seines engen Erstarrungsintervalls, das die Fertigung von hochwertigen Oberflächen bei geringen Toleranzen ermöglicht, besonders für eine präzise Fertigung und damit zur Darstellung zahlreicher Details geeignet,66 aber technisch aufwendig. Deshalb eignet sich der klassische Rotguss für Kleinbetriebe besser. Ähnlich wie sich die hauptsächlich genutzten Materialien und die zugehörigen Produktionsverfahren in zeittypischer Weise veränderten, entwickelte sich die Produktion der großen Hersteller: Die Modellbahnfertigung ist zwar nach wie vor mit viel Handarbeit verbunden, aber zahlreiche Produktionsschritte ließen sich mechanisieren und wurden später automatisiert. So verfügen heutige Betriebe beispielsweise über große Spritzgussmaschinen, Farbautomaten und Tampondruckmaschinen.67 Materialien und Fertigungsverfahren korrespondierten einer zunehmenden Verbreitung von Modelleisenbahnen, die vermutlich in den 1970er Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Für das Spiel bedeutete dies, dass sich eine bestimmte Form des Technischen Spielzeugs, die Modelleisenbahn, zunehmend verbreitete.

b. Antrieb Aufgrund der Kombination von motorischem Antrieb und der Darstellung von Technik zählen Modellbahnlokomotiven und mit ihnen die gesamten Anlagen zum Technischen Spielzeug im engeren Sinne. Dabei beeinflusst die Art des Antriebs die Spielmöglichkeiten. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie hier immer wieder neue, durchaus aufwendige Lösungen entwickelt wurden. Modellbahnen gab und gibt es nach wie vor mit vier verschiedenen Antriebskonzepten: dem Handbetrieb, den man nur begrenzt als Antrieb zählen kann, dem Federantrieb, der Dampfmaschine und dem Elektromotor. Während sich Bahnen zum Schieben eher an jüngeres Publikum richten, wurde der Federantrieb von Anfang an als eine billigere und weniger leistungsfähige Alternative zum Dampfantrieb so-

66 | Bang-Kaup, S. 1. 67 | Ein Film zur Handarbeit bei der Endmontage einer Lokomotive der Firma Kleinbahn ist über die Homepage des Unternehmens abrufbar; er entstand vermutlich in den 1970er Jahren: Kleinbahn, www.kleinbahn.com/ (14.5.2012). Zu modernen Produktionsabläufen siehe G. Ruthsatz, Neue Gartenbahn-Heimat [Firmenportrait Piko, Sonneberg]. In: Modellbahn Illustrierte, (3/2012), S. 42-46.

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wie seit den 1890er Jahren zum Elektromotor angeboten, verlor aber gegenüber letzterem langsam an Bedeutung. Frühe Züge mit Federwerk wie der Rotary Railway Express hatten einen externen Antrieb. Uhrwerkbahnen mit eingebautem Antrieb wurden bereits in den 1860er Jahren von einer Erfurter Firma angeboten.68 Bing hatte vor dem Ersten Weltkrieg eine ähnliche Zahl von Eisenbahnen mit Uhrwerk und Elektroantrieb im Angebot. Darunter war auch eine große 2'C1' Expresszuglokomotive mit »extrastarkem Uhrwerk«.69 Etwas geringer, aber mit 16 verschiedenen Modellen auch noch erheblich war das Angebot echter kleiner Dampflokomotiven.70 Diesem vielfältigen Angebot korrespondierte die Verteilung von verschiedenen Antriebsvarianten in Konsumentenhaushalten unter Umständen nicht: Noch in den 1930er Jahren waren – wenn man einer retrospektiven Umfrage Rehers Glauben schenkt – mehr als die Hälfte aller auf Anlagen vertretenen Modellbahnlokomotiven mit einem Uhrwerkantrieb ausgestattet, knapp 40% wurden elektrisch angetrieben und knapp 10% fuhren mit Dampf.71 Im Programm von Modellbahnherstellern blieben Uhrwerklokomotiven bis nach dem Zweiten Weltkrieg.72 Während bei den Uhrwerklokomotiven im Bing Katalog von 1913 lediglich auf eine verbesserte Ausführung oder ein Präzisionswerk hingewiesen wird, steht bei der Beschreibung einer dampf betriebenen Expresszuglokomotive die Antriebstechnik im Vordergrund: »Hochfeine Dampflokomotive, modernster Typ, extralange Expressform, fein ausgeführt mit feststehenden Präzisions-Dampf-Zylindern, mit Röhrenschiebersteuerung und Kreuzkopfführung, mit Umsteuerung für Vor- und Rückwärtsfahrt (von der Schiene aus automatisch oder vom Führerstand aus), Absperrhahn zum Anhalten der Maschine, Zentral-Dauer-Öler, solidem, feinst lackierten Messingkessel, f. vernickelten Armaturen, Wasserstandsglas und Glockendampfpfeife, mit Spiritusvergasungslampe, Abdampf durch den Kamin«.73

Auch im Vergleich zu den knappen Beschreibungen der Lokomotiven mit elektrischem Antrieb, bei denen meist lediglich auf Schwach- oder Starkstrom hingewiesen ist, wird deutlich, dass hier Begeisterung für die Technik mitschwingt 68 | Hildebrandt, Spielzeug, S. 131. 69 | Siehe Bing-Spielwaren 1912, S. 139ff., S. 297ff., Reprint, S. 151ff., S. 280ff. Zitat: Ebenda, S. 148, Reprint, S. 160. 70 | Siehe Bing-Spielwaren 1912, S. 103ff., Reprint, S. 116ff. 71 | Reher, Eisenbahnspielzeug, S. 149. 72 | In einem Zeitschriftenbericht wird sogar noch 1950 auf Verbesserungen von Uhrwerklokomotiven hingewiesen: K. H. Fonk, Elektrische Eisenbahn, der Weihnachtswunsch jedes – Vaters. Kleine Wunderwerke der Technik für den Gabentisch. In: Zeitschrift 9 Tage (?), 51 vom 22.12.1950, S. 8, aus der Sammlung Metzeltin. DTMB, Historisches Archiv, Nachlass Metzeltin, 1.4.027 Nr. 391. 73 | Bing-Spielwaren 1912, S. 106, Reprint, S. 119.

D. Technisches Spielzeug

oder als Verkaufsargument genutzt werden soll. Entsprechend heißt es 1904 bei Hildebrandt: »Die bei den meisten Kindern aber beliebteste und oft genug ein stilles Ziel ihrer Wünsche bildende [Spielzeug-]Eisenbahn ist und bleibt noch immer die Dampfeisenbahn«.74 Miniaturdampflokomotiven in einfacher Ausführung wurden mit oszillierenden Zylindern gebaut: diese Form des Antriebs erspart gegenüber feststehenden Zylindern zahlreiche bewegliche Teile, weil die Pleuelstange des Zylinders die Funktion der Kuppelstange mit übernimmt und ohne Gelenke direkt mit dem exzentrisch angesetzten Kurbelstangenzapfen des Antriebsrads verbunden werden kann. Oszillierende Dampfmaschinen waren gegenüber solchen mit feststehenden Zylindern leichter und kompakter; entsprechend wurden sie bis etwa 1910 häufig für kleinere Antriebe genutzt – bis hin zu Maschinen von Binnenschiffen.75 Für einfache zweiachsige Modelllokomotiven bot sich diese Konstruktion an. Sehr einfache Exemplare waren nur mit einem Zylinder versehen, der im Inneren der Lokomotive angeordnet wurde; diese Dampflokomotiven hatten nur entfernte Ähnlichkeit mit großen Maschinen. Etwas aufwendigere Ausführungen wurden mit zwei oszillierenden Zylindern ausgestattet, die sich üblicherweise an der von den Originalen vertrauten Position rechts und links vor den Antriebsrädern befanden; eine Pleuelstange genügte, und auf weitere Einzelteile des Gestänges sowie komplizierte Mechanismen wie die Kreuzkopfführung wurde auch bei diesen Modellen verzichtet. Sie waren etwa doppelt bis dreimal so teuer wie die Dampfloks mit einem Zylinder. Modelllokomotiven mit feststehenden Zylindern entsprechen in technischer Hinsicht der Antriebskonzeption üblicher Dampflokomotiven; diese Modelle waren mit Kreuzkopfführungen und einem Gestänge ausgestattet, das je nach Preis und Hersteller verschieden aufwendig beziehungsweise originalgetreu war. Der Preis von einfachen Modelllokomotiven mit feststehenden Zylindern lag noch einmal doppelt so hoch wie der der Maschinen mit zwei oszillierenden Zylindern.76 Schon bei einfachen kleinen Dampflokomotiven gehörten ein Regler und ein Sicherheitsventil zur Ausstattung. Zudem fungierten häufig die Zuleitungen zu den oszillierenden Zylindern als zusätzliches Notventil.77 Aufwendigere Modelle waren zudem mit einer als Ventil wirkenden Dampfpfeife und Wasserstandsgläsern ausgestattet.78 Damit verfügten sie – sieht man von Schmelzpfropfen ab – über eine mehrstufige sicherheitstechnische Ausstattung, die größeren

74 | Hildebrandt, Spielzeug, S. 134. 75 | Eine oszillierende Dampfmaschine eines kleinen Schleppers ist im Technischen Museum Wien erhalten. 76 | Siehe beispielsweise Bing-Spielwaren 1912, S. 103f., Reprint S. 116f. 77 | Reder, Uhrwerk, S. 12f. 78 | Minns, S. 63. Sowie: Safety notes on old steam models. In: John’s Model Steam Engine Museum, http://johno.myiglou.com/steamsafety.htm (1.5.2012).

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Dampfmaschinen ähnelt.79 Die Vielzahl der eingebauten Kontroll- und Steuerungseinrichtungen macht zudem deutlich, dass auch Miniaturdampfmaschinen ein komplexes technisches System sind, das der Kontrolle und Pflege bedarf; entsprechend ausführlich waren die Betriebsanleitungen. Ergänzend boten Hersteller Ersatz-Spirituslampen für ihre Lokomotiven sowie diverse Zubehörteile zur Wartung von Dampfmaschinen und -lokomotiven an.80 Ähnlich den Spielzeugdampfmaschinen hielt sich der Dampfantrieb in geringem Umfang: Kleine Dampflokomotiven zum Dampf betrieb werden bis heute von einigen wenigen Herstellern produziert und zudem – ähnlich den Originalen – als Bestandteil historischer Bahnen liebevoll gepflegt. Jüngere Modelle sind praktisch ausschließlich mit feststehenden Zylindern ausgestattet. Sie werden anstelle von Spiritus wegen der einfacheren Handhabbarkeit und der feineren Regulierbarkeit häufig mit Gas befeuert,81 zudem wurden die Lokomotiven auch in technischer Hinsicht weiterentwickelt. So gelang es in den letzten Jahren durch Nutzung von Kohlefaserverbundwerkstoffen und Teflon Modell-Dampfloks zu entwickeln, die keine kontinuierliche Zylinderschmierung mehr benötigen und folglich die Schienen nicht verschmutzen.82 Auch im Falle der Dampftechnologie, die ihren Zenit schon um 1900 überschritten hatte und die im Eisenbahnwesen spätestens seit den 1970er Jahren kaum noch verwendet wurde, lassen sich also bis in die Gegenwart Weiterentwicklungen für Spiel und Freizeit nachweisen. Die ersten Modelllokomotiven mit Elektromotor hat es nach Einschätzung von Reder schon vor der Vorführung des ersten elektrisch betriebenen Zuges auf der Gewerbeausstellung in Moabit (heute Berlin) 1879 gegeben; 1882 zeigte der Nürnberger Hersteller Ernst Planck eine solche Lokomotive auf der Bayerischen Gewerbeausstellung.83 Frühe Modellbahnen fuhren mit Haushaltsstrom, der über Glühlampen und Widerstände auf 60 Volt reduziert wurde. Bing bot parallel zu den sogenannten Starkstromlokomotiven bereits vor dem Ersten Weltkrieg auch Bahnen für Schwachstrom an, deren Gleichstrommotoren durch Batterien oder Akkus gespeist wurden.84 Erst 1927 trat eine VDE Richtline in Kraft, der zufolge Spielzeug nur noch für den Betrieb mit Niederspannung bis 24 Volt produziert 79 | Zum Stand der Sicherheitstechnik für Dampfkessel um 1900 siehe beispielsweise: Die Sammlungen des Gewebe-hygienischen Museums in Wien. Einrichtungen zum Schutze der Arbeiter in gewerblichen Betrieben. Wien 1898, S. 9ff. 80 | Siehe beispielsweise Bing-Spielwaren 1912, S. 100f., Reprint, S. 114f. 81 | Siehe hierzu: Echtdampf. Internetseite der Regner Dampf- und Eisenbahntechnik, www.regner-dampftechnik.de/echtdampf/index.php (19.4.2012). 82 | Reinheits-Gebot. Dampfmodellbau Reppingen: Livesteam-Lok fährt auch ohne Öl. In: Gartenbahn profi, 10 (2/2012), S. 60. Die Entwicklung ermöglicht einen gleichzeitigen Betrieb von elektrisch angetriebenen Loks. 83 | Reder, Uhrwerk, S. 36. 84 | Der Hinweis »mit permanenten Magneten« weist auf Gleichstrom hin. Bing-Spielwaren 1912, S. 297ff., Reprint, S. 280ff.

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und vertrieben werden durfte.85 Nun mussten für den Betrieb der Bahnen Transformatoren zwischengeschaltet werden, die einen eigenen Sekundärstromkreis garantierten, oder sie waren – wie die Bing Schwachstrombahnen – mit Batterien oder Akkus zu betreiben. Diese Lösung wurde als preiswerte Alternative verstärkt in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs angeboten.86 Ein vermutlich 1927 herausgebrachter Bing Katalog enthält zwar noch als »Starkstrombahnen« bezeichnete Fahrzeuge, diese werden jedoch über einen Transformator oder einen Einankerumformer betrieben. Unter Hinweis auf die VDE Vorschriften wird unterstrichen, dass die Bing-Bahnen »ein völlig gefahrloses Spielzeug« seien.87 In einer Märklin-Broschüre für Besitzer von Eisenbahnen mit »Lampenvorschaltung« werden die Risiken von Stromschlägen als »Unzuträglichkeiten [bezeichnet], die infolge Ueberhandnahme der Wechselstromnetze und infolge der größeren Verbreitung von Betonbauten und Kunststeinfußböden in den letzten Jahren verstärkt wurden«.88 Wegen der eigenen Produktion von Haushaltsstrommodellbahnen wurden Gefahren hier in ähnlicher Weise de-thematisiert wie es für berufsbezogene Bereiche des Unfallschutzes charakteristisch ist. Die neuen Vorschriften »sind von weittragender Bedeutung und bedingen eine Umwälzung auf dem gesamten Gebiete des elektrischen Spielzeugs«, heißt es weiter.89 Tatsächlich mussten nicht nur die Lokmotoren, sondern auch zahlreiche elektrische Zubehörbestandteile der Anlagen umgestaltet werden. Während Märklin bei Anlagen mit Wechselstrom blieb, etablierte sich 12 V Gleichstrom in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs als Standard für Modelleisenbahnen anderer Anbieter.90 Die Motoren und deren Einbauposition wur85 | Adriani/Gaugele, S. 124. 86 | Beispielsweise bot der Hersteller Trix von 1953 bis 1960/61 preiswerte H0-Einsteigerbahnen mit 4.5 Volt Motoren für Batteriebetrieb an, Fleischmann hatte Batteriebahnen von 1955 bis 1959 im Programm. Siehe: J. Franzke (Hg.), TRIX Vereinigte Spielwarenfabriken, Teil 1. Von den Anfängen bis in die Sechziger Jahre. = Schuco, Bing & Co. Berümtes Blechspielzeug aus Nürnberg, 4. Nürnberg 2000, S. 98ff. Sowie: 125 Jahre Fleischmann. 1887 – 2012. [Nürnberg 2012], S. 18. Firmenbroschüre zum Jubiläum, www.fleischmann. de/unternehmen/125-jahre-fleischmann.html (19.3.2012). 87 | Bing-Spielwaren, Bing Werke, vorm. Gebrüder Bing A. G. Nürnberg. Fabrik feiner Metallspielwaren. [Nürnberg um 1927], S. 37. Archiviert in: DTMB, Historisches Archiv, II.2.05427. Ähnliche Formulierungen finden sich noch 1936: Karl Bub Spielwarenfabrik, Nürnberg-W, Wertheim Spielwarenabteilung. Spielwarenkatalog, archiviert in: DTMB, Historisches Archiv, III.2.03822. 88 | Das neue System der Märklin Eisenbahnen für 20 Volt. Gebr. Märklin & Cie., Göppingen 1927, zitiert nach Adriani/Gaugele, S. 124. 89 | Ebenda. 90 | Folgt man firmennahen Schriften, so war Fleischmann das erste Unternehmen, das schon 1949 Zweileiter-Gleichstrombahnen anbot. Siehe: 125 Jahre Fleischmann, S. 10. Sowie H. Zschaller, Die Spur 0-Bahn. In: Franzke, Fleischmann, S. 58.

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den im Laufe der Zeit dahingehend optimiert, dass die Lokomotiven nicht allzu schnell, geräuscharm und mit erheblicher Zugkraft fuhren. Während frühe Elektromotoren und solche einfacherer Modelle meist nur eine Achse antrieben, erfolgt bei weiterentwickelten Konstruktionen der Antrieb auf mehrere Achsen. Bleigewichte und Haftreifen auf den Antriebsrädern steigerten die Zugleistung zusätzlich. Der Elektroantrieb von Modell-Dampflokomotiven ist bei älteren Modellen meist im Führerhaus und im Bereich der Feuerung untergebracht,91 später wurde der Antrieb oft im Tender angeordnet, weil diese Lösung sowohl mehr Platz für Motor und Gewichte bietet als auch einen originalgetreuen Durchblick zwischen Rahmen und Kessel ermöglicht. Gerlach stellt 1965 zwei größere Dampflokomotiven und einen zweiachsigen Triebwagen zur Eigenkonstruktion vor; die Elektromotoren der ›Dampflokomotiven‹ sind im Bereich von Führerstand und Feuerbüchse angeordnet. Im einen Fall soll über zwei mit einem Gummiband verbundene Garnrollen, eine Schnecke und ein Schneckenrad eine Achse angetrieben werden, im zweiten über eine Schnecke und mehrere Zahnräder der Antrieb von zwei Achsen erfolgen. Der Triebwagen soll mit Hilfe von Zahnrädern und einer Schnecke durch einen mittig eingebauten Motor betrieben werden.92 Diesel- und Elektrolokomotiven von Märklin und Fleischmann waren in den 1950er und 1960er Jahren mit stehend eingebauten Elektromotoren ausgestattet, die ein Drehgestell antrieben, Modelle des italienischen Herstellers Rivarossi mit kleinen liegenden Flachankermotoren, die auf zwei Achsen wirkten, und Lokomotiven des französischen Unternehmens Jouef wurden mit einem geneigten, länglichen Motor ausgeliefert, der über ein Schneckengetriebe und Zahnräder zwei Achsen antrieb.93 Lima-Lokomotiven der 1970er und 1980er Jahre wurden mit einem Flachanker-Motor von 2.5 cm Durchmesser ausgestattet, der senkrecht in die Lokomotiven eingebaut war und über ein Zahnradgetriebe üblicherweise ein oder zwei Achsen antrieb. Die Nachfolgegeneration hatte einen mittig in Längsrichtung eingebauten Elektromotor mit einem längeren Anker und ein Getriebe mit zwei Kardanwellen, die vier Achsen

91 | Siehe beispielsweise Gerlach, S. 223f. 92 | Gerlach, S. 224. 93 | Fleischmann behielt diese Form des Antriebs bei und ergänzte seinen Rundmotor durch zusätzliche Schwungmassen. Siehe beispielsweise die V 200 von Märklin von 1957 (Adriani/Gaugele, S. 161) und das Rivarossi-Modell der V 320/232 der DB von 1971: DB 232 von Rivarossi und Brawa – Ein kleiner Vergleich. In: bahnwahn.de, www.bahnwahn. de/ddvergleich232/ (19.3.2012). Sowie zu einer älteren und einer modernen Lokomotive Fleischmanns: Fleischmann DB 141, Details. In: bahnwahn.de, www.bahnwahn.de/ fleischmanndb141/Details/details.html. Sowie: Fleischmann DB 218, Modelldetails. In: bahnwahn.de, www.bahnwahn.de/fleischmanndb218/Modelldetails/modelldetails.html, (19.3.2012). Siehe außerdem: Jouef DB 110/139/182, Details. In: bahnwahn.de, www. bahnwahn.de/jouefdb110/Details/details.html, (19.3.2012).

D. Technisches Spielzeug

Abb. 18: Konstruktion zum automatischen Fahrtrichtungswechsel von Spielzeugfahrzeugen mit eigenem Antrieb. Zeichnung zu einem deutschen Patent von 1886. Das Patentamt ordnete die Konstruktion der Klasse 77, ›Sport‹, zu.

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antrieben.94 Frühzeitig – vermutlich seit 1970 – hatte der Zwickauer Hersteller Gützold eine solche Konstruktion verwirklicht.95 Diese Bauweise ist – mit einer etwas anders gelösten Kraftübertragung von den Kardanwellen auf die Drehgestelle – bis heute Stand der Technik. Einzelne Hersteller bieten neuerdings mehrere Einzelachsantriebe anstelle eines Motors mit Kardanwellen an.96 Eine Reihe von Unternehmen haben inzwischen Hochleistungseinheiten zum Nachrüsten von Modellbahnlokomotiven im Programm. Ein solcher Bausatz besteht meist aus einem Digitaldecoder und verbesserten Motor- und Getriebeelementen; die üblichen Motoren mit drei Wicklungen auf dem Anker werden wegen der größeren Laufruhe und besseren Langsamlaufeigenschaften gegen solche mit fünf Wicklungen ausgetauscht.97 Eine besondere Herausforderung bedeutete für die Unternehmen die Miniaturisierung – sowohl bezüglich der Motor- und Getriebekonstruktion als auch bezüglich der seriengerechten, möglichst originalgetreuen Darstellung. So waren beispielsweise die Motoren der ersten um 1900 angebotenen Modellbahnlokomotiven mit Elektroantrieb so groß, dass sie bei Fahrzeugen der Spurweite 0 nicht in die Fahrzeugrahmen passten; entsprechend behalf sich Märklin mit Bügeln, die die Ankerwelle trugen und auf den Achsen außerhalb der Räder abgestützt waren. Bing lagerte die Ankerwelle seiner ersten Dampflokomotive mit Elektromotor in einem Außenrahmen oberhalb der Räder; ein Seitentender-ähnlicher Kasten verdeckte die Lager und die Kontaktbürsten, die zur Wartung über eine Klappe zugänglich bleiben mussten.98

c. Steuerung Der Einbau von Steuerungsmöglichkeiten erhöhte die Spielvarianten und technisierte das Spiel zusätzlich. In technischer Hinsicht bedeutete er eine Komplexitätssteigerung des technischen Sachsystems Modelleisenbahn. Schon frühzeitig wurden schienengebundene Modellbahnen mit Steuerungseinbauten versehen, die 94 | Siehe beispielsweise mehrere Ausführungen der BR 103 der DB von Lima im Vergleich: Lima DB 103. bahnwahn.de, www.bahnwahn.de/limadb103/Details/details.html (16.3.2012). 95 | Siehe beispielsweise: Gützold-H0-Modell der BR 120 der DR. In: Der Modelleisenbahner, 21 (1972), S. 38f., S. 38, Abb. 3. Siehe auch: Piko (Gützold) DR V180/118 (DDR). Kap. Geschichte, Kap. Details. In: bahnwahn.de, www.bahnwahn.de/pidr118ddr/Geschichte/ geschichte.html, www.bahnwahn.de/pidr118ddr/Details/details.html (19.3.2012). Der Motor hatte noch keine zusätzliche Schwungmasse; dies wirkte sich – im Vergleich zu heute – ungünstig auf die Fahreigenschaften aus. Zum Vergleich siehe beispielsweise die Innenabbildungen einer modernen Märklinlok: Märklin-Eurorunner, Details. In: bahnwahn. de, www.bahnwahn.de/maerklineurorunner/Details/details.html (19.3.2012). 96 | B. Zöllner, Spaß um jeden Preis? In: MIBA, Sonderausgabe Messe 2012, S. 28. 97 | Hochleistungsantrieb. In: Modellbahntechnik-Lexikon, Modellbahntechnik aktuell, http://modellbahntechnik-aktuell.de/artikel/hochleistungsantrieb/ (17.4.2012). 98 | Reder, Uhrwerk, S. 40.

D. Technisches Spielzeug

analog der Fahrt der Lokomotiven auch das Bedienen von Signalen oder Weichen aus der Ferne ermöglichten.99 Zudem konnte das Umsteuern (die Richtungsänderung) von dampf- und federwerkbetriebenen Modellen durch Kontaktstellen und Schiebemechanismen automatisiert werden. Ein frühes Patent wurde bereits 1886 erteilt (Abb. 18).100 Folgt man Gustav Reder, so war die Fernsteuerung von echten kleinen Dampflokomotiven und Uhrwerklokomotiven durch Kontaktgeber allerdings problematisch, weil sie zu einem sofortigen Anhalten und einem unmittelbaren Rückwärtsfahren führten, das die Gefahr eines Auflaufens und Entgleisens der Wagen barg. Abhilfe habe hier erst die Einführung von Elektromotoren gebracht.101 Märklin hatte seit 1892 einen Bremsschalter im Angebot, 1907 folgte ein Umsteuerungsschalter.102 Das Unternehmen Bing ließ sich seine Konstruktion von Dampflokomotiven mit automatischer Umsteuerung durch Patent und Gebrauchsmuster schützen; im Katalog von 1912 wird die betreffende zweiachsige Spur 0 Lokomotive beschrieben als »vorwärts und rückwärts fahrend, mit Kulissen-Umsteuerung, automatisch von der Schiene aus oder von Hand vom Führerstand aus zu steuern«.103 Ein ferngesteuertes Entkupplungsgleis bot beispielsweise die Leipziger Lehrmittel-Anstalt bereits 1909 an.104 Zudem ermöglichten elektrische Kontakte verschiedenste Schaltungen bis zum automatischen Öffnen und Schließen von Bahnschranken. Bei Bahnwärterhäuschen mit Signalen und/oder Läutwerken wird ebenfalls die automatische Steuerung hervorgehoben. Die Beschreibung eines als »sehr originell« angepriesenen Bahnwärterhäuschens mit Signal, Läutwerk und Schranke im Bing-Katalog von 1912 verdeutlicht, dass Schaltfunktion und Spielangebot eng beieinander lagen: »Durch Drehen der Kurbel wird das Läutwerk in Betrieb gesetzt, der Bahnwärter tritt aus dem Hause, der Signalarm geht in die Höhe, die Barriére schließt sich, der Bahnwärter macht vor dem vorbeifahrenden Zuge Front. Hierauf fällt das Signal, die Barriére hebt sich und der Bahnwärter tritt in das Haus zurück«.105

Mechanismus und Ausführung dieses Bauteils orientieren sich deutlich an mechanischem Blechspielzeug; vergleichbare »Feine« oder »Mechanische Betriebs99 | F. Rinderknecht, Spielzeugeisenbahnen und Fernsteuerung. Fernwirkungen gezeigt an vielen Beispielen. In: www.tinplatefan.ch/WWW/LIGONET/kunden/tinplate/home. nsf/0/ec455141e60c5aeac12576ec00482565/$FILE/ TPF03-1-Fernwirkungen.pdf (19.3.2012). 100 | Selbstthätige Umsteuerung an Spiel-Fahrzeugen von Eduard Luchs, Nürnberg. Kaiserliches Patentamt, Patentschrift Nr. 39 046 vom 14.9.1886. 101 | Reder, Uhrwerk, S. 39. 102 | Siehe Rinderknecht, Fernsteuerung, S. 5. 103 | Bing Spielwaren 1912, S. 104, Reprint, S. 117 (Herv. im Original). 104 | Der Hersteller wird nicht genannt; Reder, Uhrwerk, S. 70. 105 | Bing Spielwaren 1912, S. 186, Reprint S. 198.

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modelle« fertigte Bing auch außerhalb des Eisenbahnprogramms – beispielsweise von Wind- und Wassermühlen oder Werkstatteinrichtungen.106 Als »Elektrisches Eisenbahnspiel (Electro-Fern-Betrieb)« wird 1912 ein »Zentral-Stellwerkhaus« mit zwei elektrischen Weichen für Schwachstromanschluss vorgestellt.107 Das Stellwerkshäuschen ist gemäß Abbildung beziehungsweise Beschreibung im Katalog beleuchtbar, die Relais der Weichen in kleinen Schuppen neben dem Gleiskörper verborgen. Hier wird abermals – was die gestalterische Konzeption anbelangt – die Nähe zum Blechspielzeug deutlich; gleichzeitig illustriert das Modell, wie moderne Technik dazu genutzt wurde, eine zusätzliche Spielfunktion zu entwickeln. Als interessante Neuheit wird 1914 eine »Doppelbahn mit automatischem Ausweich-Geleise« beworben, bei der zwei Züge – über Bremsschienen und automatisch umspringende Weichen gesteuert – im Wechsel fahren.108 Die Anlage war mit Uhrwerklokomotiven und Starkstrombahnen erhältlich. Bei einer anderen Komplettpackung für Starkstrom wurden zwei Weichen, die mit Unterbrecherkontakten verbunden waren, zum Hauptspielinhalt. Durch die Unterbrecherkontakte, die abhängig von der Weichenstellung aktiviert wurden, sei »eine Entgleisung ausgeschlossen«.109 Anbieter von Modellbahnsteuerungen waren alle wichtigen Modellbahn- und Blechspielzeughersteller der Zeit um 1900 wie Bing, Carette und Märklin. Vorbilder für die technischen Lösungen bildeten sowohl die große Eisenbahn als auch andere technische Systeme, die um 1900 gängig waren: So konnte die Steuerung von Weichen oder Signalen analog zur Eisenbahn durch Drahtzüge erfolgen, die von kleinen Stellhebeln aus bedient wurden. Bing bot im Katalog von 1900 Weichen mit mechanischer Steuerung an, die von einem kleinen Stellwerkshäuschen mit vier beziehungsweise sechs Schalthebeln aus bedient wurden. »Unsere gesetzlich geschützte Centralweichen-Anlage zeichnet sich von allen bisher in Verkehr befindlichen Systemen nicht nur durch das originelle technische Princip, sondern auch durch tadelloses Funktioniren aus. Vermittelst der abwechselnd aus Rohren und Drahtspiralen bestehenden Leitungsführung können die Weichen an irgendeiner beliebigen Stelle, entfernt von der Centrale placiert werden, ohne die Funktion zu beeinträchtigen. Es kann z.B. die Centrale auf einem Tisch zur Aufstellung gelangen, während die Weichen auf dem Boden des Zimmers sich befinden«.110

106 | Bing-Spielwaren 1912, S. 70f., S. 77f., Reprint S. 84f., S. 91f. 107 | Bing-Spielwaren 1912, S. 316, Reprint, S. 301 (Wechselnde Rechtschreibung im Original). 108 | Bing-Spielwaren 1914, S. 407, S. 429, Reprint, S. 382, S. 401. 109 | Bing-Spielwaren 1914, S. 429, Reprint, S. 401. 110 | Bing-Katalog 1900 oder 1903 (Herv. im Original), zitiert nach Rinderknecht, Fernwirkung, S. 8. Die beschriebene technische Lösung taucht bei Bing nach Angaben des Autors nach 1902 nicht mehr auf.

D. Technisches Spielzeug

Dennoch scheint die technische Lösung nicht praktikabel gewesen zu sein: sie blieb nur zwei Jahre im Angebot. Märklin bot zum Schalten von Weichen wohl von 1896 bis 1903 einen Kurbelmechanismus in einer flexiblen Welle (als Spirale beschrieben) an und griff damit auf eine Technologie zurück, die beispielsweise von Schaustellern zur Steuerung von Automatenfiguren genutzt wurde.111 Eine pneumatische Übertragung, wie sie das Unternehmen Rock & Graner seit 1897 und Märklin von 1905 bis 1916 anboten,112 rekurrierte auf ein gängiges System, wie es beispielsweise im Bergbau oder bei Rohrpostanlagen eingesetzt wurde. Gerade das schnelle, in einigen Großstädten gegen Zusatzporto zum allgemeinen Briefversand genutzte Rohrpostsystem dürfte dieser Lösung zu einer Aura des Besonderen verholfen haben. Mit dem Bau von Tischbahnen, die für längere Zeit aufgebaut bleiben konnten, wurden wesentlich aufwendigere Steuerungssysteme realisierbar. Durch Abtrennung verschiedener Stromkreise und das An- beziehungsweise Abschalten einzelner Gleisabschnitte wurde ein Mehrzugbetrieb möglich, beim Einbau von Oberleitungen und der Nutzung entsprechender Lokomotiven war der unabhängige Betrieb von zwei Zügen auf einem Gleis möglich. Hinzu kamen Signale mit Zugbeeinflussung, die das Anhalten beziehungsweise Abstellen von Zügen auf der Strecke ermöglichten. In Verbindung mit elektrischen Weichen entstanden ganze Reihen von kleinen Stell- und Schaltpulten mit Impulsschaltern. Hinzu kamen Schalter zum Ein- und Ausschalten von Streckenabschnitten, außerdem solche für Spezialfunktionen wie elektrische Entkupplungsgleise oder die Beleuchtung der Anlagen. Den aufwendigen Schaltungen korrespondierte eine umfangreiche Verdrahtung unter den Modellbahnplatten. Entsprechend wurden Gleispläne in der Modellbahnliteratur durch elektrotechnische Schaltbilder ergänzt.113 Der besseren Überschaubarkeit halber und dem Ziel der Originalgetreue gemäß wurden bereits 1950 kleine Gleisbildstellwerke angeboten, die der aktuellen Stellwerkstechnik der Bundesbahn nachempfunden waren.114 Die neueste Entwicklung scheint entsprechend eine digitale Steuerung der Modellbahnen über die Darstellung von Führerständen auf Smartphones zu sein.115 111 | Rinderknecht, Fernwirkung, S. 6. Ein Seil mit verschiedenen Spiralen für die Steuerung von Automatenfiguren ist im Puppentheatermuseum des Münchner Stadtmuseums erhalten. 112 | Rinderknecht, Fernwirkung, S. 11. 113 | Siehe beispielsweise Gerlach, S. 133ff., oder H. von Hofe, Gleisplan und Verschaltung meiner N-Anlage. In: Der Modelleisenbahner, 24 (1975), S. 12-17, S. 12ff. 114 | Freundliche Information von Hans Poser, Berlin. Zu den Originalen siehe H. Pottgießer, Sicher auf den Schienen. Fragen zur Sicherheitsstrategie der Eisenbahn von 1825 bis heute. Basel, Boston, Berlin 1988, S. 208f., Abb. 96f. 115 | Siehe beispielsweise die Broschüre zur Steuerung Z21, die von den Unternehmen Roco und Fleischmann seit 2012 angeboten wird: Z21. Steuern in die Zukunft. http://z21. eu/ (2.4.2012).

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In der Nachkriegszeit begannen Versuche einer vollautomatischen Steuerung von Modellbahnen. So berichteten die VDI Nachrichten 1961 über eine Modellbahnanlage, die über ein Tonband mit Impulsgeber betrieben wurde. Die auf dem Band aufgezeichneten Dauertöne und akustischen Impulse wurden über einen Verstärker und Wandler in Dauerströme und Stromstöße umgewandelt, die als Fahrbefehle der Lokomotive beziehungsweise als Schaltimpulse für Relais von Signalen und Weichen genutzt wurden. Der Autor hebt hervor, dass »ein nichtautomatisierter Spieler seine ganze Aufmerksamkeit braucht«, um dieselben Fahrbefehle zu geben.116 Für Modellbahner war auch eine teilweise Automatisierung interessant; so wird in den 1970er Jahren im Modelleisenbahner über Relaisschaltungen berichtet, die beispielsweise eine langsam verlaufende automatische Bremsung an einem Signal ermöglichen, statt bei Lokomotiven mittels Unterbrecherkontakt eine Vollbremsung auszulösen.117 Trix erweiterte die Fahr- beziehungsweise Steuerungsmöglichkeiten von Modellbahnen seit 1934/1935 mit seinem Zweileitersystem Trix Express: Unter Verwendung einer Mittelschiene zur Stromabnahme wurde die getrennte Steuerung von zwei, beziehungsweise (mit Oberleitung) drei Zügen pro Gleis realisierbar. Der Firmenkatalog von 1937 preist das inzwischen nicht mehr angebotene System als »die Vollendung der fernsteuerbaren Modelleisenbahn. … Der Modelleisenbahnsport hat durch das Trix Express-System einen neuen Sinn bekommen«.118 1950 erschien ein weiteres System zum Zweizugbetrieb auf einem Gleis, die Lytax-Comet-Bahn, bei der Wechselstrom zum Antrieb über Gleichrichter in zwei verschiedene Halbphasen geteilt wurde;119 das System setzte sich zwar für die Modellbahn nicht durch, wurde aber seit den 1960er Jahren von Faller für seine Spielzeugautobahn genutzt. Wenn die Zahl der Züge auf einem Modellbahngleis sinnstiftend ist, so bereicherte der Einstieg in die digitale Steuerungstechnik in den 1980er Jahren den Modellbahnbetrieb geradezu unermesslich: nun ermöglichte die getrennte Adressierung und Signalverarbeitung der einzelnen Fahrzeuge theoretisch beliebig viele Züge auf einem Gleis. Anstelle der analogen Steuerung durch Regelung der Spannung bei konstantem Fahrstrom bleiben Spannung und Stromstärke des Fahrstroms bei digitalem Betrieb konstant; sie werden von den einzelnen Fahr116 | Das »technische« Spiel. Mit Tonband automatisiert – Funksteuerung weiter verbessert. In: VDI Nachrichten vom 12.4.1961, S. 5. 117 | Siehe beispielsweise G. Hartwich, Kleiner Tip [diodengesteuerte Bremsstrecke]. In: Der Modelleisenbahner, 24 (1975), S. 17. 118 | Trix 1:90. Handbuch des TRIX-Eisenbahnbetriebs. Nürnberg 1937, Vorwort (Herv. im Original), http://trixstadt.de/trix-express-geschichte/1937-handbuch-des-trix-eisenbahnbetriebs/ (7.4.2012). Zum Handbuch siehe Franzke, Trix, S. 116f. 119 | K. H. Fonk, Elektrische Eisenbahn, der Weihnachtswunsch jedes – Vaters. Kleine Wunderwerke der Technik für den Gabentisch. In: Zeitschrift 9 Tage (?), Nr. 51 vom 22.12.1950, S. 8, aus der Sammlung Metzeltin. DTMB, Historisches Archiv, Nachlass Metzeltin, 1.4.027 Nr 391.

D. Technisches Spielzeug

zeugen entsprechend der individuellen, digital übertragenen und dazu dem Fahrstrom aufmodulierten Fahrbefehle genutzt. Zudem lassen sich die Lokomotivund Zugbeleuchtung, Fahrgeräusche und Warnpfiffe sowie Weichen und Signale über eine digitale Adressierung verändern, auslösen beziehungsweise stellen. Der Trafo speist eine feststehende Spannung und Stromstärke in das System ein; die Steuerung erfolgt über einzelne Multifunktionsregler für jede Lokomotive oder über Computersoftware. Damit wird das Unterteilen der Anlage in Blockstrecken und einzeln regelbare Stromkreise ebenso überflüssig wie die Zugbeeinflussung durch Signale oder die Nutzung von Oberleitungen oder Mittelschienen zur Schaffung zusätzlicher Stromkreise.120 Die Digitalisierung bedeutete eine völlige Systemumstellung, bei der die elektrische Einrichtung der Anlagen einerseits vereinfacht, andererseits jedoch komplexer und damit schwerer nachvollziehbar wurde. Veränderungen dieses Typs sind charakteristisch sowohl für die Digitalisierung als auch für die Weiterentwicklung von Technik im Allgemeinen. Während die damit verbundenen Änderungen wie die des Wählgeräuschs beim Wechsel von analoger zu digitaler Telefontechnik meistens von den Konsumenten zwar wahrgenommen werden, aber für sie keinen grundlegenden Einschnitt bedeuten, sind bastelnde Modellbahner für den Aus- oder Umbau ihrer Anlagen von Kenntnissen der Digitaltechnik abhängig. Entsprechend zahlreiche Internet-Einträge finden sich; ihre Bandbreite reicht von einzelnen Tipps bis zu ganzen technischen Abhandlungen.121 Einige Hersteller bieten in Verbindung mit ihren Modellbahnsteuerungen sogar Seminare an, die Grundkenntnisse dieser Technologie vermitteln sollen. Ein Anbieter wirbt mit seiner Seminarraumeinrichtung: »Alle Seminare finden in modellbahngerechtem Ambiente statt: Die Seminartische mit integrierter Testanlage und Touchscreen-PCs für die Teilnehmer sind umgeben von einer großen Spur-N-Modellbahn: Als An-der-Wand-entlang-Anlage ist sie über 30 m lang! Die Gleise sind für einen vorbildgetreuen Betrieb bemessen«.122

120 | Oberleitungen werden bei digitalen Anlagen heute oft nur noch als funktionsfreie Bestandteile der Modellbahnen errichtet, auf die aus optischen Gründen nicht verzichtet wird. Siehe beispielsweise Oberleitung. In: Jürgen’s Modellbahn, www.juergens-modellbahn.de/?Technik:Oberleitung (9.4.2012). 121 | Die komplexe technische Schaltung der Modellbahnanlagen wird gespiegelt durch die große Zahl von Informationen zur Digitalisierung in Internetdarstellungen; siehe beispielsweise die Übersicht: Modellbahntechnik. In: hpw-modellbahn, www.hpw-modellbahn.de/index.htm (10.4.2012). 122 | Anzeige des Unternehmens Rautenhaus digital. In: MIBA, Sonderheft Messe 2012, S. 37.

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d. Ausgestaltung von Modelleisenbahnanlagen Frühe Modellbahngebäude der Modellbahnhersteller waren – wie die Bahnen – aus Blech. Die Formgebung dieser Gebäude war jeweils modern, dem Architekturstil entsprechend. So bot beispielsweise Bing zwischen 1900 und 1914 historistische Bauten und Jugendstilgebäude an. Märklin hatte seit 1930 ein hochmodernes Bahnhofsgebäude im Programm, dessen Gestaltung sich am Stuttgarter Hauptbahnhof orientierte.123 Als weitere Materialien boten sich Papier und Holz an, in den 1950/60er Jahren setzten sich für käufliche Bausätze Thermoplaste als Werkstoffe durch. Während die zahlreichen Bausätze, die nun auf den Markt kamen, meist nur wenige Alternativen zum Zusammenkleben vorsahen, gewinnen seit einigen Jahren feinstrukturierte Pappmodelle (als Laser-cut bezeichnet) an Bedeutung. Aus Pappe werden sowohl fertige Bausätze als auch Einzelplatten zum individuellen Selbstbau gefertigt. Damit ist eine kreative Gestaltung eigener Gebäude mit Hilfe von vorgefertigten Materialien möglich. Auch die Gestaltung der Modellbahnnatur wurde technisiert. Schon in einem Modellbahnhandbuch der 1960er Jahre werden neben (natürlichen) Ästen als Ausgangsmaterial für Modellbahnbäume künstliche Baumstämme aus Elektrokabeln beschrieben; die Isolierung sollte im Bereich des Stamms verbleiben, während die Litze so aufgesplisst und beschnitten werden sollte, dass ein verzweigtes ›Astwerk‹ entsteht. Diese Äste wurden gemäß Anleitung schließlich mit gefärbtem Moos als Blattwerk beklebt.124 Während das Resultat hier eine aufwendig herzustellende Mischkonstruktion war, drängten kommerzielle Hersteller seit den 1960er Jahren zunehmend Naturmaterialien zugunsten von Kunststoffsurrogaten zurück: Grün gefärbte Kunststoffschäume wurden zu Bäumen, Hecken und Grasmatten. Ein Hersteller wirbt für seine ›Bäume‹: »Die Stämme der Bäume werden aufwändig handkoloriert, so dass keine glänzenden Plastikflächen zu sehen sind. Um dem Baum mehr Volumen zu verleihen, wird vor der Beflockung [der ›Begrünung‹ mit Spezialflocken] ein feines Gespinst in das Astwerk eingearbeitet. … Das speziell gemahlene und aufwändig kolorierte [Flocken-]Material gleicht in Form und Farbe dem Blattwerk der Originalbäume«.125

Das Unternehmen Noch begann 1963/64 seine Modelle mit elektrostatisch aufgeladenem Kunststoffstreugut zu begrünen. Das Verfahren verbreitete sich. Zur 123 | Ein Modell befindet sich im Sammlungsbestand des Technoseums, Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim. Zu Bahnhöfen siehe auch Bing-Spielwaren 1912, S. 176ff., Reprint, S. 188ff. 124 | Gerlach, S. 110ff. 125 | Noch … wie im Original. Neuheiten 2012. New Items 2012. o. O. 2012, S. 9. Das Unternehmen stellt seit den späten 1960er Jahren Modellbahn-Kunststoffbäume aus Spritzguss her. Siehe Firmenchronik. In: Wir über uns. Noch, www.noch.de/de/ueber_uns/ firmenchronik_neu.php (20.4.2012).

D. Technisches Spielzeug

Verschönerung von Modellanlagen modifizierte man Geräte, die vermutlich dem Kontext elektrotechnischer und physikalischer Versuche entstammen, so, dass eine Serienproduktion für Modellbahnbastler erfolgen konnte: 2005 wurde ein Kleingerät für den Verkauf an Privatleute herausgebracht, das mittels einer Hochspannung von 15.000 V das Begrünungsstreugut elektrostatisch so ausrichtet, dass sich Kunststoff-Grasfasern senkrecht stellen und so mit dem zu begrünenden Grund verkleben lassen. Solche Geräte eignen sich auch für (Kunststoff-)›Wildgräser‹ bis 12 mm Länge.126 Beworben wird das aufwendige und teure Verfahren mit dem Argument höherer Originalgetreue und der Exklusivität des Resultats: »Eine perfekte Begrasung ist das A und O der Landschaftsbegrünung … Durch die elektrostatische Begrasung bekommt Ihre Modell-Landschaft das gewisse Etwas«.127 In ihrem Duktus entspricht diese Werbung für ein Natursurrogat der Werbung für technische Artefakte und Systeme; damit wird noch einmal deutlich, wie künstlich die ganze Modellbahn trotz ihrer Originalgetreue letztlich ist.

e. Technologietransfer Betrachtet man die Entwicklung der Fertigungsmaterialien von Messing über Weißblech bis zu Kunststoff und Zink, der Produktionsabläufe von einer handwerklichen Fertigung über einen arbeitsteiligen, teilmechanisierten Ablauf bis zur Automatisierung einzelner Produktionsschritte, der Antriebstechnik der Modelllokomotiven vom Dampf- und Uhrwerkantrieb über Starkstrommotoren zu Schwachstromaggregaten sowie von diversen mechanischen Steuerungsmöglichkeiten zum Einsatz von Elektrotechnik und zur Digitalsteuerung, so wird deutlich, wie zeitgebunden die technische Ausführung von Modellbahnen ist. Dies gilt auch für die Übernahme von Technik in den Modellbahnsektor. Im Zuge der Entwicklung der Modellbahn kam es zu einer Reihe von Technologietransfers von der großen Eisenbahn in den Modellbahnsektor, die sich zum Teil aus dem Ziel der originalgetreuen Darstellung ergaben. Hier sind beispielsweise die kleinen Stellwerke mit Seilzügen von Bing zu nennen, oder Gleisbildstellwerke, die in der Nachkriegszeit auch zur Steuerung von Modellbahnanlagen auftauchten; in beiden Fällen wurde eine Schaltungstechnik direkt übernommen. Ähnliches gilt für die Idee der Blockstrecke, bei der allerdings die Ausführung durch Stromabschaltung in einem Schienensegment auf der Modellbahn anders erfolgte als bei der großen Bahn. Auch Technologien aus völlig anderen technischen Zusammenhängen wie die Nutzung von flexiblen Wellen oder von Druck-

126 | Firmenchronik. Noch … wie im Original, www.noch.de/de/ueber_uns/firmenchronik_neu.php (24.4.2012). Sowie Grasmaster (Anleitung). Noch … wie im Original, www. noch.de/pictures/PDFs/Bastelanleitungen/Anleitung_Grasmater_60131.pdf (24.4.2012). Inzwischen gibt es auch Geräte anderer Anbieter, die mit einer geringeren Hochspannung arbeiten. Siehe H. Meier, Größer, höher, weiter. In: MIBA, Sonderausgabe Messe 2012, S. 76. 127 | Noch, Neuheiten Katalog 2012, S. 12, S. 14.

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luft zur Übertragung von Schaltvorgängen wurden für die Modellbahn übernommen, bevor sich Stromkabel und elektromagnetische Relais durchsetzten. Anlagen, die nicht mehr zum wiederholten Auf- und Abbau gedacht waren, wurden zu einem Anwendungsfeld der Schwachstromtechnik und im Zuge der Einführung digitaler Steuerungssysteme auch der Elektronik: Zahlreiche Artikel wie Permanent- und Impulsschalter, Kabel oder Isolationsschuhe wurden nun verbaut; einige Elemente wie die Isolationsschuhe für Schienen waren speziell für die kleinen Bahnen gefertigt, andere wurden von den Modellbahnherstellern im Prinzip baugleich zu dem entsprechenden Fachhandelssortiment angeboten, wieder andere mussten von Modellbahnern aus dem Fachhandel zugekauft werden. Auf der Modellbahn wurde so eine Automatisierung des Betriebs möglich, lange bevor eine erste Anlage bei der Metro in Lille Anfang der 1980er Jahre in Betrieb genommen wurde.128 Zwar lässt sich hier aufgrund der verschiedenen Systeme und Sicherheitsanforderungen kaum von einem Technologietransfer in das Eisenbahnwesen sprechen, aber es mag hier zu Anregungen gekommen sein.

4. Universitäre Modelleisenbahnen Aufgrund der technischen Komplexität und der Popularität der Modellbahn wurden die kleinen Bahnen gerne zur Ausbildung und zum Test von technischen Entwicklungen genutzt. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden Modellbahnanlagen an universitären Einrichtungen; eine erste Anlage in Deutschland wurde vermutlich an der Universität Frankfurt gebaut, eine weitere 1938 am Lehrstuhl für Eisenbahn- und Verkehrswesen der Technischen Hochschule Darmstadt.129 Beispielsweise errichtete der Lehrstuhls für Eisenbahn- und Verkehrswesen der ETH Zürich in Kooperation mit den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) in den 1950er Jahren eine große Modellbahnanlage, die mit Stellwerktypen unterschiedlicher Konstruktion kombiniert wurde. Die Modelleisenbahnanlage diente Lehre und Forschung: In der universitären Lehre wurden Bauingenieure im Eisenbahnwesen und Elektrotechniker im Eisenbahnsicherungswesen daran ausgebildet; zudem fanden Schulungen für SBB-Personal statt. Für die Forschung bot sie ein Experimentierfeld zur Optimierung von Betriebsabläufen und zur Weiterentwicklung der Stellwerkstechnologie. Zudem sollte sie zur Rekonstruktion von Eisenbahnunfällen genutzt werden.130 Das »wissenschaftliche Zentrum des Modellbahnwesens in Europa« lag nach Angaben eines Autors aus der DDR um 1965 128 | Lille VAL, France. In: Railway-technology.com, www.railway-technology.com/projects/lille_val/ (14.5.2012). 129 | Gerlach nennt J. Ziehen und G. Küntzel als Hochschullehrer in Frankfurt; Gerlach, S. 14. 130 | Eine neue Modelleisenbahn- und Stellwerkanlage in der Eidgenössischen Technischen Hochschule. In: Neue Züricher Zeitung, um 1955, Sammlung Metzeltin. DTMB, Historisches Archiv, Nachlass Metzeltin, 1.4.027 Nr 391.

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an der Hochschule für Verkehrswesen in Dresden, wo unter der Leitung des Hochschullehrers Harald Kurz ein miniaturisiertes Eisenbahnbetriebsfeld zu Unterrichtszwecken entstanden war; zudem wurden verschiedene Modelle zur Planung von Bahnhofs- und Industriegleisanlagen errichtet. Wie sehr sich Spiel und wissenschaftliche Forschung vermischten, wird am Beispiel Kurz’ deutlich, der sich auch an den Dresdener ›Spiritisten-Tagen‹ für Besitzer von Miniaturdampfloks beteiligte und darüber in der Zeitschrift Der Modelleisenbahner berichtete.131 Vergleichbare Anlagen, die seit den 1960er Jahren langsam durch Computersimulationen ersetzt wurden, gab es auch an anderen Hochschulen. Bei Simulationsanlagen dieser Art scheint es sowohl im Kontext von Forschung als auch von Lehre denkbar, dass Simulation und Spiel ineinanderliefen. Während die Funktion der Züricher Anlage, die große Eisenbahn zu simulieren, relativ nahe am Spielinhalt von Modellbahnen ist, hat das Forschungsziel des folgenden universitären Projekts nichts mehr mit dem Eisenbahnwesen zu tun: 1995 wurde eine Modellbahnanlage an der Universität Ulm errichtet, um Experimente zu internetbasierten Fernsteuerung durch Videostreaming durchzuführen; im Zuge des an der TU Freiberg bis 2008 fortgesetzten Projekts spielten etwa zwei Mio. Besucher mit einer Modelleisenbahn, die via Internet in Echtzeit sichtbar und zudem steuerbar war.132 Bei der Nutzung zu derartigen Projekten bekommt die Modellbahn eine ähnliche Rolle wie sie Sportarten für den Test von neuen Materialien und Technologien haben: In beiden Fällen zeichnet sich das Versuchsfeld einerseits durch vergleichsweise harmlose Ergebnisse im Falle eines Scheiterns aus und andererseits durch eine gewisse Popularität, die eng mit der Attraktivität als Spiel beziehungsweise Spielobjekt zusammenhängt.

131 | Gerlach, S. 14ff. Sowie H. Kurz, Dresdner »Spiritisten«-Tage. Erfahrungen mit Modelldampflokomotiven. In: Der Modelleisenbahner, 24 (1975), S. 98f. Kurz wurde mit einer Arbeit zu den Grundlagen der Modellbahntechnik promoviert und hatte später eine Professur für Industrieverkehr inne. Die Dresdener Anlagen beschreibt Th. Ginzel, Spielzeug oder wissenschaftliches Gerät? Das Eisenbahnbetriebslabor der Technischen Universität Dresden. In: D. Ludwig u.a. (Hg.), Das materielle Modell. Objektgeschichten aus der wissenschaftlichen Praxis. Paderborn 2014, S. 91-98. 132 | Internet Modellbahn. Homepage des Instituts für Informatik der TU Bergakademie Freiberg, http://rr.informatik.tu-freiberg.de/index.php?js=1 (16.5.2012). Erste Ergebnisse sind dargestellt in: K. H. Wolf u.a., Interactive Video and Remote Control via the World Wide Web. Department of Distributed Systems, University of Ulm (1996), http://ara.informatik.tu-freiberg.de/pdfs/IDMS.pdf (15.5.2012).

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5. Modellbahnspiele Brain Sutton-Smith klassifiziert das Spiel mit Modelleisenbahnen in seinem Hauptwerk The Ambiguity of Play als eine Form des »solitary play«.133 Dabei differenziert er nicht – wie dies im Folgenden geschehen soll – zwischen verschiedenen Formen des Modellbahnspiels. Prinzipiell lassen sich zwei Typen des Spiels mit der Modellbahn unterscheiden: 1. Die Planung und das Basteln; beide beziehen sich auf den Auf- und Ausbau der Modellbahninfrastruktur und des rollenden Materials sowie 2. Das Fahrenlassen, zu dem unter Umständen eine längere Vorbereitungsphase wie das Anheizen von echten Miniaturdampfloks zählt. Je nach Stand der Modellbahnentwicklung und persönlicher Gewichtung fielen und fallen die jeweiligen Spielzeiten verschieden aus: Je aufwendiger und komplexer das technische System wurde, desto länger dauerten die Phasen des Auf- und Ausbaus, auf die einige Modelleisenbahner ihr Hauptaugenmerk richteten.134 Das von Herstellern und Käufern intendierte Spiel mit der Eisenbahn bestand und besteht bei Bodenläufern im Fahrenlassen, in der Veränderung des Zuges und gegebenenfalls im Zuladen von Transportgut oder Figuren, während sich der Aufbau weitgehend auf das Aneinanderhängen von Wagen beschränkt. So unterschieden sich die Spielmöglichkeiten mit diesen Eisenbahnmodellen nicht wesentlich von denjenigen mit Kutschen- oder Automobilmodellen. Allerdings kam im Falle echter Miniaturdampflokomotiven, die sowohl als Bodenläufer als auch als Schienenfahrzeuge auf dem Markt waren, die aufwendige Inbetriebnahme durch Anheizen als eine besondere, teils spielerische Form der Spielvorbereitung hinzu. Mit dem Übergang zu schienengebundenen Modelleisenbahnen und damit zum Systemspielzeug veränderten sich seit den späten 1880er Jahren die Spielmöglichkeiten. Ein beträchtlicher Teil des Spiels bestand jetzt in der Vorbereitung des Fahrens: dem Aufbau der Schienenwege und des zusätzlichen Zubehörs, gegebenenfalls der Verdrahtung und dem Anschluss an das Stromnetz; dieser Bereich weitete sich bei zahlreichen Modellbahnfreunden zu einer aufwendigen Basteltätigkeit aus, die mit Einführung von Tischeisenbahnanlagen einen zusätzlichen Entwicklungsschub erhielt. Im Sinne Caillois’ ist das Modelleisenbahnspiel primär ein Rollenspiel mimicry, gelegentlich auch ein Wettkampf agon – so bei Wettfahrten auf den Gleisen oder beim Vergleich von Selbst- und Umbauten, die sogar zu internationalen 133 | Sutton-Smith, Ambiguity of Play, S. 4. Die Gruppe des solitary play umfasst sehr verschiedene Tätigkeiten, darunter auch solche wie Lesen oder Musik hören, die im deutschen Sprachgebrauch als Freizeitaktivitäten geläufig sind. 134 | Beispielsweise erwähnt Kurt Möser, dass er als Kind mehr Vergnügen am Basteln von Modellflugzeugen hatte, denn an den fertiggestellten Produkten. Möser, Grauzonen der Technikgeschichte, S. 4.

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Modellbauwettbewerben eingesandt wurden und werden. Die Basteltätigkeit der Modellbahner lässt sich als ludus beschreiben, wenn Bastler hohe Anforderungen an ihr eigenes Können stellen und gegebenenfalls üben müssen, indem sie beispielsweise Probeexemplare fertigen. Gleichzeitig bietet Basteln auch Momente von paidia – dort wo der mehr oder minder kreative Schaffensprozess in belustigenden, skurrilen Ideen mündet.

a. Planen und Basteln Das Planen und Basten an der Modellbahn kann sich auf verschiedene Bereiche beziehen: der Neu- oder Umbau rollenden Materials zählt hier ebenso dazu wie Planung und Bau des Schienenwegs oder dessen technischer Ausrüstung in Form von Signalen, Schranken, Zugbeeinflussungseinrichtungen, sowie die Schaffung einer Modellbahnlandschaft. Alle drei Formen der Planungs- und Basteltätigkeit veränderten sich jeweils zeitspezifisch und vermutlich auch generationsspezifisch. Allen gemeinsam ist die Notwendigkeit jeweils zeitspezifischer handwerklich-technischer Fähigkeiten; dabei variierten und variieren die Ziele und Fertigkeiten jeweils in Abhängigkeit von Alter und Erfahrung der Modellbahner. Eine Modellbautätigkeit – oder anders formuliert – das Planen und Basteln von Lokomotiven durch Laien lässt sich in England seit den 1860er Jahren nachweisen; um 1870 boten englische Hersteller erste Bausätze für Lokomotiven an, die die Käufer aus vorgeformten Messingteilen zusammenlöten konnten.135 Ging es hier zunächst um den Bau einzelner Artefakte, so erweiterte sich das Feld der Planung und des Bastelns mit der zunehmenden Komplexität des technischen Systems Modelleisenbahn – zunächst durch die Einführung von Schienen und Zubehör, und dann infolge des Aufkommens von Miniaturtischbahnen, die sowohl den Ausbau von Schienennetz und Steuerungstechnik als auch eine landschaftliche Gestaltung der Anlagen ermöglichen. Die Bandbreite der Planungsunterlagen reicht dabei von Stücklisten und Plänen des rollenden Materials oder zu bauenden Häusern über Gleis- und Schaltpläne für Weichen und Signale bis zu Softwareprogrammen zur Modellbahnplanung.136 Darüber hinaus wurden bereits in den 1920er Jahren vorgefertigte Platten angeboten, die die Anlagenplanung weitgehend vorgeben und den Modelleisenbahnern nur bei der Ausgestaltung von Details Freiheit lassen. Ein frühes Beispiel für die Nennung des Bastelns an Tischanlagen findet sich in einem Märklin Katalog von 1935; dabei taucht implizit auch das Spielerische des Bastelns auf: »Wer malerisch begabt ist oder gerne bastelt, wird zu seiner Bahn bald eine Landschaft dazugezaubert haben. Auch durch Modellieren läßt sich das 135 | Minns, S. 62, Abb. 57. 136 | Beispielsweise wurde zur Planung einer großen Modellbahn-Vorführanlage im Deutschen Museum frühzeitig Software eingesetzt. Siehe dazu demnächst: St. Poser, Modelleisenbahnen und Dioramen. In: A. Gall, H. Trischler (Hg.), Szenerien und Illusion. Geschichte, Varianten und Potenziale von Museumsdioramen. = Deutsches Museum. Abhandlungen und Berichte, Neue Folge, 32. Göttingen 2016.

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recht schön machen. So wird eine … Eisenbahnanlage zu einer ›Kleinen Welt‹, an der Jung und Alt seine Freude hat«.137 Wenig später tauchte in diesem Kontext die Wortschöpfung »Eisenbahnbastler« auf.138 Die Motive von Modellbahnbastlern lassen sich in drei Bereiche gliedern, von denen zwei zunächst wenig mit Spiel zu tun haben: • Pekuniäre Interessen: In Anbetracht der hohen Preise von Modellbahnen reduzierte der Selbstbau die Kosten, weil der große Handarbeitsanteil an der Produktion von den bastelnden Konsumenten übernommen wurde. Hier besteht eine Gemeinsamkeit zum Radiobasteln in den 1920er und frühen 1930er Jahren, das auch aus finanziellen Gründen an Bedeutung gewann, beziehungsweise wegen sinkender Preise für fertig montierte Geräte in Deutschland Mitte der 1930er Jahre wieder zurückging.139 • Mangel an Materialien oder bestimmten Produkten: Dies ist zwar ein typisches Motiv für Improvisation und Selbstbau in Mangelgesellschaften, erweist sich aber bis in die Gegenwart als charakteristischer Anlass für Modellbahner, selbst zu fertigen, denn die Kehrseite des Mangels ist die Chance des betreffenden Bastlers, seine Bahn um ein besonderes Modell zu bereichern. • Freude am Gestalten, an neuen, selbst gestellten Anforderungen und deren gutem Gelingen: Diese Motive sind zentral für das freiwillige, spielerische Basteln an Modellbahnen; hierzu gehört das sich selbst Ausprobieren ebenso wie das spielerische Testen von Varianten, das zu neuen Lösungen führen kann. Basteln rückt damit in die Nähe des Arbeitsspiels und wird durch einen idealisierten Arbeitsbegriff beschreibbar, bei dem von selbstbestimmter freiwilliger Arbeit ausgegangen wird.140 Zwar haben die ersten beiden Motivgruppen nichts mit diesem spielerischen Zugang gemeinsam, aber sie schließen ihn nicht aus, es sei denn, die Bastelarbeit mutiert aus pekuniären Gründen zur Erwerbsarbeit. Der Mangel an Material oder Produkten kann für Bastelnde sogar motivierend wirken.

137 | Märklin Schienenanlage Spur 00, 1935. Zitiert nach: Reher, Eisenbahnspielzeug, S. 116. 138 | Ebenda. 139 | A. Kirpal, Ernst oder Spiel? Basteln, Konstruieren und Erfinden in der Radioentwicklung. In: Poser/Zachmann, S. 227-254, S. 234ff. Zur genderspezifischen mehr oder minder spielerischen Radionutzung siehe U. C. Schmidt, Vom »Spielzeug« über den »Hausfreund« zur »Goebbels-Schnauze«. Das Radio als häusliches Kommunikationsmedium im Deutschen Reich (1923-1945). In: Technikgeschichte, 65 (1998), S. 313-328, S. 317f. 140 | Erlach, S. 98. Gebauer, Sport in der Gesellschaft des Spektakels, S. 44f. Zu Bezügen von Basteln als Hobby und Erwerbsarbeit siehe aus historischer Perspektive: Gelber, Hobbies, S. 2ff.

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Abb. 19: Anleitung und Plan zum Bau elektrischer Modellbahnlokomotiven, Heft aus der Reihe »Spiel und Arbeit« um 1930. Anhand der Beschreibungen in Modellbahnbüchern und -zeitschriften wird deutlich, wie zeitintensiv insbesondere das Basteln sein konnte: So wird bei Gerlach beispielsweise der Bau von Oberleitungen beschrieben; dazu werden die einzelnen, in großer Zahl benötigten Masten aus mehreren Blechstreifen zusammengesetzt und verlötet, Schrauben zur Imitation von Isolatoren angebracht und das Drahtgeflecht der Oberleitung mit Hilfe einer Helling aus einzelnen Drähten zusammengesetzt.141 Die Position der Modellbahner oder auch der Modellbauer zur genutzten Technik und zum von ihnen selbst geleisteten Produktionsprozess entspricht beim Planen und Basteln in etwa der von Handwerkern. Sie müssen sich Knowhow zu einer Technik aneignen, um sie anwenden zu können und fertigen ihr Werkstück in Handarbeit, wobei der unterstützende Einsatz elektrisch angetriebenen Werkzeugs wie Bohr- und Fräsmaschinen im Zuge der Do-it-YourselfBewegung zugenommen hat. Inzwischen gehören sogar kleine CNC-Maschinen in das Angebot für Modellbauer.142 Anders als bei Handwerkern sind jedoch infolge der Freiwilligkeit des Bastelns die Zwänge geringer; zudem werden nicht fremde, sondern eigene Anlagen gebaut oder umgebaut und dazu die Ziele selbst gesetzt. Der Umgang mit der Modellbahn spielt sich also nicht nur auf der Konsumentenebene ab, sondern – im Falle des Planens und Bastelns – auch auf der Produktionsebene; dabei handelt es sich oft um eine sehr arbeitsintensive Form 141 | Gerlach, S. 280f. 142 | Eigene Beobachtung auf der Intermodell Messe in Dortmund 2012.

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der Herstellung, die sich aufgrund des hohen Zeitaufwands kaum adäquat vergüten ließe.143 Hier ermöglicht die freiwillige, spielerische Tätigkeit eine wesentlich intensivere Auseinandersetzung mit Technik, als dies bei einer unter ökonomischen Rahmenbedingungen erfolgenden Arbeit der Fall sein könnte. Ein Beispiel für die spielerische, tiefgehende Auseinandersetzung mit Technik bietet der Selbstbau von Lokomotiven oder auch von Modellbahnzubehör. Während große Firmen im Laufe der Zeit zu einer mehr oder minder fließbandgestützten Massenfertigung übergingen, erschienen ganze Bauanleitungen zum Selbstbau. Eine solche, bereits 1930 publizierte Bauanleitung beschreibt zwei Elektroloks. Eine soll mit einem hölzernen Gehäuse, eine mit Blechgewand gebaut werden; selbst die diffizile Ankerwicklung des Elektromotors zählt hier zu den Bastelaufgaben. Der Reihentitel »Spiel und Arbeit« des Büchleins verweist auf die zeitgenössische Einordnung des Modellbaus (Abb. 19).144 Auch Modellbahnzeitschriften publizierten zahlreiche Anleitungen zum Selbstbau – das Spektrum umfasste rollendes Material und elektrische beziehungsweise elektronische Schaltungen ebenso wie Anlagen und deren Ausgestaltung. Darunter finden sich auch Anleitungen und Pläne zur Montage sehr aufwendiger Modelle wie der großen Güterzugdampflok BR 52. Das Gehäuse dieses in den 1970er Jahren vorgestellten Modells sollte aus Messingblech und der Rahmen aus Polystyrol gefertigt werden; lediglich die Radsätze und Achsen, der Motor und eine Antriebsschnecke sowie Kupplungen und Glühlampen waren als Fertigteile zum Zukauf vorgesehen.145 Ein anderer Modellbauer konstruierte seine Dampflok weitgehend aus Messingblechen verschiedener Stärken; dabei legte er Wert auf die Imitation genieteter Bleche und fertigte die betreffenden Bauteile aus dünnem, leichter verformbarem Kupferblech. Auch die Treibräder stellte er selbst her. Stolz schreibt er: »An Industriematerial habe ich lediglich folgende Teile verwendet: – den Motor, – die Zahnräder, – den vorderen und hinteren Laufradsatz sowie einige Kleinteile«.146 Welche Dimensionen planerischen Könnens, technischen Wissens und handwerklichen Geschicks bei der Anlage von Modellbahnen zur Debatte stehen 143 | Vor dem Problem einer angemessenen Vergütung für den Bau von Modellen stehen Technische Museen häufig; Gespräch mit Claudia Schuster, Deutsches Technikmuseum Berlin, November 2012. 144 | E. Hager, Elektrische Lokomotiven. Bauanleitung für Spur I und Netzanschluss in einfacher und vollendeter Bauart. Mit Anhang: Modelle für Spur 0. = Spiel und Arbeit, 131. 3. Aufl., Ravensburg um 1930. 145 | G. Schenke, Bauanleitung für eine Güterzuglokomotive der BR 52 in Nenngröße N. In: Der Modelleisenbahner, 24 (1975), S. 71-77 und S. 104-111, S. 71. Außerdem erwähnt der Autor einen Entstörsatz. Die BR 52 mit der Achsfolge 1’E0 gehörte zu den größten Dampflokomotiven der deutschen Bahngesellschaften. 146 | H. Neumann, Wie ich mir eine BR 19 0/04 baute. In: Der Modelleisenbahner, 24 (1975), S. 290f., S. 291. Im Gegensatz zum Beitrag Schenkes und dessen etwas einfacherer Konstruktion ist dieser Artikel allerdings nicht zum Nachbau der Lokomotive gedacht.

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können, sei am Beispiel zweier historischer Anlagen aus der Schweiz erläutert: Zwischen 1932 und 1951 baute der Ingenieur Arthur Oswald an einer Gartenbahnanlage im Maßstab 1 : 10, die er vollständig selbst plante. Der Maßstab, die Fahrspannung, die notwendige Leistung und die Konstruktion der Lokomotiven bis hin zu Details wie der Achsfederung oder der Form der Spurkränze waren ebenso Gegenstad von Untersuchungen wie die Wartungsfreundlichkeit, die sich Oswald zu einem Konstruktionsziel machte. Der Reiz des Modellbahnbaus bestand für den Besitzer darin, keine »Kopie eines großen Schienenfahrzeuges für einen kleinen Maßstab [zu planen und durchzuführen] und noch weniger die Vergrößerung eines Spielzeuges [vorzunehmen], sondern speziell die Schaffung eines für die hier vorliegenden Größen- und Betriebsverhältnisse sich eignenden Lokomotivtyps oder Wagens«

anzugehen.147 Seine Modellbahnertätigkeit umfasste sowohl das Konstruieren und Erbauen als auch das Fahren. Oswald stellt seine Tätigkeit, die retrospektiv vor dem Hintergrund von Großprojekten wie der Untertunnelung des eigenen Gartens zweifelsfrei als Spiel erscheint, in einem Aufsatz 1945 als anspruchsvolle, quasiberufliche Tätigkeit dar, bei der er die Planungshoheit besitzt. Weder von Spiel, noch von Freizeitgestaltung ist die Rede, sondern von »gewaltiger Arbeit«.148 In den 1970er Jahren unterhielt ein Dorfpfarrer eine große Modellbahnanlage im Maßstab 1 : 45, für die er das gesamte rollende Material selbst fertigte; »nur Glühbirnen, Räder und Zahnräder pflegt er zu kaufen«. Dem Pfarrer gehe es nicht um das Eisenbahnspiel, berichtet eine Zeitung 1978, er »stellt sich raffinierte technische Probleme und freut sich, wenn er sie auf seine eigene Weise lösen kann. Er ist ein Autodidakt im Modellbahnbauen«.149 Etwas mehr als dreißig Jahre später wird hier eine der Oswaldschen vergleichbare (wenn auch nicht ganz so weitgehende) Planungs- und Basteltätigkeit nicht mehr als Arbeit, sondern als Freizeitbeschäftigung beschrieben, allerdings noch erwähnt, der Pfarrer »befürchtet, das Basteln komme einigen Leuten in der Gemeinde als zu wenig ehrwürdige Freizeitbeschäftigung eines Seelsorgers vor«.150 147 | A. Oswald, Elektrische Modell-Eisenbahn auf dem Dietschiberg bei Luzern. Sonderdruck aus: Economie et Technique des Transports, Wirtschaft und Technik im Transport, 14 (1945), S. 3-7, S. 5, archiviert in: DTMB, Historisches Archiv, Nachlass Metzeltin, 1.4.027 Nr 391. 148 | Oswald, S. 3. Weitere Abbildungen und ein Plan der inzwischen demontierten Anlage sind im Internet vorhanden unter Dietschiberg-Bahn. In: modellbahnen@cadosch. Das Internetportal für Modellbahnfreunde, http://modellbahnen.cadosch.org/jos/historischedokumente/dietschibergbahn (19.5.2012). 149 | Pfarrhausen-Monti im Estrich. In: Zeitungsausschnitt vom 1.2.1978 aus der Sammlung Metzeltin, DTMB, Historisches Archiv, Nachlass Metzeltin, 1.4.027 Nr 391. 150 | Ebenda.

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Das Besondere an den beiden Modelleisenbahnanlagen ist sowohl die Bauleistung der beiden Besitzer als auch die Dauer und Intensität ihrer Auseinandersetzung mit der Materie. Eigenkonstruktionen waren weit verbreitet: »Der Selbstbau war in den ersten Jahren der MIBA [1948ff.] … das Schwerpunkt-Thema schlechthin, und zwar so lange, bis die Industrie nach und nach den gesteigerten Ansprüchen nachkommen konnte«, heißt es in einem Rückblick der Zeitschrift.151 Die Ausgaben der Ostberliner Zeitschrift Der Modelleisenbahner enthielten in den 1970er Jahren eine Rubrik mit photographischen Dokumentationen selbst gefertigter Modelle, im Rahmen derer über Neu- und Umbauten berichtet wurde, von denen einige mit Modellbaupreisen ausgezeichnet worden waren.152 Im Rahmen der Aufsätze zum Selbstbau wurden auch neue Materialien wie Styropor (Schaumpolystyrol) oder Lichtleitkabel aus Kunststoff und deren Verarbeitung vorgestellt.153 Einige Artikel im Modelleisenbahner – wie beispielsweise Ausführungen zum Bau von Styroporsägen – geben Hinweise zur Selbsthilfe in einer Mangelwirtschaft, während die überwiegende Zahl von Beiträgen hiervon nur indirekt berührt wird. Die Wahl der Modelle hing unter Umständen mit der mangelnden Verfügbarkeit entsprechender Fertigmodelle aus dem Westen zusammen. Aber auch die westdeutsche MIBA widmete sich diesem Themenkreis in ähnlicher Weise.154 Tatsächlich publizieren beide Zeitschriften bis heute Bauanleitungen zum Selbstbau für verschiedene Bereiche von Modellbahnanlagen.155 Allerdings ist die Zahl von Selbstbauanleitungen rückläufig; häufiger wird stattdessen – wie im Fall der Harzquerbahn, wo der Modelleisenbahner 2012 Photos einer Modellbahnanlage und Originale einander gegenüberstellte156 – über sehr aufwendig gestaltete fertige Anlagen berichtet, die auf Modellbahnmessen ausgestellt werden. Zu korrespondierenden Resultaten kommt man bei der Auswertung von Um- und Eigenbau-Berichten auf Internetplattformen: Eigenbauten ganzer

151 | H. Zschaler, Fünf Jahrzehnte Modellbahngeschichte. MIBA 1948-1998 – eine kurze Chronik, www.miba.de/inline/hist.htm (5.1.2012). 152 | Siehe beispielsweise: Selbst gebaut. In: Der Modelleisenbahner, 24 (1975), Einband­i nnenseite, unpaginiert, neben S. 92. 153 | H. Wolf, Modellbahn-Baustoff Schaumpolystyrol. In: Der Modelleisenbahner, 24 (1975), S. 81f. Und: L. Reber, »Grinifil«-Plastlichtleitkabel – ein neuer Werkstoff für Modelleisenbahner und Bastler. In: Der Modelleisenbahner, 24 (1975), S. 161f. 154 | Siehe beispielsweise Pit-Pegs’s Anlagen-Fibel. = MIBA Report, 6. Nürnberg 1978, Einband. 155 | Modell-Atelier, Themenheft MIBA Spezial, 17 (1993), Einband. Und: Besser planen, schöner wohnen, Themenheft MIBA Spezial, 73 (2007), Einband. 156 | Harzreise mit der Dampfeisenbahn. Modell & Vorbild. In: ModellEisenBahner Spezial, 13 (2012).

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Lokomotiven sind selten, eher werden Wagen selbst gebaut; meist geschieht dies unter weitgehender Nutzung vorhandenen Modellbahnmaterials.157 Schon in den späten 1960er Jahren hatte ein englischer Autor den Eisenbahnmodellbau am Zenit seiner Verbreitung verortet: »Leider scheinen Zeit, Geduld und besonders das erforderliche Geschick mit den raschen Fortschritten und dem wachsenden Zeitdruck des Industriezeitalters abzunehmen, und es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß diese Form des Selbstausdrucks je wieder den gleichen Grad von Beliebtheit und Vollkommenheit erreichen wird. So hat ein faszinierender Zeitvertreib … möglicherweise den höchsten Punkt seiner Beliebtheit bereits überschritten«.158

Der Prognose korrespondiert eine abwägende Einschätzung Gerlachs: »Die Frage nach Selbstbau oder Fabrikerzeugnissen ist schwierig zu beantworten. Für die Nenngrößen H0, T T und N, besonders aber für erstere, stellt uns die Industrie hervorragende Nachbildungen von Eisenbahnfahrzeugen, aber auch von Hochbauten, Gleisen, Weichen usw. zur Verfügung. Die Qualität und präzise Nachbildung von Einzelteilen an Fahrzeugen ist häufig so gut, dass es kaum einem Modelleisenbahner gelingen dürfte, Ähnliches nachzubauen. Von dieser Seite aus betrachtet lohnt sich heute der Selbstbau nicht mehr«.159

Der reine Selbstbau von Fahrzeugen ohne Zukauf von Fertigprodukten sei zwischen 1949 und 1956 von beinahe 30% auf 10% gesunken; dem ergänzenden Bau von Lokomotiven widmeten sich 1956 noch etwa ein Viertel der vereinsmäßig organisierten Modellbahner, dem von Wagen knapp die Hälfte. Insgesamt sei der Selbstbau »immer noch etwas rentabler« als der Kauf fertiger Fahrzeuge.160 Pekuniäres Interesse und damit ein Motiv, das außerhalb des Spiels liegt, beeinflusste demnach Modellbahner in ihrer Entscheidung zum Basteln ebenso, wie die Einschätzung ihrer eigenen Resultate im Vergleich zu Fertigprodukten. Zudem führte das wachsende Angebot dazu, dass die Möglichkeiten abnahmen, durch Eigenbau besonderer Originale Unikate für die eigene Bahn zu schaffen. Zwar ermöglichte die Entwicklung der Konsumgesellschaft auch eine hochprofessionelle technische Ausstattung für Bastler, aber mit ihrem vielfältigen Angebot nahm sie ihnen tendenziell ihre Motive. Hinzu kam eine Gewöhnung an das Konsumieren im Sinne des ›Kaufens‹ statt des Selbermachens oder Reparierens.161 157 | Eine Übersicht bietet beispielsweise die Seite: Umbauten. In: Das Spur N Portal www. 1 zu 160, www.1zu160.net/umbau/index.php (18.4.2012). 158 | Minns, S. 115. 159 | Gerlach, S. 51. 160 | Gerlach, S. 52. Die Angaben beziehen sich vermutlich auf die DDR. 161 | Reparieren oder die Lebensdauer der Gebrauchsgüter. Themenheft, Technikgeschichte, 79 (3/2012). Zur weiteren Entwicklung: M. Heßler, Wegwerfen. Zum Wandel des Umgangs mit Dingen. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 16 (2/2013), S. 253-266.

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Es passt zu der hier skizzierten Überlegung, wenn Florian Eisen in seinem knapp zwanzig Jahre nach Gerlachs Handbuch erschienen Modellbahn-Buch 1984 herausstellt: »Auffallend [bei den Recherchen] war eine Entfremdung [der Modellbahner] gegenüber kreativer Bastelei. Man will sich nicht schmutzig machen, man kauft und läßt für sich basteln«.162 In seinem Kapitel zum Eigenbau weist er darauf hin, dass zahlreiche Einzelteile inzwischen käuflich erwerbbar seien. Hier werden dieselben Motive deutlich wie bei Gerlach; dabei scheint der Rückgang des Bastelns inzwischen erodierend. Tatsächlich dominieren beim Basteln an Lokomotiven und Wagen inzwischen Umbauten mit dem Ziel größerer Originalgetreue oder besserer Fahreigenschaften. Dabei handelt es sich in den letzten Jahrzehnten lediglich um die Endmontage hochpräzise gefertigter zugekaufter Teile, sodass für die betreffenden Modellbauer weniger das eigene Können als das Durchhaltevermögen zur Disposition steht, das sich im Kontext des Bastelns als eine Form von ludus einordnen lässt. Anstelle des Baus und Umbaus von Lokomotiven und Wagen hat in den letzten Jahren eine ebenfalls sehr zeitintensive Basteltätigkeit unter Modellbahnern einige Popularität erlangt, das Auf bringen künstlicher Gebrauchsspuren. Es soll die niedliche Glanzatmosphäre von Modellbahnanlagen kompensieren und sie wirklichkeitsgetreuer erscheinen lassen. Erste Anfänge gehen bereits in die 1960er Jahre zurück: Gerlach weist darauf hin, dass eine Modellbahnlandschaft erst durch die Ergänzung von Vanitaselementen wie umgefallenen Bäumen, fehlenden Zaunlatten oder schief hängenden Gattern lebendig beziehungsweise authentisch wirke: »Wir wollen … nicht vergessen, daß es in der Landschaft nicht immer so ordentlich aufgeräumt aussieht wie oftmals auf unseren Modellandschaften«.163 Der Autor empfiehlt beispielsweise, auf einigen Wagendächern Flicken anzubringen, die mit bemaltem Papier imitiert werden sollen, Tunnelportale mit Hilfe von Kerzenruß zu schwärzen oder Hausdächer in Bahnnähe mit Resten von Wasserfarben zu besprühen, um eine leichte Rußschicht der Dächer darzustellen. Er geht so weit, eine stillgelegte Lokomotive zu zeigen: »Eine Achse und der Tender fehlen, vielleicht ist auch schon der Schornstein ›abgebaut‹«.164 Noch in den 1980er Jahren stieß das künstliche Altern bei zahlreichen Modellbahnern auf Unverständnis, während es im Zuge der Nostalgiewelle wohl langsam zum i-Tüpfelchen im Mainstream geworden ist.165 Das ›Altern‹ von Modellbahnequipment ist eine wissensbasierte, technisierte Basteltätigkeit: Es erfolgt mit Hilfe 162 | Zitat: F. Eisen, Kleine Welt auf Rädern. Das faszinierende Spiel mit Modelleisenbahnen. Niedernhausen/Ts. 1984, S. 7; zum Eigenbau siehe ebenda, S. 226ff. 163 | Gerlach, S. 129. 164 | Gerlach, S. 316. 165 | Eisen, S. 240. Hersteller von Modellbahnzubehör scheinen das Verfahren mit Profiphotos popularisiert zu haben; so sind im Faller-Katalog bereits 1987 einige Modelle mit Alterungsspuren abgebildet. Siehe R.-U. Kunze, Kleine Welten oder wie deutsch kann man in H0 sein? Modellbahnnostalgie zwischen Markt und Identität an deutsch-deutschen Bei-

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hauchdünner Haarpinsel, in jüngerer Zeit auch mit speziellen Spritzpistolen und Spezialfarben für Staub und Ruß sowie verschiedenen Matt- und Klarlacken; die Prozedur dürfte in Anbetracht der Tatsache, dass zum Schutz nicht zu besprühender Teile Abdeckschablonen gefertigt werden müssen, und dass einige Lackschichten mehrfach aufgetragen werden sollen, relativ arbeitsintensiv sein. Zudem sind Kenntnisse über echte Alterungsspuren notwendig. Zum optischen Eindruck einer künstlich gealterten Modelldampflok schreibt ein Autor der Zeitschrift Modellbahn Illustrierte 2012: »Der etwas stärker eingestaubte Tender hebt die majestätische Wirkung der ›Blauen Mauritius‹ gut an. Er lässt die Zugmaschine mit ihrer dezenten Alterung sehr kraftvoll, aber durchaus auch elegant wirken«.166 Um größere Authentizität zu erreichen, wird hier – vergleichbar den Modellbahn-Kunststoffbäumen – anstelle echter Materialien mit einem künstlichen Surrogat gearbeitet: selbst beim letzten i-Tüpfelchen verbleibt die Modellbahn durch und durch ein Technotop. Das Modellbahnbasteln war demnach in den letzten Jahren durch eine Modernisierung des Gegenstands geprägt: Während insbesondere für den Lokomotivbau langsam die (noch nicht als Modelle reproduzierten) Vorbilder ausgehen und Bastler bei der Landschaftsgestaltung seit den 1970er Jahren in zunehmendem Maß auf Fertigprodukte zurückgreifen können, bietet das künstliche Altern einen Bereich der Modellbahngestaltung, der von den großen Herstellern noch nicht abgedeckt wird. Ein anderer Bereich, der mehr Gestaltungsfreiräume lässt als ein Kunststoff-Bausatz, ist der Bau von Gebäuden aus vorgefertigter Pappe. Trotz neuer Themen und Gestaltungsmöglichkeiten scheint im Kontext von Modellbau und ‑nutzung die Modellbahn mit ihrem nach wie vor hohen Anteil an Bastlern inzwischen eine Sonderstellung einzunehmen. So verwundert es nicht, dass ein Mitglied der Modelleisenbahncommunity in der MIBA 2012 die Frage aufwirft, wer heute noch Zeit und Muße zum Bau von Modellbahn-Anlagen habe.167 Seit vielen Jahren geht das Angebot an klassischen Bausätzen für Flug-, Schiffs- oder Automodelle mit vielen Einzelteilen zugunsten weitgehend fertiger Packungen zurück. Entsprechend bietet das Unternehmen Graupner, das über Jahrzehnte für seinen Kleinen Uhu – ein Segelflugmodell aus Balsaholz von etwas mehr als einem Meter Spannweite mit Tragflächen, deren Rippenkonstruktion mit Papier bespannt wurde – bekannt war, dieses Modell nicht mehr an. Die gesamte Modellpalette von Flugzeugen dieses Typs verschwand zugunsten stärker vorgefertigter Mischkonstruktionen aus Kunststoff und Holz aus dem Programm. Selbst der Kleine Uhu ließ sich, als das historische Modell anlässlich eines Firmenjubiläums wieder aufgelegt wurde, nicht mehr angemessen vermarkten. In das Bild passt,

spielen. In: A. Böhn, K. Möser (Hg.), Techniknostalgie und Retrotechnologie. = Technikdiskurse. Karlsruher Studien Technik und Kultur, 2. Karlsruhe 2010, S. 49-72, S. 55. 166 | Anleitung zum Anbringen von Alterungspuren auf einer Dampflok: C. Peters, Die Königsklasse. Dezent gealtert. In: Modellbahn Illustrierte, (3/2012), S. 64-67, S. 67. 167 | B. Kaiser, Zubehör wohin? In: MIBA, Sonderausgabe Messe 2012, S. 60.

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dass auch die technischen Fertigkeiten von Jugendlichen auf manueller Ebene rückläufig scheinen.168 Ein ähnliches Bild vermittelt das Sortiment der Firma Robbe: aus dem gesamten Programm von 2012 sind lediglich vier Schiffsbausätze als ›schwer zu bauen‹ eingestuft; das Angebot umfasst hingegen zahlreiche Fertigmodelle. Selbst diese vier Schiffe haben vorgefertigte Kunststoffrümpfe, während das Unternehmen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre neben Fertigrumpfschiffen noch einige Modelle mit Holzrümpfen zum Selbstbau anbot; hier waren lediglich die Spanten vorgefertigt, während die beiliegenden Leisten zur Stabilisierung der Beplankung über Wasserdampf selbst in Form gebracht werden mussten und die Modellbauer die Sperrholzbeplankung entsprechend zuschnitten.169 Wenn sich die hier skizzierte Entwicklungsrichtung fortsetzt, so bestätigt sich die in den 1960er Jahren formulierte Prognose über den Rückgang des Modellbaus dahingehend, dass die Phase des Modellbahnbastelns in der hier dargestellten Weise nun langsam dem Ende entgegengeht. Anstelle der Vielzahl von Bastlern bleibt eine kleine Gruppe von sehr geschickten und sehr gut ausgestatteten Modellbahnbastlern erhalten,170 während das Fahrenlassen von temporär aufgebauten Bahnen wieder an Bedeutung gewinnt.

b. Fahrenlassen Das Fahren-Lassen der Eisenbahn wird schon 1895 als zentrales Element des Spiels mit Modellbahnen genannt: »Es ist einleuchtend, daß mit einem solchen Spielzeug der Knabe sich gerne zu schaffen macht: gestattet es ihm doch, indem er es in Bewegung bringt und den Lauf beliebig leitet, sich selbst an dem anregenden Vorgang zu bethätigen, was bei einem Spielzeug doch die Hauptsache ist. Ferner versetzt es das immer reiselustige Kind in das Treiben des

168 | Gespräch des Autors mit einem Vertreter des Unternehmens Graupner auf der Intermodellbaumesse Dortmund 2012. In Anbetracht der Vorreiterrolle der USA bei der Entwicklung der Konsum- und der Freizeitgesellschaft passt die Beobachtung Steven Gelbers in das Bild, dass amerikanische Baukästen in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs weniger Fertigkeiten voraussetzten als noch in den 1920er Jahren. Gelber, Hobbies, S. 255. 169 | Siehe die Bauanleitung eines Schleppers mit Holzrumpf aus den späten 1970er Jahren (Privatbesitz). Wählt man auf der Homepage der Firma Robbe Modellsport eine Gruppe von Modellfahrzeugen wie RC-Segelboote, so erscheint unter dem Fenster »Aufbau« eine Klassifizierung der Modelle in leichter, mittelschwerer und schwerer Aufbau, siehe beispielsweise: RC-Segelboote, Robbe Modellsport, www.robbe.de/rc-modelle/rc-schiffe/ segelschiffe.html (20.4.2012). 170 | Ein Beispiel ist der PJA Modelbouw aus Hombeek, Belgien, der auf der Messe Intermodellbau 2012 ausstellte.

D. Technisches Spielzeug Eisenbahnwesens, eine Fülle von Erinnerungen und reichen Anlaß zur Nachahmung ihm darbietend«.171

Entscheidend ist demnach die Freude darüber, ein Spielzeug – wenn auch innerhalb vorgegebener Wahlmöglichkeiten – selbst dirigieren zu können; sie führe Kinder (gemäß Erziehungsvorstellungen der Zeit um 1900 nur Jungen) dazu, sich mit dem Eisenbahnwesen zu beschäftigen, wobei positiv konnotierte Reiseerfahrungen eine Rolle spielen. Das beglückende Spiel mit der Eisenbahn bringt die Kinder demnach zur Aneignung von Wissen über das dahinterliegende technische System. Von der Selbstbewegung der Modelllokomotiven scheint bis in die Gegenwart eine erhebliche Faszination auszugehen. So bevorzugen heute jüngere Kinder, die mit Holzeisenbahnen spielen, batteriebetriebene Lokomotiven meist gegenüber den per Hand zu bewegenden hölzernen Exemplaren; schon bei etwa zweijährigen Kindern können die Batteriezüge Begeisterungsäußerungen auslösen.172 Seit mehreren Jahrzehnten profitiert ein Düsseldorfer Unternehmen, das seine Modellanlagen zum Eisenbahnspiel gegen Münzeinwurf in großen Bahnhöfen aufstellt, von dieser Begeisterung.173 Beim Fahrenlassen gibt es wie beim Planen und Basteln unterschiedliche Formen des Spiels. Ursprünglich wurden Modellbahnen größerer Spurweiten zu besonderen Anlässen temporär in der Wohnung aufgebaut und verschwanden nach wenigen Spieltagen wieder. Hier lag der Schwerpunkt auf dem Fahren. Je nach Wohnungsgröße und Kurvenfahrfähigkeit von Lokomotiven und Wagen handelte es sich eher um längere Strecken, an deren Ende die Lokomotiven gedreht wurden, als um kreisförmige Anlagen, die sich mit Aufkommen der Tischbahnen durchsetzten. Sowohl der Dampf betrieb als auch die Nutzung von Starkstromlokomotiven war dabei mit echten Gefahren verbunden: einem Zimmerbrand bei Auslaufen des Spiritus oder einem Stromschlag, der lebensgefährlich sein konnte. Anders als auf dem Jahrmarkt oder beim Sport bestand hier also kein Anlass zur spielerisch-spannenden Annährung. Hingegen konnte das große Thema Eisenbahnunfall gegebenenfalls spielerisch nachempfunden werden.174

171 | L. C. Beck, Bayerns Grossindustrie und Großhandel. 1. Theil: Maschinen- und Metallwaren-Fabrikation des Industriebezirks Nürnberg-Fürth. Nürnberg [1895], S. 46. Zitiert nach Väterlein, S. 602. 172 | Beobachtung des Autors bei mehreren Kindern von zwei bis vier Jahren. 173 | In der Bundesrepublik betreibt das Unternehmen »Werner Ehret & Co. KG« seit den 1960er Jahren erfolgreich Bahnhofsmodellbahnen. Recherchen zur Ausstellung »Spiel mit Technik« im Deutschen Technikmuseum. Siehe auch: Chr. Herrendorf, Die Bahn kommt – aus Düsseldorf. In: RP online – Düsseldorf, vom 27.3.2011, www.rp-online.de/regionduesseldor f/duesseldor f/nachrichten/die-bahn-kommt-aus-duesseldor f-1.1203458 (21.4.2012). Zur Faszination des Fahrenlassens siehe Abb. 20. 174 | Siehe dazu S. 298f. dieser Arbeit. zu Unfällen als Spielsujet von Modellbahnen.

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Die Inbetriebnahme von echten Miniaturdampfloks ist aufwendig: Zur Vorbereitung des Fahrspiels waren das Brennstoff- und Wasser-Auffüllen notwendig, sowie das Ölen und Anheizen – Tätigkeiten, die im Kontext des Spiels mit Dampfmaschinen und Lokomotiven spielerischen Charakter hatten und einige technische Geschicklichkeit verlangten.175 Folglich schreibt Hildebrandt bereits 1904 der »getreue[n] Nachahmung der Tätigkeit des Lokomotivfahrers und des Heizers meist mehr Reiz für die Kinder … [zu], als … [dem] einfache[n] in Bewegung Setzen eines Uhrwerks«.176 Da diese Vorbereitungen bei Federantrieben und Elektromotoren entfielen, entfiel im Zuge der Modernisierung der kleinen Bahn auch eine Spielkomponente. Diese Spielmöglichkeit gepaart mit der Faszination, die gerade von Dampflokomotiven ausgeht, scheint ein wesentlicher Grund dafür, dass sich der Dampf betrieb auf Modellbahnen bis heute – wenn auch als Randerscheinung – gehalten hat. Modellbahner stellen die enorme Zugkraft der echten kleinen Dampflokomotiven heraus; der Dampf betrieb scheint von ihnen mehr oder minder augenzwinkernd als besondere Herausforderung gesehen zu werden. So schreibt ein Dampflokfreund 1975 im Modelleisenbahner: »Prunkstück meiner Anlage ist aber eine echte Dampflokomotive von Märklin, Baujahr 1927. Der Kessel wird mit Spiritus beheizt. Er liefert nach etwa 15 Minuten ausreichend Dampf zum Antrieb der beiden doppelt wirkenden Zylinder mit Rundschiebersteuerung. Fahrtrichtung und Geschwindigkeit lassen sich vom Führerhaus aus beliebig einstellen. Bremsvorrichtungen am Gleis gestatten eine automatische Dampfabstellung. Selbstverständlich hat diese Maschine auch eine richtig funktionierende Dampfpfeife. … Die Zugkraft der Maschine … übertrifft alle elektrisch betriebenen Modelle. Es ist immer ein besonderes Ereignis, wenn diese Maschine mit einem schweren Zug auf Reise geht«.177

Andere Modellbahner unternahmen im selben Jahr Fahrversuche und Messungen. »Das neue Treffen der Dampflokfreunde wurde auf Tonband aufgenommen. Außerdem wurden zahlreiche Fotos und ein 8 mm Schmalfilm hergestellt. Die Messungen über Anheizzeit, Laufdauer, Geschwindigkeiten usw. sind noch auszuwerten. Die Versuche werden bei nächster Gelegenheit wiederholt, um bessere Unterlagen zu erhalten«, schreibt Harald Kurz.178 Das Spiel der Inbetriebnahme und des Fah175 | Siehe hierzu eine Bedienungsanleitung für Modelldampflokomotiven aus dem Buch ›The Model Steam Engine‹ von 1880, abgedruckt bei Minns, S. 65f. 176 | Hildebrandt, Spielzeug, S. 134f. 177 | Siehe beispielsweise F. Wahl, Eine Eisenbahn der Nenngröße I mit allen Kompromissen. In: Der Modelleisenbahner, 24 (1975), S. 198-201, S. 200 (Herv. im Original). Zu Problemen beim Dampfbetrieb siehe Eisen, S. 240f. 178 | Kurz, Dresdner »Spiritisten«-Tage, S. 99. Siehe auch: W. Kropp, Erfahrungen über Bau und Betrieb von Modelldampflokomotiven in der Nenngröße I. In: Der Modelleisenbahner, 26 (1977), S. 366-369, S. 366ff.

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renlassens wird hier sowohl Anlass einer tiefergehenden, der wissenschaftlichen Praxis Kurzes entlehnten Beschäftigung mit der veralteten Dampftechnologie als auch zum ergänzenden Einsatz zeitgenössisch moderner Filmtechnik. Mit der Einführung von Schienen und der Entwicklung der Modelleisenbahn zum technischen Sachsystem kam als neuer Bereich des Fahrenlassens die Steuerung von Zügen durch Schalten von Weichen und Signalen sowie (bei elektrischen Anlagen) von separaten Stromkreisen hinzu. »Automatisch wirkende Eisenbahnzubehörteile mit elektromagnetischen Schaltvorrichtungen, elektrisch beleuchtbare Signale, Wärterhäuschen und andere Bauwerke tragen wesentlich zur Befriedigung des Spielzeugbetriebes bei und erhöhen die Wirkung der Eisenbahnanlage«, heißt es in einem Bing Katalog von 1930.179 Elektrische Anlagen boten schon frühzeitig weitere Attraktionen wie beleuchtete Züge.180 Mit dem Wandel der Modelleisenbahn zum technischen System wurde dieses System mit seinen Komponenten zum Spielgegenstand, wobei das Rollenspiel mimicry infolge der Komplexitätssteigerung der Anlagen erweitert und vertieft wurde. Mit der Einführung der kleineren Maßstäbe H0, TT und N und dem ›Umzug‹ der Bahnanlagen auf kleine Platten erweiterten sich sowohl die Spielzeiten als auch die Spielmöglichkeiten: Zeitgenossen hoben Mitte der 1930er Jahre die geringe Größe der neuen Modelle hervor, die es erlaubte, viel umfassendere Verkehrsanlagen zu erbauen: »durch die Kleinheit und Vielseitigkeit des Materials sind die Möglichkeiten ins Unendliche gesteigert. Man hat eben jetzt Platz«.181 Es entwickelte sich bald eine neue Komplexität der Anlagen und des Spiels damit. Nun genügte das Schienennetz für eine genauere spielerische Imitation des Eisenbahngeschehens wie des Rangierens von Zügen und Wagen, des Entladens mit Kränen, oder seit etwa Mitte der 1970er Jahre der Arbeit auf kleinen Container- oder Autoverladestellen. Modelleisenbahner, die großen Wert auf eine originalgetreue Spielwelt legten, waren entsprechend bestrebt, auch den Fahrbetrieb möglichst ›echt‹ zu gestalten. Als Spielvariante entwickelte sich das Fahrenlassen nach Fahrplan. Hierfür wurde eine Modellbahnzeit von 1/12 oder 1/6 der Normalzeit üblich, um halbwegs originalähnliche Fahrpläne erstellen zu können.182 »Auch macht die ›Modelleisenbahnerei‹ erst richtig Spaß, wenn durch unvorhergesehene Zwischenfälle 179 | Bing-Katalog 1930, Vorwort. Zitiert nach Reher, Eisenbahnspielzeug, S. 113. 180 | So hatten beispielsweise elektrische Züge von Bing 1912 schon eine Beleuchtung von Lokomotiven und 1914 von Wagen; Bing-Spielwaren 1912, S. 299f., Reprint S. 282f. Bing-Spielwaren 1914, S. 431, Reprint, S. 403. 181 | Spielzeug – ernst genommen. Ueberall in der Welt grosse Ausdehnung des Modelleisenbahnsports. Zeitungsartikel B.T. vom 25.12.1936 aus der Sammlung Metzeltin. DTMB, Historisches Archiv, Nachlass Metzeltin, 1.4.027 Nr 391. Der Maßstab dieser Anlagen lag bei etwa 1 : 87. 182 | Zu verschiedenen Modellbahnzeiten und ihrer Umsetzung im ›Fahrbetrieb‹ siehe Eisen, S. 32f.

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… Verspätungsminuten auftreten und diese wieder eingeholt werden müssen«, heißt es bei Gerlach 1965.183 Zeitfahren wird hier zu einer spielerisch-sportlichen Herausforderung, die gleichzeitig die Paradoxie der möglichst originalgetreue angelegten Modellbahnen deutlich werden lässt: dieses Zeitfahren erfolgt mit langsamfahrenden Zügen, deren Lokomotiven zuvor entsprechend umgebaut wurden. Während bei Anzeigen für echte Miniaturdampflokomotiven im ausgehenden 19. Jahrhundert mit deren »good speed« geworben wurde,184 durchzogen und durchziehen auf den eben beschriebenen Anlagen langsamlaufende Loks mit Elektromotor eine weitgehend originalgetreu reproduzierte Landschaft in einer etwa maßstabsgerechten Geschwindigkeit – also sehr langsam.185 Das Vergnügen am Fahren ist dabei mit der Spannung eines Schneckenrennens vergleichbar; von Bedeutung ist weniger das Fahren selbst als das Bild des sich bewegenden Zuges im Gesamtensemble. Vor diesem Hintergrund leuchtet es ein, dass die in den 1960er Jahren eingeführte Automatisierung von Modelleisenbahnen186 für die Betreffenden interessant sein kann. Mit diesem Schritt verliert das Selbstfahren als Spielelement der Eisenbahn völlig an Bedeutung; die Zugbewegungen dienen in ihrer Gesamtheit dem Vergnügen und fungieren als Bestätigung der eigenen Automatisierungsbeziehungsweise Programmierkünste. Der Spielende wird zum Zuschauer eines selbst geschaffenen Schauspiels. Eine Gruppe von Modellbahnfreunden, die Sammler, verzichtet selbst auf dieses Schauspiel; sie sammeln nach bestimmten Kriterien und erhalten ihre Objekte in der Regel ohne Veränderungen. Dabei folgen Sammler einem rationalen oder zumindest scheinbar rationalen Bewertungsverfahren, das zur Aufnahme eines Objekts in die Sammlung führt und mit dem Spiel nur die Freiwilligkeit der Tätigkeit gemeinsam hat, aus der die Sammler Vergnügen ziehen. Als Gruppe freiwilliger Nicht-Spieler wird deshalb hier nicht weiter auf Sammler eingegangen, obwohl sie eine erhebliche Zahl von Modellbahnfans stellen.187 183 | Gerlach, S. 287. Ein eigenes Kapitel »Modellzeit und Modellgeschwindigkeit« unterstreicht die Bedeutung, die Gerlach dieser Frage zumisst; siehe ebenda, S. 287ff. 184 | Siehe beispielsweise eine Anzeige des Clyde Model Dockyard and Engine Depot, abgedruckt in Minns, S. 63. 185 | Legt man eine Reisegeschwindigkeit des Originals von 100 km/h zugrunde, so liegt die Reisegeschwindigkeit eines H0-Modells bei etwa 1.1 km/h, die eines N-Modells bei 0.55 km/h. Eine Umrechnungstabelle siehe bei Eisen, S. 29. An seiner 1 : 10 Anlage stellte Oswald allerdings schon in den 1940er Jahren Untersuchungen an, denen zufolge eine maßstäbliche Geschwindigkeit von Modellbahnen Beobachtern zu langsam erscheint; im Fall dieser Anlage wurde eine optimale Geschwindigkeit von 20 km/h (anstelle der maßstäblichen Reduktion auf 10 km/h) zur Darstellung von Fahrten mit 100 km/h ermittelt. Siehe Oswald, S. 4. 186 | Das »technische« Spiel. Mit Tonband automatisiert – Funksteuerung weiter verbessert. In: VDI Nachrichten vom 12.4.1961, S. 5. 187 | Vergleiche Sutton-Smith, Ambiguity of Play, S. 4, der Hobbys und Sammlungen als Beschäftigungen des solitary play aufführt.

D. Technisches Spielzeug

In Abgrenzung zu den Modellbahnern, die möglichst perfekte Miniaturwelten bauen, steht bei einer anderen Gruppe von Modellbahnfreunden die Funktionsfähigkeit der Anlage im Vordergrund: Sie errichten demontierbare Anlagen in vorgefundenen Räumlichkeiten; im Mittelpunkt steht das Fahrvergnügen. Entsprechend wird auf Zubehör weitgehend verzichtet. Diese Form der Modellbahn, die dem auf das späte 19. Jahrhundert zurückgehenden Auf bau von Anlagen größeren Maßstabs zu besonderen Ereignissen entspricht, wird seit einiger Zeit als »Teppichbahn« bezeichnet.188 Ein Teppichbahner stellt seine Projekte als Extrem Teppichbahning im Internet vor, stellt Regeln auf, und beschreibt das Fahrenlassen als »neuen von mir erfundenen Extrem-Sport. Es geht darum, auch bei einem fliegenden Fussbodenauf bau komplexe Anlagen mit hoher Perfektion aufzubauen, aber alles auf dem Fussboden und eben nur für ein paar Wochen«.189 Dabei dürfen nur wenige Einzelteile wie Brückenpfeiler oder Höhenschrauben für die Bahnen vorgefertigt sein, Gegenstände sollen nur provisorisch mit Klebeband fixiert werden und auf das Einschottern der Gleise oder das Begrünen der Umgebung wird ebenso verzichtet wie auf den modularen Auf bau der Anlage. Die Originalgetreue ihrer Modelle hat für die Teppichbahner weniger Bedeutung; in ihren Internetdarstellungen wird eher auf Fahreigenschaften und Belastbarkeit der Lokomotiven abgehoben. Günstige Einkäufe werden so häufig erwähnt, dass sie im Rahmen der Vorbereitung Teil des Modellbahnvergnügens zu sein scheinen. Das Regelwerk und die Geschwindigkeit des Bauens bieten hier Anknüpfungspunkte zur Wieder-Nutzung eines seit spätestens den 1970er Jahren in Vergessenheit geratenen Begriffs, des Modellbahnsports. Für das Fahrspiel beider Gruppen scheinen zusätzliche Funktionen wie die automatische Zugbeeinflussung an Signalen, das Öffnen und Schließen von Schranken, die Beleuchtung von Lok und Wagen oder die vergleichsweise neuen Soundeffekte interessant zu sein. Bei letzteren ist das Angebot beachtlich: Abfahrtspfiffe, Türenschließen, fahrzeugtypische Fahrgeräusche, die sich mit der Geschwindigkeit und der Belastung auf der Strecke (Steigung/Gefälle) verändern. Die Digitalsteuerung ermöglichte die Regelung einer wachsenden Zahl solcher Effekte, die Modellbahnhersteller zur Aufwertung ihrer Modelle nutzen. Ein Autor der MIBA sieht dies 2012 einerseits als »Erhöhung des Spaßfaktors«, andererseits sei bei diesen Features »die Grenze zwischen sinnvollen Funktionen und Gimmicks nicht mehr klar zu ziehen«.190 ›Sinnvolle Funktionen‹ im Sinne des Autors sind vermutlich solche, die unmittelbar mit dem Eisenbahnbetrieb verbunden sind; lustiger und im Sinne des Spiels interessanter sind die von ihm als Gimmicks bezeichneten Möglichkeiten: Sieht man Gimmicks als Kleinigkeiten, die sich an den Spieltrieb von Konsumenten richten, so wird deutlich, dass sich hier ein neues 188 | Siehe beispielsweise Was ist Teppichbahning? In: Extrem Teppichbahning, www. extrem-teppichbahning.de/page23/page23.html (20.4.2012). 189 | Ebenda (Herv. Poser). 190 | Zöllner, Spaß, S. 28.

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Feld des Spiels mit der Modellbahn auftut, bei dem der Fahrende zum Schausteller wird, indem er seinen Zuschauern lustige neue Effekte vorführt. Tatsächlich wurden große Modellbahnanlagen Besuchern gegen Eintritt gezeigt – so die Bahn Oswalds, die er gegen geringes Entgelt vorführte und erläuterte, oder eine große Modellbahnanlage in Hamburg, deren Besitzer Fritz Boldt sich 1950 mit folgendem Werbezettel empfahl: »Besuchen Sie bitte meine Eisenbahnmodellschau mit historischen Bauten … In jahrelanger Kleinarbeit habe ich z.B. nur für die Schienen ca. 60.000 Nägel verarbeitet … Jeder Besucher, ob Liebhaber oder Fachmann, wird bestimmt seine Freude an dieser Ausstellung haben«.191 Mit dieser Form der Vorführung gegen Eintritt näherte sich die Nutzung der Modellbahn einem klassischen Jahrmarktsgeschäft, der Schaustellung an, bei der Besonderes oder scheinbar Besonderes von Schaustellern gegen Entgelt vorgeführt wurde.

c. Unfall als Spielsujet Bewusst herbeigeführte Eisenbahnunfälle auf Modellbahnen sind ein Spezialfall des Spiels ›Fahrenlassen‹; als Inszenierung eines bereits geschehenen Ereignisses können sie auch zur Bastelaufgabe werden. Aufgrund der besonderen Aufmerksamkeit, die Unfällen zukam und zukommt, müssten sie als Spielsujet bereits im 19. Jahrhundert attraktiv gewesen sein. Tatsächlich lassen sich Eisenbahnunfälle als Spielthemen erst um die Wende zum 20. Jahrhundert nachweisen, wobei die Nachweise rar bleiben: Die französische Firma JEP bot Ende der 1890er Jahre einen Zug an, dessen Packwagen bei einer Entgleisung in zwei Teile ›zerbrach‹.192 Märklin entwickelte ein Modell eines Unfall- oder auch Katastrophenzugs, das wohl von 1902 bis 1908 produziert wurde. Die Seitenteile der Waggons dieses Zuges werden durch das Dach zusammengehalten; im Inneren befinden sich senkrecht montierte Spiralfedern; bei einem leichten Anprall wird über ein Gestänge, das nahe der Puffer beginnt, die Arretierung der Federn gelöst, das Dach nach oben gestoßen und die Seitenwände fallen auseinander.193 Nach einer solchen Eisenbahnkatastrophe lässt sich der Zug wieder zusammensetzen. In den 1970er Jahren bot die Firma Lehmann für ihre Gartenbahn einen ähnlichen Zug mit einem Mechanismus zum Unfallspiel an. Die drei Unternehmen scheinen damit technische Lösungen gefunden zu haben, ein weitgehendes Tabu des Modellbahnspiels doch zum Spiel umzumünzen. Eine bekannte Unfallszenerie entstand 1948 in den USA: Die Zeitschrift Model Railroader zeigte ein Unfallszenario auf einer aufwendig gestalteten Modellbahnanlage, das wegen seiner perfekten Darstellung durch einen prominenten Modellbauer zur Verbreitung des Themas beigetragen haben dürfte.194 Eine gewisse Verbreitung erlangten ›Indianerüberfälle‹ auf Mo191 | Werbezettel in Schreibmaschinentypographie, Fritz Boldt, Hamburg 1950. Archiviert in: DTMB, Historisches Archiv, Nachlass Metzeltin, 1.4.027 Nr 391. 192 | Reder, Uhrwerk, S. 87. 193 | Reder, Uhrwerk, S. 87; Gottwaldt, S. 79. 194 | ›Train wreck at a tunnel‹, von John Allen; siehe Maines, Stinks and Bangs, S. 43.

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dellbahnzüge: sie kombinierten zwei beliebte Spiele von Jungen und gelangten diesseits des Atlantiks in den 1950er und 1960er Jahren auf Modellbahnanlagen.195 Entgegen der eingangs formulierten Hypothese zählen Unfälle bis heute offensichtlich bei Modellbahnern nicht zu den beliebten Spielen. So finden sich bei Internetrecherchen wesentlich mehr Dokumente, die der Darstellung von Autounfällen oder auch Bränden von Häusern auf Modellbahnanlagen gewidmet sind, als solche, die Modelleisenbahnunfälle zeigen. Filme von Modellbahnunfällen scheinen überwiegend Werbefilme oder künstlerische Kurzfilme zu sein.196 Die Begeisterung für die Modelleisenbahn, der Preis der Modelle und vermutlich insbesondere das Ziel einer heilen Modelleisenbahnwelt scheinen bei Modellbahnfans dem Spiel mit dem Risiko im Wege zu stehen. Vielmehr waren – und sind vermutlich nach wie vor – bei Unfallspielen von Kindern mit der eigenen Modellbahn »pädagogische Fragen angezeigt«.197

Abb. 20: Modelleisenbahner mit einer Miniaturdampflok, um 1930.

195 | Freundliche Information von Hartmut Knittel, Technoseum, Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim, Dezember 2013. 196 | Ergebnis einer Internetrecherche mit den Suchworten ›Modellbahn‹, ›Katastrophe‹, ›Unglück‹ und ›Unfall‹ am 21.5.2012. Zum Folgenden siehe auch Baumunk, S. 100f. 197 | Gottwaldt, S. 79.

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d. Entschleunigung Eine Besonderheit weist das Modelleisenbahnspiel gegenüber zahlreichen technikbasierten Mobilitätsspielen auf: Während bei technischem Spielzeug die Schnelligkeit der Spielenden sowie der genutzten Artefakte und Sachsysteme oft entscheidende Bedeutung hat – man denke an Autorennbahnen oder Computerspiele, bei denen schnelle Reaktionen Spielinhalt sind –, ist die Modelleisenbahn eher ein Ort der Langsamkeit und der Konzentration. Beim Fahren der Modellbahnen gilt dies in besonderem Maß für das Spiel mit Lokomotiven, die für eine originalgetreue Geschwindigkeit ausgelegt sind, aber auch für normal ausgelegte Modelle, zumal das Langsamfahren und Anhalten an bestimmten, vorher festgelegten Stellen Bestandteil des Spiels ist. Bei Echtdampffahrten gehören die Konzentration auf das Geschehen und die ständige Überwachung des Betriebszustands zum Spiel, beim Basteln kommt ebenfalls der Konzentration große Bedeutung zu. So bietet die Modelleisenbahn eine Entschleunigung des technisierten Spiels, die in einem durch Schnelligkeit geprägten Umfeld einer Sehnsucht nach Gemächlichkeit von erwachsenen Spielern entsprechen mag.

6. Modellbahnsport Vor dem Hintergrund der Entschleunigung ist es umso verwunderlicher, dass in den 1930er bis 1960er Jahren insbesondere in Verbindung mit Modellbahnvereinen der Ausdruck ›Modellbahnsport‹ verbreitet war. »Modelleisenbahnsport? – Die meisten Menschen ahnen nicht einmal, dass es so etwas gibt«, schreibt ein Autor 1936; knapp 30 Jahre später war der Begriff hingegen so weit etabliert, dass es in einem Zeitungsbericht über Modellbahnen heißt, »Modellbahnsport ist eine Passion, die täglich neue Freunde findet« (Abb. 20)198. Der Autor des Artikels von 1936 fährt fort: »Wer … einmal erlebt hat, wie beim Vorhandensein einer guten Modelleisenbahn mit Bahnhöfen, Stellwerken und allem übrigen Zubehör auch Erwachsene in Feuer geraten und sich an diesem Spiel beteiligen, der wird sich auch vorstellen können, dass bei der Schaffung einiger Vorbedingungen aus dem Spiel … ein Sport werden kann«. Für Spiel und Sport hebt er die Bedeutung von Spielregeln hervor; im Falle der Modellbahn gehe es darum, »planvoll und überlegt [zu] spielen«.199

Während Sport und Spiel hier gleichwertig gesehen werden, deutet der Modellbahnproduzent Trix Modellbahnsport 1937 als anspruchsvolle Beschäftigung und grenzt sie vom Kinderspiel ab. So heißt es im Trix Katalog: 198 | Freizeit im Maßstab 1 : 45. Zeitungsausschnitt vom 22.12.1963 aus der Sammlung Metzeltin, DTMB, Historisches Archiv, Nachlass Metzeltin, 1.4.027 Nr 391. 199 | Spielzeug – ernst genommen. Ueberall in der Welt grosse Ausdehnung des Modelleisenbahnsports. Zeitungsartikel B.T. vom 25.12.1936 aus der Sammlung Metzeltin. DTMB, Historisches Archiv, Nachlass Metzeltin, 1.4.027 Nr 391.

D. Technisches Spielzeug »Zur richtigen Ausübung des Modell-Eisenbahnsports gehört außer einer technisch richtigen Anlage natürlich auch eine gewisse Kenntnis des Eisenbahnbetriebes selbst. … So macht Trix Express aus einer Kinderspielerei, denn etwas anderes war das Fahren mit Miniatur-Eisenbahnen in dieser Preislage nicht, einen interessanten Sport für jedermann, ob jung oder alt«. 200

Eine Zeitschrift aus den 1950er Jahren attestiert den Modellbahnen, »ein bißchen Romantik [in den] … grauen Alltag« zu bringen, hebt die Bastelmöglichkeiten beim »Modellbahnsport« hervor und unterstreicht, dass das Modellbahnwesen nichts mit »Spielerei« zu tun habe. Als Begründung zieht der Autor die Detailliertheit von Eigenbauten heran; zudem verweist er auf die »technischen Kenntnisse« von Modellbahnern.201 In einem Zeitungsartikel von 1963 wird ähnlich argumentiert und dabei das Fahren mit einbezogen: »Der richtige Modellbahner legt Wert darauf, auf seiner Anlage einen regelrechten Fahrbetrieb en miniature durchzuführen … nach einem genau festgelegten ›Fahrplan‹ – und das alles ist doch wahrhaftig mehr als bloße Spielerei.«202 Modellbahnsport bezieht sich demnach sowohl auf das Basteln als auch auf das Fahren der Bahnen. Dabei wird deutlich, dass der Ausdruck dazu diente, die Ernsthaftigkeit der Modellbahner und ihrer Tätigkeit im Sinne eines ›wir spielen nicht‹ zu unterstreichen. Sport erscheint dabei in den 1930er bis 1960er Jahren die höher zu bewertende Tätigkeit, während aus Sicht der Zeitgenossen Spiel wohl ein typisch kindliches Verhalten war. In dieselbe Richtung weist der Untertitel »Vom Spielzeug zur Modelleisenbahn« von Gustav Reders 1970 erschienenem Buch Mit Uhrwerk, Dampf und Strom. Schon 1934 hatte Otto Bang-Kaup vorgeschlagen, in Anbetracht der zunehmenden Originalgetreue der kleinen Bahnen den Begriff »Spielzeugbahn« durch »Modellbahn zu ersetzen«.203 Der Historiker Rolf-Ulrich Kunze berichtet rückblickend, dass er als Jugendlicher in den 1960er Jahren aufgrund seines Wissens über Bahnen »gegenüber allen, die mit einer Modelleisenbahn nur spielen wollten«, ein »ausgeprägtes Überlegenheitsbewußtsein« entwickelt habe; nichts sei für ihn »kränkender [gewesen,] als [eine] Denunziation meiner Planungsarbeit als ›Spiel‹«.204 In Anbetracht der von Ortega y Gasset 1954 formulierten Einordnung des Sports als freiwillige, selbst gewählte Anstrengung, als »Bruder der Arbeit« 200 | Katalog des Unternehmens Trix von 1937. [Nürnberg 1937], Vorwort, verfügbar im Internet auf der Homepage Trixstadt.de, http://trixstadt.de/trix-express-geschichte/1937die-neue-modellserie/ (Herv. im Original, 14.5.2012). 201 | Modellbahnen – Der ideale Zeitvertreib. Zeitschriftenausschnitt ohne Vermerk aus den 1950er Jahren. Nachlass Metzeltin, DTMB, Historisches Archiv, 1.4.027 Nr 391. 202 | Freizeit im Maßstab 1 : 45. Zeitungsausschnitt vom 22.12.1963 aus der Sammlung Metzeltin, DTMB, Historisches Archiv, Nachlass Metzeltin, 1.4.027 Nr 391. 203 | Bang-Kaup, S. 1. 204 | Beide Zitate: Kunze, Spurweiten, S. 34.

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und kulturelle Leistung205 eignete sich ›Sport‹ für Modellbahner in den 1950er und 1960er Jahren durchaus, um sich in der Arbeitsgesellschaft vom Spiel abzugrenzen. Allerdings macht die Nutzung des Begriffs Modellbahnsport rückblickend etwas anderes deutlich, das Naheverhältnis von Sport und Spiel. Sieht man die Modellbahn als Spielmittel oder Sportutensil, so erscheinen beide Begriffe gleichsam synonym. Dieser heute weitgehend in Vergessenheit geratene Begriff wurde 2010 in einem Modellbahnforum verwendet, um eine gelungene Anlage zu würdigen. Während ein Beiträger ›Modellbahnsport‹ als Überschrift seiner Nachricht wählt und den Ausdruck zur Formulierung seiner besonderen Anerkennung nutzt, beziehen sich zwei weitere wohl etwas augenzwinkernd bis ironisch darauf: dies sei »sicher schon Sport«, der zweite ergänzt »Leistungssport«.206 Der Begriff Modellbahnsport gibt einen Einblick in das Selbstverständnis von Modelleisenbahnern: Ältere – um nicht zu schreiben erwachsene – Modellbahner betonen, dass es sich bei ihrer Tätigkeit um ein anspruchsvolles Hobby handelt, zu dessen Ausübung tiefgreifende Kenntnisse notwendig seien: »Zwangsläufig begegnet … jeder Modellbahner einer Vielzahl von Begriffen, die aus ganz unterschiedlichen Wissensbereichen entstammen, wie zum Beispiel der Elektrik, der Elektronik, der Feinmechanik, der Werkstoff kunde und dem professionellen Modellbau, um nur einige wenige aufzuzählen«.207 Kunze beobachtet bei Modellbahnern einen »autoritären Habitus des Modellbahnfacharbeiters« und verweist auf deren Ingenieurs-internalistische Perspektive.208 Entsprechend werden die Modellbahnzeitschriften von Insidern als Fachzeitschriften oder Fachpresse bezeichnet. Auch das Interesse an einer möglichst originalgetreuen Darstellung mag sich mit aus dem Selbstverständnis von Modellbahnfans speisen: »Scheiden wir die Fälle aus, in denen man den Modellbahnbau lediglich als Spiel betrachtet, so gibt es eine ganze Reihe von Gründen für dieses Hobby«.209 Gerlach nennt die Freude an Originalgetreue an erster Stelle; es folgen Genauigkeit und technisches Raffinement. Die Beurteilung der Originalgetreue und die original205 | Vortrag Ortega y Gassets auf dem DSB Bundestag 1954, zitiert nach Gieseler, Der Sport, S. 29. 206 | Modellbahnsport. In: Drehscheibe online, Forum-Beitrag vom 5.3.2010, www.drehscheibe-foren.de/foren/read.php?10,4713338,4714050#msg-4714050 sowie zwei Antworten vom 7.3.2010, online verfügbar unter www.drehscheibe-foren.de/foren/read.php? 10,4713338,4716053#msg-4716053 sowie www.drehscheibe-foren.de/foren/read.php? 10,4713338,4716061#msg-4716061 (22.4.2012). 207 | Editorial zu: Modellbahn-Lexikon 2012. In: Modellbahntechnik aktuell. http:/www. modellbahntechnik-aktuell.de/lexikon/ (Internettypische Hervorhebungen im Original wurden für das Zitat nicht übernommen, 18.4.2012). 208 | Kunze, Spurweiten, S. 119. 209 | Gerlach, S. 13.

D. Technisches Spielzeug

getreue Wiedergabe setzen tatsächlich einiges Detailwissen voraus; wird eine ganze Anlage passend zu einer bestimmten Zeitepoche gestaltet, geht dieses Wissen noch über das Eisenbahnwesen hinaus. So erfordert der Bau eines Modells oder einer Anlage gegebenenfalls eigene Recherchen erheblichen Umfangs. Hierauf bezieht sich auch die Beschreibung im Trix-Katalog von 1937, der zufolge Kenntnisse (und freilich die Nutzung des vom Hersteller angebotenen Produkts) das Kinderspiel vom Modellbahnsport unterscheiden. Gerade die Originalgetreue wird von Modellbahnern zur Abgrenzung genutzt: Weniger originalgetreue Bahnen werden als Spielbahnen bezeichnet. Mit dem Hinweis auf ihre Kenntnisse und deren Anwendung für Anlagenplanung und -betrieb nutzen Modellbahner eine Argumentationsstruktur, die Karl Groos bereits Ende 19. Jahrhunderts entwickelte, um Sport als eigenständigen Spieltyp und wissenschaftliches Erwachsenenspiel zu beschreiben.210 Die hier skizzierte Sichtweise impliziert eine Selbstabgrenzung der Modellbahner vom Spiel, die in einer arbeitsorientierten Gesellschaft (Habermas) aufgrund der Geringschätzung von Erwachsenenspielen umso wichtiger war, weil die Einordnung als Spiel auf der Hand lag (und liegt).

7. Modelleisenbahnen und Technik – die Perspektiven der Akteure Modellbahnen waren und sind zwar eindeutig Darstellungen von Technik, aber die Perspektiven der beteiligten Akteure und die Funktionen, die sie dieser Technik zumaßen, veränderten sich: Unternehmen hoben in ihren Schriften sowohl die Aneignung von Technikkompetenz als auch den Einfluss der Modellbahnen auf die Technikakzeptanz hervor. Analog zum etwas später bekannt gewordenen Werbespruch »Von Stabil zum Ingenieur« bietet der Bing Katalog von 1912 ein Schienen-Vorlagenheft Der kleine Eisenbahn-Ingenieur und stellt damit den Modelleisenbahnbau in einen pädagogischen, technikaffirmativen Kontext. Das umfangreiche Schienenmaterial und das Bahnzubehör gebe »dem Kinde Gelegenheit, an Hand dieses Vorlagenbuches Kombinationstalent zu entfalten«, heißt es in der Produktbeschreibung.211 Eine Anlage mit automatischer Zugbeeinflussung wird im Katalog 1914 so beschrieben, dass offen bleibt, ob sich diese Sicherheitseinrichtung der Modellbahn als Vorbild für die große Eisenbahn eignet: Die »Einrichtung stellt … ein interessantes Beispiel dar, in welcher Weise mittels Elektrizität die Sicherheit der Eisenbahnbetriebe vervollkommnet werden kann«.212 Während normalerweise das Original als Vorbild dient, wird hier die Verbindung zwischen Modell und Original in umgekehrter Richtung angedeutet. Tatsächlich wurden im zeitgenössischen Eisenbahnwesen primär automatische Warnvorrichtungen diskutiert, während Untersuchungen zu extern ausgelösten Bremsung 210 | Groos, Die Spiele der Menschen, S. 150f. 211 | Bing-Spielwaren 1912, S. 209, Reprint, S. 221. 212 | Bing-Spielwaren 1914, S. 429, Reprint, S. 401.

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von Zügen in Deutschland erst nach dem Ersten Weltkrieg begannen; getestet wurden mechanische, optische und elektromagnetische Systeme zur Zugbeeinflussung; durchsetzen sollte sich die elektromagnetisch ausgelöste Bremsung mittels der sogenannten INDUSI, die ab 1935 eingeführt wurde.213 Nicht nur die Hersteller wiesen auf die Bedeutung der Modellbahn zur Aneignung von Technikkompetenz hin. Auch Händler, die als Lehrmittellieferanten pädagogisch wertvolles Spielzeug anboten, und unter anderem die kleinen Bahnen vertrieben, argumentierten ähnlich. Entsprechend heißt es 1894 in einer Anzeige der Leipziger Lehrmittel-Anstalt, Eisenbahnen dienten »der lehrreichen Unterhaltung für die reifere Jugend und zum Nachweis der Wirkung des Dampfes«.214 »Nebenbei erlernt er [der Knabe] spielend an dem übrigens ganz gefahrlosen Apparat die wichtige Konstruktion der Dampfmaschine kennen. Von dieser ist es nur ein Schritt zur Lokomotive, und so liefert dann auch die Leipziger Lehrmittelanstalt … Lokomotiven mit Vor- und Rückwärtssteuerung und mit feststehenden Zylindern, sowie ganze Eisenbahnanlagen mit allem Zubehör«

lautet der Text eines Werbezettels.215 Durch die lehrreiche Unterhaltung beziehungsweise die »hierbei bemerkbare Absicht, in aller Stille beim Spiel auf das praktische Leben vorzubereiten«,216 wird der Modellbahn um 1900 als Spielzeug eine Rolle zugewiesen,217 die in der jüngsten Vergangenheit unter der Bezeichnung Edutainment in zahlreiche Institutionen der Wissensvermittlung (wieder) Einzug gehalten hat. Der Eisenbahnenthusiast Oswald sah seine Gartenbahn 1945 als permanente Ausstellung, die »durch Vorführung der Fahrzeuge sowie erläuternde Erklärungen auch dem unwissendsten Laien das technisch Großartige und dynamisch Überwältigende des Eisenbahnwesens näherbringt«.218 Hier geht es also weniger um Technikverständnis als um die Vermittlung von Technikakzeptanz, um nicht zu sagen, Technikbegeisterung. In ähnlichem Duktus wie in diesem Selbstzeugnis eines Modellbahners wird die Entwicklung der großen Eisenbahn 213 | Pottgießer, S. 178ff., S. 187f. 214 | Inserat der Leipziger Lehrmittel-Anstalt in »Über Land und Meer«, abgedruckt in: C. Jeanmaire, Bing – die Modellbahnen unserer Großväter. Die Geschichte des Hauses Bing, Nürnberg, von 1866-1933-(1966). Villingen 1972, S. 36. 215 | Leipziger Lehrmittel-Anstalt von Dr. Oskar Schneider, Leipzig – Werbung um 1900, verfügbar im Internet unter www.zinnfiguren-bleifiguren.com/Firmengeschichten/Leipziger_Lehrmittel-Anstalt/leipziger_lehrmittel-anstalt_Werbung.htm (6.5.2012). 216 | Ebenda. 217 | Parallelen ergeben sich beispielsweise zu Modellflugzeugen, deren Bau in den 1920er Jahren in Amerika Bedeutung zur Berufsvorbereitung zugemessen wurde. Siehe Alcorn, S. 117. 218 | Zitat von 1945: Oswald, S. 3.

D. Technisches Spielzeug

im Trix-Katalog von 1937 anerkennend beschrieben, hier allerdings gleichzeitig zur Werbung instrumentalisiert. Unter der Überschrift »Die vollkommene Modelleisenbahn« beginnt der Text: »Auf allen Gebieten schreitet die Technik unauf haltsam fort. Neue Konstruktionen bringen neue Formen, an denen wir den Fortschritt erkennen«.219 Noch im Vorfeld des Modelleisenbahnbooms der 1950er und 1960er Jahre wird in den Mitteilungen der Deutschen Bundesbahn 1951 berichtet, die Anziehungskraft von Modellbahnen sei so groß, dass Produzenten verschiedenster technischer Produkte sie auf Messen und Ausstellungen als »Lockmittel benutzen«.220 In den VDI Nachrichten heißt es im Zuge eines Berichts über Modellbahnen 1961: »Mit der vorschreitenden Technik wurde auch das Spielzeug weiter vervollkommnet; das Spiel damit wirkt anziehend und übt einen gewissen Reiz aus. Das Spielzeug selbst vermittelt in mancher Hinsicht dem Verständigen Grundlage und Zusammenhänge der Technik«.221 Die Wahl des Begriffs ›Spielzeug‹ kennzeichnet den Autor als Outsider der Modellbahnszene, während zeitgenössische Modellbahnfreunde wie Gerlach Ausdrücke wie Liebhaberei, Freizeitbeschäftigung oder Hobby wählten. Letzterer betont in seinem Handbuch 1965, dass Modellbahner sowohl beim Entwerfen, Zeichnen und Konstruieren als auch beim Betrieb der Bahn »mit vielen Gebieten der Technik zusammengebracht« werden.222 Eine ähnliche Sichtweise wird noch knapp 50 Jahre später in einem 2012 verfassten Onlinelexikon des Insidermagazins Modellbahntechnik aktuell deutlich: »Die Modellbahn ist schon rein historisch betrachtet ein sehr technisches Betätigungsfeld. Das beginnt bei den Antrieben der Modellbahn-Fahrzeuge, geht über die Modellbahn-Elektrik und hört bei der modernen Modellbahn bei Digitaldecodern noch lange nicht auf. … Kein Wunder also, dass die Modellbahn vielfach auch als eines der vielseitigsten Hobbys überhaupt beschrieben wird. … In jeder Modellbahn-Anlage steckt ein enormes Know-how und ein enormer Zeitaufwand, ohne den sich kein Modellbahn-Rad drehen würde«. 223

219 | Katalog des Unternehmens Trix von 1937, Vorwort. Verfügbar im Internet: Trixstadt.de, Homepage der Trix Express Freunde Berlin, http://trixstadt.de/trix-expressgeschichte/1937-die-neue-modellserie/ (Herv. im Original, 26.4.2012). 220 | Einmal Präsident einer Eisenbahn sein … In: Bundesbahn-Mitteilungen, 47 vom 15.12.1951, S. 5. 221 | Das »technische« Spiel. Mit Tonband automatisiert – Funksteuerung weiter verbessert. In: VDI Nachrichten vom 12.4.1961, S. 5. 222 | Gerlach, S. 13. 223 | Editorial zu: Modellbahn-Lexikon 2012. In: Modellbahntechnik aktuell, http:/www. modellbahntechnik-aktuell.de/lexikon/ (Internettypische Hervorhebungen im Original wurden für das Zitat nicht übernommen, 18.4.2012).

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Modelleisenbahnen werden von allen drei Autoren dezidiert im Kontext Technik verortet, dabei sehen sie Technik als ein Merkmal der Bahnen, das zu ihrer Attraktivität beiträgt; der Autor der VDI Nachrichten stellt ihre Bedeutung zur Vermittlung technischen Wissens heraus, während im Lexikonartikel darauf hingewiesen wird, dass erhebliches technisches Wissen in den Bau und Betrieb der Anlagen einfließt. Die Technizität der Bahnen wird dabei für die Insider neben Wissen und Arbeit zu einem Parameter, um ihre Beschäftigung mit Modellbahnen vom Spiel abzugrenzen. So schreibt Eisen 1984: »Modelleisenbahn bedeutet, daß man sich nicht mit einem Spielzeug begnügt, sondern mit Fahrzeugen und Gleisen arbeitet, die maßstäblich verkleinert sind und verkehrstechnisch einwandfreie Bewegungen zulassen«.224 Der Modelleisenbahner von 1972 geht in seiner Würdigung der kleinen Bahnen noch weiter: Der Präsident des Modelleisenbahnverbandes der DDR, Thiele, verweist auf die Bedeutung der Bahnen für die Aneignung technischen und ökonomischen Wissens: Der Modelleisenbahnverband habe in Übereinstimmung mit der Jugendpolitik der DDR »bei Kindern und Jugendlichen Verständnis für die Technik und Ökonomie des Eisenbahnwesens geweckt und über die kleine Eisenbahn das Interesse am Eisenbahnerberuf gefördert«.225 Dabei unterstreicht der Autor, dass »über die Beschäftigung mit der großen und kleinen Eisenbahn … neue Formen der kulturellen Freizeitgestaltung erschlossen« worden seien, deren Gegenstand – wie sich aus der gesamten Passage ergibt – Technik ist.226 Modelleisenbahnen werden hier zum Bestandteil der technischen Kultur. Während bis in die 1970er Jahre eine positive Sichtweise der Technik dominierte und von den Modellbahnkatalogen ebenso reflektiert wurde wie von Selbstzeugnissen der Spielenden, spiegelt das Unternehmensjubiläums-Sonderheft des Märklin-Magazins von 1984 die technikkritische Grundhaltung dieser Zeit. Der Hersteller empfiehlt die Modellbahn als Palliativum: Sie solle »Aufgeschlossenheit gegenüber technischen Innovationen« wecken und mithelfen, »sogenannte Technikfeindlichkeit heute mitzuüberwinden, da ihre Wirkung auch von dem der Technik gegenüber kritisch eingestellten Teil der Bevölkerung anerkannt wird. Insofern reicht auch der didaktische Wert der elektrischen Eisenbahn in gesellschaftspolitische Auffassungen hinein«. 227

224 | Eisen, S. 10 (Herv. Poser). 225 | E. Thiele, Zehn Jahre Deutscher Modelleisenbahn-Verband der DDR. In: Der Modelleisenbahner, 21 (1972), S. 93. Im ähnlichen Tenor siehe fünf Jahre später das Präsidiumsmitglied P. Kaiser, Unsere Devise: Stets anregend und ideenvoll sein. In: Der Modelleisenbahner, 26 (1977), S. 257. 226 | Ebenda (Herv. Poser). Siehe rückblickend auch Kunze, Spurweiten, S. 46. 227 | Märklin-Magazin. Jubiläumssonderheft. Göppingen 1984, S. 55. Zitiert nach Baumunk, S. 25.

D. Technisches Spielzeug

Nun ist es zumindest werbestrategisch nicht mehr die große Eisenbahn, die den Bezugsrahmen für Modellbahnen bildet, sondern die Modelleisenbahn erhält als Vermittler eines positiven Technikbildes eine eigene Rolle. Dieser Wandel zeichnete sich schon ein Jahrzehnt zuvor an der Kataloggestaltung ab: Von den 1930er bis in die 1960er Jahre ließ das Unternehmen den Umschlag seiner Kataloge üblicherweise mit gemalten Szenen aus dem großen Eisenbahnwesen ausstatten. In den 1970er Jahren ging man hingegen zu Photos der eigenen Produkte über.228 Ein Hinweis auf eine abermalige Veränderung der Sichtweise von Modellbahnen als technische Artefakte ist eine neue Werbestrategie Märklins: Das Unternehmen wirbt zwar auch 2012 mit dem Slogan »Technik erfahren«, stellt aber im Vorwort seines Katalogs den Erwerb sozialer Kompetenzen in den Vordergrund: »Was heute Personalberater den Führungskräften in teuren Seminaren beibringen müssen, schafft die Modellbahn im besten Sinne spielend: Sie bildet soziale Kompetenz, macht Zusammenhänge und ihre Wechselwirkungen sichtbar. Das gemeinsame Spielen überwindet Hierarchien und Altersgrenzen, fördert die Kommunikation«. 229

Die Modelleisenbahn ist hier nicht nur losgelöst von der großen Eisenbahn, sondern auch von der Technik: Das Wissen und die Kompetenzen, die die Modellbahn nun vermitteln soll, ließen sich auch ohne den Kontext von Eisenbahn und Technik mittels gänzlich anderer Gruppenspiele weitergeben oder ›erspielen‹. Analog zum Rückgang der Visibilität von moderner Technik schwindet ihre Bedeutung für das Spiel, auch wenn es sich um ein technisiertes Spiel handelt. Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, wenn Spielzeuglokomotiven oder Autos für Kinder nun vermenschlicht werden, indem sie Gesichtszüge erhalten. Ähnliche Beobachtungen lassen sich beispielsweise beim Design von Achterbahnen oder Autoskootern auf dem Jahrmarkt machen. Durch einen neuen Biologismus wird hier eine Lücke gefüllt.

8. Modelleisenbahnen – Ergebnisse Die Entwicklung von Modelleisenbahnen und Modellbahnspielen war im 19. und 20. Jahrhundert zahlreichen Wandeln unterworfen, im Zuge derer dieses Spielzeug immer wieder neuen technischen Entwicklungen und Spielvarianten angepasst wurde. Dennoch lässt sich seine Entwicklung durch drei Grundtendenzen beschreiben, die Genese und Komplexitätssteigerung eines technischen Sachsystems, die mit dem Angebot von Schienen und Zubehör Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte, die Miniaturisierung und die zunehmende Originalgetreue. Letztere bezog und bezieht sich nur auf die formale Ebene der Darstellung. Hier gelang 228 | Siehe zahlreiche Abbildungen bei Adriani/Gaugele, S. 70ff. 229 | Technik erfahren. Märklin my world. H0 Katalog 2012. Göppingen 2012, S. 19.

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Modellbahnern und Herstellern eine erstaunliche Annäherung, während sich die Funktionstechnik eigenständig entwickelte. Bei der Technikentwicklung ist nur in wenigen Fällen die Übernahme von Eisenbahntechnologie festzustellen; vielmehr stammt ein großer Teil der Modelleisenbahntechnologie aus der Mechanik von Blechspielzeug sowie aus der Schwachstromtechnik und seit den 1980er Jahren aus der Elektronik. Für die Produktion war um 1900 Weißblech und später Kunststoff sowie Zinkdruckguss von Bedeutung; aber auch Rotguss ist zu nennen. Unter den Spezialentwicklungen für Modelleisenbahnen finden sich sowohl Beispiele neuer Technik, die neue Spielmöglichkeiten eröffnet oder die Originalgetreue der Modelle steigert, als auch solche zur Optimierung veralteter Technologien. Modelleisenbahnen boten und bieten eine Vielzahl von Spielmöglichkeiten. Sie reichen vom Planen und Basteln bis zum Fahrenlassen. Die Hauptspielform ist das Rollenspiel mimicry. Dies liegt bei Spielen des Fahrens auf der Hand, aber auch das Planen und Basteln dient letztlich dazu, mimicry zu ermöglichen. Als eigenständige Tätigkeit ist es primär mit ludus verbunden, bietet aber auch Raum für Elemente von paidia. War zunächst der Dampf betrieb die Hauptattraktion des Modellbahnspiels, so gewannen in der Nachkriegszeit elektrische Modellbahnen kleinen Maßstabs mit geringem Platzbedarf an Popularität. Sie ermöglichten nicht nur eine Komplexitätssteigerung der Anlagen unter Einbau zahlreicher Steuerungs- und Spielmöglichkeiten, sondern auch deren Gestaltung durch Gebäude und künstliche Naturlandschaften. Mit der Verbreitung von kleinen Tischbahnen gewann das Basteln gegenüber dem Fahrenlassen an Gewicht. In den letzten Jahrzehnten kam es allerdings wieder zu einem Rückgang des Bastelns, der einerseits einem generellen Trend in der Konsumgesellschaft entspricht, andererseits auch damit zusammenhängen mag, dass die jahrzehntelange Entwicklung zu größerer Originalgetreue inzwischen weitgehend ausgereizt ist. Als Alternative gewinnt – bei einem Rückgang des Interesses an Modelleisenbahnen insgesamt – eine Spielvariante wieder an Bedeutung, die an das 19. Jahrhundert anknüpft, das Fahrenlassen auf provisorisch eigerichteten Anlagen. Beim Spiel mit der Modelleisenbahn legten (und legen) erwachsene Spieler Wert darauf, dass ihr Spiel aufgrund des damit verbundenen Fachwissens und ihres handwerklich-technischen Knowhows nicht als Spiel zu bewerten sei und grenzten sich dezidiert vom Kinderspiel mit ›einfachen‹ Spielzeugbahnen ab. Dabei vollzog sich ein Wandel: bezeichneten Protagonisten ihr Spiel in den 1940er Jahren als Arbeit, so finden sich seit den 1960er Jahren in Selbstzeugnissen Formulierungen wie Liebhaberei, Freizeitbeschäftigung und Hobby. Im Zuge des Wandels von der Industrie- und Arbeitsgesellschaft zur Dienstleistungs- und Freizeitgesellschaft verlor die scharfe Trennung von Arbeit und Spiel tendenziell an Bedeutung. Es mag mit der Sozialisation und der durch die Arbeitsgesellschaft geprägten Generation älterer Modellbahner zusammenhängen, dass das Modellbahnspiel bis heute für Insider nicht als Spiel gilt, während beispielsweise die

D. Technisches Spielzeug

durchschnittlich jüngeren ›Fahrer‹ beziehungsweise ›Piloten‹ von ferngesteuerten Autos und Flugzeugen ihre Freizeitgestaltung durchaus als Spiel bezeichnen, wenn auch gelegentlich mit ironischem Unterton.230

230 | So teile eine Gruppe von Männern im Alter von etwa 35 – 40 Jahren dem Autor mit, sie gehe nun mit ihren funkgesteuerten Jeeps »spielen«; Gespräch mit Unbekannten am 23.7.2012. Die Auto- und Fluginteressierten auf der Dortmunder Modellbaumesse 2012 hatten ein ähnliches Alter.

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E. Spiel mit Technik – systematische Ergebnisse und Perspektiven

Das Anliegen dieser Schrift ist es, in Anbetracht des großen und auch in einer Monographie nicht erschöpfend behandelbaren Themenfeldes des Spiels mit und mittels Technik sowohl pars pro toto Strukturen des technisierten Spiels zu analysieren, als auch Zugänge zum Thema vorzuschlagen. Bereits anhand der Fallstudien zum technisierten Sport, zum Jahrmarktsvergnügen und zum Spiel mit Technischem Spielzeug bestätigte sich jeweils die eingangs formulierte These, dass Technik für das Spiel andere, weiterreichendere Funktionen hat, als dies im Kontext von Arbeits- und Produktionsprozessen oder auch des alltäglichen Konsums der Fall ist. Da spielerisch genutzte Technik Emotionen weckt und bewusst bis in die Gegenwart hierzu angewandt wurde, erlangte sie beträchtlichen Einfluss auf die Spielenden – sei es beim Rudern, beim Schwimmen, bei Fahrten mit Jahrmarktsfahrzeugen oder beim Spiel mit Technischem Spielzeug. Zugrunde liegen der Untersuchung die Cailloisschen Spielkategorien agon, alea, mimicry und ilinx. Anhand der Fallbeispiele wird seine Beschreibung des Rausches präzisiert, weil ilinx beim Spiel mit Technik in zwei unterschiedlichen Ausprägungen auftreten kann: Bei eigener Betätigung in Kombination mit einem flow-Erlebnis, bei Fremdeinwirkung, dem Sich-Technik-Aussetzen, mit dem Schwindel vertigo. Basierend auf den Ergebnissen der Fallstudien soll das letzte Kapitel sowohl gemeinsamen Strukturen des Spiels mit Technik als auch weiterführenden Fragestellungen gewidmet sein.

a. Zur Vergleichbarkeit des Unvergleichbaren Da die Fallstudien dieser Darstellungen sehr unterschiedlichen Bereichen des Spiels mit Technik entnommen sind, erscheinen sie zunächst nicht unbedingt vergleichbar. Tatsächlich bestehen jedoch zahlreiche Querverbindungen, die deutlich machen, dass die begrifflich zusammengeführten Kernbereiche des Spiels – der Sport, der Jahrmarktsbesuch und das Spiel mit Technischem Spielzeug – auch inhaltlich zusammengehören: Zwar eignet sich eine Modellbahnlokomotive nicht zum Rudern oder Schwimmen und bleibt auf einer Achterbahn

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funktionslos, aber auf einer Modelleisenbahnanlage ist die Darstellung von Ruderbooten, Schwimmbädern und Jahrmärkten problemlos zu realisieren. Ähnliche Zusammenhänge lassen sich für alle Fallbeispiele aufzeigen: Um 1900 wurden Ruderboote aufgrund der Popularität des Rudersports auch als Blechspielzeug mit Federantrieb hergestellt; der Bewegungsablauf des Ruderns bot in sogenannten Rudersportkarusells eine neue Jahrmarktsattraktion. Schwimmbäder dienten sowohl dem sportlichen Schwimmen, als auch – seit etwa 1970 – dem jahrmarktsähnlichen Konsum von Attraktionen im Wasser. Zudem werden sie in neuerer Zeit gelegentlich zu Orten organisierter Treffen von Modellschiff kapitänen, die geheizte Hallen und ruhiges Wasser den Unwägbarkeiten der freien Natur vorziehen. Achterbahnen und Autoskooter wurden und werden als Technisches Spielzeug imitiert. Skooter ermöglichen spielerische, mitunter sportähnliche Wettfahrten; bei speziellen Achterbahnen, den Racing coasters, werden sie imitiert. Zudem entstanden in jüngster Zeit sportähnlich anmutende contents, bei denen die Besucher möglichst viele Bahnen innerhalb einer vorgegebenen Zeit befahren sollen. Die Popularität der Eisenbahn führte dazu, dass Modelle sowohl als Jahrmarktsattraktion als auch als Technisches Spielzeug hergestellt wurden. Bevor sich in den 1960er Jahren der bis heute gängige Begriff ›Hobby‹ im Modellbahnwesen durchsetzte, wurde das Spiel mit Modelleisenbahnen von Insidern häufig als ›Modellbahnsport‹ bezeichnet. Die hier aufgezeigten Querverbindungen ergeben sich meist aus der Darstellung von populärer Technik, aber auch aus der Imitation von technischen Handlungen, wie im Fall von Rudersportkarussells oder gestalterischen Anleihen aus einem anderen Bereich des Spiels wie bei der Präsentation von Jahrmarktsattraktionen in einem sportlichen Ambiente.

b. Schlüsseltechnologien als Spielsujet Der spielerische Umgang mit Technik war und ist für zahlreiche Schlüsseltechnologien von eminenter Bedeutung: So gab Richard Trevithicks Catch-me-who-can 1808 im Rahmen einer jahrmarktsähnlichen Veranstaltung einen ersten Einblick in die Eisenbahntechnologie. Fahrräder, Automobile und Flugzeuge wurden in den Jahrzehnten um 1900 durch sportliche Wettkämpfe agones popularisiert, die durch große Zuschauerzahlen geprägt waren und sogar Volksfestcharkter annehmen konnten.1 Hinzu kam die Darstellung dieser Verkehrsmittel auf dem Jahrmarkt und als Technisches Spielzeug, wo sie Anlass zu Rollenspielen mimicry im Umgang mit Technik und zur Aneignung von Technikkompetenzen boten. Die Leistungsfähigkeit von Computern wurde frühzeitig durch Spielanwendungen demonstriert – so war beispielsweise ein als »Elektronengehirn« präsentierter britischer Großrechner auf der Deutschen Industrieausstellung in Berlin 1951 darauf programmiert, ein einfaches Legespiel gegen Ausstellungsbesucher zu ›spie-

1 | Siehe Chr. Kehrt, »Das Fliegen ist noch immer ein gefährliches Spiel« – Risiko und Kontrolle der Flugzeugtechnik von 1908 bis 1914. In: Gebauer/Poser, S. 199-224, S. 204ff.

E. Spiel mit Technik

len‹.2 Der erste kontinentaleuropäische Transistorrechner, das 1958 vorgestellte Mailüfterl des österreichischen Computerpioniers Heinz Zemanek, war in der Lage, ein Schachspiel mit reduziertem Figurensatz zu spielen.3 Damit wurde eine Vergleichsebene geschaffen, bei der ein Spiel zum Gradmesser der Leistungsfähigkeit eines technischen Systems avancierte. Dieser Vergleich stand in der Tradition des sogenannten Schachtürken Wolfgangs von Kempelen, dessen Vorführung zwischen 1768 und den 1820er Jahren die Frage aufwarf, ob eine Maschine denken könne. Das Schachspiel sollte für die nächsten Jahrzehnte die Messlatte für Computer bleiben, unter anderem zur Entwicklung einer Vielzahl kommerzieller Schachcomputer und -programme beitragen, und erst mit den Siegen des Computers Deep Blue über den damaligen Schachweltmeister Garri Kasparow 1996 und 1997 an Bedeutung verlieren.4 Spiele waren bereits für die Einführung von Computern in Privathaushalte entscheidend. Später förderte die Entwicklung von Computerspielen die Hardwareentwicklung, weil Spiele einen maßgeblichen Anteil an der Nachfrage nach immer höheren Rechnerleistungen hatten. Mit Eisenbahn, Auto, Flugzeug und Computer wurden Schlüsseltechnologien des 19. und 20. Jahrhunderts in ihrer Einführungsphase zum Thema und zur Grundlage von Spielen. Damit nicht genug: Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts waren Spielzeugdampfmaschinen aufgekommen, ein Jahrzehnt später wurden kleine Dampfmaschinen als Antriebsaggregate auf dem Jahrmarkt eingesetzt und bald stolz auf der Schauseite der Geschäfte präsentiert. Die Telegraphie wurde ebenso zum Spielsujet wie die Röntgentechnik, das von tausenden elektrischer Lampen erleuchtete Palais des Illusions der Pariser Weltausstellung von 1900 erwarb angeblich der Schaustellungsunternehmer Hugo Haase und präsentierte es fortan als »Juwelenpalast«.5 Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Roboter und Raketen Gegenstand Technischen Spielzeugs. Die Palette der Technik, die hier

2 | Siehe A. Lange, Games in Europe. Report from the PAL zone [Manuskript, S. 1]. Erschienen in: Game On. The History and Culture of Videogames [Ausstellungskatalog]. London 2002. Sowie Ders., Der Computer schlägt zurück. Wege zum Heimvideospiel der 1970er Jahre. In: Dresdener Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften, 31 (2006), S. 105-116, S. 106f. 3 | Der Computer wird heute im Technischen Museum Wien gezeigt. 4 | Aus der zahlreichen Literatur zu Kempelen siehe beispielsweise B. Felderer, E. Strouhal, Kempelen – zwei Maschinen. Texte, Bilder und Modelle zur Sprechmaschine und zum schachspielenden Androiden Wolfgang von Kempelens. Wien 2004. Zur Entwicklung kommerzieller Schachcomputer siehe H.-P. Ketterling, Die echten »Türken«. Schachautomaten, die ihre Steine selbst setzen. In: Poser/Hoppe/Lüke, S. 99ff. Zum Spiel Kasparows gegen Deep Blue: M. Khodarkovsky, L. Shamkovich, A New Era. How Garry Kasparov changed the world of chess. New York 1997. 5 | Zu Röntgen- und Telegraphietechnik als Spielzeug siehe beispielsweise Hildebrandt, Spielzeug, S. 171. Zu Haases Juwelenpalast siehe Hahn, S. 21.

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zum Thema wurde, charakterisiert die Technische Moderne6 und verweist, was Computerspiele anbelangt, auf die ›Postmoderne‹. Das Spiel war sowohl für die Popularisierung und damit für die Distribution dieser Technologien bedeutsam, als auch für konstruktive Verbesserungen in der Innovationsphase. Hinzu kam ein Beitrag zum Erhalt des positiven Images der betreffenden Technik: Autoskooter trugen hierzu bis in die 1990er Jahre ebenso bei wie Spielzeugautos, Flugmodelle oder Modelleisenbahnen, die als Darstellung der ›großen Eisenbahn‹ verstanden und zumindest bis in die 1970er Jahre entsprechend beworben wurden. Der Imagegewinn von ›großer‹ und ›kleiner‹ Technik, von Original und Modell war dabei durchaus wechselseitig bedingt: Technische Artefakte eigneten sich aufgrund ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und ihrer auratischen Wirkung zur modellhaften Verkleinerung. Umgekehrt warben Jahrmarktsfahrzeuge wie die Wagen der Opel-Bahn und Spielzeugmodelle für die betreffenden Mobilitätstechnologien wie für ihre Hersteller und wurden entsprechend genutzt.7 Selbst die Atomkraft wurde in den 1950er und 1960er Jahren mit Hilfe von Spielzeug popularisiert. Folgt man Herstellerangaben, so war das Massachusetts Institute of Technology, MIT, Ende der 1940er Jahre an der Entwicklung eines Atomic Energy Lab beteiligt, das als Lernspielzeug an Jugendliche adressiert war. Es ermöglichte Strahlungsmessungen ebenso wie Geschwindigkeitsmessung von Partikeln und machte den atomaren Zerfallsprozess auf einem fluoreszierenden Schirm sichtbar. »Thrilling to watch« seien die Versuche, heißt es auf der Verpackung, »everyone can explore the mysterious universe of the Atom« in einer Anzeige.8 Spielzeugroboter und Weltraumfahrzeuge für das Kinderzimmer wurden Atomic man oder Atomic rocket benannt, und um 1960 modernisierte das Lüdenscheider Unternehmen Wilesco ein klassisches Dampfmaschinenmodell durch Kombination mit der Darstellung eines Atomkraftwerks.9 6 | Die Militärtechnik, die im Sinne des Militärisch-Industriellen Komplexes auch als Charakteristikum der Technischen Moderne gesehen werden muss, und die ebenfalls in Form von Spielzeug, Jahrmarktsgeschäften und Sportarten Eingang in das Spiel fand, wurde aufgrund ihres anders gelagerten gesellschaftlichen und politischen Kontextes im Rahmen dieser Arbeit ausgeklammert. 7 | So boten Automobilhersteller auch Tretautos an; andere verschenkten kleine Fahrzeugmodelle. VW Händler griffen dazu in den 1960er Jahren auf ›Käfer‹ des Spielwarenunternehmens Siku zurück; zu Tretautos von Automobilherstellern siehe beispielsweise D. Whyley, Austin Pedal Cars. Edinburgh 1999. 8 | Abbildungen bietet die Webseite Atomic Toys, https://www.orau.org/ptp/collection/ atomictoys/GilbertU238Lab.htm (20.11.2014). Zweites Zitat: Anzeige »New – Gilbert Atomic Energy Lab, Nuclear Physics«, abgebildet bei F. J. Leskovitz, Science Leads the Way. A. C. Gilbert U-238 Atomic Energy Lab, http://gombessa.tripod.com/scienceleadstheway/ id4.html (3.10.2013). 9 | Wilesco, R 200. Ein Modell ist im Deutschen Historischen Museum in Berlin erhalten.

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Der Popularisierung von Atomenergie durch Spielzeug für Kinder und Jugendliche korrespondierte eine entsprechende mediale Darstellung, im Zuge derer zahlreiche atomtechnische Zukunftsvisionen in populärwissenschaftlichen Büchern und Zeitschriften erschienen. Damit wurde Spielzeug Teil einer Entwicklung, die sich zwar aus der Faszination dieser neuen Energiequelle speiste, aber politisch und wirtschaftlich gewollt war.10 Insbesondere das Beispiel des unter erheblichem Aufwand entwickelten Atomic Energy Lab wirft ein Schlaglicht darauf, dass Spielutensilien sowohl besonders »ausgeprägte … Erscheinungen … [ihrer] Entstehungszeit« (Brockhaus 1934) spiegeln als auch zur Popularisierung von Technik instrumentalisiert werden können. Dass verschiedene Unternehmen und staatliche Stellen dies in unterschiedlichen Zusammenhängen versuchten, unterstreicht letztlich die Wirkmächtigkeit des Spiels, von der die betreffenden Stellen zu profitieren suchten.

I. S truk turen technisierter S piele 1. Zeitgebundenheit Zahlreiche Theorien des Spiels gehen implizit von einer Ahistorizität oder auch einer Überzeitlichkeit ihres Gegenstands aus. Dies mag aus historischer Perspektive generalisierend für klassische Spiele wie Fangen oder Versteck, die nur geringen Veränderungen unterliegen, vertretbar sein, für technisierte Formen des Spiels jedoch nicht: Gerade das Beispiel Atomkraft macht deutlich, wie zeitgebunden nicht nur Technik, sondern auch das Spiel mit Technik ist: Spielzeugdampfmaschinen hatten um 1960 wegen des Verschwindens der großen Dampfmaschinen in Industrie und Verkehrswesen weitgehend an Bedeutung verloren. So diente Wilescos modellhafte Darstellung eines Atomkraftwerks in Kombination mit einer Dampfmaschine dazu, den Absatz der unmodern wirkenden Spielzeugdampftechnologie zu unterstützen. Bereits um 1970 wäre das Modell schwer verkäuflich gewesen – allerdings nicht wegen der Dampfmaschine, wo – ausgehend von der Eisenbahn – langsam eine romantische Verklärung der Originale einsetzte, sondern in Anbetracht der kontroversen Diskussion über Atomkraft und der wachsenden Anti-AKW-Bewegung. In dieser Zeit entstand eine Geschichte Viktors von Bülow (Künstlername Loriot) über einen Großvater, der seinem Enkel ein Atomkraftwerksmodell schenkt; bei der Erstinbetriebnahme unter dem Weihnachts-

10 | Entsprechend berichtet der Hersteller Gilbert in seinen Memoiren, dass er zur Entwicklung des Atomic Energy Lab von staatlichen Stellen ermuntert worden sei. Zur medialen Darstellung der Atomkraft siehe D. van Lente (Hg.), The Nuclear Age in Popular Media. A Transnational History, 1945 – 1965. New York 2012.

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baum sprengt jener ein Loch in den Fußboden.11 Nicht umsonst war das Adjektiv atomic von Spielzeugrobotern und -weltraumfahrzeugen nun verschwunden. Das In-Misskredit-Geraten der modernen Großtechnologie wirkte sich wesentlich schneller auf die Spielzeugbranche aus als auf die Originale selbst. Die Zeitgebundenheit des Spiels gilt beispielsweise auch für das Selbstfahrangebot mit Autos und Motorrollern auf dem Jahrmarkt: Die Opel-Bahn mit ihren Originalkleinwagen war in den 1920er und 1930er Jahren wohl ein sehr gut gehendes, modernes Geschäft; in der direkten Nachkriegszeit liefen auch Autobahnen mit kleinen Benzinwagen oder Motorrollerbahnen ausgesprochen gut. Die zunehmende Motorisierung wirkte sich zunächst noch positiv auf diese Geschäfte aus, führte jedoch bald dazu, dass sie in Anbetracht der weitgehenden Verfügbarkeit von Fahrzeugen an Bedeutung verloren. Der Beitrag, den die Bahnen zur Popularisierung dieser Technik geleistet hatten, wurde ihnen zum Verhängnis, sofern die Betreiber sie in den 1960er Jahren nicht auf Gokart-Bahnen umrüsteten. Diese schnellen Fahrzeuge blieben als Spezialkonstruktionen für Rennen bis in die Gegenwart hinreichend populär, um als Jahrmarktsattraktionen dienen zu können. Die Zeitgebundenheit des Spiels mit Technik gilt nicht nur für die hier beschriebenen Bereiche, sondern ist ein Charakteristikum technischer Spielmittel. Gravierende Folgen zeitigt sie insbesondere im Wettkampfsport: Wird ein Sportgerät erfolgreich weiterentwickelt, sodass seine technische Ausgestaltung höhere Leistungen ermöglicht, so veraltet das bisher genutzte Material unter Umständen binnen einer Saison und kann nur noch für Trainingszwecke gebraucht werden. Entsprechend wird schon um 1900 in einer Anleitung zum Segelsport darauf hingewiesen, dass Rennyachten sehr schnell veralten, »denn sie sind auf der Rennbahn wertlos, sobald sie von neuen Booten überholt werden«.12 Bei Ergebnisaufzeichnungen über einen längeren Zeitraum lassen sich konstruktionstechnische Änderungen als Leistungssprünge ablesen.13 Im Freizeitsport ist die Modernität beziehungsweise das Veralten der genutzten Geräte eher an deren optische Gestaltung und damit an Moden gebunden, aber auch die Frage der technischen Ausstattung der Majorität der Sporttreibenden ist von Bedeutung. So orientiert sich die Ausschilderung von üblichen Radwegen inzwischen an Fahrrädern, deren Schaltungen mit erheblicher Untersetzung ausgelegt sind, wie dies bei Montainund Treckingbikes oder entsprechenden Rennrädern der Fall ist. Mit Tourenrädern ohne Schaltung oder solchen mit drei Gängen, wie sie bis Mitte der 1980er Jahre üblich waren, sind diese Strecken kaum bewältigbar. Ähnliches gilt für alte Skier auf Skipisten: Ohne Metallkanten wären die zu diesem Zweck angelegten,

11 | Verfilmung von 1978: Loriot, Weihnachten bei Hoppenstedts, https://www.youtube. com/watch?v=9oOGK_TKnYM (2.1.2015). 12 | Gusti, S. 158. 13 | Siehe beispielsweise D. Müller, Innovationen, S. 35f.

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erheblich genutzten und entsprechend vereisten Pisten gar nicht befahrbar; entsprechend wurden Holzski wohl bereits in den 1930er Jahren nachgerüstet.14 Bei Jahrmarktsgeschäften ist zwischen der Aktualität beziehungsweise dem Veralten der Dekoration nebst der dargestellten Technik und der Modernität beziehungsweise dem Veralten der genutzten Technik zu unterscheiden: Ersteres ist an Moden und äußere Veränderungen der Originale geknüpft; die Attraktivität der Geschäfte war und ist entsprechend mit der Modernität der Darstellung verbunden. Diese werden nicht nur von Saison zu Saison neu dekoriert, sondern auch ihr Besatz wird häufig ausgetauscht.15 Während die optische Modernisierung zur normalen Winterbeschäftigung von Schaustellern zählt, vollzieht sich ein technisches Veralten ihrer Geschäfte zwar langsamer und verlangt selten sofortiges Reagieren, ist aber mit größerem Modernisierungsaufwand verbunden. Grenzen ergeben sich hier aus Änderungen der sicherheitstechnischen Anforderungen ebenso wie aus den Neben- beziehungsweise Auf- und Abbauzeiten der Geschäfte im Vergleich zu Neuentwicklungen.16 Insbesondere bei Thrill rides ist die Kehrseite der Entwicklung neuer Fahreffekte ein Veralten der bis dahin bekannten Bewegungs- und Beschleunigungsabfolgen: Nach einigen Jahren können die älteren Geschäfte für Zeitgenossen, die inzwischen das Fahrgefühl auf der nächsten Ride-Generation kennengelernt haben, zu wenig spektakulär wirken. Bei Technischem Spielzeug ergibt sich die Modernität beziehungsweise ein Veralten ähnlich wie bei der Jahrmarktstechnologie primär durch die Aktualität der dargestellten Originale. Dies gilt auch für die modellhafte Darstellung moderner Antriebstechnologien in Form kleiner Verbrennungsmotoren um 1910, oder eines Wankelmotors für Modellflugzeuge der seit 1970 angeboten wird.17 Auf der Ebene der praktischen Techniknutzung für Antrieb und Steuerung von Spielzeug wurden zwar neue Technologien rasch eingeführt, alte technische Lösungen aber auch weiterhin angeboten, sodass beispielsweise bis in die Gegenwart eine breite Palette von Antrieben zu finden ist, deren Technik in verschiedenen Epochen entwickelt wurde: Federwerke und Gummimotoren werden nach wie vor neben 14 | W. König, Aufstiegsschweiß, S. 169f. 15 | Dering, Volksbelustigungen, S. 199ff. Poser, Vergnügliche Industrialisierung, S. 114ff. 16 | Zu Änderungen der sicherheitstechnischen Anforderungen siehe beispielsweise: DIN EN 13814 – was kommt auf die Schausteller zu? Homepages des DSB – Deutscher Schaustellerbund, www.dsbev.de/meldungen/meldungen/detail/article/2/DIN-EN-13814-Waskommt-auf-Schausteller-zu/?t x_wtgallery_pi1[cat]=1&cHash=5dfd90d235e2601e1e3 81293983c2c80 (15.11.2013). Für Schausteller ist der Aufwand für Auf- und Abbau ein wesentliches Kriterium zur Bewertung von Geschäften, weil hier regelmäßig Arbeit ohne gleichzeitigen Verdienst geleistet werden muss. 17 | Verbrennungsmotor: Bing-Spielwaren 1912, S. 56f., Reprint, S. 69f. Einen von der japanischen Firma OS gefertigten kleinen Wankelmotor bot das Modellbauunternehmen Graupner seit 1970 an. Siehe: Graupner. In: Der Wankelmotor, www.der-wankelmotor.de/ Motoren/Graupner/graupner.html (1.11.2014).

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Elektro- und Benzinmotoren für Spielzeug produziert.18 Das Veralten der genutzten Technik ist zwar als Phänomen ebenfalls feststellbar, aber vergleichsweise bedeutungslos. Denn irreparable Defekte, die zum Aussortieren eines betreffenden Artefakts führen, sind wesentlich wahrscheinlicher als ein technisches Veralten, das eine Spielzeugnutzung – beispielsweise mangels Kompatibilität mit neueren Teilen eines Systems – nicht mehr sinnvoll erscheinen lässt. Analog zum Lebenszyklus von Produkten scheinen nicht nur Artefakte und Sachsysteme von Spielen, sondern auch Spiele mit und mittels Technik selbst einen Lebenszyklus aufzuweisen. An dessen Ende werden sie trotz Rückgang oder Einstellung der Produktion zwar noch weiter gespielt, fallen aber in ihrer Bedeutung gegenüber neueren Spielen zurück. Ablesen lässt sich eine solche Entwicklung beim Rudern, das als typischer Sport der Industrialisierung in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung einbüßte, oder beim sportlichen Schwimmen, das seit den 1970er Jahren zugunsten von vielfältigen Aktivitäten in Freizeitbädern zurückging. Dasselbe gilt für das Modelleisenbahnspiel: Die kleinen Bahnen liefen vermutlich noch vor dem Zweiten Weltkrieg Dampfmaschinenmodellen den Rang ab, waren über viele Jahrzehnte das wichtigste Spielzeug für Jungen, wurden dann jedoch von Computerspielen verdrängt. Inzwischen spielen wohl primär ältere Erwachsene. Im Fall von Skootern lässt sich argumentieren, dass ihre Besitzer mit einer Angebotsmodifizierung, dem Wandel zu Musikgeschäften, den langsamen Rückgang der Bedeutung des Autofahrspiels auf dem Jahrmarkt abfingen. Bei Achterbahnen ist hingegen trotz eines Abflauens der technischen Weiterentwicklung bisher kein Ende ihrer Popularität absehbar. Aufgelöst wird die hier skizzierte Entwicklung jeweils durch gesellschaftliche Veränderungen und die Einführung neuer Spiele: Sie sind zwar wiederum in ähnlichem Grad technikbasiert, wie die bis dahin gepflegten, nehmen aber neue technische Möglichkeiten und neue gesellschaftliche Entwicklungen auf. Im Fall des Sports lässt sich argumentieren, dass das Aufkommen der Motorsportarten um 1900 und der sogenannten ›Postmodernen Sportarten‹ seit den 1970 Jahren solchen Prozessen entspringt. In diesem Kontext veränderte sich das Schwimmen mit der Einführung von Freizeitbädern frühzeitig, wobei eine Annäherung an Spielformen des Jahrmarkts stattfand. Dennoch muss sich beim Jahrmarkt, der in seinen jetzigen Strukturen auf das ausgehende 19. Jahrhundert und damit auf die Periode der Versportlichung des Sports zurückgeht, noch erweisen, ob die narrative Kontextualisierung oder auch ›Verpackung‹ des Spiels, wie sie in Themenparks stattfindet, als Modernisierung dieser Institution und ihres Spielangebots hinreicht.19 Beim Technischen Spielzeug, dessen vermehrte Verbreitung und begriffliche Einordnung ebenfalls auf das ausgehende 19. Jahrhundert verweist, 18 | Siehe hierzu Möser, Fahren und Fliegen, S. 262. 19 | Zur Tradition von Geschichten, die auf Jahrmärkten vermittelt werden, siehe Philips. Überlegungen zu Narrationen in Themenparks fasst zusammen: Goronzy; siehe insbes. ebenda, S. 206ff.

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haben sich mehrere Ablösungsprozesse vollzogen. Sie ergaben sich sowohl aus einer Modernisierung der hauptsächlich genutzten Materialien als auch aus einer Veränderung der Spielgewohnheiten. Als ein vorläufig letzter Prozess der Modernisierung und schrittweisen Ablösung älterer Spiele lässt sich der Aufstieg von Computerspielen betrachten.

2. Spielentwicklung im Raster historischer Perioden Die Zeitgebundenheit von Artefakten und Sachsystemen für Spielzwecke bedeutet, dass auch das Spiel mit diesen Gegenständen und Systemen jeweils historisch verortet werden kann: Die Zäsuren durch den Ersten und Zweiten Weltkrieg brachten erhebliche wirtschaftliche Verwerfungen für Anbieter technisierter Spiele, die sich wegen der Unterbrechung der Produktion und insbesondere der Entwicklungsarbeit während der Kriege, der anschließenden Umstellung auf ›Friedensproduktion‹ und der Bewältigung der Nachkriegs-Mangelwirtschaft auch auf Material und Ausführung der Produkte auswirkten. Ihre technische Weiterentwicklung war zunächst meist ein Aufholprozess. Gravierender für das technisierte Spiel war die Militarisierung der Gesellschaft vor und während der Kriege, die sich auf alle hier vorgestellten Bereiche des Spiels auswirkte: Paramilitärische Ausführungsformen prägten die Sportpraxis. Auf dem Jahrmarkt wurden nicht nur Schießstände entsprechend gestaltet, sondern vor und im Zweiten Weltkrieg sogenannte Wehrsportkarussells mit einem Besatz aus Militärfahrzeugen betrieben.20 Besonders deutlich war der Einfluss bei Technischem Spielzeug, das in großer Zahl als Kriegsspielzeug angeboten wurde. Während es sich hier um eine politische und militärische Instrumentalisierung des Spiels handelt, die frühzeitig Gegenstand der politischen Diskussion und der wissenschaftlichen Analyse wurde,21 sind die im Rahmen dieser Darstellung untersuchten Veränderungen in Zusammenhang mit den charakteristischen soziotechnischen Wandlungsprozessen des 19. und 20. Jahrhunderts nur teilweise intendiert und damit weniger greif bar. Deshalb sollen hier die Frühphase der Industrialisierung, die Hochindustrialisierung, sowie der Übergang zur Konsumgesellschaft und zur Freizeitgesellschaft näher

20 | Zur Militarisierung des Sports im Ersten Weltkrieg siehe beispielsweise Eisenberg, English Sports, S. 314. Zu Wehrsportkarussells im Zweiten Weltkrieg: Dering, Volksbelustigungen, S. 99. 21 | Als frühe historische Aufarbeitung siehe: Puppe, Fibel, Schießgewehr [Ausstellungkatalog 1977], sowie Retter, S. 248f. Beispielsweise sprach sich der Deutsche Bundestag 1950 für ein Verbot von Kriegsspielzeug aus, das allerdings nicht umgesetzt wurde. Debatte im Deutschen Bundestag am 23.6.1950. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. I. Wahlperiode 1949, Stenographische Berichte, 4. Bonn 1950, S. 2619ff.

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betrachtet werden,22 wobei gerade letzte zahlreiche Impulse für das Spiel mit und mittels Technik gab.

a. Frühphase der Industrialisierung Das Rudern entwickelte sich zum Sport, als es infolge der technischen Entwicklung für Transportzwecke an Bedeutung verlor; entscheidende Impulse für den Rennbootbau gingen in den 1840er Jahren von Bootsbauern und Ruderern einer prosperierenden Industrieregion an der Tyne aus. So erfolgte die Ausprägung des sportlichen Ruderns in seiner im Prinzip bis heute praktizierten Form im Wesentlichen während der Frühzeit der Industrialisierung. In derselben Periode entstanden die ersten neuzeitlichen Schwimmhallen, die Schwimmen und Baden unter Einsatz technischer Sachsysteme ortsunabhängig von Gewässern ermöglichten. Dort, wo dieses Freizeitangebot mangelnder Hygiene und unzureichenden sanitären Einrichtungen in Privathäusern der zunehmend dichter besiedelten Städte abhelfen sollte, wird der Bezug zu Industrialisierung und Stadtwachstum deutlich. Mit der Einführung von Loopingbahnen entstand bereits in den 1840er Jahren die erste Jahrmarktsattraktion, für die mit Eisen das Material der Indus­ trialisierung genutzt wurde und ingenieurmäßiges Konstruieren notwendig war; im Zuge der Hochindustrialisierung sollte die Zahl der Ingenieurkons­truktionen auf dem Jahrmarkt erheblich zunehmen. In den 1820er Jahren kamen in England Eisenbahnmodelle aus Pappe auf, die als Anschauungsobjekte und vielleicht als Spielzeug dienten; die ersten funktionsfähigen Modelldampflokomotiven wurden etwa ab 1840 vertrieben. Gleichzeitig lassen sich – sieht man von der Pionierrolle der Catch me who Can ab – Dampfzüge als Jahrmarktsattraktion nachweisen. Gerade das Beispiel der Eisenbahn macht deutlich, wie eng das technisierte Spiel mit der Industrialisierung und ihren Leittechnologien gekoppelt ist.

b. Hochindustrialisierung In der Hochindustrialisierung war das Rudern sozusagen zu seiner Hochform aufgelaufen: Die Bootskonstruktion ist nach der Einführung von Gleit- beziehungsweise Rollsitzen und Drehdollen in den 1870er und frühen 1880er Jahren ausgereift und sollte sich nur noch geringfügig verändern; gleichzeitig dürfte sich die Popularität dieser Sportart, die 1900 zu einer olympischen Disziplin wurde, auf ihrem Höhepunkt befunden haben. Der gleichmäßige und gleichgetaktete Bewe22 | Während über die Zeitabschnitte der Früh- und Hochindustrialisierung im Wesentlichen Einigkeit herrscht, wird der Beginn der Konsumgesellschaft von Historikern sehr unterschiedlich datiert. Für die folgende Strukturierung ist ihr Beginn für Westeuropa in den 1950er Jahren angesetzt; siehe dazu König, Konsumgesellschaft, S. 27ff. sowie M. Schramm, Konsumgeschichte, Version 2.0. Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012, http:// docupedia.de/zg/Konsumgeschichte_Version_2.0_Manuel_Schramm (20.1.2014). Zur Freizeitgesellschaft siehe beispielsweise Dumazedier. Sowie A. Timm, Verlust der Muße. Zur Geschichte der Freizeitgesellschaft. Buchholz, Hamburg 1968.

E. Spiel mit Technik

gungsablauf im Ruderboot scheint eine Maschine deutlicher zu verkörpern als jede andere Sportart. So verwundert es nicht, dass sich positiv konnotierte Maschinenvergleiche in Publikationen zum Rudertraining als charakteristisch für die technikaffirmative Phase der Hochindustrialisierung erweisen, während bereits Autoren der 1920er Jahre bemerken, dass (rudernde) Menschen eben keine Maschinen sind. In Deutschland erlebte das Schwimmen durch den Bau großer kommunaler Bäder in der Kaiserzeit eine erste Hochphase, die auf technischer Ebene durch zunehmend komplexere Systeme zum Wassertausch, zur Wassererwärmung und später zur Filtration gekennzeichnet ist. Als zeitgenössische Spiele sind sowohl das Baden und Planschen als auch das Sportschwimmen zu nennen, das in den 1920er Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnen sollte: Es fand sozusagen eine ›Versportlichung der Schwimmbäder‹ statt, die mit standardisierten Beckengrößen, Startblöcken, Sprunggerüsten und Bahnenmarkierung im Beckenboden für sportliche Wettkämpfe und sportliches Schwimmen optimiert wurden. Die Phase der sportgerechten Bädergestaltung sollte von den 1920er bis in die 1970er Jahre andauern und das Schwimmen in diesen Bädern prägen. Ähnlich dem Rudern in Rennbooten – wenn auch in geringerem Maße – wurde das sportliche Schwimmen durch die Beckengestaltung zwar nicht erzwungen, aber gegenüber anderen Spielvarianten im Wasser gefördert. Neben Spiel und Sport war eine wichtige Funktion von Bädern nicht nur im Kaiserreich, sondern kriegsbedingt auch noch in den 1950er Jahren, Räumlichkeiten zur Körperreinigung zu bieten. Zu Beginn der Hochindustrialisierung begannen Fahrgeschäfte das Jahrmarktsangebot zu dominieren, und die bis heute charakteristischen Strukturen dieser Institution prägten sich aus. Mit der Nutzung von Dampfmaschinen und Elektromotoren standen nun ganz andere Leistungsreserven zur Verfügung als bei traditionellen, mit Muskelkraft oder durch Tiere betriebenen Karussells. Die riesigen Maschinerien des Vergnügens waren derartig beeindruckend, dass sie in der zeitgenössischen wissenschaftlichen und belletristischen Literatur rezipiert wurden. Die Autoren hoben Schwindel wie Sinnesrausch hervor und stellten sie meist als Negativum dar. So schrieb der Schriftsteller Fedor von Zobeltitz um 1910, diese Vergnügungen »scheinen nur dazu erfunden und geschaffen zu sein, um Übelkeiten in uns zu erzeugen: künstliche Seekrankheit, Schwindel, Blutleere im Hirn, Halluzinationen, Gliederkribbeln, und ein Vorgefühl der Verrücktheit, das sich schließlich in wahnsinnigem Kreischen äußert«.23 Erst etwa ein halbes Jahrhundert später sollte Roger Caillois diese Wahrnehmungen positiv deuten: als Suche nach dem berauschenden Spiel ilinx. Bezogen auf Thrill rides fällt die Entwicklung der frühen Achterbahnen in Form sogenannter Scenic Railways in die Hochindustrialisierung; damit entstand ein Fahrgeschäft, das im 20. Jahrhundert

23 | F. v. Zobeltitz, Ich hab so gern gelebt. Die Lebenserinnerungen von Fedor von Zobeltitz. Berlin 1934, S. 168. Die Passage gilt einem Besuch des Berliner Lunaparks in Halensee und entstand wohl 1910.

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nicht nur zum Inbegriff des Jahrmarkts werden sollte, sondern in verschiedenen Zusammenhängen zu einem Symbol des modernen Lebens avancierte. Der Begriff ›Technisches Spielzeug‹ etablierte sich während der Hochindustrialisierung und wurde zunächst primär auf Modelle der neuen Mobilitätsmaschinen sowie insbesondere von Dampfmaschinen bezogen. Die fabrikmäßige, serielle Herstellung von Blechspielzeug gewann in dieser Zeit an Bedeutung und sollte Spielwaren bis in die 1960er Jahre hinein prägen. Im Fall von Eisenbahnspielzeug fällt die Genese des Systemspielzeugs Eisenbahn mit rollendem Material, Gleisen und Zubehör in die Hochindustrialisierung, und damit in eine Epoche, die durch den verstärkten Auf bau von komplexen technischen Versorgungssystemen wie den städtischen Stromnetzen gekennzeichnet ist. Auch die Einführung von Modellbahn-Elektromotoren, die später zum üblichen Antrieb werden sollten, erfolgte in dieser Zeit. Damit gehörten Modelleisenbahnen zu den frühen Verbrauchern von Haushalts-›Kraftstrom‹.24 Nun waren die wichtigsten technischen Charakteristika von Modelleisenbahnen gegeben; sie ermöglichten die Ausprägung spezifischer Spiele. Zudem fallen erste Ansätze zur Miniaturisierung in die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg, komplette Tischanlagen sollten jedoch erst zwanzig Jahre später entstehen und sich nach dem Zweiten Weltkrieg durchsetzen.

c. Konsumgesellschaft und Freizeitgesellschaft Die Entwicklung der Konsumgesellschaft und der Freizeitgesellschaft hatte beträchtlichen Einfluss auf das Spiel. Er erstreckte sich ebenso auf die Produktion und äußere Gestalt von Artefakten und Sachsystemen des Spiels wie auf deren Verbreitung und die Entwicklung neuer Spiele. Das gestiegene Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung führte in Kombination mit sinkenden Arbeitszeiten etwa seit den 1970er Jahren zu einem verstärkten Interesse an der Freizeitgestaltung, die mehr und mehr ein Feld des Konsums wurde. Als scheinbare Gegenwelt zum Alltag und gleichzeitig als Ort des Einübens von Konsummustern profitierte der Jahrmarkt frühzeitig von dieser Entwicklung; höhere Gewinne erlaubten den Schaustellern Investitionen in neue Geschäfte und damit die Schaffung neuer Spielangebote, von denen Thrill rides die spektakulärsten sind: Für Achterbahntrassen entstanden neuartige, zum Teil erst durch Computereinsatz berechenbare Raumkurven, die spektakuläre Fahreffekte wie den Korkenzieher oder neue Loopings ermöglichen. Auch der Freizeitsport weitete sich quantitativ wie qualitativ erheblich aus, und zahlreiche neue Sportarten entstanden. Dies gilt analog auch für Spielzeug.

24 | Einen Überblick – noch ohne Nennung der Bahnen – gibt ein Referent des Berliner VDI 1895: Sitzungsberichte der Bezirksvereine. Berliner Bezirksverein [Vortrag Hartmann: Verwendung des elektrischen Stromes zu Koch- und Heizzwecken in der Industrie und im Haushalt]. In: Zeitschrift des Vereines deutscher Ingenieure, 39 (1895), S. 1443f. Der Referent war Ingenieur bei der AEG.

E. Spiel mit Technik

Die entscheidende Materialgruppe, die die Entwicklung der Konsumgesellschaft in Europa begleitete, die Kunststoffe, revolutionierten auch die Artefakte des Spiels.25 Beginnend mit Spielzeug breiteten sich Kunststoffe über den Bereich des Spiels mit und mittels Technik aus. Diese Entwicklung betraf beispielsweise Modelleisenbahnen: Aufgrund ihrer guten Formbarkeit sind Kunststoffe als Materialien sowohl für die Bahnen selbst als auch für das Zubehör geeignet. Zahlreiche Hersteller nahmen Lokomotiven und Wagen aus Kunststoff in ihr Programm; Bausätze für Häuser bestanden bald gänzlich aus Kunststoff, hinzu kamen Bäume, Sträucher und Kunststoff-Felsen, sodass Modellbahnen spätestens in den 1960er Jahren weitgehend zu Miniaturplastikwelten mutierten. Während die Bedeutung von Kunststoffen für Spielzeug in erster Linie in einer Senkung der Produktionskosten lag, die wegen der niedrigeren Endpreise zu einer größeren Verbreitung der betreffenden Artefakte führte, war für den Jahrmarkt und insbesondere für den Sport ihr geringes Gewicht von Bedeutung; hinzu kam gerade beim Jahrmarkt die Witterungsbeständigkeit. Als Dekoration und Wandbespannung ermöglichen Kunststoffe größere Einzelelemente in Kombination mit wesentlich leichteren Konstruktionen der Fliegenden Bauten und reduzierten dadurch die Transport- und Montagekosten. Im Wassersport reduzierten GFK-Rümpfe die Kosten gegenüber Holzbooten so sehr, dass sie binnen weniger Jahre den Bau von Freizeitbooten dominierten.26 GFK war und ist jedoch für Rennruderboote zu schwer, sodass daraus trotz entsprechender Versuche lediglich günstige Trainingsund Wanderboote entstanden. Im Rennbootbau führte erst der Einsatz von Karbonfaserverbundwerkstoffen dazu, dass die Holzbauweise verschwand. Bautechnisch bedeutete dies eine gravierende Veränderung des Herstellungsprozesses und eine Anpassung der Konstruktion, für das Rudern eine weitere Geschwindigkeitssteigerung. Damit wurden die neuen Materialien der Konsumgesellschaft für das Rudern eingesetzt, um die langjährige Entwicklungsrichtung der Konzentration auf den geschwindigkeitsorientierten Wettkampf fortzuschreiben. Ganz anders war die Reaktion auf die Entwicklung der Freizeitgesellschaft im Fall der Bäderplanung: Bereits um 1970 diskutierten Badefachleute über das mit der zunehmenden Freizeit entstehende sogenannte ›Freizeitproblem‹ und versuchten, Schwimmbäder vielseitiger nutzbar zu machen.27 Sie nahmen damit eine Vorreiterrolle bei der freizeitgesellschaftsadäquaten Gestaltung von Spielangeboten ein. Während in den späten 1960er Jahren Konzepte entwickelt wurden, 25 | Zur kulturhistorischen Bedeutung von Kunststoffen siehe J. L. Meikle, American Plastic. A cultural history. New Brunswick 1995. Aus technischer Perspektive siehe D. Braun, Kleine Geschichte der Kunststoffe. München 2013. 26 | J. C. Williams, Sailing as Play. In: Braun/Poser, S. 132-192, S. 158ff. 27 | Siehe beispielsweise Dumazedier, der sich dem Thema Freizeitgesellschaft aus soziologischer Perspektive sehr früh widmete, oder C. Jenkins, B. Sherman, The Leisure Shock, London 1981. Sowie: Bäder als Mittelpunkt von Freizeitzentren. Weltbäderkongreß DSV/ IAB, Sindelfingen 1970. In: Sport- und Bäderbauten, 10 (1970), S. 153-162.

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um den Besuchern Freiräume für eigene Spielideen zu gewähren, setzte sich seit 1970 mit den Freizeitbädern ein Modell durch, das die Bäder zu Orten des Konsums machte und mit zahlreichen neuen, alternativ für kurze Zeit wähl- und konsumierbaren Spielangeboten im und um das Wasser zu einer Annäherung an das Angebot des Jahrmarkts führte. Charakteristisch hierfür sind sowohl die zahlreichen Wasserrutschen, die eine neue, Thrill rides entsprechende Badeattraktion wurden, als auch das Angebot technikbasierter Wassersportarten wie Surfen in speziellen Becken. Das Indoor-Surfen vermittelte einen Eindruck dieses Sports und weckte so vielleicht Interesse daran – vergleichbar einer Jahrmarktsattraktion. Zu diesem breiten Spiel- und Vergnügungsangebot passt die Idee, das traditionelle Ruderspiel des Fischerstechens in beheizten Bädern durchzuführen.28 Ein Phänomen, das zeitlich in die Ausbildung der Freizeitgesellschaft fällt, aber mit der Techniksättigung der Gesellschaft im späten 20. Jahrhundert zusammenhängt, wurde am Beispiel von Skootern deutlich, der Bedeutungsrückgang konventioneller Technik in der öffentlichen Wahrnehmung: In den 1990er Jahren gewann die Verquickung von Musik, technisch generierter Bewegung und Kommunikation in einer discothekähnlichen Atmosphäre für Autoskooterbesucher so sehr an Bedeutung, dass die Schausteller zugunsten eines jahrmarktspezifischen Designs auf die seit den 1930er Jahren etablierte Darstellung von jeweils modernen Autos verzichteten. Auch die Bedeutung von Modelleisenbahnen ging langsam zurück, wobei der Bedeutungsverlust der Eisenbahn als Verkehrsträger sicherlich hierzu beitrug, sodass die Jahrzehnte seit etwa 1965 bereits als Nachlaufphase des Modellbahnspiels gedeutet werden können. Entscheidend, ja einschneidend für die Geschichte der kleinen Bahnen war jedoch in erster Linie das Aufkommen von Computerspielen, die sie als wichtigstes Spielutensil ablösten.

3. Generationsspezifische und generationsformende Spiele Joseph Wachelder wirft am Beispiel des optischen Spielzeugs im 18. und frühen 19. Jahrhundert die Frage auf, ob Spielzeug generationsformend ist.29 Im Folgenden soll untersucht werden, in wie weit sein Befund verallgemeinert und auf das gesamte Spiel mit und mittels Technik bezogen werden kann. Das sportliche Rudern nimmt Rudernde in erheblichem Maße in Anspruch und prägt sie mutmaßlich über die sportliche Tätigkeit hinaus. Der zum Teil erbittert geführte Diskurs um die Einführung des Neuen Ruderns in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren zeigt, dass das Rudern nicht nur ein funktio28 | Beispielsweise wird 2008 ein Fischerstechen in einem Rüdesheimer Freibad angekündigt; auf dem Werbeplakat wird hervorgehoben, dass das Wasser beheizt sei. Siehe das Plakat RFC-Gaudi Fischerstechen, www.ruedesheim-nahe.de/wp/?p=81 (29.11.2013). 29 | Wachelder, Toys as Mediators, S. 135ff. Zum Generationsbegriff sei verwiesen auf den grundlegenden Aufsatz von K. Mannheim, Das Problem der Generationen. In: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie, 7 (1928), S. 157-185, S. 309-330.

E. Spiel mit Technik

naler Handlungsablauf war, der nun zur Nutzung einer technischen Neuerung, des Rollsitzes, optimiert wurde, sondern die kulturelle Identität der Akteure tangierte, weil hier Vorstellungen über Ästhetik, Erziehung und eigenes Auftreten zur Disposition standen. Vor diesem Hintergrund ist in Anbetracht der großen Popularität des Ruderns im Vergleich vorher/nachher eine generationsformende Wirkung des Ruderns anzunehmen. Da das Neue Rudern einen natürlichen, weniger anstrengenden Bewegungsablauf mit einer verbesserten Anpassung der Rudernden an die technischen Gegebenheiten des Bootes verband, führte es zu einem sensibleren Reagieren auf das Boot, zu einer Intensivierung eines körperbezogenen Nahverhältnisses von Mensch und Technik. Zahlreiche Trainer und Ruderende im Breitensport, die das Rudern vor Einführung des neuen Stils erlernt hatten, dürften dennoch ihre alte Fahrweise, den sogenannten orthodoxen Stil, beibehalten haben, sodass er etwa für die folgenden zwei Jahrzehnte zu einem generationsspezifischen Ruderstil älterer Ruderer wurde. Eine der Einführung des Natürlichen Ruderns vergleichbare Umbruchsituation lässt sich beim Schwimmen in Zusammenhang mit dem Aufkommen von Freizeitbädern um 1970 nachzeichnen: Hatte über etwa fünf Jahrzehnte das sportliche Schwimmen im Mittelpunkt der Bäderplanung gestanden, so wurde es nun vom Erlebnisangebot ›Wasser‹ abgelöst. Zugunsten des Planschens und neuer Erfahrungen im Umgang mit Wasser wurde bei einigen Ausführungen sogar auf Angebote für Sportschwimmer verzichtet. Der Hintergrund war gleichsam eine Abstimmung mit den Füßen: die Besucherzahl traditioneller Bäder sank, während die neuen Freizeitbäder eine Boomphase erlebten. Infolgedessen und infolge knapper öffentlicher Kassen wurde die bauliche Förderung des sportlichen Schwimmens, die unter dem Stichwort ›Goldener Plan‹ in den letzten Jahrzehnten den Bäderbau bestimmt hatte, eingestellt. Die zeitgenössische Beschreibung der Umorientierung als Übergang vom ›aktiven zum passiven Schwimmen‹30 macht deutlich, dass sich hier neue Gepflogenheiten des Umgangs mit dem Wasser etablierten. Sie zeichneten sich durch ein Mehr an Techniknutzung aus und hatten eine erhebliche Reichweite, weil freizeitspaßorientierte Um- und Neubauten einen hohen Prozentsatz des gesamten Bäderangebots betrafen. Zudem entsprach die neue Form des Spiels im und um das Wasser einer zunehmend konsumorientierten Freizeitgestaltung, sodass auch beim Schwimmen vor und nach 1970 das Phänomen eines generationsformenden und vermutlich ebenfalls eines generationsspezifischen spielerischen Umgangs mit dem Wasser zu erwarten ist. Im Fall von Thrill rides war die Kontinuität des technisierten Spiels trotz beachtlicher technischer Entwicklungen, die die Qualität der Bewegungserlebnisse bei der Fahrt veränderten, so groß, dass sich keine umbruchhaften Entwicklungen nachweisen lassen, die Anlass für generationsspezifisch unterschiedliche Spiele geboten hätten. Die Einführung des Selbstfahrens auf dem Jahrmarkt in den frühen 1920er Jahren lässt sich hingegen in diesem Sinne deuten: Hier wurde vor dem 30 | Althaus/Pacik, S. 88.

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Hintergrund der zunehmenden Verbreitung von Autos und deren hohem gesellschaftlichen Prestige ein Bedürfnis nach individuellem Fahren befriedigt, das vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht in dieser Intensität bestand. Dem entspricht, dass die Entwicklung von Skootern in den USA zu Beginn der dortigen Massenmotorisierung erfolgte und die Technologie nach Europa importiert wurde. Auf beiden Kontinenten gewährte sie gemeinsam mit etwa zeitgleich entstehenden kleinen Autobahnen in einem positiv konnotierten Kontext erste, flüchtige Erfahrungen mit Automobilen beziehungsweise vergleichbaren Fahrzeugen. In Deutschland waren solche Fahrerlebnisse von den 1920er bis in die frühen 1960er Jahre vor dem Hintergrund der zunehmenden Motorisierung in der Zwischenkriegszeit und der beginnenden Massenmotorisierung in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre bedeutsam, in den folgenden Jahrzehnten erwiesen sich diese Fahrgeschäfte weiterhin für Kinder und Jugendliche als attraktiv. Ähnlich den Thrill rides wurde die Kontinuität des Spiels nach deren Einführung auch bei Skootern und kleinen Autobahnen zu groß, um es zu umbruchhaften Veränderungen kommen zu lassen. Ein generationsspezifischer Unterschied in der Art und Weise des technisierten Spiels lässt sich jedoch zwischen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und den Jahrzehnten danach ausmachen: Die Zeit bis 1914 war einerseits durch frühe Thrill rides und ihr Angebot des technikbasierten Rauschs geprägt, andererseits durch relativ harmlose Karussells mit Besatz zunehmend mobilitätstechnischen Inhalts. Letztere boten zwar äußeren Anlass zu mimicry, aber ohne den Kern des Rollenspiels mit individueller Mobilitätstechnik, das selbständige Fahren, zu ermöglichen. So kam mit den Selbstfahrern eine völlig neue Form des Autofahrspiels auf, das der nun folgenden Generation der Jahrmarktsbesucher – nach ersten, anders gelagerten Anfängen – neue Technikerlebnisse des Selbsthandelns und der Beherrschbarkeit von Mobilitätstechnik vermittelte. Sie sind in ihrer Bedeutung für den Umgang mit Autos nicht zu unterschätzen. Im Zuge des Wandlungsprozesses von Modellbahnen kam es häufiger zu Veränderungen, deren Resultate sich als generationsspezifisch und generationsformend deuten lassen: Als wichtigste Ereignisse sind hier die Genese des technischen Sachsystems Modelleisenbahn im ausgehenden 19. Jahrhundert und die Einführung von sogenannten Tischbahnen in den 1930er Jahren zu nennen, die auf Modelleisenbahnplatten fuhren. Letzte waren die Grundlage der enormen Popularität, die Modelleisenbahnen in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs genossen. In beiden Fällen veränderte sich das Spiel mit den Bahnen so sehr, dass generationsspezifische Spielformen vor und nach der Einführung dieser neuen Technik zu unterscheiden sind: Entsprach das Spiel mit sogenannten Bodenläufern, die keine Schienen und keinerlei weiteres Equipment aufwiesen, im Prinzip dem Spiel mit anderen Fahrzeugmodellen, so bedeutete der Auf bau des technischen Spielzeug-Sachsystems die Entwicklung eines spezifischen Eisenbahnspiels, das vom Betriebsablauf der großen Bahnen inspiriert wurde. Die permanent aufgebauten Tischanlagen ermöglichten wegen des kleinen Maßstabs den Bau größerer, komplexer Anlagen, die auf optischer Ebene trotz

E. Spiel mit Technik

modelleisenbahncharakteristischer Verzerrungen eine erstaunliche Nähe zu ihren Vorbildern aufweisen. Solche Anlagen sollten Kinder (primär Jungen) und Jugendliche der Nachkriegszeit so sehr in den Bann ziehen, dass zahlreiche Erwachsene das Spiel später wieder aufnahmen. Dafür dürfte das Erlebnis originaler Dampflokomotiven bedeutsam gewesen sein: Nach der Ausmusterung der letzten Dampfloks bei den meisten europäischen Bahnverwaltungen in den 1960er und 1970er Jahren waren die Lokomotiven, von denen auch auf Modelleisenbahnen die meiste Faszination ausging, für Kinder nur noch selten erlebbar, für erwachsene Eisenbahnfans jedoch fester Bestandteil einer stark ausgeprägten Erinnerungskultur. Entsprechend bevorzugten Jüngere Computerspiele, sodass hier generationsspezifische und generationsformende Entwicklungen vorliegen, die im Fall des Modellbahnspiels auf einen bevorstehenden Abschluss seines Lebenszyklus hinwiesen. Den hier näher untersuchten Spielen lässt sich zwar nicht attestieren, dass sie generell generationsspezifisch und generationsformend sind, aber gemeinsam ist ihnen, dass es immer wieder zu Umbrüchen kam, die zu generationsspezifischen, in einigen Fällen auch generationsformenden Spielweisen führten. Besonders ausgeprägt ist dies bei Technischem Spielzeug, doch auch im Sport und bei der spielerisch-vergnüglichen Nutzung von Jahrmarktsattraktionen lässt sich das Phänomen nachweisen.

4. Technische Entwicklungen für Spielzwecke Für Spielzwecke wurden sowohl vorhandene Technologien genutzt und gegebenenfalls adaptiert, als auch eigenständige Entwicklungen vorangetrieben. Sie wurden frühzeitig durch Patente abgesichert; die betreffenden Inventionen waren also hinreichend eigenständig und weitreichend, um patentwürdig zu sein. Die Vielzahl der Patentschriften seit etwa den 1880er Jahren belegt dabei, dass Technikentwicklungen für das Spiel zunehmend auch ökonomische Bedeutung erlangten. Technologietransfers, die sowohl Artefakten und Systemen des Spiels zugute kamen, als auch von Spielen ausgingen, verweisen auf die technologische Anschlussfähigkeit der Technik für das Spiel. Für das sportliche Rudern wurde eine veraltete Transporttechnik aufgegriffen, aber in einem solchen Maß weiterentwickelt, dass aufwendige, filigrane Hightech-Produkte aus Leichtbaumaterialien entstanden, die kaum noch mit den ursprünglichen Booten vergleichbar sind. Das Ziel der »Erreichung möglichster Schnelligkeit im Fahren … hat den Bootsbau [von Ruderbooten] in einer Weise beeinflußt, daß schließlich nur noch ein Zerrbild eines Fahrzeugs übrig blieb: lange, ganz schmale Dinger, mit Wänden so dünn wie Cigarrenkistchen, in die der Ruderer nur mit Mühe hineinsteigen kann. … Mit einem solchen Fahrzeug wäre man im Nothfall nicht einmal im Stande, einen ertrinkenden Menschen zu retten; sie sind eben zu nichts nütze, als nur zum Schnellfahren«

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heißt es beispielsweise 1886 in der Deutschen Turnerzeitung.31 Die Konstruktion der Boote war in den 1910er Jahren sogar für den Flugzeugbau interessant, der eine Dekade später zur modernsten zeitgenössischen Verkehrstechnik avancierte. Zudem boten Rennruderboote Möglichkeiten zur Erprobung neuer Materialien wie spezialimprägniertem Papier, Aluminium oder Kunststoffverbundwerkstoffen. Das technische Sachsystem Schwimmbad ermöglichte Schwimmen und Baden unabhängig von natürlichen Gegebenheiten; dafür entstanden besondere architektonische Lösungen sowie spezielle Systeme zur Wasserversorgung, Erwärmung und Auf bereitung. Aufgrund der hohen Kosten für die Wassererwärmung diskutierten Badefachleute frühzeitig Fragen der Energieeffizienz, und die Bäder wurden in dieser Hinsicht optimiert: Schon zwischen 1900 und 1914 nutzte man Kühlwasser und Abwärme zur Wassererwärmung; hierzu baute man bereits Wärmetauscher. Die Konstrukteure suchten nicht nur aus hygienischen Gründen, sondern auch zur Kosteneinsparung den Frisch- beziehungsweise Warmwasserbedarf durch Reinigung und Weiternutzung des vorhandenen Badewassers zu reduzieren, wobei wesentliche Schritte in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts unternommen wurden. Schon in den späten 1960er Jahren, und damit vor der Ölkrise, experimentierten Fachleute für Bäderbau mit Wärmepumpen. Aufgrund des hohen Energiebedarfs kam Bädern bei technischen Maßnahmen zur Energieeinsparung vermutlich eine Pionierfunktion zu. Ergänzt wurden die technischen Systeme zum Bäderbetrieb durch Anlagen, die direkt dem Spielangebot an die Besucher dienen, wie die bereits im 19. Jahrhundert aufgekommenen Wellenmaschinen, Gegenstromanlagen zum Schwimmen, aber auch zum In-door-Surfen, die in den 1970er Jahren entwickelt wurden, oder Großrutschen. Diese Spezialentwicklungen boten neue Dimensionen des Spiels mit und im Wasser. Während für die Konstruktion von Wellenbädern um 1900 vermutlich Anleihen aus der Medizintechnik genommen wurden, spricht bei Gegenstromanlagen vieles für eine schwimmbadspezifische Technologieentwicklung. Rutschanlagen nahmen nicht nur Spielangebote, sondern auch technische Lösungen von Roller Coasters auf – wobei in beiden Fällen eigenständige Produkte entstanden. Künstliche ›Rutschberge‹ erlangten schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts beachtliche Dimensionen. Mit Türmen und angeschlossenen Schrägen als Rutschbahnen sowie Strecken zur Rückführung der Wagen entstand ein neuer Gebäudetypus; zum Betrieb der Anlagen wurde zum Teil aufwendige Technik eingesetzt. Insbesondere sind in diesem Kontext die Pariser Promenades Aériennes von 1817 zu nennen, eine große doppelläufige Anlage, die eine kontinuierliche Fahrt ermöglichte. Bei Loopingbahnen, die unter dem Namen Centrifugal-Eisenbahnen bekannt wurden, 31 | F. A. Schmidt, Sport und Leibesübungen. In: Deutsche Turnzeitung. Blätter für die Angelegenheiten des gesamten Turnwesens, 4 (1886), zitiert nach O. Grupe, Was ist das Besondere am Rudern? Erfahrungsmöglichkeiten im Rudersport. In: Fritsch/Lenk/Nolte, S. 122-131, S. 124.

E. Spiel mit Technik

sowie bei Scenic Railways ist bereits die Namensgebung ein Hinweis auf ihr technisches Referenzsystem. Allerdings war ihre Konstruktion mit neuen systemspezifischen Problemen verbunden, wie die experimentelle Suche nach geeigneten Rädern für die Wagen der Rutschbahn auf der Pfaueninsel bei Berlin deutlich macht. Mit steigenden Geschwindigkeiten gewannen Sicherheitseinrichtungen zunehmende Bedeutung. Sie wurden teils vom Eisenbahnwesen übernommen, teils entstanden jedoch eigene, spezifische Konstruktionen: Ein frühes Beispiel hierfür ist das 1919 entwickelte Gegenrad von Achterbahnchaisen, das unter der Schiene angebracht wurde. Es machte die Fahrt einerseits sicherer und ermöglichte andererseits in Verbindung mit Insassenrückhaltesystemen ein neues Erlebnis: das als Airtime bezeichnete kurzfristige Abheben von den Sitzen. Eine weitere achterbahnspezifische Entwicklung, die ebenso wie das Gegenrad inzwischen Standard ist, galt Bremsen mit Bremsschwert: diese Bremsen sind nicht am Fahrzeug befestigt, sondern an bestimmten Stellen in die Trasse integriert und üben ihre Bremswirkung auf stabile Metallbänder aus, die in Längsrichtung unter den Chaisen angebracht sind. Die Bewältigung hoher Fliehkräfte erforderte – beginnend mit Loopingbahnen in den 1840er Jahren – spezifische Ingenieurkonstruktionen mit einer eigenen, auf den Trassenverlauf zugeschnittenen Formgebung sowie eine entsprechende Dimensionierung der Wagen und ihrer Bremssysteme. Während Kleinfahrzeuge für Jahrmarktsautobahnen unter Konstruktionsvereinfachung in Anlehnung an vorhandene Fahrzeuge gebaut wurden und damit meist technisch wenig Eigenständiges boten, entstanden mit Skootern Spezialfahrzeuge, die nur innerhalb eines für sie entwickelten Sachsystems, der Skooterhalle, einsetzbar waren, sodass ihre Technikentwicklung eigenständig erfolgte. Sowohl die Steuerungs- und Antriebseinheit der Fahrzeuge als auch die Gesamtkonzeption von Skootern mit ihrer Energieversorgung durch geerdete Bodenplatten und ein Stromnetz an der Decke sind Spezialkonstruktionen. Modelleisenbahnen scheinen zwar ihren großen Vorbildern abgeformt, doch gilt dies für die äußere Gestaltung. Bereits die Materialwahl und die Komplexität der Chassis differieren erheblich. Auch der Antrieb der Lokomotiven, die Kupplungen sowie die Schalt- und Regelungstechnik der Anlagen weisen keine technischen Gemeinsamkeiten von Originalen und Modellen auf. Selbst bei echten kleinen Modellbahn-Dampflokomotiven muss die Konstruktion anders dimensioniert werden als bei großen; zudem wird mit Spiritus oder Gas ein spezieller Brennstoff genutzt. Entsprechend ging die Entwicklung einer veralteten Technik, des Dampfantriebs, zu Spielzwecken weiter. Ein Beispiel hierfür ist die Optimierung der Zylinderwände durch eine Teflonbeschichtung, die deren Schmierung weitgehend überflüssig macht. Gerade dieses Phänomen unterstreicht die Eigenständigkeit der technischen Entwicklung von Modelleisenbahnen. Am anschaulichsten wird die modellbahnspezifische Konstruktion dieses technischen Sachsystems bei der unterschiedlichen Anwendung des Magnetismus: Während bei (originalen) Magnetschwebebahnen Magnetfelder genutzt sind, um den Reibungswiderstand aufzuheben und die Fahrzeuge anzutreiben, werden Magnete

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für die derzeit kleinsten Bahnen im Maßstab 1:440 eingesetzt, um die Reibung zu erhöhen: Wegen ihrer geringen Größe sind die Züge so leicht und haben eine so filigrane Spurführung, dass die Adhäsionskraft verstärkt werden muss. In einer Gesamtschau bietet das Spiel mit und mittels Technik sowohl den Rahmen für spezifische Weiterentwicklungen veralteter Technik – man denke an Sportruderboote seit den 1840er Jahren oder Spielzeugdampfmaschinen seit den 1950er Jahren – als auch für moderne Technologien wie den Automobil- und Flugsport um 1900, die Filtrations- und Heizanlagen von Schwimmbädern oder Computerspiele seit den späten 1970er Jahren. Das Spiel – und hier insbesondere der Sport – gewährt dabei Möglichkeiten zur Erprobung neuer Technologien und Materialien, die später in anderen Funktionszusammenhängen eingesetzt werden können. Bei moderner Technik zum Spiel gilt dies sowohl für die Antriebstechnik als auch für die Materialien, bei der Nutzung veralteter Technologien beziehen sich die Erprobungsmöglichkeiten primär auf Materialien, aber auch auf technische Zusatzgeräte.

5. Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Spiele Die Bandbreite der hier untersuchten Spiele mit und mittels Technik reicht von vereinsmäßig organisierten Gruppenaktivitäten im Falle des Ruderns über individuell geplante Einzel- oder Familienunternehmungen oder Treffen im Freundeskreis beim Schwimmbadbesuch und dem Konsum von Kurzspielangeboten auf dem Jahrmarkt bis zum zeitintensiven solitären Spiel an der eigenen Modelleisenbahn.32 Sowohl die Zeitdauer der einzelnen Spiele als auch die sozialen Konstellationen, unter denen sie stattfanden und -finden, erweisen sich als außerordentlich vielfältig. Ähnliches gilt für ihren Einzugsbereich: Der Zuschauersport und der Jahrmarkt mobilisierten eine große Zahl von Besuchern, sodass sich ungeachtet der verschiedenen Form der Einbindung in das Spielgeschehen von einer Breitenwirkung der betreffenden Spiele mit Technik sprechen lässt.33 Das aktive Sporttreiben bezog und bezieht sich hingegen auf einen kleinen, wenn auch erheblich wachsenden Personenkreis. Das Spiel mit Technischem Spielzeug erlangte in Abhängigkeit vom gewählten Spielmittel unterschiedliche Verbreitung, die sich zudem im Laufe der Zeit in Abhängigkeit von der Popularität der dargestellten Technik veränderte. Dennoch weisen Spiele mit Technik strukturelle Gemeinsamkeiten auf, die über ihren engen Bezug zur Technik hinausgehen. Gemeinsam sind den vorgestellten Spielen zunächst technikinduzierte oder technikgenerierte Bewegungen, die sie in besonderer Form prägten: Gegenüber der alleinigen Nutzung von menschlicher 32 | Die hier gegebene Einordnung bezieht sich auf charakteristische Rahmenbedingungen der einzelnen Spiele; auch andere Konstellationen, wie beispielsweise das vereinsmäßig organisierte Modellbahnspiel auf einer gemeinsamen Anlage oder das individuelle Rudern im vereinseigenen oder privaten Einer, sind denkbar. 33 | Siehe dazu Möser, Fahren und Fliegen, S. 241.

E. Spiel mit Technik

und tierischer Energie wuchsen durch Technikeinsatz sowohl die verfügbare Antriebsenergie als auch die erreichbaren Geschwindigkeiten. Zudem wurde mittels Technik die Bewegung kleiner Gegenstände gegenüber handbetriebenen Übertragungsmöglichkeiten erleichtert. Dies erlaubte einerseits vergleichbare Spieltypen und führte anderseits zu ähnlichen Begrenzungen der Spiele.

a. Grenzen und Grenzerfahrung Charakteristische Grenzen der Spielmöglichkeiten mit technisierten Spielen ergeben sich sowohl aus historischen Entwicklungen, die jeweils zeitspezifische Lebenszyklen bedingen, als auch aus einer zunehmenden Perfektionierung. Letztere führt im Fall technisierter Spiele dazu, dass Grenzen der physischen Belastbarkeit der Spielenden und der mechanischen Belastbarkeit des Materials erreicht werden können. Sie sind zeitunabhängig gültige, auf biologischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten basierende Grenzen. Verbunden mit einer Annäherung an diese Grenzen ist jedoch die Möglichkeit spielerischer Grenzerfahrungen, die insbesondere aktives Sporttreiben und Jahrmarktsbesuche vermitteln können. Daher ist es zur Intensivierung von rauschhaften Spielen für die Produzenten und Anbieter sinnvoll, an diese Grenzen heranzukonstruieren; bei geeigneten Spielen können die Nutzer Spielerlebnisse durch das Eingehen von Risiken intensivieren.34 In seiner Geschichte des Automobils hat Gijs Mom entsprechend herausgearbeitet, dass der Erfolg von verschiedenen Mobilitätstechnologien in Zusammenhang mit deren Abenteuercharakter steht.35 Gerade vor dem Hintergrund der Perfektionierung von Spielen eröffnet das Eingehen von Risiken eine zusätzliche Spielebene, die den Spielenden gleichsam als i-Tüpfelchen ihres Spiels neue Freiräume gewährt. Die Beschreibung solcher Spiele als Deep play36 unterstreicht dabei, dass sich die Spieler hier einer Grenze annäheren, dem individuellen Spiel-Ende durch einen Unfall. Keine personenbezogenen, sondern spielbezogene Grenzen thematisiert Johan Huizinga mit seiner Warnung, dass die Versportlichung des Sports dessen Spielcharakter gefährde.37 Auch wenn am Beispiel des Ruderns gezeigt werden konnte, dass dessen Perfektionierung nicht zum Verlust seines Spielcharakters führte, sondern zur Fokussierung auf eine spezifische Spielform, können Spiele bei Veränderungen ihrer Strukturen zu Nicht-Spielen kippen. Bezieht man Sport auf die Sportreibenden und ihre jeweiligen Sportarten, ergeben sich Grenzen 34 | Zu verschiedenen Formen des spielerischen Umgangs mit dem Risiko siehe Poser, Kannst Du bremsen? S. 25ff. Siehe auch Möser, Fahren und Fliegen, S. 113ff. 35 | G. Mom, Geschiedenis van de auto van morgen. Cultuur en techniek van de elektrische auto. Deventer 1997; engl.: The Electric Vehicle. Technology and Expectations in the Automobile Age. Baltimore u.a. 2004, S. 275ff. 36 | Kaufmann, Technik am Berg, S. 99. 37 | Huizinga, S. 213f.; zur diffizilen Verortung des Sports als Spiel siehe das Kap. B.II dieser Arbeit.

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im Zuge der Versportlichung aus der Kombination der Spielformen ludus und agon mit der internationalen Vergleichbarkeit von sportlichen Leistungen und der Aufzeichnung von Rekorden im Sinne von Bestleistungen. Konnten diese beiden sporttypischen Spielformen zunächst von Sportlern auf sich selbst und ein kleines Umfeld bezogen werden, so veränderte die Versportlichung den Bezugsrahmen und setzte dadurch erheblich höhere Messlatten für individuelle Leistungen. Dieses System förderte die gezielte wissenschafts- und technikbasierte Optimierung des Sportequipments und der Kondition der Sporttreibenden, sodass es gelang, Leistungsgrenzen im Sinne von ludus immer weiter hinauszuschieben. Leistungssteigerungen sind jedoch prinzipiell endlich. Somit sind auch Grenzen der möglichen Spitzenresultate in den einzelnen Sportarten vorgegeben, und die Frage nach dem Erhalt ihrer Strukturen wie ihrer gesellschaftlichen Bedeutung bei Erreichen dieser Leistungsgrenzen erscheint offen. Während aus dieser Perspektive der Spielcharakter des Sports durch seine Grenzen gefährdet scheint, ergeben sich sowohl beim Breitensport als auch beim Zuschauersport etwas andere Entwicklungen: Sportgerätehersteller reagierten in jüngerer Zeit bei ausgereiften Sportarten, indem sie nur noch wenige technische Neuerungen entwickelten. Stattdessen nahmen sie gestalterisch-formale Veränderungen an ihren Produkten vor und versuchen damit, Modetrends im Breitensport zu schaffen, für den die Spitzenergebnisse ohne praktische Bedeutung sind.38 Vielmehr entspricht der heutige Breitensport im Umgang mit den Spielformen ludus und agon dem historischen Sport vor Beginn der Versportlichung, also jener Periode, in der er generell als Spiel betrachtet wurde. Der Breitensport mag vor diesem Hintergrund eine (historische) Nachlaufphase ausgereifter, etablierter Sportarten sein. Seine Perfektionierung wirkt sich dementsprechend nur mittelbar aus und gefährdet den Spielcharakter nicht. Bezieht man Untersuchungen des Sports auf den Zuschauersport und seine Sportereignisse, so kommt der Perfektionierung der einzelnen Sportarten ebenfalls geringe Bedeutung zu, solange die Ebene der Schaustellung dadurch nicht tangiert wird. Gerade bei Mannschaftsspielen ist trotz zunehmender Durchplanung und Perfektionierung des Spiels mit zufälligen Ereignissen zu rechnen, die die Spiele attraktiv bleiben lassen.39 Auf dem Jahrmarkt wird der Mensch – hier der untrainierte Besucher – zum limitierenden Faktor der Entwicklung von Fahrgeschäften – insbesondere für Thrill rides, wo in Anbetracht zunehmender technischer Möglichkeiten die Grenzen der physischen Belastbarkeit der Passagiere entscheidend für Weiterentwicklungen geworden sind. Am Beispiel der Achterbahn wurde deutlich, dass sich die technische Weiterentwicklung der Bahnen und ihrer Sicherheitstechnik an einen Grenznutzen der Konstruktion für das Spiel annähert: Zwar ließ sich die Geschwindigkeit der Bahnen erheblich steigern, doch verlangte dies Schutzbrillen oder geschlossene Kabinen, die einen Teil des Fahrvergnügens nehmen. Die Beschleunigung 38 | D. Müller, Innovationen, S. 43. 39 | Braun, Soccer, S. 216.

E. Spiel mit Technik

muss aus gesundheitlichen Gründen begrenzt sein; hier lässt sich nur die Abfolge verschiedener Beschleunigungsphasen und -richtungen verändern. So bleiben trotz technischer Entwicklung die verschiedenen Erlebnismöglichkeiten bei Achterbahnfahrten letztlich beschränkt, zumal die hohen Kräfte ein Fixieren der Fahrgäste erfordern: Während der Fahrt sind infolgedessen keine ergänzenden Spiele mehr möglich, sondern lediglich der Rausch ilinx kann hier gleichsam verabreicht werden. Dass Konstrukteure in jüngerer Zeit versuchen, die Beschränktheit der Fahrerlebnisse durch unterschiedliche äußere Gestaltung der Anlagen, durch Inszenierungen oder durch die Wahl besonderer Plätze zu kompensieren, belegt, dass die Möglichkeiten des Spiels auf Achterbahnen weitgehend ausgelotet sind. Im Fall Technischen Spielzeugs waren und sind insbesondere Modelleisenbahnen einer zunehmenden technischen Perfektionierung unterworfen. Deren erste Anfänge lassen sich bereits im 19. Jahrhundert in England verorten; eine generelle Tendenz zur Perfektion etablierte sich etwa seit den späten 1960er Jahren. Zwei Entwicklungsrichtungen beschnitten das Modellbahnspiel erheblich, beziehungsweise beendeten es sogar: Wenn sich Modelleisenbahner etwa seit den 1980er Jahren für Modelle mit Radsätzen entschieden, deren Größe im Vergleich zu üblichen Serienmodellen maßstabsgerechter ist, und diese auch noch mit einem annähernd maßstäblichen Schienenprofil kombinierten, entstanden außerordentlich originalgetreue Anlagen, auf denen die Modelle jedoch ständig in Gefahr sind zu entgleisen. So reduzierte sich das Spielvergnügen am Fahrenlassen der eigenen Bahnen erheblich. Rolf-Ulrich Kunze spricht deshalb von »kontemplativen Quietismus« auf der Anlage.40 Hier erscheint Huizingas auf den Sport bezogene Warnung vor einem Verlust des Spielcharakters berechtigt. Sammler, deren Community sich in den 1970er und 1980er Jahren wohl erheblich vergrößert hat, gehen noch einen Schritt weiter: Sie verzichten sowohl auf das Basteln als auch auf das Fahrenlassen und überschreiten die Grenze des Spiels, indem sie ihre Modelle lediglich in einer Vitrine präsentieren, sodass das betreffende Technische Spielzeug seiner ursprünglichen Funktion beraubt und in einen quasi musealen Kontext gestellt wird.

b. Geschwindigkeit Die Erfahrung des Spiels mit und mittels Technik begünstigte die Herausbildung und Beibehaltung eines gesellschaftlichen Konsenses, der sich zumindest seit Beginn der Industrialisierung nachweisen lässt, dem der positiven Konnotierung von Geschwindigkeit.41 Nicht umsonst wird in der bekanntesten Passage des Futuristischen Manifests die Nike von Samothrake einem Rennwagen gegenübergestellt: Der Sport – insbesondere der neue Motorsport – hatte erheblichen Anteil an 40 | Kunze, Kleine Welten, S. 71. 41 | Zumindest seit den 1980er Jahren sind allerdings auch Gegenbewegungen wie der in Italien gegründete Slow-Food Verein zu nennen, der sich anfänglich für Esskultur und ein moderates Lebenstempo einsetzte. Slow-Food, Wir über uns, Geschichte, www.slowfood. de/wirueberuns/slow_food_deutschland/die_geschichte/ (12.1.2014).

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der Faszination der Geschwindigkeit, wurde sie hier doch zum zentralen Inhalt sportlicher Wettkämpfe vor einem breiten Publikum. Folgt man dem Autor des Artikels Der Sport in 100 Jahren von 1910, so wird der »Sport der Zukunft … der Sport der rasenden, sich überbietenden Geschwindigkeiten sein«.42 Frühe Photographien von Sportereignissen, die Geschwindigkeit festzuhalten suchen, wie die durch Mitziehen der Kamera entstandenen Bilder Jaques Henri Lartigues,43 zeugen ebenso von der Faszination der Geschwindigkeit wie die konsternierte Feststellung von 1886, dass moderne Rennruderboote für nichts geeignet seien, als dem ›Schnellfahren‹. Aber die Geschwindigkeitsorientierung im Sport gilt nicht nur für Wettläufe oder -fahrten, sondern greift auch auf gänzlich andere Sportarten wie Mannschaftsspiele aus. So beschreibt Hans-Joachim Braun am Beispiel des Fußballs, dass ein wesentliches Element der Spieltaktik die Beschleunigung des Spielablaufs ist; diese Entwicklung habe Hand in Hand mit technischen Veränderungen dazu geführt, dass Filmmitschnitte der Weltmeisterschaft 1954 bei heutiger Betrachtung nahezu als Zeitlupenaufnahmen erscheinen.44 Der Sport war und ist aufgrund seiner Spielstruktur als Wettkampfspiel ein entscheidender Rahmen der durch Spiel geförderten Geschwindigkeitsfaszination, den anderen boten Fahrgeschäfte auf dem Jahrmarkt: Insbesondere die schnellen Thrill rides, aber auch Kettenflieger und Jahrmarktsautobahnen wurden Orte dieser Faszination. So lassen sich beispielsweise zu Rutschen und Achterbahnen Aufzeichnungen von Geschwindigkeitserlebnissen aus verschiedenen Epochen finden, die bei unterschiedlicher Wortwahl auf Kommentare wie diesen aus dem ausgehenden 20. Jahrhundert hinauslaufen: »Achterbahnen machen Spaß. Sie sind schnell. Sie jagen uns Angst ein. … Du spürst den Gegenwind im Gesicht. Dein Magen hat sich über deinen Körper verteilt.«45 Verbunden mit dem Geschwindigkeitserlebnis sind das der Beschleunigung und der Angstlust, wobei Anbieterdarstellungen und Erlebnisberichte von Konsumenten einander korrespondieren. Deutlich wird die Inszenierung von Geschwindigkeit als Spielbestandteil. Das gilt auch bei Benzinautobahnen und Gokart-Bahnen, wo an Rennen anknüpfende Staffage zum Programm gehörte und gehört: das Senken von Flaggen zum Start, das laute Motorengeräusch, die szenische Ausgestaltung der Geschäfte als Rennstrecken. Bei Autoskootern steht hingegen der Unfall als karnevaleske Spielkomponente des Selbstfahrens im Vordergrund. Allerdings kommt seit der Veränderung von Skootern zu Musikgeschäften auch der Geschwindigkeit in der Kombination von rhythmischem Lichtwechsel, Musik und fahrenden Wagen vermehrt Bedeutung zu.

42 | Edward, S. 283. 43 | Siehe beispielsweise: Jacques-Henri-Lartigue-Album. Bern 1986. 44 | Braun/Poser, Playing with Technology, S. 8. 45 | Zitiert nach Th. Blume, Die Achterbahn. Oder die Welt gerät Tempo, Tempo vollständig aus den Fugen. In: R. Bittner (Hg.), Urbane Paradiese. Zur Kulturgeschichte modernen Vergnügens. = Edition Bauhaus, 8. Frankfurt, New York 2001, S. 36-52, S. 46.

E. Spiel mit Technik

Etwas anders gelagert ist der Einfluss der Geschwindigkeit bei Technischem Spielzeug: Für einige Sportspiele wie Wettfahrten mit Fahrzeugmodellen ist sie entscheidend, bei anderen unerwünscht. Erhebliche Bedeutung hat die Reaktionsgeschwindigkeit beim Spielen. Sie bezieht sich jedoch auf die Denk- und Reaktionsfähigkeit der Teilnehmer, die für technikbasierte Spiele am Computer ebenso vonnöten sein kann wie für Ratespiele, die ohne Techniknutzung im hier definierten Sinne auskommen. Die physische Geschwindigkeit von Artefakten des Spiels tritt in diesem Kontext nur als Spezialfall in Verbindung mit kleinen Antriebseinheiten auf – so beispielsweise bei Spielzeugautos und Modelleisenbahnen.

c. Charakteristische Spieltypen Aus der technikbasierten Bewegung und der damit verbundenen Geschwindigkeit ergibt sich, dass der Rausch ilinx ein gemeinsames Merkmal geschwindigkeitsbasierter, technisierter Spiele ist; nicht umsonst verweist bereits Caillois darauf, dass sich das Spielphänomen des bewegungsgenerierten Rausches erst im Zeitalter der Maschinen manifestiere.46 Zwar hat Caillois als Beispiel primär die Jahrmarktsmaschinerie im Auge, aber das Phänomen eines mittels Technik generierbaren rauschhaften Spiels lässt sich als ein Charakteristikum technikgestützten Spiels sehen. Dabei sind unterschiedliche Ausprägungen zu unterscheiden: Beim Sport und beim Modellbahnspiel wird der Rausch ilinx in der Regel als flowErlebnis erfahren, das bei gleichmäßiger körperlicher Kraftanstrengung ebenso auftreten kann wie bei freiwilliger Arbeit in Zusammenhang mit der Freude am guten Gelingen – also sowohl beim Basteln als auch beim Fahrenlassen von Modellbahnen. Beim Planschen und Schwimmen sind zwei Varianten des Rausches möglich: das flow-Erlebnis beim längeren, unter Umständen sportlichen Schwimmen sowie ein fremdbewegungsgenerierter Rausch: Gerade auf Wasserrutschen kann es zu einem kräftigen, mit Schwindel und Angstlust verbundenen Rausch durch hochdosierte Einwirkung von wechselnder Beschleunigung kommen. Dasselbe gilt freilich für Thrill rides auf dem Jahrmarkt und für die erste thrill-orientierte Autoskooter-Generation in den frühen 1920er Jahren. Generalisierend betrachtet ist der wichtigste Typ des Spiels bei Autoskooterfahrten nicht unbedingt der Rausch, sondern das Rollenspiel mimicry im Umgang mit Technik und in der Interaktion mit anderen Besuchern – insbesondere des anderen Geschlechts. Das Hauptspielangebot von Skooteranlagen wurde mit dem Aufkommen von Skooter-Musikgeschäften zweigeteilt: für Kinder steht am Nachmittag nach wie vor das Autofahren und damit mimicry im Umgang mit Mobilitätstechnologie im Mittelpunkt, während der Skooterbesuch am Abend bei entsprechender Musik für Jugendliche und Erwachsene zu einem Maschinentanz wird, der ein flow-ähnliches Erlebnis des Rausches ilinx ermöglicht; das damit verbundene Rollenspiel bezieht sich nur noch sekundär auf das Autofahren, sondern primär auf die Kommunikation der Besucher und Besucherinnen untereinander. 46 | Caillois, S. 35.

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Mimicry erweist sich als eine zweite charakteristische Form des Spiels mit und mittels Technik. Selbst Sportveranstaltungen lassen sich als Vorführungen für das Publikum und Rollenspiele interpretieren, Bedeutung hat diese Form des Spiels jedoch primär im Kontext des Jahrmarkts und bei der Nutzung von Spielzeug. Auch bei Modellbahnen ist mimicry die Hauptspielform; sie bezieht sich sowohl auf den Umgang mit Technik als auch auf das Agieren in einer durch Technik geprägten Miniaturwelt. Die Utensilien von technikbasierten Rollenspielen reichen von figürlichen Automaten und sprechenden Puppen über Spielzeugroboter bis zur Darstellung von Maschinen oder Fahrzeugen. Erstere stehen in einer deutlich älteren Tradition als die Artefakte und Sachsysteme des Spiels, die Geschwindigkeitserlebnisse vermitteln oder Technik darstellen. Während diese erst im 19. und 20. Jahrhundert zum Thema wurden, knüpfen Automaten, figürliches Spielzeug und Sprechpuppen an eine in die griechische Antike zurückreichende Entwicklung an.47 Aufgrund der zunehmenden Bedeutung von Technik wurden traditionelle Vorführungen figürlicher Automaten im 19. Jahrhundert oft durch die Präsentation von Technik des Industriezeitalters modernisiert.48 Technisches Handeln – insbesondere die Nutzung von verschiedenen Fahrzeugen – avancierte zum Inhalt figürlichen Spielzeugs,49 und mit Robotern wurde seit den 1920er Jahren das für Automaten charakteristische Changieren zwischen Künstlichem und Natürlichem beziehungsweise Lebendigem durch die Darstellung scheinbar lebendiger, anthropomorpher Maschinen um einen Rückbezug zur Technik ergänzt.50 Bei Rollenspielen wie dem Modellbahn- oder Skooterfahren oder bei Robotern, deren Darstellung von Technik sich auf den Spielinhalt auswirkt, ist die auratische Wirkung von Technik für die Auswahl des Spielsujets bedeutsam. Gleichzeitig wird durch mimicry im Umgang mit Technik eine zumindest scheinbare Vertrautheit mit Technik gefördert. Für Spiele hat dabei insbesondere die Mobilitätstechnik einen hohen Stellenwert, weil sie Faszination und Rausch vermitteln kann und zudem Anlass zum Rollenspiel bietet. Gemeinsam ist allen hier beschriebenen Beispielen des Spiels mit und mittels Technik auch, dass der Wettkampf agon von Bedeutung ist, wobei das Bestehen der agones oft das Bewältigen selbst gesetzter Anforderungen im Sinne von ludus voraussetzt: Unter vermehrtem Technikeinsatz rückte der sportliche, nur ge47 | Siehe beispielsweise H. Heckmann, Die andere Schöpfung. Geschichte der frühen Automaten in Wirklichkeit und Dichtung. Frankfurt a.M. 1982. S. Richter, Wunderbares Menschenwerk. Aus der Geschichte der mechanischen Automaten. Leipzig 1989. 48 | Poser, Schausteller, S. 230. 49 | Als ein Beispiel unter zahlreichen sei das über fast drei Jahrzehnte produzierte Auto »Tut, tut« mit Fahrer (1905-1933) der Brandenburger Patentwerke Ernst Paul Lehmann genannt; Cieslik, S. 195. 50 | Zur ›Frühgeschichte‹ von Robotern siehe L. Nocks, The Robot. The life story of a technology. Westpoint 2007, S. 56ff.

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schwindigkeitsorientierte Wettkampf seit etwa den 1840er Jahren in den Mittelpunkt des Ruderns. Techniknutzung ermöglichte in den 1920er bis 1970er Jahren Sportbäder, die für Schwimmwettkämpfe standardisiert wurden, aber auch das Freizeitschwimmen prägten und nicht zuletzt zu selbst gesetzten sportlichen Leistungszielen im Sinne von ludus und dem Wettkampf agon führten. Thrill rides luden und laden mit der Anforderung ›Mutprobe‹ zu ludus und agon ein, die Fahrten selbst wurden zum Teil als Wettkämpfe inszeniert. Autoskooter und Jahrmarktsautobahnen ermöglichten als Selbstfahrgeschäfte agones, die insbesondere bei Gokart-Bahnen durch das Ambiente und die kleinen, wendigen Fahrzeuge gefördert wurden. Bei Modelleisenbahnen sind Wettkämpfe zum einen beim Fahrenlassen denkbar, wobei die sportive Nutzung von Modellbahnzügen vermutlich den Vorstellungen von Modelleisenbahnern, die an Präzision und Originalgetreue interessiert sind, überhaupt nicht entspricht. Zum anderen können sich Wettkämpfe durch den Vergleich der eigenen Bastelprodukte ergeben; solche agones wurden von Modellbahnvereinen als Preisausschreiben institutionalisiert. Vergleicht man die hier vorgestellten Fallbeispiele, so zeigt sich, dass die Haupttypen des Spiels – agon und ilinx im Fall des Ruderns und des Schwimmens, ilinx und mimicry bei der Fahrt auf Thrill rides und mit Fahrzeugen von Selbstfahrgeschäften sowie mimicry beim Modelleisenbahnspiel – sich zwar im Laufe der Zeit verschoben, aber nicht grundlegend gewandelt haben. Ähnliches gilt für die beiden grundlegenden Spielelemente ludus und paidia. Auf dieser Vergleichsebene besteht also eine beachtliche Kontinuität des Spiels mit Technik, während es bei der Qualität der spielerischen Tätigkeiten und Erlebnisse sowie den dahinterstehenden technischen Artefakten und Sachsystemen zu erheblichen Wandlungsprozessen kam. Bei Fahrgeschäften auf dem Jahrmarkt und beim Sport ist die Kontinuität der Spieltypen aus der Befriedigung von Grundbedürfnissen heraus erklärbar: Im Sport wurde und wird ein Bedürfnis nach selbsttätiger Bewegung und körperlicher Anstrengung in verschiedenen, für die jeweiligen Sportarten charakteristischen Formen befriedigt; kommt eine neue Sportart mit neuen Bewegungsmustern hinzu, entwertet sie vorhandene Muster und die damit verbundenen Möglichkeiten einer Befriedigung des Bewegungsbedürfnisses nicht, sondern ergänzt sie eher. Zudem nahm die Zahl der Sporttreibenden zu. So ist es nicht verwunderlich, dass spielerisch-sportliches Rudern über alle gesellschaftlichen Veränderungen hinweg in seinen Grundzügen bis heute erhalten geblieben ist. Auch das sportliche Schwimmen veränderte sich als solches nicht allzu sehr; seine Orientierung auf agon und die Möglichkeit, in den Genuss eines flow-basierten Rauscherlebnisses ilinx zu gelangen, blieben erhalten. Allerdings kamen neue Schwimmstile – insbesondere das Kraulen ist hier zu nennen – hinzu, die mit ihren gewandelten Bewegungsabläufen zusätzliche, andersartige Schwimmerlebnisse boten. Erheblichen Veränderungen waren hingegen die für Training und Wettkämpfe eingesetzten Technologien und die äußere Hülle der Schwimmenden in Form der Bäder unterworfen, die sich wiederum auf die Erlebnisqualität

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auswirkten. Anders als das Sportschwimmen machten das Freizeitschwimmen beziehungsweise der vergnügliche Aufenthalt im Wasser erhebliche Wandlungsprozesse durch: Beginnend mit vergnüglichem Planschen und sportlichem Schwimmen verlief die Entwicklung über das durch die Baulichkeiten unterstützte Sportschwimmen zur Auswahl verschiedener, teils rauschhafter Konsumangebote im und um das Wasser. Gemeinsam ist diesen Angeboten, die seit den 1970er Jahren den Aufenthalt in Freizeitbädern prägten, dass sie mit dem Sportschwimmen – der bisher dominierenden Form des Spiels in Schwimmbädern – nicht harmonieren und es zum Teil sogar ausschließen. Dies gilt für Wellenmaschinen, die bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert aufkamen, ebenso wie für große Wasserrutschen, die sich in Deutschland erst mit der Entwicklung von Freizeitbädern verbreiteten. Wellenbäder ersetzen eine Form des Spiels durch ein Spektrum anderer Spiele und verschafften den Badegästen so neue Erlebnisse und neue Freiräume im Umgang mit dem nassen Element. Wasserrutschen hingegen sind für einen speziellen Spieltyp, den mit vertigo kombinierten Rausch ilinx optimiert und schließen durch ihre bauliche Gestaltung andere Spiele während des Rutschens weitgehend aus. Verbunden damit ist sowohl ein bedingungsloses Sich-Ausliefern an Technik als auch eine tiefgehende emotionale Beeinflussung der Gäste durch die technische Konstruktion, die Wasserrutschen mit Thrill rides gemeinsam haben. Nicht nur im Sport, sondern auch bei Thrill rides auf dem Jahrmarkt wird offensichtlich ein Grundbedürfnis befriedigt – in diesem Fall nach Schwindel, Rausch und Angstlust. Entsprechend hat sich die Kombination von Mutprobe und (möglichem) Rauscherlebnis über 200 Jahre gehalten und nur in ihrer Intensität verändert. Auch das weitgehend freie Selbstbewegen im Autoskooter oder in einem Fahrzeug einer Jahrmarktsautobahn lässt sich als Befriedigung eines Grundbedürfnisses nach Selbstbestimmtheit deuten, dem hier durch Technikeinsatz entsprochen wird. Aufgrund der gesellschaftlichen Bedeutung des Autos und der individuellen Auswahlmöglichkeit der Fahrenden kam der zeitgenössisch modernen Gestaltung der Skooter und Jahrmarktskleinstwagen dennoch erhebliche Bedeutung zu. Im Fall von Technischen Spielsachen und damit von Modellbahnen ist zwar das mit ihnen verbundene Rollenspiel mimicry als solches eine Spielform, die sich bereits bei jungen Kindern findet, aber die Inhalte des Spiels sind in großer Bandbreite variabel und damit einem wesentlich rascheren historischen Wandel unterworfen als bei solchen Spielen, die mittels Technik Grundbedürfnisse direkt befriedigen. Entsprechend sind auch ihre generationsspezifischen und -formenden Eigenschaften stärker ausgeprägt. In allen drei Fällen – agon, ilinx und mimicry – wird eine Eigenschaft von Technik deutlich, die beim Spiel besonders hervortritt, aber auch außerhalb der Spielwelt von Bedeutung ist, das Wecken von Emotionen, das unter dem Stich-

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wort emotional turn in jüngerer Zeit Gegenstand der Forschung wurde.51 Mit der Aufgabe von Technik für das Spiel, Gefühle zu generieren, wird eine originär menschliche Eigenschaft an Maschinen delegiert. Während bei der spielerisch sportlichen Techniknutzung auf die Technik abgestimmte Bewegungsabläufe eine Techniknähe herstellen, die letztlich auch emotional ist, geht es insbesondere bei ilinx auf dem Jahrmarkt neben einer körperlichen Nähe um ein auf gezielter Emotionsweckung basierendes Nahverhältnis. So wirft das Thema Spiel mit Technik im Kontext einer Geschichte der Emotionen die Frage auf, inwieweit Technik ein Mittel war und ist, um Emotionen zu beeinflussen, kontrollierbar zu machen, oder gar auszugestalten.

6. Gesellschaftliche Relevanz des Spiels mit Technik Findige Anbieter und zunehmend konsumorientierter werdende Spielinteressierte gingen beim Spiel mit Technik – so ließe sich zugespitzt formulieren – eine Symbiose ein: Diente der Jahrmarkt zur Einübung der Konsumentenrolle, so führten bald die Gewohnheit des Konsumierens und das Vorhandensein eines großen Angebots auch zu einer Konsumorientierung bei der Freizeitgestaltung, die insbesondere seit der Entwicklung der Freizeitgesellschaft an Bedeutung gewann. Entsprechend gestaltete man beispielsweise Sportbäder zu Freizeitbädern um, bei denen der Schwerpunkt des Spiels im Wasser auf dem Konsumieren verschiedener Attraktionen liegt. Das Basteln wurde in zahlreichen Bereichen des Modellbaus durch Produkte zum schnellen Zusammenstecken verdrängt und selbst passionierte Bastler fertigen heute – anders als noch in den 1970er Jahren – ihre Werkstücke unter Verwendung zahlreicher Fertigteile. Die spielerisch gewonnenen Einsichten in den technischen Herstellungsprozess traten zugunsten des Konsums und eines lernenden, meist aber rasch erlernbaren Umgangs mit dem fertigen technischen Spielgerät zurück. Freizeitsportler gingen zu Spezialkleidung und -nahrung über; ihre Geräte wurden immer weiter ausdifferenziert, sodass auch der Freizeitsport zunehmende Bedeutung als Feld des Konsums erlangte. Eine wesentliche gesellschaftliche Funktion des Spiels ist die Annährung der Spielenden und ihrer Zuschauer an Technik, die vom Umgang mit Artefakten bis zu komplexen technischen Systemen reicht. Charakteristisch scheint dabei für die Technologien des Spiels zu sein, dass sie positiv wahrgenommen werden und bei Debatten über negative Technikfolgen weitgehend ausgeklammert bleiben.52 Besondere Bedeutung kommt in diesem Kontext Sport-Großveranstaltungen zu, 51 | Siehe beispielsweise J. Gerhards, Soziologie der Emotionen. Fragestellungen, Systematik und Perspektiven. München 1998. U. Frevert, Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen? In: Geschichte und Gesellschaft, 35 (2009), S. 183-208. 52 | Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Rachel Maines bezüglich ›hedonized technologies‹; Maines, Hedonizing Technologies, S. 127.

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die den Zuschauern unter beachtlichen Kosten nicht nur Technikfaszination vermittelten und vermitteln, sondern selbst durch eine zunehmende Technisierung gekennzeichnet sind. Sie binden die Zuschauer durch euphorisierende Erlebnisse scheinbar in das Sportspiel ein und bieten ihnen Anlass zu eigenen spielerischen Handlungen. Frühe Beispiele sind bereits die Henley-Regatten im 19. Jahrhundert, zu denen bald jeweils mit neuen Bootskonstruktionen angetreten wurde. Insbesondere aber gilt dies für Sportereignisse mit moderner Technik einige Jahrzehnte später – so die Veranstaltung von Flugschauen vor dem Ersten Weltkrieg, oder Rennen auf speziellen Rennkursen wie der 1921 fertiggestellten Berliner Automobilversuchsstrecke AVUS. Im Fall der sporttreibenden Akteure beim Rudern und beim technikbasierten Sport insgesamt bezieht sich die Annährung an Technik ebenso wie beim Jahrmarktsbesuch von Thrill rides auf eine körperliche Techniknähe, als deren Folge Don Ihde einen ›gewissen Romantizismus‹ im Umgang mit Technik vermutet.53 Bei Thrill rides ist die körperliche Nähe mit bewusst technikgenerierten Emotionen kombiniert. Diese Form der Nähe weist zusätzlich eine andersartige, tiefergehende Qualität auf, weil Technik direkt auf das Gefühlsleben einwirkt. Der Einfluss der Jahrmarktstechnologie besteht jedoch nur kurz, während die körperliche Techniknähe im Sport ein über viele Jahre währendes Dauerphänomen ist. Sie geht folglich mit dem Erlernen des Umgangs mit Technik einher und führt dazu, dass Sporttreibende ein sehr präzises Gespür für ihre Geräte und Maschinen entwickeln, mit denen sie nahezu ›verwachsen‹ können. Dies gilt für das klassische Rudern in Rennbooten gleichermaßen wie für das Motorradfahren oder für ›postmoderne‹ Sportarten wie Skaten und Paragliding. Beim spielerischen Umgang mit Technik kommt es zu einer ähnlichen Form der Wissensaneignung wie im Falle technischer Großanlagen der Chemieindustrie: Spezialisten sind hier in der Lage, ein ›Hightech-Gespür‹ (Fritz Böhle) für ihre Maschinen zu entwickeln, das ihnen – analog zum feinfühligen Beherrschen eines Rennboots oder Motorrads – ermöglicht, die Maschinen sehr präzise nachzuregulieren.54 Bei Thrill rides hingegen ist ein Sich-der-Technik-Aussetzen notwendig. Geschieht dies wiederholt ohne negative Folgen, so tritt eine Gewöhnung ein und es kommt zum Auf bau eines Gefühls des Vertrauens in scheinbar bekannte Technik, das als ambivalent bewertet werden muss: Vertrauen in Technik oder auch in ihre Konstrukteure und Anwender erscheint zwar in technisierten Gesellschaften immer wieder erforderlich, geriet aber wegen des damit verbundenen unkritischen

53 | Ihde, S. 74f. 54 | Das Hightech-Gespür ist als Fähigkeit von Spezialisten tiefergehend, als die ›Maschinensensibilität‹, die Kurt Möser als Normalanforderung im Umgang mit Technik beschreibt. Siehe Alkemeyer, Mensch-Maschine, S. 225ff. F. Böhle, High-Tech-Gespür: Spiel und Risiko in der erfahrungsgeleiteten Anlagensteuerung. In: Gebauer/Poser, S. 249-267, S. 249. Möser, Fahren und Fliegen, S. 196.

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Umgangs bereits in den späten 1960er Jahren in die Kritik.55 Selbstfahrgeschäfte ermöglichten und ermöglichen innerhalb ihres technischen Systems einen selbstbestimmten Annährungsprozess und – je nach Ausführung – das Erlernen rudimentärer Technikkompetenzen; beides war und ist für den Umgang mit den betreffenden Technologien außerhalb des Jahrmarkts und für ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer durch Technik geprägten Gesellschaft hilfreich. Im Fall Technischen Spielzeugs wurde über viele Jahrzehnte dessen pädagogische Bedeutung für die spätere Berufsausübung herausgestellt. Beispielsweise ist ein Gleisbau-Vorlagenbuch des Unternehmens Bing vor dem Ersten Weltkrieg als Der kleine Eisenbahn-Ingenieur betitelt, und noch in den 1970er Jahren wird in der DDR-Zeitschrift Der Modelleisenbahner die Bedeutung der Modelleisenbahn zur Berufsvorbereitung dargelegt.56 Auch wenn diese Hinweise aus werbestrategischen und politischen Gründen erfolgten, so enthalten sie dennoch einen wahren Kern: Obwohl Modelleisenbahnen sich technisch erheblich von ihren Originalen unterscheiden, bilden sie das Eisenbahnwesen doch so weit ab, dass sie einen Einblick in die Funktionsweise der großen Eisenbahn vermitteln und sich zur Simulation für Lehr- und Forschungszwecke eignen – man denke an universitäre Modellbahnanlagen der 1930er bis 1960er Jahre. Darüber hinaus bieten Modelleisenbahnen Spielenden einerseits die Möglichkeit, modellbahnspezifische technische Probleme zu lösen und andererseits einen Anreiz, sich mit dem Eisenbahnwesen zu beschäftigen – nicht von ungefähr sind Beiträge über große und kleine Bahnen in Modellbahnzeitschriften gemischt. Auch bei Metallbaukästen wurde eine berufsqualifizierende Bedeutung des Spiels herausgestellt: So warb der Hersteller von Stabilbaukästen, Walther, über mehrere Jahrzehnte mit dem Slogan »Von Stabil zum Ingenieur«.57 Hier wird zwar auf die wachsende Anerkennung des Berufsbildes ›Ingenieur‹ in den 1920er und 1930er Jahren rekurriert, obwohl die Kompetenzen andere sind, aber Metallbaukästen vermittelten eine Vorstellung vom Umgang mit dem Material und dessen zeitgenössischer Verbindungstechnik. Und Metallbaukästen boten die Möglichkeit, technische Funktionsprinzipien durch Nachbau oder Eigenkonstruktionen zu begreifen. Entsprechend wird das Spiel mit diesen Kästen Anfang der 1960er Jahre in einem Lexikon als Intelligenztest für Kinder empfohlen.58 Zudem ermöglicht das freie Spiel im Umgang mit Modellbahntechnik oder mit Baukästen Freiräume für (alltags)kreatives Gestalten, für innovative Entwicklungen. 55 | So gewann beispielsweise ein 1947 auf Englisch und 1967 auf Deutsch erschienenes Buch von Max Horkheimer im bundesdeutschen Technikdiskurs an Einfluss: M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt a.M. 1967. 56 | Schienen-Vorlagenheft Der kleine Eisenbahn-Ingenieur, Bing-Katalog 1912, S. 209, Reprint: S. 221. Sowie: Thiele, S. 93 (Zitat im Kapitel zu Modelleisenbahnen). 57 | Von Stabil zum Ingenieur, Werbeaufsteller aus Pappe, Privatbesitz. 58 | enfance. In: J. Didier, Dictionaire de la Philosophie. Paris (Larousse) 1964, S. 82-84, S. 83.

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So nutzte beispielsweise Konrad Zuse als Erwachsener das Konstruktionsprinzip von Metallbaukästen zur Entwicklung seiner ersten programmgesteuerten Rechenmaschine, der Z 1.59 Die hier beschriebenen Strukturen gelten als solche für das Spiel mit und mittels Technik seit Beginn der Industrialisierung. Die Nutzung von Technik als Spielmittel verortet die einzelnen Spiele jeweils in ihren historischen Epochen. Dies betrifft auch die mit diesen Spielen verbundenen Freiräume und Innovationspotenziale, die an die jeweiligen epochenspezifischen Denk- und Assoziationsmöglichkeiten gebunden sind. Die Technisierung des Spiels führte mit ihren zahlreichen neue Spielformen zu einer Möglichkeitserweiterung. Hier ist ein Potenzial zum Vorspielen und Vordenken neuer gesellschaftlicher Strukturen vorhanden, wie es Huizinga und andere aus unterschiedlichen Positionen theoretisch formulieren, und es beispielsweise die Provos, eine künstlerisch-avantgardistische Vorläuferbewegung der niederländischen Grünen, in den 1960er Jahren praktisch umzusetzen versuchten.60 Einerseits geht es beim Spiel mit Technik um eine Vorkonditionierung zur Bewältigung des Lebens in einer technisierten Gesellschaft61 und um seine Instrumentalisierung, die aus politischen, wirtschaftlichen oder auch aus pädagogischen Gründen erfolgen kann. Andererseits bietet es jedoch Freiräume, neue Anregungen und körperliche Erfahrungen, vergnügliche Selbstbeschäftigung und einen geeigneten Rahmen für ein Gefühl von Glück. Das Recht auf Glück ist zwar nur in der amerikanischen Verfassung verankert, doch machte diese Verankerung deutlich, dass es sowohl von individueller als auch von gesellschaftlicher Bedeutung ist. Sieht man Spiel als eine Handlung, die mittels Technik ein Gefühl von Glück und eine zufriedene Grundstimmung ermöglicht und die gleichzeitig das Potenzial zu neuen Entwicklungen birgt, so wird deutlich, dass Gesellschaften Freiräume zum Spiel benötigen. Die technikbasierten Spielmöglichkeiten der heutigen technikbestimmten Freizeitgesellschaft erscheinen in dieser Perspektive als notwendige Balance zu einer nach wie vor bestehenden technisch dominierten Arbeitswelt und Leistungsgesellschaft, auch wenn deren Existenz durch eine spielerisch erscheinende Prozessgestaltung oftmals verschleiert erscheint. So können vom Spiel mit Technik Anstöße für die technische und die gesellschaftliche Entwicklung ausgehen. Es gewährt Freiräume zur Erprobung von Technologien und Materialien, und es bringt Technik auf verschiedene Weisen den Nutzern nahe. Kurzum: Das Spiel trug erheblich zur Gestaltung der Technischen Moderne bei.

59 | Siehe H. Zuse, Konrad Zuse und die »Stabil«- und Märklin-Baukästen. In: Poser/Hoppe/Lüke, S. 172f., S. 172. 60 | Lente, Huizinga’s Children, S. 64ff. 61 | Möser, Fahren und Fliegen, S. 239. Möser bezieht sich hier auf den Jahrmarkt.

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II. W eiterführende F r agestellungen 1. Materialien und Innovationen Im Zuge dieser Darstellung wurden Bezüge des technisierten Spiels zu Materialien und Innovationen berührt, doch hätte es den Rahmen gesprengt, sie auszuleuchten. So ergibt sich eine Perspektive für weitere Forschungsvorhaben, die an klassische Themen der Technikgeschichte anknüpft. Der Einfluss der Materialauswahl auf das Spiel mit Technik und sein Bezug zu Innovationen seien deshalb kurz skizziert, um mögliche Themenbereiche vorzuschlagen. Geeignete Materialien sind für den Leichtbau von Sportequipment von erheblicher Bedeutung; dies wurde bereits im 19. Jahrhundert erkannt: Um den Preis geringer Haltbarkeit gelang es beispielsweise, Sportboote mit spezialimprägniertem Papier und Aluminium leichter zu bauen und damit höhere Geschwindigkeiten zu erzielen.62 Während neue Materialien im Sport eng mit der Verwissenschaftlichung der Konstruktion von Sportgeräten und dem Tüfteln an Hightech-Lösungen verbunden waren und sind, ist bei Spielzeug vermutlich der Einfluss von Materialien auf die Fertigungskosten und Stückzahlen als besonderes Merkmal hervorzuheben: Bedeutete die Einführung von tiefgezogenem Blechspielzeug im ausgehenden 19. Jahrhundert einen Einstieg in die industrielle Massenfabrikation und einen entsprechenden Konsum, so setzte sich diese Entwicklung mit dem weitgehenden Übergang zu Kunststoffen in den 1950er und frühen 1960er Jahren fort und trug – ähnlich wie im Freizeitsport – zu einer sogenannten ›Demokratisierung‹63 der Spielzeugnutzung bei. Auf dem Jahrmarkt hat die Gewichtsund Volumensreduktion durch neue Materialien bei ›Reisegeschäften‹ erhebliche Bedeutung, weil sie zu einer Senkung der Fixkosten von Schaustellern führt. Der langsame Übergang von Holz- zu Eisen- und Stahlkonstruktionen, der erst in den 1950er Jahren abgeschlossen war, bedeutete für Schausteller nicht nur eine Verwissenschaftlichung der Produktion, sondern deren zwingende Auslagerung an Karussellfabriken: Der Materialwechsel machte aus Schaustellern, die bisher ihre Geschäfte selbst hergestellt hatten, also Produzenten und ›Vergnügungsunternehmer‹ waren, Konsumenten und Inhaber von Dienstleistungsfirmen. Bei der Untersuchung von Materialien ergeben sich drei verschiedene Fragekomplexe: Erstens der Einfluss von Materialien auf die Gestaltung von Artefak62 | Aluminium: F. de Ahna, Bau von Yachten. In: G. Wislicenus (Hg.): Deutschlands Seemacht einst und jetzt. Nebst einem Überblick über die Geschichte der Seefahrt aller Völker. 3. Aufl., Leipzig 1909, S. 133-163, S. 133; Gusti, S. 179. Papier: Silberer, Ruder-Sport, S. 65f. 63 | Der Begriff hat sich zwar für die allgemeine Verfügbarkeit von Konsumangeboten etabliert, ist jedoch eigentlich ungeeignet, weil Demokratie eine Bezeichnung einer politischen Herrschaftsform ist, die durch den Bezug auf eine ökonomisch bedingte Verfügbarkeit verwischt wird.

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ten und Sachsystemen für das Spiel und die Folgen dieser Veränderungen sowie zweitens die Bedeutung des Spiels – insbesondere des Sports – als Testfeld neuer Materialien. Drittens haben neue Materialien nicht nur die kommerzielle Produktion von Spielequipment geprägt, sondern auch das spielerische Basteln und das Spiel selbst. Dies gilt insbesondere für solche Materialien und Gebrauchsgegenstände, die zur jeweils zeitspezifisch üblichen Ausstattung von Haushalten zählten. Entsprechend trägt auch die Wahl von Materialien zur historischen Verortung von Spielen bei. Spiel und Innovationsgeschehen scheint auf den ersten Blick wenig miteinander zu verbinden: Für das Spiel sind Freiräume von entscheidender Bedeutung, die kreatives spielerisches Handeln und neue Erfahrungen ermöglichen. Diese Konstellation fördert gleichsam als Nebeneffekt nicht nur neue Erkenntnisse der Spielenden, sondern die Entstehung von Neuem. Innovationen zeichnen sich hingegen gerade durch zielgerichtetes Handeln zur Verbesserung von Artefakten, Sachsystemen oder Prozessen aus, die marktfähig gemacht werden sollen. Ein Innovationsprozess ist durch kleine, mehr oder minder konsequent aufeinander folgende Schritte gekennzeichnet; hier bleibt theoretisch kein Raum für Kreativität und die Bedeutung von etwas Neuem wird am Erfolg von dessen Markteinführung gemessen.64 Dennoch sind Spiel und Innovationen miteinander verknüpft. Dies ergibt sich sowohl aus der Annäherung von Spiel und Arbeit in den letzten Jahrzehnten, die sich auch auf das Innovationsgeschehen auswirkt, als auch aus solchen Spielen, bei denen Spielende im Sinne von ludus versuchen, ihre Leistungen durch Training systematisch zu verbessern. Folglich sind der Sport sowie Denk- und Geschicklichkeitsspiele durch die Suche nach Innovationsmöglichkeiten im Sinne von Neuerungen gekennzeichnet. Aufgrund seines Wettkampfcharakters und den damit verbundenen Aufzeichnungen lässt sich die Bedeutung von technischen Innovationen zur Leistungssteigerung insbesondere im Sport leicht nachzeichnen. Zudem entwickelte sich der Freizeitsport zu einem Markt, auf dem Innovationen ähnlich wie in anderen Konsumbereichen angenommen werden oder scheitern können.65 Für Hersteller bot und bietet das Spiel zudem Testmöglichkeiten für neue Materialien und Technologien; auch hier kommt dem Sport besondere Bedeutung zu. Wurden neue Technologien zum Spiel genutzt oder dargestellt, so warben insbesondere Spielzeug- und Jahrmarktsmodelle direkt für 64 | R. Bauer, Gescheiterte Innovationen. Fehlschläge und technologischer Wandel. = Campus Forschung, 893. Frankfurt, New York 2006, S. 13. R. Reith, Einleitung: Innovationsforschung und Innovationskultur. Ansätze und Konzepte. In: R. Reith, R. Pichler, Chr. Dirninger (Hg.), Innovationskultur in historischer und ökonomischer Perspektive. Modelle, Indikatoren und regionale Entwicklungslinien. = Innovationsmuster in der österreichischen Wirtschaftsgeschichte, 2. Innsbruck u.a. 2006, S. 11-20, S. 11ff. 65 | H.-J. Braun (Hg.), Symposium on »Failed Innovations«. In: Social Studies of Science, 22 (1992). Sowie Bauer, Gescheiterte Innovationen.

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die zugehörigen Originale und trugen so zur Popularisierung und gegebenenfalls zur Distribution innovativer Technik bei. Schließlich ermöglichen Spiele – und hier vor allen Dingen Simulationsspiele, Handlungsmuster und Strategien zu entwickeln, die sich beispielsweise auf Innovationsprozesse beziehen können. Allerdings stellt sich hier die Frage, in wie weit es sich bei solchen sogenannten ›Spielen‹ noch um Spiele handelt, oder ob deren Operationalisierung für spielfremde Zwecke im Vordergrund steht.

2. Spiel und Arbeit Im Rahmen dieser Darstellung wurde die Veränderung des Verhältnisses von Spiel und Arbeit skizziert, um den Wandel des zugrunde liegenden Spielbegriffs sichtbar zu machen. Auch dieser Themenbereich bietet vielfältige Perspektiven zu eigenständigen historischen Untersuchungen: Begriffsveränderungen können Hinweise auf tiefgreifende soziale Wandlungsprozesse sein – so auch hier, wo zeithistorische Bezugsebenen die Deindustrialisierung und die Entwicklung der Freizeitgesellschaft sind. Folgende Themen scheinen fruchtbar zu sein: 1) Die gezielte Einführung von Spielen am Arbeitsplatz, die einerseits der Entspannung, andererseits der Generierung neuer Ideen dienen sollen. Dieses Phänomen ist insbesondere in der IT-Branche verbreitet, aber verwandte Ansätze zur Humanisierung der Arbeitswelt und zur Leistungssteigerung, wie die Einführung von Hintergrundmusik während der Arbeit66 oder die Empfehlung des Internationalen Arbeitsamtes, Sport als Freizeitgestaltung für Arbeitnehmer zu fördern, finden sich bereits in den 1920er Jahren.67 Auch die Umbruchphase der beginnenden Automatisierung war zunächst mit Konzepten der Integration von ausgleichenden Spielphasen in die Arbeitszeit verbunden.68 2) Von Arbeitnehmern in Eigenregie veranstaltete, zum Teil subversive Spiele, die dazu dienen, den harten Arbeitsalltag zu bewältigen und eine Tradition zu haben scheinen, die bis in die Industrialisierung zurückreicht. Beispiele hierfür finden sich sowohl in der Industrie als auch im Bergbau, wobei sich gerade der abgeschlossene,

66 | H.-J. Braun, Turning a Deaf Ear? Industrial Noise and Noise Control in Germany since the 1920s. In: T. Pinch, K. Bijsterveld (Hg), The Oxford Handbook of Sound Studies. Oxford, New York 2011, S. 58-78, S. 62ff. 67 | Vorschlag betreffend die Benützung der Freizeit der Arbeiter: Sechste Jahrestagung 1924. In: Internationales Arbeitsamt: Von der Internationalen Arbeitskonferenz auf den ersten sechs Jahrestagungen (1919-1924) angenommene Entwürfe von Übereinkommen und Vorschläge. Genf 1924, abgedruckt in Krüger, Freizeittätigkeit, Anhang, S. I–IV. Siehe dazu Poser, Freizeit, S. 7. 68 | M. Heßler, Die Ausschaltung des Menschen? Die Debatte um die Automatisierung und das Mensch-Maschine-Verhältnis in den 1950er Jahren. Vortrag auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Technikgeschichte, GTG, in Stuttgart 2014.

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von außen nur eingeschränkt kontrollierbare Raum der Gruben eignete.69 3) Der Wandel von Konsumenten zu sogenannten Prosumern, bei dem Konsumenten durch eine scheinbar spielerische Prozessgestaltung dazu motiviert werden sollen, für ein Unternehmen unentgeltlich Arbeit zu leisten. 4) Die Entwicklung der serious games, die Arbeit und Spiel miteinander verbinden, weil diese Spiele von vornherein zur systematischen Nutzung von Spielergebnissen geplant sind. Die Untersuchung von Spiel und Arbeit erscheint unter den hier vorgeschlagenen weiterführenden Fragestellungen als besonders fruchtbares Themengebiet, weil sie zentralen Begriffen gewidmet i