Giacomo Meyerbeer. Eine Biographie nach Dokumenten
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Eine Biographie nach Dokumenten von Reiner Zimmermann

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Reiner Zimmermann GIACOMO MEYERBEER Eine Biographie nach Dokumenten

Henschel Verlag Berlin 1991

Ubersetzungen aus dem Französischen: Eva Zimmermann Auf dem Umschlag: Foto von Nadar (nach 1850), Bibliothèque Nationale Paris Auf dem Frontispiz: Karikatur von Carjat, Baden 185o Die Fotos zu diesem Buch stellte freundlicherweise der Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig zur Verfügung.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Zimmermann, Reiner: Giacomo Meyerbeer : eine Biographie nach Dokumenten / Reiner Zimmermann. [Übers. aus dem Franz.: Eva Zimmermann]. — 1. Aufl. — Berlin : Henschel, 1991 ISBN 3-362-00515-2 © Henschel Verlag GmbH, Berlin 1991 1. Auflage • 7/91 Lektor: Renate Lerche Gestaltung: Henry Götzelmann Gesamtherstellung: Ludwig Auer GmbH, Donauwörth ISBN 3-362-00515-2

Inhalt

Einleitung • 7 Kapitel I • Kindheit in Berlin (1791-181o) • ii Kapitel II • Lehrzeit bei Abbé Vogler (1810-1812) • 30 Kapitel III • Intermezzo in Wien, Paris, London (1813-1816) • 69 Kapitel IV • In Italien (1816-1824) • 88 Kapitel V • Paris • »Robert-le-Diable« (1825-1831) • 135 Kapitel VI • Paris • »Les Huguenots« (1832-1836) • 187 Kapitel VII • Drei deutsche Meister • 228 Kapitel VIII • Romanzen • 268 Kapitel IX • Preußischer Generalmusikdirektor (1842-1846) • 289 Kapitel X • Paris • »Le Prophète« (1837-1849) • 325 Kapitel XI • Intermezzo an der Opéra-Comique • »L'Etoile du Nord« • »Dinorah« (1849—i859) • 358 Kapitel XII • Epilog • »L'Africaine« (1837-1865) • 400 Anhang Lebenstafel • 427 Werkverzeichnis • 43o Literaturverzeichnis • 436 Personenverzeichnis • 452

Einleitung

Der »Fall Meyerbeer« ist einmalig in der Musikgeschichte. Der Begründer der großen »historischen Oper« entwickelte das Modell eines totalen Musiktheaters, dessen Qualitäten durch ein ganzes Bündel von Fehl- und Vorurteilen verschüttet sind. Meyerbeer ist der zu seinen Lebzeiten am meisten gefeierte und am gründlichsten verdammte Opernkomponist. Er macht die Opernbühne mit den »Hugenotten« zum Schauplatz blutiger geschichtlicher Auseinandersetzungen, ohne vom verbrieften Recht der »Oper« Gebrauch zu machen, in einer Utopie eine Alternative zu zeigen. Vielmehr weist er in seinem Musiktheater mit illusionsloser Härte aus, was die Individuen im Getriebe von geschichtlichen Bewegungen zu erwarten haben: ihre Vernichtung. Je nach Mentalität und geistiger Haltung disqualifizieren die deutschen Kritiker Meyerbeer als Juden, der zu keiner originären nationalen Kunst fähig sei (Richard Wagner), als Franzosenfreund, der keine deutsche Musik schreiben könne (Ludwig Rellstab), oder als Stil-Eklektiker von »höchster Nichtoriginalität« (Robert Schumann). Bis zum heutigen Tag sieht sich die Musikkritik veranlaßt, Meyerbeers Form der »Grand Opéra« an der Elle des Wagnerschen Musikdramas zu messen und sich mit Wagners antisemitisch durchtränkter Abwertung der Meyerbeerschen Kunst als »Wirkung ohne Ursache« auseinanderzusetzen. Es ist bezeichnend für den gegenwärtigen Stand der Diskussion, daß auch vorliegender Versuch zuerst auf dieses Problem eingehen muß. Es ist an der Zeit, von der Wiederholung von Vorurteilen zur sachlichen Diskussion überzugehen, wie sie nunmehr anhand der erschlossenen Dokumente — Briefe, Tagebücher und Noten-Autographen — möglich ist. Vorliegende Arbeit ist deshalb ein erster und keineswegs erschöpfender Versuch, auf der Grundlage dieser Quellen ein von bewußt verfälschenden Interpretationen freies Bild vom Komponisten und Menschen Meyerbeer zu entwerfen im Bewußtsein der Subjektivität aller persönlichen Dokumente. (Diese sind ausschließlich in der originalen Orthographie wiedergegeben.) Die künstlerische Erscheinung Meyerbeers kann nur im Zusammenhang mit der Entwicklung ästhetischer, theaterpraktischer und gesellschaftlicher 7

Probleme in Frankreich zwischen 183o und 1865 gesehen werden, denn zweifellos sind seine Werke der künstlerische Höhepunkt jener Epoche. Entscheidender Ansatz war Meyerbeers Erkenntnis, daß sich die Große Oper nur in Paris herausbilden konnte. Daran entzündete sich letztlich die deutsche Kritik. Meyerbeers Lebensumstände, sein künstlerischer Weg, sein Reichtum, seine ausschließliche Konzentration auf das kompositorische Werk ohne schriftliche oder mündliche Äußerungen zu Absichten und Ansichten, auch ein Verbot, den Nachlaß wissenschaftlich zu nutzen, öffneten Spekulationen und Unterstellungen Tor und Tür. Auf die Witwe kam ein umfangreicher Nachlaß: Meyerbeers Partitursammlung (die er 183o mit 5oo Exemplaren begann und immer erweiterte) und die Autographen und Skizzen zu seinen vollendeten und unvollendeten Werken (insgesamt sechzehn Kisten), die Cornelie Richter (1842-1922), Meyerbeers jüngste Tochter, der evangelischen Herrnhuter Gemeine zur Aufbewahrung übergab. Ihr ältester Sohn Raoul Richter, 1895 zum Nachlaßverwalter bestimmt, verstarb am 14. Mai 1912, ohne eine sachgemäße Verwaltung verfügt zu haben. Deshalb verhandelten die Testamentsvollstrecker mit Adolf von Harnack, dem Direktor der Königlichen Bibliothek zu Berlin, und übergaben ihm 1915 den Nachlaß als Leihgabe für neunundneunzig Jahre. Notenmanuskripte und Tagebücher blieben zwanzig Jahre lang jeder wissenschaftlichen Einsicht verschlossen. Als die Sperrfrist 1935 ablief, war es lebensgefährlich, sich mit Leben und Werk des Juden Meyerbeer zu befassen. 1944 wurde der Gesamtbestand zusammen mit Autographen anderer Komponisten ausgelagert. Die Meyerbeer-Quellen gerieten in ein Kloster nach Grüssau im ehemaligen Schlesien (heute Krzeszow bei Kaminia Góra). Der größte Teil gilt gegenwärtig als verschollen. Einzig Wilhelm Altmann, 1915 Direktor der Musikabteilung der Königlichen Bibliothek, hatte Gelegenheit, den Nachlaß einzusehen. Er fertigte Abschriften der Tagebücher an, weil er die dokumentarisch wertvollen Aufzeichnungen veröffentlichen wollte. Als Cosima Wagner einige Richard Wagner betreffende Dokumente zurückzuerwerben wünschte und von einer Veröffentlichung der Tagebücher abriet, zogen die Erben die Genehmigung zur Herausgabe zurück. Cornelie Richter kaufte Altmann die Abschriften ab. Neben diesem Nachlaß existierte der größte Teil des Briefwechsels als geschlossenes Konvolut im Besitz der Familie. Der Musikwissenschaftler Emil Vogel ordnete nach 188o die Briefe und stellte ein rund dreitausend Dokumente umfassendes »Meyerbeer-Archiv« zusammen, das alle Kriegswirren unbeschadet überstand und das 1952 Cornelies jüngster Sohn, der Rechtsanwalt Dr. Hans Richter (gestorben 1955), dem Staatlichen Institut für Musikforschung Berlin übergab. 8

Dr. Heinz Becker begann im Auftrag der Akademie der Künste die Vorbereitung einer wissenschaftlichen Ausgabe des Briefwechsels und der Tagebuch-Abschriften, so daß seit 196o vier Bände (ab Band III gemeinsam mit Gudrun Becker erarbeitet) erscheinen konnten. Diese reichlich kommentierte Edition mit dem umfangreichen Literaturverzeichnis und der systematischen Ordnung der Werke Meyerbeers ist auch die Grundlage der vorliegenden Arbeit. Beckers Edition enthält — im Gegensatz zu mancher anderen Briefherausgabe — auch die erreichbaren Briefe an Meyerbeer. (Darüber hinaus schulde ich Prof. Dr. Becker weiteren Dank für seine uneigennützige Hilfe und Information zu vielen Details, die für meine Ausgabe der Lieder von Meyerbeer notwendig waren.) Mit dem Erscheinen des IV. Bandes endet vorläufig die Veröffentlichung des Briefwechsels. »Im Oktober 1984, nach erfolgter Drucklegung des vorliegenden Bandes, wurde das >Meyerbeer-Archiv< ... seitens der Erben wieder in die private Obhut zurückgenommen und steht somit den interessierten Wissenschaftlern zur Zeit nicht zur Verfügung ...«, erläuterte Heinz Becker. Damit blieb die Chance eines vollständigen Zugangs zu den Dokumenten ein weiteres Mal vertan. Die Dokumente wurden 1987 im Londoner Auktionshaus Sotheby versteigert. Glückliche Umstände verhinderten, daß der Briefwechsel in Privatbesitz überging und damit unzugänglich bliebe. Der Genius Mozarts breitete seine Schwingen über den Genius Meyerbeers aus, da am gleichen Tag zunächst MozartAutographen angeboten wurden. Der gesamte Meyerbeer-Bestand konnte von der Musikabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin (West) erworben werden. Dank dem Entgegenkommen von Dr. Rudolf Elvers konnte ich Anfang März 1988 die vorhandenen Dokumente einsehen. Neben Briefen sind darin auch Taschenkalender, Schulhefte, Kompositionsskizzen, Partiturabschriften sowie Hochzeitslieder, weiterhin Rezensionen, Programmzettel u. a. m. enthalten. Ich danke Frau Dr. Hertin und Herrn Dr. Klein für ihre Hilfe bei meinen Recherchen. Ungeklärt ist der Verbleib der Altmann-Abschriften; vermutlich sind sie zurückgehalten worden und nicht in die Auktion gelangt. Bis 198o gab es von den nach Krzeszow ausgelagerten Beständen keinerlei Nachricht. Dann wurde bekannt, daß die Autographen der vier Pariser Opern, »Robert-leDiable«, »Les Huguenots«, »Le Prophète« und »L'Africaine« (I.—IV. Akt), in der Biblioteka Jagielloríska in Krakow aufbewahrt werden. 1981 erhielt Sieghart Döhring als erster die Gelegenheit, die Partituren einzusehen. Von den anderen Quellen fehlt weiterhin jede Spur. Auffällig ist jedoch, daß die vier Autographen zuvor nie vom übrigen Nachlaß separiert worden waren. Dem Staatlichen Institut für Musikforschung verblieben nach dem Exodus des »Meyerbeer-Archivs« nur die seit 1952 käuflich erworbenen Dokumente: etwa hundert Briefe, die Aufzeichnung der sizilianischen Volkslieder sowie der zweite Akt der ersten italienischen Oper Meyerbeers, »Romilda e Costanza«. In diesem Konvolut konnte ich eine getrennte Lage mit einer Arie 9

aus der Oper »Emma di Resburgo« entdecken. Für die mir freundlich gewährte Unterstützung danke ich Herrn Dr. Zaminer und Frau Garschhagen. Der gegenwärtig in der Musikabteilung der Deutschen Staatsbibliothek Berlin befindliche Bestand an Meyerbeeriana umfaßt nur wenige Quellen, die durch Zufall nicht ausgelagert wurden, darunter der fünfte Akt der »Afrikanerin« und zwei Skizzenbücher aus der italienischen Zeit. Ein umfangreicher Teil von Dokumenten wird in Paris aufbewahrt. Innerhalb der Bibliothèque Nationale befinden sich sowohl in der Bibliothèque de l'Opéra als auch im Département de la Musique Autographen- und Briefkonvolute. Hier sind besonders die im Probenprozeß entfallenen Varianten der in Paris uraufgeführten Opern von Interesse. Da die Dokumente der letzten fünfzehn Lebensjahre Meyerbeers noch nicht zugänglich sind, war es notwendig, die hauptsächlichen biographischen Einzelheiten anhand von Briefen zu belegen. Die Finanzierung der umfangreichen Quellenbeschaffung aus den beiden genannten Bibliotheken sowie des Aufenthalts in Paris verdankt der Verfasser ausschließlich Herrn Dr. W. Kühnhold und Herrn H. Möller, Paderborn, die das Projekt in uneigennütziger Weise unterstützten. Herrn Möller verdanke ich außerdem viele Hinweise zu Fragen der Deutung szenischer Vorgänge. Dieses Buch wäre ohne das tätige Mitdenken verschiedener Kollegen nicht in der vorliegenden Form entstanden. Die ersten Anregungen erhielt ich 1968 von dem Dramaturgen Bernd Böhmel. In gemeinsamer Arbeit wurde eine erste Annäherung an die »Hugenotten« versucht und die Grundlage für eine Bühnenfassung geschaffen, die Joachim Herz 1974 am Leipziger Opernhaus inszenierte. In vielen Gesprächen mit Bernd Böhmel habe ich Erkenntnisse gewonnen, die in das vorliegende Buch eingeflossen sind, insbesondere die Gedanken zur Wiedertäuferpredigt im »Propheten« und die Erläuterungen zu Wagners »Judentum in der Musik«. Weiterhin danke ich den Musikabteilungen der Sächsischen Landesbibliothek Dresden, der Deutschen Staatsbibliothek Berlin, der Bibliothèque Nationale Paris und der Musikbibliothek Leipzig; Unterstützung gewährten außerdem Jean-Michel Nectoux (Musée d'Orsay, Paris) sowie Françoise Barthélémy (Paris). Mein Dank gilt Herrn Horst Wandrey, Cheflektor der Henschel Verlag GmbH, sowie in besonderer Weise Frau Renate Lerche, die als betreuende Lektorin das Projekt auf ermutigende Weise gefördert und mit »Meyerbeerscher Sorgfalt« den Text kritisch durchgearbeitet hat. Schließlich danke ich meiner Frau Eva, die sowohl alle Übersetzungen aus dem Französischen vornahm als auch viele andere Voraussetzungen schuf, ohne die das Buch nicht hätte geschrieben werden können. Dresden, im November 1989

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Reiner Zimmermann

Kapitel I Kindheit in Berlin

1791—i8io

Als Louis XVI. von seiner mißglückten Flucht nach Varennes im Juni 1791 nach Paris zurückgebracht und in den Tuilerien von wachsamen Nationalgardisten festgehalten wurde, trafen sich in Pillnitz bei Dresden der profillose Preußen-König Friedrich Wilhelm II. und der reformunwillige Habsburger Kaiser Leopold II., um dem französischen Volk wegen seiner Unbotmäßigkeit den Kampf anzusagen. Zur gleichen Zeit ertönten im eben gegründeten Jakobinerklub die scharfen Reden Robespierres. Die Deklaration der Menschenrechte durch die französische Nationalversammlung und die Pillnitzer Deklaration für das Ancien régime — beide wurden im Spätsommer 1791 formuliert. Ein Herr Mozart in Wien schrieb gerade an der Partitur seiner »Zauberflöte«. Die Worte: »Er ist Prinz? Noch mehr — er ist Mensch!« ließ Mozart unvertont; sie sollten deutlich gesprochen und verstanden werden. Derweil ließen die Damen in Schönbrunn sich schnüren, daß ihnen der Atem stockte. Ein Herr Grétry in Paris brachte den Schweizer Freiheitshelden »Guillaume Tell« auf die Bühne; die Pariser Damen kokettierten in lockeren, fließenden Gewändern. In Berlin träumte ein junger Mann von einundzwanzig Jahren vom ungebundenen Leben weit weg von der Zivilisation, vielleicht in Südamerika — Alexander von Humboldt war sein Name —, während unter seinem Fenster preußische Regimenter den Paradeschritt exerzierten. War das eine Zeit für einen künftigen Komponisten, etwa für Giacomo Meyerbeer, der am 5. September dieses Jahres geboren wurde? Er entstammte einer der reichsten jüdischen Familien Berlins, die dort seit über hundert Jahren ansässig war. 1677 wurde einer der Vorfahren, Hirtz Aaron Baer, erstmals urkundlich erwähnt. Er gehörte zu den Begründern der jüdischen Gemeinde, die im Berlin des Großen Kurfürsten, welcher auch die aus Frankreich vertriebenen Hugenotten aufnahm, ihre Geschäftstätigkeit entfalten konnte. Meyerbeers Großvater Juda Hertz Beer kam aus Frankfurt an der Oder und war dort ein angesehenes, wohlhabendes Mitglied der jüdischen Bürgerschicht. (Sein Haus in der Richtstraße Nr. 50, an der Ecke Schmiedegasse, unweit der ehemaligen Synagoge, heute Karl-Marx -Straße, 11

ging nach dem Tode seiner Eltern in den Besitz von Giacomo Meyerbeer über; es wurde im zweiten Weltkrieg zerstört. Es war noch zu Meyerbeers Zeit das Stammhaus der Familie, in dem die Nachkommen geboren wurden. — Auskunft des Stadtarchivs Frankfurt/Oder) Sein Sohn, Meyerbeers Vater Juda Jacob Hertz Beer (1769-1825) besaß Zuckersiedereien in Berlin und Gorizia (in der norditalienischen Provinz Udine). In Hannover und Hamburg gab es Niederlassungen; in der Hansestadt pflegte man geschäftliche Verbindungen zu Salomon Heine, dem Onkel des Dichters Heinrich Heine. Dank einem königlichen Patent war die Beersche Zuckerproduktion aus Rüben weniger mit Akzise belastet, so daß das Geschäft erhebliche Gewinne abwarf und Jacob Beer um 1815 als reichster Berliner Bürger gelten konnte. So ruhte das Geschick des kleinen Meyer von Anfang an auf einem Fundament harter Taler, die sich täglich vermehrten, die aber durch Fehlspekulationen oder Zufälle ebensogut hätten verschwinden können. Wenn es auch im späteren Leben Meyerbeers Schwankungen in der Bilanz des väterlichen Geschäfts gab, so bestand doch, entgegen anderslautenden Andeutungen von Familienmitgliedern, niemals Grund zur Besorgnis, am Hungertuch nagen zu müssen. Denn auch mütterlicherseits war viel »Vermögen« in die Familie gekommen. Der Großvater mütterlicherseits, Liebmann Meyer Wulff, als »Banquier Wulff« der »Crösus von Berlin«, leitete während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms III. die preußische Klassenlotterie, bei der er die Lose an die Lotterieeinnehmer verteilte und gleichzeitig die nicht unbeträchtlichen Abgaben an die Staatskasse regulierte. Die »schmutzigen« Geldgeschäfte überließ man für gewöhnlich den Juden. Zudem konnte man die »Geldjuden« zur Verantwortung ziehen, wenn es zu staatlichen Finanzschwierigkeiten kam. Der »Crösus von Berlin« indessen war geschickt und vermehrte durch Finanzspekulationen sein ohnehin beträchtliches Vermögen. Meyerbeers Mutter Amalia (1767-1854) war eine ungewöhnliche Frau. Alle Zeitgenossen waren des Lobes voll über ihren Charme, ihre Klugheit, ihre Gastfreundschaft (die sie sich leisten konnte, ohne damit zu prahlen). Wir dürfen sie uns — nach den Berichten ihrer Zeitgenossen — als eine lebhafte, gebildete Dame vorstellen, von einem Kranz von Verehrern umgeben, mit denen sie geistreiche Konversation betrieb. In musikalischen Dingen kannte sie sich bestens aus, war sie doch vom Berliner Hofkapellmeister Vincenzo Righini in Gesang und Musiktheorie unterwiesen worden. Ihre Briefe zeugen von einer starken Persönlichkeit. Deren Orthographie darf nicht zu dem Fehlurteil führen, sie sei ungebildet gewesen. Gewiß war sie ohne strenge Schulbildung aufgewachsen und behandelte die Regeln so wie Goethes Mutter Amalie, an die sie in vielem erinnert, nämlich sehr individuell — doch sie wußte, wovon sie sprach. Für ihre uneigennützige charitative Tätigkeit während der Befreiungskriege wurde ihr 1816 sogar der Luisenorden verliehen, eine für eine Jüdin ungewöhnliche Auszeichnung. 12

Heinrich Heine schrieb 1837 im 9. Vertrauten Brief an August Lewald: »Wohltätigkeit ist eine Haustugend der Meyerbeer'schen Familie, besonders der Mutter, welcher ich alle Hilfsbedürftigen, und nie ohne Erfolg, auf den Hals jage.« Sie könne, so sagte man von ihr, nicht ins Bett gehen, ohne nicht wenigstens eine edle Tat vollbracht zu haben. Die Familie Beer führte ein großes Haus; seit 1801 in einer Luxusvilla in der Spandauer Straße 72, dann im Tiergarten am ehemaligen Exerzierplatz. Die weitläufige Villa, später als Kadettenanstalt genutzt, sah fast täglich illustre Gäste von Bühne und Podium. Fast jeder namhafte Künstler, der in Berlin gastierte, besuchte auch das gastfreie Haus Beer: die Komponisten und Virtuosen Louis Spohr, Carl Maria von Weber, Muzio Clementi, Ignaz Moscheles, Adolf Kalkbrenner, der Klarinettist Heinrich Joseph Baermann, der Organist Joseph Vogler, genannt Abbé Vogler, der komponierende Prinz Louis Ferdinand von Preußen, der 1806 bei Jena fiel. Vater Beer war ein »Theaternarr« und gehörte zu den Mäzenen des 1824 gegründeten Berliner Königstädtischen Theaters, in dem hauptsächlich Lustspiele, komische Opern und Melodramen aufgeführt wurden. Der regelmäßige Besuch des Theaters gehörte zu den selbstverständlichen Vergnügungen, so daß Meyerbeer frühzeitig mit der Bühne vertraut gemacht wurde. Amalia Beer schenkte vier Söhnen das Leben. Der Erstgeborene sollte im Frankfurter Stammhaus zur Welt kommen. Offenbar war die werdende Mutter zu spät in die Kutsche gestiegen; sie erreichte das Stammhaus nicht mehr rechtzeitig und brachte auf der Poststation Tasdorf (oder Vogelsdorf bei Berlin, niemand weiß es genau zu sagen) einen Knaben zur Welt, der die Vornamen Jakob Liebmann Meyer erhielt. (i 8 i o wurde der Name zu Meyerbeer zusammengezogen; er nahm den Vornamen Jakob bzw. französiert Jacques an und nannte sich ab 1817, aus Dankbarkeit gegenüber Italien, Giacomo Meyerbeer.) Dem Ältesten folgten Heinrich, in der Familie Hans genannt (1794-1842), Wilhelm (Wulff 1797-1850) und Michael (1800-1833). Die beiden älteren Söhne wuchsen gemeinsam auf, traten beide 1805 in Zelters Singakademie ein, und als Meyerbeer i 8 i o zu Abbé Vogler in die Lehre ging, begleitete ihn Hans für ein paar Monate. Zu Heinrichs (Hans') Hochzeit mit Betty Meyer am 30. August 1818 komponierte Bernhard Anselm Weber, Berliner Hofkapellmeister und häufiger Gast des Beerschen Hauses, auf den Text »Hochzeit ist ein lieblich Klingen« von Friedrich Wilhelm Gubitz ein Terzett; Vater Beer schrieb dem in Italien weilenden Giacomo: »... bey Hans seiner Trauung waren eine Menge Ministr zu gegen die ich dazu eingeladen und hat da es ganz was Neues wahr vielen Beifall erhalten auch der Englische gesandte mit seiner ganzen Famillie war zugegen« (26. September i 8 i 8). Später galt Heinrich unter den Beerschen Söhnen als das schwarze Schaf. Heine berichtete 1853 in seinen »Geständnissen«, nicht ohne boshafte Zwischentöne, was man ihm aus Berlin zugetragen 13

hatte: »Jener Beer, nämlich der Heinrich, war ein schier unkluger Gesell, der auch wirklich späterhin von seiner Familie für blödsinnig erklärt und unter Kuratel gesetzt wurde, weil er, anstatt sich durch sein großes Vermögen einen Namen zu machen in der Kunst oder Wissenschaft, vielmehr für läppische Schnurrpfeifereien seinen Reichtum vergeudete und z. B. eines Tages für sechstausend Thaler Spazierstöcke gekauft hatte. Dieser arme Mensch ... dieser aus der Art geschlagene Beer genoß den vertrautesten Umgang Hegel's, er war der Intimus des Philosophen, sein Pylades, und begleitete ihn überall wie sein Schatten.« Dagegen war Wilhelm der wohlgeratene Sohn, der, ebenso wie die anderen, eine fundierte, vielseitige Ausbildung erhielt, musikalisch interessiert war und bei Liebhaberaufführungen als Sänger mitwirkte. Er trat ins Comptoir der Firma ein und übernahm nach dem Tod seines Vaters die Leitung. Er war der einzige Geschäftsmann unter den vier Söhnen. Das Wohl seines älteren Bruders Giacomo lag ihm genauso am Herzen wie die Prosperität der Firma. Viele Briefe Wilhelms an Giacomo geben Aufschluß über seine Beobachtungen der Berliner Opernwelt; in geschäftlichen Angelegenheiten beriet er seinen Bruder und führte in dessen Abwesenheit alle Verhandlungen mit der Berliner Opern-Administration. Wissenschaftlich arbeitete er als Astronom und veröffentlichte einige Schriften, u. a. 1837 »Der Mond, oder allgemeine vergleichende Selenographie«. Als Kommerzienrat war er eine einflußreiche Persönlichkeit der Berliner Finanzwelt, und sein Haus, das seine als Berliner Schönheit bekannte Frau Doris Schlesinger führte, war ein vielbesuchter Treffpunkt der Berliner Gesellschaft, wo der Adel gern seinen Tee trank. Als Wilhelm 185o starb, wurde die Firma liquidiert. Der jüngste Bruder Michael sah schon als Neunzehnjähriger seinen dramatischen Erstling »Klytämnestra« in Berlin uraufgeführt, was den weitreichenden Beziehungen seiner Eltern zu danken war. Nach dem Drama »Die Bräute von Aragonien« schrieb er 1828 den »Paria«, sein bedeutendstes Werk, in dem er am Beispiel des indischen Paria die Stellung der Juden in der Gesellschaft dramatisch gestaltete. 1829 konnte in München sein Schauspiel »Struensee« uraufgeführt werden, das der Berliner Hof mit Rücksicht auf das verwandtschaftlich verbundene dänische Königshaus verboten hatte. Seine Laufbahn als deutscher Dramatiker wurde durch seinen frühen Tod 1833 jäh abgebrochen. Er war Meyerbeers Lieblingsbruder und sein bester Partner in Fragen der künstlerischen und menschlichen Existenz. Vater Jacob Beer legte Wert auf eine gediegene Ausbildung seiner Söhne im Sinne einer jüdischen »Aufklärung«. Er vertrat nicht das orthodoxe Judentum, das sich als auserwähltes Volk von allen Nichtjuden absonderte, sondern hielt mehr von einer Öffnung seiner Glaubensbrüder gegenüber progressiven bürgerlichen Bestrebungen, wie sie ihm sein realer Geschäftssinn eingab, ohne daß er zum Konvertiten, zum Verfechter des Glaubensübertritts zum Katholizismus oder zum Protestantismus, wurde. In diesem 14

Sinne wirkte er im Altestenrat der Berliner Jüdischen Gemeinde für die Emanzipation der Juden in Preußen. Jahrhundertelang war der Wohnsitz der Juden auf das Ghetto in festgelegten Städten beschränkt, und es war ihnen verwehrt, bestimmte Berufe im Staatsdienst oder in öffentlichen Ämtern auszuüben. Sie durften kein Land kaufen, um sich als Bauern anzusiedeln, so daß ihnen nur die Möglichkeit des Handels und Geldverleihs blieb, eine Sache, bei der man sie einerseits um ihr Geschick beneidete, dieses aber andererseits auch häufig genug zum Anlaß für drastische Strafmaßnahmen nahm. Antisemitismus erschien in religiöser Verbrämung und meinte handfeste ökonomische Interessen. Sc) wurden im friderizianischen Preußen die Juden verpflichtet, bei jeder Hochzeit ein großes Speiseservice aus der Königlichen Prozellanmanufaktur zu kaufen, da sich dieses Porzellan wegen zu hoher Selbstkosten nur schwer absetzen ließ. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreiteten sich besonders in Berlin die Ideen der Aufklärung, und es war nur eine Frage der Zeit, wann Toleranz, Gleichberechtigung der Konfessionen, Emanzipation und Gewissensfreiheit auch den Juden zuerkannt wurden, wie der Aufklärer Moses Mendelssohn (1729-1786) gefordert hatte. Als 1786 Friedrich II. starb, versuchte der jüdische Altestenrat über David Friedländer, den Vorsteher der jüdischen Gemeinde und einflußreichsten Mann nach Mendelssohn, eine Lockerung der diskriminierenden Vorschriften zu erreichen. Daraufhin wurde ein Jahr später der »Leibzoll«, eine Art Kopfsteuer, abgeschafft, der die Juden bisher einer Ware gleichgesetzt hatte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts forderte der preußische Justizkommissar Grattenauer, ein Judenfresser, das Tragen des Davidsterns. Nur das siegreiche Vordringen Napoleons verhinderte eine solche Maßnahme, mit der der deutsche Faschismus die Juden in unserem Jahrhundert auf das unmenschlichste erniedrigte. Napoleon war der Befreier der deutschen Juden. Sein Code Civil galt auch für die Juden, deren Finanzmächtigkeit er wohl zu schätzen wußte. Von Paris ging deshalb auch in späteren Jahren ein verständlicher Sog aus, der viele deutsche Juden nach 182o in die französische Hauptstadt zog. Dort herrschte die notwendige Toleranz. Heine, Börne, Meyerbeer, Marx waren nur die prominentesten der jüdischen deutschen »Emigranten«, die das Leben in der »Hauptstadt der Welt« der deutschen provinziellen Enge vorzogen. Nachdem Napoleon kraft der Bajonette die Ausnahmegesetze aufgehoben hatte, wurden die Juden David Friedländer und Salomon Veit 1809 Mitglieder des Berliner Magistrats. Nach der vernichtenden Niederlage des preußischen Staats wurden nun auch die Verhältnisse der jüdischen Mitbürger neu geregelt. Der preußische Staatskanzler Hardenberg, mit der Familie Beer befreundet, formulierte, unterstützt von Wilhelm von Humboldt, das »Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen 15

Staate«, das am i i. März 1812 erlassen wurde. Es galt zunächst nur für die Provinzen Brandenburg, Schlesien, Pommern und Ostpreußen, auf die der preußische Staat zusammengeschrumpft war. Im § i hieß es: »Die in unseren Staaten jetzt wohnhaften, mit General-Privilegien, Naturalisations-Patenten, Schutzbriefen und Konzessionen versehenen Juden sind für Einländer und Preußische Staatsbürger zu achten.« Damit waren die alten Gewerbebeschränkungen aufgehoben; die Juden konnten sich den Wohnsitz selbst wählen, akademische Schul-, Lehr- und Gemeindeämter bekleiden, sie waren nunmehr militärpflichtig, eine im Hinblick auf die kommende Zeit wichtige Entscheidung. Die preußischen Juden setzten alles daran, nunmehr auch als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt zu werden. In dem 1806 gegründeten jüdischen Blatt »Sulamith, eine Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation« hieß es 1812: »Mit dem i i . März hat für unsere Glaubensgenossen im preußischen Staate eine neue, glückliche Ara begonnen. Durch die Erlangung der bürgerlichen Rechte, durch die Gleichstellung unserer Glaubensgenossen mit allen übrigen Einwohnern des Staates ist ein neuer Geist unter den Israeliten rege geworden, und unser ganzes Wirken und Streben hat eine ganz andere Tendenz erhalten.« Meyerbeer war also einundzwanzig Jahre alt, als er ein richtiger preußischer Staatsbürger werden durfte. Vieles von diesem Edikt blieb Theorie, und auch in der Familie Beer wuchs die Einsicht, daß das Edikt allein gegen die Macht des verdeckten Antisemitismus nicht ausreichte. Zusätzliche tragische Spannungen ergaben sich während der Befreiungskriege, als viele jüdische Freiwillige unter die preußischen Fahnen eilten, um gegen den Usurpator zu kämpfen, der als der Befreier der Juden gekommen war. Jacob Hertz Beer hatte 1812 einen Tempel in seinem Haus errichten lassen, um einem reformierten jüdischen Gottesdienst eine Heimstatt zu geben. Hier wurde deutsch gesungen, Zelter, B. A. Weber und Meyerbeer schrieben die Chorsätze, die Predigten wurden in Deutsch gehalten. Der Beersche Tempel war ein Sammelpunkt der modernen kunstliebenden Juden und wurde bald sowohl von den orthodoxen Juden als auch von konservativen Kreisen um Friedrich Wilhelm III. beargwöhnt. Der Monarch beauftragte 1816 den Staatskanzler Hardenberg mit der Schließung des Tempels. Gemeinsam mit dem Kanzler fand man im Hause Beer die Ausrede, der neue Tempel sei ein Ausweichort, weil die alte Synagoge inzwischen zu klein geworden sei. Jacob Beer stand also in der ersten Linie der jüdischen Emanzipationsbewegung, die sicher nicht ohne Eindruck auf den jungen Meyer blieb. Nach höfischem Vorbild erhielten die Beerschen Söhne Hauslehrer, die der Berliner Aufklärung nahestanden. Eduard Kley, von 1809 bis 1817 Erzieher von Michael Beer, war Schüler Fichtes und Schleiermachers, zwei der 16

wichtigsten Gestalten der Berliner Aufklärung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Deren Tradition reichte rund fünfzig Jahre zurück, als Berlin, dank dem Wirken von Voltaire und Maupertuis, dem Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, und dank Lessing, Nicolai, Moses Mendelssohn zu einem Zentrum der europäischen Aufklärung geworden war. Wichtige Schriften wie Nicolais »Briefe, die neueste Literatur betreffend« (1759) und die »Allgemeine Deutsche Bibliothek« (1765) konnten in der preußischen Hauptstadt erscheinen. Erst ein radikales Pressegesetz, 1788 unter Friedrich Wilhelm II. erlassen, zwang die Schriftsteller, ihre Werke außerhalb Berlins drucken zu lassen. Die Treffpunkte der gebildeten Gesellschaft waren die Zentren der Aufklärung: Johann Georg Sulzers »Montagsklub« (seit 1748) und die »Mittwochsgesellschaft« (seit 1783). Im Salon der Jüdin Henriette Herz verkehrten die Brüder Humboldt, Friedrich Schlegel, Friedrich Schleiermacher; im Salon der Jüdin Rahel Levin zu Beginn des 19. Jahrhunderts Ludwig Börne und Heinrich Heine. Der Künstler-Salon der Amalia Beer war also keine Ausnahmeerscheinung. Für Meyerbeer und Heinrich wurde Aron Wolfssohn als Erzieher gewonnen. Dieser hatte noch mit Moses Mendelssohn, später mit David Friedländer Kontakt, als er Redakteur der 1784 gegründeten jüdischen Zeitschrift »Hameassif« (Der Sammler) wurde. Es war seine Absicht, die hebräische

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Seite aus einem Mathematikheft Meyerbeers, 18o6. Staatsbibliothek Berlin i7

Sprache entsprechend den aufklärerischen Ideen im Konzert der »Stimmen der Völker« als Literatursprache zu beleben, um jüdisches Ideengut der europäischen Aufklärung zu vermitteln. 1804, erschien Wolfssohns Schrift »Jeschurun, oder unpartheiische Beleuchtung der dem Judenthume neuerdings gemachten Vorwürfe«, in der er eine Veränderung der jüdischen Lebensformen und eine Angleichung an die Gebräuche der europäischen Völker forderte, was nichts anderes bedeutete als die geistige Überwindung des Ghettos. Gleichzeitig empfahl er, das rabbinische Schrifttum von überholten Lehrsätzen zu befreien. Als ein Pestalozzi der jüdischen Schulreform wirkte er an der Wilhelmsschule in Breslau, die er zu einer der bedeutendsten Bildungsanstalten jüdischer Konfession entwickelte. Damit war er für Vater Beer bestens empfohlen. Wann er die Erziehung von Hans und Meyerbeer übernommen hat, ist ungewiß. Das früheste Dokument seiner Verbindung zum Hause Beer stammt aus dem Jahr 1807. Ob Wolfssohn neben seiner Funktion als Haupterzieher auch Hebräisch lehrte, ist nicht sicher, da es hierzu in den Schulheften keinen Anhaltspunkt gibt. Auf jeden Fall war er, wie es die Briefe an ihn ausweisen, die Vertrauensperson für beide junge Herren. Es ist sicher, daß Wolfssohn seinem Zögling die Ideen der Aufklärung einpflanzte, die Meyerbeer bis an sein Lebensende in sich trug. Er setzte sie in seinen Werken in Beziehung zu den tatsächlichen Verhältnissen und stellte fest, daß Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit im 19. Jahrhundert nicht verwirklicht wurden: eine seiner wesentlichsten Erfahrungen. Durch Wolfssohns Einfluß vollzog Meyerbeer den Austritt aus dem Ghetto. Zu seiner künstlerischen Heimat wählte er die europäische Kultur, die ihm am ehesten in Paris zu gedeihen schien, und so wurde schließlich die französische Hauptstadt zu seiner Wahlheimat. Dennoch jagte er oft monatelang quer durch Europa, um Aufführungen seiner Werke zu befördern. Die Unrast des Ahasver steckte auch in ihm. In Berlin wollte und konnte er keine Wurzeln schlagen. Die Internationalität wurde sein Lebens- und Schaffensprinzip. Künstlerische Eindrücke nahm er zu gleichen Teilen in Deutschland, Italien und Frankreich auf, wobei die Entwicklung der französischen Gesellschaft den stärksten Einfluß auf sein Denken ausübte. Die Korrespondenz führte er bis an sein Lebensende in allen drei Sprachen; in seinen autographen Notenskizzen mischen sich Deutsch und Französisch. Zugleich mit der geistigen Überwindung des Ghettos gewann Meyerbeer Anschluß an die deutsche Klassik, die er durch Abbé Vogler in ihren besten Traditionen kennenlernte. Wolfssohns Glaubensreform wirkte sich auch auf Meyerbeers geistliche Kompositionen aus: Es gibt von ihm nicht einen einzigen Chorsatz auf hebräisch, sondern nur deutschsprachige Kirchenmusik. Allerdings war die Eroberung des klassischen deutschen Bildungsgutes und die Annäherung an das christliche Europa nie ganz problemlos, da der Antisemitismus den Komponisten jederzeit an seine Herkunft erinnern 18

konnte. Nur wenige Vertreter der deutschen Geisteswelt — darunter Alexander von Humboldt und Kanzler Hardenberg — waren frei von diesem »Gerücht von den Juden«. Die Hauslehrer trafen auf einen lernwilligen und sehr aufnahmefähigen Knaben. Es sind einige Schulhefte erhalten, z. B. Italienischer Aufsatz, Geographie (1805), Geschichte, ein Aufsatz »Was ist Glückseligkeit« (18o6), Philosophie, Mathematik, »Weltgeschichte nach dem Vortrage des Herrn Hübner«, seines Geschichtslehrers (1807). Das Schulheft im Fach Geschichte wurde am Montag, dem 15. Dezember 18o6, in dem Jahr, als das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ruhmlos untergegangen war, mit folgenden Worten begonnen: »Die älteste Geschichte der Deutschen liegt, wie die aller übrigen Völker, im fabelhaften Dunkel eingehüllt. Fast 2oo Jahre vor Christi Geburt wird uns dieses Volk durch seine Kriege mit den Römern bekannt. Julius Cäsar war der erste, welcher in Germanien eindrang, und durch die Beschreibung dieses Krieges von Römischen Schriftstellern lernen wir die Sitten unserer Vorfahren kennen ...« Der fünfzehnjährige jüdische Schüler lernte also die Geschichte der deutschen Nation kennen, die sich damals nur im Rahmen der Königs- und Kaisergeschichte bewegte. Aber es war der erklärte Wille der Eltern, daß ihr Sohn mit den deutschen Traditionen vertraut wurde. In den Schulheften sind einige Stundenplannotizen überliefert: »Montag 8.9 Geographie 9. 1 o Deutsche Sprache Mittewoche, 9 • i o Geschichte io • 11 Deutsche Sprache 11 • 12 Geographie Sonnabend 8 • 9 Deutsche Sprache Geschichte«. Auf der Innenseite des Italienisch-Heftes (18o5) steht folgender Tagesplan: 7.8 8 • 9 Zelter 12 • 1

3 ' 4• 4 ' 5 Hübner 5.6 6.7 Lauska 7.8

Neben den humanistischen Fachern, zu denen auch Französisch bei Monsieur Fillon gehörte, erhielt Meyerbeer Kompositionsunterricht bei Carl Friedrich Zelter und Klavierunterricht bei Franz Lauska. Dieser 1764 in Mähren geborene Komponist war bei dem Kontrapunktiker Albrechtsberger in Wien ausgebildet worden und ließ sich 1798 in Berlin als Klavierlehrer nieder, wo er in vornehmen Kreisen und bei Hofe unterrichtete. So war es nur eine Frage seines Zeitplans, wann er Gelegenheit haben würde, die Studien von Meyerbeer zu beaufsichtigen. Wann das Kind zum ersten Mal die Tasten eines Cembalos oder eines 19

Hammerklaviers bewußt berührt hat, weiß man nicht. Aber in ihm schlummerte eine eminente musikalische Begabung, die, eines Tages erkannt, gehegt und gepflegt wurde, um ein hohes Ziel zu erreichen: Ein Wunderkind auf dem Pianoforte sollte Meyerbeer werden! So wurde noch vor der Allgemeinbildung der größte Wert auf eine fundierte musikalische Bildung gelegt. Aus dem Jahr 1799 ist das allererste uns bekannte Notenblatt Meyerbeers überliefert: ein »Choral in Hypomixolydisch«, keine eigentliche Komposition, sondern eine harmonische »Rechenaufgabe«, die er offenbar unter Lauskas Aufsicht verfertigte. Es handelt sich um den B. Ton der mittelalterlichen Kirchentöne, transponiert nach einem unüblichen Ausgangston. Der Achtjährige wagte den Sprung in eine längst vergangene musikalische Welt, die gleichwohl, und das werden ihn die kommenden Jahre lehren, zum Urgrund musikalischer Ausbildung gehört.

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Nach dreijährigem Unterricht stellte sich der angehende Virtuose der Öffentlichkeit vor und spielte das d-Moll-Klavierkonzert KV 466 von Wolfgang Amadeus Mozart, dem erklärten Vorbild. Die »Allgemeine musikalische Zeitung« berichtete am 14. Oktober 1801: »Das vortreffliche Klavierspiel des jungen Bähr, (eines Judenknaben von 9 Jahren) der die schweren Passagen und andere Solosätze mit seiner Fertigkeit bezwingt und einen, in solchen Jahren noch seltnern feinen Vortrag hat, machte das Konzert noch interessanter...« Meyerbeer war zwar schon zehn Jahre alt, aber leichte Korrekturen der Lebensdaten waren ja auch von anderen jungen Virtuosen bekannt. Von nun an ließ er sich mindestens einmal jährlich in Konzerten hören. Bald begann er, für seinen eigenen Gebrauch Klavierwerke zu komponieren, von denen zu Beginn unseres Jahrhunderts noch zwei Klaviersonaten in c-Moll und G-Dur zugänglich waren. Die erste dieser Kompositionen entstand am 12. Dezember 1803. Über ihren Stil kann nur spekuliert werden. Möglicherweise schlossen sie sich an das bewunderte Vorbild Mozart an. Gegenüber dem Musikgelehrten François Fétis bekannte Meyerbeer 1838: »Was meine Klavierkompositionen aus dieser Zeit betrifft, so lohnt es sich nicht, daß man darüber spricht.« Aus der späteren Sicht hatte er damit zweifellos recht. Selbstverständlich oblag dem jungen Eleven der Tonkunst auch die musikalische Umrahmung von Familienfeierlichkeiten. Vom 18. August 1806 ist eine Kantate zum Geburtstag des Großvaters Liebmann Meyer Wulff erhalten, die offenbar bereits für einen anderen Zweck vorgelegen hatte und nun aus aktuellem Anlaß auf den neuesten Stand gebracht wurde, indem aus der ursprünglichen »Mutter« einfach der »Vater« gemacht wurde: »0 theurer Vater, welche Gabe kann heute Dich erfreun ...« Zum Geburtstag der Mutter Amalia am 1. Februar 1809 dichtete Aron Wolfssohn im Schlußchor: Heilig bleibe unserm Bunde Heilig, heilig diese Stunde Die Dich Edle rief ins Leben, Dich zur Freude uns zu geben! Und wer Gutes liebt, das Edle ehrt, Zu schätzen weiß der Tugend Werth, Der, der bete heute spät und früh: Lang lebe uns're Amalie! Die Reime, Versfüße und Worte sind, wie in solchen Fällen nicht anders zu erwarten, nicht allererster Güte, und auch in der Komposition klangen vertraute Modelle an. Es genügte für den Hausgebrauch, und Mutter »Amalie« wird sicherlich gerührt gewesen sein. Vermutlich 1805 begann der Kompositionsunterricht bei Zelter, dem Maurer- und Liedertafelmeister. Hier lernte Meyerbeer Choräle harmonisie21

ren, zwei Jahre lang. Das war auf die Dauer unergiebig. Vielleicht brachte der sangesfreudige Meister in seiner rauhen, aber herzlichen Art zuwenig Abwechslung in die Tafellieder und Choräle, vielleicht lag ihm auch wenig an diesem sensiblen Jüngling, möglicherweise wollte er seine Zeit lieber der Singakademie widmen. Zelter gehörte zu jener in Berlin stark ausgeprägten bürgerlichen Musikergeneration, die sich vorrangig der Komposition geselliger Lieder zuwandte. Schon nach 175o hatte es mit Christian Gottlieb Krause und Johann Abraham Peter Schulz eine erste Berliner Liederschule gegeben; Zelter gehörte neben Reichardt, Himmel und Ludwig Berger zur zweiten Berliner Liederschule. Viele Lieder Zelters und Reichardts sind, etwa im Vergleich mit den unscheinbarsten Schöpfungen Mozarts mit ihrer reichen harmonischen und motivischen Durcharbeitung, sehr schlicht gehalten und basieren oftmals nur auf dem einfachen Wechsel der beiden Grundfunktionen Tonika und Dominante (Reichardt, »Jägers Abendlied«) oder lediglich erweitert um die Subdominante (Zelter, »Das Rosenband«, 181o). Die Reduzierung auf ganz wenige harmonische Reize geht einher mit einer von Terzen bestimmten Melodik, die streng periodisch gefaßt ist. Diese Lieder »im Volkston« stellen nur geringe Ansprüche, obwohl sie mit obligater, d. h. durchkomponierter Begleitung am Pianoforte, am Hammerklavier rechnen und keine Volkslieder mit improvisierter Begleitung darstellen. Nur in wenigen Goethe-Vertonungen hoben sich beide Komponisten vom Niveau ihrer übrigen Werke ab. Für Meyerbeer war das kein Anknüpfungspunkt. Amalia Beer hielt die Zeit bei Zelter für zwei unnütze Jahre und sah sich nach einem anderen Lehrer um. Sie fand ihn um 1807 in dem seit langem mit dem Beerschen Haus befreundeten Bernhard Anselm Weber (1766-1821), der seit 1792 am Berliner Nationaltheater als 2. Kapellmeister wirkte. Das Klavier und die Oper waren nunmehr Meyerbeers Hauptinteressen, mit denen er bei Weber an der richtigen Stelle war. Jetzt gehörte es zum Unterricht, in der Loge der Eltern Vorstellungen zu besuchen oder hinter den Kulissen Bühnenluft zu schnuppern. Es wurde eine Liebe fürs Leben. Ab 1814 hat Meyerbeer nur wenige Abende nicht im Theater verbracht. Im Gegensatz zu Wien, München oder gar Paris und auch im Gegensatz zu der bedeutenden Stellung in der europäischen Aufklärung war das Berliner Musikleben des 18. Jahrhunderts nur für kurze Zeit über ein provinzielles Niveau hinausgewachsen: als 1742 Carl Heinrich Graun für die Eröffnung des Knobelsdorffschen Opernhauses Unter den Linden ein leistungsfähiges italienisches Opernensemble zusammenstellte. Man konnte es sogar wagen, den Dresdner Hofkapellmeister Johann Adolf Hasse für Berlin zu werben, der aber vorsichtig ablehnte. Mit dem Ausbruch der Schlesischen Kriege benötigte Friedrich II. jedoch das Geld für Kanonen statt für Kunst. Damit verging rasch die Blütezeit des Opernhauses. Durch mangelndes Interesse der preußischen Herrscher, die nur ab und 22

an aus repräsentativen Gründen die desolate Lage des Hauses stabilisierten, und durch einen liebevollen Konservatismus, der an den Werken Grauns und Hasses hing, ohne sich z. B. dem Reformwerk Glucks zu öffnen, war die preußische Hofoper im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts künstlerisch tief gesunken. Reichardts und Naumanns italienische Opern (»Andromeda«, 1788, »Protesilao«, 1789, »Brenno«, 1789, »L'Olympiade«, 1791) und Reichardts Kapellmeistertätigkeit (1775-1794) blieben ohne Wirkung. Reichardt gelang es auch nicht, ein deutsches Repertoire aufzubauen. Er ging wegen Querelen mit dem Sur-Intendanten Duport auf Reisen und überließ das Feld den Italienern, die mit Felice Alessandri (1788-1792) und Vincenzo Righini (1793-1806) ihre Stellung als Hofkapellmeister behaupten konnten. Für Reichardt wurde Friedrich Heinrich Himmel engagiert, der wie Righini italienische Opern komponierte, die aber aufgrund ihrer geringen Qualität weder dem italienischen Ensemble aufhalfen noch dem deutschen Theater eine ernsthafte Konkurrenz sein konnten. Als sich das Ensemble 1796 und 1804 endlich Glucks »Alceste« zuwandte, war es zu spät: Mit Napoleons Einmarsch 1806 in Berlin wurde das Opernhaus geschlossen und das Personal entlassen. Damit endete nach vierundsechzig Jahren die italienische Operntradition in Berlin. Dem deutschen Singspiel wurde von Friedrich Wilhelm II. 1786 das ehemalige französische Komödienhaus als »Nationaltheater« zur Verfügung gestellt. Theophil Doebbelins Truppe spielte zuerst darin. Eine rührige Generaldirektion, die bald an Doebbelins Stelle trat, engagierte beste Kräfte: Henriette Baranius, Friedrich Unzelmann, Therese und Friedrich Eunicke, Margarete Schick, Amalie Auguste Schmalz, Friedrich C. Lippert. Bernhard Anselm Weber trat 1792 sein Amt als Musikdirektor an. Mehr Anklang als Mozarts »Entführung« (1788) fand Dittersdorfs »Doctor und Apotheker«; trotzdem waren die Mozart-Opern in Berlin bereits kurz nach den Uraufführungen zu hören: »Le Nozze di Figaro« (September 1790), »Don Giovanni« (Dezember 1790), »Così fan tutte« (1792), »Die Zauberflöte« (1794), »La Clemenza di Tito« folgte 1801, »Idomeneo« 1806. 1795 stand mit »Iphigenia in Tauris« erstmals eine Reform-Oper von Gluck auf dem Spielplan des Nationaltheaters, nachdem man bereits 1783 seine frühen Stücke »Die Pilgrime von Mekka« und »Der betrogene Kadi« gezeigt hatte. »Armide« wurde 1804 inszeniert. August Wilhelm Iffland hatte 1796 die Intendanz des Nationaltheaters übernommen, das die Kriegswirren überstand und 1811 mit dem Opernhaus zu den »Königlichen Schauspielen« vereinigt wurde. Die anspruchsvolle Bezeichnung »Nationaltheater« wurde bei dieser günstigen Gelegenheit gestrichen. Ifflands Interesse galt mehr dem Sprechtheater, doch die Kapellmeister erweiterten ihr Repertoire um Händel, Padre Martini, Piccinni und Cherubini. Großen Erfolg hatten die neuen Opern Gasparo Spontinis, des kaiserlichen Hofkompositeurs aus Paris. »Die Vestalin« und »Fernand Cortez« wur23

den in Berlin nur jeweils zwei Jahre nach der Uraufführung vorgestellt (1811 und 1814) . Méhuls »Joseph in Ägypten« erklang 1811, Boieldieus komische Oper »Johann von Paris« 1813. Damit hatte die Berliner Oper inmitten der Napoleonischen Kriege den Anschluß an das Pariser Repertoire gewonnen. Meyerbeer hatte, ehe er i 8 i o Berlin verließ, genügend Gelegenheit, das zeitgenössische Repertoire in seinen besten Stücken kennenzulernen. Er konnte sich schon damals überzeugen, daß von Paris die interessantesten Anregungen ausgingen. Vorerst nahm er auf, was Weber ihn lehrte. Sicher war der Kapellmeister weder ein Komponist noch ein Pädagoge von Rang, aber er war ein TheaterRoutinier, der wußte, wie die Stücke gemacht waren. Das half mehr als theoretische Unterweisungen. Meyerbeer schrieb nunmehr Werke, in denen seine Virtuosität mit den neuen Anregungen verbunden wurde: z. B. Variationen über Webers Marsch aus der Schauspielmusik zu Zacharias Werners Luther-Stück »Die Weihe der Kraft«. Meyerbeer nahm sie in sein öffentliches Repertoire auf und trug sie mehrfach in Berlin und Leipzig vor. Die »Allgemeine musikalische Zeitung« berichtete: »Der Marsch selbst ist altdeutsch einfach, kernig und unverziert. Herr Meyer-Beer, noch in frühen Jünglingsjahren und in Verhältnissen aufgewachsen, wo äußerst wenige es mit Wissenschaft und Kunst ernstlich zu nehmen pflegen, gewährt dem wohlgesinnten Beobachter einen sehr erfreulichen Anblick. Sein gesundes Urteil, seine mannigfaltigen Talente und Kenntnisse, sein besonnenes, anspruchsloses, einnehmendes Wesen würden ihm schon überall Freunde gewinnen, wenn er sich auch noch nicht durch eigene vorzügliche Produktion von irgendeiner Art hervortäte. ... er zeigt durch die angeführte Komposition und deren Vortrag, daß er ein so entschiedenes Talent für dichtende und ausübende Tonkunst und in beidem auch schon eine solche Ausbildung besitze, wie sie in keinen Lebensjahren gemein, in so frühen aber sehr selten sind. ... Alles, was er macht, ist richtig, sauber, belebt, angenehm, alles auch an seinem Platze, und so zeigt er sogleich, daß ihm auch jene durch keinen Fleiß zu erringende schöne Gabe des inneren zarten Regulativs — Geschmack genannt — verliehen sei.« So jedenfalls äußerte sich ein vermutlich der Familie Beer nahestehender Rezensent. Das intensive Studium der Werke Glucks fand seinen Niederschlag in einer Ouvertüre zu Wielands »Alceste«. Weber hatte erkannt, daß für den ernsthaften Schüler die Opern des Reformators der rechte Lernstoff waren. Meyerbeer nahm alles auf, was sich ihm in Theorie und Praxis bot. Er war zu dieser Zeit gewiß ein versierter Pianist, eine richtige Begabung, aber ein Wunderkind konnte man ihn nicht nennen, obwohl ihn die Familie gern so gesehen hätte. Er war auch kein komponierender Wunderknabe wie Mozart oder Mendelssohn, welcher mit dreizehn Jahren seine ersten Bühnenwerke für den Hausgebrauch vorlegte. Dafür war, wie Heinrich Laube später bemerkte, das Wort Sorgfalt für Meyerbeer wie geschaffen. Das galt schon für 24

seine Ausbildung, denn trotz Protektion durch das Elternhaus, trotz außergewöhnlicher Studienbedingungen war Meyerbeer gerade neunzehn Jahre alt, als am 26. März i 8 i o sein erstes Bühnenwerk in Berlin uraufgeführt wurde, jedoch ohne daß man den Namen des Komponisten erwähnte: das »ländlische Divertissement« »Der Fischer und das Milchmädchen oder Viel Lärm um einen Kuß«. Der französische Ballettmeister der Hofoper, Etienne Lauchery, hatte das Szenarium unter dem Titel »Le passage de la rivière ou la Femme jalouse« (Die Überquerung des Flusses oder Die eifersüchtige Frau) selbst entworfen und das Stück choreographiert. Die autographe Partitur trägt als Titel die Bezeichnung »Der Schiffer und das Milchmädchen / oder / Viel Lärm um einen Kuß / Ein pantomimisches Ballet in einem Aufzuge / Musik von Meier Beer«. Das einstündige Werk erlebte vier Vorstellungen, und wenn es dann auch für immer vom Spielplan verschwand, so ist es doch ein Dokument der ersten Begegnung Meyerbeers mit der Bühne und mit französischen Künstlern. Den Fischer tanzte Monsieur Telle, seine Frau, die Wirtin, Madame Telle, das Milchmädchen Madame Lauchery und die Schwester der Wirtin Mlle. Joyeuse, außerdem tanzten Fräulein Holzbecker die Nichte und Herr Moser den Forstmeister. Es war eine harmlose Geschichte von Bäuerinnen, die am Fluß Wäsche waschen sollten, aber von jungen Waldarbeitern und Förstern zum Tanzen aufgefordert werden. Die Wirtin und danach der Oberförster schelten zwar alle aus, aber tanzen schließlich selbst mit. Der Fischer kommt mit dem Fang, den die Wirtin zum Dorfschulzen tragen will, weil ihr Mann müde von der Arbeit ist und außerdem seine Netze zum Trocknen aufhängen muß. Eine junge Bäuerin mit Milchkrügen bittet, mit dem Boot übergesetzt zu werden. Als Lohn raubt der Fischer ihr, die sich sträubt, einen Kuß. Natürlich kommt in diesem Augenblick die Wirtin zurück, beschimpft das junge Mädchen und wirft dessen Krüge in die Fluten. Dieses wiederum zerbricht das Spinnrad der Wirtin und gerät der eifersüchtigen Ehefrau mächtig in die Haare. Der herbeieilende Oberförster hört sich alles an, lacht die Frauen aus und besänftigt die Streitenden. Dieses freundliche Spielchen stammt noch aus der Zeit des Ancien régime, als Marie Antoinette am Petit Trianon ein sauberes stilisiertes Dörfchen und eine künstliche Natur bauen ließ — ein harmloses Vergnügen mit einem Schuß preußischer Prüderie versetzt. Dazu schrieb Meyerbeer eine aus zweiundzwanzig Nummern bestehende Musik. Von der pastoralen »Ouvertüre« über ein »Allegro galante«, ein »Air de Chasse« bis zum Finale, dem »Contredanse generale«, enthält diese Partitur alles, was man von einem Ballett-Divertissement erwartet, nämlich Musik zum Tanzen. Die kleinen und großen Nummern zeugen thematisch vom Erbe des ausgehenden 18. Jahrhunderts und unterscheiden sich in Melodik und Harmonik durch nichts von den Menuetten und Contredanses der Zeitgenossen, Mozart und Beethoven einmal ausgenommen. Die Besetzung mit 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinet25

2 Fagotten, 2 Hörnern und Streichern entsprach dem Standard. Allerdings wird sie nicht durchgängig eingesetzt, da die von Stück zu Stück unterschiedliche Bläserbesetzung etwas Abwechslung bringt. Jede Nummer ist in sich sehr einheitlich geführt: ein Erfordernis für Ballettmusik. Das Notenbeispiel läßt darüber hinaus Verwandtschaften zwischen einzelnen Teilen (Nr. 2 und Nr. 6) erkennen.

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Das Ballett war kein jugendlicher Geniestreich, sondern sorgfältig gearbeitetes Handwerk. Es ergab sich ein gefälliger Gesamteindruck. Nichts jedoch deutet auf spätere Meisterschaft. Zwei Wochen vor Meyerbeers Ballett-Premiere war B. A. Webers bedeutendste Oper »Deodata« nach Kotzebue in Berlin uraufgeführt worden. Meyerbeer nahm sie als einen bedeutenden künstlerischen Eindruck auf, denn schon hier prägten sich ihm einige Modelle ein, die in seinem späteren Werk wirksam werden sollten. Diese Art des Umgangs mit dem musikalischen Material wird noch häufig Gegenstand der Erörterung sein. Vorerst sei nur darauf aufmerksam gemacht, daß z. B. das Spottlied der Turmwächter (II. Akt, Nr.1 der »Deodata« von B. A. Weber) dem Wächterlied (III. Akt der »Hugenotten«) durch die Unisono-Partie ziemlich ähnlich ist. B. A. Weber: »Deodata« .......,

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Noch ein zweites Werk Webers schien Meyerbeer sehr beeindruckt zu haben: die Bühnenmusik zu Werners Drama »Die Weihe der Kraft«, in der Weber 1805 den Luther-Choral »Ein feste Burg« als Ouvertüre in choralartiger Harmonisierung und in gleichmäßigen halben Noten verwandte. In den »Hugenotten« wird dieser Choral eine zentrale Rolle spielen. Die Vorspiele

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beider Werke benutzen die Choralmelodie in vergleichbarer Weise; die Ausarbeitung des Materials erfolgte aber auf sehr unterschiedliche Art. Der Chor der Nonnen »Höre deiner Töchter Chöre«, den Weber dreistimmig a cappella setzte, ist dem dreistimmigen Frauenchor aus dem fünften Akt der »Hugenotten« vergleichbar. Zweifellos hat Meyerbeer in Berlin gut gelernt.

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Kapitel II Lehrzeit bei Abbé Vogler i8io-i8í2

Dennoch: Berlin war »ausgelernt«; Bernhard Anselm Weber hatte, was bei seiner liedhaften Kompositionsweise nicht verwunderlich ist, beim Kontrapunkt kapituliert. Er sah sich außerstande, eine von Meyerbeer vorgelegte Fuge zu beurteilen, und sandte sie kurzentschlossen und im Bewußtsein seiner Grenzen, was ihn ehrt, an seinen ehemaligen Lehrer, den Hofkapellmeister des Großherzogs von Hessen-Darmstadt, Georg Joseph Vogler — und hörte nichts mehr davon. Doch eines Tages kam ein dickes Notenpaket aus Darmstadt, der Abbé hatte sich der Mühe unterzogen, die Fuge »Gott des Weltalls Herr«, die der »Schüler« eingereicht hatte, zu analysieren, ihre Vor-, besonders aber ihre Nachteile herauszustellen und selbst eine Fuge nach dem gleichen Thema zu entwerfen als Werk des »Meisters« und dabei über jeden Takt Rechenschaft zu geben. Vogler ließ sich zugleich zu einem »System« einer Fugenlehre anregen, welche er mitlieferte. Ob Weber und Meyerbeer den komplizierten Berechnungen des Analytikers folgen konnten? Ob ihnen das Verhältnis von »plagalischer« und »authentischer« Reihe im arithmetischen Verhältnis 2/3 3/3 4/3 bzw. im harmonischen Verhältnis 3/4 3/3 3/2, welche die Stufenfolgen I-IV-I (Tonika-Subdominante-Tonika) bzw. I-V-I (Tonika-Dominante-Tonika) als den wichtigsten Rahmenharmonien der Fuge meinen, eingeleuchtet hat? Ob die für Vogler so wichtige Verbindung von Rhetorik, Logik und Ästhetik ihre beiden Adressaten erreichte, wenn sie lasen: »um diese drei harmonische Schwestern zu einer Girlande zu umschlingen, so geh ich die Fuge noch einmal ganz durch, und weise sowohl der Redekunst und der Schlußkunst, als der Empfindungstheorie ihre Kompetenz an«? Wir wissen es nicht. Aber schließlich enthielt die Sendung noch eine Einladung, nach Darmstadt zu kommen, und die entschied. Meyerbeer ließ sich durch die fundierte Kritik nicht etwa entmutigen, sondern machte sich mit großem Ernst an das Studium der Fugenlehre, um alles zu begreifen und vor dem Mann bestehen zu können, der ihm zehn Jahre zuvor eine ruhmvolle musikalische Zukunft vorausgesagt hatte, als er nach einem Konzert am 29. November i 800 in der Berliner Marienkirche auch das Beersche Haus besuchte. Sein Konzertprogramm bestand damals aus i. »Präludium und Fuge mit vollem Werk«, 2. 30

»Terrassenlied der Afrikaner«, 3. »Doppelkonzert für Flöte und Fagott«, 4. »Mohammedanisches Glaubensbekenntnis«, 5. »Spazierfahrt auf dem Rhein, vom Donnerwetter unterbrochen«, 6. »Choral >O Haupt voll Blut und Wunden«God save the King«Gott u Natur< [ein Oratorium Meyerbeers] ist fertig u geht heute noch an Melos ab. — Eine ditto ausführl. Notiz darüber schike ich heute an di Elegante. — Das hiesige Badische Magazin hat nie auswärtige Kunstnachrichten, es war also zu auffallend u merklich. Mein nächster Transport an Hamburgs: gemeinnüzige Unterhaltungs Blätter wird übrigens auch Berlins erwähnen ... Die Süddeutschen Miscellen betreffend warte ich noch absichtlich ob sie mich nicht einladen ... Raisonnire nicht zu sehr über Unknown er hat zwar noch nichts gethan, aber beinahe so viel wie Du. — Nun habe ich Dir alles nöthige geschrieben, morgen erhältst Du das mir heute 46

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Programmankündigung der Rhapsodie »Gott und die Natur«. Sammlung Becker

geschikte zurük, u villeicht ohne Brief, denn seit gestern Abend 6 Uhr bis heute 3 Uhr nach Tisch arbeite ich in Vereins Angelegenheit u bin noch nicht fertig. Hätt ich dafür Componirt so hätt ich was gelernt.« Fünf Tage später bat er Meyerbeer: »Komm doch nach Mannheim. — Schikke mir doch einige Notizen über die Städte, kurz u schlecht, nur etwas, für d. Badische Magazin, damit ein Anfang gemacht wird mit Notizen u die über Dich nicht allein stehen bleibt. Nur allerley dummes Zeug, Topographisch, Agro- u Gemisch, wenig musicalisch und theatralisch. Du glaubst nicht wie dumm das Blatt ist, was Du auch schikst ist gescheiter als alles übrige, Meine Opera ausgenommen.« Stolze Worte eines Mannes, der sich seiner Qualitäten durchaus bewußt war. Als Komponist jedoch zählt er nicht zu den Großen, da sein kritischer Verstand ihm offenbar die Schöpferkraft lähmte. Wenn Gottfried Weber auch das Blatt für dumm hielt, ein Leser ließ sich nicht für dumm verkaufen. Am Morgen des 3. August 181 i konnte man im »Badischen Magazin« lesen: 47

Epigramm an ein paar Kritikaster: Der eine nennet sich gerecht Der andere, unbekannt. Wär' ihre Kritik nicht so schlecht Sie hätten sich schon längst genannt. Als »Giusto« (»Der Gerechte«), also Gottfried Weber, im Herbst erneut angegriffen wurde, ließ er durchblicken, er kenne den anonymen Schreiber, und nannte einen Namen. Der so Beschuldigte beteuerte seine Unschuld, doch Weber hielt den Streit noch ein wenig auf kleiner Flamme — ein alter Trick, um im Gespräch zu bleiben. Meyerbeer veröffentlichte am io. Dezember einen Artikel: »Aus einem Briefe an den Herausgeber, geschrieben nach Durchsicht des Aufsatzes Ueber die Concurrenz von zwey Kritiken« (den Weber selbst redigiert hatte): »Wenn gegen einen Mann, wie Herr Gottfried Weber, dessen Verdienste um den theoretischen Teil der Tonkunst überhaupt, und um den Musikzustand in Mannheim insbesondere, sonst anerkannt sind, plötzlich von unbekannter Hand ein Pfeil geschleudert wird, so würde gewiß jeder Unbefangene von selbst auf den Gedanken gekommen seyn, daß leidenschaftliches Privat-Interesse diese Hand geführt habe ... Wenn nun gleich Beleidigungen ... sich am leichtesten verschmerzen lassen ... so liegt doch in der Art ... zu viel die Rechtlichkeit Empörendes, um es ganz mit Stillschweigen übergehen zu können. Herr Weber ist kein Dilettant, (als welcher ihn der Verfasser der Antikritik stets behandelt), sondern Künstler ... Wer nun aber mit der Beherrschung aller technischen Schwierigkeiten, mit der Kenntniß der Ursachen und der Mittel, auch die schöpferische Kraft verbindet, der darf gewiß auf den Namen Künstler Anspruch machen. Daß Herr Weber diese Bedingungen erfüllt, davon haben alle Musikkenner in den öffentlichen Aufführungen seiner Messen und Kantaten sich zu überzeugen Gelegenheit gehabt. Auch hat ein kompetenter Richter, das Mannheimer Publikum, seine Übereinstimmung mit der eben geäußerten Behauptung zu erkennen gegeben. Sollte es mir daher der Verfasser der Antikritik wohl übel deuten können, wenn ich aus allem diesen vermuthe, daß er von den Kompositionen des Herrn W. nur wenig und flüchtig oder auch vielleicht gar nichts gehört, von dessen verschiedenen theoretischen Abhandlungen nichts erfahren habe? Alsdann hätte er aber doch das Verdienst des Künstlers etwas weniger schnell und leichthin würdigen sollen ... J. Meyer Beer« Der Anlaß war geringfügig genug, aber es war die einzige öffentliche Äußerung Meyerbeers, die er mit vollem Namen unterschrieb. Sie blieb die einzige, da er bald lernte, sich zurückzuhalten, wenn es um Streitigkeiten ging. Je mehr er selbst komponierte und sich mit seinen Werken der Offentlichkeit stellte, um so weniger äußerte er sich verbal zu seinem Werk und dem Echo darauf. Bezeichnenderweise war es Gottfried Weber, dem er später

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eine seiner seltenen Meinungsäußerungen (über die »Hugenotten«) zukommen ließ. Carl Maria von Weber war über die Plänkeleien im »Badischen Magazin« sehr zufrieden: »Die Fehde hat mich amüsiert. Beers Aufsatz ist recht brav u. ganz dem Geist des Vereins angemessen.« Gottfried Weber war der dritte von vier Männern mit dem Namen Weber, die Meyerbeers Lebensweg kreuzten. Er hatte in Heidelberg und Göttingen Jura studiert, war Rechtsanwalt, Richter und Staatsbeamter in Wetzlar, in Mannheim (seit 1804), in Mainz (seit 1812) und in Darmstadt (seit 1818). Als Komponist und Musiktheoretiker bildete er sich autodidaktisch, galt aber bald als geachtete Autorität. 1806 hatte er in Mannheim ein Konservatorium und eine »Hofmusikakademie« ins Leben gerufen, die die damals bekannten Museumskonzerte veranstaltete. Sie bestand aus neunundzwanzig Berufsmusikern und dreiundzwanzig Liebhabern und trug wesentlich zur Belebung des Mannheimer Musiklebens bei, das nach der Verlegung des Hofs nach München (1778) stark gelitten hatte. 1824 begann Weber mit der Herausgabe einer eigenen Musikzeitschrift »Caecilia«. In einer Nummer des Jahrgangs 1826 bezweifelte er als erster die vollständige Echtheit des »Requiems« von Mozart. In seinen musiktheoretischen Schriften »Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst« (1817-1821), »Allgemeine Musiklehre« (1822) oder »Die Generalbaßlehre im Selbstunterricht« (1833) führte er für Akkordbezeichnungen deutsche Buchstaben ein: große für Dur, kleine für Moll. Mit dem damals Einunddreißigjährigen war der Umgangston rauh, aber herzlich: »Lebt wohl ... u bedauret mich armen Tropfen der dahinsizen muß und grundgelehrte Deducationen ex utroque jure schreiben« (2. Oktober 1810). »Hier, Du Balg, etwas zu lesen, um mirs demnächst, mit punctirlicher Beantwortung meiner bis jezt noch nicht punctirlich beantworteten Briefe zurükzuschiken. Gestern schikte ich Dir eine Panegyrik Deines Oratoriums. Nachträglich frage ich Dich ob Du denn völlig unsinnig warst bey dem >von dem Sturm geschlagen< da paßen ja die Blas Instrumente gar nicht zu der Singstimme — oder ists ein Schreibfehler« (5. Mai 1811). »Bruder, Du bist ein miserabler Kerl, ... Schuft verfluchter warum antwortest Du mir nicht! — ... Aber ich bitte Dich um Himmels Willen, was bist Du für ein Mensch, noch immer keine Beantwortung so vieler Artikel früherer Briefe, Du bist wirklich ein elender Mensch ...« (23. Mai 1811). »Du bist ein Esel mit Deinem Exemplar wofür Du das Porto tragen willst; Du ennuiirst mich schon lang mit Deinem Briefe frankiren. Hier hast Du ein Exemplar. lek mich am Arsch« (23. März 1812). Diese Kollektion »schmeichelhafter« Ausdrücke ließe sich noch fortsetzen. Sie zeugt von einer innigen Verbundenheit, bei der niemand etwas übelnahm. Meyerbeer war sich zudem sicher, daß Gottfried Weber ihm auf dem Gebiet der »dramatischen Komposition« niemals ein Konkurrent sein würde, und konnte um so unbefangener mit ihm umgehen. Weber hingegen war der aufmerksamste Kritiker der Meyerbeerschen Stücke. 49

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Nach Gänsbachers Zeugnis hatten die Eleven i 8 i o deutsche Psalmen auf Worte von Moses Mendelssohn zu vertonen. Papa Vogler »theilte« nach kritischer Durchsicht den Schülern seine Meinung mit. Weber erbat sich manche Komposition für seine Mannheimer Museumskonzerte und verband die kritische Sicht sogleich mit der Aufführung, um dann Hinweise über Ungeschicklichkeiten im musikalischen Satz zu geben. So erhielt er 1812 von Meyerbeer sieben geistliche Lieder auf Texte von Klopstock, die er im Oktober desselben Jahres aufführen ließ. Weber sah sich die Partitur der vierstimmigen Gesänge an und äußerte einige Bedenken: »Die Klopstockschen Lieder betr so ist mein Spruch: das erste bleibt aus, theils vor relatio das schlechteste, Theils weil darin die Text Radbrechungen am ärgsten sind, welche Du in Deinen 3 lezten zu meiner großen Freude Dir nicht mehr zu Schulden kommen läßest, ... Deine Psalmen sollen mich unendlich freuen u auf di noch übrige Zeit meines Lebens glüklich machen« (24. Februar). Kleinigkeiten hatte Meyerbeer berichtigt; die Nr. i ließ er unangetastet. Nr. 2 erschien 1813 als Beilage der »Allgemeinen musikalischen Zeitung«, und i 838 kramte Meyerbeer alle sieben Lieder aus seiner Kiste, übergab sie seinem Verleger Schlesinger, der sie mit einer französischen Übersetzung von Ernest Legouvé 1841 veröffentlichte. Sie sind ein Zeugnis für den »KirchenStyl«, in dem Meyerbeer während seiner Studienzeit schrieb. Im Gegensatz zur weltlichen Instrumentalmusik der Klassik, die mit ihrer motivisch-thematischen Arbeit den Weg vom Affekt zum Dialog-, zum Kontrastprinzip ging, blieb der Kirchenstil mehr den älteren kontrapunktischen Künsten verbunden, wenn er sich nicht, wie in Mozarts »Ave verum«, einer neuen liedhaften Gestaltung anschloß. Da nun Meyerbeer bei Vogler beides lernte und Bachsche Choräle analysierte, hat er die Möglichkeiten einer farbigen, chromatischen Harmonik genutzt und die Verbindung von kantablem Satz und vierstimmigem Kontrapunkt erprobt. G. Meyerbeer: »Sieben geistliche Gesänge von Klopstock«, Nr. 7 R//egre/Yo

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Auffällig ist, daß das Thema der Arie Nr. 7 mit dem Thema der Cabaletta »Ah, pitié pour ma mémoire« (Laßt mein Flehen euch beschwören/Gnade meinem Angedenken), dem meist gestrichenen Teil der berühmten Arie des Vasco da Gama »0 paradis« (Land so wunderbar) aus der »Afrikanerin«, identisch ist. G. Meyerbeer: »L'Africaine«, IV. Akt, Arie des Vasco da Gama ✓Asco

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Doch welchen Unterschied in der Weiterführung des Motivs offenbart das spätere Werk! Während der flehende Gestus in der Arie durch Pausen und Vorhaltnoten noch verstärkt wird, bleibt das geistliche Lied streng im Periodenbau, der die Kurzatmigkeit des Motivs durch Wiederholung noch unterstreicht. Die Wiederverwendung des Motivs zeigt allerdings eine von Meyerbeer oft genutzte Kompositionsweise, bei der er bestimmte musikalische Modelle erfand, die zum Teil erst danach textiert wurden! Diese »monstres« folgten einem ganz festen rhythmischen Schema und konnten jederzeit durch entsprechende Worte gefüllt werden, eine für eine individuelle Opernkunst eigentlich unvorstellbare Methode. Sie funktionierte nur, weil die Reimstruktur verbindlich festgelegt war. Da wegen der Kriegshandlungen im Herbst 1812 auch in Mannheim größere Oratorienaufführungen unterblieben, kamen die geistlichen Lieder Meyerbeers für eine Aufführung unter Gottfried Webers Leitung gerade recht. In der »Allgemeinen musikalischen Zeitung« vom 27. Januar 1813 schrieb Weber: »Schönen Ersatz gewährten indessen manche weniger vollstimmige Gesangsstücke, vorzüglich aber einige geistliche Lieder für Sopran, Alt, Tenor u. Bass, componirt v. Meyer Beer; wahrliche Meisterstücke im Kleinen, sowol an Wohlklang und Lieblichkeit, als an harmonischem Reichthum, glücklich abgerundetem Stimmenfluss, und höchst ansprechender Auffassung des Sinnes der edlen Klopstockischen Texte. ... Dass sie sämmtlich nicht blos die musikalisch Gebildeteren lebhaft ansprachen, sondern auch allgemeinen und lauten Beyfall gewannen, beweiset bey prunklosen, blos vierstimmigen, geistlichen Gesängen gewiss viel für 52

das Talent des Tonsetzers, und zugleich für den Kunstsinn des doch gemischten Auditoriums. Noch unbedingter wäre vielleicht dieser Beyfall gewesen, fände sich nicht zuweilen der Zusammenhang des Textes, den musikalischen Figuren und Eintritten zu Liebe, etwas zerrissener — eine Nachlässigkeit, welche Ref. schon an einem anderen Ort ... an einem größeren Werke desselben Meisters gerügt, und durch angeführte Textstellen belegt hat ...« Diese Besprechung war wiederum ganz im Sinne des »Harmonischen Vereins« gehalten mit dem aufführungspraktischen Hinweis auf die geringen Anforderungen und die Werbung für das Nachspielen; ein wenig Tadel, damit das Lob nicht zu überschwenglich ausfällt, gab die Würze. Als am 19. Januar 1812 Voglers deutsche Fassung des »Hermann von Unna« in Darmstadt uraufgeführt wurde, erhielt Gottfried Weber von Meyerbeer folgende Einladung: »... denn es wird übermorgen ... die erste Vorstellung ... sein, wozu ich Dich und Dusch hiermit aufs allerschönste einlade! ... Schreib mir doch sogleich ob Du und Dusch kömmst, damit ich mein Kämmerlein schmücke aufputze und mir Zutaten von einem Bette für euch besorge. Kömmt doch ja Kerls, ich freue mich höllisch darauf, aber bringt keine Frauenzimmer mit die passen nirgends und hindern überall.« Die Beziehung zu dem treuen, in der Enge süddeutscher Kleinstädte verbleibenden Freund reißt auch nicht ab, als Meyerbeer Deutschland verläßt. 1815, als Meyerbeer in Paris lebt, sendet ihm Weber seinen Aufsatz »über chronometrische Tempobezeichnung und insbesondere gegen die Einführung der J. Mälzelschen Taktmessungsmaschine«, in dem er gegen die mechanische Zeitmessung durch das Metronom protestiert. Als Musiker, der in der Klassik erzogen worden war, fürchtet er eine Einengung des Künstlers durch die Maschine und verficht die individuelle Temponahme durch den Interpreten. Da Mälzel seine »Taktmessungsmaschine« in Paris patentieren lassen will, bemüht sich Meyerbeer, diesmal diplomatisch ungeschickt, seinem Freund zu helfen, indem er — Mälzel aufsucht! Dann bricht Meyerbeer die Beziehungen auf Jahre hinaus ab — er meldet sich einfach nicht mehr. Zwar hat Weber in der Berliner »Allgemeinen musikalischen Zeitung« (Nr. 28, 1825) noch wohlwollend den Klavierauszug des »Crociato« besprochen, doch vom Komponisten kein Echo erhalten. Damit endet auch seine Rezensententätigkeit für den »Harmonischen Verein«. Endlich, am 20. August 1833, faßt sich Meyerbeer ein Herz und schreibt an Weber, indem er zunächst ganz kurz ein paar Entschuldigungen fallen läßt, urn dann rasch zur Tagesordnung überzugehen: »Lieber Bruder! Hättest Du mir nicht gesagt, daß Dir Rocks Briefe unangenehm sind, weil sie immer so viele Versicherungen seiner Liebe und Freundschaft enthielten, so hättest Du gewiß schon den Tag nach meiner Abreise aus Darmstadt eine vielseitige Liebeserklärung von mir erhalten, denn es hat mich wahrhaft glückselig gemacht, als ich Dich wiedersah und Dir (nachdem ich meine »griefs« vom Herzen herunter geredet hatte) sagen durfte, wie teuer und wert Du meinem 53

Herzen bist, und sah, daß auch Dir an der Seite Deines liebenden Jugendfreundes behaglich zu Mute war. — So, nun wird es doch ein Rock'scher Brief und sollte es doch nicht. Doch es drängte mich Dir es wenigstens einmal zu sagen.« — Der Besuch bei dem alternden Freund ist also eine Abbitte für das langjährige Schweigen. Auguste Weber wendet sich am 15. April 1837 an Meyerbeer: »Da ich weiß daß Sie gegen uns ... noch so freundlich gesinnt sind wie früher, so wende ich mich vertrauend ... an Sie, daß Sie mir behülflich sein mögen bei ausführung einer Idee. es ist nämlich dies, ich weiß daß es meinem Gottfried viel Freude machen würde, sich als Mitglied des conservatoirs- oder Academie in Paris aufgenommen zu sehen, ... Sie Verehrtester könnten Ihrem alten Freund — der noch für Sie wie anno 1810 glüth — diese Freude bereiten, nur darf er Nie wissen daß ich die Veranlassung dazu gab. ... uns Frauen hat die Vorsehung das schöne Loos zugetheilt in den mit Dornen besäeten Geschäftsweg unserer Männer die Rosen einzuflechten — ...« Am 21. Juli schreibt Meyerbeer dazu an seine Frau: »Ich habe Gottfried Weber in Darmstadt besucht und ihm meinen Plan für die Akademie mitgetheilt, natürlich ohne des Briefes seiner Frau zu erwähnen. Er schien sehr gerührt, weinte sogar, war auch sonst sehr freundlich und herzlich, berührte aber auch nicht mit einem einzigen Worte der >HugenottenRobert< zu hören, blieb er still. Übrigens habe ich ihn unendlich geältert, und verrostet durch das ewige Leben in einer kleinen Stadt gefunden, wo es ihm natürlich an Umgang mit großen Künstlern und hören großer Werke fehlte. Das sind beides unerläßliche Bedürfnisse für den Künstler welcher das höchste erstreben will.« Beide Freunde haben sich nicht nur räumlich voneinander entfernt. Als Weber 1839 in seiner »Caecilia« einen bereits 1837 eingegangenen Artikel eines anonymen »Hugenotten«-Besuchers abdruckt, wird deutlich, daß der ehemalige Mitstreiter zu alt geworden ist, um die neuen Wege zu begreifen, die Meyerbeer inzwischen beschritten hat. In dem Bericht »Einige deutsche Gedanken bei Gelegenheit einer französischen Oper« heißt es: »... Ich ... will nicht sagen, daß die Hugenotten eine schlechte Oper sind; im Gegenteil, hinsichtlich der Musik scheinen sie mir eine sehr schöne Oper zu seyn; sondern nur, daß ihre Aufführung in Deutschland eine unpassende Handlung ist; und daß man daher, wegen des Schadens, der dadurch für die ungebildeten Zuschauer entstehen kann, sie ohne Gnade von der Bühne verbannen sollte, es den Gebildeten überlassend, ... die Musik daraus in ihren Concerten und Privatcirkeln aufzuführen.« Gottfried Weber stirbt am 21. November 1839 in Bad Kreuznach und hinterläßt zehn Kinder. Auguste Weber bittet Meyerbeer um Unterstützung, der notiert im Taschenkalender vom Dezember 1839: »Wechsel für Witwe Weber«. Er bittet seinen Freund Johann Georg Kastner, eine Würdigung

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Webers für eine französische Zeitschrift zu verfassen. 1845 bedankt sich Auguste Weber u. a. für die Hilfe, die Meyerbeer ihrem Sohn hatte angedeihen lassen, als der Medizin studieren wollte. Vom 18. Juni 1846 ist ein Brief Auguste Webers an Meyerbeer überliefert, in dem sie ihn um Rat wegen der Herausgabe »Sämtlicher Artikel von der Hand Gottfried Webers« befragt, worauf Meyerbeer lt. Taschenkalender vom September antwortet. Dies ist der letzte dokumentarische Beleg der Verbindung Meyerbeers zur Familie Gottfried Webers. Die fröhliche Darmstädter Studentenrunde begann sich schon im Februar i 8 i i aufzulösen. Carl Maria von Weber trat eine große Konzertreise an, die ihn zuerst nach München führte, wo er den Klarinettisten Joseph Heinrich Baermann und dessen Frau, die Sopranistin Helene Harlas, kennenlernte. Beide werden bald zu Meyerbeers Freundeskreis gehören. Bestens empfohlen, nahmen Weber und Baermann in Berlin bei der Familie Beer Quartier. Weber notierte in sein Tagebuch: »Er [Meyerbeer] ist mir ein lieber wahrer Freund, die Trennung von ihm tat mir sehr wehe, und nur die Hoffnung ihn bald wiederzusehen, tröstete mich.« Meyerbeer über Weber (an Gänsbacher, September 181o): »Schade um den jungen Mann. Wenn er noch eine Weile den Kontrapunkt bei Wenzel Müller, den guten Gesang bei Zelter und Klavierspielen bei Eberl studiert hätte, so würde einmal ein recht braver Künstler aus ihm werden können.« Diese Frozzelei in ein anderes Verständnis übersetzt heißt: Gesang beim Fisch, Mut beim Hasen und Geschwindigkeit bei der Schnecke zu lernen. Anderthalb Monate nach der Trennung beschwerte sich C. M. v. Weber bei G. Weber: »Der Bär, das Vieh, hat mir noch immer keinen Buchstaben geschrieben. Du hast recht getan, ihn zu wischen, ich habe ihm auch einige Worte zugeflüstert ...« Wieder sechs Wochen später war der künstliche Ärger verflogen, und Weber schrieb an Meyerbeer: »Liebster Bruder! Welche Freude mir Dein lieber Brief vom i. May machte den ich gestern erhielt, brauche ich Dir wohl nicht erst zu beschreiben, und wollte ichs auch, so könnt ich es nicht ... und ... peinigt mich die Ungeduld diese Zeilen in Deinen Händen zu wissen ... das beste daran ist, daß Du ihn lesen wirst, und also auch den ewigen Refrain unsres Lebensliedes, daß ich ewig bleibe Dein treuer Bruder W.« Drei Monate später meldete sich Weber: »Lieber Bruder! Ich kann aus Dir gar nicht klug werden. Seit den ersten 14 Tagen meiner Abreise von Darmstadt habe ich keinen ordentlichen Brief beynah mehr von Dir zu sehen bekommen. allem sezt aber Dein lezter die Krone auf, den ein so confuses Ding ohne Anfang und Ende ist mir noch nicht vorgekommen.« Zwischen solchen Extremen schwankte zukünftig das Verhältnis beider Komponisten. Es wurde zunehmend belastet durch die auch von der Familie immer wieder beklagte Schreibfaulheit Meyerbeers. Sie war einerseits Bequemlichkeit und Unentschlossenheit, andererseits aber auch Ausdruck des Lösens von Personen und Beziehungen. Das wollten die beiden Webers nicht 55

wahrhaben. Sie glaubten noch an die alte Burschenherrlichkeit der Darmstädter Tage und begriffen nicht, daß sich Meyerbeer innerlich von ihnen zu entfernen begann, daß er reifte und sich nach neuer Gesellschaft umsah. Seit Anfang 1811 war nun Meyerbeer Voglers einziger und letzter Schüler. »Der Papa nämlich hat vor einigen Wochen vom Großherzog einen miserablen Text zu einer komischen Oper erhalten, mit einem Auftrage diesselbe zu komponiren. Da hat nun Papa den glücklichen Einfall gehabt, daß ich dieselbe auch komponiren sollte, und zwar Nummer für Nummer zu gleicher Zeit mit ihm. Denke Dir nun zu was für interessanten und lehrreichen Vergleichen das Gelegenheit giebt« (i o. Januar 1811 an Gänsbacher). Das waren keine Schüler-Aufgaben mehr, das war Gesellenarbeit von hohem pädagogischem Wert. Meyerbeers Szenen zur komischen Oper »Der Admiral oder der verlorene Prozeß« sind nicht erhalten (oder haben in einem anderen Werk ihren Platz gefunden), aber das Werk hätte ohnehin keine Aufführungschance gehabt. (Auch ein i 8 i o erwähntes »Abu Hassan« -Projekt blieb unausgeführt.) Meyerbeer konzentrierte sich doch lieber auf eigene Arbeiten und nutzte seine Berliner Verbindungen, um am 17. März 1811 den 98. Psalm im Rahmen einer Gedenkfeier für die verstorbene preußische Königin Luise aufführen zu lassen. Bernhard Anselm Weber leitete die Aufführung. Im Februar hatte Meyerbeer den Text zu einem Oratorium »Gott und die Natur« von dem Dichter und Asthetik-Professor Aloys Wilhelm Schreiber (1761-1841), einem Heidelberger Bekannten Voglers, erhalten. Er machte sich vehement an die Arbeit, »... daß ich leider gar nicht an das Briefschreiben denken darf...« (27. Februar an Gänsbacher). Schreiber hatte in seinem Lehrbuch der Ästhetik doziert: »S 356. Die Opernmusik hat ihre großen Schwierigkeiten, indem die Tonkunst schon ihrer Natur nach nicht dramatisch seyn kann, weswegen das Schauspiel, wenn es sich nicht mit der Musik verbinden will, nothwendig den lyrischen Charakter annehmen muß.« Ob Meyerbeer diese für seine künftige Laufbahn wenig ermutigende Ansicht gekannt hat, bleibt zweifelhaft. In seinem Oratorium bedurfte er vorerst der »dramatischen Tonkunst« nicht, er faßte vielmehr alle kontrapunktischen und tonmalerischen Effekte zusammen, über die er damals verfügte, und schrieb ein Werk, dem man die Vorbilder Händel, Hasse, Haydn anmerkte, ohne sie herauszuhören. Im Gegensatz zu Haydns Spätwerk »Die Schöpfung« (i 798) mit seiner klassischen Entwicklungsdramaturgie vom Nichts zum Licht ist »Gott und die Natur« ein Lobpreis der Schöpfung Gottes, wird die Existenz von Lebewesen (Nr. 6, Chor der Blumen) oder die Geburt der Elemente besungen (Nr. 8, Luft, Feuer, Erde und Wasser haben je ein Thema, zu welchen je ein Begleitthema tritt, so daß sich »acht Themata« ergeben, deren kontrapunktische Verschmelzung Weber bewunderte). Nach der Bestätigung durch den Chor (Nr. i o) »Er war, er ist, und er wird seyn« treten im Duetto Nr. i i der »Zweifler« und der »Gottesläugner« auf. Der anschließende Männerchor verkündet Zuversicht und gläubige Hoffnung. 56

»An dieser Stelle schließt sich der Chor (C-Dur): Hörst du die Posaun' erklingen?, wo es mich freute, daß der Komponist nicht die Plattitude beging, Posaunen hören zu lassen ... Der Text wendet sich zur Auferstehung, wo alles Gestorbene zu leben wieder anfangen wird. Der Sopran tritt solo und pianissimo, nur von einem Paukenwirbel begleitet, nach der spannenden Stille einer Fermate ein [folgt ein Notenbeispiel] ... Endlich tritt die Schlußfuge ein ...«, schrieb Carl Maria von Weber in der »Allgemeinen musikalischen Zeitung«, XIII, 181 i, über das Werk des Freundes. Er fand, daß »... alle Melodien, selbst die schmeichelhaftesten, ... in den Grenzen des ernsten Stiles (bleiben).« Wie eine einfache Aufstellung einiger Themen zeigt, sind sie weder originell noch von individueller Gestalt, vielmehr eignet ihnen eine fast »scholastische« Strenge. G. Meyerbeer: »Gott und die Natur« agis

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Mit ihren lapidaren Themen, dem gravitätischen Tempo und den Chorfugen in langen Noten ist Meyerbeers Musik der Versuch, den Stil der KlopstockGesänge ins Große zu übertragen. Für ihn war es dabei wichtig zu lernen, größere Teile formal gut zu disponieren, eine Aufgabe, vor der er bei den folgenden dramatischen Vorhaben immer wieder stehen wird. Mit allem Einfluß setzen sich Meyerbeers Eltern für eine wohlfeile Aufführung ein. Bernhard Anselm Weber dirigierte, erstaunt über die Fort57

schritte, die sein ehemaliger Schüler inzwischen gemacht hatte; erste Kräfte des Nationaltheaters wie Auguste Schmalz, Friedrich Eunicke, Johann Georg Gern sangen die Uraufführung am B. Mai i 811. Sogar der gestrenge Kritiker der »Vossischen Zeitung«, Johann Friedrich Karl Rellstab, äußerte sich vorsichtig zustimmend; den 98. Psalm hatte er noch verrissen. Der junge Tonsetzer war es nicht gewohnt, daß man sich kritisch mit ihm auseinandersetzte, denn bisher hatte er von Lehrern und Freunden nur Lob geerntet. Gewiß gab es seitens der Berliner Musikkritik immer eine gewisse Animosität gegenüber Meyerbeer, er aber baute daraus schon als Neunzehnjähriger ein regelrechtes Feindbild auf. So schrieb er am 22. Mai an Gottfried Weber über Rellstabs Kritik: »... welches um so mehr zu verwundern ist, da sie ... von Feinden von mir verfaßt sind, und die eine sogar... meinen berüchtigten Gegner Rellstab zum Autor hat, der einige Monate vorher so beißend über mich abgeurteilt hat. Welche Demütigung für diesen Elenden, so fast wider seinen Willen mich loben zu müssen.« Ein Kapitel über Meyerbeers Reaktionen auf seine Rezensenten wäre nur für die ersten Jahre ergiebig. Zwar las er begierig alle erreichbaren Journale, aber er hütete sich, gegenüber Dritten darüber zu sprechen, außer zu den engsten Mitgliedern der Familie. Bald nach der Uraufführung des Oratoriums, zu der Meyerbeer nicht nach Berlin kam, lag pünktlich am 3o. Mai »Zur Geburts-Feyer des Herrn Jacob Hertz Beer« eine Kantate vor, von Wolfssohn (Text) und Meyerbeer (Musik) verfaßt. Danach entstanden eine Sinfonie in Es-Dur und ein Doppelkonzert für Violine und Klavier. Beide Partituren sind verschollen. Vom Konzert wissen wir nur durch eine Notiz in der »Allgemeinen musikalischen Zeitung«, die anläßlich der Uraufführung am 4. Februar 1812 schrieb, daß das Stück »... aber mehreren Zuhörern zu dunkel (war), und fand daher nicht allgemeinen Beyfall«. Uns hätte die Partitur schon interessiert, um zu erfahren, wie Meyerbeer für Soloinstrumente schrieb, acht Jahre nach Beethovens Tripelkonzert, zwei Jahre nach dessen 5. Klavierkonzert. Unterdessen hielt Papa Vogler den Zeitpunkt für gekommen, seinem Schüler ein eigenes dramatisches Werk anzuvertrauen. Beide entwarfen den Plan zu einer Oper »Jephtas Gelübde«, den Aloys Wilhelm Schreiber zum Libretto formte. Das Kolorit sollte orientalisch sein, wie es nach den TürkenKriegen in Süddeutschland und Österreich so beliebt war, wenn auch die meisten Stücke nicht vom Orient handelten, von gelegentlichen Anklängen an Janitscharen-Musik abgesehen, sondern von deutschen Bürgern in türkischen Kostümen. Jephta ist ein aus dem Alten Testament (Richter 11, 3o-4o) bekannter tapferer Krieger.

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I. Akt Introduktion: Chor und Tanz der Winzerinnen mit einer Romanze der Tirza, Sulimas Vertrauter, die eine friedliche Idylle besingt. Doch es ist Krieg. Die Ammoniter bedrohen die Israeliten. Sulima, Jephtas Tochter, will ihren Geliebten Asmaweth nur erhören, wenn er sich im Krieg durch Tapferkeit auszeichnet. Sollte er aber fallen, würde »ihre Freude ins Grab steigen«. In einer großen Arie bekräftigt Asmaweth seine Kampfbereitschaft. Sulimas Versprechen fordert die Eifersucht des Stammesvorstehers Abdon heraus, der ihr schon länger nachstellt. Am Stadttor verabschieden Sulima und ihre Freundinnen die ausziehenden Krieger. Jephta verspricht Asmaweth Sulimas Hand im Falle eines Sieges. Er selbst lehnt die Führung der israelitischen Truppen ab, selbst als die ersten Flüchtlinge die Stadt erreichen. »Ich hatte ein Vaterland; ihr habt mirs genommen«, hält er den Stammesführern entgegen. Doch auf dringliche Bitten des Volkes nimmt er das Schwert an, nachdem ein niederschmetternder Schlachtbericht eintraf. Jephta gelobt, nach einem Sieg das erste, was ihm begegnet, zu opfern. Ein Donnerschlag deutet an, daß Jehova den Schwur vernommen hat. Zuversichtlich ziehen die Truppen in die Schlacht. II. Akt Sulima gedenkt ihrer verstorbenen Mutter. Abdon meldet den Sieg der Israeliten, nur Asmaweth sei umgekommen. Sogleich bedrängt er die Trauernde. Doch der Totgesagte erscheint und singt mit Sulima ein Liebesduett. Jubel ertönt: Der siegreiche Jephta kehrt zurück. Beglückt stürzt Sulima ihm entgegen; erschrocken wird Jephta gewahr, daß seine eigene Tochter seinem Schwur verfallen ist. Abdon drängt auf Einhaltung des Schwurs; Asmaweth will seine Geliebte retten. HI. Akt Jephta ist bereit, sich selbst zu opfern, doch Sulima ist willens, in den Tod zu gehen. Sie nimmt von ihrem Vater und ihrem Geliebten Abschied, welch letzterer aber mit seinen Getreuen bereitsteht, gegen die zudrängenden Leute Abdons mit dem Schwert für Sulimas Leben zu streiten. Jephta greift ein; lieber will er sich selbst den Stahl in die Brust senken. Im Tempel soll das Opfer vollzogen werden. Ein Priester verkündet, daß Gott kein Blut fordere; ihm genüge Jephtas Gehorsam. Unter Lobpreisungen Jehovas fällt der Vorhang. Nach einer Spätsommerreise im August/September in die Schweiz und nach Oberitalien begann Meyerbeer die Komposition. Am 13. Oktober beklagte er sich in einem Brief bei Prof. Wolfssohn: »Mit meiner Oper kann ich noch immer nicht im Train [zum Zuge] kommen, denn ich bin schon zum zweitenmale davon ausgeworfen worden ... Kaum war ich ein paar Tage in Darmstadt, und hatte mich mit der größten Mühe wieder an das Eremittendasein gewöhnt [die Mutter hatte ihn als den »Eremiten auf Darmstadt« bezeich59

net]; ... hatte auch schon die erste Arie im 2ten Akte leidlich zu Stande gebracht, als Vogler diese Ruhe wieder störte, indem er mich eines Morgens

bei Seite nahm und zu mir sagte: >Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen, ... Ihre Frau Mutter will durchaus, daß Sie ... ein Konzert zum Besten der Armen geben sollen ... Ich meines Theil's will Ihnen die Bittschrift, mit der Sie beim Herrn Großherzog um die Erlaubniß dazu einkommen sollen, aufsetzen, und will so lange bei der Frau Großherzoginn insistiren, bis sie es bewürkt, daß es der Großherzog bewilliget ...< — So waren seine Worte! — Ein Donnerschlag hätte mich nicht stärker frappiren können, als diese Anrede. Diese (ich kann es leider nicht anders nennen als) Hinterlistigkeit von Mutter, die mir ihren Wunsch nicht selbst vertraute sondern ihn Voglern mittheilte, ... damit ich dann, ganz allein und ohne Stütze stehend, gleichsam durch Voglers Authorität überrumpelt werden sollte, empörte mich ...« Dieses verbündete Vorgehen von Mutter und Lehrer traf auf einen entschlossenen Sohn und Schüler, so daß Vogler am 15. Dezember 1811 an Amalia Beer schreiben mußte: »Zu unserem Konzert-Projekt will der Herr Sohn sich durchaus nicht verstehen.« Der Herr Sohn wollte lieber komponieren. Dem Vater schrieb er am 18. Januar 1812: »So viel kann ich Dich indeß versichern daß es durchaus bloß mein und gar nicht Voglers Schuld ist, daß meine Oper noch unvollendet blieb. Denn ich hatte noch einige neue Ideen hinsichtlich der Poesie, welchen zufolge ich einen Theil des ersten und 2ten Aktes ganz umarbeiten ließ.« Schon in seiner ersten Oper also arbeitete Meyerbeer an den dramaturgischen Grundlagen. Er änderte Texte, die eine Menge Umarbeitungen nach sich zogen, aber die nahm er gern in Kauf, wenn er dadurch eine Verbesserung seiner dramatischen Aussage erreichte. Der Drang nach ständiger Veränderung des Textes und der Dramaturgie war ein wesentlicher Teil seines Perfektionsstrebens, doch muß ihm die Fähigkeit des dramaturgischen Denkens angeboren gewesen sein. Sie blieb eine der wesentlichsten Voraussetzungen seiner Leistung und Stellung als Opernkomponist. Am 15. März konnte er von Würzburg aus seinem ehemaligen Erzieher Wolfssohn schreiben: »Gestern Abend hat er [Vogler] bereits die Instrumentation des großen Rezitatives vom >Jephta< ... durchgesehen, und dieses bedeutende Stück ist nun gottlob auch beseitigt.« Am 6. April 1812 vollendete Meyerbeer die Instrumentierung seiner ersten Oper. Gewiß lassen sich in der Partitur des Zwanzigjährigen noch keine deutlichen Hinweise späterer Meisterschaft ausmachen. Noch ist in der musikalischen Sprache, in der Themenerfindung und -verarbeitung die Abhängigkeit vom Lehrer spürbar. Aber unverkennbar zeichnet sich der Musikdramatiker Meyerbeer ab, wo er eine Möglichkeit zur Charakterisierung eines Vorganges entdeckt. Er beginnt, seiner Partitur verbale Erläuterungen hinzuzufügen. Der Nebenbuhler Abdon »verliert sich in wollüstiger Rückerinnerung«, heißt die Anweisung für die Arie Nr. 4, um dem Interpreten neben der charakteristischen Musik auch einen Hinweis zur Darstellung des Affekts zu geben. 6o

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Das Finale II beginnt mit einem Chor der Krieger hinter der Szene. Zur Verdeutlichung des räumlichen Erlebens schrieb der Komponist vor: »Anfänglich in weiterer Entfernung kömmt aber nach und nach immer näher.« Das ist zwar keine Erfindung Meyerbeers, eher der Beweis, daß er die einschlägigen Werke kannte. Auch dynamische Finessen dienen der Verschärfung des Dramatischen: Wenn Sulima in jenem verhängnisvollen Moment ihrem Vater begegnet, blasen die vier Hörner im dreifachen Forte mit der ausdrücklichen Anweisung: »Schallstücke aufwärts.« Der Trauermarsch, der das Finale III dieser »ernsthaften Oper« (lt. Titelblatt der Originalpartitur) eröffnet, sieht im Vorspiel für Hörner, Trompeten und Pauken ein taktweises Crescendo vom Pianissimo zum Forte vor. Hier setzte Meyerbeer gute Traditionen des dynamisch vielseitigen Mannheimer Stils fort. Auch im vokalen Gestus sind Ansätze einer musikdramatischen Charakteristik spürbar. Im Terzett Nr. 12 bekundet Sulima ihre Todesbereitschaft. Auf den Text »Die Erde hat nur Leiden« singt sie eine vier Takte lange Koloratur, die, wenn sie auch etwas ungefüge ist, doch Meyerbeers Bemühen hörbar werden läßt, seelische Vorgänge zu musikalisieren. Hier zeigte sich ein Weg, den er weiterverfolgen wird. Das Werk war geschrieben. Doch wer sollte es aufführen, da es ohne fürstlichen Auftrag entstanden war. Berlin kam, trotz bester personeller und 61

technischer Vorbedingungen, nicht in Betracht, denn die voreilige Mutter, nur die Karriere des Sohnes im Sinn, hatte dem allmächtigen Theatergott Iffland, der am 18. Juni 1811 zum »Generaldirektor der Königlichen Schauspiele« berufen worden war und damit auch Einfluß auf die Spielpläne der Oper nahm, das Libretto zum Lesen gegeben. Es hat ihm nicht gefallen! Vogler beklagte sich am 15. Oktober 1811 bei Madame: »Aber liebe! beste Freundin! Wie konnten Sie bei einer so interessanten Geschichte, wie Jephtas Gedicht ist, mich vorbeigehen? Habe ich ... Ihr Zutrauen (verloren), daß Sie mir die Idee, es Iffland lesen zu lassen, verheimlichten? ... er hat es ... als ein Gesuch um Protection angesehen. ... Wir beide wollen nicht suppliciren [bitten], sondern man schickt das Gedicht und die fertige Partitur und frägt: entweder, oder. Für Berlin ist es jetzt geschehen und es bleibt keine Aussicht mehr übrig, als diese Oper in München aufführen zu lassen. Dort ist es sehr schwer, wenn Sie aber, wie Hr Prof. mir erklärte, keine Nebenkosten scheuen, so lege ich meine Autorität dazu ...« (»Nebenkosten« war zweifellos ein euphemistischer Ausdruck für die Summe, die notwendig war, um das Werk eines völlig unbekannten Neulings überhaupt an der Münchner Hofoper unterzubringen.) Die bayrische Residenz hatte in der Tat einen guten Ruf als Opernstadt, der noch aus dem Ende des 18. Jahrhunderts stammte, als Mozart seine »Finta giardiniera« und seinen »Idomeneo« dort aufführen konnte. Die Kriegsläufte hatten jedoch auch an der Substanz gezehrt, so daß der königliche Etat für die Musen oft nur gering ausfiel, zumal neben dem schon seit hundertfünfzig Jahren etablierten italienischen Ensemble auch eine 1799 begründete deutsche Oper Ansprüche anmeldete. Vogler glaubte, wegen der Beziehungen Mannheim—München genügend Einfluß auf die Annahme von »Jephtas Gelübde« nehmen zu können. Für Meyerbeer ging die Angelegenheit zu langsam voran. »Ich fürchte übrigens leider«, schrieb er am 28. März 1812 an Wolfssohn, »daß der Hauptzweck unserer Vorausreise, nämlich Vogler zu treiben, ganz verfehlt ist, denn Sie wissen, er hat sich hier [in Würzburg] zu 3 Concerte verbindlich gemacht, und noch ist gar keine Aussicht zu dem 2ten, denn er reparirt dazu die Orgel vom Neumünster-Stift, die vor 12 Tagen a dato nicht einmal fertig wird.« Im Tagebuch von 1812, dem ersten, das uns überliefert ist, notierte er im April: »Schon im Anfange des Januars war es bestimmt, daß Vogler & ich nach München gehen sollten. ... Allein diese Reise verschob sich aus tausend verschiedene Gründe bis zum B. März (Sonntag), wo wir dann endlich von Darmstadt abreisten & den 9. abends in Würzburg ankamen. Dort mußte ich leider 5 Wochen bleiben, indem Vogler 3 Orgelkonzerte geben wollte, welchen ich sehr gern beigewohnt hätte.« Die Wißbegierde trieb den jungen Herrn jeden Abend ins Theater (die Loge des Würzburger Direktors Franz von Holbein stand ihm unentgeltlich zur Verfügung). Der aufmerksame Zuhörer übte sich im Beurtei62

len der Aufführungen und der Interpreten — und fand alles reichlich mittelmäßig. Hier in Würzburg wurde ihm klar, daß er sich von seinem Lehrer lösen mußte: »übrigens ist es für meine musikalische Existenz durchaus nothwendig daß ich mich von Vogler bald trenne, denn man sinkt so zur Null neben ihm herab, wird den Leuten so unbedeutend, daß mir zum erstenmale hier meine musikalische Existenz lästig war, und ich in den 2 Gesellschaften wo ich mich neben ihm befand lieber jedes andere als ein Musiker zu sein gewünscht hätte. Ich kann mich übrigens nicht über Vogler beklagen, der immer der alte Gott bleibt, und alle Tage zu mir kömmt, sondern nur sein übergroßer Ruhm ist für seine musikalischen Begleiter etwas lästig ...«, vertraute Meyerbeer am 21. März Wolfssohn an. Von Würzburg ging die Reise Mitte April nach Bamberg, wo Meyerbeer dem »hiesigen Musikdirektor E. T. A. Hoffmann« vorgestellt wurde. Tags darauf besuchte er Nürnberg und reiste weiter nach Fürth zu der ihm bekannten Bankiersfamilie Königswarth. Die Dame des Hauses »... empfing uns sehr freundlich & herzlich, als sie aber hörte, dass ich nach ein paar Stunden schon wieder nach Nürnberg fahren wollte, um dort >Die Zauberin Sidonia< [Schauspiel von Heinrich Zschokke] zu sehn, ward sie piquirt. Das tut mir leid, aber ein fremdes Theater kennen zu lernen, ist für mich zu wichtig, um es einer, wenn auch der angenehmsten, Gesellschaft aufzuopfern« (Tagebuch, 15. April). Hier ist Meyerbeers Theaterleidenschaft zum ersten Mal eindrucksvoll von ihm selbst dokumentiert. Trotz seiner guten Erziehung ging ihm seine Theaterpassion über alles. In Nürnberg hörte er Méhuls »herrliche Oper Joseph« und lernte den dortigen Musikdirektor Karl Wilhelm Guhr, einen seiner späteren Weggefährten, kennen, der ihm seine neue Sinfonie vorspielte. »Ich fand ... recht originelle Modulationen, eine jedoch im Grave ... ausgenommen, welche einer Modulation aus Spontinis Ouvertüre zur >Vestalin< wie ein Haar dem andern glich. Allein dem Ganzen war der Stempel excentrischer Jugend aufgedrückt — übertriebene Länge, verworrener Plan, überladene Instrumentation«, urteilte der Einundzwanzigjährige über das Werk des Fünfundzwanzigj ährigen. Am 22. April kamen die Reisenden nach Augsburg. Nachdem Meyerbeer sieben (!) Empfehlungsschreiben in Kaufmannshäusern abgegeben hatte, die wiederum Empfehlungen an andere Häuser in Italien auslösen sollten (denn eine Reise dorthin war ins Auge gefaßt worden), speiste er mittags an der Table d'hôte. »Gracien verwundeten mich dort bis ins Innerste meiner Seele & knickten meinen Mut & Frohsinn für den ganzen Tag. Wann werde ich doch endlich lernen, mich in das Längsterkannte & Unvermeidliche ruhig zu schicken?« So steht es am 22. April zwischen ganz gewöhnlichen Tagebuchnotizen. Da wurde er offenbar von ein paar albernen bayrischen Maderin taktlos an seine jüdische Herkunft erinnert. Kaum hatte er das schützende 63

Elternhaus oder die Geborgenheit des Voglerschen Kreises verlassen, wurde ihm die mindere Geltung seiner Rasse bewußt gemacht. Im Augsburger Dom betrachtete er das Gebiß der heiligen Afra, besah das Augsburger Rathaus, dessen »Regelmäßigkeit, Größe u Schönheit« er gebührend bewunderte, und reiste am 25. April nach München, wo er im »Goldenen Hahn« Quartier nahm. Hier blieb er bis zum 31. Dezember 1812. Zum ersten Mal in seinem Leben war er völlig selbständig, ohne Aufsicht des Erziehers Wolfssohn, der in der letzten Zeit nur noch sporadisch mit Meyerbeer zusammengetroffen war, ohne Unterrichtsverpflichtung bei Vogler, der ja noch in Würzburg an den Orgeln baute. In der bayrischen Residenz lernte er, sich in Gesellschaften von Künstlern, Adligen, Diplomaten und Bankiers zu bewegen, spielte seine Klavierstücke, phantasierte über Themen aus Opern, die man gerade in München gab, übte täglich Klavier (»exercirt« heißt das im Tagebuch, mit der gelegentlichen Variante »sehr fleißig exercirt«), schloß Bekanntschaften, mit denen er kleine Ausflüge in die Umgebung unternahm — und wartete auf seine Chance.

Zunächst suchte er die Bekanntschaft der Größen des Münchner Musiklebens. Da war Johann Nepomuk Baron von Poissl (1783-1865), der 1824 Intendant der Hofmusik und des Hoftheaters wurde. Da der Baron zugleich königlicher Kammerherr und Komponist war, schloß sich Meyerbeer ihm eng an, musizierte mit ihm, spielte ihm aus seinen neuesten Werken vor. Gelegentlich half er ihm auch beim Komponieren, als Poissl den Auftrag hatte, zur »Merope« von Nasolini einige neue Arien zu schreiben. »Er zeigte mir das Thema der Ouvertüre ... war über die Ausführung verlegen. Ich komponierte darauf in einer Viertelstunde den ganzen ersten Teil, welcher ihm so wohl gefiel, dass er ihn behalten wird ...« (Tagebuch, 22. August). Er instrumentierte auch einen Teil von Poissls Oper »Ottaviano in Sicilia«, die am 12. Juli 1812 uraufgeführt wurde. Meyerbeer schloß Freundschaft mit Joseph Heinrich Baermann, dem Soloklarinettisten der Hofkapelle, und mit dessen Lebensgefährtin Helene Harlas, der ersten Sopranistin der Oper; mit dem Violinisten Giovanni Battista Polledro, der 1816 erster Konzertmeister wurde; mit dem Fagottisten Georg Friedrich Brandt, dem Oboisten Anton Fladt, dem Violoncellisten Peter Legrand, dem Konzertmeister Joseph Moralt ... Er nahm Beziehungen zu Peter von Winter (1754-1825) auf, dem Münchner Hofkapellmeister, zu Conradin Kreutzer, zu dem Schauspieler Johann Gottfried Wohlbrück, dem er schon in Darmstadt begegnet war. Meyerbeer sah zum wiederholten Male Joseph Anton Weigls »Die Schweizerfamilie«, Winters »Das unterbrochene Opferfest«, eine Fortsetzung der »Zauberflöte«, mit dem die deutsche Oper in München eröffnet wurde, den favorisierten »Joseph in Ägypten« von Méhul und Dalayracs »Macdonald« neben vielen anderen, heute nicht mehr bekannten Werken. 64

Aber auch Schauspiel und Posse verschmähte Meyerbeer nicht, gab es doch überall etwas zu lernen, von guten Stücken ebenso wie von schlechten. Wie ein Tag im Leben eines jungen Mannes aus gutem Hause ablief, ist seinem Tagebuch zu entnehmen, etwa: »Mittewoche, den 13. [Mai 1812]. Sehr fleißig exerciert. Besuch bei Bärmann. Mittags assen wir bei Seeligmann. Gegen 6 Uhr führte mich Simon Seeligmann bei seiner Schwiegermutter der Madame Meyer auf. Ich fand in ihr eine geistreiche, liebenswürdige Frau. Sie hat ein paar Töchter, von welchen die eine wunderlieblich & voll stillen Reizes (Wenn ich mich so ausdrücken darf) ist. Ich spielte die Cramerschen Variazionen. — Auf den Abend war ich bei Bärmann, wo Gesellschaft war & Polledro 3 Trios & ein Potpourri herrlich spielte. Wir soupierten dort erstaunlich vergnügt, & ich blieb bis gegen Mitternacht dort.« Am 3o. Mai besuchte Meyerbeer Vogler in Nürnberg und konnte ihn endlich bewegen, nach München zu kommen, wo beide Mitte Juni eintrafen. Baermann hatte Meyerbeer schon sehr dringlich veranlassen wollen, seine Sache selbst in die Hand zu nehmen und den Weg durch die Instanzen anzutreten. Doch davor schreckte Meyerbeer zurück. Er wünschte sich »... einen recht strengen Hofmeister, der mich nötigenfalls bei den Ohren, zu diesen Démarchen leitete« (Tagebuch, 6. Juni). Das wird ein charakteristischer Zug an ihm bleiben. In schwierigen Situationen handelte er entweder gar nicht oder schickte andere vor. Nun war Papa Vogler da und nahm die Sache in die Hand. »... wir [!] beschlossen, dass er morgen früh nach Nymphenburg zur Königin fahren solle, um mit ihr von meiner neuen Oper zu sprechen &, falls es möglich wäre, ... daß ich im morgenden Hofkonzerte spiele ...« (Tagebuch, 16. Juni) . Endlich kam Bewegung in die Angelegenheit: »Um g Uhr fuhr ich mit Vogler nach Nymphenburg. Vogler liess sich bei der Königin melden. Es war aber noch zu früh, & er ward um 12 Uhr beschieden. Er sprach mit der Königin von der Oper & von meinem Wunsche, in ihrem Hofkonzerte zu spielen. Da sie, wenn der König da ist, nie etwas allein dezidiert, so sagte sie, dass sie deshalb mit dem Könige sprechen wolle. Ich fuhr also in die Stadt zurück, um gekleidet zu sein, falls mich der König schon heute Abend hören wolle. Bei meiner Zurückkunft nach Nymphenburg hatte der König schon geschickt, ... Ich spielte das G-Rondo. Als ich fertig war, kam die Königin auf mich zu, sagte mir ein paar Artigkeiten über mein Spiel & befrug mich dann über meine Kompositionen. Ich nahm die Gelegenheit wahr, ihr von meiner Oper zu sprechen & sie um Erlaubnis zu bitten, sie ihr präsentieren zu dürfen. Sie nahm das gut auf ... Da die Musiker immer bei jedem Hofkonzerte traktiert werden, so wohnte ich noch einem recht fröhlichen Souper bei & kam erst um i Uhr nach Mitternacht nach München zurück.« Es war also ein erfolgreicher Ausflug, denn bald darauf teilte ihm der Hoftheaterintendant De la Motte mit, daß die Oper gegeben würde, allerdings nicht vor Oktober, da man die nächsten zwei Monate italienische Oper en suite spielen würde.

65

Nach nochmaliger Überarbeitung der Partitur, anfänglich mit Vogler, übergab Meyerbeer der Königin sein Werk und bat sie, den Zeitpunkt der Uraufführung zu bestimmen. »Wie es mir scheint, so traut sie mir nicht recht, denn sie frug mich über alle meine Sachen, wo sie aufgeführt worden wären etc. Sie blieb heute fast noch einmal so lang als das letzte Mal, war auch weit aufgeräumter & gesprächiger« (Tagebuch, 6. Juli). Mitten in diese hoffnungsvolle Zeit, als Gänsbacher von Wien herüberkam, um neueste Kompositionen gemeinsam durchzugehen, fiel der Tod des Großvaters Liebmann Meyer Wulff am 16. August. »Gott! meine arme Mutter! Ich fürchte für ihre Gesundheit. Ich werde mein Tagebuch für einige Zeit schließen. Warum nur die Gefühle des Schmerzes wiedererzählen?« (Tagebuch, 29. August). Waren das Sätze aus einem Rezitativ: O Dio! La mia madre!«, wie sie in vielen italienischen Opern stehen konnten, oder kam echter Schmerz in dem Brief vom 3o. August 1812 an seine Mutter zum Ausdruck, als er schrieb: »Trösten kann und mag ich nicht, denn ich bin zu erschüttert um nicht selbst zu fühlen wie wenig die kalten Vernunftgründe gegen die lebhaften Ausbrüche eines so kummervollen Gefühls vermögen. ... Ja, wenn irgendein Schimmer von Bewustsein den armen Großvater auf sein Todtenbette begleitete, so muß es seine letzte Augenblicke versüßt haben, zu wissen daß seine Kinder den Glauben nie verlassen werden .. . Drum nimm auch von mir in seinem Namen das feierliche Versprechen, daß ich stets in der Religion leben will, in welcher er starb.« Er blieb beim mosaischen Glauben bis an seine letzten Tage, und nichts konnte ihn darin erschüttern, obwohl er nie ein orthodoxer Gläubiger gewesen ist. »Endlich am 23. Dezember (Mittwoche) ward meine Oper >Jephtas Gelübde< zum ersten Male gegeben. Schon am 18. November waren die Proben angegangen, aber mehreremal unterbrochen worden. 3mal war die Oper auf & wieder von dem Repertoire gekommen. Vorsätzliche & zufällige Hindernisse aller Art traten in den Weg & noch am 20. war ich nicht sicher, dass die Oper am 23. sein würde. Angst, Verdruss & Arger aller Art regneten diese 6 Wochen reichlich auf mich. Dafür wurde ich aber auch durch eine fast vollkommene Darstellung belohnt. ... Die Harlas übertraf sich selbst. Ich hatte ihr zwei neue grosse Szenen (die ganz auf ihre Individualität berechnet waren) hineingeschrieben ... Die Königin selbst (ein seltener Fall) applaudierte ...«, vermerkte er im Tagebuch vom Dezember. Die Kritiken lobten die tiefen Kenntnisse der Tonkunst, mit denen der junge Komponist aufwartete, die Fülle der Ideen. Aber auch eine abfällige Stimme wurde in der »Allgemeinen musikalischen Zeitung« laut, die die »schwierigen und ermüdenden Rollen« monierte und berichtete, daß das Haus schon bei der 2. Vorstellung leer gewesen sei. Schuld daran sei der Komponist, da das Münchner Publikum nur »ächte Verdienste« zu schätzen wisse. Mit der Uraufführung seiner ersten Oper schloß Meyerbeers Lehrzeit. Vogler hatte ihn im Bewußtsein unterrichtet, »meinen Liebling Meier zum 66

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Theaterzettel der Uraufführung von »Jephtas Gelübde«, München 1812. Sammlung Becker 67

Universal-Erben meiner Kenntnisse einzusetzen« (5. Juli 1811 an Amalia Beer), was bedeutet, daß Meyerbeer in der Mannheimer, nicht in der Wiener Tradition erzogen worden war. Heute verbinden wir mit dem Begriff des klassischen Stils fast ausschließlich die Trias Haydn, Mozart und Beethoven. Doch Meyerbeer lernte auch viele andere Handschriften kennen, die zur Summe der damaligen Musikkultur gehörten. Er konnte entdecken, daß dieser Stil nicht einheitlich war, daß Widersprüche und Kontraste existierten, daß es viele Wege gab, der dramatischen Wahrheit näherzukommen. Gerade die Buntheit der Ausdrucksmittel wird er sich gut merken. Er wird sie später für seine umfassenden Ideen zu nutzen wissen, und man wird ihm diese Stilmischung als Eklektizismus verübeln. Als er am 3. Januar 1813 München verließ, schrieb er in sein Tagebuch: »Erinnerungen aller Art begleiten mich, wenn ich an meinen gmonatlichen Aufenthalt allhier denke ... München wird mir... stets merkwürdig bleiben, weil ich dort meine erste Oper auf die Bühne brachte, dort meine musikalischen Lehrjahre beendigte (denn ich verlasse jetzt Vogler) & endlich weil München der erste Ort ist, wo ich wirklich bedeutendes Aufsehen erregte. Wir wollen sehen, ob ich im Jahre 1813 so glücklich fortfahren werde, als ich das Jahr 1812 beendigte.« Mit dieser Hoffnung fuhr er nach Stuttgart, wo ihm gleich zu Beginn des neuen Jahres die erste Enttäuschung bereitet wurde.

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Kapitel III Intermezzo in Wien, Paris, London 1813-1816

Wegen seiner Münchner Verpflichtungen hatte Meyerbeer die Vorbereitungen zur Uraufführung seiner neuen Oper nicht selbst in die Hand nehmen können. Er zog daraus die Lehren für seine künftigen Werke. Als er am 5. Januar 1813 zur Probe seiner neuen komischen Oper »Wirth und Gast« auf die Bühne der Stuttgarter Hofoper kam, erkannte er sofort, daß es ein Fiasco geben würde. Es blieb ihm jedoch nichts weiter übrig, als den Dingen ihren Lauf zu lassen. Am folgenden Morgen schrieb er seinem Librettisten nach München: »Werther Freund! (In Eile) So sehr ich mir es vorstellen kann, daß der Inhalt dieser Zeilen Ihnen nicht angenehm sein wird, so bin ich es doch der Ehre meiner Musik und Ihrer Beruhigung für die Folge schuldig Ihnen zu sagen, daß ich gestern i Stunde nach meiner Ankunft allhier, sogleich einer Probe (Notabene der ersten Theaterprobe) von >Wirth und Gast< beygewohnt habe, und nach Endigung derselben der Meinung bin, daß wenn heute Abend unsere Oper nicht ausgepfiffen wird, das Publikum ausgepfiffen zu werden verdient ...0 Meyerbeer hatte die Wartezeit in München nicht in Gesellschaften vertändelt, sondern schon im Frühjahr 1812 den Plan zu einer neuen Oper gefaßt, deren Libretto der Münchner Schauspieler und Regisseur Johann Gottfried Wohlbrück schrieb. Am 24. Juli »... hat Wohlbrück die Poesie meiner neuen Oper >Wirth und Gast< oder >Aus Scherz Ernst< geendigt, ich will mich ernstlich darüber machen. Das Terzett N i i skizziert« (Tagebuch). Im November nahm das Stuttgarter Hoftheater das Stück an, aber da war Meyerbeer noch zu sehr mit seiner Münchner Premiere beschäftigt. Das Stuttgarter Hoftheater gehörte zu dieser Zeit nicht gerade zu den ersten Bühnen Deutschlands, da es nach dem Tod des Herzogs Carl Eugen aus finanziellen Gründen an Privathand verpachtet worden war und den unter Zumsteeg und Schubart gewonnenen guten Ruf verloren hatte. Erst 1802 erklärte sich der württembergische Hof bereit, die Subvention wieder zu übernehmen, und berief den ehemaligen Weimarer Hofkapellmeister J. F. Kranz und nach ihm 1807 den Vogler-Schüler Franz Danzi an die Spitze des Hauses. Danzi hatte 1812 seinen Dienst beendet und kümmerte sich deshalb nicht mehr um Meyerbeers neues Werk. Und der zu Anfang 1813 berufene 69

Conradin Kreutzer war so neu im Amt, daß er die Partitur von »Wirth und Gast« nicht innerhalb weniger Tage einigermaßen sicher einstudieren konnte. Dazu kamen noch andere Mängel: »Dlle Meyer ist ganz heiser kann bis in diesem Augenblick noch nicht 6 Noten von ihrer Rolle auswendig; ditto Hr. Krebs, der ebenfall's heiser ist, und mit einer so unbeschreiblichen Plumpheit und Linkheit seine Rolle singt, daß ich das Rondo und Trinklied erst bei den tot Takt wiedererkannte indem ich es bis dahin für eine fremde Musik gehalten hatte«, schrieb der Komponist nicht ohne Galgenhumor am Tag der Uraufführung an Wohlbrück. Die Premiere brachte weder einen künstlerischen Eindruck noch Erfolg bei Publikum oder Presse. So verließ Meyerbeer rasch die württembergische Landeshauptstadt und begab sich weiter südwärts, nach Wien, im Reisegepäck die Partitur der neuen Oper, um für sie eine bessere Chance zu erwirken. Etwas verspätet, da versehentlich nach Paris (!) gesandt, erreichte ihn die Ernennungsurkunde zum »Hof- und Kammer Kompositeur« des Großherzogs von Hessen-Darmstadt, dem Meyerbeer die Partitur zu »Jephtas Gelübde« dediciert hatte, wie es üblich war. Verwunderlich ist, daß er sie nicht der bayrischen Königin widmete, die sich so angelegentlich für die Uraufführung eingesetzt hatte. Vielleicht war ein diskreter Hinweis von Vogler gekommen, dem Darmstädter Landesherrn, unter dessen Schirm Meyerbeer zwei Jahre unbehelligt leben konnte, seinen Dank abzustatten. Die Reise nach Wien führte über Frankfurt und Nürnberg nach Regensburg, wo Meyerbeer ein Schiff bestieg, um den Rest der Strecke auf der Donau zurückzulegen. »Da die Teurung fürchterlich ist, so setzte ich mich zur Ersparung der Unkosten mit meinem Bedienten auf das Postschiff und flutete die Donau ganz flott hinunter... Die Fahrt ging sehr schnell, allein im ersten österreichischen Flecken Aschack überfiel uns ein schrecklicher Sturm, und wir mußten 3 Tage — sage drei — stille liegen.« Nicht so der Fahrgast: »Aus lauter Langeweile verführte ich eine Kaufmannstochter, eine Feldwebels-Witwe und die Wirtin meines Gasthofes oder vielmehr sie verführten mich, denn ich habe nirgends Pucellage gefunden, obgleich ich sie bei der erstem stark vermutete; demohnerachtet waren alle 3 liebe Geschöpfe« (i o. März 1813 an Gottfried Weber). In Linz angekommen, »... packt mich ein junger Mensch und frägt mich, ob ich Meyerbeer sei. Auf meine Bejahung ladet er von Seiten des Kapellmeisters Glöggl ein, sogleich zu ihm zu kommen. Ich gehe hin u., wie ich die Tür öffne, tritt mir entgegen — Vogler; Bruder, ich dachte, der Schlag träfe mich! ... Wahrhaftig, ich liebe doch den alten Papa mehr, als ich es weiß! er ist auf der Reise nach Wien und hatte in den Münchner Zeitungen meine Reise nach Wien gelesen; woher die Kerle das wissen, mag der Teufel wissen« (an Gottfried Weber). Meyerbeer verließ seinen Lehrer, ohne zu ahnen, daß er ihn nie wiederse70

hen würde. Am 13. Mai schrieb Carl Maria von Weber an seinen ehemaligen Mitschüler: »Ich erhielt gestern Abend einen Brief von Hr. Steiner aus Darmstadt wo er mir den Tod unseres großen Lehrers Vogler d 6t Maj früh V. 5 Uhr meldet. ... die Welt verliert Großes an ihm, und uns wird sein Andenken stets

heilig seyn ...« Man schrieb das Jahr 1813. In den Monaten März bis Mai hatte Napoleon noch einmal große Reserven mobilisiert und war von Paris nach Deutschland geeilt, um die verbündeten Preußen, Russen und Österreicher einzeln zu schlagen. Er operierte im sächsisch-schlesischen Raum und sah sich in den Schlachten von Kulm und Großbeeren erstmals den preußischen Freiwilligen-Regimentern gegenüber, die auf Friedrich Wilhelms Aufruf »An mein Volk« vom 17. März hin zu den Waffen geeilt waren. Zu ihnen gehörten auch viele jüdische Männer, durch das sogenannte Toleranz-Edikt vom 11. März 1812 vollwertige Staatsbürger, die ihr Vaterland verteidigen wollten. Obwohl Napoleon ihnen das Recht auf Gleichheit erst ermöglicht hatte, entschieden sie sich nun gegen ihn. Bruder Wilhelm Beer trat im Oktober 1813 in das 1. schlesische Husarenregiment ein, brachte es zu Ruhm und Ehre und beendete den Feldzug 1815 als Leutnant der Husaren. Meyerbeer blieb währenddessen in Wien, wo das gesellige Leben auch während der entfernt stattfindenden Schlachten uneingeschränkt weiterging: Es gab Cercle, Oper, Schauspiel, Ausflüge. Meyerbeer »exercirte« weiter, aber ganz zivil eigene und fremde Klaviersachen. Er ließ sich vornehmlich in privaten Gesellschaften hören. Ignaz Moscheles, selbst ein gefeierter Klavierlöwe neben Beethoven, spielte häufig mit Meyerbeer vierhändig. Stundenlang konnten sie zusammen phantasieren und improvisieren. Sie zogen gern nach Dornbach bei Wien, wo die Familie Lewinger einen heiteren, ungezwungenen Künstlerkreis versammelte, mit Hummel und Salieri als Gästen. Man spazierte des Abends in die Umgebung, stellte Tableaus und komponierte allerhand Spielereien, die sogleich aufgeführt wurden. Moscheles erinnerte sich an Meyerbeers Klavierspiel: »Seine Bravour ist unerhört. Sein Spiel unübertrefflich. Ich bewundere seine ganz eigene Art, das Instrument zu behandeln.« Nach Jan Vâclav Tomâseks Erinnerungen (sie wurden 1846 notiert) äußerte sich Beethoven zum gleichen Thema sehr kritisch: »Man hat mich öfters gefragt, ob ich ihn gehört habe — ich sagte nein, doch aus den Urtheilen meiner Bekannten, die so etwas zu beurtheilen verstehen, konnte ich entnehmen, daß er zwar Fertigkeit hat, übrigens aber ein oberflächlicher Mensch ist.« In diese Zeit fiel eine geradezu traumatische Episode für Meyerbeer. Am B. Dezember 1813 versammelten sich etwa hundert Musiker Wiens, um an einem Jahrhundertereignis teilzunehmen. Sie wollten ein besonderes Werk von Beethoven aus der Taufe heben: »Wellingtons Sieg bei Vittoria«. Antonio Salieri leitete als Unterdirigent die Batterie, die die französische und die 71

englische Kanonade zu bewirken hatte. Die ersten musikalischen Größen der Musikhauptstadt Wien begaben sich unter die Leitung des schon fast ertaubten Beethoven: Spohr, Pixis, Moscheles, Mayseder, Romberg und viele andere. Hummel stand an der großen Trommel. Der Meister äußerte sich dazu: »Mir fiel die Leitung des Ganzen zu, weil die Musik von meiner Komposition war; wäre sie von einem anderen gewesen, so würde ich mich ebenso gern wie Herr Hummel an die große Trommel gestellt haben.« Es war aber noch eine zweite große Trommel zu besetzen, und an die wurde zur Wiederholung der Aufführung am 2. Januar 1814 Meyerbeer gestellt, wahrscheinlich durch Moscheles' Fürsprache. Es waren zwei der größten Instrumente, deren der Maestro in Wien habhaft werden konnte. Die beiden großen Trommeln für die englische und die französische Kanonade »gehören ... [zu] denselben (hier waren sie 5 wiener Schuh ins Gevierte) welche man gewöhnlich in den Theatern braucht, um einen Donnerschlag zu bewirken«, notierte Beethoven im Vorwort zur Besetzung der SchlachtenSymphonie. Zwischen diese Ungetüme wurde Meyerbeer gestellt, um im Sturmmarsch in rhythmisch höchst vertrackter Form die Akzente der französischen Kanone zu schlagen. Vom Blatt ging das nicht, und es hätte schon eines erfahrenen Schlagzeugers bedurft, taktgerecht zu bleiben. Meyerbeer war weder Schlagzeuger noch ein versierter Orchestermusiker. Er schlug die Trommel mehr schlecht als recht und brachte die rhythmische »Feldordnung« dieses Notenkrieges arg ins Wanken. Beethoven zu Tomâsek: »Ich lernte ihn bei der Aufführung meiner Schlacht kennen ... Ha! Ha! Ha! — Ich war gar nicht mit ihm zufrieden; er schlug sie nicht recht, und kam immer zu spät, so daß ich ihn tüchtig herunter machen mußte. Ha! Ha! Ha! — Das mochte ihn ärgern. Es ist nichts mit ihm; er hat keinen Muth, zur rechten Zeit darein zu schlagen.« Dröhnendes Gelächter begleitete diese Erinnerung. Sollte es Beethovens eigene, durch die Taubheit bedingte Unsicherheit verdrängen? Dabei hatte er etwas Richtiges getroffen: Dreinschlagen konnte Meyerbeer nicht, weder damals als Zweiundzwanzigjähriger noch später. Er bekam Gallenfieber ob dieser herben Kritik und mußte vierzehn Tage lang das Bett hüten. Es war seine einzige Begegnung mit Beethoven, und er wird diesen Namen lange Zeit völlig verdrängen. Während Beethoven seine Notenschlacht lieferte, sah sich Meyerbeer außerstande, mit der Waffe auf die Franzosen dreinzuschlagen oder sich anderweitig patriotisch zu engagieren. Er hielt sich fern von allem Streit. Aber es gibt ein Dokument, einen Briefentwurf, den Heinz Becker auf September 1814 datiert und der vermutlich an Wolfssohn gerichtet war. Ob ein Brief diesen Inhalts abgesandt wurde, ist nicht bekannt. Die Zeilen sind Ausdruck von Zweifeln angesichts der allgemeinen patriotischen Hochstimmung. Kaum ein zweites Dokument von solcher Offenheit ist uns überliefert: »Als die preußische Regierung voriges Jahr die sämmtliche Jugend des Landes zum freiwilligen Kriegesdienst aufforderte, da glaubte ich meinen An72

sichten der Lage der Dinge nach, und auch meiner Persönlichkeit halber, daß es ein Gewinn für mich sein würde wenn ich mich demselben entziehen könnte ... kann ich es mir nicht verhehlen daß ich eigentlich dem Staate meine Person veruntreut habe, und ich fürchte daß ich mir mit dieser Erinnerung einen Skorpion in meine Brust gesetzt habe der, während meines ganzen übrigen Lebens an mein Ehrgefühl nagen wird. Fügen Sie zu dieser Selbsterkenntniß hinzu daß ich von meinem Bruder Wolff und von Reisenden die in Berlin waren, weiß, wie aufgebracht und erbittert die Berliner gegen alle Landsleute sind die nicht mitgefochten, welchen unangenehmen Auftritten in Händeln aller Art ich daher in Berlin entgegenzusehen hätte. Doch gesetzt man machte mit mir eine Ausnahme und verschonte mich, mein Selbstgefühl würde mich doch peinigen ... Die Rückkehr... schien mir so schrecklich, daß wenn z. B. die Regierung uns Auswärtige jetzt zur Wiederkehr in die Heimath aufforderte, oder die Eltern mit Gewalt meine Rückkunft verlangten, ich mir ohne Zweifel eine Kugel durch den Kopf jagen würde...« Zwölf Jahre braucht er noch, ehe er Berlin wieder einmal besuchte. Und die anderen Mitglieder der »Trias harmonica«? Gänsbacher trat im Sommer 1813 einer Tiroler Freiwilligen-Abteilung bei, avancierte zum Oberleutnant und zum Hauptmann. 1814 veranlaßte er die Überführung der Gebeine Andreas Hofers von Mantua nach Tirol, trat dem Kaiserjäger-Regiment bei und verblieb bis 1823 im aktiven Militärdienst. Carl Maria von Weber war Anfang 1813 als Kapellmeister an das Ständische Nationaltheater nach Prag gekommen und reiste im August 1814 zu Konzerten nach Berlin, wo er »Leyer und Schwerdt« auf die Texte von Theodor Körner komponierte und zur Begeisterung der Berliner aufführte. Er traf mit seinen Liedern genau den Ton der aktuellen patriotischen Hochstimmung. Wenigstens hier — so entschied die Familie — sollte Meyerbeer mithalten können. Wenn er auch sonst von Zweifeln geplagt wird — komponieren wird er doch wohl können! Es gelang trotz Zelters und Ifflands Vermittlung nicht, einen Text von Goethe zur Vertonung zu erlangen (der Dichterfürst war zu patriotischen Heldenliedern nicht bereit und dichtete eine sonderbare Allegorie: »Des Epidermes Erwachen«, die so unpreußisch und »unpatriotisch« war, daß man von ihr kein großes Aufheben machen konnte). So fand die Familie Beer einen Text »Das Brandenburger Thor« von E. Veith. Für die Komposition benötigte Meyerbeer zwei Wochen, »wie man eben in 14 Tagen schreibt, d. h. äußerst flüchtig« (3. August an Wolfssohn). Das Stück spielt in Berlin. Man erwartet die Rückkehr des Königs aus dem besiegten Frankreich. Schroll holt eine Trommel, Christoph rührt sie, hinter der Szene trommelt man die Leute zusammen, um den König zu begrüßen: .»O Tag der Freude, Tag der Wonne, Tag der Lust. Unser König kehrt zurück.« Die Landwehr gedenkt des fröhlichen Krieges und läßt die Preußen hochleben. 73

»Während des Ritournells werden einige Detaschements abgeschickt zum Beobachtungsposten auf die Landstraße«, steht in der Regieanweisung. Schroll erinnert sich an das Lagerleben im Krieg. Der Chor stellt ein Tableau dar zu den Worten: »Held Alexander zog heran, und Friedrich Wilhelm schloß sich an. Hoch lebe Blücher, hoch Gneisenau, hoch lebe York ...«: »Hier wird im Geschwindschritt abmarschiert«. Christoph erklärt, daß ein junger, hübscher Mann bei den Frauen nur Erfolg hat, wenn er eine Uniform trägt. Louise gerät zwischen einen Uniformierten und einen Zivilisten, aber der Zwiespalt löst sich, denn »Victoria, er kommt ... Den König begrüßen wir wieder«. Das Singspiel endet mit dem martialischen Marsch »Wohl mir, daß ich ein Preuße bin«. Der Text vereinte alle traumatischen Empfindungen Meyerbeers, die ihn bedrängten, wenn er an Preußen dachte. So konnte es mit der Komposition auch nichts Rechtes werden. Eine Aufführung unterblieb, da Meyerbeer die Partitur zu spät nach Berlin absandte. Er hatte nämlich in den Zeitungen gelesen, daß der preußische König schon im Juli in Wien eintreffen sollte, so daß er das Singspiel gar nicht mehr hätte hören können. »Über diese Sache nun«, schrieb Meyerbeer am 3. August 1814 an Wolfssohn, »wo ich mich, ein wenig Leichtgläubigkeit ausgenommen, (die noch dazu durch die damalige Lage der Umstände sehr zu entschuldigen war) so sehr unschuldig weiß, wo noch dazu der Schaden größtentheils auf meiner Seite war, indem doch nur ich die vergebliche Arbeit hatte, habe ich von Vater einen Brief erhalten der mich bis in's tiefste Gemüth empört hat. Er sagt mir darin daß ich ihm seit meinem Aufenthalt in Wien mit nicht's als einem Gewebe von Lügen und Mährchen berichtet habe ...« Vater Beer hat vielleicht klar erkannt, daß sein Sohn die erstbeste Gelegenheit ergriffen hatte, sein Werk zurückziehen zu können. Zwei kernige Gesänge sind die einzigen Dokumente seiner Stellungnahme zum Sieg der preußischen Fahnen: »Das Königslied des freien Volkes« auf einen Text von Friedrich Wilhelm Gubitz, dessen über die Mutter zugesandten Operntext Meyerbeer zu schlecht zum Komponieren fand, und »Des Teutschen Vaterland« nach Ernst Moritz Arndt, welch letzteres am 15. April 1814 zu einem Benefiz-Konzert in Berlin aufgeführt wurde. Ist es Zufall oder Absicht, daß im Autograph des »Vaterlandsliedes« Arndts Frage »Was ist des Deutschen Vaterland« von Meyerbeer in »Wo ist des Deutschen Vaterland« verändert wurde, und dieses »wo« dreimal wiederholt wird?! Nach dem Abebben der patriotischen Begeisterung fragte Prof. Wolfssohn am 28. August an, ob Meyerbeer bereit sei, »bey einem der ersten Theater in Europa« das Kapellmeisteramt zu übernehmen. Reichardt und Himmel waren gestorben, und alle Last ruhte auf Bernhard Anselm Weber, der auch nicht mehr der Jüngste war. Carl Maria von Weber hoffte auf die Stelle, auf der allerdings der König Gasparo Spontini zu sehen wünschte. Der Italiener kam aber erst 1819 nach Berlin, so daß man 1815 Bernhard Romberg und 74

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1816 Joseph August Gürrlich berief. Meyerbeer hatte es nicht eilig, sich an das Amt eines 2. Kapellmeisters zu binden, das für ihn ohnehin nur subalterne Arbeit bedeutet hätte. Er wollte sich noch gründlich in der musikalischen Welt umschauen. Inzwischen war für die in Stuttgart so stiefmütterlich behandelte Oper »Wirth und Gast« eine neue Chance gekommen. Unter dem Titel »Die beyden Kalifen« sollte sie am »K. und K. Hof-Operntheater nächst dem Kärntnerthore« in Wien aufgeführt werden. Meyerbeer schloß mit dem Intendanten Graf Palffy einen Vertrag, in dem er präzise Wünsche äußerte: »Dieser Verabredung gemäß haben Ew. Exellenz die Gnade gehabt mir zu versprechen bei Erhaltung derselben mir die schriftliche Versicherung zu ertheilen daß wenn i) die Besetzung der Rollen nicht so bleiben könnte wie sie auf der nächsten Seite verzeichnet ist, oder 2) die Oper nicht spätesten's bis zu Ende August in die Scene geht, oder 3) die beiden Chöre der Imans und Schmarotzer nicht von 12 Solosänger executirt werden; ich das Recht habe Buch und Partitur zurückzunehmen ...« Die Besetzung enthielt die nach Meyerbeers täglichen Theatergängen beobachteten optimalen Möglichkeiten des Hauses. Von nun an schrieb er nur für ein ihm bekanntes Ensemble, das er zuvor gut genug studiert hatte, um Vorzüge und Nachteile der Sänger bei seiner Rollengestaltung berücksichtigen zu können. Das war bereits die Praxis des 18. Jahrhunderts. Nur sie garantierte Höchstleistungen, und auf die kam es schließlich an. Zu Abänderungen zum Vorteil der Ausführung war er jederzeit bereit. (Helene Harlas zuliebe hatte er schon in München die Sulima-Partie um zwei große Szenen bereichert. Es gibt daher im strengeren Sinne keine »Originalfassung« seiner Werke, sondern nur praktische, auf die besonderen Bedingungen einer jeden Bühne zugeschnittene Spielfassungen seiner Opern.) 75

Die Vorbereitungen zur Aufführung der »Beyden Kalifen« liefen nicht so recht in Meyerbeers Sinn. Er sah sich einer Phalanx von Wiener Theaterleuten gegenüber, die keine Eroberung ihrer Positionen durch Fremde duldete. Meyerbeer sah das in einem Brief an den Vater so: »... ich hatte den natürlichen Wunsch erst den Erfolg der hiesigen Aufführung abzuwarten, da schon über 4 Wochen die Proben angegangen sind, und die seit 14 Tag und der 2 letzten Generalproben bedurfte um in Scene zu gehen, wenn nicht eines Theils die ewigen Hofspektakles für die Fremden Herrschaften hinderten, zum größten Theil aber die unerhörten und niederträchtigen Kabalen des Weigl und Treitschke welche eben jetzt auch eine neue Oper geschrieben haben, und nun wüthend sind, daß ich ihnen den Platz wegnehme« (8. Oktober 1814). Es war die Zeit des Wiener Kongresses. Alle drängten zur Sonne, deren Strahlen von den vielen Monarchen ausgingen. Jeder wollte auffallen, sein Konzert, seine Premiere haben. Der Hofkapellmeister Joseph Weigl hatte alle Hände voll zu tun, seine 1805 erfolgreich uraufgeführte Oper »Vestas Feuer« neu einzustudieren, die Uraufführung seiner Oper »Die Jugend Peters des Großen« (Text von Friedrich Treitschke) am 1o. Dezember 1814 und die Wiederaufnahme von Beethovens »Fidelio« (26. September) vorzubereiten. Da trat das Werk eines Neulings selbstredend in den Hintergrund. Nachdem am 25. September Zar Alexander I. von Rußland und König Friedrich Wilhelm III. von Preußen in Wien eingetroffen waren, wurde die Premiere der »Beyden Kalifen« auf den 20. Oktober festgesetzt. Es bedurfte vieler Gulden, damit das Werk in das offizielle Festprogramm gelangte und um die total überforderten Interpreten geneigt zu stimmen, auch noch diese Rollen zu lernen. Catinka Buchwieser sang ihren Part auch noch auf den letzten Proben aus dem Klavierauszug, und zur Premiere war sie völlig heiser. So litt auch diese Aufführung wieder unter den Unzulänglichkeiten des Theaterbetriebes und wurde kein Erfolg. Es fehlte zudem die obligate Balletteinlage, so daß »... Mad. Treitschke de Caro ... die Ehre haben (wird), mit ihrer Schülerinn Dlle. Gritti im zweyten Aufzuge der Oper ein Pas de deux von ihrer Erfindung, Musik von Hrn. Kapellmeister Seyfried auszuführen« (Theaterzettel) . Die Kritik ging mit Meyerbeers Musik scharf ins Gericht: »Der Uebergang von der Meisterschaft eines Instruments zur Opernkomposition bleibt immer ein sehr bedeutender und Anfangs etwas gefährlicher; die Scheu junger und lebhafter Komponisten vor fortfließenden Melodien, gefälligen Wiederholungen ... ihre Vorliebe dagegen für Genie-Blitze, immer erneute Aufreitzungen und pikante Anregungen, die den Zuschauer mehr in Spannung und Unruhe, als in die Behaglichkeit des Genusses setzen, ist der Wirkung erster Werke genialischer Komponisten oft nicht wenig hinderlich« (Wiener Friedensblätter). »Die Musik hat keine glücklichen, wohl aber überspannte Ideen, die allenfalls auf dem Klavier ausführbar seyn mögen, für die Compo-

76

sition einer Oper aber gar nicht taugen« (Wiener Theater-Zeitung). »Um originell zu seyn, fällt er nicht selten ins Bizarre und Gesuchte, um seinen Gesangstücken einen Anstrich von Charakteristik zu geben, wird er oft gemein, läppisch ... Dabei ist sein Gesang hart, voll greller Uebergänge, und schwer von Sängern vorzutragen, noch viel schwerer aber von dem Zuhörer aufzufassen, da Melodie keineswegs die Sache dieses Componisten zu seyn scheint« (Allgemeine musikalische Zeitung). Der Wiener »Sammler« war etwas freundlicher: »Der Dialog ist rein und fließend, und die Verse rhythmisch gebaut ... Der erste Chor der Gäste, das Lied Alimeleks, das Duett desselben mit der Irene sind zart und lieblich, und der Canon am Schlusse meisterhaft gearbeitet. wir ... glauben aber, daß das Ungewöhnliche, richtiger, die Eigenthümlichkeit der Musik in dem Bestreben zu suchen sey, derselben die Localfarbe zu geben, oder mit andern Worten, zu einem türkischen Text auch eine türkische und keine französische Musik, an welche wir so sehr gewöhnt sind, zu schreiben.« Tomâsek, der die Aufführung gesehen hatte, hielt auch nichts davon. Beethoven vermutete: »... sie soll schlecht ausgefallen sein. Ich habe an Sie gedacht, Sie haben's getroffen, als Sie sich von seinen Compositionen nicht viel versprachen ...« Tomâsek: »Ich war in seiner Oper, sie fing mit Hallelujah an und endete mit Requiem.« Beethoven: »Ha ha ha ha ha! So ist es auch mit seinem Spiele ...« Als Carl Maria von Weber die Oper ein Jahr später unter dem Titel »Alimelek oder Wirth und Gast« in Prag aufführte, schrieb er Meyerbeer am 11. Oktober 1815 nach Paris: »Selten hat mir eine Musik so viel Freude gemacht als diese, es ist ein treffliches Werk lieber Bruder, voll ächt dramatischer Züge, Wahrheit, Lieblichkeit und Neuheit. Der einzige Vorwurf den man Dir machen könnte, ist der, daß es eine so sorgfältige Ausführung bedarf wie eine Quartett Musik ...« Am 24. Oktober gab er einen stimmungsvollen Bericht von der zweiten Aufführung: »Wie der Vorhang fiel wollten einige Zischer sich hören lassen, aber einstimmig aplaudirte mit Lust das ganze Haus, und zerdrückte die Würmer ...« In der »Allgemeinen musikalischen Zeitung« lobte Weber das Werk in aller Öffentlichkeit und vergaß auch nicht die Verdienste seiner Interpreten hervorzuheben: »Die Einheit und Haltung der ganzen Oper ist ein Vorzug, den wenige Musiken wie diese besitzen; dabei die Beweise des ernsten Studiums der Kunst, die schöne Verbindung selbständiger Melodieformen, wo jeder Charakter sich selbst treu bleibt! Keine Weitschweifigkeit, alles dramatisch wahr...« »Der Stoff derselben ist der erwachte Schläfer aus dem Märchen der Tausendundeinen Nacht« (Weber). I. Akt Vor dem Haus des reichen, jungen Kaufmanns Alimelek haben sich Bakschisch-Empfänger und Schmarotzer versammelt. »Mit comischem En77

thusiasmus«, »seufzend«, »kläglich«, »affectiert« (lt. Partitur), mit komischen melodischen Seufzern, verschobenen Akzenten versuchen sie, Alimelek Geld abzuluchsen. Das Groteske der Situation wird durch die übertriebene Betonung einzelner musikalischer Elemente erreicht. In Alimeleks Haus hält sich Irene, die seit Wochen vermißte Nichte des Kalifen Harun al Raschid, verborgen. Nur selten darf sie ans Licht. In ihrer Romanze besingt sie das Glücksgefühl, bei ihrem Geliebten Alimelek zu sein, zuerst mit einer schlichten Melodie, die sich bald zu verzückter Virtuosität steigert. G. Meyerbeer: »Alimelek«

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T Der Kalif, inkognito in seinem Reich unterwegs, besucht den Kaufmann und wird von ihm freundlich bewirtet. Bei einem Trinklied kommt man ins Gespräch. Alimelek äußert so nebenbei, daß er gern einmal einen Tag lang Kalif sein möchte. Der Gast verspricht mit Hilfe der Magie die Erfüllung dieses Wunsches. Übermütig geworden, ruft Alimelek seine Geliebte herbei, die sofort ihren Oheim erkennt: »Ha, der Kalif!« Der verbirgt sein Erstaunen; er versetzt Alimeleks Wein mit einem Schlafmittel und läßt den Kaufmann in den Palast bringen. II. Akt Alimelek erwacht als Kalif und spielt einen Tag lang überzeugend den Herrscher. Zur Nacht erhält er wieder einen Schlaftrunk. Er erwacht im Kerker, weil er wegen Entführung der Kalifen-Nichte dem Henker verfallen soll. Die Verwandlungsmusik, die das Erwachen begleitet, zitiert Motive aus dem vorangegangenen Bild und schildert Alimeleks Traum als Herrscher für einen Tag. Der Kalif stellt Alimeleks Treue auf die Probe: Er verspricht ihm den Erlaß der Strafe, wenn er eine andere Frau heiratet. Alimelek bleibt hart; doch als er hört, daß Irene das gleiche Schicksal wie ihm droht, gibt er nach. Der Kalif hat seine Nichte ähnlich unter Druck gesetzt. Doch auch sie bleibt standhaft und verschmäht den ihr angebotenen Fürsten. Die Treue der Liebenden veranlaßt den Kalifen, den Bund des Paares zu segnen. Mit einem fröhlichen Kanon schließt das Stück. 78

Zwar ist durch die türkische Folie wie auch durch den Introduktions-Chor eine gewisse Ähnlichkeit mit Webers »Abu Hassan« nicht zu übersehen, aber es ist beileibe keine »türkische« Musik, wie sie der Wiener Rezensent gehört haben wollte. Von der Spieloper des jungen Weber entfernt sich Meyerbeer durch die größeren Dimensionen seiner Arien und Ensembles sowie durch eine tiefere Charakteristik seiner Hauptfiguren, besonders der Irene. Nur gering sind die Anklänge an italienische Vorbilder — etwa die Oberstimmenführung und die nachschlagenden Achtel in der Introduktion. G. Meyerbeer: »Alimelek«, Nr.1: Introduktion

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Das türkische Sujet, einst so vielversprechend, zog nicht mehr. Und um eine deutsche Oper zu schreiben bedurfte es anderer Ideen. Die konnte Meyerbeer in Wien nicht finden. Weder auf die Kritiker, noch auf seinen Landesvater, noch auf Beethoven hatte seine Musik Eindruck gemacht. Nur eine Frau hat sich in Wien noch längere Zeit an Meyerbeer erinnert — Catinka Buchwieser, die indisponierte Irene der glücklosen Oper. Der Komponist hatte nicht nur Gelegenheit genommen, die Stimme von Dlle. Buchwieser zu studieren, sondern sich darüber hinaus angelegentlich um die junge Dame bemüht. Doch auch sie konnte ihn nicht in Wien halten. Er ließ ihr durch seinen Freund, den Wiener Schauspieler Carl Schwarz, als Abschiedsgeschenk ein Collier und einen Brief überreichen, die sie erhielt, als Meyerbeer schon auf dem Weg über München nach Paris war. Er schrieb ihr: »Ich kam um i o Uhr zur festgesetzten Zeit, und Mlle. Neumann sagte mir daß Sie ausgegangen seien; ... Eine so marquirte Unhöflichkeit verhindert mich natürlicherweise Ihnen jemals wieder persönlich zu nahen ... Indem ich diese Zeilen schreibe und auf die Katinka herzlich böse bin fällt mir plötzlich ein daß Katinka auf Deutsch Katharina heißt, und daß der Katharinentag am 25t November ist. Weit von hier werde ich an diesem Tag in meinem Wagenkasten mit Sehnsucht der lieblichen Namensträgerin gedenken ...« An ihrem Namenstag schrieb die so beschenkte verlassene Geliebte: »Wie soll ich es anfangen Dir Du guter lieber Freund, die angenehme Empfindung zu schildern, die mir Dein allerliebster Brief zu meinem Namenstag verur8o

sachte — frage den Schwarz, er fühlte wie mein Herz klopfte, und wie all mein Blut mir in die Wangen trat, Du bist ganz daß, für was ich Dich immer hielt, ein ausgezeichnetes, an die Vollkommenheit männlicher Größe grenzendes Wesen, ich widerhole es Dir jezt, Du bist der einzige der mir in dieser Welt noch hätte gefährlich werden können, Dein Leichtsinn allein bewahrte mich vor dem Unglück einer Liebe, die auf mein ganzes Wesen zerstörenden Einfluß gehabt hätte, eben so war Dein entsezliches repandirt seyn [das Herz ausschütten] die Ursache, weßhalb ich für gut befand mein Versprechen zurückzunehmen, ich versichere Dich auf meine Gutmüthigkeit, Du hättest in meinen Armen nur Freude und Genuß gefunden, und Gott gebe daß alle Weiber mit welchen Du noch bekannt werden wirst, sich so wohl befinden als ich, aber ich wollte nicht Dir angehören, so wie alle andern Dein sind, mir scheint, daß ich Dich so reiner liebe, und freyer und ruhiger an Dich denken kann, nie war ein Geschöpf so von Deinem Werth durchdrungen wie ich es bin, ich durfte Dich nicht mehr sehn, den ich wäre vielleicht nicht stark genug gewesen Deinen feurigen Bliken zu wiederstehn, und so liebe ich Dich wie ich den Apollo liebe, und so werde ich Dich ewig lieben ... adieu, ich brauche Dir kein Glück zu wünschen, die Parißerinen werden schon dafür sorgen — nochmals adieu den 25ten November

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Kleine »Romane« dieser Art gehörten eben zum Leben und wurden, trotz wortreicher Beteuerungen, offenbar nicht so ernst genommen. Jedenfalls war es für Meyerbeer ungemein beruhigend, einen solch zauberhaften Liebesbrief — aus der Ferne zu erhalten. Der Abschied von Wien wurde ihm dadurch nicht schwerer. Es ging Meyerbeer aber weniger um die »Parißerinen« als um die französische Musik. Seinem Vater erklärte er im gleichen Monat ganz präzise, was ihn dorthin zog: »Allein Du weißt es daß ich dazu von jeher für ganz unerläßlich die gründliche Kenntniß des französischen und italiänischen Theaters rechnete, und deßhalb kann ich mich unter keiner Bedingung entschließen eher nach Berlin zurückzukommen als bis ich diese beiden Reisen gemacht. ... Mit schmerzlichem Bedauern sehe ich daß seit einiger Zeit ich gar nicht mehr im Stande bin etwas nach Deinem Wohlgefallen zu thun, selbst wenn es mit Deinen früheren Ansichten übereinstimmte ... Laß mich ich bitte Dich flehentlich diese letzte Schritte meiner Künstlerbildung in Ruhe vollenden, und verbittere nicht durch Deine stete (mir höchst schmerzliche) Unzufriedenheit den einzigen lichten Punkt im Focus meines Leben's, das freie Studium und die Ausübung meiner Kunst.« Aus dem Blickwinkel des Geschäftsmannes meinte wohl Jacob Beer, daß nun genügend investiert worden sei und es nun Zeit würde, den Gewinn zu machen. Doch auch Meyerbeer hatte recht. Darmstadt, München und Wien waren nicht die Welt. Er wollte zu den Quellen. 81

Also sorgte Vater Beer schließlich doch für gute Reisebedingungen, indem er dem Sohn Empfehlungsbriefe an Spontini, Cherubini und Isouard, an die Gräfin Vaudemont und den Herzog von Daumont übersandte. Es war nützlich, derartige Schreiben vorweisen zu können, wenn man in ein völlig fremdes Land reiste. Paris war eine Reise wert. Noch war diese Stadt nicht der Mittelpunkt der zivilisierten Welt, aber in ihr pulsierte ein atemberaubendes, verführerisches Leben. Gerade hatte sie die Abdankung Napoleons erlebt und die Rückkehr des Bourbonenkönigs Louis XVIII unter dem Lilienbanner. Die Hauptstadt war das Stimmungsbarometer für das ganze Land. Ängstlich schaute Europa nach diesem Ort, neue, unvorstellbare Überraschungen erwartend, die von diesem unruhigen Pariser Volk und seinen wortmächtigen Anführern ausgingen. Paris wird für Meyerbeer zu einem Schlüsselerlebnis. »Die Wunderwerke der Kunst und Natur und besonders die Theater haben sich meines ganzen Wesens mit solcher Wut bemächtiget, daß ich von Museum zu Museum, von Bibliothek zu Bibliothek, von Theater zu Theater etc. mit einer Rastlosigkeit wandre, die dem ewigen Juden Ehre machen würde«, schrieb er nach einigen Tagen Paris-Aufenthalt am 5. Januar 1815 an Gottfried Weber ins beschauliche Mannheim. (Vor Erregung schrieb er sogar ein falsches Datum, den 5. Dezember des Vorjahres; zu dieser Zeit war er noch unterwegs.) Da gab es mehr zu entdecken als im sandigen Berlin oder im barocken Wien. Straßen, Plätze und Gebäude waren stumme, aber beredte Zeugen der unmittelbaren Vergangenheit, der Revolution, der Absetzung des Königs durch das Volk, des revolutionären Terrors und der Napoleonischen Ara. In den Palais, Museen und Stadtschlössern war die ältere französische Geschichte lebendig. Aber noch berauschender war die Gegenwart, war das Zentrum der Stadt, das Palais Royal mit seinen Galerien, Geschäften, seinem Theater. Dort bewegten sich die Elégants, verabredeten Rendezvous, flanierten und zeigten sich der staunenden Menge. Da waren die Theater auf der Rue du Temple: das Théâtre Favart, das Théâtre Feydeau, das Théâtre du Vaudeville, leider alle geschlossen wegen der unsicheren politischen Lage, aber das Théâtre de la Gaité und das Théâtre Français spielten — Vaudevilles, Melodramen von Duperche und Pixérécourt und »Le barbier de Seville« von Beaumarchais, »... den ich, was für einen Theatermann wie ich ganz unglaublich scheint heute zum 1. Male sahe« (Tagebuch, Juli i 8 i 5). Der beflissene Kunstjünger hatte im Hôtel des Languedociens, Rue de Richelieu No. 17, Quartier genommen, von dem es nur ein paar Schritte zur Kaiserlichen Bibliothek, der heutigen Bibliothèque Nationale, waren, die er tagsüber besuchte. Hier las er von Johann Jacob Engel »über die musikalische Malerei« und exzerpierte fleißig daraus. Diese 178o in Paris erschienene Schrift interessierte ihn als Opernkomponisten besonders, da Engel nachweisen wollte, daß die Nachahmung äußerlicher, realer Vorgänge in der Kunst 82

nur mit Hilfe der Worte, also nur in der Vokalmusik möglich sei. Das Vorbild Voglers vor Augen, suchte Meyerbeer in theoretischen Schriften Anregungen für seine Arbeit. Er las Anton Reichas »Traité de mélodie« (1814) in der Bibliothek, kaufte ein Exemplar und empfahl Gottfried Weber die Schrift dringend als Lektüre. Reicha, der Lehrer von Hector Berlioz, verband in seinen Kompositionslehren Ideen der Wiener Klassik mit der Ästhetik der italienischen und französischen Oper seiner Zeit. 1833 formulierte er in seinem Traktat »Art du Compositeur dramatique« die Unterschiede zwischen französischen, italienischen und deutschen Opern, die wie die gesammelten Erfahrungen Meyerbeers in diesen Jahren anmuten. Um in Übung zu bleiben, komponierte Meyerbeer an einer »italienischen Operette«, über deren Sujet nichts bekannt ist und die er auch bald aufgab, denn er suchte den Anschluß an die französische Oper: »Unter den französischen Opernbüchern eines hervorgesucht, um meine Kräfte wieder einmal an einem französischen Buch zu versuchen«, steht im Tagebuch vom B. Juli. Das klingt großspurig, als hätte er nur einfach hinzulangen brauchen, um solch ein Werk zu schreiben. Aber es war nicht an dem. Er hatte wenig Verbindungen zu einflußreichen Theaterleuten. Außerdem fehlte der rechte Antrieb zum Komponieren. Kein Auftrag war in Sicht, kein Sänger bestellte ein Werk. Mit dem Klavierspiel war es noch schlimmer. Wurde früher »fleißig exerziert«, so steht im Tagebuch vom 9. Juli: »Etwas Klavier gespielt«, am 12. Juli: »Vegetiert ...« Das war der absolute Tiefpunkt seiner Laufbahn als Pianist. Fünf Tage zuvor hatte er seine Befürchtung notiert: »Heute steht in einem Journal, daß ein Arzt von Bonaparte nach seiner Rückkunft von Elba gesagt habe: >Er ist noch in einem Zustand geistiger Planung, aber er kann ihn nicht länger als fünf Minuten durchhalten.< Ich habe in diesen Worten eine schreckliche Ähnlichkeit mit meinem Zustande gefunden. In der Tat, seit einem Jahre verfolge ich meine Vorsätze nie weiter als ein paar Schritte. Schon relachieren [erschlaffen] meine Kräfte für die kleine italienische Operette. Seit gestern scheint aber wieder ein Fünkchen von dem ehemaligen Geiste eines Klavierspielers aufglühen zu wollen, aber wird es nicht bald wieder erlöschen? Und ich bin erst 23 Jahre alt!! Welche fürchterliche Perspektive!! Und ist vom Himmel irgend jemand durch seine äußeren Umstände, durch Freiheit u. Unabhängigkeit begünstiget gewesen, so bin ich es.« Paris mit seinen Möglichkeiten hatte ihn überfordert. Es bedurfte noch fünfzehn langer Jahre, ehe Meyerbeer dieser Stadt sein künstlerisches Konzept aufzwingen konnte. Am 9. Juli 1815 zog Louis XVIII. wiederum in Paris ein. Meyerbeer war Augenzeuge: »Abends auf den Boulevards spazieren gegangen, welches jetzt das Interessanteste aller Theater ist« (i. Juli). »Den Rest des Tages noch auf den Straßen umhergetrieben und die mannigfaltigen Gruppen, Äußerungen u. Bewegungen beobachtet, in welche die jetzigen Umstände die Volksmenge versetzen und die wirklich so dringend alle Aufmerksamkeit u. Interesse 83

heischen, das mir gar keines für meine Studien u. Geschäfte übrig bleibt« (5. Juli). »In den Champs élysées gegangen und die Bivouacs der heute eingerückten Preußen u. Engländer besehen« (8. Juli). »Heute begegnete ich zufälligerweise auf der Straße einem Berliner, Herrn Jordan, welchen ich voriges Jahr viel in Wien gesehen hatte. Auch er hatte den vorigen Feldzug nicht mitgemacht u. mitmachen wollen, denn er ist ein Bonvivant u. ein Indifferentist. Und demohnerachtet hat er sich dieses Mal nicht ausgeschlossen, wie mir seine Uniform zeigte. O, wie mich sein Anblick schmerzte u. demütigte! (i o . Juli, Sonntag) «. Der Theatermann Meyerbeer nahm die Massenbewegungen auf den Straßen als Tableaus, als lebende Bilder, wie sie in seinen großen Opern die Bühne beleben werden, mit wachen Sinnen auf. Traf er aber in der anonymen Masse auf einen Bekannten in Uniform, dann erinnerte er sich seiner zivilen Vergangenheit. Dabei sollten seine Schuldkomplexe bald abgebaut werden. Kaum war Napoleon bei Waterloo endgültig geschlagen worden und hatte seine schützende Hand von den Juden in Europa abziehen müssen, wagte sich der Antisemitismus wieder hervor und zeigte seine Fratze. In Berlin war 1815 eine Posse namens »Unser Verkehr« herausgekommen, die der Halberstädter Superintendent Maertens verfaßt hatte und in der der Schauspieler Aloys Wurm jüdische Haltung und jüdisches Wesen so bösartig karikierte, daß die Berliner Judenschaft vehement die Absetzung des Stückes vom Königlichen Schauspiel und die Ausweisung Wurms verlangte. Dieser Vorfall wurde auch in der Familie Beer heiß diskutiert, zumal Wilhelm Beer die Absicht geäußert hatte, bei den preußischen Truppen zu bleiben und seine militärische Laufbahn fortzusetzen. Michael Beer schrieb dazu seinem Bruder: »Was die Leute zu Deinem Soldatenbleiben sagen frägst Du mich? Sie verdenken es Dir sehr und sie haben volles recht. Schrecklich geht es bei uns in Berlin in Hinsicht der Juden. Der Graf Brühl hat sich schändlich bewiesen er hat ein Stück auf die Bühne gebracht durch welches alle Juden aufs höchste prostituirt sind und wobei sich der Haß der Christen aufs gräßlichste ausgesprochen hat. Wenn der König also so etwas gegen Juden erlaubt was willst Du da für ein Avancement erwarten? Und wahrhaftig es würde Dir auf Deinem Sterbebette leid thun als Seconde lieutenant gestorben zu sein ... Bleibe nicht Soldat!!!« Hellsichtig sah der junge Dichter Unheil heraufziehen. Angesichts derartiger Perspektiven zog es ein so empfindsamer Charakter, wie Meyerbeer es war, vor, einen noch größeren Bogen um die Heimatstadt zu schlagen, trotz der inständigen Bitten seiner Mutter, doch wieder einmal nach Berlin zu kommen: »... sei versichert lieber Meyer daß nie eine Mutter ein größer Opfer gebracht hat, als ich Dir bringe, den Deine Abwesenheit richtet meine ganze Gesundheit zu Grunde ich quäle mich Tag und Nacht ... « (g. Dezember 1815). Eine solche Klage rührte ihn offenbar wenig. Statt der Heimat war Italien das nächste Ziel, aber vorher wollte Meyerbeer wenigstens noch die berühmtesten Pianisten seiner Zeit hören,

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die in London lebten. Die besorgte Mutter warnte: »Wenn Du nach London gehst so nim Dich in acht, den die Witterung ist sehr übel, nim Dich in Acht für Erkältung« (19. September). Sie schickte ihm bei dieser Gelegenheit noch rasch einige Texte von Gubitz, deren Vertonung er ablehnte. Amalia begriff noch nicht, daß ihr Sohn anderen Zielen zustrebte, auch wenn sie ihm selbst noch nicht ganz klar waren. Eines war sicher: Er war keineswegs gewillt, auf dem Niveau des Berliner Salonverschnitts zu bleiben. Ebenso widerwillig vertonte er einige geistliche Texte, die ihm sein Vater zuschickte. Sie waren für den Beerschen Tempel bestimmt. Jacob Beer gab präzise Anforderungen vor: » I t Der Vers soll von 4 Männerstimmen gesungen werden und beym letzte Wort Haleluio soll immer das ganze Kohr einfallen 2tens soll keine Instrumenthalbegleitung dabey sein sondern lädiglich durch eine Orgel begleitet werden 3tens da es keine geübte Sänger sind so dürfen die Oberstimmen nicht zu hoch und die Unterstimmen nicht zu tief gesetzt sein 4tens mus der Gesang fließend einfach und ohne Schwierige Modelationen sein ...« (8. August i 8 i 5). Solcherlei Aufträge waren höchst undankbar. Von den gelegentlichen Briefen abgesehen, blieb der Kontakt zu den in München, Wien, Prag oder Mannheim zurückgebliebenen Freunden und auch zur Familie sehr locker. Die Zeitläufe und eine vorübergehende Nachrichtensperre in Frankreich taten ein übriges, dem ohnehin schreibfaulen Meyerbeer die Verpflichtungen zur Korrespondenz abzunehmen. Es kamen Klagen von Poissl, Baermann, Schwarz, Weber und anderen. Anfang Dezember i 815, nachdem Meyerbeer eine »Ruhrkrankheit« überstanden hatte, fuhr er mit Wilhelm Richtung Calais, um nach Dover überzusetzen. »Wir hatten widrigen Wind u. mußten der See den gewöhnlichen Tribut bezahlen, seekrank zu sein« (Tagebuch, 3. Dezember). Am Dienstag, dem 5. Dezember, kamen die Brüder gegen 2 Uhr nachts in London an, versorgten sich am Morgen mit englischen Pfunden und saßen am Abend schon im Covent Garden, um eine alte englische Tragödie von Thomas Othway zu sehen. Als Gast in London mußte sich Meyerbeer erst mit den englischen Gepflogenheiten vertraut machen, die ihm durchaus mißfielen: »Man frühstückt in diesem Hause erst um i o statts, daß wir gewohnt waren, augenblicklich nach unserm Aufstehen den Kaffe zu nehmen. Man bringt zwei Stunden dabei zu, und der Vormittag ist also für jegliche Arbeit verdorben, wenn man noch einiges besehen will. Des Mittags wird wenig und fast nur Fleisch gegessen u. Bier getrunken, welches ich gar nicht trinke« (Tagebuch, 6. Dezember). Ob Drury Lane, ob Covent Garden — er ließ kein Stück aus, sah Shakespeare (»Richard III.«, »Othello«), Stücke von Reynolds, Arne, Bishop und absolvierte im übrigen das London-sightseeing-Programm des reisenden Gentlemans: The Tower, Westminster Abbey, The British Museum, Saint Paul's Cathedral, Hyde Park, The Houses of Parliament, Buckingham Pal85

ace. Dann gelang es ihm, einige der führenden Pianisten zu hören: August Alexander Klengel, Ferdinand Ries, Friedrich Kalkbrenner, dessen StaccatoSpiel ihn faszinierte, und, nach einigen vergeblichen Anläufen, den legendären Johann Baptist Cramer: »... er nahm uns an. Das Herz pochte mir vor Erwarten ... Cramer ist in den 4oger Jahren, von großer kräftiger Statur und eben solchen Gesichtszügen, seine Finger sehr lang und dünn, aber wie ich glaube, von sehr starken Knochen ... Er ist in so früher Jugend aus Deutschland weggekommen, daß er gar kein Deutsch mehr versteht. Wir sprachen französisch ...« (24. Dezember). Es kam auch vor, daß Meyerbeer zu einer »langweiligen Gesellschaft« geladen wurde, zum »Doctor Derbishere«. »Seine Frau spielte mir schottische Tänze vor, die mir die Ohren zerschnitten, indem fast in allen Hauptmodulationen in 2 aufeinander folgenden harten Dreiklängen bestanden. Da die Walzer jetzt hier erstaunlich in London beliebt sind, so fantasierte ich eine Viertelstunde hindurch von einem Walzer in den andern, was auch diese moroquins Ohren [svw. lederne Ohren] ganz in Entzücken versetzte« (22. Dezember). Noch glaubte er, »daß das Hören der Londoner Clavierspieler (und besonders Cramer) einen recht vorteilhaften Einfluß« auf sein Klavierspiel haben könnte, und hoffte, durch den Kauf eines Heftes mit Fugen den

Vorsatz unterstützen zu können, wieder fleißig und solide zu üben. Als er mit Wilhelm am Silvestertag 1815 die englische Küste verließ und beide, froh darüber, nicht seekrank geworden zu sein, wieder in Calais eintrafen, da sah die Welt noch ganz freundlich aus. Aber bald sank seine Stimmung beträchtlich. Denn Meyerbeer begann Bilanz zu ziehen, die, wie später häufig, um den Jahreswechsel immer besonders niederschmetternd ausfiel: »Das Jahr ist verflossen; 365 Tage meines Lebens abermals hingegangen, ohne daß ein bedeutendes musikalisches Werk mir sie bezeichnet hätte; ein Jahr in Paris zugebracht, ohne dem Lieblingswunsch meines Lebens, für das Faideau zu schreiben, näher gekommen zu sein; in meinem Klavierspiel um ein Jahr zurück statt vorwärts. Was bleibt mir für ein Trost für solchen selbstverschuldeten Verlust? Ende des Jahres 1815.« »1816 Januar Montag i . Was bleibt mir? waren die letzten Worte im Jahre 1815 welche Niedergeschlagenheit über verlorene Zeit ... Bei Betrachtung des hinter mir versinkenden Jahres durch keine Spur von Produktion oder auch nur ausgezeichnete Arbeitsamkeit bezeichnet, mochte mich wohl Kleinmut befallen. Allein frisches Jahr bringt frische Hoffnungen.« — Damit begann das Tagebuch des neuen Jahres. Seit 1812 war in der Tat kein nennenswertes größeres Werk entstanden. Für die Pariser Oper hatten die Kräfte noch nicht ausgereicht. Ein Grund mehr für Meyerbeer, Berlin und die Fragen der Familie zu meiden, da er ohnehin nur eine ausweichende Antwort zu geben hätte auf die ihn bewegende Frage: Wie soll es mit seinen Opern weitergehen? Er hatte erfahren müssen, daß die Bedingungen an den deutschen Hoftheatern ungenügend

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waren, daß deutsche Opern im morgenländischen Kostüm nicht mehr reüssierten, daß es aber auch kaum Anzeichen einer neuen, eigenständigen Form der deutschen Oper gab. Bei ihrer Rückkehr nach Paris hofften die Brüder Beer Nachrichten von den Eltern vorzufinden, die ihnen die Weiterreise nach Italien gestatteten. »Wir fanden die Erlaubnis in den ersten Briefen, aber welcher Donnerschlag, in den letzten war sie widerrufen, und auch für mich der, daß mich Mutter nicht, wie es verabredet war, in Italien besuchen wollte, sondern mich vorher in Prag zu sehen wünschte, weil Vaters Geschäfte ihm nicht erlaubten, für jetzt die weite Reise zu machen. Das kann ich aber nicht eingehen; sonst ist der beste Teil der italienischen Reise verloren ...« (Tagebuch, 3. Januar). Der Vierundzwanzigjährige setzte die baldige Abreise nach Italien durch. »Um mir wieder einen kleinen Elan für das Italienische zu geben, das ich seit mehreren Jahren sehr vernachlässigt hatte, nahm ich einen italienischen Meister an, von dem ich alle Tage zwei Stunden nehmen will ...« (Tagebuch, 6. Januar). Die wenigen noch verbleibenden Tage in Paris nutzte er zu intensivem Theaterbesuch, sah Opern von Piccinni, Grétry, Mosca, Johann Simon Mayr, Rodolphe Kreutzer und Rousseaus »Le Devin du village«: »Die Herzlichkeit und Natürlichkeit dieser Musik läßt das Magere und Altfränkische darin übersehen. Ich will mir die Partitur kaufen des Recitativs halber, welches R. in dieser Oper den gewöhnlichen Modulationsformen zu überheben suchte, welches wirklich die Einförmigkeit hebt, ohne der Deutlichkeit Schaden zu tuen ...« (Tagebuch, 7. Januar). Mit dieser Beobachtung war Meyerbeer der Absicht Rousseaus sehr nahe gekommen, der sich in seinem Werk dem schwierigen Problem einer sinnvollen musikalischen Deklamation des Französischen praktisch gestellt hatte, welche er theoretisch für unmöglich hielt. Meyerbeer schmiedete noch Pläne, ein Opernbuch, das er als Melodram gesehen hatte, für sich bearbeiten zu lassen. Aber die Reisebilletts waren schon gelöst. Noch ein Besuch bei Dr. Louis Véron, einem einflußreichen Journalisten, den man unbedingt kennen mußte, und dann auf nach Italien!

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Kapitel IV In Italien i8ió-í82q,

»Jeder Singekomponist muß von Zeit zu Zeit nach Italien gehen nicht der Kompositionen, sondern der Sänger wegen. Nur von großen Sängern lernt man sangbar und vorteilhaft für die Menschenstimme zu schreiben«, wird Meyerbeer 1834 resümieren. Anfang 1816 machte er sich mit seinem Bruder Wilhelm auf, das gelobte Land des Belcanto zu bereisen. Für deutsche Künstler von Dürer bis Goethe, von Schütz bis Mozart war es mehr als eine Pflichtübung, Italien zu besuchen. Welches auch immer das Motiv einer solchen Fahrt gewesen sein mag — bei der Ankunft im Süden erschienen den Malern die Farben heller, klangen den Musikern die Melodien lieblicher. Auch die Sprache war durch die vielen Vokale musikalischer als das stumpfe, trockene Deutsch. Den Belcanto, die Kunst des schönen Gesangs, an den Quellen studieren zu können war schon eine Reise wert. Das 18. Jahrhundert hatte Europa die unumschränkte Herrschaft der italienischen Oper beschert dank der gründlichen Ausbildung vieler Komponisten, Sänger und Instrumentalisten an den vielen Konservatorien und dank der enormen kompositorischen Fruchtbarkeit aller dieser großen und kleinen Meister, die dafür sorgten, daß in jedem Jahr achtzig bis hundert Opern uraufgeführt wurden, daß allein an Venedigs Theatern zwischen i 70o und i800 etwa tausendzweihundert neue Werke vorgestellt wurden. Das Dramma per musica (ab der Mitte des Jahrhunderts als Opera seria bezeichnet) und die Opera buffa hatten sich zu standardisierten Gattungen entwikkelt, in denen nicht ständig revolutionär Neues hervorgebracht wurde, sondern durch die Wiederholung der gleichen Modelle ein vertieftes Kunsterlebnis vermittelt werden konnte. Der häufige, oft tägliche Opernbesuch schärfte die Kennerschaft und ließ jene von Nichtitalienern häufig kritisierten Gepflogenheiten aufkommen, Opern nicht nur um ihrer selbst willen anzusehen, sondern sie als gesellige Abendunterhaltung mit wachem Ohr für einige vokale Extras aufzunehmen. Denn nach der zehnten Reprise kannte man das Stück so gut, daß man sich mehr den von Abend zu Abend wechselnden improvisatorischen Auszierungen der Arien durch die Sänger widmen konnte. Insgesamt erfüllte die italienische Oper des 18. Jahrhunderts einen totalen Zweck: Als Schule der Nation war sie die einzige Kunstform, die ihren 88

Besuchern in den Fächern Geschichte, Ethik, Aufführungspraxis, Stilkunde Unterricht erteilte und zugleich ein elementares Unterhaltungserlebnis war. Metastasios Dramma, sprachlich von einer Qualität, daß man es auch als Schauspiel hätte aufführen können (wie der Autor stolz vermerkte), zeigte Konflikte des feudalen 18. Jahrhunderts um Liebe und Macht anhand von Stoffen des Altertums. Der aufklärerische Grundgestus spricht aus den unblutigen Lösungen der stets mit Milde und Verzeihung endenden Konflikte. Ein gleichbleibender Aufbau von Rezitativen und rund dreißig Arien — Schema: rasch-langsam, elegisch-heiter im Wechsel —, auf die drei weiblichen und drei männlichen Darsteller verteilt, bot den Komponisten die Möglichkeit modellhaften Arbeitens. Alle Gefühlsaufwallungen wurden einem Rationalismus untergeordnet, der sie in festgelegten Affekten einfing, so daß individuelle Äußerungen sich nur ansatzweise zeigen konnten. Für eine solche Kunstform waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts die gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht mehr gegeben. Im Laufe von drei Jahren, zwischen 1796 und 1799, hatten Napoleons Heere die italienischen Kleinstaaten zerschlagen. Gestützt auf französische Bajonette, entstanden für kurze Zeit Republiken nach altrömischem Vorbild mit klangvollen Namen wie etwa in Neapel die »Repubblica Partenopea«. Als sich die Franzosen abwandten, bekamen die alten Kräfte wieder die Oberhand (anzusehen z. B. in Puccinis »Tosca«, die i 800 spielt). Komponisten wie Cimarosa oder Paisiello gerieten ganz unmittelbar in diese Auseinandersetzung. Als allerdings Napoleon das Terrain zurückgewann und seinen Familienclan mit Königsthronen versorgte, schlug die Begeisterung für den Korsen, der den Italienern anfänglich ein neues Nationalgefühl vermittelt hatte, in Ablehnung um. Nach Napoleons Sturz besetzten die Osterreicher große Teile Italiens und beließen nur wenige Gebiete den angestammten Herrschern. Das Land wurde wieder aufgeteilt in viele kleine Staatsgebilde wie ehedem, und eine allgemeine politische Friedhofsruhe senkte sich — stärker als in Deutschland und Österreich selbst — über die Apenninenhalbinsel. Der Haß auf alles Österreichische wuchs, es kam die Zeit des Mißtrauens, der Spitzel, der Denunzianten, der Verbannungen und Verhaftungen, der Carbonari und anderer Geheimbünde. Es bedurfte vieler Jahre und harter Kämpfe, bis die Wiedergeburt Italiens einsetzte, das »Risorgimento«, das im Bewußtsein der Italiener mit den Werken des jungen Verdi verbunden war (Vittorio Emanuele Rè d'Italia). Diesen politischen Umwälzungen wurde die Opera seria auf der Bühne nicht gerecht. Man erwartete neue, außergewöhnliche Vorgänge, die etwas von dem wiedergaben, was die Zuschauer selbst erlebten. Erstmals in der Geschichte war durch die Französische Revolution und ihre Folgen das Unterste zuoberst geraten, sahen sich viele Menschen aus ihren traditionellen Bindungen gerissen. Die antiken Stoffe sagten ihnen nichts mehr. Zwar versuchten einige Librettisten noch, durch Bearbeitungen der Meta89

stasianischen Stücke (Tottola schrieb für Mercadante die »Didone« neu, für Pacini den »Alessandro nelle Indie«) die Ideale des 18. Jahrhunderts in die neue Zeit zu retten, aber es blieb eine vergebliche Mühe. In der Literatur war zwischen den Klassizisten und den jungen Romantikern eine Fehde ausgebrochen, da Manzoni, Berchet, Pellico und Mazzini eine Kunst forderten, die aus heißem Herzen kommen und den emotionalen Horizont der Leser aufbrechen sollte. Wegen der österreichischen Zensur waren zeitgenössische Themen unmöglich, so daß Literaten und Librettisten zu mittelalterlichen Stoffen griffen, als Besinnung auf die Ideale der Vergangenheit, die man der miserablen Wirklichkeit entgegensetzte und als Aufruf zu politischer Aktivität verstand. Darin konnte man große, exaltierte Charaktere vorstellen, Wahnsinnige, finstere Tyrannen, edelmütige Räuber, Verbannte, Entrechtete, Zigeuner, Randexistenzen der Gesellschaft, die in die abenteuerlichsten Verhältnisse zueinander gebracht wurden. Vorbilder sind in Schillers »Räubern«, Byrons »Corsair« oder Puschkins »Dubrowski« zu suchen. Der »tiranno« ist, im Gegensatz zu dem stets milde vergebenden Herrscher Metastasios, als Typ festgelegt: boshaft, unbelehrbar bis an sein böses Ende. Sein Gegenspieler, der »esule«, der Verbannte, ein durch die Schuld des »tiranno« heimatlos gewordener Flüchtiger, ist stets von persönlichen Motiven seiner Rache getrieben: Gelegenheit für dramatische Situationen. Die Helden überlassen sich blind ihren Gefühlen, schlachten einander ab, lassen die Geliebten sich entleiben. Alles ist außer Kontrolle geraten: die Vernunft, die Tradition, das kalkulierte Fühlen und Handeln, weil die Welt selbst außer Kontrolle geriet. Wenn heute die verworrenen Handlungsstränge sehr sonderbar anmuten und als barer Unsinn abgetan werden, so sollte man nicht vergessen, daß vielen Zuschauern dieser Zeit dergleichen wohl vertraut war. Die Texte des späten zweiten und frühen dritten Jahrzehnts bedeuteten einen enormen Angriff auf die klassizistische Form der Libretti aus dem 18. Jahrhundert, die ja daneben noch immer vertont wurden. Schauplätze waren nun Berge, Schluchten, Wälder, Seen; nicht länger atmeten die Helden die verdünnte Luft der Paläste, Tempel oder Foren, sie atmeten häufiger Kerkerluft, da sich in dunklen Verliesen tragischere Verwicklungen ergeben konnten als im hellen Sonnenlicht. Die Opera buffa trat um 182o stark zurück. Rossini hatte ihr mit seinen Werken, unter denen der »Barbier von Sevilla« (i 8 i 6) die Krönung der Gattung wurde, zwar eine unüberbietbare Form gegeben, deren Leichtigkeit als willkommene Abwechslung nach den Wirren der Kriege angenommen wurde, doch taugte gerade die überkommene Form der Buffa nicht mehr für die neuen, anstehenden Probleme. Die französische Opéra comique trat ihre Nachfolge an. Schon Ende des 18. Jahrhunderts machten sich Einflüsse französischer Opernkunst auf die italienische bemerkbar, als Komponisten wie Piccinni, Salieri, Sacchini, Paisiello, Spontini oder Cherubini, die einen Teil ihrer 90

Werke in Paris schufen, neue Erkenntnisse vermittelten. Dazu gehörte die allmähliche Auflösung des Schemas Rezitativ — Arie, die Erweiterung des »argomento«, jenes affektbestimmten Arienthemas, zu dualistischen Gebilden (bei Cherubini), die Einbeziehung liedhafter Formen wie der Cavatine oder die Verbindung von Arie und Chor, welche sich aus Glucks Werken herleitete. Ab 1780 drang das Dramma lagrimoso in den Bereich der Seria ein. Es berief sich auf die französische Comédie larmoyante die — auf Diderots bürgerlichem Rührstück fußend — von Piccinni und Grétry gepflegt wurde. Selbst das Ballett nahm durch Noverre den Weg vom Prunk- und Repräsentationsballett zum Handlungs- und Ausdruckstanz. Noverres Schüler Le Picq begann damit 1773 in Neapel. In diesem komplexen, komplizierten Prozeß sahen sich die italienischen Komponisten vor die Aufgabe gestellt, die alten Formen allmählich umzubauen, um Platz für die dramatische Wahrheit zu schaffen. Die Aria-Struktur wurde aufgelockert; ariose Teile folgten deklamierenden, motivisch dicht gefügte Abschnitte wechselten mit rezitativischen. 1815 bezeichnete Simon Mayr, dem die spätneapolitanische Opera seria viele Anregungen verdankt, ein solches Gebilde als »scena ultima«, da sich die vielfältigen musikalischen Ereignisse beim besten Willen nicht mehr unter der Bezeichnung »aria« vereinigen ließen. Von hier war es bis zur Ausformung der neuen musikalisch-dramatischen Form einer »Scena ed Aria« nicht mehr weit. Sie bestand aus einer reich gegliederten Accompagnato-Einleitung mit umfänglichem Orchester-Anteil und kantablen Solo-Partien sowie der nachfolgenden Arie, oft mit Chor-Begleitung. Die Aria selbst war wiederum zweigeteilt in einen langsamen Beginn und einen furiosen Schluß, »Cabaletta« genannt. Carl Maria von Weber hat sich dieser modernen Form sogleich bedient: in Agathes »Scena ed Aria« (Originaltitel) »Wie nahte mir der Schlummer / Leise, leise / Alle meine Pulse schlagen« aus dem »Freischütz«. Die beiden ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren auch künstlerisch recht bewegte Zeiten, in denen Altes und Neues nebeneinander existierte und sich sogar oft in einem Werk mischte. Da waren die Spät-Neapolitaner Niccolò Piccinni, Domenico Cimarosa, Giovanni Paisiello, Carlo Coccia, Nicola Vaccai, Stefano Pavesi, Michele Carafa, Nicola Antonio Zingarelli; da war die römische Schule mit Giuseppe Mosca, Pietro Generali; da war Ferdinando Paër aus Parma (seine »Leonore« von 1804, ein Jahr vor Beethovens »Leonore«, ist der klingende Beweis, daß die italienische Oper dieser Zeit durchaus zu großer Expressivität fähig war; man höre in der Kerkerszene Florestans Dankesworte an Leonore, die ihm frisches Wasser reicht); da waren weiterhin Francesco Morlacchi aus Perugia, Peter von Winter aus München, der Bayer Simon Mayr in Bergamo und Gioacchino Rossini aus Bologna. Sie alle waren mehr oder minder an der Ausbildung der neuen Formen beteiligt. Mayrs Oper »Saffo« hatte 1794 einen derart rauschenden Erfolg, daß der 91

Komponist sich entschloß, nur noch italienische Opern zu schreiben: bis 1824. einundsechzig Bühnenwerke. In ihnen ist Geniales und Triviales bunt gemischt; Eigenes steht neben Fremdem, und doch war Mayr der erste, der seinen oft recht einfältig beginnenden, auf zerlegten Akkordtönen aufbauenden Arienthemen durch eine farbige Bläserbesetzung neuen Reiz verlieh. In »Medea in Corinto« (1813), einer seiner bedeutendsten Opern, sind vorzugsweise Posaunen und Holzbläser an den Arienvorspielen beteiligt; sie führen ihr thematisches Material beim Hinzutreten der Singstimme selbständig weiter und leiten allein die Cabaletta-Themen ein. Dadurch erhielt die italienische Oper etwas von der instrumentalen Dimension, die Mozart ihr schon lange verliehen hatte, ohne daß seine Neuerungen unmittelbar in Italien gewirkt hätten, denn Erstaufführungen seiner Opern erfolgten im Süden erst um 1815. Rossini war nicht der einzige Komponist, der die Spielpläne der italienischen Theater bestimmte, aber er war der erfolgreichste. Er begann 1810 Buffo-Opern zu komponieren, in denen punktierte Rhythmen als Grundmuster einer Melodie, Triolen zur Umspielung eines Tones, Triolenketten zur Auflösung einer stumpfen Tonleiter, kleine Verzierungen zur Betonung eines Phrasenendes, Akzente auf der zweiten, üblicherweise unbetonten Taktzeit, gleichmäßig pulsierende Tupfer des Orchesters zur Stützung der dominierenden Gesangsstimme — in denen alle diese Elemente dazu dienten, eine spritzige, heitere Musik zu schaffen. Rossini ersetzte den Marschtritt der Napoleonischen Heere, der noch durch Spontinis Opern dröhnte, durch einen federnden, mitreißenden, tänzelnden Rhythmus, dessen pulsierende AchtelRepetitionen sich einem staunenden Publikum unvergeßlich einprägten. Er hatte eine Sprache erfunden, die die Konkurrenten entweder aus dem Felde schlug oder zur Nachahmung zwang. Kein Komponist vor ihm hatte sich so viel Zeit genommen, sein Material auszubreiten, keiner so sehr auf die Wiederholung seiner — allerdings zündenden — Einfälle gesetzt und gewonnen. Rossini konnte sich auf Cherubini berufen, der erprobt hatte, wie viele Takte lang man die Tonika als harmonische Grundlage einer Melodie belassen konnte. Diese in Glucks Schule erlernte Ruhe, Klassizität, wie sie sich in Cherubinis »Medée« 1797 präsentierte, bekam durch Rossini rhythmische Eleganz. Das Orchester-Crescendo, eine wahrhaft mitreißende Weiterentwicklung der Mannheimer »Walze«, wurde virtuos gehandhabt durch die Wiederholung eines einfachen, kurzen Motivs, dessen suggestiver Wirkung sich niemand entziehen konnte. So entstand die »italianità«, jener Dreiklang aus rhythmischen, melodischen und harmonischen Elementen, die allesamt durch das einfachste Prinzip der Wiederholung verknüpft und mit dem Namen Rossini untrennbar verbunden sind. Mit »Tancredi« (1813) begann er die Reihe seiner Opere serie, die ihm ähnlichen Ruhm einbrachten wie die Buffo-Opern. Es ist nicht zu überhören, daß durch den ungeheuren Druck, den sein diktatorischer Impresario Dome92

nico Barbaja in Neapel auf ihn ausübte, das Prinzip der Wiederholung nicht nur innerhalb der einzelnen Nummern wirksam wurde, sondern die Modelle, nur leicht variiert, von Oper zu Oper immer wieder auftauchten. Für Rossini waren diese Modelle und ihre Varianten so universell, daß ihr Gebrauch in Seria und Buffa für ihn nicht zum Problem wurde, wenn auch deutsche Kritiker monierten, daß zu den ernsthaftesten Situationen die leichtesten Melodien dahinträllerten. Die Leichtigkeit, die Rossini in die Musik brachte, darf aber nicht mit Leichtfertigkeit verwechselt werden. Die Virtuosität, die er forderte, ist dem Gestus seiner hochartifiziellen Figuren durchaus angemessen. Ab 1815 schrieb er deshalb alle Gesangsverzierungen selbst in die Partitur, damit die Sänger nicht durch ihre Improvisationen seinen beabsichtigten Ausdruck verwässerten. Aber er komponierte für die »Gurgeln« der ihm bestens bekannten Kehlkopfakrobaten und bedachte ihre Stärken und Schwächen, so daß sie ihm bald willig folgten. Rossini unterwarf sich einer ganz bestimmten Produktionsform, die noch aus dem 18. Jahrhundert stammte. Dort hatte man für die Oper das Gesetz der Serie entdeckt. Gezwungen durch die hohe Produktionsrate, sahen sich die Komponisten zu rationellem Vorgehen veranlaßt. Die Libretti waren in ihrer Struktur einheitlich; sie wurden deshalb mehrfach vertont. Oft übernahm man Teile früherer oder fremder Werke; die Affekte, die Instrumentierung waren standardisiert. Rossini sah sich vor der Aufgabe, seine neue Virtuosität ebenfalls zu standardisieren, und erprobte diesen Stil gleichermaßen in Seria und Buffa. Meyerbeers »Rossini-Imitation«, die ihm namentlich in Deutschland übel angekreidet wurde, erscheint von daher in einem anderen Licht. Er hatte wohl erkannt, daß er sich diesem Standard würde anschließen müssen, wenn er Erfolg haben wollte, und dieser Standard kam eben von Rossini. Meyerbeers Reiseroute von Paris nach Italien ist nicht genau bekannt. Es ist nicht anzunehmen, daß er die Alpen überquert hat, denn schließlich war Winter. Vielleicht fuhr er über München, Wien, Laibach, Gorizia (wo die Zuckerfabriken des Vaters standen) nach Milano. Noch Ende 1815 hatte er mit seinen Freunden Helene Harlas, die ein Engagement in Venedig antreten wollte, und Heinrich Baermann ein Treffen zur Karnevalsstagione verabredet. Als Morgengabe brachte er dem Paar die szenische Kantate »Gli Amori di Teolinda« mit, die »Verona i fiten Marzo 1816« datiert ist und deren Text Gaetano Rossi verfaßt hat, der Meyerbeer bald die ersten Opernlibretti liefern wird. Die junge Schäferin Teolinda erwartet ihren geliebten Schäfer Armindoro. Von ihm hört man nur entfernte Klarinettentöne. Das erfüllt die Schäferin mit Hoffnung. Doch Armindoro kommt nicht. All ihr Rufen ist vergeblich. Während die übrigen Hirten das ländliche Glück besingen, gibt sich Teolinda ganz ihrem Schmerz hin. 93

Höhepunkt dieser aus Liedformen, Rezitativen und Variationen bestehenden Kantate ist das Finale Allegro molto moderato, Aria con coro, das zu den formalen Errungenschaften der eben vergangenen Jahre in der italienischen Oper gehörte. Diese pittoreske Szene ist noch einmal reinstes 18. Jahrhundert, ein Schäferstündchen aus früheren Zeiten. Es bot der Harlas und Baermann Gelegenheit, all ihre Virtuosität aufzubieten. Solokantaten mit obligatem Instrument waren seit langem beliebt. Meyerbeer nahm diese Tradition auf und führte sie fort, immer darauf bedacht, die Verbindung von Stimme und Instrument inhaltlich-dramaturgisch zu begründen. Die Italianità des Werkes indessen klingt wie aus zweiter Hand. Die Phrasen sind kurz, die thematisch-motivischen Möglichkeiten werden nicht ausgeschöpft; die Themen »sitzen« noch nicht recht, klingen beliebig und sind austauschbar, der Szene noch nicht angepaßt. Heinrich Baermann, für den Weber seine Klarinettenwerke schrieb, muß, nach der Partie in der »Teolinda« zu urteilen, ein exzellenter Musiker gewesen sein. Als Lehrer sah er seine Aufgabe darin, »... den jungen Musikern ... Sinn für die eigentliche Bestimmung ihres Instrumentes (den Gesang) beyzubringen ...«, bekannte er in einem Brief vom i i. September 183o an Meyerbeer. Deshalb bearbeitete er Stücke aus »Euryanthe«, »Il Crociato«, »Die Vestalin«, »Joseph«, »Macbeth« für 3 Klarinetten und Bassetthorn. An diesem Ideal der Verschmelzung von menschlicher Stimme und Instrument, das sich bei Mozart erstmals auf klassischer Höhe zeigte, hielten alle Belkantisten unter den Komponisten einschließlich Meyerbeer fest. Mit dem beginnenden Frühling reisten Meyerbeer und Bruder Wilhelm noch weiter nach Süden. Die Familien-Ordre lautete, daß Frau Amalia sich mit ihren beiden älteren Söhnen in Genua treffen wollte, nachdem sie mit Michael und Heinrich ihren Mann gemeinsam mit Weber nach Prag begleitet hatte. So reisten die Brüder Beer durch die Toscana nach Rom, durchquerten Latium, erreichten im Juni Neapel (wo eine »Aria per mezzo Sopran« am 2 o. des Monats entstand), und da die Stagione di ascensione, die Frühlingsspielzeit, längst vorüber war, wandten sich die Reisenden direkt nach Sizilien. Hier blieb Meyerbeer vom Juli bis September. Er durchstreifte die Straßen und Märkte von Messina, Palermo und Syrakus, wo er — ein gelehriger Schüler Abbé Voglers — Lieder und Tänze der Straßensänger, Bettler und Volksmusikanten zumeist an Ort und Stelle notierte. Was mag ihn zu einer solchen Beschäftigung veranlaßt haben? Sein Lehrer hatte das gesammelte Material für pittoreske Orgelimprovisationen oder für Variationsfolgen genutzt. In den uns heute bekannten Werken Meyerbeers findet sich indessen nicht eine Spur der siebenunddreißig sizilianischen Melodien, nicht einmal in »Robert der Teufel«, dessen Handlung ja in Sizilien spielt. Auch von einer geplanten Oper ist nichts bekannt. Und da sich Meyerbeer später nie wieder daranmachte, bei seinen vielen Reisen etwas Vergleichbares zu wiederholen, wird es wohl nur eine Grille gewesen sein. Daß er nur in Städten sammelte 94

und dadurch — von wenigen Ausnahmen abgesehen — nicht gerade die Perlen ländlicher Volkskultur, sondern städtisches, umgesungenes, z. T. auch abgesunkenes Liedgut notiert hat, focht ihn wenig an. Er war kein wissenschaftlicher Volksliedsammler. Die Blätter fanden sich in der Partitur »Romilda e Costanza«, seiner ersten italienischen Oper, auf das gleiche Notenpapier geschrieben, was wiederum Rückschlüsse auf die Entstehungszeit der Oper zuläßt. Am 20. Oktober 1816, schrieb Louis Spohr in seiner Autobiographie, »... hatten wir beim Ausgange ganz unvermuthet die Freude, Meyerbeer und seine ganze Familie anzutreffen. Er ist jetzt von einer Reise durch Sizilien zurückgekommen, um seinen Eltern, die ihn fünf Jahre nicht gesehen hatten, ein Rendezvous zu geben, und wird auch von hier über Florenz und Rom nach Neapel zurückkehren, um bei Eröffnung des neuen St. Carlo Theaters gegenwärtig zu sein.« (Das berühmte Teatro di San Carlo war 1811 durch Brand zerstört worden und wurde im Stile von 1737 wiedererrichtet.) »Gestern ist Meyerbeer mit seiner Mutter hier angekommen ... Da >Tancred< eine alte Oper ist, von der die erste Aufführung nicht mehr Interesse hat, als die folgenden, so überredete mich Meyerbeer leicht, mit ihm ins Theater Valle zu gehen.« Rossinis »Tancredi« (1813) hörten sich Meyerbeer und Spohr am 29. Dezember an. Anfang 1817 verließ Meyerbeer Rom, um seine Mutter bis nach München zu begleiten, und reiste über Mailand zurück nach Venedig. Amalia Beer war fürs erste beruhigt. Sie hörte nun endlich auf, ihm mit einer Berliner Karriere in den Ohren zu liegen und ihm Texte ihrer Berliner Freunde zur Vertonung zu schicken. Sie hatte wohl erkannt, daß ihr Sohn sich anschickte, auf der italienischen Bühne mitzureden. Von nun an unterstützte sie mit Vehemenz und Geld diese seine Pläne. Fast vier Jahre lang hatte sich Meyerbeer mit der Komposition von Gelegenheitsarbeiten begnügt, ehe er wieder richtig produktiv wurde. Vorübungen zur ersten Oper waren eine Cavatine aus einer nicht näher bekannten einaktigen Oper »Robert und Elise«, die »Palermo, d. 22. July 1816« datiert ist und an Weber in Prag geschickt wurde. Auf einem beigefügten Zettel lieferte Meyerbeer noch einen zweiten Text zur Auswahl. Möglicherweise lag der Plan eines Stückes vor, da die Cavatine als »No. 2« bezeichnet ist. Die Arbeit wurde flüchtig entworfen, wie die Schrift und die Ausführung der Komposition erkennen lassen. Therese Grünbaum in Wien erhielt von Meyerbeer die am 3. Oktober 1816 in Genua fertiggestellte Aria con cori »Perché, numi tiranni«, auch eine der Gefälligkeiten mit Etüdencharakter. Meyerbeers erster italienischer Librettist hieß Gaetano Rossi (um 1780-1855). Er war einer der produktivsten Textdichter seiner Zeit und gehörte zunächst als Theaterdichter dem venezianischen Teatro La Fenice an. 1822 wurde er Direttore di scena al Filarmonico di Verona. Mit seinen rund hundert Libretti belieferte er u. a. Morlacchi, Mayr, Rossini, Carafa, Zingarelli, Mercadante, Generali und Pacini. Zusammen mit Felice Romani 95

war er wesentlich an der Reform des italienischen Librettos zu Beginn des 19. Jahrhunderts beteiligt. Allerdings blieb er trotz manch anregender einzelner Neuerungen dem klassizistischen Ideal des späten 18. Jahrhunderts treu und verstand sich als Nachfolger Metastasios. Wann und durch wen Meyerbeer diesen in ewigen Geldnöten schwebenden Dichter kennengelernt hat, ist nicht bekannt. Da Meyerbeer gut zahlte, war ihm dieser »tedesco« stets ein willkommener Kunde. Von allen Textbüchern, die er dem Komponisten anbot, wählte Meyerbeer vier aus. Obwohl beide Autoren in lebenslanger Freundschaft verbunden blieben, vertonte Meyerbeer nach 1824 kein Libretto Rossis mehr, da der Italiener mit den stets neuen Ideen dieses anstrengenden Partners nicht mehr Schritt halten konnte. Bevor ihr erstes gemeinschaftliches Werk »Romilda e Costanza« am 19. Juli 1817 uraufgeführt werden konnte, hatte der Anfänger Giacomo Meyerbeer, wie er sich nun, dem Gastland zuliebe, nennt (zum ersten Mal taucht dieser Vorname am B. Mai 1817 im Brief von Rossis Frau an Meyerbeer auf), viele Hindernisse zu überwinden. Ursprünglich war das Stück für das Teatro San Benedetto in Venedig gedacht, welches Rossi gut kannte. Doch entsprachen die Bedingungen nicht Meyerbeers Geschmack. Daß ein Debütant ohne Reputation unentgeltlich arbeitete, verblüffte Meyerbeer nicht; daß er dem ohnehin schlecht bezahlten Librettisten das Textbuch ordentlich abgolt, war für ihn selbstverständlich; daß die Primadonna und die anderen Protagonisten durch Geldzuwendungen günstig gestimmt werden mußten, war ihm von seiner Wiener Inszenierung nur allzu geläufig; daß aber der Direktor noch 100 Louisdor für die Ausstattung von ihm forderte, verdroß ihn derart, daß er — ein Vabanquespiel — die Partitur kurzerhand zurückforderte. Im Teatro nuovo in Padua bot sich eine günstigere Gelegenheit für seinen Erstling; der junge Mann aus reichem Hause zeigte sich wiederum großzügig, andererseits war die Direktion hier wesentlich zuvorkommender. (Das Teatro San Benedetto besann sich zwei Jahre später und gab dem inzwischen bekannten Komponisten die Genugtuung einer erfolgreichen Reprise.) Meyerbeer lernte im Theaterbetrieb Praktiken kennen, die denen im väterlichen Geschäft ähnlich waren. Ein Impresario, als »Firmeninhaber«, kaufte ein Stück und pachtete von der Kommune ein Theater für eine Stagione, für eine ganze Saison. Es gab die Stagione Carnevale (vom 26. Dezember bis zum 3o. März), die Stagione di ascensione (2. Osterfeiertag bis Ende Juni bzw. bis zum Sommer entsprechend den Festdaten) und die Stagione di autumno (i. September bis Ende November). Hatte er mit seinem Ensemble und den Werken Erfolg, verdiente er wie ein geschickter Geschäftsmann; machte er »Fiasco«, fielen die Stücke durch, mußte er aus seiner Tasche dazulegen oder verschwand mit der Cassa: dramatischer Vorwurf für manche Komödie. Die Sängerinnen und Sänger waren auf Spenden 96

reicher Gönner angewiesen, wobei die Damen manchmal noch etwas mehr verkaufen mußten als ihre Stimme. Nach jeder Spielzeit wurde das Ensemble neu zusammengestellt. Die Paduaner erlebten in »Romilda e Costanza« folgende Geschichte: I. Akt Im Kampf um die Thronfolge in der Provence hat Teobaldo gegenüber seinem Bruder Retello einen gewichtigen Vorteil erzielt: Er hat den Herzog der Bretagne besiegt. Deshalb trachtet ihm Retello nach dem Leben. Romilda, die Tochter des besiegten bretonischen Fürsten, ist in Pagenkleidung dem Sieger gefolgt und hat sich in ihn verliebt. II. Akt Im Lager befindet sich auch Costanza, Teobaldos Jugendliebe. Die Rivalinnen treffen aufeinander, als Romilda das Schicksal ihres Geliebten beklagt, der von Retellos Mitverschworenen, Graf Lotario und Albertone, in ein Verlies gebracht worden ist. Costanza kann ihre Eifersucht besiegen und mit Romilda einen Rettungsplan beschließen. Pierotto, ein Vertrauter Teobaldos, führt die Damen ins Verlies. Albertone entdeckt die geöffnete Tür und schlägt Alarm. Romilda stellt sich mit blankem Schwert entschlossen vor Teobaldo, schwört Rache und klagt Retello als Brudermörder an. Von der Festigkeit der jungen Bretonin beeindruckt, entschließt sich Retello, Teobaldo freizulassen, in dessen Arme Romilda sinkt, während sich Costanza Retello zuwendet. Die »Ouvertura« weist im Autograph beträchtliche Korrekturen auf. Es scheint, daß sich der Komponist bei den ersten Takten seiner ersten italienischen Oper noch unsicher war, denn mit zunehmendem Umfang der Partitur wuchs die Sicherheit seiner Hand. Meyerbeer hatte gut gelernt. Die beiden großen Auftritte der Costanza und der Romilda zu Beginn des zweiten Aktes sind in ihrer formalen Anlage von modernstem Zuschnitt, denn sie weiten sich zu großen, dramatischen Szenen aus, bevor die Aria bzw. das Rondo einsetzen, die wiederum durch konzertierende Soloinstrumente (Fagott, Horn, Violoncello) den virtuosen Wettstreit mit den Stimmen führen. Dramatischer Höhepunkt ist das Sextett Costanza, Romilda, Teobaldo, Retello, Pierotto und Albertone kurz vor dem Finale II. Hier wie in den Arien wurden vokale Höchstleistungen verlangt. Die Koloraturen waren Ausdruck des emotionalen Zustandes der Figuren. In dieser ganz auf die Expressivität der menschlichen Stimme bezogenen Kunst wurden Emotionen nicht den Instrumenten überlassen (wie es Beethoven im »Fidelio«, Finale II, tat, in dem die Oboe im Vorspiel zu Leonores »0 Gott, welch ein Augenblick« schon alles sagt). Es war das Geheimnis des Belcanto, in das Meyerbeer nun eindrang und das er bald verstand. Er wollte die Dominanz der menschlichen Stimme ganz begreifen lernen und gab sich deshalb den schwelgerischsten Melodien hin, die seine Zuhörer betörten. 97

Von nun an nahm man in Italien den jungen Komponisten zur Kenntnis. Meyerbeer hatte sich des Korrespondenten der einflußreichen und viel gelesenen Leipziger »Allgemeinen musikalischen Zeitung«, des in Mailand lebenden Komponisten, Arztes und Schriftstellers Peter (Pietro) Lichtenthal versichert, dessen Bericht im September in der AMZ erschien: »Padova. Sonnabend den 19. Juli wurde auf diesem Theater die so sehnlich gewünschte Oper, Romilda e Constanza, von Hrn. Meyer-Beer gegeben. Neuheit der Gedanken, genaue Ausführung, reizende Melodien, Tiefe der Kunst und Wissenschaft, eine brillante und imponierende Instrumentation, mit gefälligen, ganz italienischem Gesange untermischt, die sich von der Ouvertüre bis zur letzten Note findet, verschafften dem Compositeur ganz außerordentlichen und allgemeinen Beyfall ... Die Sig. Lipparini, die Hem. Campitelli, Branchi, der brave Bassi, und ganz besonders die vortreffliche und nicht genug zu lobende Pisaroni, bedeckten sich mit Ruhm.« Kenner in Wien, die noch das Fiasko der »Beyden Kalifen« im Gedächtnis hatten, lasen zu ihrem Erstaunen im Wiener »Sammler«, daß »... der berühmte Pacchierotti und Calegari ... öffentlich geäußert (hätten), daß sie in Italien nach Cimarosa und Paisiello keine ähnliche Musik gehört haben«. Solche überschwenglichen Äußerungen sollte man nicht auf die Goldwaage legen, doch lassen sie Schlüsse zu über die Qualität der Opern anderer Autoren. In Berlin herrschte große Freude über den Erfolg des Opernerstlings in Italien. »Mein lieber guter Meier! von Herzen gratuliere ich Dich und mich zu den ruhmvollen und glücklichen Erfolg Deiner Oper, wir sind wirklich alle ohne Ausnahme trunken für Freuden. seit zwei Stunden haben wir Michels und Hartmans Brief ich habe so viel geweint, daß mir der Kopf weh thut ...« (Amalia Beer am 5. August 1817). Wie anders klingt dagegen der Bericht über diesen Premierenabend, den J. Schucht in seiner 1869 erschienenen Biographie »Meyerbeer's Leben und Bildungsgang« abdruckte. Der Autor gab vor, von Meyerbeer zahlreiche Briefe erhalten zu haben, aus denen er »zitiert«: »Hierüber theilte er mir mehrere Facta mit, wovon ich folgendes ziemlich wortgetreu wiedergebe. >Sie glauben gar nicht, Herr Doctor, von wie vielen kleinen Zufälligkeiten oft der mehr oder weniger günstige Erfolg einer Oper abhängt ... Als im Jahre 1818 meine Oper Romilda e Constanza in Padua zur Aufführung vorbereitet wurde, hatte sich die Primadonna, der ich die Rolle einstudierte, in den Kopf gesetzt, mich wo möglich noch vor der Aufführung zu heirathen, obgleich ich ihr keine Hoffnung durch mein Benehmen gemacht hatte. Da ich ihre deutlich kund gegebene Absicht merkte, wurde ich etwas zurückhaltender... Der Abend kam heran, obgleich es einer der wärmsten Junitage gewesen ... eilte dennoch Paduas Publikum ins Theater, um die neue Oper des jungen Tedesco kennen zu lernen. Der Vorhang ging in die Höhe; aber o Schrecken! Die Sänger sangen, als ob sie bis zum Tode ermattet, als ob sie krank wären. Das Unglück vollendeten jedoch die Posaunisten, Trompeter, Pauker und 98

Trommelschläger ... Leider lief nun durch sämtliche italienische Zeitungen die Kunde von dem geringen Erfolg meiner Oper ... ich konnte sie zur Maculatur legen, denn kein Director wagte es, ein Werk zur Aufführung zu bringen, das in einer anderen Stadt mißfallen hatte.«< An diesem Zitat (keiner der angeblichen Briefe ist übrigens je aufgetaucht) stimmt nichts, weder das Jahr noch das Datum oder der Schlußsatz, noch ist der Titel der Oper korrekt wiedergegeben. Es haben sich auch keine italienischen Zeitungen finden lassen, die über ein Fiasko berichteten. Außerdem hätte sich Meyerbeer einem Fremden gegenüber nie in einer solchen für ihn bloßstellenden Weise geäußert. Nun könnte man dieses Buch von Schucht einfach vergessen, wenn es nicht noch heute als Steinbruch für manche neue Meyerbeer-Biographie diente, in der die alten Falschmeldungen aufgewärmt werden. Carl Graf von Brühl wandte sich Ende August 1817 an Jacob Beer, um die Partitur anzufordern. Ob nun Brühl, dessen Interessen sich mehr auf Weber und die deutsche Oper richteten, das Werk wirklich aufführen wollte oder nur aus Höflichkeit gegenüber der Familie die Partitur erbat, sei dahingestellt. Dringlich forderte Amalia ihren Sohn auf, die Oper zu schicken. »... kauf sie dem imfammen impresario ab es kan kosten was Du willst mach nur daß sie her kommt ...« Endlich wollte die Familie auch in Berlin ein Werk des Sohnes auf der Bühne sehen, das im Land des Belcanto bestanden hatte. Meyerbeer hatte es mit einer Berliner Aufführung jedoch gar nicht so eilig. Er wollte sich erst in Italien erproben. So gab er die »Romilda«-Partitur erst Ende Dezember seinem Bruder Michael mit, als der nach Berlin zurückkehrte. Da hatte Brühl kein Interesse mehr, zumal inzwischen eine neue Partitur von Meyerbeer zur Auswahl vorlag: »Emma di Resburgo«. Die Partitur der »Romilda« verblieb im Familienbesitz einschließlich der eingelegten sizilianischen Volkslieder. Auch die Oper »Alimelek«, die von der Hofoper angefordert worden war, blieb in Berlin unaufgeführt. Für den Berliner Tonsetzer gab es vorerst an den Berliner Bühnen keine Chance. Aus den Jahren 1817 bis 1821 sind in der Berliner Staatsbibliothek zwei bemerkenswerte Dokumente überliefert, zwei autographe Skizzenbücher Meyerbeers, in denen er seine musikalischen Ideen sammelte. Sie enthalten Entwürfe zu »Emma di Resburgo«, »Semiramide«, »Margherita d'Anjou« sowie zu den nicht ausgeführten Opern »Alcade«, »Almanzorre«, »Michele e Lisette«. Teilweise sind die Fragmente so datiert, daß ein genauer Nachweis über die Orte möglich ist, in denen sich Meyerbeer mit seinen jeweiligen Werken beschäftigte. Dicht gedrängt stehen Singstimmen und Text auf dem Notenpapier, dazu ein oder zwei Instrumentalsysteme. Die meisten Skizzen sind mit Tinte eingetragen, einige mit Bleistift, die z. T. mit Tinte nachgezeichnet wurden. Manchmal wurde auch nur eine instrumentale Idee notiert. Die Handschrift ist oft flüchtig, doch nie unleserlich. Es gibt auch Partiturlagen, die Meyerbeer nach Erhalt des Librettos eingerichtet hat und in denen 99

er für manche Nummern schon erste Gedanken aufschrieb. Dann sind bis zur nächsten Nummer einige Seiten freigelassen worden. Ganz selten nahm sich der Komponist die Muße, Männlein statt Noten zu malen. Nur einmal hat er ein Gesicht mit Ornamenten an den Rand gekritzelt. Die insgesamt 564 Seiten sind von Meyerbeer in zwei Bänden durchpaginiert worden. Leider gibt es bisher keine genauen philologischen Untersuchungen, die diese Quellen auswerten. Die beiden Skizzenbücher zeugen von seiner intensiven Beschäftigung mit den Möglichkeiten der italienischen Opernkunst des frühen 19. Jahrhunderts und von Meyerbeers nie versagenden Einfällen. Die wenigsten Komponisten arbeiteten mit solchen Heften, zudem war es nicht üblich, Skizzen aufzuheben, wenn das Werk vorlag. Anders Meyerbeer. In seinem künstlerischen Haushalt kam nichts um. Manches Thema aus den Werken der Pariser Zeit hat seinen Ursprung schon in Italien. Ähnlich wie bei Beethoven, in dessen Skizzenbüchern sich die Profilierung eines anfangs trivialen Themas zur charakteristischen Gestalt nachvollziehen läßt, wurden auch während des Kompositionsvorganges bei Meyerbeer Formulierungen exakter, rhythmisch und harmonisch schärfer ausgebildet. Die Skizzenbücher sind Dokumente eines beharrlichen Fleißes, der zum Erfolg führte. Nach dem »Romilda«-Erfolg unterzog sich Meyerbeer einer Badekur. Offenbar zeigten sich damals schon Symptome des später sehr ausgeprägten Krankheitsbildes, einer Unterleibsschwäche, die er durch viele Mittel und Kuren zu lindern suchte. Das Jahr 1818 begann Meyerbeer wieder mit guten Vorsätzen. Ins Tagebuch schrieb er am Neujahrstag: »Sollte ich nicht endlich verzweifeln, Stetigkeit genug zu besitzen, ein regelmäßiges Tagebuch zu führen? Allein so wie das scheidende Jahr mich stets in Mutlosigkeit versenkt, wenn ich auf das Unverhältnis der vielen Zeit mit dem wenigen Geleisteten zurücksehe, ebenso erfüllt mich das neue Jahr mit Mut & fröhlichen Hoffnungen zur Besserung.« Er notierte Eindrücke von Aufführungen neuer Werke, die er in Mailand gesehen hatte, über Peter von Winters »I due Valdomiri«, dessen kurzatmige Themen ihm gar nicht gefallen wollten, obwohl er die Stretta im Duett Tomino — Mico so »brillant und feurig« fand, daß er sie sich sehr gut merkte bis zur Komposition seines »Crociato«. Dort nämlich hat die Partie der Palmide im Duett mit Armando (Nr. 5 »E te dunque ame vicino«) eine ziemliche Ahnlichkeit mit Winters Duett, welches wiederum eine gewisse Ahnlichkeit mit der Aria Nr. 5 des Argirio aus Rossinis »Tancredi« hat. Ein Nachklang solcher Motive findet sich noch in der »Afrikanerin« im Gestus des Vasco da Gama. P. v. Winter: »1 due Valdomiri«, Duetto Tornino — Mico Sip,.

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G. Meyerbeer: »I1 Crociato«, Nr. 5, Duetto Palmide — Armando

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G. Rossini: »Tancredi«, Nr. 4, Aria des Argirio

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G. Meyerbeer: »L'Africaine«, I. Akt

Gründlich analysierte Meyerbeer im Tagebuch die einzelnen Nummern, prüfte ihre Wirkung, beurteilte das Material. »Hätte die Arie zwei Themas, so würde der Einschnitt gewiß gefallen haben, so erhält sie sich nur durch den schönen Vortrag der Camporesi [einer Sängerin aus Mailand]. Das darauf folgende Terzett hat auch nicht den mindesten Effekt gemacht ausgenommen dem Tempo in der Mitte, welches sichtlich nach einem Stück aus der >Zauberflöte< moduliert ist.« Mit Giovanni Pacinis »Adelaide e Comingio« am 3o. Dezember 1817 »... schloß sich für mich die Reihe der zu sehenden Vorstellungen in Mailand, da ich noch in Cremona die Morandi hören will, für welche ich künftigen Herbst in Triest schreiben werde, desgleichen Velutti (gegenwärtig in Parma) für den ich zwar nicht schreiben werde, den aber zu hören & zu studieren stets nützlich & interessant für einen Singekomponisten ist, & endlich meinen Bruder Michael (der nach Deutschland zurückgeht) bis nach Triest begleiten will. Wir reisten also den 31. Dezember ... ab« (Tagebuch Januar i 8 i 8). Eine bemerkenswerte Eintragung: Nach Jahren der Begleitung durch einen seiner Brüder wurde der älteste Beer-Sohn 1818 selbständig. Denn keine noch so gut gemeinte Aufsicht konnte den schon lange künstlerisch und geistig Unabhängigen davon abhalten, das zu tun, was er für richtig hielt. Wie selbstbewußt klingen diese Zeilen, da er sich sicher ist, für Rosa Morandi (1782-1824), eine der besten Mezzosopranistinnen ihrer Zeit, eine Oper zu schreiben. Es wird »Emma di Resburgo« sein, die 1819 in Venedig herauskommt. Er wußte also schon, für welche Stars er seine Partituren schrieb, und ließ keine Gelegenheit aus, ihre Stimmen und Darstellungsart zu studieren. Selbst wenn er also nicht für den Kastraten Giovanni Battista Velutti schreiben sollte — Meyerbeers Welterfolg mit Velutti muß noch sechs Jahre warten —, so konnte es doch nichts schaden, dieses Stimmwunder zu hören. Als Meyerbeer Parma besuchte, war der Kastrat zwar indisponiert, so 101

daß er nicht auftreten konnte, aber für den Gast ließ er privat einige kunstvolle Variationen über »Nel cor non più mi sento« aus »La Molinaria« von Paisiello hören, deren Schwierigkeit »... meistentheils in Intonazionen verminderter Intervalle, welche gar zu häufig vorkommen ...«, bestanden. Meyerbeer merkte sich sehr gut, was er da zu hören bekam. Mit dem Eintrag über Velutti brach das Tagebuch für 1818 ab, am 3. Januar!, trotz der guten Vorsätze am 1. des Monats. Von Theater-Neuigkeiten der Saison erfahren wir erst wieder aus einem ellenlangen Brief vom September an Bruder Michael. Triest, Venedig, Padua, Vicenza, Mailand, Brescia, Verona, Florenz, Neapel sind die Berichtsorte. Meyerbeer ließ nichts aus. Jedes Werk bekam eine Note. Von »furore«, »gefiel«, »so, so«, »ließ kalt« bis »fiasco« reichte die Benotung auf der Skala des Erfolges. Es ging um alte und neue Stücke, um Sängerinnen, Sanger, Komponisten, und etwas Klatsch war auch dabei. Der lebendige Bericht über eine ganz durchschnittliche Stagione war aus der Sicht eines Kenners geschrieben, der die Erfolgschancen für sich und die anderen ausrechnete. Da es in der Karwoche keine Oper gab, arrangierte der Cavaliere Grizzo in Venedig große Oratorienkonzerte. Meyerbeer berichtete Michael Beer auch darüber: Man gab »... mit verdoppeltem Orchester und 5facher Illumination im Theater S. Benedetto ... den >Messias< von Händel, das >Stabat Mater< von Haydn & c ... Die Aufführung war, den Noten nach, nicht schlecht zu nennen, allein der Geist der Executirenden widerstrebte stets unwillkürlich dem des Werkes ... so daß dem, der wahrhaft in dem Sinne des Meisters eingedrungen ist, und die guten Traditionen von London Wien und Berlin kennt, das Ganze zuweilen wie eine Travestie erschien. Das einzige wahrhaft vergnügliche Schauspiel, waren die geputzten Damen und Herren in den illuminirten Logen, die ganz zerknirscht vor Ennui [Langeweile] dasaßen, und sich doch weder zu gähnen noch zu reden getrauten, indem Grizzo ... erklärt hatte, daß diese Kompositionen das Meisterstück des menschlichen Geistes wären; daß der, dem sie nicht gefielen, ein Esel sei; .. . Das einzige was Effekt machte, war eine neue amphiteatralische Stellung des Orchester's auf dem Theater, nach meiner Anordnung.« Der im Laufe von siebzehn Tagen entstandene Bericht an Michael Beer ist so anschaulich, daß man annehmen kann, Meyerbeer hat alle die von ihm beschriebenen Aufführungen gesehen und gehört. Rossini wurde immer besonders erwähnt. Seinetwegen unterbrach Meyerbeer sogar die Chronologie des Berichts, um sich allen in dieser Stagione anfallenden Rossini-Werken zu widmen. Besonders der dritte Akt des »Otello« hatte es ihm angetan. »Er ist aber auch wirklich göttlich schön dieser Akt, und was das sonderbarste ist, alle Schönheiten darin sind ganz und gar antirossinianisch ein vortrefflich declamirtes, stets leidenschaftliches Recitatif, mysterieuse Accompagnements, voller Localcouleur; und besonders der antike Romanzenstyl in seiner höchsten Vollkommenheit« (1. Sep102

tember 1818). Diesem Ideal wollte Meyerbeer sich nähern, ohne Rossini nachzuahmen, was er an Vaccai streng rügte. Alle Kenntnisse und Entdekkungen hat Meyerbeer nun mit einem bestimmten Thema verbunden, das bald alle seine italienischen Opern beherrschen wird: das des Emigrantenschicksals. Stoffe dieser Art waren, wie schon erwähnt, sehr beliebt. Meyerbeer hatte da nichts Neues erfunden, aber es entsprach zutiefst seinen Empfindungen, solche Sujets zu wählen: »Semiramide riconosciuta« (1819) Die vertriebene Semiramide muß sich verkleiden, um ihr Reich zurückzugewinnen. (Den Text hat Pietro Metastasio 1729 für Leonardo Vinci geschrieben; seitdem wurde er noch fünfzehnmal vertont, u. a. von Gluck und zuletzt von Meyerbeer.) »Emma di Resburgo« (1819) Graf Edemondo ist fälschlich des Vatermordes angeklagt und lebt in der Verbannung. Nach der Rückkehr geraten er und seine Frau in lebensbedroh-

liche Situationen. »Margherita d'Anjou« (1820) Die von Herzog Gloster vertriebene Witwe König Heinrichs VI. versucht in England, ihre Machtposition zurückzuerobern. »L'Escule di Granata« (1822) Almanzor, Herrscher in Granada, ruft die verbannten Abenceragen zurück. »Il Crociato in Egitto« (1824) Der Kreuzritter Armando lebt unter falschem Namen bei seinen ehemaligen Feinden in Damietta. Wie ein Leitmotiv durchzieht das Schicksal der Verbannten Meyerbeers italienische Opern. Fühlte er sich etwa nicht wohl in dem sonnigen Gastland? War er nicht frei, anerkannt, konnte komponieren, was er wollte? Wuchs nicht sein Ruhm mit jedem Stück ein wenig mehr? Seinem Bruder Michael schrieb er in dem schon zitierten Brief vom September 1818: »Ein Traum nichts als ein elender Traum, hat mich, meine moralische und physische Facultäten in solche Zerrüttung gebracht, daß ich erst 1 o Tage nach dieser furchtbaren Nacht mich gleichsam selbst wiederfinde. Welche furchtbare Organisation des Nervensystems das durch einen bösen Traum so erschüttert wird, daß es den Geist fast bis an die Grenzen des Wahnsinn's führt. Ich kann es Dir wohl sagen, ich fühle daß es mir mit meiner Schwermuth gehet wie mit einer allzustarken Last die man tragen soll und nicht kann ... Frägst Du mich vielleicht warum ich in alle diese betrübende Detail's eingehe deren Mittheilung mir nichts helfen kann, und Dich betrübt, so antworte ich Dir mit Frakturschrift >weil ich leider in Körper und Geist, in Gemüth und Neigungen die entsprechende Aehnlichkeit zwischen uns erblicke;< ... und Dir deßhalb mein Schreckbild aufstelle um meiner 103

Warnung desto mehr Gewicht zu geben: Arbeit heißt sie und Enthaltsamkeit (in jeglicher Hinsicht). Behutsamkeit in der Wahl des Standes, heißt sie ferner. Vergiß nicht was ich bei der Wahl des Meinigen vergaß, das eiserne Wort >Richesse< [Judenhaß]. Von Individuum zu Individuum kann dies Wort für eine Zeitlang in Vergessenheit gerathen (immer auch nicht) bei einem versammelten Publikum nie, denn es bedarf nur eines der sich daran erinnert um der ganzen Maße ihr Natürel zurückzurufen. Wähle deßhalb unter Arzt, Advokat, Philologe, Kaufmann, aber wende der Diplomatie, dem Theater (als Beruf) den Rücken. Dichte wie Philomele singt, für sich. Bricht endlich einmaal unter der Zeit die Erkenntniß der geistigen Gleichheit und Unbefangenheit ein, so hast Du nichts verlohren, als zu warten.deutschen Musica robusta< bei Kraftstellen hervorzubringen vermag, fehlt es derselben zugleich nicht an jenen >Sirenengesängen< welche der Italiener für unentbehrlich hält. Das Werk, obgleich es mit dem Duft seiner Blüthen dem Süden angehört, hängt doch mit den feinsten Fasern an dem deutschen Boden.« Vollständig wollte also der Berliner Rezensent Meyerbeer nicht an die Italiener abgeben. Er hatte richtig beobachtet, daß Meyerbeer technisch mehr leistete als die ausschließlich im Belcanto erzogenen italienischen Zeitgenossen. Die mitunter recht dürftigen Libretti werden nur durch seine Musik zum Ereignis. Meyerbeer hat im Laufe seiner italienischen Karriere deren Mängel erkannt und sich entschlossen, künftig (ab 1823) selbst auf die Gestaltung der Textbücher Einfluß zu nehmen. Das »Melodramma eroico in due atti« »Emma di Resburgo« spielt in Schottland. Der tyrannische Norcesto verkündet in der Introduktion: »Ich will Schrecken verbreiten unter meinen Feinden!« Dazu treibt ihn die eigene Furcht vor dem edlen Edemondo und dessen Frau Emma, die er aus dem Land jagen ließ. Er beschuldigt Edemondo des Vatermords. Ein Herold bekräftigt: Sollte Edemondo, der Feind, je zurückkehren, müßte er das mit dem Tode büßen. Erschrocken reagiert der Chor (im Fortissimo, auf einem verminderten Akkord): »Edemondo, welcher Name, o Verräter!« Das Kind der Verbannten wächst ohne Wissen des Tyrannen bei dem Vertrauten 01fredo auf. Emma hat sich als Barde verkleidet und singt zur Harfe ihre Klagelieder, bis der Chor der Landleute sie auffordert, sie zu erbauen, statt zu jammern. Mit einer großen Scena e Cavatina tritt Edemondo auf, den es nicht länger in der Fremde hielt. Die große instrumentale Einleitung gehört zu den vielgestaltigsten der Partitur. In ihr sind Edemondos widerstrebende Empfindungen versammelt: seine Verlassenheit (Unisono der tiefen Streicher), seine Hoffnungslosigkeit (Thema der Cavatina »Ah ciel pietoso«) und seine Entschlossenheit (dramatisches Instrumentalrezitativ, bestehend aus scharf punktierten Baßfiguren und einem Akkordtremolo der hohen Streicher). Im folgenden Terzetto begegnet sich das Paar nach langer Trennung unter Olfredos Obhut wieder. Edemondo muß sich, als Hirte verkleidet, noch io6

versteckt halten. Im Finale I glaubt Norcesto in den Zügen des Knaben diejenigen des verbannten Edemondo zu erkennen. Deshalb will er das Kind verschleppen lassen, allein die Mutter Emma wirft sich dazwischen und wird dadurch als Frau des Feindes entdeckt. Edemondo kann von Olfredo nur mit Mühe zurückgehalten werden. Zu Beginn des zweiten Aktes versucht Emma die Edelleute zur Rettung des Sohnes zu bewegen. Doch sie weisen in einem an Gluck gemahnenden c -Moll-Satz die Forderung der Gattin zurück und rufen »Edemondo, Edemondo, Edemondo«, wie zu Beginn des Stückes im Fortissimo und auf einen verminderten Akkord, unterstützt vom ganzen Orchester. Die sparsame Verwendung einer so starken harmonischen Farbe an einer dramaturgisch höchst einsichtigen Stelle zeugt von einem überlegenen Gestaltungsvermögen. Edemondo wird durch die Chorrufe gewissermaßen aus seinem Versteck gesogen. Er gibt sich zu erkennen: »Ecco Edemondo«. Seine Rechtfertigungen werden nicht akzeptiert, obwohl er eindringlich (mit Oktav- und Dezimensprüngen im Themenkopf) seine Unschuld beteuert. Richter verurteilen ihn zum Tode. Emma bittet für ihren Gatten, doch vergebens. Sie deckt die Wahrheit auf, indem sie Norcesto des Mordes an ihrem Schwiegervater beschuldigt; der Tyrann bleibt hart. Da entschließt sie sich, Edemondo in den Tod zu folgen. Vor dieser moralischen Größe kapituliert der hartherzige Herr, und alle begrüßen jubelnd das wiedervereinte Paar. Norcesto bekennt sogar, daß sein Vater den alten Grafen Edemondo beseitigen ließ. Das »lieto fine« ist noch 18. Jahrhundert: Das Libretto zehrt noch von den alten, aufklärerischen Idealen, als der Dichter dem »tiranno« Milde zubilligte. Darin konnte Meyerbeer den Geist der aufklärerischen Utopie der vergangenen Epoche begreifen lernen, welche sich noch in die neue Zeit herübergerettet hatte und dem Kunstwerk jenen schimmernden Glanz der Illusion und einer besseren Welt verlieh. Er konnte lernen, Utopien musikalisch zu formulieren. Denn immer, wenn in seinen späteren Werken wirkliche, zumeist aber vergebliche Hoffnung aufscheint, wenn vom Tode Bedrohte sich auf eine Insel des Lebens zu retten glauben, wenn jenes unverzichtbare Maß von Illusion oder Utopie einsetzt, dann erklingen die exaltierten, schwelgerischen Melodien, die er in Italien zu schreiben gelernt hat. Von Carl Maria von Weber wird Meyerbeer des Verrats an der deutschen Oper geziehen. Der Musikdirektor und Leiter der deutschen Oper am sächsischen Hof in Dresden beklagt sich bei seinem Freund Hinrich Lichtenstein am 27. Januar: »Mir blutet das Herz, zu sehen, wie ein deutscher Künstler, mit eigner Schöpfungskraft begabt, um des leidigen Beifalls der Menge willen, zum Nachahmer sich herabwürdigt. Ist es denn gar so schwer, den Beifall des Augenblicks — ich sage nicht zu verachten, aber doch nicht als Höchstes anzusehen.« Dennoch nahm er — weniger aus künstlerischer Überzeugung als aus alter Freundschaft — 182o »Emma di Resburgo« in der Originalsprache in seinen 107

Spielplan auf. In der »Abendzeitung«, dem Dresdner Kunstblatt, das Weber gern als Forum für seine Anschauungen nutzte, formulierte er 182o etwas zurückhaltender: »Wir erhalten im Laufe der nächsten Woche von ihm: >Emma di ResburgoAlimelekEmma< bringt keine Kabale runter, aber Du bist und bleibst ein Schwarzseher. Michel ist außer sich daß Du die Opern nicht nach Wien schickst, thu es mir zu gefallen und schicke die Opern hin ich nehme alles Uebel über mich was Dir daraus entsteht ...« (11. Dezember 1819). Viel zu tief steckte Meyerbeer noch das Fiasko der »Beyden Kalifen« in den Gliedern, als daß er das Wiener Angebot leichten Herzens akzeptiert hätte. Die Kritik zieh den Komponisten der »Emma« unbarmherzig der Rossini-Imitation: »... Was findet man? ... Rossinische Melodie, Rossinische Charakteristik, Rossinischen Effect, Rossinischen Mißbrauch aller musikalischen Kräfte ... jene Motive ... gehen fast alle mit dem vierten oder achten Takte, eine Rossinische Wendung, in Moll über« (Österreichische Allgemeine musikalische Zeitung, Bd. IV, 182o). Es blieb kaum etwas Gutes an dem ganzen Stück, so sehr ärgerte den Rezensenten der Rossini-Stil oder das, was er dafür hielt. Was er da »Mißbrauch« nannte und durch seine Kenntnis der Modulation fachlich belegte, muß er allerdings in einer anderen Oper gehört haben, denn nur in der Canzonetta con Variazioni der Emma im ersten Akt und im Duett Emma — Norecesto im zweiten Akt fand sich diese gerügte Modulation nach Moll. Ein paar Jahre später, als Rossini selbst nach Wien kam und einen wahren Rossini-Taumel entfachte, hätte man Meyerbeer wegen seiner »rossinischen Wendungen« vermutlich hochgelobt. Wenige Wochen nach diesem Verriß unternahm der Wiener Hofoperndirektor Ignaz Franz Edler von Mosel den Versuch einer »milden« Beurteilung der Kritiken über »Emma«. Er habe erfahren, »... daß dieser talentvolle Mann den großen Entschluß gefaßt habe, den Geschmack über dramatische Musik in Italien ... allmählich zu heben, zu welchem Ende er Alles anwende, sich vor der Hand Credit und Anhang zu verschaffen; daß er den Wunsch geäußert habe, es möge keine der Opern, die er jetzt schreibe, hier gegeben werden, und daß die Emma auch wirklich ohne sein Wissen und Willen hierher gebracht wurde.« Mosel verwies auf die Jugendarbeiten »Alimelek« und »Jephta«, die er trotz mancher Unausgereiftheit für originelle Werke hielt, und erläuterte, daß Meyerbeer in Paris zunächst nichts ausrichten konnte und daher in Italien sein Glück versuchen mußte. Durch sein Zögern beim »Export« seiner Opern ließ Meyerbeer durchblicken, daß es ihm nicht um seinen unmittelbaren europäischen Ruhm ging, sondern daß er zuerst in Italien die Produktionsbedingungen gründlich studieren wollte. Nur gegen Aufführungen in Berlin konnte er sich schlecht sperren. Endlich hatte die Familie die Intendanz der Berliner Hofoper veraniog

lassen können, ein Werk von Meyerbeer aufzuführen. Da er seine Opern schneller komponierte, als sich Brühl und der König entscheiden konnten, lagen die »Romilda« und die »Emma« zur Auswahl vor. Amalia hatte mächtig gedrängt, um eine Partitur zu erhalten: »Mein lieber Sohn! Vorgestern habe ich Deine glorreiche und meine geliebte >Emma< richtig erhalten, und Morgen wird sie schon anfangen zu copiren, in meinem Hause bei verschlossenen Thüren, so daß sie Niemand zu sehen bekömmt, und sehr schnel fertig sein soll, nun hätte ich die Bitte an Dich, daß Du mir den Brief an dem König so bald als möglich schickst, den da Brühl jetzt verreißt ist, so kann er es nicht übel nehmen daß ich es durch einen andern übergeben lasse« (31. August 1819). Zum Geburtstag, also wenige Tage später, erhielt Meyerbeer eine weitere Mahnung, dieses unterthänige Schreiben an den König zu senden, daß man seine Oper huldvollst annehmen möchte, sowie » i 000 Thaler p Cour an Werth in Franken ausgerechnet« — ein ansehnliches Geburtstagsgeschenk! Am 14. September hatte der Komponist direkt an den König geschrieben. Auch der Eingang der Partitur war ihm vom Hof bestätigt worden. So stand der Premiere der »Emma von Roxburgh« nichts mehr im Wege. Am i i. Februar 182o hob sich der Vorhang der königlich-preußischen Bühne zum ersten Mal über einer Oper von Giacomo Meyerbeer. Die Mutter schrieb begeistert nach Venedig: »Theurer geliebter Sohn! >Emma< ist gegeben ... bei gedrängt vollem Hause. Ich eile Dir Deinen succes anzuzeigen mehr kann ich für heute bei dem besten Willen nicht, da mein Zimmer bis jetzt wo es 7 Uhr ist noch von Gratulanten nicht leer geworden ist, und ich von der agitation am gestrigen Abend mit den heftigsten Kopfweh geplagt bin. Dir etwas nähres zu berichten warte ich die zweite Vorstellung ab ...« Die zweite Vorstellung gefiel nach Amaliens Worten sogar Brühl, der dem fernen Komponisten ein Billet schicken ließ. Darin wünschte er eine Änderung für den Schluß, der nicht auf dem Kirchhof, »... sondern in einem Triumfsaal (enden soll), dazu kann Michael das Gedicht ändern, und Du machst dann ein kräftigen Dramatischen Schluß, denn werde ich an Deiner Stelle noch eine andre Ouvertüre schreiben damit die Deutschen sehen daß Du auch deutsch schreiben kanst ...« (Amalia Beer an Meyerbeer, 5. März 182o). So einfach war das. Da Friedrich Wilhelm III. allen düsteren, gar tragischen Szenen abhold war, sollte ein »Triumfsaal« her. Meyerbeer hütete sich, auch nur eine Note zu ändern. Gegen seinen künstlerischen Willen kamen alle Ratschläge der Mutter nicht an. Ihm war es im Grunde auch gleichgültig, was man in Berlin von seinem Werk hielt. So war der Jubel um das Stück wohl eher ein Triumph der Mutter. Die Kritik in der »Allgemeinen musikalischen Zeitung« sah es weniger überschwenglich: »... Bey der Oper kann hier nicht von Inhalt die Rede seyn, da dieser bey ähnlichen ital. Werken selten von Bedeutung ist, sondern von der Musik, die freylich nach deutschen Ansichten dem Inhalt angemessen 110

seyn soll: doch setzen sich darüber die neuem ital. Componisten leicht weg, und da Hr. Meyerbeer sich ihnen fügsam anschmiegt, so kann von der Frage nicht die Rede seyn, ob die Musik zum Stück passe, oder, ... dramatisch und charakteristisch sey, wo man freylich nur verneinend antworten könnte... Bisher ist nur eine Wiederholung erfolgt, die sich eines sehr mäßigen Beyfalls erfreute.« Die Mutter hatte diese zweite Vorstellung ganz anders erlebt: Sie »... war bei vollem gedrängten Hause, und ist vom Publikum mit dem rauschensten Beifall aufgenommen worden, so wie es bei uns nur selten geschieht ...« (26. Februar). Auch aus Frankfurt am Main, wo »Emma von Roxburg« Ende 182o in Szene ging, erhob sich in der »Allgemeinen musikalischen Zeitung« eine warnende Stimme: »Es ist wahrhaftig traurig, dass der talentvolle Componist mit seinem Pfunde so schlecht wuchert. Diese angebohrne deutsche Tüchtigkeit ... gehet nun unter in den Maremnen [öde italienische Küstenlandschaft bei Rom] des Rossinismus. — Der Componist muß verliebt gewesen seyn in eine italisch-rossinisch-musikalische Dame, als er die Oper schrieb; denn nur die mächtigste der Leidenschaften, die Liebe oder das Gold können den wahren Künstler zur Verläugnung der Wahrheit führen. Herr M. Beer hat seinen Herrn und Meister, den seeligen Vogler, verläugnet. Um Silberlinge wohl nicht, also hat es die Liebe getan! — Doch welche Kraft gehört dazu, bei dem Bewusstseyn einer glänzenden Vielseitigkeit, wie sie Herrn M. Beer innewohnt, einem Geschmacke zu entsagen, der, wenn gleich auch nur für den Augenblick, seine Jünger mit süssduftendem Weyhrauch umnebelt? Meyer Beer, ... und all' ihr treulosen Überläufer zu den Panieren musikalischer Frivolität, euch ist nicht zu verargen, dass ihr eure schönen Talente dem Auslande bietet; aus der Fremde muss es kommen, soll das Verdienst bey uns gewürdigt werde ...« Statt eine sachliche Analyse zu bieten, ergeht sich der Rezensent in Vermutungen, die, dem Charakter der damaligen Kritik entsprechend, das Private berühren. Zugleich traf er aber auch die Wahrheit: Selten galt der Prophet etwas in seinem Vaterland. Da im Gefolge der Befreiungskriege deutsche bürgerliche Schichten ein Nationalbewußtsein entdeckten und gegen alles Fremdländische opponierten, besonders gegen die als Institution über hundert Jahre bestehende italienische Oper in Deutschland, mußten Meyerbeers Erfolge allen, die in der Heimat geblieben waren, als zu leicht und zu teuer erkauft erscheinen. In Berlin traten solche Spannungen noch einmal in aller Schärfe hervor. Trotz großem Einsatz war es Brühl nicht gelungen, Carl Maria von Weber wenigstens auf einen Kapellmeisterposten in Berlin zu bringen; er war in den Augen des Königs zu »patriotisch«. Vielmehr ernannte Friedrich Wilhelm III. am i. September 1819 Gasparo Spontini zum Preußischen Generalmusikdirektor. Mit ihm wurde zum letzten Mal ein prominenter Italiener Hofkapellmeister an einem deutschen Opernhaus, und das zu einer Zeit, da die italienischen Ensembles allmählich aufgelöst wurden. Spontini hatte seinen Weg 111

über Paris genommen, wo er ab 1805 als kaiserlicher Hofkapellmeister und Hofkomponist der Kaiserin Josephine wirkte. Seine Opern waren keine »reine« Opere serie des 18. Jahrhunderts mehr; unter dem Eindruck der Revolutionsopern und dem Einfluß Glucks schuf Spontini jenen heroischen Stil, der Napoleon so sehr zusagte. 1815 hatte der ehemalige Hofkapellmeister die Gunst der Stunde genutzt und sich durch die Widmung seiner Oper »Pélage ou le Roi de la Paix« (Pelagius [ein Sektierer, der die Erbsünde leugnet] oder der Friedenskönig) an die Bourbonen den neuen Herrschern in Frankreich empfohlen. (Merkwürdigerweise sah es in Preußen niemand als nationale Schmach an, nach dem Debakel von Belle-Alliance einen der ersten Repräsentanten der napoleonischen Hofmusik aus der Konkursmasse des Kaiserreichs zu übernehmen.) In Berlin regierte Spontini mit eiserner Strenge, um seinem neuen, vom militärischen Sprachgebrauch übernommenen Titel Ehre zu machen. — Meyerbeers Lebensweg wird den Spontinis noch häufig kreuzen; vorerst gab es jedoch keine Berührungspunkte. Fast in jedem Brief der Familienmitglieder wiederholen sich die Klagen über Meyerbeers Schreibfaulheit. In der Tat hat er — etwa im Verhältnis zu seiner Mutter — wenig geschrieben, meist nur flüchtig und ohne Unterschrift. Er hatte andere Sorgen. Man wurde nicht der neben Rossini berühmteste Opernkomponist, wenn man seine Zeit mit Briefeschreiben vertat. Vielmehr war mit Impresarios und Librettisten zu verhandeln, waren Dirigenten zu gewinnen, Primadonnen zu umschmeicheln, Journalisten zu informieren, mußte man sich über schlechte Aufführungen ärgern (»... Meine arme >Romilda< scheint dazu bestimmt zu sein, massacrirt zu werden ... Glücklicherweise bin ich nicht mehr hier [in Mailand], und brauche den Gräuel nicht mit anzuhören« (2o. März 182o an Kandler) — all das kostete viel Zeit und Kraft. Dagegen war Meyerbeer ein fleißiger Briefschreiber, wenn es um sein Werk ging. Aufgrund der immer noch hohen Produktionsrate an den Theatern waren die Librettisten sehr gefragt. Ein gutes Buch zu finden war für Meyerbeer ein großes Problem. Dabei mußte er immer Kompromisse schließen zwischen den Impresarios, dem Ensemble, den Librettisten und den eigenen Ambitionen. Als ein gutes Libretto, »Francesca da Rimini« von Felice Romani, der stets wachsamen Zensur zum Opfer fiel, wurde die Suche nach einem neuen Buch um so dringlicher. (Felice Strepponi hat es dann 1823 vertont und in Vicenza zur Aufführung gebracht.) Schließlich kam Meyerbeer doch mit Romani (1788-1865), der zu dieser Zeit als Theaterdichter an der Mailänder Scala angestellt war, überein, das französische Schauspiel »Margherita d'Anjou« von Guilbert de Pixérécourt zu bearbeiten. Wie die Verbindung zu diesem vielbeschäftigten Mann zustande kam, der mit seinen über hundert Büchern ganze Heerscharen von Komponisten versorgte, ist unbekannt. Am 20. November 182o konnten sie am Teatro alla Scala ihren gemeinsamen Triumph feiern. 112

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»Margherita d'Anjou«, Klavierauszug. Musikbibliothek Leipzig

Für Meyerbeer war dieser Abend aus einem weiteren Grunde sehr wichtig: In der Rolle des Carlo Belmonte, eines alten, von der Königin Margherita geächteten Generals, wirkte der französische Bassist Prosper Levasseur mit, der nach Engagements in Paris und London 182o an der Mailänder Scala zu singen begann. Als er wenige Jahre später nach Paris zurückkehrte, setzte er 113

sich dort für Meyerbeer ein und knüpfte die Verbindung zwischen Venedig und Paris. Durch »Margherita d'Anjou« wuchs Meyerbeers Anerkennung in Italien weiter. Die Presseberichte deutscher Zunge waren zustimmend; Franz S. Kandler ließ sich im »Morgenblatt für gebildete Stände« wie folgt vernehmen: »Der Tonsetzer erntete an jedem der drey Abende seiner Direktion am Klavier die lautesten Beyfallsbezeugungen der Mailänder, welche ihn auch nach jedem Akte auf die Szene riefen; mitunter zeigte sich wohl eine kleine Opposition, sie wurde jedoch bald ganz zum Schweigen gebracht. Indeß die dortigen Journalisten ... zündeten ordentliche Freudenfeuer in ihren Blättern an, daß wieder ein Mann von Gefühl, Verstand und außergewöhnlicher Kultur ihr Opern-Repertorium bereichert habe ... Der Tonsetzer hat diese Oper für Italien geschrieben; dieser Umstand entschuldigt die Farbe der Convention, die sie trägt ... Doch hat er den Fehlern der allerneuesten Schule wie da sind: Vernachlässigung klassischer Korrektheit, Mangel an harmonischer Kraft, jener passiven schwächlichen Süßlichkeits-Manier mit sichtlichem und glücklichem Streben entgegengearbeitet ... Diese Oper wurde mit immer gleichem Beyfalle bis zu Ende der Stagione, d. i. bis in die ersten Tage des Dezembers gegeben ...« Ein anderer Bericht wußte zu melden, daß bis auf Levasseur und Nicola Bassi alle Solisten gestümpert hätten, und daher der Beifall dem Komponisten doppelt Ehre gemacht habe. Die »Opera semiseria« in zwei Akten handelt von der Witwe Heinrichs VI. von England, die vom Herzog von Gloster vertrieben wurde. Margherita ist mit einem Heer von Frankreich zurückgekehrt, um alte Machtpositionen zurückzuerobern. Nach einer für sie verlustreichen Schlacht sucht sie mit wenigen Getreuen Zuflucht in den schottischen Bergen und setzt sich dabei der Gefahr aus, von einem wilden Bergstamm als Eindringling getötet zu werden. Der Herzog von Lavarenne hat aus Liebe zur Königin seine Gattin Isaura verlassen. Sie jedoch hat sich als Gehilfe des französischen Arztes Gamutte verkleidet, um ihren ungetreuen Mann im Auge zu behalten. Die Königin versucht in den Kleidern von Gamuttes Frau zu fliehen, fällt aber ihrem Verfolger Gloster in die Hände. Der Arzt ersinnt einen Befreiungsplan, demzufolge Gloster in letzter Stunde überwältigt wird, die Königin befreit werden kann und alle abgefallenen Soldaten ihren Eid gegenüber der Königin erneuern. Lavarenne, überzeugt von der Treue seiner Isaura, kehrt zu ihr zurück. Zwar behauptet Julius Kapp in seiner Meyerbeer-Biographie von 1920, der Komponist habe so rasch arbeiten müssen, daß er die Ouvertüre, das Finale I und eine Arie aus »Emma di Resburgo« übernehmen mußte, aber weder in der Berliner Partiturkopie noch im gedruckten Klavierauszug waren Anleihen aus der »Emma« auszumachen. Zwischen beiden Premieren lagen reichlich vierzehn Monate, und die 114

nutzte Meyerbeer, um seiner Partitur ganz sacht neue Züge zu geben, ohne das Publikum durch allzu spektakuläre Neuerungen zu verunsichern. Sie waren eher eine erste Selbstverständigung über seine künstlerischen Absichten, die nicht auf die Nachahmung des Rossini-Stils, sondern auf die Erneuerung der italienischen Opera seria gerichtet waren. In der »Introduzione alla Meyerbeer«, wie Rossi sie bezeichnete, wurden nicht nur alle Personenkonflikte im ersten Akt exponiert, sondern auch das soziale Umfeld der Protagonisten durch eine möglichst genaue Darstellung der historischen und lokalen Farbe beleuchtet. Außerdem sind in »Margherita« und den beiden folgenden Opern einige szenische Großkomplexe bereits in einer Weise geformt, wie sie in der späteren französischen Grand Opéra als »Tableau« üblich werden. Die »Introduzione« der »Margherita« beginnt wie jede andere erste Szene im %-Takt und bildet eine Genre-Szene, in der das Landvolk die Bühne füllt. Doch besticht diese Einleitung durch eine bis dahin unbekannte musikalische Vielgestaltigkeit, durch den Aufbau einer dramatischen Steigerung der Chorauftritte und durch den verstärkten Einsatz von Posaune und Serpent, einem sehr stark gewundenen tiefen Blasinstrument aus lederbezogenem Holz mit einem schlanken tiefen Ton. Üblicherweise hoben sich die Komponisten gerade die Posaunen für dramatische Höhepunkte auf und ließen sie zu Beginn der Oper pausieren. Meyerbeer erprobte ihre Wirkung als neue, interessante Farbe, wie zur gleichen Zeit sein Kollege Weber in Hosterwitz beim Instrumentieren der »Freischütz« -Partitur. Beiden reichte das handelsübliche Partiturpapier nicht mehr aus; sie sahen sich veranlaßt, »Trombone, Tympani, Piatti al Fine« zu schreiben, also Posaune, Pauken, Becken am Schluß der jeweiligen Nummer als gesondertes Particell anzuhängen. So wurde allmählich die instrumentale Palette erweitert, aus der gelegentlichen Verwendung solcher Instrumente — zuerst erprobt von französischen Komponisten nach 1789 — entstand ein neuer Standard. Bis zur »Explosion« der Bläserbesetzung in Berlioz' »Symphonie fantastique« von i 83o bleiben noch ganze zehn Jahre. Gleichzeitig schuf sich Meyerbeer eigene Modelle, die in den Pariser Opern in vergleichbaren dramatischen Situationen wiederverwendet werden. Im Duett »Ah tu non sai com' io l'adoro« singt die geprüfte Isaura von ihrer Liebe zu dem ungetreuen Gatten in großen, weitschwingenden Melodiebögen, typisch für Meyerbeers Belcanto der Sehnsucht und Hoffnung, während Michele seinen Trost in kurzen Achteln und Vierteln fast ungeschickt stolpernd deklamiert. Eine ähnliche dramatische Konstellation hat das Duett Valentine — Marcel im dritten Akt der »Hugenotten«. Noch deutlicher wird die Modellhaftigkeit bei einem Vergleich des Terzetto Michele — Carlo — Gloster »Pensa e guarda amico« aus dem zweiten Akt der »Margherita« mit der Hymne in der »Weihe der Dolche« aus dem vierten Akt der »Hugenotten«. 115

G. Meyerbeer: »Margherita d'Anjou«, Terzetto Car/o Mie9ro mo/fo n odetalo

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Die beiden ersten Akkorde im ersten Beispiel sind das Achtungszeichen, die dem schwatzenden Publikum den Beginn einer Musiknummer signalisierten. Die Melodielinie ist im Vergleich zur späteren Hymne fast hölzern zu nennen, ist noch längst nicht so geschmeidig. Die Kontrapunkte zum Thema sind eher virtuose Ausschmückungen als Kommentare im dramatischen Sinne. Ganz deutlich ist hier die Entwicklung der musikalischen Mittel zu verfolgen, wie sie sich in Meyerbeers Schaffen auf der Grundlage seines ~ 16

G. Meyerbeer: »Les Huguenots«, IV. Akt

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italienischen Repertoires in fünfzehn Jahren vollzogen hat. Aus einem Stück von herkömmlicher Faktur wird durch einige kleine Veränderungen — die schärfere Punktierung, die Betonung des harmonischen Grundtones »e« in drei Takten und die Triolen am Schluß der Phrase in der Hymne der »Hugenotten« — eine der einprägsamsten musikalisch-dramatischen Szenen der Opernliteratur. Ob dem Komponisten schon zu dieser Zeit klar gewesen ist, daß dies für 117

ihn Modelle zur späteren Verwendung waren, kann weder behauptet noch bestritten werden, doch baute Meyerbeer seine Karriere sehr planvoll auf, so daß derartige Überlegungen nicht von der Hand zu weisen sind. Er suchte seine musikalische Umgebung nach ihren wirksamsten Elementen ab, analysierte ihre Wirkung, überprüfte ihre Verwendung für sein eigenes Schaffen. Sein Gespür und sein Wissen um rationelle Kompositionsmethoden konnte sich gerade in Italien gut ausbilden, da man hier seit hundert Jahren nach solchen Standards arbeitete. Kritiker ahnten nichts von diesem Lernprozeß, sondern glaubten Meyerbeer als Rossini-Imitator durchschaut zu haben. Ende 182o schloß der gefeierte Tedesco einen Vertrag mit dem Teatro Argentino in Rom ab über die Komposition der Oper »L'Almanzore« auf einen Text von Gaetano Rossi für den Karneval 1821; allerdings kam es wegen Erkrankung einer Protagonistin nicht zur Aufführung. Zur gleichen Zeit besuchte Amalia Beer in Begleitung ihres Jüngsten den Schwarzseher Giacomo, um wieder einmal nach dem Rechten zu sehen. Sie brachte einen Heiratsplan für ihren Ältesten mit: Man wollte ihn mit der Tochter des Barons Bernhard von Eskeles, des Bankiers des österreichischen Kaisers, verbinden. »Die Tochter von Eskeles«, schrieb Jacob Beer an seine Frau, »ist ein ganz scharmantes Mädchen dabey klug ohne Pretention ... Michael findet Sie auch sehr passend für Meyerbeer kurz ich wünschte diese Partie käme zustande ...« (2o. Januar 1821). »Ich habe ... Meyerbeer.. . dringend gebeten er möchte ja gleich nach seiner Oper nach Wien gehen. Man erwartet ihn gerne und wen er da ist wollen wir auch hinkomen ... Wir weren sehr blamirt wen er nicht hinreisste ...« (16. März an Michael Beer). Die Verbindung zu der Familie eines so einflußreichen Finanzmagnaten, der die Wiener Sparkasse und die Österreichische Nationalbank mitbegründet hatte, mußte in den Augen von Jacob und Amalia Beer sehr vorteilhaft sein. Allein der Heiratskandidat stellte sich taub. Er ging nicht nach Wien. Sein Vater räumte ein: »Dies mus jeden Menschen freier Wille sein und da ich in diesem Punkt nie aus Meyerbeer habe klug werden können so weis ich nicht hierin zu urtheilen.« Dem Sohn stand unterdessen seine Aufgabe klar vor Augen: Er wollte die Pariser Oper erobern, keine Wiener Bankierstochter. Zu viele Jahre trennten ihn vom Elternhaus, als daß er sich der Familienpolitik hätte unterordnen wollen. Sein Unabhängigkeitsdrang war stärker. Unterdessen waren ganz andere Entscheidungen gefallen. In Berlin werden kurz hintereinander die »Olympia« von Spontini (am 14. Mai 1821) und Webers »Freischütz« (am 18. Juni) uraufgeführt. Vater Beer hatte mit kaufmännischem Blick die Dekorationen beäugt und seiner Frau am 17. Mai mitgeteilt, was er von Spontinis Mammutwerk mitbekommen hatte: »... es war ein ungeheurer Spektakel Oper. Sie hat 3o Tausend Thaler gekostet der Wagen worauf die Milder gesessen ist kostet goo rt der Ellefant kostet 400 rt ...« Vater Jacob hatte richtig hingeschaut: Niemals sind über die Bühne der Knobelsdorff-Oper lebendige »Ellefanten« getrampelt, wie die Weber-Bio118

graphik bisher weismachen wollte und wie es das Fernsehen der DDR noch 1986 kolportierte. Als Theaterfachmann ersten Ranges hätte Spontini weder sich noch seinen Sängermassen eine solche Gefahr zugemutet. Aber historische Fehlurteile sind zählebig. Eine sachliche Betrachtung der »Olympia«Partitur würde große Schönheiten darin entdecken: Hymnen, deren Terzen und Sexten edler nicht klingen können; heroische Märsche, die ihre Intonation der französischen Revolutionsmusik verdanken; emphatische Melodien in Arien und Ensembles wechseln mit sehr prägnanten Motiven in Accompagnati; lange Sequenzen mit Motivwiederholungen enden in rauschenden Tutti. Das ganze Arsenal der italienisch-französischen Musik der beiden ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts ist in Spontinis Partitur versammelt, durchwoben von einer edlen Gebärde. Aber sie hatte gegen die neue »romantische« Kunst Webers, der das Dämonische und das Naturnahe, das Volkstümliche und das unterschwellig Grauenhafte so genial verband, keine Chance. Spontini verdoppelte deshalb den szenischen Aufwand durch allerlei Raritäten: Aufmärsche von Armeen, einstürzende Paläste, Feuersbrünste. Allein diese Effekte, die im 18. Jahrhundert bereits perfekt beherrscht wurden, konnten den Siegeszug des »Freischütz« nicht aufhalten. Heinrich Beer wußte den »Freischütz« zu würdigen, der »mit vollem Recht« Erfolg hatte. Das war namentlich der Mutter unverständlich, denn dieses Stück wurde unaufhörlich vor einem begeisterten Publikum gespielt, während die »Emma von Roxburg« ihres Sohnes immer seltener auf den Spielplan kam, kaum Freunde mehr fand und schließlich abgesetzt wurde. In München und Stuttgart verschwand das Werk gar nach zwei bzw. drei Aufführungen. In Italien unterschrieb Meyerbeer einen neuen Vertrag für »L'Esule di Granata« von Felice Romani, dessen Titel den Verbannten bereits ausdrücklich nennt. In Granata liegen die beiden mächtigsten Stämme, die Abenceragen und die Zegriden, im heftigen Streit, da Boabdil, der vorherige Zegriden-Herrscher, die Abenceragen verbannt hatte. Der neue Herrscher Almanzor ruft die Verbannten zurück, da er die Tochter des Abenceragen-Fürsten Suleman gewinnen will. Das ist in den Augen seiner Stammesangehörigen ein Frevel, weshalb sie eine Verschwörung gegen ihn anzetteln. Als der zurückgekehrte Suleman erfährt, daß seine Tochter Azema dem Sohn seines Todfeindes die Hand reichen will, beschließt auch er, Almanzor zu ermorden. Doch der Anschlag mißlingt. Azema erzwingt die Versöhnung der Streitenden; die Liebe triumphiert am Ende. Das am 12. März 1822 an der Mailänder Scala uraufgeführte Werk hatte nicht den gleichen Erfolg wie »Emma di Resburgo« und hielt sich nicht lange auf der Bühne; es diente dem Komponisten als »Steinbruch« für spätere Werke: Die von der Harfe begleitete, hinter der Szene gesungene Preghiera 119

(Gebet) wurde als Knabenchor in der Krönungsszene des »Propheten« wiederverwendet; andere Teile übernahm er in »Dinorah« und in der »Afrikanerin«. Mit Sorgfalt instrumentierte Meyerbeer die Partitur des »Esule«; den Chor hatte er diesmal polyphon gesetzt; bislang hatte der Chor musikalisch eine untergeordnete Rolle gespielt. Dennoch fühlte Meyerbeer, daß dies nicht das Höchste war, was er zu leisten imstande war. Die Suche nach neuen, interessanten Textbüchern ging weiter. Er las viele Libretti; auch Michael Beer, der ab Mitte 1821 in Neapel lebte, um sein Trauerspiel »Die Bräute von Aragonien« abzuschließen, half seinem Bruder. Er sandte ihm »... zwei überkomplette französische Theaterstücke >Le Voyage à Dieppe«< und das einaktige Lustspiel »Le mari et l'amant« mit einem Kurier zu, »... damit Du bey den Büchern durchaus keine Censur Schwierigkeiten haben dürftest ...« (12. Juli 1821) — es waren, man darf es nicht vergessen, die Zeiten der wachsamen österreichischen Zensur, die allen Lesestoff argwöhnisch nach geistiger Konterbande durchforschte und oft genug in manch harmlosem (oder vielleicht doch nicht ganz so harmlosem) Stück den Appell zum Aufruhr witterte. Auf gleichem Wege erhielt Meyerbeer auch die Libretti zu »Maometto II«, 1817 von Peter von Winter und 182o von Rossini vertont, sowie »Le tre sultane« nach Favart. Es waren keine Stoffe für ihn, und die Suche ging weiter. Merkwürdigerweise traf sich Meyerbeer nicht mit seinem Bruder, obwohl der ihm mit vorsichtigen Worten eine Krise im Elternhaus, vielmehr im elterlichen Geschäft andeutet: »... Glaube mir daß es höchst nothwendig ist daß wir uns alle vereint berathen wie wir mit Anstand, ohne den Glanz des Hauses zu gefährden, unsre Lebensweise verändern können. Glaube mir daß Du dazu eben so nothwendig bist als die welche von uns in Berlin leben, denn Du wirst es wohl jetzt, nach tausend und aber tausend Proben eingesehen haben wie sehr die Art wie unser Haus in Berlin geführt wird, auf jeden von uns, sey er nah oder fern, influirt. Ich habe Mutter sehr ernst darüber geschrieben, auch über die Ersparnisse. Du kannst aus Vaters Brief sehn wie ernst es ihm damit ist, und wie ihm durch seine Verluste Berlin verekelt wird« (13. August 1821). Offenbar bildete der aus dem Zuckerrohr gewonnene, billigere Zucker, der in großen Massen aus Übersee auf den europäischen Markt gelangte, gegenüber dem Rübenzucker eine ernstzunehmende Konkurrenz. Außerdem beunruhigten wieder einmal Kriegsgerüchte das Land. Der spanische König Ferdinand VII. hatte 182o den Eid auf eine konstitutionelle Monarchie leisten und einer verfassunggebenden Versammlung zustimmen müssen. Gegen die spanischen Liberalen wurde auf dem Kongreß der Heiligen Allianz in Verona Ende Oktober 1822 die militärische Intervention beschlossen, aus der sich allerdings die europäischen Großmächte England und Osterreich heraushielten. Frankreich, um die Hebung seines politischen Renommees besorgt, fiel Anfang 1823 in Spanien ein, unterstützte die Ultrarechten und stellte mit ihnen die absolute Monarchie wieder her. 120

Meyerbeer, der in Venedig, gar nicht weit vom Tagungsort Verona, lebte, machte sich seine eigenen Gedanken und schrieb dem Vater am 26. November 1822: »Du wirst aus Wilhelms Brief ersehen wie bedeutend und hartnäkkig die Krieg'sgerichte [-gerüchte] zirkuliren. Auch im Journal de Debats habe ich gesehen, daß die Renten ... fielen: ... beweist die Furcht des Publikum's vor Krieg. — Ich würde ... befehlen, schnell starke Einkäufe in Hamburg zu machen. Mein Rath ist, freilich gegeben ohne daß ich dabei materielle Kenntniß des Geschäftes hätte zu Hülfe ziehen können, denn diese ist mir wie Du weißt so fremd als China. Allein die Laage der Weltbegebenheiten mit richtigem Blicke zu betrachten, ist mir vielleicht gegeben, und diese muß doch im jetzigen Falle Dein Kaufen oder nicht-kaufen bestimmen.« Die Familie sah sich vermutlich schon am Bettelstab, als die Einnahmen zurückgingen. Trotzdem sollte der Schein gewahrt, ein großes Haus geführt und so die Solidität der Firma öffentlich bezeugt werden. Meyerbeer, der vermutlich nie einen Zuckersack aus der Nähe gesehen hatte, dachte jedenfalls nicht daran, zugunsten seiner weiteren Opernpläne nach Berlin zu reisen, um über eine Verknappung der Haushaltsmittel in der Familie Beer zu beraten. Das überließ er dem Vater und dem Bruder als den Fachleuten. Trotzdem: Im zitierten Brief an seinen Vater steht der Beweis, daß Meyerbeer meinte, auf schwankendem Boden zu stehen. Ein Fehltritt geschäftlicher Art konnte die Existenz gefährden; die Familie müßte Berlin verlassen, was 1827 erneut erwogen wurde. Gegen eine solche Bedrohung sah er nur ein Mittel: den durchgreifenden Erfolg, die internationale Anerkennung. Also begann die Suche nach einem geeigneten Libretto von neuem. Gaetano Rossi übersandte eilfertig neue Textbücher, unter ihnen »Matilde« und »Malek Adel«, auf die er in den meisten seiner zweiundachtzig Briefe, die von September 1822 bis Dezember 1823 erhalten sind, immer wieder zu sprechen kam. Daneben lieferte er Theaterklatsch, den er als Theaterdichter aus erster Hand bezog. Für Meyerbeer war es immerhin wichtig zu wissen, in welcher Verfassung sich die Stars befanden, für die er seine Rollen vorsah. Außerdem nahm er immer wieder interessiert zur Kenntnis, welche Premieren der komponierenden Konkurrenz »Fiasco« oder »Furore gemacht« hatten. Rossis Briefe glichen dramatischen Rezitativen aus seinen Libretti mit ihren Ausrufen, Beschwörungen, Appellen, die dem Temperament des Italieners angemessen waren: »Caro il mio Giacomo!

Ne men' oggi vostra lettera! — Vi suppongo occupato nella disamina del l'ossatura: Metiderete le osservazioni vostre: — oggi attendeva di rispedizione la lettera di Giovanni di Velluti à Bassi, onde inviarla con risposta à Bassi: Avrete ricevuto dal Messo del Lotto di q. Volumi di >MatildeMosè< a Firenze: — >Cenerentola< non destò il furore d'altre volte: Si predilige Lablache a Balli: Sentiremo del nuovo gran Ballo: 121

Sentirò io felici nuove, finalmente, de' vostri Foruncoli? — e dell'ottima Mamma? — Anelo sentire le vostre osservazioni, e di mettermi à lavoro: Siamo a 3o Aprile: Buon Primo di Maggio! — In Germania si pianta Maggio? e a Venezia? . . Per me passò la stagione: mi restò il cuore: e questo è tutto a voi: Il Vostro Rossi 3o Aplè 1823 Verona oh! le belle due puntate, in miniatura, della storia di >MatildeMars et l'amour< — >Dans la noble carrière il faut vaincre ou mourir< (Mars und Amor — Wo die Banner jetzt wehen, gibt's nur Sieg oder Tod). Die Alternative ist Tod oder Gewalt. Das >Turnier< ist ein Bild für latente Aggression, die diese Gesellschaft beherrscht, Kriegsspiele, die jederzeit in tatsächliche Gewalt umschlagen können. Das Finale II wird vom Teufel beherrscht (Thema Prinz von Grenada und, davon abgeleitet, das Turnierthema >La trompette guerrière< — Kriegstrompeten erschallen). Richtig musiziert, wirkt dieser Aktschluß wie ein Strudel in den Abgrund... Mit dem vierten Akt wird das Gesellschaftspanorama erweitert und ergänzt in einer Mischung aus Märchen und Groteske, Alptraum und hellem Bewußtsein. Die Frauenszene zu Beginn steht im Gegensatz zum Choeur dansé — Finale III. Dort das Chaos, hier das abgezirkelte Hochzeitsritual. Der angepaßte Frauentypus (Isabelle) wird gegen den rebellischen (Hélène) gestellt. Im vierten Akt haben sich die Autoren am weitesten vorgewagt im Erfinden immer groteskerer Situationen. Der Hofstaat marschiert mit Geschenken auf. Isabelle erstickt fast darunter. Das Hochzeitsritual wird auf einen mechanischen Vorgang reduziert. Der Zauberzweig läßt die Gesellschaft in Schlaf versinken. Er ist Objekt, mit dem gehandelt wird, und zugleich Katalysator, durch den sich psychische und soziale Zustände offenbaren. Durch ihn sehen sich plötzlich all diese auf das Scheinen und Posieren angelegten Menschen in einer fremden Perspektive. Mit seiner Zerstörung bricht das Gewaltpotential der Gesellschaft hervor. Der Kreis ihrer Ordnung ist gestört. Alle stürzen sich auf Robert. Die Musik schildert, wie jeder auf jeden einschlägt. Eine unkontrollierte Massenhysterie entsteht, die sich nicht 173

organisiert, sondern wahllos entlädt« (Hans Möller/ Eberhard Berg, Regiekonzeption zu »Robert-le-Diable«, 1989). Meyerbeer ist ein Dialektiker der musikalischen Szene. In diesem Finale IV, der Perepetie des Dramas, muß Isabelle für Robert nach den logischen, irdischen Gesetzen als verloren gelten, aber er erhält die Frau durch Gnade zurück, indem er auf schwarze Magie verzichtet und den Zauberzweig zerbricht. Damit wollte er zunächst erzwingen, »was ihm ohne Gewalt nicht mehr erreichbar schien. Die Beschwörung durch den Zauberzweig — das Erstarren der Festgesellschaft und das Zerbrechen des Zweigs — die Lösung der Erstarrung und der Ausbruch des Tumults, der über Robert zusammenschlägt — sind gewissermaßen die Schocks, die die Handlung weitertreiben. Und den kontrastierenden Tableaus der äußeren Handlung — dem Gegensatz zwischen Tumult und Erstarrung — entspricht die verschlungene Dialektik der inneren Vorgänge: Robert verliert Isabelle, als er sie durch Zwang zu gewinnen sucht, und er gewinnt sie zurück, als er sie, durch den Verzicht auf Zwang, scheinbar verliert« (Sieghart Döhring zur Dramaturgie der Grand Opéra). Heinrich Heine, der zur Entstehungszeit der Oper erstmals mit Meyerbeer zusammentraf und ihm auf schicksalhafte Weise verbunden blieb, hat im 5. Brief der »Französischen Zustände« vom 25. März 1832 Roberts Zwiespalt so beschrieben: »Meyerbeer hat das Unerhörte erreicht, indem er die flatterhaften Pariser einen ganzen Winter lang zu fesseln gewußt ... die enthusiastischen Meyerbeerianer mögen mir verzeihen, wenn ich glaube, daß mancher nicht nur von der Musik angezogen wird, sondern auch von der politischen Bedeutung der Oper. Robert-le-Diable, der Sohn des Teufels, der so verrucht war wie Philippe Egalité, und einer Fürstin, die so fromm war wie die Tochter Penthièvre's, wird von dem Geiste seines Vaters zum Bösen, zur Revolution, und von seiner Mutter zum Guten, zum alten Regime, hingezogen, in seinem Gemüte kämpfen die beiden angeborenen Naturen, er schwebt in der Mitte zwischen den beiden Prinzipien, er ist Justemilieu; — vergebens wollen ihn die Wolfsschluchtstimmen der Hölle ins Mouvement ziehen, vergebens verlocken ihn die Geister der Konvention, die als revolutionäre Nonnen aus dem Grabe steigen, vergebens gibt Robespierre, in der Gestalt der Mademoiselle Taglioni, ihm die Accolade; — er widersteht allen Anfechtungen, allen Verführungen, ihn leitet die Liebe zu einer Prinzessin beider Sizilien, die so fromm ist, und auch er wird fromm, und wir erblicken ihn am Ende im Schoße der Kirche, umsummt von Pfaffen und umnebelt von Weihrauch ...« Das traf es nur ungefähr. Der Brief ist eher ein Dokument der Heineschen Ironie als eine Definition von Scribes und Meyerbeers Absichten. Denn für Heine wie die Autoren des »Robert« war nicht die Revolution von 1789 ausschließlich das »Böse« und das Ancien Régime das »Gute«. Vielmehr wollten die Autoren ihren Zuschauern Bilder zeigen, die Vergangenheit und Gegenwart entschlüsseln helfen konnten. Dieser Absicht diente auch Taglio174

nis Nonnenballett. Man konnte auf einschlägige Erfahrungen aus der Zeit des »terreur«, des revolutionären Schreckens von 1793, verweisen. Denn wenige Jahre später »spielte« man bereits mit den schrecklichen Erinnerungen: »Der Tanz erregte große Begeisterung; selbst im Karmeliterkloster, das im September Schauplatz der Massaker war, und im alten Friedhof von Saint-Sulpice. Zu den Bällen der Opfer hatten nur diejenigen Zutritt, die einen Angehörigen auf dem Schafott verloren hatten; dort zeigte man sich mit Titusfrisur, den Nacken wie vom Henker freigemacht und mit einem roten Seidenfaden um den Hals. Das Duzen war verpönt; Monsieur und Madame kamen wieder auf und ersetzten Bürger und Bürgerin« (Albert Soboul, Die Große Französische Revolution. Ein Abriß ihrer Geschichte 1789-1799). Die Bezüge zur Realität der französischen Geschichte waren deutlich. Sie waren indessen stärker, als es sich die Kritiker in Deutschland, Rellstab und später Kapp, in ihrer Phantasie ausmalen konnten. Ohne Wissen um solche Bezüge mußte das Stück ein Galimathias bleiben. Aber auch die Fäden, die das Stück an die Gegenwart banden, waren unübersehbar. Die neuen, auf die Akkumulation des Kapitals gestellten Verhältnisse machten es vielen Adligen schwer, sich zurechtzufinden. Sie pochten noch auf ihre alten Rechte, die unter Karl X. noch viel, unter LouisPhilippe aber nichts mehr galten. Die neue Generation der Jeunesse dorée, der verwöhnten, reichen Jugend, der Söhne von Spekulanten, Börsianern und Bankiers, dagegen hatte sich rasch auf die neue Zeit eingestellt. Ihr zynisches Lebensgefühl äußert sich im ganzen ersten Akt: Preist einer Wein, Weiber und Spiel, stimmt sie zu; singt einer vom Teufel und anderen schauerlichen Sachen, läßt sie sich aus Jux erschrecken, nimmt den Nervenkitzel gern an und lacht schließlich den Ängstlichen aus. Äußert einer, Gold sei eine Chimäre, so applaudiert sie fröhlich, denn sie hat Geld, das ihre Väter haufenweise verdienen. Kommt ein Mädchen vom Lande, so weiß man sie ohne Skrupel zu nehmen. Setzt einer ganz groß im Spiel, so ist man jederzeit bereit, ihn bis aufs Hemd auszunehmen. Mit Verlierern hat diese Jeunesse dorée kein Mitleid. Diese Typen, die die Boulevards, Cafés und Theater bevölkerten, kannte jeder. Wie sie lebten, hat auch Balzac in den Romanen seiner »Comédie humaine« beschrieben. Im »Chagrinleder« (1831) verschreibt sich einer dem Teufel und erhält um den Preis seiner Seele alle Güter der Welt. Ewige Unzufriedenheit ist sein Los. Außer dem Advokaten, der teuflische Gewalt hat, sind alle anderen Figuren des Romans Balzacs Zeitgenossen von 1831. Scribe und Meyerbeer waren also dicht an den modernsten Stoffen des modernen Romans ihrer Zeit, sind ihm, wie die »Hugenotten« zeigen werden, sogar teilweise in der Erfindung von Situationen voraus gewesen. Nur so war es möglich, daß das Stück von den Parisern so vehement angenommen wurde. Nachdem sie im ersten Akt die aktuellen Verhältnisse erkennen konnten, begegneten ihnen im dritten Akt die als wirksam erkannten Hauptverführungsmittel wieder. 175

Es zeigt sich erstmals in großem Stil jene Doppelgesichtigkeit der Grand Opéra Meyerbeers, die bis heute als hohl und bombastisch verschrien ist: Einerseits trieb sie die Nutzung der theatralischen Mittel gewaltig in die Höhe, um ihr Publikum zu überzeugen, bediente sich der modernsten technischen Erfindungen, wie des Gaslichts, des Lichtbogens oder — wie im »Propheten« — der Rollschuhe. Sie entwickelte die Bühnenkünste der Barockoper weiter, schuf neue Überraschungen, vergrößerte den personellen Aufwand und nahm ihr Publikum durch die Wechselbäder von Stille und Tableau gefangen. Das opulente Gewand mag in Vérons Augen Selbstzweck gewesen sein. Es war aber nur Mittel zum Zweck. Hinter der glänzenden Fassade zeigt die neue Gesellschaft ihr wahres Gesicht; es hat zynische und aggressive Züge. Jede Gelegenheit wird genutzt, um Andersdenkende zu bedrohen. Kaum hat ein Mensch von geringerem Stande die Wahrheit geäußert, soll er auch schon am nächsten Baum aufgeknüpft werden. Kaum hat Robert seine Habe verspielt, wird er auch schon ausfällig gegen jedermann. Sein Hauptargument ist in jedem Falle das Schwert, nicht der Kopf. Ohne die Erkenntnis, daß die Militanz der Gesellschaft deutlich belegt ist, wird man um konzeptionelle und szenische Lösungen des Werkes immer verlegen sein. Dann muß man wie Kapp oder Felix Mendelssohn Bartholdy, der sich 1831 in Paris wegen eines Operntextes umhörte, nach dem Besuch der Vorstellung die Oper ein Machwerk schelten. In Briefen an Carl Immermann und seinen Vater schrieb der Leipziger Komponist: »... Das Sujet ist romantisch, d. h. der Teufel kommt darin vor (das genügt den Parisern zu Romantik und Phantasie). Es ist aber doch sehr schlecht, und wenn nicht zwei brillante Verführungsscenen vorkämen, würde nicht einmal Effect darin sein ... Der Teufel heißt Bertram. Auf solch eine kalte berechnete Phantasieanstalt kann ich mir nun keine Musik denken, und so befriedigt mich auch die Oper nicht; es ist immer kalt und herzlos, und dabei empfinde ich nun einmal keinen Effect. Die Leute loben die Musik, aber wo mir die Wärme und die Wahrheit fehlt, da fehlt mir der Maßstab« (i 1. Januar 1832). »... der Hauptpunkt ... ist, in denen man, wenn sie auch die Zeit verlangt, und wenn ich auch vollkommen einsehe, daß man im Ganzen genommen mit der Zeit, nicht gegen sie gehen müsse, sich ihr geradezu entgegen stellen soll: es ist der der Unsittlichkeit. Wenn in Robert le diable die Nonnen eine nach der anderen kommen, und den Helden zu verführen suchen, bis es der Äbtissin endlich gelingt; wenn der Held durch einen Zauber in's Schlafzimmer seiner Geliebten kommt, und sie zu Boden wirft, in einer Gruppe, über die das Publicum hier klatscht, und in ganz Deutschland vielleicht nachklatschen wird, und wenn sie ihn dann in einer Arie um Gnade bittet ... es hat Effect gemacht, aber ich habe keine Musik dafür« (1g. Dezember 1831). (Zu Mendelssohns Ehre sei gesagt, daß er seine Meinung nur in privaten Briefen äußerte und sie nicht lauthals herausposaunte wie später andere deutsche Kritiker Meyerbeers.) Meyerbeer »hatte 176

Musik dafür«. Er faßte seine Welt in Töne wie sie war, wie er sie sah, und nicht, wie sie sein sollte. Heine hat »Robert-le-Diable« ein Werk der Zagheit genannt. Tatsächlich sind die Tempi gegenüber dem Brio der italienischen Opern oft zurückhaltender, als suche der Komponist noch nach der geeigneten Ausdrucksweise. Es scheint, als schrecke die Musik vor den Abgründen der Erkenntnisse über die Gesellschaft zurück wie Alice vor dem Blick in den Höllenschlund. Der »Robert« verlangte ein ganz neues, bisher ungewohntes Hören. Kenner und Liebhaber älterer Opern, besonders Parteigänger der Opéra-comique, stöhnten ob der Anstrengungen, die Meyerbeer ihnen auferlegte. Gegenüber dem neuen Stück nahmen sich die Werke seiner Zeitgenossen wie freundliche Divertissements aus. Man war sich einig, daß man den »Robert« mehr als einmal hören müsse, um alle Feinheiten zu entdecken. Damit waren auch Vérons Absichten aufgegangen. Das Werk und die Académie waren nicht nur Tagesgespräch, sondern beschäftigten monatelang die Gazetten und die Einwohner von Paris, so daß man auch außerhalb der Mauern der französischen Hauptstadt auf sie aufmerksam wurde und es zum guten Ton gehörte, den »Robert« gesehen zu haben. Die Recette, die Abendeinnahme, kletterte bis nahe an die Traumgrenze von io 000 Francs pro Abend (welche dann die »Hugenotten« erreichten und überboten). Für Véron war dies das willkommenste Geschäft, wenn nicht das wichtigste überhaupt. Seine Investitionen hatten sich gelohnt. Scribe, dem aus keinem seiner vielen Stücke jemals Tantiemen in dieser Höhe zuflossen, hatte dem »Robert« eine solche Zugkraft nicht zugetraut und sah die Abrechnungen der Theaterkasse mit dem größten Vergnügen. Der Theaterabend war lang. Hatte die »Stumme von Portici« noch i8 Nummern, so stieg die Zahl der Szenen sprunghaft an: 24 im »Robert«, 28 in den »Hugenotten«, 3o im »Propheten«. Diese Nummern waren aber keine Einzelformen, sondern mehrfach gegliederte Großszenen. Nr. i in »Robert« ist in vier Teile gegliedert: A Introduktion und Chor, B Ballade des Raimbaud, C Schluß der Introduktion, D Rezitativ. Nur in dem wechselvollen Ablauf von klar disponierten Einzelteilen waren die komplexen Beziehungen der Figuren untereinander faßbar. Nach dem gewaltigen Aufgebot an Blechbläsern im Vorspiel beginnt zunächst ganz bescheiden der Chor singender, trinkender Ritter, dessen tänzerisches Hauptthema und elegantes Seitenthema in ähnlicher Weise auch in den »Hugenotten« bei verwandter Grundstimmung wiederkehrt. Der Konflikt wird zum ersten Mal hörbar, wenn Alice in Szene 2 b Bertram begegnet. Zum Tremolo der Streicher erklingt ein Erinnerungsmotiv, eine Bläser-Reminiszenz der Raimbaud-Ballade, nunmehr in Moll abgetönt, ein dunkler Widerschein von Bertrams höllischer Herkunft. Mit der unmittelbar an das Buffoduett Raimbaud—Bertram anschließenden Valse infernale, dem Höllenwalzer, beginnt in dieser Partitur der Wech177

sel von infernalischer Musik und frommen Gesängen zwischen modernen, bisher unerhörten Kombinationen, die an Webers Klangexperimente erinnern, und konventionellen Chor-, Hochzeits-, Turnier- und Kirchentableaus, die bewußt als Entspannung der Hörer gesetzt sind und zugleich die Plattheit der prosaischen Welt wiedergeben. Hier schreckte Meyerbeer auch nicht vor einem Zitat zurück. In der Sicilienne des ersten Aktes ist eine Würfelszene eingebettet. Nach seinen Aufzeichnungen holte sich Meyerbeer die musikalische Idee im Finale des Streichquintetts op. 29 von Ludwig van Beethoven, dessen ziellose, leere Figur ihn offenbar besonders ansprach. Zu Beginn des zweiten Aktes schöpfte Meyerbeer aus seinem italienischen Repertoire. Alles, was er dort an vokalen Möglichkeiten, an Bravourleistungen gelernt hatte, setzte er ein, nicht nur, um den Stars der Académie Royale Gelegenheit zu geben, mit virtuosen Cabaletten zu glänzen, sondern um in großen, emphatischen melodischen Bögen große Emotionen freizusetzen. Immer, wenn seine Protagonisten ihre unerfüllte, unerfüllbare Liebe besingen, gibt ihnen Meyerbeer die schönsten Melodien. Sie sind harmonisch höchst einfach gestützt, wesentlich ist die Instrumentierung der Melodielinie mit Streichern in Oktavabständen und weichen Holzbläsern. Sie ergibt einen sehnsuchtsvollen Klang voller Hoffnung und Verzweiflung, wie er so direkt in den italienischen Opern niemals geschrieben wurde. Hier haben auch Isabelles Koloraturen ihre Funktion. Im zweiten Akt sind sie Ausdruck ihrer hochgespannten emotionalen Erwartung; im Finale II unterstützt der Ziergesang die Darstellung ihrer exponierten gesellschaftlichen Stellung. Jedes Detail ist sorgfältig kalkuliert. Die Aufzüge militärischer Gruppierungen verbleiben in den bereits standardisierten Formen mit diatonischem Trompetengeschmetter. Hier sah Meyerbeer keine Notwendigkeit für durchgreifende Neuerungen. Die setzte er für seine Bösewichter ein. Was er seinen Hörern an chromatisch geführtem Blech, ungewöhnlichen Modulationen und Instrumentationseffekten zumutete, war reichlich. Bei der Konzeption der Höllenwelt konnte Meyerbeer um die Wolfsschlucht seines Freundes Weber keinen verlegenen Bogen schlagen. Als genialem Theatermann war ihm aber nicht entgangen, daß die Szene, bei aller unerhört neuen Musik, wie aus Pappmaché war. Sie ist die Crux aller Inszenierungen bis heute geblieben. Meyerbeer verzichtete deshalb auf ein Vorzeigen der Hölle und erschreckte seine Hörer lieber durch den akustischen Eindruck aus der Tiefe, indem er die Trompeten unter dem Souffleurkasten postierte, wo sie einen unheimlichen, undefinierbaren Klang produzierten. Ein größerer Gegensatz als der zwischen Dresden-Hosterwitz, wo der »Freischütz« entstand, und Paris ist kaum denkbar. Hier die »wild-romantische« Natur, von der sich der Mensch bedroht fühlt, eingefangen in einer genialen, losgelassenen Musik; dort der urbane Walzer, deformiert zum »Höllenwalzer«. Geht Agathe, nach einer Beobachtung Adornos, ins Freie, ins Ungedeckte, wenn sie auf dem Altan steht, so ist in »Robert« die »Natur« 178

ein Spielort wie alle anderen, das Grauen ist in den Menschen selbst. Nur so wird der gesellige Tanz der bürgerlichen Gesellschaft zur Valse infernale. Sie ist zwar mit Vorder- und Nachsatz regelrecht gebaut, wie es sich für eine richtige Tanzform gehört, doch die dreimalige Wiederholung eines rhythmisch prägnanten Motivs kündigt etwas ganz Neues an: eine durch Farbe, Motivik und Instrumentation wirkende Klanggebärde, die an die Stelle des bisherigen formvollendeten, melodiebestimmten klassischen Satzes tritt.

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Die Besonderheit dieser Szene wird noch verstärkt durch eine räumliche Dimension: Der Fernchor der Dämonen beschwört (wie in Nr. i o Finale, Beginn der Wolfsschluchtszene im »Freischütz«), für den Zuschauer unsichtbar, die Dämonen- und Höllenwelt. 179

Auf der Szene klagt Bertram um seinen Sohn, den er auf ewig verlieren wird, wenn er ihn nicht der Hölle ausliefert. Ein solcher unlösbarer Konflikt verlangte nach den außergewöhnlichsten Mitteln. Die zentrale Szene der Oper ist konzeptionell völlig neu entworfen. Der Solist stellt sich nicht länger in einer »Szene und Arie« vor, sondern ist in ein Tableau einbezogen, das aus einem solistischen Teil und dem Fernchor der Dämonen besteht. Die akustische Trennung charakterisiert Bertrams Gespaltensein; der Einsatz der dunklen Instrumentalfarben betont die ungewöhnliche Stellung der Szene. Der Nachruhm des »Robert-le-Diable« war in der Musikgeschichte ohne Beispiel. Innerhalb von drei Jahren wurde die Oper an siebenundsiebzig Bühnen in Europa und Übersee gespielt. Außer in Weimar, wo das Haus schon nach der dritten Vorstellung leer war, nahm man das Werk mit dem größten Enthusiasmus auf. Nach der Pariser Uraufführung und zwei Inszenierungen in London wurde die Oper in folgenden französischen Städten in Szene gesetzt: Bordeaux, Marseille, Toulouse, Lyon, Rouen, Nantes, Lille, Strasbourg, Brest, Metz, Nancy, Le Havre, Grenoble, Nîmes, Angoulême, Châlons-sur-Marne, Bourg, Maçon, Clermont, Avignon, Perpignan, Montpellier, Valenciennes, Bourges, Laval, Autem, Boulogne-sur-Mer, Montaubon, Aix, Moulins, Grasse; in Deutschland: Berlin, München, Dresden, Hamburg, Köln, Frankfurt am Main, Frankfurt an der Oder, Weimar, Mainz, Wiesbaden, Hannover, Breslau, Glogau, Liegnitz, Braunschweig, Leipzig, Bremen, Stuttgart, Kassel, Freiburg, Lippe-Detmold. In Wien wurde »Robert« gleichzeitig an drei Opernhäusern gegeben, so groß war dort 1833 die Nachfrage. 1834 folgen Aufführungen in New York, New Orleans und Kalkutta; 1835 erhielt Meyerbeer eine Nachricht, daß trotz außerordentlich hoher Eintrittspreise die Opernhäuser in Moskau und St. Petersburg zu Vorstellungen des »Robert« immer »drückend voll« wären. Kein Mensch, keine Organisation kann eine solche Verbreitung steuern oder gar manipulieren. Das Werk traf den Lebensnerv der Zeit und wurde deshalb stürmisch aufgenommen. Nur in Italien tat man sich schwer mit der Oper, weil sündige Nonnen mitwirkten und Kloster, Kreuze, Mönche als christliche Symbole auf die Bühne gebracht wurden. Das sah man im katholischen Süden nicht gern. Joseph Méry, Dichter und Journalist, hatte in seiner »Italiänischen Reise«, veröffentlicht 1835, diese Beobachtungen mitgeteilt: »... vermittels einiger Varianten könnte man einen gereinigten und aufführbaren Robert herstellen ... Sobald ich nach Paris komme, werde ich Herrn Meyerbeer fragen, ob er meine Idee billigt.« Herr Meyerbeer hat diese Idee nicht gebilligt. Der Nachruhm, der noch zur 121. Vorstellung am 6. Januar 1835 einen Erlös von 6175 Franc brachte und bis 1894 zu 758 Reprisen führte, beschränkte sich nicht auf Opernvorstellungen. Balzac schrieb 1837 die Novelle »Gambara«, in der der irre Komponist Gambara nach einer Vorstellung des »Robert« ins Leben zurückfindet. Die Oper als Schocktherapie zu nutzen war 18o

nur möglich, weil sie im Verständnis der Zeitgenossen eine so aufrüttelnde, das Gemüt so stark bewegende Kraft hatte. Alexandre Dumas bezeichnete den »Robert« 1854 in seinen Memoiren als den »Doyen« unter allen Opern. Als Paul Degas 1871 die Musiker des Orchesters der Opéra malte, wählte er die Szene des Nonnenballetts, die noch das gleiche Arrangement zeigte wie auf den Stichen nach der Uraufführung. Dieser »Robert« war mehr als eine erfolgreiche Opernpremiere — er war ein denkwürdiges kulturelles Ereignis, in dem sich die Epoche selbst feierte. Die ersten Monate nach der Uraufführung des »Robert« verbrachte Meyerbeer mit Korrekturproben und der Vorbereitung von Druckausgaben der Partitur und des Klavierauszuges. Außerdem mehrten sich für den berühmten Komponisten die gesellschaftlichen Verpflichtungen, denn er hatte sich bei allen zu bedanken, die ihm bei der Durchsetzung der Aufführung geholfen hatten. Bei Gelegenheit besuchte ihn auch sein Berliner Landsmann Felix Mendelssohn Bartholdy, der sich, wie schon zu lesen war, sehr abfällig über die Oper äußerte. Was er aber mit Meyerbeer besprochen hat, ist nicht überliefert. Nun war auch das Versprechen einzulösen, das Meyerbeer gegenüber dem Berliner Hof abgegeben hatte, seine neue Oper unmittelbar nach Paris in Berlin zu geben. Er knüpfte daran die Bedingung, daß Marie Taglioni die Hélène tanzte und Vater Taglioni die Tänze einstudierte, einschließlich der »effectvollen Dekorationen, Maschinerien des magischen Mondscheins«, und daß Ludwig Rellstab die Übersetzung ins Deutsche vornähme. Der König stimmte den Taglionis zu; Rellstab lehnte ab. Ehe in Berlin die endgültige Entscheidung über die Aufführung fiel, hatte sich in London das King's Theatre rasch entschlossen, worauf Meyerbeer am 16. April 1832 mit seinem Englischlehrer den Weg über den Kanal nach London nahm. Dort waren die Sänger überhaupt nicht auf ihre Partien vorbereitet worden, so daß sich der Komponist selbst an die Arbeit machen mußte, den Solisten und dem Chor die Oper einzubleuen, die »... in 20 Tagen gegeben sein muß«, wie er im Tagebuch vermerkte. Viel hatte sich seit seinem letzten Besuch 1814 in London verändert. »Es ist«, schrieb er am 22. April an seine Frau, »unstreitig jetzt die großartig gebauteste dabei freundlichste und variirteste Stadt in Europa. Es sind Theile namentlich Regent Street und Colonade die wahrhaft imposant sind.« Die ohnehin kurze Vorbereitungszeit wurde noch künstlich dadurch vermindert, daß man sich einige Tage lang nicht darüber einig werden konnte, ob nun die Oper in Französisch mit den Pariser Gästen Damoreau, Nourrit, Levasseur oder in Italienisch durch eine gastierende Truppe mit Meyerbeers früheren Interpreten Tosi, Donzelli, Lablache, Curioni gegeben werden sollte. Man entschied sich für Französisch. Nun weigerte sich der engagierte deutsche Chor, französisch zu singen, und war nur durch Geschenke zu stimulieren. 181

Aus Berlin hatte Meyerbeer eine weitere beunruhigende Nachricht erreicht, wie aus seinem Brief vom 4. Mai 1832 an Minna hervorgeht: »Michael schickt mir einen Aufsatz von Berlin in der Leipziger allgemeinen musikalischen Zeitung worin man mit der größten Bitterkeit und Schärfe rügt daß ich so lange mit der Oper gefackelt habe, daß es Verachtung gegenüber dem König ist die Partitur so spät zu schicken, fürchterlich auf das Buch loszieht welches aller Sittlichkeit und Religion Hohn spricht, daß man von meiner Musik freilich noch nicht uriheilen könne allein daß die einzelnen Stücke die man in Konzerten gespielt habe gar nicht angesprochen hätten. — Es stehet den Leuten gut an die mich Jahrelang mit Füßen getreten haben darüber zu zürnen daß ich mich nicht auf den ersten Ruf zu ihren Füßen schmiege ...« Obwohl Meyerbeer sah, daß die mangelhaften Vorbereitungen der »Robert« -Aufführung in London eine künstlerisch reife Produktion ausschlossen, war er bereit, noch vor der Premiere abzureisen, um rechtzeitig in Berlin zur Stelle zu sein, damit man hier gegen ihn nicht wieder neue Argumente habe. Voller Skrupel verließ er London. An Minna schrieb er: »... ich reise... ab, und zwar Freitag d 25t denn eher geht kein Dampfboot nach Hamburg ab ... Welchen unsäglichen Schaden ich mir thue von hier fortzugehen und meine Oper die jetzt in den vollen Proben ist sich selbst zu überlassen kannst Du Dir nicht denken. Jede Möglichkeit eines Succes ist mir dadurch abgeschnitten, denn nie wird dieses materielle unordentliche Theater dieses komplicirte Werk ohne mich ordentlich zustande bringen ... Außerdem ist auch die Gegenwart eines Komponisten als Dirigenten wahrhaft electrisirend für ein englisches Publikum. Dahingegen entmuthiget sie alle meine Abreise, und sie haben mir selbst gesagt daß sie daran verzweifeln glänzenden Succes ohne mich zu erlangen. Also hier verliehre ich sichersten Succes um in Berlin Unannehmlichkeiten Richess, und zuletzt doch keinen Succes und schlechte Rezensionen zu erlangen. Indeß thue ich es doch um wenigstens mir selbst in der Zukunft keine Vorwürfe zu machen zu haben, und wenigsten's vor mir selber gerechtfertiget zu sein. Wie viel Schaden hat es mir schon in meinem Leben gethan gerade in dieser Stadt gebohren zu sein« (21. Mai 1832). Gerade ein Erfolg in London war für Meyerbeer wichtig, da sich seine (die authentische) Interpretation des »Robert« gegen zwei verballhornte Bearbeitungen seines Werkes, die im Drury Lane und in Covent Garden liefen, durchsetzen mußte. Es wurde ein Erfolg, dank seinen Pariser Interpreten und deren gründlicher Vorbereitung. Am 31. Mai traf Meyerbeer in Berlin ein; ab Sonntag, dem 3. Juni, war er, wie üblich, an den Proben intensiv beteiligt. Redern hatte den 20. Juni als Tag der Premiere bestimmt; »... die Aufgabe war also in 18 Tagen zu Stande zu bringen wozu wir in Paris 4 Monate Zeit gehabt hatten. So unglaublich es scheint so habe ich doch diese Riesen Arbeit zu Stande gebracht, und auch außerdem noch ein neues Tanzstück für die Taglioni komponirt. Ich war aber auch à la lettre [buchstäblich] jeden Tag von 6 Uhr Morgen's bis 1 o Uhr 182

Abend's im Opernhause, und ofte hatte ich q. bis 6 Proben an einem Tage. Kam ich dann zu Hause meine Einzige dann fiel ich aber auch wie ein Sack schlafen hin bis die neue Probe anging ... Trotz aller meiner herkulischen Anstrengungen aber wäre die gegebene Zeit viel zu kurz gewesen, wäre ich nicht durch einen guten Willen Eifer und Fleiß der Sanger, Chöre, Orchester und des ganzen Theaterpersonal's unterstützt worden den ich würklich nicht genug rühmen kann ... Auch der König, der Kronprinz und alle Prinze bei Hofe haben sich sehr liebenswürdig benommen, und in den Proben sowohl als auch in der Vorstellung mir die feinsten und schmeichelhaftesten Dinge vor allen Leuten gesagt. Das Publikum aber hat mich so schnöde behandelt wie früher ... ward die Oper mit einer solchen Lauheit aufgenommen daß sich Akte lang kein Applaudissement hören ließ ... Kurz nach der gestrigen Vorstellung könnten wir eigentlich sagen Fiasco gemacht zu haben« (22. Juni an Minna) . Am gleichen Tage erschien in der »Vossischen Zeitung« Ludwig Rellstabs Rezension. Meyerbeer mußte seinen Brüdern, die die Zeitung vor ihm verbargen, das Versprechen abgeben, sie nie zu lesen. Rellstab schrieb: »... Wir haben es mit dem Werke eines Landsmannes zu tun, das wir gern so hoch stellen möchten, als irgend möglich; allein selbst wenn sich der Kritiker von dem Geschäft des Richters entbinden, und als Sachwalter auftreten wollte, so würde er wenig Boden für seine Vertheidigung gewinnen. Es liegt in unserer Art, bei jeder dramatisch-musikalischen Produktion zuerst zu fragen, in wiefern das Gedicht dazu geeignet ist, und ob es einen denkenden Musiker dazu bestimmen konnte, so viel Zeit und Kräfte ... daran zu wenden. Hier würde unser Urtheil durchaus ungünstig ausfallen ... Dramatischer Zusammenhang findet sich nirgend; wir haben nur eine Reihenfolge historisch möglicher Ereignisse vor uns, die aber auch nicht die mindeste Nothwendigkeit in sich tragen ... das, was man Composition nennet, wahrnehmen zu lassen ... Ungerecht würden wir seyn, wenn wir nicht zugeben wollten, daß in der ganzen Masse edle Körner eingesprengt sind, daß manches Einzelne gelungen, anziehend, wirkungsvoll ist.« Kein Wunder, daß Michael und Wilhelm Beer ihrem Bruder diese Zeilen, in denen das Gift tröpfchenweise verteilt wurde, vorenthielten. Nach Rellstabs Meinung war Meyerbeer ein komponierender Dummkopf, dem die Hohlheit des Scribeschen Librettos entgangen ist. Viel rüder, aber offener, zog ein Anonymus in der »Allgemeinen musikalischen Zeitung« zu Felde: »Glaubt er [Meyerbeer], dass etwas noch kunstschön seyn könne, was in dem Zuschauer Widerwillen, Ekel, Indignation erregt? Glaubt er, dass ein wollüstiger Kitzel, welchen aus ihren Gräbern erweckte halbnackte Nonnen in bacchantischem Taumel und mit lascivischen Stellungen erregen sollen, dass geschändete Leichensteine und entweihte Klostermauern noch innerhalb der Grenzen des Schönen liegen??... Hr. M. Beer [hat es] nicht gewagt, eine Ouverture zu schreiben, dieses erste 183

Requisit einer jeden grossen Oper, sondern er hat eine nichtssagende Introduction gegeben, welche keineswegs geeignet ist, das Ganze vorzubereiten . . Der Melodie, diesem Silberfaden, ... hat Hr. M. Beer schon längst entsagt und vergeblich haben wir auch in dieser Oper nach einer einzigen Piece gesucht, welche aus der Quelle des Gefühls entspringend melodisch dahinströmte und so auch wieder den Weg zum Gefühle fände, dem Gedächtniss einen wohlthuenden Eindruck hinterliesse ... Es wimmelt von Reminiscenzen aus Rossini, Boieldieu, Auber, Spontini u. a. m. und Hrn. M. Beer gebührt nur das Verdienst: Alles was er je gelernt und gehört hat auf die verkehrteste und unzusammenhängendste Weise, ohne künstlerische Übersicht und Klarheit, zu einem grotesken Panorama vereinigt zu haben ... Ein wahrhaft gediegener Künstler wählt sich keinen solchen Stoff... ein wahrhafter Künstler zieht nicht sein Orchester und seine Darsteller in den Strudel von Tollhäuserey und Faseley herab; ein Sitten- und Anstand-liebender Mann schreibt seiner deutschen Vaterstadt einen besseren Empfehlungsbrief als ein solches Pasquill alles guten Geschmacks; ein bescheidener Mann endlich fordert nicht, dass ein achtbares Publikum über fünf Stunden lang auf der Drehmaschine seines musikalischen Bedlams [Tollhaus] herumgetrillt werde ... « Solcherart waren die Töne aus der Heimat. Der Schwarzseher Meyerbeer hatte in London richtig geunkt: »keinen Succes und schlechte Rezensionen«. Trotzdem wuchs der Zulauf des Publikums. Als Auszeichnung durch den preußischen Hof wurde Meyerbeer am i 1. Oktober 1832 zum »Preußischen Hofkapellmeister« ernannt, »zum Beweise Unserer Gnade und Unserer Anerkennung seiner musikalischen Leistungen«, wie es in der Urkunde hieß. Darauf war die Familie Beer natürlich stolz. Zum ersten Male wurde die künstlerische Leistung eines Mitgliedes einer seit langem ansässigen jüdischen Familie derart geehrt. Michael Beer schrieb dem so dekorierten Bruder am 15. September 1832: »Wir sind hier alle sehr begierig auf das Cabinets Schreiben das wir in Deinen Händen vermuthen. Da es ... die ungeheure Länge von 14 Zeilen haben soll so ist es freylich viel Dir die ungeheure Mühe des Abschreibens zuzumuthen ...« Am 20. Dezember 1832 befand sich Meyerbeer bei seiner kranken Frau in Frankfurt am Main. An diesem Tage, vier Tage vor dem Weihnachtsfest, setzte er sich plötzlich in die Reisekutsche und fuhr über Mannheim und Karlsruhe nach Baden-Baden, aber nicht etwa zur Kur, schon gar nicht kurz vor Weihnachten. Wollte er etwa ungestört an der Partitur einer neuen Oper arbeiten? Nichts von alledem. Er floh, weil Karl Wilhelm Guhr, der Direktor der Frankfurter Museumskonzerte, eine konzertante Aufführung des »Robert« plante. Zwar hatte Meyerbeer ihm das Werk wegen der »Tempi & sonstiger Details« vorgespielt, allein er hatte von dem Unternehmen abgeraten. Oper konzertant — das war dem Theatermann Meyerbeer verdächtig. »Weil ich fürchtete, es würde schlimm ausfallen, so ging ich auf 1 o Tage 184

nach Baden-Baden« (Tagebuch, Dezember 1832). Dort saß er nun, schaute auf den unaufhörlichen Regen und wartete angstvoll auf Nachrichten aus Frankfurt. Schon am 21. packte ihn die Reue: »So eben komme ich von einem Spatziergange unter den (übrigens sehr ruppigen) Weihnachtsbuden zurück, und bin wüthend über mich und meine Ungeschicklichkeit wenn ich sehe, wie Jedermann, Arm oder Reich, Jung oder alt Bescheerungen für die Seinigen einkauft, Dir meine Heißgeliebte ohne das mindeste Zeichen meiner Erinnerung der allen übrigen Festbringende Tag vorübergehen wird ...« (an Minna). Er verwünscht Guhr, der ihn gewissermaßen vertrieben hat und der zu allem Überfluß seinen Namen als Meyer Beer ankündigte, was ihn sehr ärgerte. Dann aber schrieben ihm übereinstimmend Wilhelm Ehlers und Minna, daß die Aufführung Erfolg hatte. Nun mußte Meyerbeer einen taktischen Rückzug antreten. Minna erhielt dazu folgende Instruktion: »... Ich dächte nun Du sagtest allen Leuten die Du siehst folgendes: >Mein Mann schreibt mir daß es äußerst schwer hält ein recht gutes mit Winter Erfordernissen versehenes Quartier in Baden zu finden, indem die dort überwinternden vielen französischen und englischen Familien fast alles gute in Beschlag genommen haben. Indeß hofft er ein gutes Quartier von einer englischen Familie übernehmen zu können welche nach Stuttgard ziehen will. Da diese indeß wahrscheinlich erst Ende Januar's Baden verlassen wird, so wird mein Mann jetzt wieder zurückkommen um bis dahin hier bei mir zu bleiben.< Das erzähle hauptsächlich Ewald so weiß es gleich die halbe Stadt ...« (3o. Dezember an Minna). Das ist typisch für Meyerbeer: Lieber erfindet er Geschichten, als daß er den Kopf für eine Sache hinhält, die er nicht verantworten kann und die womöglich ein Mißerfolg wird. Das will er auf keinen Fall. Und er sehnt sich nach Ruhe und Geborgenheit bei seiner Lilie, der er zu Silvester 1832 schrieb: »Sollten sie [die Kritiken aus Frankfurt] aber glimpflich sein, ... so reise ich morgen noch bis Karlsruh und bin wenn die Wege nicht gar so schlecht sind (welches freilich sehr der Fall ist) Mittewoche Abend's bei Dir wo ich Deine Gastfreundschaft in Anspruch nehme, und dehmüthig um ein ganz kleines Plätzchen in Deinem Bettchen bitte meine schneeweiße Taube.« Trotz der herben Berliner Kritiken wuchs das Ansehen des Werkes. Mitte Januar 1833 wurde eine neue Alice einstudiert: Maschinka Schneider übernahm die Rolle und stand dann mit Caroline Seidler (der Agathe der »Freischütz«-Uraufführung), Heinrich Blume (dem Kaspar von 1821) und Karl Bader auf der Bühne. Heinrich Beer hatte bei der Besetzung seine Hände im Spiel mit dem Ergebnis: »Es wird von Wilhelms Seite gewiß fürchterlich über mich resonirt werden, weil ich zur Ehre der Oper daran Schuld bin, daß Fanny Elsler nicht die Äbtissin macht; Du wirst vielleicht im ersten Augenblick auch böse über mich seyn, aber ich konnte mit gutem Gewissen meine Zustimmung dazu nicht geben, da diese Scene ohnhin der Anstoß der Oper ist, wenn sie nicht ganz decent gespielt wird, und Fanny hätte dies wie eine 185

Erz Hure gemacht ...« (15. Januar 1833 an Giacomo Meyerbeer). Woher kam dieses Bedenken bei Bruder Heinrich? Fürchtete er für die guten Sitten seiner Berliner, wenn Fanny Elßler, die gebürtige Wienerin, die 1832 nach Berlin kam und später in Paris, London und Amerika den Ruf als eine der ersten Charaktertänzerinnen erwarb, wenn sie also ihr leidenschaftliches Temperament einsetzte und die verführerische Hélène zu realistisch tanzen sollte? Meyerbeer hatte solche Skrupel nicht. Die Deutlichkeit alles Gezeigten gehörte zu seinem künstlerischen Konzept. Was sollten derartige Rücksichten, wo es doch in der Pariser Gesellschaft noch viel drastischer zuging? Amalia konnte ihrem Sohn über die Aufführung vom 25. Februar 1833 berichten: »Triumph, Triumph, Triumph Theurer geliebter Giacomo! ...« Die Neubesetzung hatte sich gelohnt. Doch ein paar Monate später beklagte sich der Komponist: »... Dagegenhin giebt Wilhelm seinen großen Verdruß zu erkennen, daß Graf Redern sein feierliches Versprechen ... eine Orgel zur Reprise von Robert anzuschaffen ... gebrochen ... hat ... Nie wird mir doch von Berlin etwas ander's als Unbill Gift und Galle gereicht ...« (g. Juli an Minna). Daß die preußische Hofoper so schnöde mit seinem Werk verfuhr, erbitterte Meyerbeer. Denn von der Ersten Bühne konnte er doch verlangen, daß sie sein Werk in der Originalgestalt, also auch mit Orgel, aufführte. Von den vielen kleinen Opernhäusern, die sich am »Robert« versuchten, waren solche Extras nicht zu erwarten. In der Provinz mußte das Werk sowieso mit allerhand Eingriffen rechnen: »>Robert< soll in der JosephsStadt in Wien auf das grausamste verstümmelt worden sein. Der '/2 Stunde dauernde 3te Akt ist unter anderm so furchtbar zusammen geschnitten worden, daß er mit dem fiten zusammengezogen werden mußte um einen Akt zu bilden, u. s. w. Trotz dessen versichert Wilhelm von vielen Seiten gehört und gelesen zu haben, daß die Oper in Wien würklich Furor macht. Dies ist mir sehr angenehm ...« (g. Juli an Minna). Die Partitur wurde behandelt wie alle anderen: Waren die Partien zu hoch, transponierte man in eine für den betreffenden Sänger angenehme Lage; Striche gehörten immer dazu; Veränderungen aller Art waren Theateralltag. Daß das Stück trotzdem so erfolgreich war, lag sicher auch an der Robustheit der Musik, deren Schwung auf die Dauer selbst der temperamentloseste Kapellmeister nicht bremsen konnte. Von der Beliebtheit der Oper sprachen auch die unzähligen Arrangements, die den Ruhm des Werkes zusätzlich in Salons und Stuben trugen. Chopin, Liszt, Henri Herz, Carl Czerny, Adolphe Adam, Sigismund Thalberg, Johann Strauß Vater waren unter den vielen, die Bearbeitungen, Phantasien, Variationen, »Reminiscenzen« anfertigten und gut verkauften. Märsche, Ensembles, Arien wurden für jede nur denkbare Besetzung arrangiert. Fortan konnte keine Kur- oder Militärkapelle auf eine Pièce aus Meyerbeers »Robert« verzichten, ein Erfolg, den sich Mozart für seine Opern immer gewünscht hatte. 186

Kapitel VI Paris • »Les Huguenots« 1832-1836

Direktor Véron drängte seine Erfolgsautoren, den Ruhm der Académie, den seinen und den ihren durch ein neues Werk zu mehren. »Le Portefaix«, die komische Oper in drei Akten, deren Buch Scribe Hérold hatte wegnehmen müssen, war dem Direktor zu kurz, und Scribe konnte sie nicht auf fünf Akte strecken, ohne sie zu verderben. Er schlug Meyerbeer, der Paris wegen der im Sommer 1832 grassierenden Cholera mied und sich in Ems und Schwalbach erholte, einen anderen Stoff vor: »Le bachelier de Salamanque« (Der Student von Salamanca). Auch ist, in seinem Brief vom 7. Juli 1832 an »Monsieur Mayer-Beer en Europe«, das erste Mal von den »Huguenots« die Rede. Zur sechsundvierzigsten Vorstellung des »Robert« am 17. September hörte Meyerbeer eine eben engagierte neue Alice: Marie Cornélie Falcon, eine gerade zwanzigjährige Sängerin, deren Stimme ihn sofort in ihren Bann schlug. »Das Haus war so gedrängt voll wie es nur immer sein konnte«, schrieb der Komponist am 18. September an seine Frau, »8700 Franken (ohne das Abbonement) und viele Leute konnten keine Plätze finden. Die Vorstellung war... so frisch ... wie in den ersten Vorstellungen des Werkes, keine Spur von Abgespielt sein. Über die Falcon wage ich noch kein decidirtes Urtheil zu fällen, ... allein das erkennt sich doch daß sie eine starke und schöne Stimme hat, auch nicht ohne Geläufigkeit ist, dabei auch eine lebendige ausdrucksvolle (aber etwas chargirte) Schauspielerin ist. Leider ist ihre Intonation nicht ganz rein, ... (ich) werde ihr in jedem Fall eine Hauptrolle in meiner neuen Oper schreiben.« Daß ein neues Werk in Angriff genommen werden mußte, war klar. Die Beliebtheit seiner Musik war bereits Gegenstand des Vaudevilles, der volkstümlichen theatralischen Gattung in Paris, die auf die hervorstechenden Ereignisse so rasch reagierte wie später Offenbachs Operetten. Voller Stolz konnte Meyerbeer im gleichen Brief Minna berichten, daß die Hauptactrice eine niedliche Romanze singen sollte, von Rossini oder Meyerbeer. Und jemand sagte dort, daß man, um diese Musik gut singen zu können, ein empfindsames Herz haben müsse. »Siehst Du Lilie! Da Du nun nicht meine Musik singst, so folgt daraus daß Du kein coeur sensible hast, und trotzdessen 187

bete ich Dich so sehr an, und bin so verliebt, daß ich jeden Abend seufzend ins Bett steige wenn ich denke, daß ich Dir keinen Gute Nacht-Kuß geben kann.« Am 20. September brachte Scribe den Entwurf eines neuen Librettos für eine fünfaktige Oper. Die Zeit der Unentschlossenheit war vorüber, denn nach der Berliner »Robert« -Premiere hatte Meyerbeer mehr oder weniger lustlos in Textbüchern geblättert, von denen ihm keines zusagte. Vor allem war ihm die Anregung durch die Stimme von Marie Falcon wichtig. Dem »Robert« war er um diese Zeit schon so weit entrückt, daß er monatelang die Korrekturabzüge gar nicht ansah und seinen Verleger Schlesinger in die größte Verlegenheit brachte: »Sie haben die letzten Correctur Platten der Partitur des >Robert< in den ersten Tagen des April erhalten ... Ende April reißten Sie ab nahmen alles mit und als ich Anfangs Juny nach Berlin kam fand ich die Partitur in demselben Zustand als Sie dieselbe von Paris mitgenommen ... Von allen Seiten mit Briefen bestürmt, von den Theater-Directoren, der Nachlässigkeit angeklagt, und mit Vorwürfen überhäuft ...«, sah sich Schlesinger zu dringlichen Appellen an den säumigen Autor veranlaßt. Nach den ersten Vorbesprechungen, an denen neben Véron auch wieder Duponchel als zukünftiger Regisseur teilnahm, schuf Scribe in harter, konzentrierter Arbeit die Vorlage für eine neue Oper: »Léonore ou La SaintBarthélemy«. Am 28. September berichtete Meyerbeer seiner Frau über die aktuelle Lage: »Scribe aber will sich nicht eher als bis zum 16' October verpflichten 2 Akte zu liefern, indem er jetzt noch ein sehr großes Stück für's Gymnase [ein Pariser Sprechtheater] fertig machen muß. Verron hat mir zwar versprochen ihn heute Abend tüchtig zu bearbeiten in mein Verlangen zu willigen, indeß wäre es doch möglich daß er es verweigerte.« — »Scribe arbeitet bereits an dem ersten Akt meiner Oper, aber der Traité [Vertrag] ist noch nicht gemacht. — Verron hat gebeten ihn die letzten Tage vor der ersten Aufführung der neuen Oper >le serment< von Scribe und Auber ganz dem Werk widmen zu lassen. Es convenirte mir natürlich nicht auf die Vollziehung des Traité zu dringen, sonst würde dieser capricieuse Mensch gewiß keine der Forderungen unterschrieben haben, die ich doch verlangen muß wenn ich mit einem Kerl seinesgleichen sicher gehen will. >Le serment< ist nun endlich vorgestern gegeben und hat gar nichts gemacht. Alle Welt schimpft über die Nichtigkeit des Poem's, über die Seichtheit der Musik ...« (3. Oktober). Dieses Feilschen um Tage paßt eigentlich überhaupt nicht zu der Selbstverständlichkeit, mit der Meyerbeer Jahre an einer Partitur saß. Er nahm für sich Rechte in Anspruch, die er Scribe nicht zubilligte. Im Konkurrenzdenken jener Zeit war es ihm wohl wichtig, die Idee zu einem neuen Stück erst einmal vertraglich und schriftlich in der Tasche zu haben, bevor er sich in aller Bedächtigkeit an die kompositorische Arbeit machte. Nach dem am i. Oktober 1832 ausgefertigten Vertrag sollte Scribe das Textbuch bis Ende November vorlegen und ein Honorar von 5000 Francs erhalten. 188

Bei Nichterfüllung der Bedingungen drohten ihm 30 00o Francs Konventionalstrafe, die gleiche Summe hätte auch der Komponist zu zahlen, falls er bei der Lieferung der Partitur bis zum 15. Dezember 1833 säumig wäre. Dieser Vertragsabschnitt sollte Véron später zum Verhängnis werden. Die Unterzeichnung des Vertrages zog sich noch bis zum 30. Oktober hin, da die Kontrahenten, die sich wie zwei gewiefte Geschäftsleute gegenseitig übervorteilen wollten, um jedes Wort im Text rangen: »... Es grauet Verron so wie mir vor dem Augenblick wo zwei Leute die sich nicht trauen und nicht lieben, und doch sich gegenseitig nöthig sind wie ich ihm und er mir ihre gegenseitige Sicherheitsmaßregeln sich vorschlagen sollen ...« (1o. Oktober an Minna). Voller Elan ging der Komponist an die Vorbereitungen für das neue Werk. Von seinem Freund, dem Musikforscher Fétis, ließ er sich »wegen alter französischer Musik« beraten, studierte den »Hugenotten-Psalter« von Clément Marot und schrieb seiner Frau am 1. Oktober 1832: »Ich muß zu meiner neuen Oper eine Menge historisch-musikalischer Studien machen. Hier habe ich nicht die Zeit, die Nachforschungen zu halten, in Italien fände ich diese Bücher und Manuskripte nicht, ich muß sie also hier kaufen und mitnehmen ...« (wegen Minnas Leiden hatten die Ärzte einen Italien-Aufenthalt dringlich empfohlen, so daß Meyerbeer weiträumig planen mußte; er wollte ja den Termin des Vertrages halten). Erstmals wandten sich Scribe und Meyerbeer einem historisch konkreten Stoff zu, den Ereignissen um die Bartholomäus-Nacht vom 24. August 1572, einem dunklen Kapitel der französischen Geschichte. Anläßlich der Vermählung des Prinzen Heinrich von Navarra mit der Prinzessin Marguerite von Valois, der Schwester des regierenden Karls IX., wurden etwa fünftausend hugenottische Gäste ermordet, als Ergebnis eines aus machtpolitischen Gründen geführten Glaubenskrieges zwischen den Katholiken unter Führung des Herzogs von Guise und den Hugenotten unter Admiral Coligny. Scribe hatte im ersten Entwurf eine tragische Liebesgeschichte zwischen der Katholikin Leonore und einem hugenottischen Edelmann vor dem Hintergrund der geschichtlichen Vorgänge vorgelegt, die genügend Raum für die Entfaltung großer Tableaus bot und den Komponisten zum gründlichen Studium der »Couleur locale« anhielt. Dieser von Victor Hugo im Vorwort zu seinem »Cromwell« (1817) geprägte Begriff wurde das Zauberwort für historische Darstellungen auf der Bühne, die der Zuschauer als eine Art imaginärer Zeitgenosse miterleben sollte. Meyerbeer studierte die französische polyphone Kunst jener Zeit in den Werken von Guillaume Costeley, Claude Le Jeune, Jacques Mauduit und Jacques Arcadelt. Er ging die Sache »wissenschaftlich« an und befragte die Quellen. Auf einer leeren Seite des Originallibrettos notierte er: »Die ältesten französischen Nationalgesänge sind >les chansons de gestessind Sie schon lange hier?< erst erkenne ich sie nicht, dann scheint es mir daß es Mariane Saling sei, und mit der Intimität die ich mir bei einer so langjährigen Bekannten wohl erlauben durfte, erwidre ich >oho, sind Sie auch hier?< Doch Kinder und Bedienten die der Fragerin folgen und ein näheres Ansehen überzeugen mich daß ich irrte, und mich durchzuckt eine Ahnung daß es Prinzeß Wilhelm [Auguste von Sachsen-Weimar, mit Prinz Wilhelm verheiratet] sei, und dem war auch so. Sie unterhielt sich lange und sehr freundlich mit mir ... Um nun meine Unartigkeit wieder einigermaaßen gut zu machen nehme ich mir vor von heute an jeden Mann der einen Schnurrbart trägt zu 196

grüßen, weil der Prinz als General doch wahrscheinlich einen trägt. Sonderbarer Weise ist der erste Schnurrbartsträger den ich grüße würklich der Prinz, ... Ist das nicht eine rührende Geschichte für eine Royalistin Deines Gleichen?« (22. Juli an Minna). Post aus Paris zerstörte die Idylle: »Denke Dir daß ich gestern Abend ... endlich Brief erhalten habe. Verron schlägt es auf das bestimmteste und wie er sagt so brutal ab, daß er für seine Person durchaus nicht mehr mit ihm davon reden kann und auch zweifelt daß ich es durchsetze ...« (2o. August an Minna). »Es« — das ist die Verschiebung des Abgabetermins für die Partitur. Schlesinger beschwor Meyerbeer, doch wenigstens auf einen Tag nach Paris zu kommen, um mit Véron zu reden, der einen neuen durchschlagenden Erfolg brauchte. Seit dem »Robert« waren einige Stücke von Scribe / Auber und andern uraufgeführt worden, doch keiner der neuen Helden konnte sich mit dem Teufelssohn messen. Véron trieb der Übermut, den säumigen Komponisten aufzuschrecken: Er schickte Halévy zu Schlesinger, der sollte Meyerbeer auffordern, das Libretto von Scribe (vermutlich »Le Portefaix«) an Halévy zu übergeben. Véron hatte sich vorher bei seinem Chefkorrepetitor versichert, in welcher Zeit er die Oper schreiben könne. Schlesinger war indessen gewitzt genug, sich diesen Wunsch vom Operndirektor schriftlich geben zu lassen, und Véron war gewitzt genug, das abzulehnen. Was er wollte, war Druck auf Meyerbeer ausüben, den nichts so sehr aus der Reserve lockte wie eine Erfolgsaussicht der Konkurrenz. Ende August entschloß er sich, mit dem lästigen Direktor zu reden. Scribe wurde gebeten, »Verändrungen im Terzett des 2t Aktes und die Entrée des Pagen im Final« (Tagebuch) vorzunehmen. Die Begegnung mit Véron war, wie es Meyerbeer vorausgesehen hatte, höchst unerfreulich: »Theures angebethetes Weib! Ich kann meinen Geburtstag nicht besser feiern, als gleich bei dessen Anbeginn mich mit Dir zu unterhalten meine süße Lilie. Dein liebliches Bild will ich besonders heute recht fest halten um meine Melancholie zu bannen, denn das soll man an seinem Geburtstage nicht. Und doch kann ich nicht läugnen sehr mißgestimmt zu sein. Verron hat sich hier so wie überall als ein brutaler nichtswürdiger Mensch bewiesen. Ich habe ihm wiederholt .. . daß die Gesundheits Umstände meiner Frau sich verschlimmert hätten, und der Befehl der Ärzte es ausdrücklich verlangte daß wir den Winter in Italien zubrächten. Es wäre mir daher unmöglich eher nach Paris mit meiner Oper zu kommen als bis zu Ende des Frühlings daß ich recht gut wüßte daß mir mein Traité ein Dédit von 3otausend Franken auferlegte die ich auch zahlen würde, daß ich mir aber nicht denken könnte daß seine Loyalität dieses unter solchen Umständen verlangen könnte um so mehr da ich meinerseits ihm vor 2 Jahren als er bei Gelegenheit ... seinen Traité mit mir verletzt hatte ihm dieselbe Amende von 3o t. Franken nicht abverlangt habe. Wolle er aber durchaus darauf bestehen so würde ich sie zahlen, allein er könne darauf rechnen daß er dann nie meine Partitur erhalten würde. Dir zu sagen welche 197

Masse von Schmeicheleien und elender kleinlicher Lügen er vorbrachte um mir die Amende abzuzwacken und doch auch meine Partitur zu behalten kann ich Dir nicht sagen. Wir haben zwei Entrevuen gehabt (deren Unannehmlichkeit Du Dir leicht denken kannst) und sind in der letzten ganz brouil irt von einander geschieden ...« (5. September 1833 an Minna). Meyerbeer beriet sich mit seinem Freund Armand Bertin, der die Verhältnisse an der Académie gut kannte, wie man diesem »Hundsvott« am besten begegnete. Véron forderte 20 000 F und die Partitur; Meyerbeer wollte lieber 30 00o F bezahlen und über die Partitur frei verfügen oder ihm das Werk gegen Rückzahlung der ganzen Summe aushändigen. Daß Meyerbeer sich erkühnen durfte, mit dem Theatergott zu verhandeln und zu feilschen, sagt viel über die außergewöhnliche Stellung aus, die er gegenüber Véron und in der Öffentlichkeit einnahm. Kein anderer Komponist hätte das gewagt. Doch die anderen hatten eben keinen »Robert« geschrieben, der zur dreiundachtzigsten Vorstellung 9700 F einbrachte! Véron wußte natürlich, daß Meyerbeer mit den großzügigen Möglichkeiten der Académie rechnete, als er an der Partitur schrieb. Nun verhandelte Meyerbeer hinter Vérons Rücken mit der Opéra-Comique, um überhaupt eine Aufführungschance in Paris zu haben. »Ich werde genöthiget sein mein schönes Werk diesem Sautheater zu geben ...«, klagte er am 27. September seiner Frau. Es kam wie befürchtet: Meyerbeer zahlte 30 00o F; ein Drittel davon ging an Scribe als Entschädigung für ausfallende Tantiemen. Mit der Partitur im Gepäck verließ der Komponist am i. Oktober Paris, um mit seiner Frau die Reise nach Italien anzutreten, die das Ehepaar über Basel, Lausanne und den Simplon nach Mailand führte. Das norditalienische Winterklima vertrug indessen die ganze Familie nicht: Vater, Mutter, Tochter und selbst das Kindermädchen lagen tagelang darnieder. Zudem kamen von Gouin und Schlesinger wenig ermutigende Nachrichten, aber die hundertste Vorstellung des »Robert« war laut Gouin immerhin ein großer Abend. Da erlebte Meyerbeer in Piacenza und Modena kurz hintereinander die Aufführungen einer neuen Oper: »An beiden Orten habe ich >Norma< gehört, und sie hat mich mächtig angesprochen. Ich wollte Du hättest sie mit mir gehört, so würdest Du mich nicht Schwarzseher schelten, wenn ich Dich versichere, daß ich zittre und bete bei dem Gedanken meine neue Oper dem unmittelbaren Vergleich mit dieser >Norma< vor dem pariser Publikum auszusetzen ...«, schrieb er voller böser Vorahnungen am 25. April 1834 seiner Frau. Was hatte den Maestro an dieser 1831 uraufgeführten Oper von Bellini derart aufgeschreckt? Es war — nach der Beobachtung von Heinz Becker — die »Guerra«-Szene, in der die druidische Priesterin Norma ihr Volk zum Kampf gegen die Römer aufrief. Hier hatte der sonst so elegische Bellini in einem furiosen Ensemble die hochdramatische Frauenstimme gegen den Chor gesetzt und im Orchester durch hämmernde Wiederholungen einen Fanatismo erzeugt, der Meyerbeer wohl zu überzeugen wußte. So ähnlich hatte er ja 198

auch den vierten Akt seiner »Léonore« geplant und sah sich nun um die schönsten Wirkungen gebracht. Denn es war ausgeschlossen, daß hier einer vom andern abschrieb; beide Komponisten waren unabhängig voneinander zu ähnlichen Lösungen gekommen, die sich in der großen Soloszene mit Chor inzwischen anboten. Meyerbeer vermehrte die Wirkung seiner Szene noch um die Piccoloflöten, die schon dem Sturmchor in Rossinis »Mosè« eine kräftigere Farbe gegeben hatten. Priorität her und hin — in Italien gab es immer wieder etwas zu lernen und zu entdecken. So schrieb Meyerbeer am 1. Mai 1834 an seine Frau: »... Die Ungher ist eine sehr große Künstlerin .. . Aber auch so wie sie ist würde ich unendlich viel geben sie in Paris als Valentine zu haben. Auch Duprez ... würde gewiß einen guten Raoul abgeben. Wie arm auch Italien ... an guten Sängern gegen ehemals sein mag, doch bleibt ihnen der unendliche Vorrang gegen alle übrigen Länder der Welt sans exeption, davon haben mich die wenigen Theater die ich bis jetzt gehört habe wieder überzeugt. Jeder Singekomponist muß von Zeit zu Zeit nach Italien gehen nicht der Kompositionen, sondern der Sänger wegen. Nur von großen Sängern lernt man sangbar und vortheilhaft für die Menschenstimme schreiben ...« In Modena, Bologna, Florenz und anderen Städten lernte er Sänger kennen, die ihm bald in Paris als wichtige Protagonisten helfen werden. Und er bekannte sich zum wiederholten Male zum Stimmideal des italienischen Belcanto, dem er sein Leben lang treu blieb. In Italien ging Meyerbeer nicht nur ins Theater, was für ihn selbstverständlich war, sondern arbeitete intensiv an der neuen Oper, insbesondere an der Rollengestaltung des Marcel. Er habe, so teilte er Scribe mit, die Rolle des Marcel für seine Bedürfnisse umgeschrieben auf italienisch, und Scribe möge sie nun ins Französische übertragen. Weshalb auf italienisch? Weil in Verona Meyerbeers alter Freund Gaetano Rossi saß und für gutes Geld, das er immer benötigte, dem Komponisten die geforderten Änderungen auf italienisch dichtete, denn er verstand das Französische nicht. Caro Giacomo trug die italienischen Verse in sein französisches Arbeitslibretto ein, setzte eine wörtliche Übertragung ins Französische dazu, die wohl Rossis Anteil an der Erarbeitung der Marcel-Szenen verschleiern sollte. Meyerbeer gab sich große Mühe zu erklären, die Veränderungen seien von ihm auf »Italiänisch« gemacht, selbst vor Minna hielt er daran fest. Sicher hatte er recht, wenn auch nicht im streng urheberrechtlichen Sinne. Die Ideen kamen zweifellos von ihm, von allein hätte Rossi wohl kaum eine so revolutionäre Neuerung in einer Figurengestaltung zustande gebracht. Marcel erhielt nun auch seine »Couleur locale«: den Luther-Choral »Ein feste Burg«. Meyerbeer nahm den historischen Anachronismus in Kauf, eines theatralischen Effekts wegen. Die Hugenotten haben nie Luthers Trutzlied gesungen. Aber der Domestik Marcel sollte zu einer religiös integren Leitfigur aufgebaut werden; was eignete sich besser als dieses bekannte Lied? Während alle die adligen Helden in seiner Oper mehr oder weniger windige Burschen sind, hat der Bürger 199

Meyerbeer für den Erzieher Marcel ein ganzes Arsenal bürgerlicher Tugenden wie Treue, Abstinenz, Frauenfeindlichkeit, Tapferkeit einschließlich Humorlosigkeit zur Hand. Der Choral unterstützt diese Haltung auf das beste: Unerbittlichkeit ist seine größte Stärke. Die Oper erhielt durch die Choralbearbeitung ein unverwechselbares musikalisches Gesicht. Gleichzeitig bedeutete die Intonation dieser Hymne ein Anknüpfen an die Traditionen der Revolutionsoper, in denen solche Gesänge stets appellativen Charakter trugen. Nur »erfand« Meyerbeer nicht etwas Neues, sondern versicherte sich auch hier eines weitverbreiteten Standards, der durch seine historische Dimension ein besonderes musikalisches und ideologisches Gewicht besaß. Meyerbeer hat den Choral fast ausschließlich im strengen Kirchenstil genutzt, d. h. nicht als Thema motivisch verarbeitet wie etwa Mendelssohn in der »Reformationssinfonie«. Selbst in einer so dramatischen Szene, in der eingeschlossene hugenottische Frauen und Kinder von einem katholischen Mordkommando erschossen werden, selbst da erklingt nur der Choral, verloren als Melodie über einer acht Takte lang ausgehaltenen Terz, und wird brutal abgerissen (vgl. Notenbeispiel 3b S. 28). Zur Ouvertüre gab es zwei große Projekte: mit ausführlicher kontrapunktischer Verarbeitung der Choralmelodie das eine, aus dem schließlich eine Kurzfassung herausdestilliert wurde; ein zweites Projekt enthielt Marcels Vision in einer Orchesterfassung, ähnlich dem Jubelthema der Agathe in Webers »Freischütz«-Ouvertüre. Meyerbeer entschied sich für eine frappante Form. Die Ouvertüre ist als Choralvariation angelegt. Vorausgegangen waren Studien des Choralvorspiels »Ein feste Burg« (BWV 720), das sich Meyerbeer vom Verlag Breitkopf kommen ließ, und der Kantate gleichen Namens (BWV 88). Im Taschenkalender 1834 notierte Meyerbeer: »Johann Sebastian Bach's Cantate >Ein feste Burg ist unser Gott< für 4 Singstimmen mit Begleitung des Orchesters. Partitur — Leipzig bei Breitkopf & Härtel... Choral Kenntniß nebst Regeln und Beispielen zum richtigen Vortrag des Altargesanges etc etc von Wilhelm Schneider Leipzig bei Theodor Hennigs — Die musikalische Liturgie von Rohleder, Glogau 1831 — Graduel & Antiphonaire Parisien.« Zwei kurze Paukenschläge gehen dem Choralzitat voraus, welches, voll ausharmonisiert, in 4 -Takte-Phrasen zuerst den Klarinetten und Fagotten, dann den hohen Holzbläsern, den Trompeten und Hörnern und nochmals den hohen Holzbläsern zugeordnet ist. In beruhigender Ferne erklingt der Choral wie aus der Luther-Zeit. In der ersten Variation intonieren die Violinen eine Achtelfigur, die als Kontrapunkt zum Thema in der Art ihrer imitatorischen Verarbeitung dem Stil des frühen 18. Jahrhunderts entspricht. Die nächste Variation ahmt mit den in Sexten gesetzten Sechzehntelnoten der Violinen und den gezupften Bässen, die immer erst auf die zweite Zählzeit kommen, den Stil der italienischen Oper des späten 18. Jahrhunderts nach. Die dritte Variation wird von einem Marsch beherrscht, wie er etwa für die Napoleon-Zeit charakteristisch war. Dann schwillt durch eine sequen200

zierte Engführung des Kopfmotivs die Stretta zu einem gewaltigen Orchestertutti an. Das Luther-Thema trumpft drei Takte lang im harten Unisono auf. Die Schlußphrase des Chorals wird in einer chromatischen Bewegung gewaltsam nach oben gepreßt, bis zwei Akkordschläge die Ouvertüre abbrechen und attacca der Sprung in die Introduktion mit dem Chor der französischen Edelleute vollzogen wird. Der letzte Teil der Ouvertüre war modernste Musik von 1836.

Gleich einer Kamera, die über eine Totale schwenkt und nach einer Fahrt über ferne Objekte einen Gegenstand ganz aus der Nähe faßt, holt Meyerbeer die historische Tragödie der Pariser Blutnacht von 1572 über Standards der Musikgeschichte in seine Gegenwart und wirft die Leichen der Bartholomäusnacht seinen Zeitgenossen vor die Füße. G. Meyerbeer: »Les Huguenots«, Ouvertüre Poco aman/

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Der Komponist hatte klare Vorstellungen von der Funktion des Choralzitats: »Freilich wenn der Choral zur Opernarie gemacht würde, ... so wäre das wirklich ein Skandal. Allein wenn grade im Gegenteil dieser Choral als Gegensatz der weltlichen Musik stets streng und kirchlich behandelt ist, wenn er als Anklang aus einer besseren Welt, als Symbol des Glaubens u. Hoffens immer nur als Anrufung bei drohender Gefahr oder in den Momenten der höchsten Erhebung ertönt und sich in einzelnen Anklängen durch das Stück zieht, aber immer nur im Munde derjenigen Person (der Diener Marcel), welche als Repräsentant eines einfachen, aber unerschütterlichen frommen Glaubens, ja als Märtyrer gezeichnet ist, so ist, dünkt mich, eine solche Behandlung eher Heiligung als Entweihung eines Kirchengesangs zu nennen« (2o. Oktober 1837 an Gottfried Weber). Dies ist übrigens Meyerbeers einziger uns bekannter Kommentar zu seinem Werk und zu den vielen Angriffen gegen die Verwendung des »teuersten Liedes« aller »guten Protestanten« (Robert Schumann). Nicht nur die Choralweise hob Marcel von den übrigen Figuren ab. Für ihn fand Meyerbeer auch noch andere, ungewöhnliche musikalische Mittel, um seine Sonderstellung zu unterstreichen. Wie eine »antike Figur« (Zitat eines der Edelleute aus dem ersten Akt) bricht Marcel in die höfische Welt ein. (Die Begleitung mit dem Solo-Violoncello und dem Solo-Kontrabaß ist in Generalbaßmanier notiert; über den tiefsten Noten stehen Ziffern, die — wie im 18. Jahrhundert üblich — die Harmonietöne vorschreiben.) Wo in »Robert-le-Diable« ein einfältiger Spielmann über seine eigenen Worte erschrickt, da attackiert Marcel die katholischen Ritter mit seinem Kampflied von brennenden Klöstern und erschlagenen katholischen Mönchen, begleitet von Großer Trommel, Becken und Piccoloflöte, drei Geräuschinstrumenten, die zu militärischen Aktionen anfeuerten. Die fahlen Fagotte und Kontrabässe treten stützend hinzu. Kaspars Lied vom »ird'schen Jammertal« aus 202

dem »Freischütz« hatte hier anregend gewirkt; doch ist Marcel nur entfernt mit Kaspar verwandt. Während der Jägerbursche an den Teufel glaubt und von ihm geholt wird, kennt Marcel nur das Schwert und die Bibel. Angesichts des großen Opfers der Valentine beginnt er zu verstehen, daß es darüber hinaus noch andere Dinge gibt: Menschlichkeit, Opferbereitschaft nicht um eines Glaubensprinzips wegen, sondern um eines Menschen willen. Nur einmal signalisieren in seinem Lied die Blechbläser ein Kampfmotiv, welches sofort wieder durch Klarinetten und Fagotte abgedämpft, nach Moll abgebogen wird. Dunkle Instrumentalfarben herrschen vor, und wovon Marcel da singt, ist alles andere als friedlich, sondern die Aufforderung zur Vernichtung aller Katholiken. Da zeigt sich, daß hinter der Fassade eines Kampfes um die Religionen ganz handfeste politische Interessen standen. Als Bühnenfigur ist Marcel zwar ein Märtyrer, als Vertreter der Hugenotten aber ficht er mit gleichen Mitteln, nur daß er zur schwächeren Partei gehört. Meyerbeer, der eigentlich Kunst machen wollte statt Ideologie, hatte gleichwohl den Kern der Sache erkannt. Im gleichen Brief an Weber schrieb er: »Für die Katholiken ist in dem Stücke, wie es auch geschichtlich war, die ganze St. Barthelemy nur ein politisches Faktum!« (Am Schluß des Satzes stand bei Meyerbeer nur ein Punkt. Ich erlaube mir, angesichts der historischen Klarsicht des Komponisten, das Ausrufungszeichen zu setzen.) Die grundlegenden Änderungen an der Funktion der Marcel-Figur, die Heinz Becker ausführlich kommentiert hat, erzwangen weitreichende dramaturgische Konsequenzen für das ganze Werk. Meyerbeers Eingriffe verwandelten die »Große Oper« in eine »historische Große Oper«, was sich nicht zuletzt auch in der Umbenennung der »Léonore« in »Les Huguenots« widerspiegelte. Léonore /Valentine hat, bis auf die nachkomponierte Arie »Parmi les pleurs« aus dem vierten Akt, überhaupt keinen Soloauftritt. Das Schwergewicht verlagerte sich in die Tableaus. Meyerbeers Bemühungen waren darauf gerichtet, dem Publikum auf eine eindringliche, dabei opulente Weise spannungsvolles Musiktheater zu bieten, ihm die historischen Voraussetzungen durch eine totale Dramatisierung der szenischen Vorgänge plausibel zu machen. Dabei bietet die »historische Oper« keinen Nachhilfeunterricht im Fach Geschichte, sondern sie will durch eine emotional mitreißende Darstellungsweise das Publikum zum anteilnehmenden Miterleben veranlassen. Indem aber jeder einzelne am Schicksal der Helden Anteil nimmt, soll er gleichzeitig für seine Gegenwart aufgeschlossen werden. Ende August 1834 war immer noch nicht entschieden, wo die Oper aufgeführt werden würde. Meyerbeer sandte einen Stoßseufzer an Minna: »Ich wünschte fast, daß Verron Schwürigkeiten macht, denn lasse ich in Gottes Namen mein Werk in Vergessenheit ruhen und pflanze meinen Kohl bei Weib und Kind in Baden.« Minna wird gewußt haben, wie sie derartige Beteuerungen aufzufassen hatte. Ihr Mann verhandelte nämlich von Boulogne-sur-Mer aus über Gouin in Paris mit Véron, um ihm die 30 00o F 203

wieder abzufordern, und der Kohl in Baden war vergessen. Meyerbeer meinte, man könne sich einigen, aber dann erhielte er nur 20 00o zurück, denn »... Scribe will aus Pique oder Geitz die lot andern nicht geben und die Opera comique hat mir nun gestern geschrieben und nimmt mein Ehrenwort in Anspruch ihnen wenn Verron refusirt und sie die 3ot Fr. bezahlen das Werk zu geben. Leider sind ihre musikalischen Moyens äußerst schwach. Ich weiß gar nicht wie ich mich aus dieser Pantsche ziehen soll. Erzähle dieses aber niemandem und verbrenne meinen Brief ... >Robert< ist nämlich hier die Lieblingsoper: alle Leierkästen Tanzsäle, Piano's wiederholen davon, und das Theater macht nur mit >Robert< volle Häuser ... «, wußte der Komponist seiner Frau aus Boulogne zu berichten. Aber nicht nur Véron saß in der »Pantsche«, auch Meyerbeer sah sich in einen argen Zwiespalt gebracht, wenn er die beschränkten »Moyens«, die Mittel, der Opéra-Comique mit denen der Académie verglich. Zwar war Meyerbeer in Boulogne-sur-Mer vor dem unmittelbaren Zugriff seines Kontrahenten sicher, allein gegen die Presse in Paris war er machtlos. Um ihn unter Druck zu setzen, ließ Véron in »Le Temps« einige Artikel erscheinen, die den Kurgast sehr erschreckten. Monsieur le Directeur hatte richtig kalkuliert: Meyerbeer erschien sofort verhandlungsbereit in Paris. Am 29. September 1834 konnte ein neuer Vertrag abgeschlossen werden. Vier Artikel befassen sich mit den 30 000 F; in dem Moment, in dem Meyerbeer die Partitur Véron übergibt, erhält er sein Geld zurück, andernfalls verbleibt es dem Direktor. Neuer Abgabetermin war der 15. April 1835. Nun bestand endlich Gewißheit, daß »Léonore ou La Saint-Barthélemy« an der Académie aufgeführt werden konnte. Meyerbeer war froh darüber, enthob ihn doch diese Entscheidung der Verpflichtung, das Werk für die Opéra-Comique umzuarbeiten. Sein Herz schlug, trotz seiner Abneigung gegen Véron, für die Académie Royale de Musique! Der nächste Schritt war es nun, Scribe zu den notwendigen Änderungen zu bewegen. Doch der galante Eugène war weg! Niemand, auch nicht seine engsten Mitarbeiter, kannte seinen Aufenthaltsort. Versteckte er sich vor Meyerbeer, weil er die schwierige Puzzlearbeit scheute; war er, wie Meyerbeer vermutete, bei einer Dame, von der Scribes Frau nichts wissen sollte? Endlich tauchte der Dichter wieder auf und willigte ein, daß Emile Deschamps, ein französischer Schriftsteller und Bühnenautor, die Änderungen vornähme. Vom i. November bis zu Meyerbeers Abreise aus Paris am 25. Dezember gab es nicht weniger als sechsundzwanzig Sitzungen mit Deschamps, aber nur ein einziges Treffen mit Scribe, so daß man annehmen kann, daß die endgültige Librettoform in diesen zwei Monaten entstand. Noch am 22. Oktober klagte Meyerbeer seiner Frau: »Denke Dir, daß ich Risque laufe mehrere meiner besten Hauptstücke in Valentine ganz aufzuopfern oder zu zerstümmeln. Scribe auf der einen, Duponchel auf der andern Seite verlangen entsetzliche Veränderungen. Auf der andern Seite möchte ich doch auch nicht gern gänzlich Vorschläge 204

verwerfen welche zur großen Verbesserung des Stückes führen könnten.« Vielleicht konnte er mit dem einsichtigeren Deschamps mehrere seiner »besten Hauptstücke« wieder retten. Der war nicht begeistert von der zeitaufwendigen Flickarbeit, gingen ihm doch Einnahmen verloren, die ihm sonst zum Jahresende aus seinen Artikeln für Taschenbücher und Zeitschriften zuflossen. Er ärgerte sich über sich selbst, daß er sich überhaupt auf diese Sache eingelassen hatte. Andererseits war die Arbeit Ende November bereits so weit fortgeschritten, daß er sie nicht mehr aufgeben wollte. Meyerbeer wird ihn großzügig entschädigt haben. Außerdem komponierte er in den folgenden Jahren einige Lieder auf Texte von Deschamps und empfahl ihn als Übersetzer seiner Lieder mit deutschen Texten. Das brachte, bei der Beliebtheit mancher Romanzen, dem Nachdichter zusätzlichen Gewinn ein. Deschamps' Änderungen waren so überzeugend, daß Scribe sie in den separaten Textdruck des Librettos aufnahm, den er im Rahmen seiner »Œuvres complètes« [Gesamtwerk] veröffentlichte, und sie dadurch autorisierte. Die jedesmal Monate dauernde Trennung des Ehepaares Meyerbeer führte offenbar hin und wieder zu leichten Spannungen. Immerhin wurde Minna als vermögende Frau aus gutem Hause bei ihren langen Aufenthalten in Baden-Baden sehr bekannt; die Leute werden sich hinter vorgehaltener Hand gefragt haben, weshalb diese Dame so viel allein sei. Da sie jede Kleinigkeit nach Paris berichtete, mußte sie in einem Brief ihres Mohren am 6. Oktober lesen: »Nun schreibst Du mir von mehreren fremden jungen Leuten, von Männern die Du selbst als Fatz und Dandy de naissance et par gout [Dandy von Geburt und Neigung] charakterisierst, die Dich besuchen um das Kind kennenzulernen. Deine mütterliche Eitelkeit kann das vielleicht glauben, aber wenn junge Leute eine schöne junge Frau besuchen, so wird das Niemand ander's als die Eltern auf den Wunsch beziehen, ein 4jähriges Kind kennen zu lernen. Mich dünkt meine Einzige, während meiner Abwesenheit, ohne Alentour eines männlichen Verwandten, Deine Mutter nicht einmaal in derselben Etage mit Dir wohnend, ist es nicht gerathen daß Du Besuche ... von jungen Männern annimmst, ... Willst Du das Eifersucht nennen, so ist es nur Eifersucht auf den Glanz Deines Rufes der vor den Augen der Welt eben so hell strahlen soll wie in meiner Seele ... Was Alfred de Musset betrifft, der sich Dir präsentiren lassen will, so ist das ein bekannter Schriftsteller unter den Romantikern, und mir persönlich bekannt. Dieser letzten Ursache halber empfange ihn ein oder zweimaal denn er kann außerdem mir gefährlich sein. Breche aber mit aller Artigkeit die Bekanntschaft bald ab. Jemand der in seinen Schriften so alle Sittlichkeit verspottet wie er ist nicht würdig mit einem tugendhaften Weibe umzugehen. Außerdem ist er leider viel jünger und viel schöner als ich.« Zu den Problemen mit Véron und Scribe traten häusliche Sorgen, die er seiner offenbar arglosen Frau möglichst schonend beibringen wollte. Er sah, in seiner berühmten schwarzseherischen Art, alles wieder einmal viel zu klar. 205

Um aus der Affaire mit der Opéra-Comique glimpflich davonzukommen, entschloß er sich, »... ihnen einen kleinen Brief zu schreiben, worin ich ihnen eine Oper verspreche« (30. Oktober). Scribe war auch bereit, dafür ein neues Libretto vorzulegen, nachdem sich Meyerbeer endgültig vom »Portefaix« getrennt hatte, nur sollte die Sache Zeit bis nach dem 15. April 1835 haben. »Ich mußte nämlich nach einem Journalartikel aus dem Figaro glauben, daß einer meiner glänzendsten und unerwartesten Musikeffekte welcher dem Schluß des 4' Aktes einen ungeheuern Glanz verleihen wird, gänzlich sich in Halevy's neuer Oper befinden wird. Denke Dir meine Schwarzseherei. Ich hätte in diesem Fall Dein Lieblingsstück >laissez moi partir< und den ganzen Schluß des Aktes rein wegwerfen müssen. Auf der andern Seite mußte ich bei Verons Malice gegen mich fürchten daß fall's die Sache nicht wahr wäre er sie an Halevy soufflirte, daß er sie in seiner neuen Oper hineinthun sollte, um mir einen Schabernack anzuthun. Endlich nach langem hin und her überlegen habe ich mir ein Herz gefaßt und Veron ganz freimüthig die Sache entdeckt, und ihm anheimgestellt ob er den Effekt bei Halevy suprimiren [unterdrücken] lassen wollte fall's er sich auch darin befände oder nicht, habe ihn aber zugleich erklärt, daß ich unter keiner Bedingung auf den Effekt verzichten könne weil er aus der Wesenheit meines Stoffes hervorginge; und würde, was jetzt überraschen und furchtbar würken würde, dann effektlos und als Reminiscenz erscheinen. Er hat sich bei der Sache gegen meine Erwartung gut angenommen, ... Glücklicherweise fand sich bei näherer Untersuchung, daß fast alles sich anders verhielt als in dem Journalartikel angedeutet war, mithin mir die Virginité meines Effektes bleiben würde. — Nun lasse Dir noch einen Schwa[ben]Streich erzählen, der meiner reitzenden Lilie würdig gewesen wäre. In meinem Traité ist der 15te April als Ablieferungs -Termin der Partitur bestimmt. Vorgestern Nachts im Bette vor dem Einschlafen überlege ich was ich Dir angenehmes zu Deinem Geburtstage anbinden könnte, da fährt es mir mit einemmaale wie ein Stich durchs Herz, der Geburtstag ist d 281e April und ich muß den 15' in Paris sein; ... Die ganze Nacht machte ich mir Vorwürfe ... Heute früh hat mich die Sache aber so tormentirt [gequält] daß ich Veron um eine Unterredung bat, ... ein Supplementer Artikel zu machen worin die Ablieferungs's Periode um 20 Tage verschoben wird damit ich zu Deinem Geburtstag noch in Baden bei Dir bleiben könnte ... Der Artikel wird ... unterzeichnet ich nehme die Feder in die Hand ein gleiches zu thun: in demselben Augenblick fällt mir ein >mein Gott der Geburtstag ist ja den fiten nicht den 28ten

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In der Stretta wird der melodische Gestus buchstäblich zu Tode gehetzt. Das Tempo Allegro con moto (J • = i 26) ist der Bewegung des Themas, das seine Herkunft aus dem schwelgerischen Typus italienischer Kantilenen nicht verleugnet, völlig unangemessen. Aus der Spannung zwischen lyrischem Thema und überhetztem Tempo erhält die Stretta ihre bestürzende Größe. /w//egro con mob (J : Q')

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Auch die Stretta zerplatzt im Getöse der Glocken, deren Klang durch Hörner und Ophikleiden, jene alten, scharfen Blechblasinstrumente, die man heute durch die brummelnde Baß-Tuba ersetzt, erschreckend potenziert wird. Wie220

denim (statt einer Kadenz) bricht dieser Abschnitt mit einem grellen, verminderten Akkord im gesamten Orchester ab, der Valentine mit der ganzen Gewalt des Schreckens überfällt. Es gibt eine emotionale Steigerung zur Stretta hin, wenn sich die dramatische Situation immer mehr zuspitzt, parallel mit einer Ausweitung der unheilverheißenden Glockenklänge, dem Symbol des von außen kommenden Verhängnisses, das dem Paar immer weniger Raum zur Artikulation gibt, bis schließlich nur noch Schreie bleiben. Das Zwischenspiel zum fünften Akt greift das Stretta-Motiv und die Glockenklänge auf, die Raoul auf seinem Fluchtweg durch Paris begleiten. Beim Offnen des Vorhangs tanzt die hugenottische Festgesellschaft zu Ehren Henris und Marguerites ein Menuett, ein reichlich triviales Stück; Trivialität meint hier die Ahnungslosigkeit der Hugenotten. Der Tanz wird von fernen Glockenklängen unterbrochen; erstaunt halten die Tänzer inne, bis sie von Raoul über das Grauen der Bartholomäusnacht aufgeklärt werden. Meyerbeer hat versucht, durch die dreimaligen Glockenklänge, die St. Bris während der Verschwörung angekündigt hat, zweimal die gleiche Zeitebene in sein Werk einzukomponieren, indem er die Glocken sowohl im Entr'acte als auch im Ballett erklingen läßt. Was sich dann im fünften Akt ereignet, ist nach dem gewaltigen dramatischen Prozeß des vierten Akts nur noch ein Kaleidoskop entsetzlicher Bilder, ein Ergebnis dessen, was in der Verschwörung gefordert worden war. Der Akt gilt als dramatisch ungelöst, als schwach in seiner Dramaturgie, so daß Bearbeitungen späterer Zeit entweder ganz auf ihn verzichteten (Kapp, Deutsche Staatsoper 193 i) oder den Rotstift kräftig ansetzten. (Dabei entspricht dieser Akt genau der Dramaturgie der Großen Oper, die am Schluß die Katastrophe vorführt!) Durch die ganze Oper zieht sich ein Wachstumsprozeß ins Negative. Die Schärfe der Gegensätze nimmt immer mehr zu. Die streitenden Parteien lassen sich zunächst leicht, dann nur mit Mühe, am Schluß überhaupt nicht mehr auseinanderbringen. Die Lage ist von einzelnen nicht mehr beherrschbar, auch die katholischen Führer könnten das Blutbad nicht mehr aufhalten, selbst wenn sie wollten; die Hilf- und Sprachlosigkeit der Marguerite de Valois am Schluß der Oper ist ein Zeichen dafür. Die großen emotionalen Aufschwünge der ersten beiden Akte müssen einer zunehmenden Verhärtung, ja Brutalisierung der musikalischen Parameter weichen, welche im Chor der Mörder kulminiert. Die Melodie, wenn man diese Signale und das Pendeln zwischen Grundton und Quinte als »Melodie« bezeichnen kann, gleicht einem atemlosen Schreien beim Rennen; die Begleitung besteht aus dem Grundakkord in a-Moll und der Subdominante mit dem um einen Halbton erhöhten Grundton. Von Modulation im klassischen Sinne ist hier keine Spur. Das entscheidende Intervall in diesem Akkord ist a—dis, ein Tritonus, den es in den gewöhnlichen Dur- oder Moll-Tonleitern nicht gibt. 221

Harmonisch bedeutet dieses querstehende Intervall die größte Entfernung zwischen zwei Tonarten in dem von Meyerbeer verwendeten Dur-MollSystem. /Negro feroce

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9 Die Oper endet in einem brüllenden A-Dur-Akkord, der die Schreie der Opfer übertönen soll. Eine tragische Oper schließt ohne Verklärung. Valentine, Raoul und Marcel starben nicht als Helden im Kampf, sondern wurden von einem anonymen Mordkommando ohne viel Umstände erschossen wie die anderen, namenlosen Opfer dieser Nacht. Selten war ein Publikum so ohne Illusionen entlassen worden. Zum ersten Mal in der Geschichte des französischen Theaters wagten Meyerbeer und Scribe eine kritische Schau auf die Deformationen des Menschen, die mit der bürgerlichen Welt herauf222

gezogen waren, dargestellt am Massenmord und seiner bürokratischen Vorbereitung im vierten Akt. An dieser Szene zeigt sich, was »Sorgfalt« für Meyerbeer bedeutete. Die lange Entstehungszeit der Werke ist nicht etwa seiner Faulheit oder seiner Einfallslosigkeit geschuldet, sondern der minutiösen Kalkulation aller szenisch-musikalischen Details. Für Meyerbeer galt das Motto: erst Denken, dann Komponieren. Die Schwurszene ist ein Musterbeispiel für seine hohe Bühnenintelligenz, und Scribe hatte eine Vorlage geliefert, die die kompositorische Phantasie entsprechend anregte. Der entscheidende Träger der Emotionen ist die Musik — durch sie allein wird dem Zuhörer der dramatische Werdegang erlebbar gemacht, durch sie eine Hinwendung oder Ablehnung der handelnden Figuren und Motive vermittelt. Obwohl sich der theatralische Eindruck ohne die Musik nur schwer wiedergeben läßt, sei der Versuch einer Beschreibung unternommen. Die erste Frage St. Bris' an seine Offiziere und die Anführer der katholischen Bürgerwehren betrifft das Ganze (Übersetzung aller Texte von Bernd Böhmel): Vom Aufruhr, der uns droht, und von des Staates Feinden wollt auch ihr, so wie ich, unser Land schnell befrein? Der Chor ist dazu bereit. St. Bris' zweite Frage ist präziser: Die Feinde des Throns, des Staates und der Kirche wollt auch ihr, so wie ich, erschlagen mit dem Schwert? Auch diese deutlich deklamierte Frage, von wenigen markanten Motiven untersetzt, wird positiv beantwortet. Auf ein floskelhaftes »Eh bien« (Nun gut) wird über eine Modulation ein anderer Ton angeschlagen: Alles ist schon beschlossene Sache, man ist ja unter sich. St. Bris wollte sich nur vergewissern, daß alle dabei sind, wenn die Ketzer zur Hölle fahren. Allein der ritterliche Nevers fragt als einziger: »Wer hat sie verurteilt?« Die prompte Antwort ist: »Gott!« »Wer soll Vollstrecker sein?« Die Antwort: »Ihr!« Auf Nevers' erstaunte Frage: »Wir?« stimmt St. Bris statt einer Antwort eine überzeugende Hymne an: Die Ketzer müssen brennen, die uns vom Frieden trennen, die das Volk, die den König bedrohn! Nach den von kurzen musikalischen Gesten begleiteten Einleitungssätzen St. Bris' bekennt er seinen Willen und Glauben: 223

Ich will mein Blut, mein Leben für Gott und Frankreich geben .. . auf eine große ausschwingende Melodie, so recht zur Überredung durch mitreißenden Schwung geeignet, falls es noch Wankelmütige geben sollte. Auch Nevers und der Männerchor können guten Glaubens in diese Hymne einstimmen. Valentine und Raoul aus seinem Versteck kontrapunktieren mit ihren Gedanken die Hymne. Sie schafft eine gemeinsame Basis, so daß St. Bris fragen kann: »So kann der König euch vertraun?« Nevers' Schweigen fällt auf. Ganz ritterlich, will er jeden Feind in offener Schlacht bekämpfen, aber Mordbefehle des Königs weist er als unehrenhaft zurück. Er zerbricht seinen Degen. Valentine ist hingerissen von seinem Edelmut. Ihr Vater dagegen ruft die Wachen und läßt Nevers als Verräter verhaften. Der stimmt ganz allein noch einmal die Hymne an, deren Inhalt er ja zustimmen kann, aber keiner der anderen Offiziere folgt ihm. Nachdem nun der letzte Zweifler beseitigt ist, kann St. Bris die bisher geheimen Befehle ausgeben. Mit einem fahlen Gis in den Violen wird ein rhythmisch scharfer Streichersatz eingeleitet. Ein gleichmäßig punktierter Rhythmus in den Violoncelli bildet die »Melodie«, die Violinen schlagen immer auf der »schlechten«, unbetonten Taktzeit nach, nur zur Befehlswiederholung treten solistische Bläser hinzu. Unterbrochen wird dieser strophische Teil von einem Ritornell des Orchesters, das mit verminderten Dreiklängen und synkopierten Bläserakzenten wie das Rollen eines Tanks in der Straßenschlacht tönt, wenn man diesen Anachronismus einmal anwenden darf. Das Tempo der kurzen Erläuterungen wird immer hektischer und bleibt in der Begleitung vorrangig den Streichern vorbehalten. Wenn die Mönche auftreten, die die Mordwaffen segnen, wechselt die Instrumentalfarbe. Sie rufen, unter den schneidenden Klängen des Pistons und begleitet von militanten Rhythmen, des Himmels Strafgericht auf alle Ketzer herab und versprechen dem »treuen Krieger, der mutig wie ein Tiger für Gott erhebt das Schwert«, die ewige Seligkeit. Alle Stufen der Demagogie und Verhetzung werden durchgespielt, bis die Trompete im Furioso die Masse der Katholiken hochpeitscht. Wenn »alle nach vorn stürzen« (Regieanweisung), um mit erhobenen Fäusten zu drohen: »Dieu le veut! Dieu l'ordonne!« [Gott will es! Gott befiehlt es!], dann schwillt im Allegro furioso eine furchterregende Musik an, die jeden zertrampelt, der stehenbleibt und nicht mit nach vorn stürzt. Mit erschreckender Gewalt sind Massenhysterie und Fanatismus komponiert; zugleich teilt Meyerbeer eine frappante Beobachtung mit: Brutalität mischt sich gern mit Sentimentalität: Zweiundzwanzig Takte nach dem Beginn der Pogromhetze folgt auch schon die sentimentale Wendung: »et la palme immortelle dans le ciel vous attend!« [»daß meine Seele sitze Gott zur Rechten im Licht!«]. 224

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Am Verhältnis Masse—Individuum wird vor den verheerenden Folgen der Manipulierung von Massen gewarnt. Als neapolitanische oder schweizerische Volksaufstände (bei Auber und Rossini), als Bauernrevolution (im »Propheten«) oder als Kampf hugenottischer gegen katholische Gruppierungen wurden die Auseinandersetzungen der unmittelbaren Vergangenheit seit 1789 erlebbar, für die Bühne darstellbar gemacht. Die neue geschichtliche Erfahrung, daß eine Masse als Volk, Partei, religiöse oder soziale Gruppe handeln kann, hielt Einzug in die Grand Opéra. Es war etwas Verführerisches dabei, die zerstörerische blinde Gewalt manipulierter Massen auf der Bühne zu 225

sehen und sich dabei zu vergegenwärtigen, daß sich dies auf den Straßen von Paris wiederholen könnte. Mit dem vom Adel geschürten Aufstand, der seinen Händen entgleitet, wird der französischen Bourgeoisie und ihrem Bürgerkönig ein Modell vorgespielt. Wenn die Staatsmacht die entfesselte Volkswut nicht mehr beherrscht, ist das Ende der bürgerlichen Gesellschaft gekommen. Meyerbeer sah keine Alternative, keine Utopie, keine Hoffnung. Damit erhielt auch die Dramaturgie von Soloszene und Tableau ihren übergreifenden Sinn. Diese kontrastierenden Szenen stehen für Privat- und Staatsaktion. Die Individuen werden zwischen den Massenbewegungen, repräsentiert durch den Chor, zerrieben. In einer großartigen Emanzipation des Opernchores hatte Meyerbeer diese geschichtliche Erfahrung auf der Opernbühne anschaulich gemacht. Er hat aber auch seine ganz persönliche Angst vor den Massenbewegungen mit einkomponiert. Einerseits konnte er in den ersten großen massenhaften Erhebungen in Frankreich nicht den Keim für eine zukünftige weltverändernde Kraft erkennen; andererseits verband er solche Erscheinungen mit der in der Geschichte des Judentums begründeten Pogromangst. »Die Hugenotten« waren ein singuläres Werk, in dem das Thema der durch religiösen Fanatismus manipulierten Massen bis zum blutigen Ende geführt wurde. Diese Idee konnte nicht nachgeahmt werden. Aber die Oper bildete selbst einen neuen Standard für die nachfolgenden Opernproduktionen. Während sich Meyerbeer in seinen folgenden Werken nicht wiederholte, übernahmen die komponierenden Kollegen seine Standards. Selbst Robert Schumann machte da keine Ausnahme. In seiner »Genoveva« (185o) singt der Chor zum Solo des Hidulfus: R. Schumann: »Genoveva« y de//ws

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Eine solche Übernahme wäre an sich überhaupt nicht ehrenrührig, hätte nicht Schumann die »Hugenotten« in seiner »Neuen Zeitschrift für Musik« so schmählich verrissen und damit eine folgenreiche Kampagne gegen das Werk eröffnet, die Meyerbeer persönlich sehr getroffen hat. Im folgenden Kapitel wird ausführlicher davon die Rede sein. Daß Verdi für den zweiten Akt seines »Don Carlos«, den er im Auftrag der Pariser Oper schrieb, die Auftritte und Figurenkonstellationen des zweiten Aktes der »Hugenotten« bis ins Detail kopierte, spricht für die Qualität des über zweiundzwanzig Jahre älteren Werkes. Aber Verdi hat sich nie direkt zu Meyerbeer als dem Schöpfer der »historischen Oper« bekannt. Selbst ein später Nachfahre in der Reihe der französischen Opernkomponisten, Jules Massenet (1842-1912), konnte Meyerbeers Standards nicht umgehen. Im ersten Akt seiner Oper »Hérodiade« (i 88 i) schwört König Herodes seine Gefolgsleute auf unbedingten Gehorsam ein. Der Aufbau der Szene und die militant punktierten Rhythmen sind ein — allerdings schwächeres — Echo auf die Dolchweihe aus den »Hugenotten«. (Der Hymnus in Massenets Oper »Le Cid« [1885] mit seinen Harfenakkorden ist fast identisch mit Jeans Hymne aus dem dritten Akt des »Propheten«.) Hector Berlioz, vertraut im Umgang mit einem massenhaften Aufgebot von Noten und Musikern, erkannte neidlos die Qualitäten der »Hugenotten«Partitur an und wählte viele Klangbeispiele aus dieser Oper, um in seiner »Instrumentationslehre« (i 844) die ungebräuchliche Verwendung bestimmter Instrumente zu demonstrieren. (In seiner Überarbeitung dieses Werkes hat Richard Strauss die Beispiele von Meyerbeer gegen solche von Wagner ausgetauscht.) Der große Sinfoniker Berlioz hatte die »Hugenotten«-Partitur gründlich gelesen und veröffentlichte im »Journal des Débats« am i o. November und am i o. Dezember 1836 seine Eindrücke. »Der Gesang der Mörder«, heißt es da, »und die Begleitung der Trompeten ist schon an und für sich fürchterlich im Ausdruck. Das hat der Komponist durch ein sehr einfaches Mittel bewirkt, welches aber immerhin gefunden, und mehr noch — gewagt sein wollte: nämlich die Veränderung der sechsten Note in der MollTonart. In der brutalen Phrase, die in das a-Moll hineingeschleudert ist, läßt er den sechsten Ton, der eigentlich F wäre, stets erhöht erscheinen. Der grausige Effekt, der daraus entsteht, ist ein neuer Beweis für den ausgesprochenen Charakter von Kombinationen, in welchen diese Note mit und ohne Veränderung Anlaß geben kann.« — Ein musikalischer Revolutionär urteilt anhand eines Tones über die Arbeit eines anderen, der den Gedanken an jegliche Revolution, auch die im Reich der Töne, weit von sich gewiesen hätte.

227

Kapitel VII Drei deutsche Meister

Am 14. April 1837 schrieb Heinrich Beer seinem Bruder nach Paris über den gewaltigen Erfolg, den die »Hugenotten«-Premiere am io. April in Leipzig hatte: »Die Oper hat den größten Furore erlebt, der bis jetzt in Leipzig

vorgekommen ist ... wenn alles hätte zweymal gemacht werden sollen wären wir statt 'A i i Uhr um 2 Uhr aus dem Theater gekommen; beym Herausgehen hörte man nichts anders, als: dies ist das großartigste musicalische Werk, der älteren und Neueren Zeit; zu 6 Vorstellungen sind keine Plätze irgend einer Art zu haben, und das Haus faßt i 5oo Personen ... Staegemayers Einstudierung dieser Musik dafür giebt es keine Worte; der Geist mit dem er diese Musik aufgefaßt und dies den Chören und Sängern übertragen hat, muß man hören ...« Leipzig wußte offenbar, was es seinem Ruf als »KleinParis« schuldig war; man legte sich ins Zeug und bereitete der Oper einen Applaus fast wie im großen Paris. Nun hatte auch Robert Schumann Gelegenheit, diese von zwei seiner auswärtigen Korrespondenten in seiner »Neuen Zeitschrift für Musik« so hochgelobte Sache selbst zu sehen. Er fand alles widerwärtig. Nicht zufällig am 5. September 1837, dem Tag des 46. Geburtstags von Giacomo Meyerbeer, erschien in dieser Zeitschrift ein großer, bösartiger Verriß mit dem Titel »Fragmente aus Leipzig q.«, welche die »Hugenotten« und Mendelssohns »Paulus« betrafen. »Ist mir's doch heute wie einem jungen mutigen Krieger, der zum erstenmal sein Schwert zieht in einer großen Sache! Als ob dies kleine Leipzig, wo einige Weltfragen schon zur Sprache gekommen, auch musikalische schlichten sollte, traf es sich, daß hier, wahrscheinlich zum erstenmal in der Welt nebeneinander, die zwei wichtigsten Kompositionen der Zeit zur Aufführung kamen, — die Hugenotten von Meyerbeer und der Paulus von Mendelssohn. Wo hier anfangen, wo aufhören! Von einer Nebenbuhlerschaft, einer Bevorzugung des Einen vor dem Andern kann hier keine Rede sein. Der Leser weiß zu gut, welchem Streben sich diese Blätter geweiht, zu gut, daß, wenn von Mendelssohn die Rede ist, keine von Meyerbeer sein kann, so diametral laufen ihre Wege auseinander, zu gut, daß, um eine Charakteristik beider zu erhalten, man nur dem Einen beizulegen braucht, was der Andere nicht hat, 228

— das Talent ausgenommen, was beiden gemeinschaftlich. Oft möchte man sich an die Stirn greifen, zu fühlen, ob da oben alles noch im gehörigen Stande, wenn man Meyerbeers Erfolge im gesunden musikalischen Deutschland erwägt, und wie sonst ehrenwerte Leute, Musiker selbst, die übrigens auch den stilleren Siegen Mendelssohns mit Freude zusehen, von seiner Musik sagen, sie wär' etwas. Noch ganz erfüllt von den Hochgebilden der Schröder-Devrient im Fidelio ging ich zum erstenmal in die Hugenotten. Wer freut sich nicht auf neues, wer hofft nicht gern! Hatte doch Ries mit eigener Hand geschrieben, manches in den Hugenotten sei Beethovenschem an die Seite zu stellen etc.! Und was sagten andere, was ich? Geradezu stimmte ich Florestan bei, der, eine gegen die Oper geballte Faust, die Worte fallen ließ: >im Crociato hätte er Meyerbeer noch zu den Musikern gezählt, bei Robert dem Teufel habe er geschwankt, von den Hugenotten an rechne er ihn aber geradewegs zu Franconi's Leuten.< Mit welchem Widerwillen uns das Ganze erfüllte, daß wir nur immer abzuwehren hatten, kann ich gar nicht sagen; man wurde schlaff und müde vom Arger. Nach öfterem Anhören fand sich wohl manches Günstigere und zu Entschuldigende heraus, das Endurteil blieb aber dasselbe, und ich müßte denen, die die Hugenotten nur von weitem etwa dem Fidelio oder Ähnlichem an die Seite zu setzen wagten, unaufhörlich zurufen: daß sie nichts von der Sache verständen, nichts, nichts. Auf eine Bekehrung übrigens ließ' ich mich nicht ein; da wäre kein Fertigwerden. Ein geistreicher Mann hat Musik wie Handlung am besten durch das Urteil bezeichnet, daß sie entweder im Freudenhause oder in der Kirche spielten. Ich bin kein Moralist; aber einen guten Protestanten empört es, sein teuerstes Lied auf den Brettern abgeschrieen zu hören, empört es, das blutigste Drama seiner Religionsgeschichte zu einer Jahrmarktsfarce heruntergezogen zu sehen, Geld und Geschrei damit zu erheben, empört die Oper von der Ouverture an mit ihrer lächerlich-gemeinen Heiligkeit bis zum Schluß, nach dem wir ehestens lebendig verbrannt werden sollen. Man lese nur die Schlußzeilen der Oper: Par le fer et l'incendie Exterminons la race impie! Frappons, poursuivons l'hérétique.

Dieu le veut, Dieu veut le sang, Oui, Dieu veut le sang! Was bleibt nach den Hugenotten übrig, als daß man geradezu auf der Bühne Verbrecher hinrichtet und leichte Dirnen zur Schau ausstellt. Man überlege sich nur Alles, sehe, wo Alles hinausläuft! Im ersten Akt eine Schwelgerei von lauter Männern und dazu, recht raffiniert, nur eine Frau, aber verschleiert; im zweiten eine Schwelgerei von badenden Frauen und dazwischen, mit den Nägeln herausgegraben für die Pariser, ein Mann, aber mit verbundenen 229

Augen. Im dritten Akt vermischt sich die liederliche Tendenz mit der heiligen; im vierten wird die Würgerei vorbereitet und im fünften in der Kirche gewürgt. Schwelgen, morden und beten, von weiter nichts steht in den Hugenotten: vergebens würde man einen ausdauernd reinen Gedanken, eine wahrhaft christliche Empfindung darin suchen. Meyerbeer nagelt das Herz auf die Haut und sagt: >seht, da ist es, mit Händen zu greifen.< Es ist alles gemacht, alles Schein und Heuchelei. Und nun diese Helden und Heldinnen, — zwei, Marcell und St. Bri ausgenommen, die doch nicht gar so elend zusammensinken. Ein vollkommner französischer Wüstling (Worte wie >je ris du Dieu de l'univers< etc. sind Kleinigkeiten im Text [Anmerkung Schumanns: »Nevers läßt sich nicht wegen irgend einer Frau vom Wein wegholen und sagt lachend: >ich lache auf den Gott des Universumsvon Geburt an mit großen Geldmitteln ausgestatteten jüdischen Componisten< gemeint worden, als dem Verständigen darüber keinen Augenblick irgend ein Zweifel bleibt, daß nur der erweislich krasseste, aber mit einer guten Portion Dumdreistigkeit im Urtheile begabte, musikalische Ignorant sich eine solche Sprache zu erlauben im Stande sein kann ... Indeß haben die damit öffentlich gemachten schweren Beschuldigungen auch noch eine andere Richtung ... Nicht Meyerbeer blos — um den unleugbar gemeinten >jüdischen Componisten< pp zu nennen —, nein, auch die gesammte öffentliche Critik, welche den Verdiensten dieses Mannes und Künstlers ja das Wort geredet, ist darin aufs tiefste gekränkt, weil alles sittlichen Werthes baar erklärt worden; und in sofern ich nun zu denen gehöre, welche seit 183o [!] mit aller Kraft ihres ... Wissens und Talents jene Verdienste in ihrer Außerordentlichkeit zu würdigen stets bemüht waren ... im Uebrigen genehmigen Sie blos noch die Bitte, den Verfasser erwähnten Schriftsatzes des Ausdrucks aller derjenigen Verachtung zu versichern, deren er bis zu angegebenem Zeitpunkt sich gewiß halten darf ...« (2o. November 18 45). Natürlich waren Menzels Behauptungen absurd, aber man konnte sie gedruckt in einer angesehenen Zeitschrift lesen, und das verlieh ihnen in den Augen vieler Leser eine gewisse Glaubwürdigkeit. Meyerbeer bedankte sich höflich bei Schilling: »... Sie haben einen beleidigenden verläumderischen Angriff auf meinen Ruf... kräftig abgewehrt, und dadurch den öffentlichen Widerruf dieser Beleidigung veranlaßt ..., aber für Ihre Person dadurch in 236

eine Geldstrafe von 15o Gulden verfallen sind ... kann ich aber nicht zugeben, daß Sie wegen meiner einen Geldverlust erleiden, und füge daher die 15o G. ... bei« (Dezember 1845) — ein kleines Satyrnspiel auf das Drama des Antisemitismus, das mit Meyerbeer gespielt wurde. hi ähnlicher Weise nutzte Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio die von Schumann in der »Neuen Zeitschrift für Musik« provozierte Stimmung mit seinen »Vertrauten Briefen (An den Dichter Heinrich Heine in Paris)«, die 1838 in den vier Maiheften der Zeitschrift abgedruckt wurden. Mit dem Begriff »Vertraute Briefe«, dessen sich auch Heine bediente, verbanden sich zumeist in aller Öffentlichkeit ausgebreitete Indiskretionen: »... Meyerbeer besitzt freilich einen Schatz an alten Partituren, die er wohl auszubeuten versteht ... Auch vom alten Vogler bewahrt dieser Tonsetzer Manches, das selbst dem großen Theile der Kenner fremd ist, ihm aber gute Dienste leistet und schon zu seiner Zeit zum Vorschein kömmt. Derselbe der Meyerbeer war, als er den >Kreuzritter< schrieb, derselbe ist er geblieben, da er >RobertHugenotten< in die Welt sandte. Auch in diesen Werken hört der Kenner überall das ängstliche Zusammensetzen, das unter tausend Geburtsschmerzen Zusammengequälte, da ist keine einzige Stelle, die wahren Fluß hätte, in der eine lebenswarme Melodie, eine gesunde Harmonie vorwaltete: alles ist blos gemacht ... [Das hatte Schumann auch schon so formuliert!] Der ganze >Robert< ist nichts als ein Maskenball der verschiedenartigsten Gedankenspäne, auf dem halt getanzt wird. Gern will ich einem Tonsetzer, der arm an Melodien ist, verzeihen, wenn er diese anders wohin nimmt, wenn er Gedanken einem vergessenen Meister entlehnt, und uns wieder aufwärmt; dann kann ich aber doch wohl verlangen, daß er sie mir kunstgerecht durchführt, und nicht solches lästige Hackwerk daraus macht, wie uns in dieser Oper geboten ...« Diese Art von Journalismus ging schon an die Wurzeln von Meyerbeers künstlerischer und ethischer Existenz. Nicht genug damit; es gab auch Leute, die die Geschmacklosigkeit besaßen, anonym ein »... dickes Packet aus Berlin a Mr Meyerbeer celebre compositeur« zu senden. »Als ich es aufmachte, sind es nichts als diese Briefe gegen mich der Leipziger Zeitschrift, und die gehässigsten gemeinsten Stellen mit Dinte angestrichen, damit sie mir ja gleich ins Auge fallen. — So gehaßt zu sein ist ein mich wahrhaft tödtendes Gefühl. Mich dünkt derjenige der das gethan hat, wäre nicht unfähig mich zu vergiften wen er es ungestraft thun könnte. — Gegen solche Wuth anzukämpfen wie sich jetzt gegen mich dechainirt [entfesselt] fürchte ich zu schwach zu sein: ich fühle daß es das Mark meines Lebens aussaugt ...« (15. Juni 1838 an Minna). Das war die Kehrseite der Erfolgsmedaille: Der Neid auf den jüdischen Konkurrenten machte sich breit. Er stach mit seinen perfekten Leistungen die braven deutschen Musterschüler aus. Es war der Haß der Masse auf den Klassenprimus, der immer alles besser weiß. 237

In der von August Lewald herausgegebenen »Chronik der gebildeten Welt. Europa« las man bereits 1839 Beobachtungen, die Wagner 1851 in seiner Schrift »Oper und Drama« als Hauptargumente gegen Meyerbeers Musik verwendete: »Sein einziges Streben und Ziel in der Kunst sey, mit Hintansetzung von Schönheit, und Natürlichkeit, nur Effect, und nichts als Effect, oder besser noch: Eclat.« (Eine der zentralen Kategorien der Dramaturgie der Großen Oper ist hier allerdings nicht gemeint, wie aus dem Artikel hervorgeht: »Meyerbeer hat in der Behandlung des absurden und oft abscheulichen Textes viel Geist entwickelt, und mit großer Gewandtheit ist es ihm gelungen, die Schwächen desselben hie und da zu verdecken ... Jedenfalls trifft den Componisten ein harter Vorwurf, dieß Sujet, das überall Schicklichkeit und Zartgefühl aufs tiefste verletzt, überhaupt gewählt zu haben ... Ganz herrlich aber ist Meyerbeer die musikalische Zeichnung der Valentine gelungen ... Jede Note ihrer Partie scheint aus tief innerster Seele zu kommen, und das Herz des Hörers zu treffen. Wir sagen: >scheintRobert-le-DiableCrociato< aufführen sehen, lächelte er mit launiger Wehmut und sagte: >Sie kompromittieren sich, wenn Sie mich armen Italiener hier in Berlin loben, der Hauptstadt von Sebastian Bach!< Meyerbeer war in der That damals ganz ein Nachahmer der Italiener geworden. Der Mißmut gegen den feuchtkalten, verstandeswitzigen, farblosen Berlinianismus hatte frühzeitig eine natürliche Reaktion in ihm hervorgebracht; er entsprang nach Italien, genoß fröhlich seines Lebens, ergab sich dort ganz seinen Privatgefühlen, und komponierte dort jene köstlichen Opern, worin der Rossinismus mit der süßesten Übertreibung gesteigert ist; hier ist das Gold noch übergiildet und die Blume mit noch stärkeren Wohldüften parfümiert. Das war die glücklichste Zeit Meyerbeers's, er schrieb im vergnügten Rausche der italienischen Sinnenlust, und im Leben wie in der Kunst pflückte er die leichtesten Blumen. Aber dergleichen konnte einer deutschen Natur nicht lange genügen. Ein gewisses Heimweh nach dem Ernste des Vaterlandes ward in ihm wach; während er unter welschen Myrten lagerte, beschlich ihn die Erinnerung an die geheimnisvollen Schauer deutscher Eichenwälder; während südliche Zephyre ihn umkosten, dachte er an die dunkeln Choräle des Nordwinds; — es 247

ging ihm vielleicht gar wie der Frau von Sevigné, die, als sie neben einer Orangerie wohnte und beständig von lauter Orangenblüten umduftet war, sich am Ende nach dem schlechten Geruche einer gesunden Mistkarre zu sehnen begann ... Kurz, eine neue Reaktion fand statt, Signor Giacomo ward plötzlich wieder ein Deutscher und schloß sich wieder an Deutschland, nicht an das alte, morsche, abgelebte Deutschland des engbrüstigen Spießbürgertums, sondern an das junge, großmütige, weltfreie Deutschland einer neuen Generation, die alle Fragen der Menschheit zu ihren eigenen gemacht hat, und die, wenn auch nicht immer auf ihrem Banner, doch desto unauslöschlicher in ihrem Herzen, die großen Menschheitsfragen eingeschrieben trägt. Bald nach der Julirevolution trat Meyerbeer vor das Publikum mit einem neuen Werke, das während den Wehen jener Revolution seinem Geiste entsprossen, mit Robert-le-Diable, dem Helden, der nicht genau weiß, was er will, der beständig mit sich selber im Kampfe liegt, ein treues Bild des moralischen Schwankens damaliger Zeit, einer Zeit, die sich zwischen Tugend und Laster so qualvoll unruhig bewegte, in Bestrebungen und Hindernissen sich aufrieb, und nicht immer genug Kraft besaß, den Anfechtungen Satan's zu widerstehen! Ich liebe keineswegs diese Oper, dieses Meisterwerk der Zagheit, ich sage der Zagheit nicht bloß in betreff des Stoffes, sondern auch der Exekution, indem der Komponist seinem Genius noch nicht traut, noch nicht wagt, sich dem ganzen Willen desselben hinzugeben, und der Menge zitternd dient, statt ihr unerschrocken zu gebieten. Man hat damals Meyerbeer mit Recht ein ängstliches Genie genannt; es mangelt ihm der siegreiche Glaube an sich selbst, er zeigte Furcht vor der öffentlichen Meinung, der kleinste Tadel erschreckte ihn, er schmeichelte allen Launen des Publikums, und gab links und rechts die eifrigsten Poignées de main, als habe er auch in der Musik die Volkssouveränetät anerkannt und begründe sein Regiment auf Stimmenmehrheit, im Gegensatz zu Rossini, der als König von Gottes Gnade im Reiche der Tonkunst absolut herrschte. Diese Angstlichkeit hat ihn im Leben noch nicht verlassen; er ist immer noch besorgt um die Meinung des Publikums, aber der Erfolg von Robert-le-Diable bewirkte glücklicherweise, daß er von jener Sorge nicht belästigt wird während er arbeitet, daß er mit weit mehr Sicherheit komponiert, daß er den großen Willen seiner Seele in ihren Schöpfungen hervortreten läßt. Und mit dieser erweiterten Geistesfreiheit schrieb er die Hugenotten, worin aller Zweifel verschwunden, der innere Selbstkampf aufgehört und der äußere Zweikampf angefangen hat, dessen kolossale Gestaltung uns in Erstaunen setzt. Erst durch dieses Werk gewann Meyerbeer sein unsterbliches Bürgerrecht in der ewigen Geisterstadt, im himmlischen Jerusalem der Kunst. In den Hugenotten offenbart sich endlich Meyerbeer ohne Scheu; mit unerschrockenen Linien zeichnete er hier seinen ganzen Gedanken, und alles, was seine Brust bewegte, wagte er auszusprechen in ungezügelten Tönen. 248

Was dieses Werk ganz besonders auszeichnet, ist das Gleichmaß, das zwischen dem Enthusiasmus und der artistischen Vollendung stattfindet, oder, um mich besser auszudrücken, die gleiche Höhe, welche darin die Passion und die Kunst erreichen; der Mensch und der Künstler haben hier gewetteifert, und wenn jener die Sturmglocke der wildesten Leidenschaften anzieht, weiß dieser die rohen Naturtöne zum schauerlich süßesten Wohllaut zu verklären. Während die große Menge ergriffen wird von der inneren Gewalt, von der Passion der Hugenotten, bewundert der Kunstverständige die Meisterschaft, die sich in den Formen bekundet. Dieses Werk ist ein gotischer Dom, dessen himmelstrebender Pfeilerbau und kolossale Kuppel von der kühnen Hand eines Riesen aufgepflanzt zu sein scheinen, während die unzähligen, zierlich feinen Festons, Rosetten und Arabesken, die wie ein steinerner Spitzenschleier darüber ausgebreitet sind, von einer unermüdlichen Zwergsgeduld Zeugnis geben. Riese in der Konzeption und Gestaltung des Ganzen, Zwerg in der mühseligen Ausführung der Einzelheiten, ist uns der Baumeister der Hugenotten ebenso unbegreiflich, wie die Kompositoren der alten Dome. Als ich jüngst mit einem Freunde vor der Kathedrale zu Amiens stand, und mein Freund dieses Monument von felsentürmender Riesenkraft und unermüdlich schnitzelnder Zwergsgeduld mit Schrecken und Mitleiden betrachtete und mich endlich frug, wie es komme, daß wir heutzutage keine solchen Bauwerke mehr zustandebringen, antwortete ich ihm: >Teurer Alphonse, die Menschen in jener alten Zeit hatten Überzeugungen, wir Neueren haben nur Meinungen, und es gehört etwas mehr als eine bloße Meinung dazu, um so einen gotischen Dom aufzurichten.< Das ist es. Meyerbeer ist ein Mann der Überzeugung. Dieses bezieht sich aber nicht eigentlich auf die Tagesfragen der Gesellschaft, obgleich auch in diesem Betracht bei Meyerbeer die Gesinnungen fester begründet stehen, als bei anderen Künstlern. Meyerbeer, den die Fürsten dieser Erde mit allen möglichen Ehrenbezeugungen überschütten, und der auch für diese Auszeichnungen so viel Sinn hat, trägt doch ein Herz in der Brust, welches für die heiligsten Interessen der Menschheit glüht, und unumwunden gesteht er seinen Kultus für die Helden der Revolution. Es ist ein Glück für ihn, daß manche nordischen Behörden keine Musik verstehen, sie würden 'sonst in den Hugenotten nicht bloß einen Parteikampf zwischen Protestanten und Katholiken erblicken. Aber dennoch sind seine Überzeugungen nicht eigentlich politischer und noch weniger religiöser Art; nein, auch nicht religiöser Art, seine Religion ist nur negativ, sie besteht nur darin, daß er, ungleich anderen Künstlern, vielleicht aus Stolz, seine Lippen mit keiner Lüge beflekken will, daß er gewisse zudringliche Segnungen ablehnt, deren Annahme immer als eine zweideutige, nie als eine großmütige Handlung betrachtet werden kann. Die eigentliche Religion Meyerbeer's ist die Religion Mozart's, Gluck's, Beethoven's, es ist die Musik; nur an diese glaubt er, nur in diesem Glauben findet er seine Seligkeit und lebt er mit einer Überzeugung, die den 249

Überzeugungen früherer Jahrhunderte ähnlich ist an Tiefe, Leidenschaft und Ausdauer. Ja, ich möchte sagen, er ist Apostel dieser Religion. Wie mit apostolischem Eifer und Drang behandelt er alles, was seine Musik betrifft. Während andere Künstler zufrieden sind, wenn sie etwas Schönes geschaffen haben, ja nicht selten alles Interesse für ihr Werk verlieren, so beginnt im Gegenteil bei Meyerbeer die größere Kindesnot erst nach der Entbindung, er gibt sich alsdann nicht zufrieden, bis die Schöpfung seines Geistes sich auch glänzend dem übrigen Volke offenbart, bis das ganze Publikum von seiner Musik erbaut wird, bis seine Oper in alle Herzen die Gefühle gegossen, die er der ganzen Welt predigen will, bis er mit der ganzen Welt kommuniziert hat. Wie der Apostel, um eine einzige verlorene Seele zu retten, weder Mühe noch Schmerzen achtet, so wird auch Meyerbeer, erfährt er, daß irgend jemand seine Musik verleugnet, ihm unermüdlich nachstellen, bis er ihn zu sich bekehrt hat, und das einzige gerettete Lamm, und sei es auch die unbedeutendste Feuilletonistenseele, ist ihm dann lieber als die ganze Herde von Gläubigen, die ihn immer mit orthodoxer Treue verehrten. Die Musik ist die Überzeugung von Meyerbeer, und das ist vielleicht der Grund aller jener Angstlichkeiten und Bekümmernisse, die der große Meister so oft an den Tag legt, und die uns nicht selten ein Lächeln entlocken. Man muß ihn sehen, wenn er eine neue Oper einstudiert; er ist dann der Plagegeist aller Musiker und Sanger, die er mit unaufhörlichen Proben quält. Nie kann er sich ganz zufrieden geben, ein einziger falscher Ton im Orchester ist ihm ein Dolchstich, woran er zu sterben glaubt. Diese Unruhe verfolgt ihn noch lange, wenn die Oper bereits aufgeführt und mit Beifallsrausch empfangen worden. Er ängstigt sich dann noch immer, und ich glaube, er gibt sich nicht eher zufrieden, als bis einige tausend Menschen, die seine Oper gehört und bewundert haben, gestorben und begraben sind; bei diesen wenigstens hat er keinen Abfall zu befürchten, diese Seelen sind ihm sicher. An den Tagen, wo seine Oper gegeben wird, kann es ihm der liebe Gott nie recht machen; regnet es und ist es kalt, so fürchtet er, daß Mademoiselle Falcon den Schnupfen bekomme; ist hingegen der Abend hell und warm, so fürchtet er, daß das schöne Wetter die Leute ins Freie locken und das Theater leer stehen könnte. Nichts ist der Peinlichkeit zu vergleichen, womit Meyerbeer, wenn seine Musik endlich gedruckt wird, die Korrektur besorgt; diese unermüdliche Verbesserungssucht während der Korrektur ist bei den Pariser Künstlern zum Sprichwort geworden. Aber man bedenke, daß ihm die Musik über alles teuer ist, teurer gewiß als sein Leben. Als die Cholera in Paris zu wüten begann, beschwor ich Meyerbeer, so schleunig als möglich abzureisen; aber er hatte noch für einige Tage Geschäfte, die er nicht hintenan setzen konnte, er hatte mit einem Italiener das italienische Libretto für Robert-le-Diable zu arrangieren. Weit mehr als Robert-le-Diable sind die Hugenotten ein Werk der Überzeugung, sowohl in Hinsicht des Inhalts als der Form. Wie ich schon bemerkt 250

habe, während die große Menge vom Inhalt hingerissen wird, bewundert der stillere Betrachter die ungeheuren Fortschritte der Kunst, die neuen Formen, die hier hervortreten. Nach dem Ausspruch der kompetentesten Richter müssen jetzt alle Musiker, die für die Oper schreiben wollen, vorher die Hugenotten studieren. In der Instrumentation hat es Meyerbeer am weitesten gebracht. Unerhört ist die Behandlung der Chöre, die sich hier wie Individuen aussprechen und aller opernhaften Herkömmlichkeit entäußert haben. Seit dem Don Juan gibt es gewiß keine größere Erscheinung im Reiche der Tonkunst, als jener vierte Akt der Hugenotten, wo auf die grauenhaft erschütternde Szene der Schwerterweihe, der eingesegneten Mordlust, noch ein Duo gesetzt ist, das jenen ersten Effekt noch überbietet; ein kolossales •Wagnis, das man dem ängstlichen Genie kaum zutrauen sollte, dessen Gelingen aber ebensosehr unser Entzücken wie unsere Bewunderung erregt. Was mich betrifft, so glaube ich, daß Meyerbeer diese Aufgabe nicht durch Kunstmittel gelöst hat, sondern durch Naturmittel, indem jenes famose Duo eine Reihe von Gefühlen ausspricht, die vielleicht nie, oder wenigstens nie mit solcher Wahrheit, in einer Oper hervorgetreten, und für welche dennoch in den Gemütern der Gegenwart die wildesten Sympathien auflodern. Was mich betrifft, so gestehe ich, daß nie bei einer Musik mein Herz so stürmisch pochte, wie bei dem vierten Akte der Hugenotten, daß ich aber diesem Akte und seinen Aufregungen gern aus dem Wege gehe und mit weit größerem Vergnügen dem zweiten Akte beiwohnte. Dieser ist ein gehaltvolleres Idyll, das an Lieblichkeit und Grazie den romantischen Lustspielen von Shakespeare, vielleicht aber noch mehr dem >Aminta< von Tasso ähnlich ist. In der That, unter den Rosen der Freude lauscht darin eine sanfte Schwermut, die an den unglücklichen Hofdichter von Ferrara erinnert. Es ist mehr die Sehnsucht nach der Heiterkeit, als die Heiterkeit selbst, es ist kein herzliches Lachen, sondern ein Lächeln des Herzens, eines Herzens, welches heimlich krank ist und von Gesundheit nur träumen kann. Wie kommt es, daß ein Künstler, dem von der Wiege an alle blutsaugenden Lebenssorgen abgewedelt worden, der, geboren im Schoße des Reichtums, gehätschelt von der ganzen Familie, die allen seinen Neigungen bereitwillig, ja enthusiastisch fröhnte, weit mehr als irgend ein sterblicher Künstler zum Glück berechtigt war, — wie kommt es, daß dieser dennoch jene ungeheuren Schmerzen erfahren hat, die uns aus seiner Musik entgegenseufzen und schluchzen? Denn was er nicht selber empfindet, kann der Musiker nicht so gewaltig, nicht so erschütternd aussprechen. Es ist sonderbar, daß der Künstler, dessen materielle Bedürfnisse befriedigt sind, desto unleidlicher von moralischen Drangsalen heimgesucht wird! Aber das ist ein Glück für das Publikum, das den Schmerzen des Künstlers seine idealsten Freuden verdankt. Der Künstler ist jenes Kind, wovon das Volksmärchen erzählt, daß seine Thränen lauter Perlen sind. Ach! die böse Stiefmutter, die Welt, schlägt das arme Kind um so unbarmherziger, damit es nur recht viele Perlen weine! 251

Man hat die Hugenotten, mehr noch als Robert-le-Diable, eines Mangels an Melodien zeihen wollen. Dieser Vorwurf beruht auf einem Irrtum. >Vor lauter Wald sieht man die Bäume nicht.< Die Melodie ist hier der Harmonie untergeordnet, und bereits bei einer Vergleichung mit der rein menschlichen, individuellen Musik Rossini's, worin das umgekehrte Verhältnis stattfindet, habe ich angedeutet, daß es diese Vorherrschaft der Harmonie ist, welche die Musik von Meyerbeer als eine menschheitlich bewegte, gesellschaftlich moderne Musik charakterisiert. An Melodien fehlt es ihr wahrlich nicht, nur dürfen diese Melodien nicht störsam schroff, ich möchte sagen egoistisch, hervortreten, sie dürfen nur dem Ganzen dienen, sie sind diszipliniert, statt daß bei den Italienern die Melodien isoliert, ich möchte fast sagen außergesetzlich, sich geltend machen, ungefähr wie ihre berühmten Banditen. Man merkt es nur nicht; mancher gemeine Soldat schlägt sich in einer großen Schlacht ebensogut wie der Kalabrese, der einsame Raubheld, dessen persönliche Tapferkeit uns weniger überraschen würde, wenn er unter regulären Truppen, in Reih' und Glied, sich schlüge. Ich will einer Vorherrschaft der Melodie bei Leibe ihr Verdienst nicht absprechen, aber bemerken muß ich, als eine Folge derselben sehen wir in Italien jene Gleichgültigkeit gegen das Ensemble der Oper, gegen die Oper als geschlossenes Kunstwerk, die sich so naiv äußert, daß man in den Logen, während keine Bravourpartien gesungen werden, Gesellschaft empfängt, ungeniert plaudert, wo nicht gar Karten spielt. Die Vorherrschaft der Harmonie in den Meyerbeer'schen Schöpfungen ist vielleicht eine notwendige Folge seiner weiten, das Reich des Gedankens und der Erscheinungen umfassenden Bildung. Zu seiner Erziehung wurden Schätze verwendet und sein Geist war empfänglich; er ward früh eingeweiht in alle Wissenschaften und unterscheidet sich auch hiedurch von den meisten Musikern, deren glänzende Ignoranz einigermaßen verzeihlich, da es ihnen gewöhnlich an Mitteln und Zeit fehlte, sich außerhalb ihres Faches große Kenntnisse zu erwerben. Das Gelernte ward bei ihm Natur, und die Schule der Welt gab ihm die höchste Entwicklung; er gehört zu jener geringeren Zahl Deutscher, die selbst Frankreich als Muster der Urbanität anerkennen mußte. Solche Bildungshöhe war vielleicht nötig, wenn man das Material, das zur Schöpfung der Hugenotten gehörte, zusammenfinden und sicheren Sinnes gestalten wollte. Aber ob nicht, was an Weite der Auffassung und Klarheit des Überblicks gewonnen ward, an anderen Eigenschaften verloren ging, das ist eine Frage. Die Bildung vernichtet bei dem Künstler jene scharfe Accentuation, jene schroffe Färbung, jene Ursprünglichkeit der Gedanken, jene Unmittelbarkeit der Gefühle, die wir bei rohbegrenzten, ungebildeten Naturen so sehr bewundern. Die Bildung wird überhaupt immer teuer erkauft, und die kleine Blanka hat recht. Dieses etwa achtjährige Töchterchen von Meyerbeer beneidet den Müßiggang der kleinen Buben und Mädchen, die sie auf der Straße spielen 252

sieht, und äußerte sich jüngst folgendermaßen: >Welch ein Unglück, daß ich gebildete Eltern habe! Ich muß von Morgen bis Abend alles Mögliche auswendig lernen und still sitzen und artig sein, während die ungebildeten Kinder da unten den ganzen Tag glücklich herumlaufen und sich amüsieren können!«< Dieser Aufsatz Heines, wenn er auch nicht ganz auf ironische Zwischentöne verzichtet, gehört zu den wenigen deutschen Beiträgen, in denen ein Zusammenhang zwischen dem Werk von Scribe und Meyerbeer und den französischen Zuständen von 183o gesehen worden ist. Er ist ein Feuilleton im besten Sinne, keine Wissenschaft. Darin breitet Heine sein Wissen aus, verknüpft auf oft verblüffende Weise Dinge, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, und stiftet größere Zusammenhänge. In gewisser Weise sagt der Artikel mehr über Heine als über Meyerbeer aus, weil er das Musikverständnis des Autors erhellt, aber der Komponist wird ihn dankbar aufgenommen haben, sprach er doch in Ansätzen aus, was ihn bewegte. Spätere Kritiker wären gut beraten gewesen, sich diesen Brief genauer durchzulesen. Wer sich ernsthaft mit Meyerbeer beschäftigt, sollte dort fortfahren, wo Heines Bericht endet. (In einem Punkte hatte der sonst so genaue Heine untertrieben. Die Bedürfnislosigkeit des Komponisten endete nicht bei Stockfischen. Die internationale Küche kennt nämlich mindestens vier Gerichte, die mit Meyerbeers Namen verbunden sind, neben dem »Kalbssteak Meyerbeer« und dem »Rumpsteak à la Meyerbeer« sind es besonders die Lammnieren in Madeirasauce und die »Spiegeleier Meyerbeer«, welche auf die Vorschläge des Gourmets Meyerbeer zurückgehen. Mit dem Küchenmeister Rossini konnte er sich allerdings nicht messen.) Als Gegengabe vertonte Meyerbeer drei Texte aus Heines »Buch der Lieder«: »Komm! «, »Hör ich ein Liedchen klingen« und »Die Rose, die Lilie, die Taube« (1837/38), Romanzen, über die noch zu sprechen sein wird. Das gute Einvernehmen nutzte Heine, um durch Meyerbeers Hilfe die gestörten Beziehungen zu seinem reichen Onkel Salomon Heine in Hamburg wieder aufzufrischen, der es nicht gern gesehen hatte, daß seines Neffen kaufmännische Lehre so rasch und erfolglos ihr Ende fand; aber er war ihm, trotz mancher Verdächtigungen, die der scharfzüngige Dichter auch gegen den hanseatischen Kaufmann äußerte, immer gut gesonnen. Sein Sohn Carl war auf diesen Vetter schon wesentlich schlechter zu sprechen, denn Heinrich hatte ihm seinerzeit seine Braut Cécile Furtado einfach ausgespannt, und in Gelddingen hörte die Freundschaft ohnehin auf. Meyerbeer trat vermittelnd auf und erwirkte im September 1838, daß Salomon dem Dichter jährlich eine Pension von 4000 Francs zahlte, die sogar auf 4800 F erhöht wurde, als sich seine ehemalige Geliebte Cécile auch für ihn verwandte. Zwar war nun Meyerbeers delikate Mission erfüllt, aber als der Versuch scheiterte, 253

die Zahlungen nach Salomons Tod fortzusetzen, zerbrach schließlich die Freundschaft mit Heine. Im Gefolge des allmählichen Zerwürfnisses verschärfte Heine seine Sticheleien gegen Meyerbeer und ging schließlich zu massiven, an Verleumdung grenzenden Kampagnen über. (Sicherlich hat Heines fortschreitende Krankheit, die ihn ab 1848 in die »Matratzen-Gruft« zwang, die Schärfe seiner Äußerungen nachhaltig beeinflußt.) In einer schier unlösbaren Verquickung von Forderungen Heines an Meyerbeer, sich für seine Pensionsansprüche bei Carl Heine einzusetzen, und von Artikeln über den Komponisten in der »Augsburger Allgemeinen« suchte Heinrich Heine Druck auf Meyerbeer auszuüben. Er nutzte dabei die Erbitterung des 1841 aus seinem Amt in Berlin vertriebenen ehemaligen Preußischen Generalmusikdirektors Gas paro Spontini (der in Paris verbreitete, Meyerbeer habe ihn hinausintrigiert) und schrieb mit gewandter und gewohnt scharfer Feder über seine angeblichen Gespräche mit Spontini. Hier eine kleine Auswahl aus den Spottartikeln »Musikalische Berichte aus Paris« — »Spontini und Meyerbeer« (12. Juni 184o): »... Das Alpha und Omega aller Spontini'schen Beklagnisse ist Meyerbeer. Als mir hier in Paris der Ritter die Ehre seines Besuches schenkte, war er unerschöpflich an Geschichten, die geschwollen von Gift und Galle ... Ich konnte nicht umhin, dem hämischen Italiener offen zu gestehen, daß es nicht klug von ihm sei, dem Nebenbuhler alles Verdienst abzusprechen. — >Nebenbuhler!< rief der Wütende und wechselte zehnmal die Farbe, bis endlich die gelbe wieder die Oberhand behielt — dann aber, sich fassend, frug er mit höhnischem Zähnefletschen: >Wissen Sie ganz gewiß, daß Meyerbeer wirklich der Komponist der Musik ist, die unter seinem Namen aufgeführt wird?< Ich stutzte nicht wenig ob dieser Tollhausfrage, und mit Erstaunen hörte ich, Meyerbeer habe in Italien einigen armen Musikern ihre Kompositionen abgekauft und daraus Opern verfertigt, die aber durchgefallen seien, weil der Quark, den man ihm geliefert, gar zu miserabel war. Später habe er von einem talentvollen Abbate zu Venedig etwas Besseres erstanden, welches er dem >Crociato< einverleibte. Er besitze auch Weber's hinterlassene Manuskripte, die er der Witwe abgeschwatzt, und woraus er gewiß später schöpfen werde. Robert-le-Diable und die Hugenotten seien größtenteils die Produkte eines Franzosen, welcher Gouin heiße und herzlich gern unter Meyerbeer's Namen seine Opern zur Aufführung bringe, um nicht sein Amt eines Chef de Bureau an der Post einzubüßen, da seine Vorgesetzten gewiß seinem administrativen Eifer mißtrauen würden, wenn sie wüßten, daß er ein träumerischer Komponist; ... der Postbeamte Gouin ist klug genug, seine Autorenschaft zu verschweigen und allen Weltrum seinem ehrgeizigen Freund Meyerbeer zu überlassen. Daher die innige Verbindung beider Männer, deren Interessen sich ebenso innig ergänzen. Aber Vater bleibt immer Vater, und dem Freund Gouin liegt das Schicksal seiner Geisteskinder beständig am Herzen; die Details der Aufführung und 254

des Erfolgs von Robert-le-Diable und den Hugenotten nehmen seine ganze Thätigkeit in Anspruch, er wohnt jeder Probe bei, er unterhandelt beständig mit dem Operndirektor, mit den Sängern, den Tänzern, mit dem Chef der Maque, den Journalisten; er läuft mit seinen Thranstiefeln ohne Lederstrippen von morgens bis abends nach allen Zeitungsredaktionen, um irgend ein Reklam zu Gunsten der sogenannten Meyerbeer'schen Opern anzubringen ... Als mir Spontini diese Hypothese mitteilte, gestand ich, daß sie nicht aller Wahrscheinlichkeit ermangle, und daß, obgleich das vierschrötige Äußere, das ziegelrote Gesicht, die kurze Stirn, das schmierig schwarze Haar des erwähnten Herrn Gouin vielmehr an einen Ochsenzüchtler oder Viehmäster, als an einen Tonkünstler, erinnere, dennoch in seinem Benehmen manches vorkomme, das ihn in den Verdacht bringe, der Autor der Meyerbeer'schen Opern zu sein. Es passiert ihm manchmal, daß er Robert-le-Diable oder die Hugenotten >unsere Oper< nennt. Es entschlüpfen ihm Redensarten, wie: >Wir haben heute eine Repetition< — >wir müssen eine Arie abkürzenHugenottenJ'ai votre affaire, Sie können den Undankbaren aufs härteste bestrafen, Sie können ihm einen Dolchstich versetzen, und zwar, indem Sie mich zum Großoffizier der Ehrenlegion ernennen.< Jüngst findet Spontini den armen Leon Pillet, den unglücklichen Direktor der Großen Oper, in der wütendsten Aufregung gegen Meyerbeer, der ihm durch Mr. Gouin anzeigen ließ, daß er wegen des schlechten Singpersonals den >Propheten< noch nicht geben wolle. Wie funkelten da die Augen des Italieners! >J'ai votre affaireich will Ihnen einen göttlichen Rat geben, wie Sie den Ehrgeizling zu Tode demütigen: lassen Sie mich in Lebensgröße meißeln, setzen Sie meine Statue ins Foyer der Oper, und dieser Marmorblock wird dem Meyerbeer wie ein Alp das Herz zerdrücken.< ... Der Ritter Spontini stand ... vor ... Amenophes, unter dessen Regierung die Kinder Israel das Land Agypten verlassen haben. ... Spontini ... sprach folgendermaßen zu seiner erlauchten Mitmumie: >Unseliger Pharao! Du bist an meinem Unglück schuld. Ließest du die Kinder Israel nicht aus dem Lande Agypten fortziehen, oder hättest du sie sämtlich im Nil ersäufen lassen, so wäre ich nicht aus Berlin durch Meyerbeer und Mendelssohn verdrängt worden, und ich dirigierte dort noch immer die Große Oper und die Hofkonzerte. Unseliger Pharao, schwacher Krokodilenkönig, durch deine halben Maßregeln geschah es, daß ich jetzt ein zu Grunde gerichteter Mann bin — und Moses und Halévy und Mendelssohn und Meyerbeer haben gesiegt!< Solche Reden hält der unglückliche Mann, und wir können ihm unser Mitleid nicht versagen.« Daß Spontini durch unbedachte Äußerungen und infolge Unbotmäßigkeit gegenüber dem König aus dem Amt genommen wurde, verschwieg Heine. Was für Meyerbeer in der Folgezeit noch viel bedrückender als die Veröffentlichung dieser Artikel in der »Augsburger Allgemeinen« wurde, war der Umstand, daß Heine 1854 diese Aufsätze gesammelt als »Vermischte Schriften« herausgab und eine französische Ausgabe plante. Zu diesem Zwecke sollten die Beiträge redigiert werden, und was bereits deutsch vorlag, war auf den neuesten Stand im Verhältnis Heine—Meyerbeer gebracht worden, und der war alles andere als gut. So blieb Heine eine ständige Bedrohung für Meyerbeers Ansehen in Paris; der Komponist konnte froh sein, wenn sich der Dichter anderen Problemen zuwandte. Bevor die neue Oper aufgeführt wurde, goß Heine noch einmal allen seinen Hohn auf ihn aus, so daß trotz Meyerbeers Einlenken das Vertrauen nie wiederhergestellt wurde. Im Februar 1837 meldete sich ein weiterer deutscher Landsmann bei Meyerbeer zu Wort. Es war der Leipziger Richard Wagner. Er gehörte, glaubt man seinen Berichten, zu den glühendsten Verehrern des Meisters. Sein erster Brief, noch im fernen Königsberg geschrieben, diente dazu, sich 256

Meyerbeer vorzustellen und ihm seine kompositorischen Absichten kundzugeben. Daß Wagner sich dabei ganz auf Paris konzentrierte, ist seiner Einsicht zuzuschreiben, nur die französische Hauptstadt sei das Zentrum der europäischen Opernkunst. Der junge Musiker litt nicht an Selbstunterschätzung, wie das folgende Zitat ausweist, und außerdem deuten sich schon jene Lobesüberhebungen an, mit denen er in der Folgezeit Meyerbeer förmlich überschüttete: ». .. ich fand in einem neueren deutschen Romane ein vortreffliches Sujet für eine große Oper auf; es fiel mir jedoch gleich in die Augen, daß eine Verarbeitung desselben für die französische Oper von weit größerer Wirkung sein würde, als für die deutsche. Ich setzte demnach selbst einen Entwurf auf, der jetzt nur noch der Versification bedarf, ... u. übersandte ihn schon im August vorigen Jahres an Hr. Scribe nach Paris. ... Bis jetzt erhielt ich noch keine Antwort ... Ich habe demnach in diesen Tagen ihm die Partitur einer von mir komponirten großen komischen Oper >Das Liebesverbot< zugesandt, mit der Bitte, sie Ihnen zur Prüfung vorzulegen. Falle Ihr Urtheil zu meinen Gunsten aus, so legte ich ihm meine frühere Bitte von neuem ans Herz. So wäre also eine schickliche Gelegenheit gefunden, Ihnen, verehrter Herr, mich nähern zu können ... Künstlerruhm kann Ihnen fast nicht mehr zu Theil werden, denn Sie erreichten schon das Unerhörteste; überall, wo Menschen singen können, hört man Ihre Melodien; Sie sind ein kleiner Gott dieser Erde geworden ...« (4. Februar 1837). Als Wagner 1839 seine Stellung in Riga verlor und wegen hoher Schulden auf dem Seeweg über London nach Frankreich floh, warf er den Rettungsanker zuerst nach Meyerbeer aus, den er auch zufälligerweise an der französischen Kanalküste im Badeort Bologne-sur-Mer ausfindig machte. »In Boulogne sur mer blieb ich vier Wochen: dort machte ich die erste Bekanntschaft Meyerbeer's, ich ließ ihn die beiden fertigen Akte meines Rienzi kennen lernen; er sagte mir auf das Freundlichste seine Unterstützung in Paris zu. Mit sehr wenig Geld, aber den besten Hoffnungen betrat ich nun Paris. Gänzlich ohne alle Empfehlungen war ich einzig nur auf Meyerbeer angewiesen; mit der ausgezeichnetsten Sorgsamkeit leitete dieser für mich ein, was irgend meinen Zwecken dienlich sein konnte, und gewiß wäre ich bald zu einem erwünschten Ziele gekommen, hätte ich es nicht so unglücklich getroffen, daß gerade während der ganzen Zeit meines pariser Aufenthalts Meyerbeer meistens oder fast immer von Paris entfernt war. Auch aus der Entfernung suchte er mir zwar nützlich zu sein, nach seinen eigenen Voraussagungen konnten briefliche Bemühungen aber da von keinem Erfolge sein, wo höchstens das unausgesetzte persönliche Eingreifen von Wirkung werden kann. Zunächst trat ich in Verbindungen mit dem Theater de la Renaissance ... Am geeignetsten ... schien mir die Partitur meines >LiebesverbotesHugenotten< sich zum bloßen Compilator decorativer Nuancen und Contraste hergab... Das Geheimniß der Meyerbeer'schen Opernmusik ist — der Effect. Wollen wir uns erklären, was wir unter diesem >Effecte< zu verstehen haben, so ist es wichtig, zu beachten, daß wir uns gemeinhin des näherliegenden Wortes >Wirkung< hierbei nicht bedienen. Unser natürliches Gefühl stellt sich den Begriff >Wirkung< immer nur im Zusammenhange mit der vorhergehenden Ursache vor: wo wir nun, wie im vorliegenden Falle, unwillkürlich zweifelhaft darüber sind, ob ein solcher Zusammenhang bestehe, oder wenn wir sogar darüber belehrt sind, daß ein solcher Zusammenhang gar nicht vorhanden sei, so sehen wir in der Verlegenheit uns nach einem Worte um, das den Eindruck, den wir z. B. von Meyerbeer'schen Musikstücken erhalten zu haben vermeinen, doch irgendwie bezeichne, und so wenden wir ein ausländisches, unserem natürlichen Gefühle nicht unmittelbar nahe stehendes Wort, wie eben dieses >Effect< an. Wollen wir daher genauer Das bezeichnen, was wir unter diesem Worte verstehen, so dürfen wir >Effect< übersetzen durch >Wirkung ohne Ursache< ...« Hat man diesen Galimathias mit unendlicher Geduld entwirrt, so bleibt nur eine demagogische Phrase übrig, nackt und dürftig, denn die Originalität Meyerbeerscher Musik wegdiskutieren zu wollen, ist so absurd, daß es keiner Argumente oder Rechtfertigung bedarf. Wagner hatte das Geheimnis von Meyerbeers Musik erspäht, das allen französischen Kritikern entgangen war: 265

Sie sahen zwar effektvolle Tableaus und hörten eine effektvolle Instrumentation, doch weckte das alles keineswegs Abscheu in ihnen; vielmehr erkannten sie darin eine Wirkung, deren Ursache sie in den damaligen Verhältnissen fanden. Wagner hatte nur Ursache und Wirkung vertauscht. »Der Antisemitismus, so abstrus dies zunächst klingt, ist das Denkvehikel, durch das Wagner sich klar wird, daß er selbst zu den Ausgestoßenen und Enterbten gehört«, formuliert Gerhard Müller. »Es ist wahrlich eine miserable Brücke, die er benutzt, und es macht die Sache schlimmer, daß er sie bewußt und demgagogisch benutzt. Doch er war weit davon entfernt, im Antisemitismus ein Herrschaftsinstrument der Oberklasse zur Massenmanipulation zu sehen, wie es dann später von Lueger über den Alldeutschen Verband bis zu Hitler der Fall war. Sie beriefen sich alle zu Unrecht auf ihn. Und das Unrecht ist doppelt, weil sich in seinen künstlerischen Werken die verbale Argumentation umkehrt. Der so heftig verfluchte Ahasver des >JudentumFliegenden Holländers< ... Erlösung und Untergang fallen zusammen. Aus diesem Gedankenkreis und der genialen künstlerischen Realisation entspringt die Wirkung der Wagnerschen Werke, aber auch seine weltanschauliche Vagheit und Verwaschenheit. Seit Wagner ist Musik manipulierbar, mißbrauchbar, ambivalent gegenüber Wahrheit wie Lüge geworden. Das trennt diese Kunst von der Heines« und — kann man hinzufügen — auch von der Meyerbeers und Scribes. Ihrer Warnung stand sein Erlösungsgedanke gegenüber, ihrer Aufklärung seine Verschwommenheit, ihrem Desillusionsstreben seine musikalischen Opiate, ihrer Klarheit sein Rausch. An die Stelle der Universalgeschichte trat der nationale Mythos. Das Tableau wurde vom »redenden« Orchester abgelöst. Wagner setzt bei Meyerbeer an und fand im Musikdrama einen anderen Weg. Meyerbeer deshalb zum »Vorläufer« degradieren zu müssen, ist ahistorisch und war nur durch die ausschließliche Konzentration auf die Wagnersche Kunst und Weltanschauung möglich geworden. Die Konzeption der »historischen Oper« in der Totalität der Mittel ist ohne Beispiel und ohne Nachahmer geblieben. Als Gattung sui generis blieb sie unerreicht und wurde zum ersten Beispiel eines universalen »Musiktheaters«, was bis heute nur von wenigen akzeptiert wird. Wagners ganz und gar originäre Musik sollte überreden, nicht überzeugen. Sie ist Ausdruck eines ganz individuellen Konzepts, das nicht mit der breiten gesellschaftlichen Basis rechnet wie die Große Oper. Vergleiche zwischen Meyerbeers und Wagners Kunst führen zu nichts, da die Voraussetzungen zu unterschiedlich sind. Noch weniger taugt es, Wagners »Argumente« zur Beurteilung der Kunst Meyerbeers heranzuziehen, wie es heute immer noch praktiziert wird. Mit der »Wirkung ohne Ursache« versucht fast jeder Kritiker eine Basis zu finden, um dann zu erklären, daß Wagner in manchem doch so unrecht nicht habe ... Dieser Auseinandersetzung mit Wagners Kernsätzen fehlt jede fachliche Grundlage, denn Wagner behandelte Meyer266

beer nicht als Künstler, sondern als Juden. Folgerichtig schloß er seine Tiraden im »Judentum in der Musik« mit dem Aufruf: »Aber bedenkt, daß nur eines eure Erlösung von dem auf euch lastenden Fluche sein kann: die Erlösung Ahasvers, — der Untergang!« Dies hat, neben der menschlich unvertretbaren Dimension noch eine geschichtlich-gegenwärtige: Zwischen Wagners Forderung und der Wirklichkeit von Auschwitz besteht lediglich der Unterschied von Idee und Ausführung.

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Kapitel VIII Romanzen

Am 28. Januar 1835 berichtet Meyerbeer seinem Frankfurter Freund Wilhelm Speyer, Liederkomponist und Mitbegründer des I. Deutschen Sängerfestes, von zwei neuen Arbeiten: »Es sind zwei Romanzen, welche ich kürzlich in Paris komponirt habe, und die einige Sensation dort gemacht haben, welches um so mehr zu verwundern ist, da sie in direkt feindseeliger Tendenz gegen die bis jetzt beliebten schmachtenden und duftenden Mode-Romanzen des Salons auftreten, da sie eine dramatische Grundidee und Localcouleur, natürlich in dem verjüngten Maaßstabe der kleinen Form auszusprechen suchen. Die Tendenz des zwischen Versuchung und Reue ringenden Mönch's, spricht sich wie ich hoffe deutlich genug aus um keines ästhethischen Commentar's zu bedürfen. Nicht so vielleicht aber die biblische Romanze Rachel à Nephtali, wo die Farben vom Dichter so zart aufgetragen sind, daß auch ich nur andeuten durfte. Die Scham der jungen Jüdin, ihrem Schwager zu gestehen, daß sie seine verbothene Liebe theilt, hält die Gluth ihrer Leidenschaft zurück, die nur immer bei dem letzten Verse jedes Couplets durchbricht. Ich habe daher dieses comprimirte Gefühl durch die sich stets behauptende kleine Baß-Figur auszudrücken gesucht, und beim letzten Verse des jedesmaaligen Couplets wo die Gluth durchbricht, geht diese BaßFigur in die Singstimme über. Leid thut es mir diese Romanze nicht 4/4 statts 2/4 geschrieben zu haben, da die Bewegung langsamer sein muß, als sie sich so geschrieben für's Auge ausnimmt.« (In der Neuausgabe der Romanze von 1845 hat er die Dauer jedes Tones verdoppelt und 4/4 -Takt vorgeschrieben.) So selten Meyerbeer sich über seine Werke äußerte, so präzis formulierte er in diesem Brief seine Absichten. Er reagierte mit solchen Kompositionen auf ein immer größer werdendes Musikbedürfnis des Bürgertums, das nach 183o begann, feudale Privilegien auch auf dem Gebiet der Bildung und Unterhaltung zu brechen. Im Gegensatz zur instrumentalen Kammermusik des 18. Jahrhunderts, die z. T. von adligen (und auch bürgerlichen) Dilettanten selbst ausgeführt werden konnte, waren die modernen Werke eines Berlioz, Meyerbeer, Rodolphe Kreutzer, Pierre Rhode aufgrund ihrer hohen technischen Anforderungen von Laien nicht mehr spielbar. Man mußte Virtuosen in die Salons einladen. 268

Gleichzeitig erging an Verleger und Komponisten der Ruf nach einfacher Spielliteratur. Die Musik eroberte die bürgerliche Privatsphäre und wurde Teil der »Education sentimentale«, der Erziehung der Gefühle, auch der unechten. Man war der festen Überzeugung, daß der gesellschaftliche Fortschritt, der »Progrès social«, auch durch die Musik befördert würde. Je nach Bildungsstand und Geldbörse wandte sich die Bourgeoisie allen Gattungen zu: vom Contredance bis zur Oper. Für das eigene Musizieren wurde nunmehr die Harfe bevorzugtes Begleitinstrument, bot sie doch in den nackten Armen harfender Damen zum akustischen Genuß auch den optischen Reiz. Daß sich viele Bürger der Tanzmusik und den einfachen Liedformen zuwandten, hing mit der geringen Bildung breiter Volksschichten zusammen, denen die »Musique savante«, »gelehrte Musik«, zu der in Frankreich lange Zeit auch Beethovens Streichquartette gezählt wurden, unzugänglich war. Man wollte keine intellektuellen Rätsel lösen, sondern gut unterhalten werden. Tanzmusik, Tanzkapellen, Tanzrestaurants fanden ungeheuren Zulauf. Aubers Oper »Les diamants de la couronne« (1841) war deshalb so sehr beliebt, weil die Partitur voller Contredanses steckte, die allen vertraut waren. Die Hauptform des häuslichen Musizierens war das Singen von »Romances«. Diese Liedform war schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich verbreitet und erzählte in einfacher Strophenform eine kleine Geschichte, meist von unglücklicher Liebe. In der Revolutionszeit waren dramatische Begebenheiten mehr gefragt, aber im Empire kehrte die Liebe ins Lied zurück. Es gab keinen namhaften Komponisten zwischen Cherubini und Auber, der ihr nicht Tribut gezollt hätte. Neben ihnen lieferten weniger begabte Autoren Romanzen in großer Zahl, die wir heute als U(nterhaltungs)-Musik bezeichnen würden. Gerade die schlichte Form der Romanze eignete sich zu Massenproduktion mehr als »le lied«, wie man das kunstvolle Sololied deutscher Herkunft (Schubert, Schumann) nannte. In der Verquikkung von verlegerischen Interessen (hohe Auflagen, die durch moderne Druckverfahren wie den Steindruck möglich wurden) und minderer musikalischer Sorgfalt entwickelte sich eine neue Trivialkunst, der Meyerbeer mit seinen kleinen, musikalisch-handwerklich kochqualifizierten Stücken entgegenwirken wollte. Die »dramatische Grundidee und Localcouleur« waren eigentlich Grunderfordernisse an Opernlibretti, doch für Meyerbeer hatten sie auch für die kleine Form ihre Bedeutung. Er schrieb keine Lieder im deutschen Sinne, sondern sah in jedem Liedtext die Herausforderung, eine dazu passende »Szene« im theatralischen Sinne zu komponieren. Jeder Text war willkommen, wenn er die Möglichkeit einer neuen Rolle verhieß. Die Auswahl der Gedichte erscheint im Vergleich zu Schubert, Schumann oder Brahms heterogen: Da stehen Goethe, Heine, Wilhelm Müller neben Journalisten wie Hermann Kletke, Pierre Durand, Historiker wie Edmond Thierry, Diplomaten wie Maurice de Flassan, Bibliothekare wie Joseph Naudet oder Librettisten wie Emile Deschamps, Michel Carré, Gaetano Rossi oder Joseph 269

Méry: Personen, die sich Meyerbeer auf diese Weise verpflichtete. Nur so kann man sich die Vielfalt der Kompositionsweisen und die bunte Mischung französischer, italienischer und deutscher Texte erklären, die ihm als kompositorisches Unvermögen angelastet wurde. Johann Peter Vogel hat 1975 eine Schallplattenproduktion mit Werken von Meyerbeer, gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau, wie folgt kritisiert: »Mag sein, daß Meyerbeer aus der Masse der damaligen französischen Romanzenproduktion mit seinen Mélodies turmhoch herausragt, im Kontext des deutschen Liedes ist das Gewicht des Theatralischen und Effektvollen, gemessen an der musikalischen Ausdeutung des Textes, zu groß. Das paßt nun zwar zu den putzigen Gedichten von W. Müller und auch zu den pompösen französischen Poèmen; was gemeint ist, wird vor allem dort deutlich, wo Texte von Heine und Rückert vertont werden, die — ohne sein Wissen — Schubert und Schumann ebenfalls in Musik gesetzt haben. Kurz einige Stichworte: aus der atemlosen Ergriffenheit des Liebenden in Schumann / Heines >Die Rose, die Lilie, die Taube< wird ein Auftritt mit dem Charakter einer narzistischen Selbstbespiegelung. Die verwundete Versunkenheit von Schumann / Heines >Hör ich ein Liedchen klingen< wird verkürzt auf eine melodisch freilich sehr gepflegte Wehmut. Heines >Fischermädchen< regt Meyerbeer zum rassigen Ständchen eines Don Juan an, während Schubert die menschliche Beziehung der beiden und die Landschaft zusammen sieht. Möglicherweise kommt Heines Ironie bei Meyerbeer sogar besser zum Ausdruck als bei Schubert und Schumann, die diese Gedichte ganz ernst nehmen; ob aber diese literarische Betrachtungsweise Meyerbeers Vertonungen beispringt, bleibt zweifelhaft ...« — eine elitäre, ausschließliche, mißverstehende Betrachtungsweise, die sich überhaupt nicht die Mühe macht, Meyerbeers Motivationen in Erwägung zu ziehen, geschweige denn anzuerkennen, daß es mehrere Möglichkeiten gibt, sich einem Text musikalisch zu nähern. Wer in seinem Denkansatz die Funktion und das Umfeld einer bestimmten Kompositionsweise außer acht läßt, kommt leicht zu absoluten, undialektischen Wertmaßstäben und mißt alle Stücke mit der gleichen Elle. Meyerbeer sah bei der Komposition seiner Lieder andere Aufgaben, als sie sich Schubert oder Schumann stellten. In seinen Gesängen »... wird kein wie auch immer durch Herkunft und Einbindung in eine soziale Konfiguration vorgegebener thematischer Kreis ausgeschritten, sondern die pittoreske Vielfalt gesucht. Damit ist von vornherein die Verletzung von Traditionslinien oder Geschmackstabus angelegt. Von Rollenerfordernissen diktiert, wird die Grenze zwischen Hoch- und Trivialmusik im Sinne von künstlerisch funktionalen Übertritten durchlässig. Hoher technischer Standard steht neben sentimental strömender Platitude, groteske und tragische Gebärden überschneiden sich mit banalen, modischen auf dem Raum weniger Takte. Als Grundlage der Vertonungen benutzt der Komponist gern vom Kommerz erfaßte musikalische Stereotypen (Valse, Tarantelle, Galop usw.). Durch sie werden 270

die zu vertonenden Texte in einen ersten, gestalterisch relevanten Bezug gebracht. Daneben rückt deren verfremdende Behandlung als übergreifendes Gestaltungsmoment in den Vordergrund. Das geschieht in der Nuance. Durch Nuancierung werden die stabilen kommerzialisierten Typen aufgebrochen. Das geschieht mittels sorgfältig eincollagierter Details, die dem musikalischen Grund entragen. In >Die Rose, die Lilie, die Taube< erzeugt das unerwartete Melisma auf das Wort >Wonne< den Eindruck, der Körper einer Frau dehne sich in der Sonne, und eine Erosgebärde als tiefster Seinsgrund des Heineschen Gedichts erscheint« (Bernd Böhmel im Nachwort zur Neuausgabe der Lieder Giacomo Meyerbeers, 1982). G. Meyerbeer: »Die Rose, die Lilie, die Taube« (Heinrich Heine) /1//egrel/o mo//o moderato

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Etwa ein Drittel aller Lieder entstand in den Jahren zwischen 1836 und 1839. Es war die Zeit, in der der Erfolg des »Robert« anhielt und der der »Hugenotten« stabilisiert werden mußte. Da Meyerbeer nicht gezwungen war, wie etwa Auber, jedes Jahr ein oder zwei neue Bühnenwerke vorzulegen, begnügte er sich mit kleinen Formen. Wie kein zweiter Komponist stand er im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Das verpflichtete. Weil er als dramatischer Komponist nicht Lieder, sondern Szenen schrieb, gab er seinen Sängern Gelegenheit, in den großbürgerlichen Salons, wohin sie als gern gezeigte Ausstellungsstücke gebeten wurden, zu glänzen. Lieder, Romanzen und 271

Arien von Meyerbeer singen zu dürfen, bedeutete ebenso eine Auszeichnung wie von ihm vertont zu werden. Im Dezember 1831 schrieb Meyerbeer an Heine: »Tausend Dank für die göttlichen Lieder: aber wo die Verse so viel Musik enthalten, wo sollen wir armen Notenschmierer noch melodischere Töne dazu finden?« Dieser Seufzer ist keine Koketterie, sondern verrät Meyerbeers Verhältnis zum Text. Ihm waren einfache, bildkräftige Texte lieber als »Wortmusik«. Auch von seinen Opernlibrettisten verlangte er eine klare, eindeutige Sprache. Je weniger literarischen Eigenwert ein Text hatte, desto mehr entzündete sich daran Meyerbeers kompositorische Phantasie. Dennoch wußte er ästhetische Qualitäten zu schätzen und »deutete nur an«, um die Poesie nicht zu zerstören. Die Anzahl der Tempovorschriften innerhalb eines Liedes steht zu den Vortrags- und Charakterbezeichnungen im Verhältnis 1:2. Wie in seinen Opernpartituren legte Meyerbeer auch in den Romanzen großen Wert auf eine ausgefeilte Interpretation, für die er verbale Hilfen gab. Auch hier: Szene statt Lied.

Bis 186o erschienen noch einmal etwa zwanzig Lieder. Nicht jedes ist bekannt, da einige in Zeitschriften zwar angekündigt, vermutlich aber nie gedruckt wurden. Manches Blatt war nur eine Gefälligkeit, die man von Komponisten einfach erwartete; es machte keinerlei Ansprüche geltend und hatte nur Wert für den, der es besaß. 1849 erschienen bei Meyerbeers neuem Verleger Brandus in Paris »4o Mélodies« in einer vom Komponisten zusammengestellten Ausgabe. Die Anordnung ist, im Gegensatz zur chronologischen Folge der Neuausgabe, nicht nach dem Datum der Entstehung getroffen, sondern folgt dem Prinzip des Heterogenen. Das ist Methode, nicht Verlegenheit. Jeder kann in diesem Band selbst auf Entdeckungen gehen und sich von der absichtsvollen Zufälligkeit überraschen lassen, ein Prinzip, das Brecht später an Eislers Ausgabe seiner »Lieder und Gesänge« rühmte. So bunt gemischt wie Texte von Blaze, Rückert, Deschamps, Heine, Müller und Pacini aufeinander folgen, so bunt ist auch das Sprachengemisch. »Aus künstlerischen Gründen«, wie Meyerbeer seinem alten Verleger Schlesinger schrieb, müßten alle Lieder in zwei Sprachen erscheinen, wobei der deutsche Text, entweder als Original oder als Übersetzung, in jedem Falle gedruckt wurde. Welche Bedeutung Meyerbeer als Liederkomponist hatte, geht daraus hervor, daß Heine von den Verlegern Marie und Léon Escudier ersucht wurde, den Maestro von Schlesinger wegzulocken und ihn ins Lager Escudier zu ziehen, der Schlesingers schärfster Konkurrent war und hauptsächlich die italienischen Komponisten (Rossini, Donizetti und Verdi) popularisierte. Obwohl die Brüder Escudier in ihrer Zeitschrift »La France musicale« die bissigsten Artikel gegen Meyerbeer veröffentlichten, wollten sie doch nicht auf das große Geschäft mit Meyerbeer-Liedern (oder sogar Opern?) verzichten. Lieber hätten sie von ihren Invektiven abgesehen. Im Hinblick auf einen 272

Vertragsabschluß zwischen Escudier und Meyerbeer ließ sich Heine einen Vorschuß zahlen. Als er aufgebraucht war und Meyerbeer immer noch keine Heine-Lieder vertont hatte, schrieb der Dichter einen bösen Brief und kündigte seinem langjährigen Freund die Freundschaft auf: »Hochgeehrter Maestro! Ich verhehle Ihnen nicht, daß ich es nicht verschmerzen kann irgend eine Fehlbitte bey Ihnen gethan zu haben. Ich muß daher Abschied von Ihnen nehmen. Indem ich mich nun von Ihnen entferne, kann ich nicht umhin, zu meiner eignen Genugthuung Ihnen zu bedeuten, daß Sie keine Ahnung davon haben, wie sehr es für Sie und andre vom höchsten Nutzen war, daß ich seit 15 Jahren den Posten von Paris behauptete, trotz aller Geld- und Gesundheitsopfer, die mir dieses kostspielige und hitzige Pflaster auferlegte. In Betreff der Volkslieder-Melodien gebe ich Ihnen Ihr Versprechen zurück. Nachdem ich Jahre=lang von Ihnen an der Nase herumgeführt worden, verzichte ich auf jede Herausgabe. Ich habe den Hr. Escudièr hiervon Anzeige gemacht und ihnen ihre Vorschüsse (i000 f.) zurück erstattet. Vielleicht gebe ich Ihnen nächstens die 5oo f. zurück, mit denen Sie jüngst behaupteten, sich von Ihrem Worte losgekauft zu haben; ich entbinde Sie lieber gratis jener Verpflichtung. Ich kann Ihnen ebenfalls nicht verhehlen, wie sehr ich in diesem Augenblick einsehe daß Sie nur in der Musik ein Genie sind, daß ich nur diesem meine Bewunderung und Verehrung zollen darf. Paris den 24. Dezember 18 45 Heinrich Heine« Erst im Oktober 1845 hatte Meyerbeer den Escudiers für die Beilage zur »France musicale« zwei Lieder überlassen — »La dame invisible« und »Sur le balcon«. Daraufhin beklagte sich selbstverständlich Maurice Schlesinger: »Sie waren so gut mir eine Melodie geben zu wollen, nachdem Sie 2 an Leute gegeben die Sie auf's schrecklichste mitgenommen und von denen Sie wissen daß sie Schurken sind« (14. Oktober). Doch Meyerbeer hatte nur nachgegeben, um Ärger zu vermeiden, indem er ihnen einen kleinen Finger reichte; die ganze Hand — eine neue Oper — hätte er den Escudiers nie gereicht. Ab 1837 befand sich Giacomo Meyerbeer in einer sonderbaren Lage. Mit dem Welterfolg der »Hugenotten« hatte er gegen den Welterfolg des »Robert« anzukämpfen, und alle Welt erwartete nun von ihm eine dritte Oper, die die vorherigen Werke übertreffen müßte. Natürlich wollte er selbst gern den zwei Säulen seines Ruhms eine dritte hinzubauen, aber er fand die Muße nicht, denn die beiden vorhandenen Werke beanspruchten seine Zeit zu ihrer Verbreitung über die ganze Welt. So las Meyerbeer zwar eine ganze Menge Stücke und schloß auch bald Verträge, um die Ideen nicht an andere Komponisten abgeben zu müssen, aber mit der Ausführung seiner Pläne hatte er keine allzu große Eile. Mit seinen Kassenfüllern hatte Meyerbeer einen neuen Standard der Opernproduktion eingeführt, und nun mußte er sich an seine eigenen Ge273

setze halten, die der Erfolg diktierte. Dabei stieß er immer wieder an die Grenzen des Repertoire-Betriebes in der Académie. Sie hatte einen unerhörten Verschleiß an Sängern, Direktoren und Stücken. Konstant blieben die hohen Einnahmen durch »Robert« und die »Hugenotten«, trotz mancher ernsthaften Konkurrenz, wie etwa »La Juive«, die Halévy als Angestellter des Hauses natürlich häufig auf das Programm setzen konnte. Manches Werk von Donizetti, Halévy oder Auber war tatsächlich eine Sensation, jedoch meist nur für eine Saison. Meyerbeer lebte in ständiger Sorge, daß andere Autoren seinen Ruhm verdunkeln, seinen Werken den Rang ablaufen könnten. Von jeder Premiere ließ er sich alle erreichbaren Artikel senden, falls er es nicht vorzog, zu bestimmten Uraufführungen selbst in Paris zu erscheinen, wie zur Premiere des »Benvenuto Cellini« seines Freundes Hector Berlioz. Zu seinem Leidwesen fiel die Oper durch: »Sie enthält bei vielem sehr mißrathenem und confusem, auch sehr große Schönheiten. Das Poem von Leon de Wally aber ist sehr schlecht«, berichtete er am 13. September 1838 seiner Frau. War die Konkurrenz nicht erfolgreich, mußte er sich mit Neubesetzungen seiner Hauptpartien befassen, die ihm vielerlei Verdruß bereiteten. Nourrit zum Beispiel, seit 1821 als 1. Tenor im Dienst, fühlte sich gekränkt, daß die Académie 1837 Gilbert Duprez engagierte. Er verließ Paris und führte ein unstetes Wanderleben. 1839, nach einer »Norma«-Vorstellung in Neapel, stürzte er sich in einem depressiven Anfall aus dem Fenster. Duprez war in Italien ausgebildet worden und hatte dort seine Bühnenpraxis erworben. Meyerbeer kannte ihn schon seit 1834, von jener anderen »Norma«-Aufführung, die ihn damals so nachhaltig beeindruckt hatte. Duprez verfügte über eine gute Artikulation, aber nur mittelmäßige schauspielerische Begabung. In Paris repräsentierte er einen neuen Typus des Gesanges, mit scharfer Tongebung, kraftvollem, aber starrem Ton, dem es an den frühen Vokalisations- und Improvisationskünsten des Belcanto mangelte. Meyerbeer machte sich Sorgen, wie er Duprez trotzdem in den Opernpartien einsetzen könnte, obwohl sie für einen ganz anderen Stimmcharakter konzipiert waren. Duprez sang jedoch wegen anderer Verpflichtungen nicht oft an der Académie, so daß man sich nach einem weiteren Tenor umsehen mußte. Man fand ihn in dem Italiener Mario De Candia, der bei Bordogni studiert hatte — in Meyerbeers Augen eine gute Empfehlung. Als aber der Marchese De Candia im Herbst 1837 debütieren sollte, »... hat [er] mir gestanden daß er seit 8 Monaten an einer galanten Krankheit leidet, die ihm die Brust und Stimme sehr geschwächt hat, und letztere namentlich sehr rauh macht (Hübsche Requisite um in einer Rolle wie Robert zu debutieren ...)«, bemerkte der Komponist sarkastisch gegenüber seiner Frau. Er probierte aber so ausdauernd mit dem Sanger, daß er endlich am 7. August 1839 in der hundertzweiundachtzigsten Vorstellung des »Robert« erstmals auftreten konnte. Meyer274

beer gehörte zu den wenigen Komponisten, die es immer wieder auf sich nahmen, neue Protagonisten selbst einzuweisen. Ähnliche Besetzungsprobleme gab es bei den ersten Damenrollen. Die Falcon hatte schon bald nach der »Hugenotten«-Premiere erste stimmliche Schwächen gezeigt und fiel 1837 ganz aus. Meyerbeers Feinde behaupteten zwar, sie habe sich mit der Partie der Valentine kaputtgesungen, aber sie war auch in anderen großen Stücken ständig im Einsatz, z. B. in der ebenfalls nicht unaufwendigen Partie der Recha in »La Juive«. Ein vollwertiger, Meyerbeers Ansprüchen genügender Ersatz war nicht sofort zur Stelle, und so wurden alle Freunde in nah und fern beauftragt, nach geeigneten Sängerinnen Ausschau zu halten. Halévy plagten die gleichen Sorgen. Das führte zu grotesken Situationen: »Die Falcon muß nun decisiv das Theater verlassen ... Da ist nun ein junges Mädchen welches viel verspricht. Der hat Halevy heimlich die Jüdin einstudirt und diese sollte die Rolle singen bis die Falcon wieder kömmt. Das habe ich erfahren und studire ihr nun die Valentine... ein, die außerdem todt wäre, denn die Stolz jagt die Leute aus dem Theater hinaus. Wäre ich nicht hier gewesen, so hätte die Stolz die Rolle ohne weiteres behalten« (22. Januar 1838) — ein Intrigenspiel wie in einem Boulevardstück. Die »Stolz«, das war Rosine Stoltz oder Victorine Nöb oder Madame Ternaux oder Mademoiselle Héloise; Meyerbeer konnte sie nie leiden, da er ihr die mangelnde Schulung ihrer Stimme nicht verzieh. Sie hatte aber den Ehrgeiz, die Nachfolgerin der Falcon zu werden, um in Meyerbeers nächster Oper Anspruch auf die erste Rolle erheben zu können. Über diese Affaire stürzte dann ein weiterer Direktor der Académie. Gouin schrieb an Meyerbeer, »... daß die Stolz jetzt so detestable [abscheulich] in den >Hugenotten< ist, daß wenn es nicht wäre um die Oper auf dem Repertoire zu halten, er [Gouin] wünschen würde, daß man sie gar nicht gäbe ...« (19. Mai 1838). Dennoch: »Vorgestern waren die >Hugenotten< zum letzten Maale vor Duprez Abreise. Die Rezette war ungeheuer 11,224 Franken ... Leider aber war die Vorstellung wieder schlecht, die Stolz unter aller Kritik« (23. Mai). In einem Brief vom 20. Mai an Minna beschrieb er die Zustände an der Académie: »Mein Hieherkommen hat einen großen Scandal verhütet. Ein elender deutscher Sänger Namens Huner, der zuweilen Rataplan in der Oper singt, sollte während Duprez Abwesenheit als Raoul in den >Hugenotten< debutiren. Was sagst Du zu Halevy? Du kannst Dir denken wie ich da hinein donnern werde.« Selbst Debütantinnen hat er auf ihre Befähigung hin überprüft, z. B. Mlle. Adelaide Barthélemie, 1838 Preisträgerin des Gesangswettbewerbs am Conservatoire. Es war an sich nicht ungewöhnlich, daß man so junge Stimmen einsetzte: Die meisten Primadonnen begannen schon mit siebzehn, achtzehn Jahren, große Rollen zu übernehmen. Allerdings traten sie oft auch recht bald wieder ab, entweder weil sie abgesungen waren oder weil sie von der Bühne weg geheiratet wurden. 275

Wilhelm Beer hatte Wilhelmine Schröder-Devrient als Valentine in der Dresdner »Hugenotten«-Aufführung gesehen und schwärmte nun von ihr in seinen derben preußischen Ausdrücken: »Die Vollendung der Devrient ist aber auch über alle Begriffe. Ihr Gesang läßt nichts zu wünschen übrig und Ihr Spiel erreicht Talma. Ich habe dieser infamen Hure als ich im Winter hier war gerathen auf diese Rolle nach Paris zu reisen. Wiewohl sie nun darauf brannte so hatte sie doch eine Menge Bedenklichkeiten ... Bedenke wie sie ihn [Duprez] aus dem Sack spielen wird ... Sie hat eine garnicht unangenehme Aussprache im Französischen ...« (19. Juli 1838). Meyerbeer ging nicht auf das Angebot ein, weil er wohl an ihre Körperfülle dachte. Bald nach der Uraufführung der »Hugenotten« meldeten sich die ersten interessierten Bühnen für das Nachspielen. Schlesinger ließ die Partitur stechen; Breitkopf & Härtel in Leipzig hatte das Recht zur Verbreitung des Klavierauszuges in der deutschen Übersetzung von Ignaz Castelli erworben. Ungehalten schrieb der Verlag an den Komponisten, da »... noch immer nicht an die Versendung der Partitur Ihrer >Hugenotten< zu denken (ist), da Schlesinger solche nicht fördere ... Der Ruf, der Ihren >Hugenotten< vorausging war so groß ... daß die Motiven mit einer Schnelligkeit ... in das Volk übergingen ... Auf diese Weise ... ist Ihre Oper bekannt worden, ehe sie auf die Bühne kam ... Hierin aber scheint uns eine große Gefahr für Ihre Oper zu liegen, wenn dieselbe unseren Bühnen länger vorenthalten wird« (25. Januar 1837). Meyerbeer erhielt seinerseits keine Belegexemplare der Breitkopf-Ausgabe, da die Pariser Behörden den deutschen Klavierauszug einzogen, weil »er eine fremde Ausgabe eines in Paris mit Eigenthumsrecht erschienenen Werkes« enthalte. Man achtete also sehr genau auf das geistige Eigentum der in Frankreich lebenden Autoren. Meyerbeer wurde demnach bei den Behörden seines Gastlandes als zur französischen Nation gehörig geführt! Als nun Schlesinger die Partitur auslieferte, hätte dem Siegeszug der »Hugenotten« auf deutschen Bühnen eigentlich nichts mehr im Wege stehen dürfen. Statt dessen kamen am 22. Mai 1838 am Münchner Hoftheater »Die Anglikaner und Puritaner« von Giacomo Meyerbeer zum ersten Mal zur Aufführung; am 6. Juli 1839 im Wiener Theater in der Josephstadt »Die Ghibellinen in Pisa«, ebenfalls von Meyerbeer; am 19. Februar 184o im Wiener Kärntnerthor-Theater die »Welfen und Ghibellinen« — von Meyerbeer (1925 in Moskau »Die Dekabristen« — von Meyerbeer). Es handelte sich in jedem Falle um die »Hugenotten«, nur in immer anderen Bearbeitungen, gegen die der Komponist, zumindest bei den Münchner und Wiener Aufführungen, noch keine rechtliche Handhabe hatte, denn ein Urheberrecht im Sinne des Autorenschutzes vor sinnentstellenden Bearbeitungen gab es damals weder in Deuschland noch in Osterreich. Meyerbeer konnte nur die Berichte lesen. Gegenüber Castelli äußerte er dazu: »Diese Musik paßt speziell nur zu diesem Stoff« (26. Juni 1837). Die 276

deutschsprachigen Bühnen wollten alle gern die »Hugenotten« spielen, aber im Original war das Stück zu brisant. Namentlich der Luther-Choral erregte Anstoß. Conradin Kreutzer erläuterte dem Komponisten am 29. Dezember 1838 in einem Schreiben aus Wien den Grund: »... da wir hier immer noch mit der Censur wegen den Sujet zu kämpfen haben — auch liegt ein Handbillet von der Kaiserin vor, das den Luth.-Choralgesang durchaus verbietet.« Im katholischen München war es ebenso; die protestantische Oberzensurbehörde in Berlin verbot das Stück überhaupt. Anders im liberalen Sachsen: Sowohl in der Messestadt Leipzig als auch in der Residenzstadt Dresden wurden die »Hugenotten« in der Originalgestalt gespielt, ebenso in der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main und am Hoftheater in Braunschweig. Wüßte man nicht mehr genau, woher zehn Jahre später die Truppen der Reaktion zur Niederschlagung der demokratischen Erhebungen marschiert sind, so könnte man schon anhand dieser Orte die reaktionären Böcke von den liberalen Schafen unterscheiden. Auch in Frankreich gab es eine Zensur. Sie hatte an einem Detail in Meyerbeers Konzeption etwas auszusetzen gehabt, worüber sich der Komponist sehr erregt hatte, aber zu keiner Zeit bestand die Gefahr, daß dieses Stück generell verboten werden könnte. Meyerbeer selbst half mit, die Rechte der französischen Autoren zu schützen, indem er lange Jahre als Mitglied der »Commission de Société des Auteurs et Compositeurs dramatiques«, einer Vorform der heutigen Urheberrechtsgesellschaften, den Rechtsschutz für Bühnenwerke durchsetzte. Wie die Tagebuchaufzeichnungen bis 1854 aussagen, nahm er es mit diesem Auftrag sehr genau. Die Aufführung seiner »Hugenotten« in Dresden fand Meyerbeers ungeteiltes Interesse, zumal sein Freund Karl Winkler (der Theaterdirektor und Autor mit dem Pseudonym Theodor Hell) ihn gewarnt hatte: »Wie es möglich seyn wird, sie hier zu geben, weiß ich noch nicht, denn unsre Geistlichkeit ist zelotischer [glaubenseifernder] als je, ... Den Choral können wir aber in keinem Falle opfern und so muß es erst durch Kämpfe zum Ziele gehen« (28. April 1837). Die Theaterleitung setzte sich durch. Der Komponist teilte Winkler am 27. Februar des folgenden Jahres mit: »Mit Vergnügen habe ich vernommen daß die Aufführung der >Hugenotten< auf d 17' März angesetzt ist, denn der 17' in der Theatersprache heißt der 27.« Man fand sich in der Mitte und legte die Erstaufführung auf den 23. März 1838. Meyerbeer eilte herbei, um die Klavierproben zu leiten, die nach seinen Erfahrungen noch die beste Möglichkeit der Korrektur boten. Am 5. März schrieb er seiner Frau, die in Baden-Baden die erste Märzwärme genoß: »Ich schreibe Dir diese flüchtigen Zeilen in Oschatz 6 Meilen vor Dresden, wo ich heute Nacht gegen i i Uhr einzutreffen hoffe. Die Reise ist über allen Ausdruck beschwerlich gewesen, der fürchterlichen Wege halber welche immer um ein Drittheil mehr Zeit erforderten als sonst. Ich bin jeden Morgen um 5 Uhr abgefahren 277

und keine Nacht vor i i Uhr ins Quartier gekommen. Über allen Ausdruck ermattet und zerschlagen fühle ich mich ...« Nach fünf Tagen zermürbender Fahrt stürzte er sich sofort in die Probenarbeit, beriet sich mit Carl Gottlieb Reißiger, dem Dirigenten der Aufführung, mit Joseph Tichatschek, dem Darsteller des Raoul, kürzte den Zigeunertanz, hielt mit der Bühnenmusik Extraproben ab — kurz, er nahm alle Aufregungen vor einer Premiere auf sich — und verschwand am 15. März in Richtung Berlin, ohne den Tag der Erstaufführung abzuwarten. Er wußte sein Werk bei Reißiger und den Dresdner Künstlern in besten Händen. »... Berichten die Briefe welche wir erhalten haben die Wahrheit, so ist es ein Success d'entousiasme wie er selten in Dresden stattgefunden hat ... Meine Proben mit den Sängern Chöre und Orchester scheinen gefruchtet zu haben, denn alle ... Briefe sprechen von dem Ensemble und der feinen Nuancierung der Darstellung. Die Devrient soll über allen Ausdruck trefflich, namentlich im 4tenAkt gewesen sein, und Kaskel [einer der Dresdner Freunde Meyerbeers] der die Falcon in Paris als Valentine gesehen hatte, setzt die Devrient weit höher. Dem Tenor Tichatschek geht da er noch krank ist Kraft und Energie ab. Aber er hat Schmelz Innigkeit und Wohllaut ...« (26. März). Er »ist unstreitig einer der ersten Tenöre welche Deutschland jetzt besitzt«, hieß es in einem Brief an Minna vom 17. April, als der Dresdner Tenor in Frankfurt am Main als Raoul gastierte. (Durch die Partien des Robert und Raoul geschult, die er auch in Hamburg und London sang, konnte sich Tichatschek den Rollen des Rienzi, Tannhäuser und später auch des Lohengrin nähern. Er wurde Wagners verläßlichste Stütze während dessen Dresdner Kapellmeisterzeit.) Im April 184o wurde Meyerbeer nach Braunschweig gerufen, um die dortige Premiere der »Hugenotten« vorzubereiten. Am i 2. April erfuhr Minna: »Ich arbeite à la lettre [buchstäblich] von 6 Uhr Morgens's bis i o Uhr Abend's und falle dann vor Ermüdung wie ein Sack hin. Sängerproben Chorproben Balletproben Mise en Scène Proben, Arrangements und Druck des Buches, Dekorationsproben, bei allem muß ich hülfreiche Hand leisten, da nichts vorbereitet war.« »Nichts«, das hieß für den Perfektionisten Meyerbeer, daß man nicht in seinem Sinne vorgearbeitet hatte, denn er wollte die Pariser Bedingungen möglichst auf jede Bühne verpflanzen. Diesmal blieb er bis zur Premiere und schrieb seiner Frau am i6. April: »... allein durch den ganzen Lauf der (würklich vortrefflichen) Vorstellung fand ich das Publikum in seiner Beifall'sbezeigung lau, wenigsten's im Verhältniß zu Paris und Dresden ... Man versichert mich heute allgemein daß die Oper die tiefste Sensation erregt hat, und daß seit vielen Jahren in Braunschweig keiner ähnlichen Entusiasmus erregt hat. Wenn das der Entusiasmus ist, wie muß dann die Kälte sich gestalten?« fragte der verwöhnte Komponist besorgt. Er war sich offenbar der schwerblütigen Mentalität der niederdeutschen Operngänger nicht bewußt, denn er beklagte sich im gleichen Brief: »Das Publikum der Stadt bekümmerte sich wenig um mich.« 278

Um so mehr interessierten ihn die Vorgänge an der Académie in Paris. Dort spekulierte man über seine neuen Opern; in der Presse erschienen verleumderische Artikel von Véron und Spontini, und das Tauziehen zwischen den Verlegern um Meyerbeers Huld wurde mit Spannung verfolgt. Bereits Ende 1836 hatte Scribe seinem Erfolgskomponisten den Entwurf eines neuen Textbuches übergeben, das ihn gleichermaßen abstieß wie faszinierte: die Geschichte der gescheiterten Wiedertäuferbewegung und ihres Anführers Jan van Leyden. Im Januar und März 1839 wurden Verträge abgeschlossen, die die Fertigstellung der Partitur bis März 1841 vorsahen. Am 24. Mai 1837 war jedoch auch ein Vertrag über die Oper »L'Affricaine« abgeschlossen worden, die im Verlaufe der kommenden drei Jahre komponiert werden sollte. Bei einer von Meyerbeer verursachten Verzögerung des Termins sollte Scribe 5000 F Abfindung erhalten. (Um es vorwegzunehmen: Der »Prophet« wurde 1849 uraufgeführt; die »Afrikanerin« war beim Tode Meyerbeers ein riesenhafter Torso und konnte erst 1865 uraufgeführt werden.) Schließlich gab es noch ein drittes Werk, an dem der Komponist von Juli bis Dezember 1837 in Baden-Baden arbeitete. Es war »Cinq-Mars« von Henri Vernoy de Saint-Georges, nach einem Roman von Alfred de Vigny (1826), mit der Fabel: Der Marquis Henri Coiffier de Ruzé (1620-1642), Favorit des Königs Louis XIII, zettelt eine Verschwörung gegen die Kirche an und fällt dem Kardinal Richelieu zum Opfer. Meyerbeer begann die Hauptnummern des ersten Aktes zu skizzieren, in der üblichen Particellform mit Gesangssystemen und einer Art Klavierauszug, der Angaben zur Intrumentation enthielt. Es sind überliefert: Die Introduktion, ein »Choeur des Comédiens« (im Stil des »Spottchores« aus dem dritten Akt der »Hugenotten«, aber ohne dessen aggressive Note); der Auftritt der von allen verehrten Actrice Marion, ihr »Air« (in der Art der Pagenarie aus dem ersten Akt der »Hugenotten«); eine Weihnachtsszene mit Glockengeläut (am Rand der Skizze stehen Bemerkungen über die mögliche Besetzung mit Hörnern und Trompeten); ein Duo bouffe; ein Duo Marie—Cinq-Mars (in der Art des Agitato -Teils aus dem Duett Valentine—Raoul aus dem vierten Akt der »Hugenotten« — der Mittelteil mit dem Text »ah le beau ciel de l'Italie« verweist auch im melodischen Charakter auf Italien); das Finale I mit einem Chor der Kurtisanen im »Tempo di Menuetto«; ein »Air« des Cinq-Mars (eine »offizielle« Musik in Gegenwart des Hofes, mit einfachen diatonischen Schritten in der Melodie im Gegensatz zu den emphatischen, chromatisch durchsetzten Linien im Duett mit Marie); ein »Cantique«, ein Zug von Sterbenden, die von Mönchen begleitet werden, also die obligate Kirchenszene mit Tamtam und Posaunen; einige Seiten vom aktionsreichen Ende des Finale I und Couplets des spanischen Gesandten. Vom zweiten Akt gibt es lediglich einen »Choeur d'Introduction«, an dessen Ende ein Eremit erscheint. Die Skizzen brechen ab nach einem in 279

sehr sauberer Schrift in Partitur ausgearbeiteten Chor auf die Worte »Vive la France«, die offenbar einen Auftritt des Königs begleiten. Die Verwandtschaften zu den »Hugenotten« sind an mehreren Stellen sehr deutlich; die offenbar für das ganze Werk vorgesehene Wiederverwendung von Standards aus diesem Werk zeichnet sich schon bei diesen wenigen Stücken ab. Zunächst schien das aktionsreiche Buch Meyerbeer zu interessieren, bis er merkte, daß der private Charakter der Unternehmung gegen den Kardinal nie die Dimension der politischen Auseinandersetzungen wie in den »Hugenotten« erreichen würde. Er brach die Komposition ab, da er sich nicht auf niedrigerem Niveau wiederholen wollte. Charles Gounod hat nach einem Text von Poirson und Gallet 1877 eine andere Version des Stoffes vertont, der kein Erfolg beschieden war, obwohl er sie noch im selben Jahr für Lyon in eine fünfaktige große Oper umwandelte. Andere Opernpläne notierte Meyerbeer im Juni 1839 in seinem Tagebuch: »... mir fiel ein, dass ich aus Rex Cervo [König Hirsch von Goldoni] u. a. eine Buffo Oper machen wollte. A. Deschamps rieth zum >TartuffeRobert< und die >Hugenotten< auch unvergängliche Schönheiten. Meyerbeer müht sich ab, und manchmal geht ihm einfach das Melodische aus; er schleppt sich mit unglaublichen Gemeinplätzen ab, und wenn er auf seinem Wege einen Gassenhauer antrifft, so verarbeitet er ihn mit orientalischer Üppigkeit, denn seine Partituren weisen eine erschrekkende Arbeitsleistung auf. Ganze Stücke sind von steifem, widerwärtigem Zuschnitt, daß sie Logarithmentafeln ähneln ... Der Zuschauer liebt es nicht, wegen 20 Minuten Unterhaltung fünf Stunden gelangweilt zu werden, und die pathetische Kunst wird ihn niemals überzeugen, sich zehn unbedeutende Piècen brav anzuhören, nur um eine Seite zu bewundern.« Obwohl Meyerbeer im Februar 1838 mehrfach mit Heine zusammentraf, um des Dichters Einfluß auf die Escudiers zu erwirken, konnte auch er das Erscheinen der Serie nicht verhindern. Erst in einem Brief vom 24. Mai 1842 bekannte Heine gegenüber Meyerbeer: »... die Verantwortlichkeit, die ich gegen Sie und die Herren Escudier übernommen habe, beunruhigt mich... Die E. sind Lumpen, aber sie wollen nicht als solche behandelt seyn ... ich bin mit den E. übereingekommen, ... daß ich sogar Sonnabends in die 280

Druckerey gehe, um mich zu überzeugen, daß nichts ins Blatt hineingeschmuckelt wird ... Sie hatten mir in Ihrem letzten Brief geschrieben, daß Sie mir Ende vorigen Monaths den Restant der gewünschten l 000 fs, nehmlich 5oo fs schicken würden ...« Das hieß, Heine suchte Vorwände wie angebliche Attacken in der »France musicale«, um selbst zu Geld zu kommen. Meyerbeer lebte jahrelang in Furcht vor solchen Pressekampagnen, die sein künstlerisches Ansehen schädigen mußten und ihm die Arbeit vergällten, zumal er gerade jetzt der Ruhe bedurfte, weil er mit seiner neuen Oper wieder Neuland betrat. Normalerweise fuhren die Pariser im Sommer aufs Land, um sich von der anstrengenden Saison zu erholen. Offenbar war »tout Paris« im Juli 1838 nicht in die Ferien gefahren, denn Meyerbeers Taschenkalender war voller Notizen über Treffen mit Heine, Scribe, Delavigne, Berton, Duprez, Dumas, Candia, Habeneck, Pleyel, Cherubini, Bordogni, Duponchel, Crémieux, mit den Damen Lebrun, Dorus-Gras, Rieux; außerdem sind mehrere Sitzungen in der »Comission des Auteurs« verzeichnet. In diese für Meyerbeer so geschäftige Zeit platzte ein Artikel, den Véron an einem Sonntag, dem 22. Juli, im »Constitutionnel, Journal du commerce, politique et littéraire« veröffentlichte. Der Beitrag des ehemaligen Direktors der Académie verstimmte nicht nur Meyerbeers Gemüt: »Theures angebethetes Weib! Heute werde ich kurz sein, denn ich bin von einem Kolikanfall den ich vorgestern hatte und dem heftige Diarröhe folgte welche auch heute noch nicht ganz aufgehört hat, sehr ermattet. Diese Unpäßlichkeit verdanke ich einem heftigen Arger der mich unwiderstehlich befiel als ich den vorgestrigen Constitutionel laaß. Der elende Veron, der sein ganzes Vermögen, seine ganze jetzige Position [er besaß die Zeitschrift] >Robert< verdankt, hat mich auf eine so niederträchtige gemeine und dabei so lügenhafte Weise angegriffen, daß es schauderhaft ist. Dabei ist das Gift so fein für Frankreich berechnet, daß mir der Artikel den ungeheuersten Schaden thun wird. Dies ist nun schon das 2te Maal in 14 Alles erlogen und erdichTagen daß er sein Gift gegen mich aussprützt. tet« (24. Juli). Véron hatte in der damaligen rüden journalistischen Form Meyerbeers Hang zum Perfektionismus karikiert. Mit diesem Feuilleton konnte er des Beifalls der Menge und der Konkurrenten sicher sein, denn wer las nicht gern Einzelheiten, die ein Kenner der Lage verbreitete! Gewiß mag ihm auch der Groll darüber die Feder geführt haben, daß Meyerbeer als erster Komponist in der Musikgeschichte gewagt hatte, sich über die allmächtigen Theaterdirektoren zu erheben, indem er ihnen Solisten und Aufführungstermine diktierte. Véron mokierte sich über Meyerbeers Änderungssucht und Ernsthaftigkeit: »... Die Einfälle kommen nicht zu ihm, er muß sich in die Postkutsche werfen und ihnen nachjagen ... Es gibt nur den einen großen und erhabenen Faulen, der sich Rossini nennt und dem der Himmel die Gabe der unerschöpflichen, überquellenden und spontanen Inspiration verliehen hat. Die 281

Einfälle und Melodien fallen ihm zu wie Blüten und Früchte eines fruchtbaren Baumes ... Bei Meyerbeer bringen sie eine Krise, eine richtige Kinderkrankheit mit sich; die Erregung, die Unruhe, die Schlaflosigkeit sind die begleitenden Symptome. In einer solchen Situation ähnelt Herr Meyerbeer den Frauen, die einer schwierigen Geburt entgegensehen. Sie quälen sich, rufen zwanzigmal am Tag den Arzt ... Da Herr Meyerbeer nicht ständig zum Arzt rennen kann, nimmt er sich den Librettisten als sein Opfer ... Er braucht ihn immer, schreibt ihm Brief über Brief, er schickt ihm eine Botschaft nach der anderen, wie eine launische Frau. Was er liebte, mißfällt ihm plötzlich. Er hat i000 geniale Einfälle zur gleichen Zeit, er hat stündlich, ja minütlich neue Ideen, die alle gleich wieder verworfen werden. Der Librettist verläßt Herrn Meyerbeer im Gefühl völliger Sicherheit. Man hat gerade hier ein Duett, dort ein Terzett verabredet, dort eine Romanze, dann ein Septett und das Finale ... Der glückliche Poet ... plant seine Mahlzeiten und den Augenblick, an dem er sich friedlich zur gewohnten Zeit zur Ruhe begeben kann. Da ertönt im Vorzimmer die Klingel dreimal hintereinander. >Was gibt es?< >Ein Brief von Herrn Meyerbeer!< ... Das gefürchtete Sendschreiben wirft alles über den Haufen. Aus dem Terzett wird ein Chor, aus der Romanze das Finale, ... wo das Violoncello in getragenen, melancholischen Tönen klagte, erklingen jetzt Trompete und Ophikleide ... Momentan ist Herr Scribe von dem schwierigen und unruhigen Genie Meyerbeers eingefangen; Herr Meyerbeer verfügt vollständig über Herrn Scribe. Der Winter 184o wird uns mit den Früchten dieser geheimnisvollen Entbindung erfreuen.« Diese »Enthüllungen« waren absolut nicht nach Meyerbeers Geschmack, weil er sich der Lächerlichkeit preisgegeben sah. Gewiß war alles »erdichtet und erlogen«, denn in dieser Weise hatte es sich nie abgespielt. Und doch trafen ihn die Vorwürfe besonders tief, weil sie an sein innerstes Wesen rührten: sein Bestreben, als Komponist das bisher noch nie Gewagte zu schaffen. Véron hatte mit sicherem Gespür den »nervus rerum« gefunden, wie Satire stets verborgene Schwächen aufdeckt. Nach Meyerbeers eigenen Berichten beutelten ihn derlei üble Nachreden immer so heftig, daß er für einige Tage arbeitsunfähig wurde, was bei seiner gründlichen Denkweise zu Verzögerungen in der schöpferischen Arbeit führte. Häufig ist in seinen Briefen von Unpäßlichkeiten und Unterleibserkrankungen die Rede, die offensichtlich psychische Ursachen hatten. Durch die vielen Aufregungen und Anstrengungen war es in zunehmendem Alter — Meyerbeer wurde 1841 immerhin fünfzig Jahre alt — zu häufigen Störungen des vegetativen Nervensystems gekommen, die sich hauptsächlich auf den Magen-Darm-Trakt legten. Ursächlich standen damit auch seine Zähne im Zusammenhang, die einen ständigen Infektionsherd bildeten, gegen den die damalige Medizin machtlos war. Sein Arzt Dr. Johann Stieglitz diagnostizierte, »... daß der Grund der Krankheit in einer Umordnung im Darmkanal liege, und daß bei dem Processe der Verdauung der Gallenab282

sonderung und Formirung der Secretionen Unregelmäßigkeiten vorfallen, durch Blutstockungen veranlaßt. Es sollen daher statts der bisherigen stärkenden Eiswasser jetzt auflösende Wasser angewendet werden« (23. April 184o). Es kommen also eine chronische Gallenblasen- oder Bauchspeicheldrüsenentzündung in Betracht, wobei besonders bei letzterer, der Pankreatitis, der psychische Faktor von Bedeutung ist. Gegen dieses Leiden wurden Badekuren verordnet: in Bad Schwalbach, in Schlangenbad, in Spa, in Boulogne-sur-Mer. Dort ging Meyerbeer sogar ins offene Meer. Aber eine Heilung war nicht möglich, weil er ja immer wieder aufs neue Streß-Situationen ausgesetzt war. Auf jede Andeutung einer Kritik oder gar auf massive Anwürfe reagierte er mit akuter Erkrankung. Dennoch muß Meyerbeer von robuster Natur gewesen sein, sonst hätte er die Strapazen der ständigen Postkutschen-Reiserei durch Europa nicht durchgehalten. Nachdem Véron »aus der Schule geplaudert« und Spontini, der im Mai 1839 als Nachfolger des verstorbenen Ferdinando Paër zum Mitglied des Institut de France gewählt worden war, den erfolgreicheren Konkurrenten verunglimpft hatte, wurden nun auch französische Stimmen laut, die offen Antisemitismus, Richesse [Judenhaß] verbreiteten, obwohl gerade Frankreich sich bisher weit toleranter gegenüber jüdischen Mitbürgern gezeigt hatte als alle anderen europäischen Nationen. Meyerbeer wird den »Courrier des Théâtres« im Sommer 1839 mit Bangen gelesen haben, obgleich er sich durch die Angriffe gegen Halévy nicht hätte getroffen fühlen müssen. Aber er hatte eine feine Witterung für alle Spielarten von Richesse, als er las: »Das Judentum rückt von allen Seiten näher, es besetzt alle Orte, wo der Glanz der Schönen Künste sich in klingende Münze umsetzt. Folglich mußte das Theater Gegenstand seiner Habsucht werden, denn unter dem Vorwand für den Ruhm zu arbeiten, versichert man sich dort leicht dicker Einkünfte. Wir sehen uns daher gegenwärtig Juden gegenüber in allen dramatischen Unternehmungen ... sie werden bald eine regelrechte Armee bilden, gegen die die gesamte Christenheit ohnmächtig ist. Die Musik ist der hauptsächliche Gegenstand ihrer Ambitionen ... Das Judentum überschwemmt uns und ist noch nicht zufrieden ... Es braucht Plätze, auf denen es irgendwelchen Einfluß ausüben kann. Herr Fr. Halévy, einer der widerwärtigsten Doppelverdiener des Israelismus, läßt keine freie Stelle aus, ohne sich nicht mit in die Bewerber einzureihen. Er ist Solorepetitor an der Opéra, Hauskomponist, Lehrer am Conservatoire, Mitglied des Institut de France, zugleich Mitglied der Ehrenlegion, Direktor bei M. Duponchel, Günstling der Opéra comique, Mitglied aller möglichen Kommissionen und Richter derjenigen, die seine Meister sein müßten.« Rassenhaß in dieser Form traf Meyerbeers Wurzeln, seine Existenz als Künstler und Mensch. Blind vor Judenhaß würde die Gesellschaft seine künstlerische Botschaft möglicherweise ausschlagen; er bliebe ohne Echo, ohne Wirkung, ohne den Beifall des Publikums. 283

Wilhelm Beer, der aus dem Geschäftsleben einen rauheren Umgangston gewohnt war als sein Bruder, wußte eine Antwort und unterließ es nicht, dem Älteren mit preußischer Direktheit die Meinung zu sagen: »Nun lieber Bruder noch ein Wort was Du mir nicht übel nehmen mußt. Du frägst ... >Womit habe ich das verdient?< Darauf antworte ich: >Weil Du Dein größter eigener Feind bist.< ... Halévy ist zwar ein Intrigant, allein wenn er es nicht wäre hättest Du ihn nicht so herzabstoßerig behandelt daß er Dein Feind werden mußte. Hast Du nicht so oft es sich thun ließ Dein Talent vergraben. Als KlavierSpieler wolltest Du nie spielen, als Componist nie componiren, alles aus lauter Schwarzseherei d. h. Sucht in seinem eignen Fleische zu wühlen ... Läufst Du nicht seit den >Hugenotten< schon wieder einige Jahre herum ohne eine Note zu componiren. Und dabei kannst Du keine Zeit finden, die Aufträge von Prinzeß Wilh. u. dem Kronprinzen auszuführen die 2 Minuten gedauert hätten.... Da Du >Faust< nicht componiren willst, so hast Du jetzt die schönste Gelegenheit dazu in der Weberschen Oper. Wodurch gewann C. M. v. Weber in Deutschland alle Rezensenten? weil er sich in allen Orten aufhielt und ihre Bekanntschaft machte. In Dresden wollen sie das neue Theater damit eröffnen, und daß Du dabei auf Händen getragen wirst ist gewiß ...« (17. Juli 1838). Vom Standpunkt des Geschäftsmannes hatte er sicher recht. Doch die künstlerischen Skrupel seines Bruders, dessen zwanghafte Vorstellungen vom unwiederholbaren, jeweils einmaligen Werk, konnte Wilhelm Beer wohl einfach nicht begreifen. Daher schien es ihm notwendig zu sein, daß Meyerbeer hin und wieder einen solchen realitätsbezogenen Rippenstoß bekam. Einen knappen Monat später schrieb Wilhelm ironisch: »Du solltest doch eigentlich nach Deutschland reisen und bei Felix Mendelssohn für die Singstimme schreiben lernen. Wenn das noch zu beweisen nöthig wäre nachdem Blume's Stimme mit der er 3o Jahre wie ein Nachtwächter gebrüllt hatte, auf einmal wie eine Clarinette klang als er Deine Töne in's Maul nahm so wäre es an diesem Abend bewiesen worden ...« (1 o. August 1838, nach einer »Hugenotten«-Vorstellung in Dresden). Dabei hatte Wilhelm Beer ganz andere Sorgen, als sich um Giacomos Gemütslage zu kümmern: Die Geschäfte mit dem Zucker gingen schlecht. »Mir wird es mit jedem Tage unbegreiflicher daß wir unsern Zucker noch so gut los werden, denn es wird uns ein Débouché [Absatzmarkt] nach dem andern abgeschnitten, und doch ist das PreisVerhältniß nicht schlechter als zu der Zeit wie diese Débouchéen noch alle offen waren« (31. Mai 1838). Die Zeiten waren endgültig vorüber, da Jacob Hertz Beer das Zuckermonopol für Berlin besaß. Raffinierter Rohrzucker aus Übersee wurde zu einer harten Konkurrenz für die preußische Rübensüße. Die Firma mußte sich auf eine neue Technologie umstellen, ältere Apparate durch modernere ersetzen und rationeller produzieren. Sogar ein Vertreter wurde angestellt, der ständig die Ware anbot. Das bedurfte größerer Investitionen. Als Anfang 184o eine 284

kleine Produktionsstätte geschlossen werden mußte, rechnete Meyerbeer mit »bedeutendem Verlust«, was in seiner Vorstellung schon einer Katastrophe glich. Überhaupt machte sich der mehrfache Millionär mitunter große Sorgen um die Existenz der Familie. »Das neue Jahr fängt unglücklich an. Unser beiderseitiges Vermögen schwindet auf eine Weise welche mich für die Zukunft unsrer lieben Kinder bitter besorgt macht. ... Das meinige erleidet seit zwei Jahren durch die schlimme Stellungen der Zuckerfabriken auch heillose Stöße ...« (25. Januar 1838 an Minna). Er sah schwärzer, als die Lage in Wirklichkeit war, denn die Einnahmen aus seinen musikalischen Werken waren immer noch beträchtlich. Der Verleger Heinrich Probst, der die Interessen von Breitkopf & Härtel in Paris vertrat, wußte am 9. Februar 1839 zu berichten, daß der Pariser Verleger Troupenas, der ebenfalls mit Meyerbeer ins Geschäft kommen wollte, 40 00o F für die Rechte an dessen Oper geboten hatte, um Schlesinger auszustechen. Bei der Bescheidenheit in der Lebensweise, die Heine an Meyerbeer rühmte, hätte diese Summe viele Jahre ausgereicht, aber darum ging es wohl nicht. So ist die Sorge des Komponisten um seine Existenz nur ein — wenn auch im ganzen unbegründeter — Teil seiner allgemeinen Verunsicherung und seiner fast krankhaften Angst. Als »Schwarzseher vom Dienst« glaubte er Anlaß zu der Befürchtung zu haben, man wolle seine Werke aus den Spielplänen der Académie verdrängen. Doch daran konnte kein Operndirektor im Ernst denken, wollte er nicht den Ruin des Hauses herbeiführen. Wie in vielen Theatern in Europa und Übersee liefen auch an der Académie Royale »Robert« und die »Hugenotten« über Jahre kontinuierlich, was kaum einem anderen Werk vergönnt war. Bis zur Uraufführung des »Propheten« gab die Statistik folgende Aufführungszahlen, die mit nicht geringen Einnahmen verbunden waren: »Hugenotten«

17

30

1840 18 14 1841 13 1842

1834

28

1843

10

10

1835

22

1844

10

10

1836

16 6 10 18

1845 1846 1847 1848

16 14

6 8

8 19

5 6

Jahr 1832 1833

1837 1838 1839

»Robert« 47

43 32 16 16

12 11

Durch seine unstete Lebensweise brachte Meyerbeer auch in seine Familie viel Unruhe. Zum Familienvater war er ohnehin nicht geboren. Eher könnte man ihn einen verheirateten Junggesellen nennen. Seine Töchter liebte er sehr und konnte ihnen reizende Briefe schreiben wie den an seine Tochter Blanca vom 31. Juli 1837: »Ich hab' mit großer Freude von der lieben Mamma erfahren daß sie mit Dir seit meiner Abwesenheit sehr zufrieden ist. 285

Dieses hat mich sehr glücklich gemacht, und ich habe gleich diese gute Nachricht der Nonne und den Cousinen mitgetheilt. Zur Belohnung dafür werde ich Dir auch ein schönes Geschenk mit von Berlin bringen. Fahre fort meine liebe Tochter der guten Mama recht gehorsam zu sein. — Alles was sie Dir sagt ist zu Deinem Besten und Deinem Glücke, und wenn Du ihren Vorschriften folgst, wirst Du fromm und brav und glücklich werden. So werden wir auch das Vergnügen haben Dich immer bei uns behalten zu können. Denn wenn Du etwa ungehorsam würdest, so wäre ich gezwungen, so Leid es mir auch thäte, Dich gleich bei Dlle Niclas in Paris in Pension zu geben, um der guten Mama den Aerger zu ersparen. Adieu mein liebes Blänkchen. Ich verbleibe Dein zärtlicher Vater Meyerbeer.« Vom pädagogischen Standpunkt ist die Drohung am Schluß des Briefes gewiß anfechtbar, aber was sollte man von einem Vater erwarten, der sich so gut wie nie um die tägliche Erziehung seiner Töchter kümmerte. Und wenn er eingriff, mischte er sich in Angelegenheiten, für deren Beurteilung ihm die Voraussetzungen fehlten: »... Fängt denn Cäcilie schon an etwas zu essen zu bekommen. Die Milch dieser riesenhaften Amme ist gewiß eine schwere Kost für ihren ohnehin wie es scheint zarten Magen ...« (14. Juni 1837) und »... Daß Caecilie so schön wird, freut mich ebenfalls, daß sie ein bischen dumm ist wundert mich bei dieser stupiden flegmatischen Amme nicht. Ich dächte ... daß wir dann anfangen sie ... zu entwöhnen, damit sie nicht zu viel von der dummen Amme's Milch trinkt« (23. August 1837). Sicherlich war Meyerbeer nicht der einzige Vater, der solche »medizinischen Einsichten« vertrat. Minna Meyerbeer, die wegen ihrer schwächlichen Konstitution in jedem Jahr viele Monate in Baden-Baden wohnte, war in Erziehungsfragen immer auf sich und ihre Kindermädchen gestellt, der Vater schaute nur auf der Durchreise in die Kinderstube. Immerhin notierte er sich im Taschenkalender unter dem 15. Oktober 1838: »Ein Kinderbett für Caecilie«. Das war zu beschaffen, da Minna sich entschlossen hatte, bei ihrem »Mohr« in Paris zu wohnen! Ihre Schwiegermutter war auch schon da. Meyerbeer beabsichtigte sogar, ein Haus zu mieten: »Allein man fordert nur 1200 Franken par mois [im Monat]. Soweit kann weder ich noch wer sonst nicht etwa ein Millionär [!] ist gehen ...«, berichtete er am 23. September entrüstet seiner Frau. Schließlich fand er eine möblierte Wohnung, bat aber Minna, das Silberzeug mitzubringen. An jenem 15. Oktober 1838 reiste sie an und blieb erstaunlich lange bei ihrem Mann, bis Mitte Mai 1839. Dann zog es sie wieder zu ihren Badeorten. Das übliche Eheleben von Minna und Giacomo Meyerbeer beschrieb er in einem Brief vom 15. April 1838 an seine Frau: »Es ist schon traurig an und für sich, und nicht hübsch vor den Augen der Welt, daß wir so oft getrennt sind, und man mich immer allein reisen sieht. Allein man weiß daß ich Komponist bin, daß in Baden kein Feld ist meine Sachen zu produciren, es fällt also in die Augen daß ich nach den Orten reise wo mein Künstlerberuf 286

meine Gegenwart nothwendig macht ... Wenn aber die Leute mich rechts Dich links reisen sehen, und uns sogar vermeiden sehen an diejenigen Orte zusammen treffen wo man Dich heute mich vielleicht in 14 Tage sehen wird, muß man da nicht glauben, daß wir uns ... aus dem Wege reisen?« Er sah sich außerstande, über seinen unruhigen Schatten zu springen. Er mußte einfach dort sein, wo er glaubte, gebraucht zu werden. Von dort, nämlich von Paris, sandte er dann seiner erstaunten Frau folgende Zeilen: »Sollte daher was Gott verhüte auch diesmaal Dein Aufenthalt in Paris nachtheilig auf Deine Gesundheit würken, so ist mein Entschluß gefaßt. Ich sage dann der Kunst Valet und wir ziehen uns in einen stillen Winkel zurück, wo es Dir eben am genehmsten ist ...« (um den 15. Juli 1838). Minna wird diese Eröffnung so verstanden haben, wie sie gemeint war: als Floskel. Im Ernst hat Meyerbeer gewiß nie daran gedacht, seiner Kunst aufzukündigen. Doch solche Stimmungstiefs waren ihr zu bekannt, als daß sie viel darauf gegeben hätte. Dagegen reagierte sie empfindlich auf seine Säumigkeit, als er ihren Hochzeitstag vergessen hatte: »Trotz daß ich mir das Andenken an unseren Hochzeitstage bei Dir bestellt habe, ist es doch in dem Lethe-Strom Deines Pariser Lebens, gleich den Andern, unbeachtet entschwunden. Da Dir die Erinnerung dieses wichtigen momentes nicht mehr lebendig ist, verzeihe ich Dir die Vergessenheit meiner Bestellung, die ich nur aus Vorsicht gemacht habe, da ich meine Schwäche kenne, daß jeder neue Beweis, daß Dir das innere Herzensleben, im Pariser Künstler u Welttreiben, schwindet, mich verletzt, obgleich ich ... Dich darum auch nicht einen moment weniger liebe« (29. Mai 1838) — harte Worte einer Ehefrau, die ihn wieder in tiefste Gewissensnot stürzten, denn er vergaß ja nicht nur solche Kleinigkeiten, sondern auch Freunde und Aufträge über Jahre. Das Verhältnis der Ehepartner zueinander war, wie auch in anderen Ehen, gewissen Schwankungen ausgesetzt. Wenn Minna ihm die kühle Schulter zeigen wollte, ließ sie es ihn zuweilen in einem Brief spüren, worauf er sofort anfragte: »Warum unterzeichnest Du jetzt Minna tout court [ganz kurz] und beginnst Du Deine Briefe >lieber GiacomoRobert der Teufel< und der >Hugenotten< bei aller Verschiedenheit der Persönlichkeit nicht vermögen dürfte den Componisten einer >OlympiaCortez< und einer >Vestalin< zu ersetzen. Eher dürfte man in Hrn. Mendelssohn-Bartholdy einen Ersatz Spontini's in der Eigenschaft eines Dirigenten und eines Mitglieds der musikalischen Section der Academie der Künste finden.« Der Redakteur hatte jedoch nicht mit der großen Begeisterung des neuen Königs für Meyerbeers Musik gerechnet. Sein Vater Friedrich Wilhelm HI. hatte 1832, gegen den Willen des Generalintendanten Graf Redern, »Robert der Teufel« favorisiert, um die Beine der Marie Taglioni bewundern zu können. Die »Hugenotten« kamen für ihn nicht in Betracht, da das Königli290

che Ober-Censur-Collegium in seinem Gutachten vom 16. Mai 1837 schwerwiegende Bedenken ins Feld geführt hatte: »... wenn auch wir uns nicht verhehlen, daß wir... die Grenzen unserer Ressorts einigermaßen überschreiten, so glauben wir doch unsere Erklärung dahin abgeben zu müssen, daß wir die Gründe für die Nichtaufführung ... für überwiegend halten. Es sind ... einige Kirchen-Melodien ... aufgenommen, welche durch ihre Entstehung und Beziehung eine große Bedeutsamkeit in der evangelischen Kirche erhalten haben, als ein heiliges Besitztum derselben betrachtet werden .. . Diese Bedeutung scheint der Komponist auch erkannt zu haben, indem er sie zum Ausdruck des protestantischen Gegensatzes gegen das Wesen und Treiben der Katholiken gewählt hat. Dadurch werden sie aber auch teils in eine so genaue Verbindung mit dem Weltlichen und Unheiligen gebracht, teils durch ihre Anknüpfung an den fanatischen Eifer so entwürdigt, daß der wahrhaft christliche Ernst daran Anstoß nehmen muß ...« Zensoren beweisen zuweilen eine erstaunliche Hellsicht: Meyerbeer hatte die Folgen des »fanatischen Eifers« tatsächlich in aller Unheiligkeit dargestellt. Herr von Redern befürchtete unerwünschte Publikumsreaktionen: »... diese innige Annäherung des Kirchlichen mit dem Theatralischen erscheint aber in keiner Zeit gefährlicher, als in der jetzigen, wo die Meinungen über Kirche und Welt und Staat die heterogensten geworden.« Konservativen religiösen Kreisen in Berlin, und sie befanden sich mit ihrer Gesinnung in Übereinstimmung mit dem preußischen König, war die Vorstellung, Glaubenskämpfen zwischen Katholiken und Protestanten von einem Juden, noch dazu auf der königlichen Hofbühne, dargestellt zu sehen, sehr abwegig. Alexander von Humboldt war einer der wenigen, der zu Meyerbeer hielt und sich in seiner Heimatstadt für ihn einsetzte. Als preußischer Botschafter in Paris hatte er Meyerbeers Triumphe miterlebt und wohl als einziger Berliner die Bedeutung des Komponisten erkannt. Vermutlich rechnete er mit einem Aufschwung des musikalischen Lebens in Berlin und damit in Preußen, wenn es gelänge, den berühmten Zeitgenossen in die Hauptstadt zu ziehen. Humboldt, dem Antisemitismus fremd war und der im Beerschen Hause ein und aus ging, unterstützte zu jeder Zeit die Emanzipationsbestrebungen der Berliner Juden, wie sie seinen Vorstellungen als Aufklärer und Kosmopolit entsprachen. Zugleich stand er auf vertrautestem Fuße mit dem Kronprinzen, der selbst großes Interesse an einer Bindung Meyerbeers an Berlin hatte. Als Friedrich Wilhelm III. am 7. Juni 184o starb und der Prinz als Friedrich Wilhelm IV. am gleichen Tage den Thron bestieg, waren günstige Bedingungen für eine Berufung Meyerbeers gegeben. Auch die Prinzessin Augusta, verheiratet mit dem Prinzen und späteren Kaiser Wilhelm, den man 1848 den »Kartätschenprinzen« nannte, machte ihren Einfluß für Meyerbeer geltend. Sie entstammte dem Weimarer Großherzoglichen Hause und brachte so etwas wie klassische Atmosphäre ins spartanische Berlin, d. h. Kultur, Weltoffenheit, Sinn für Neuigkeiten in 291

Kunst und Wissenschaften. Alexander von Humboldt war ihr gesuchtester Gesprächspartner, und als der Forschungsreisende den gebildeten Hauptstädtern von seinen überseeischen Abenteuern berichtete, gehörte die Prinzessin zu seinen eifrigsten Zuhörerinnen. Mit Humboldts Nichte Gabriele von Bülow, ihrer Hofdame, las sie als eine der wenigen Damen am preußischen Hofe die »Revue des deux Mondes«, die über alles berichtete, was gerade in Paris à la mode war. Dadurch war sie über Meyerbeers Pariser Leben und Wirken gut informiert. Als nun der neue König sogleich nach seiner Amtsübernahme die Aufführung der »Hugenotten« befahl, unterließ es Augusta nicht, den nunmehr in Berlin weilenden Komponisten so oft wie nur möglich einzuladen, um sein Werk aus erster Hand kennenzulernen. Die Ehre war ganz auf Seiten des Komponisten: Er erhielt von Augusta den Ehrentitel des »hochcultivirten Musikers von Gottes Gnaden«, ein bemerkenswertes Zeugnis ihrer Verehrung. Am q.. Februar 1842 ließ sie zu ihrer privaten Freude im Palais des Prinzen von Preußen den vierten Akt der »Hugenotten« aufführen, mit Franz Liszt am Pianoforte, der danach über Themen aus der Oper phantasierte und, wie schon so oft, seine Zuhörer zu Beifallsstürmen hinriß. Der Komponist sah derlei Propaganda gern! Am 20. Mai 1842 dirigierte Meyerbeer die Berliner Premiere seiner »Hugenotten«, die für Jahrzehnte ein Erfolgsstück der Berliner Hofbühne blieben. Die Presse reagierte durchweg positiv. Die Rezensenten lobten die Dekorationen, die instrumentatorischen Feinheiten, den vierten Akt und den Beifall des Publikums, der »... Alles, was wir noch Tadelndes gegen die Oper sagen könnten ...«, widerlegt habe. Es war die Stimme des Berliner Korrespondenten der Leipziger »Neuen Zeitschrift für Musik«, die Meyerbeer bekanntlich nicht sonderlich gewogen war. Fünfmal in zehn Tagen wurden nun die »Hugenotten« gespielt, dreimal zählte man die Anwesenheit des Monarchen, der nach jeder Nummer begeistert applaudierte und den Komponisten in seine Loge befahl. Nach dieser öffentlichen Ehrung vor dem Opernpublikum folgte am 31. Mai die offizielle Anerkennung: Zusammen mit Liszt, Rossini und Mendelssohn erhielt Meyerbeer den neu gestifteten Orden »Pour le mérite« (nachdem Alexander von Humboldt »nachgeholfen« hatte). Die Frankfurter »Ober-Postamtszeitung« vermerkte in ihrer Ausgabe vom B. Juni 1842: »Mit der herzlichsten Freude ist jeder Freund des Fortschritts dadurch erfüllt worden, daß weder auf den Glauben, noch auf die politische Richtung Rücksicht genommen worden ist. Wo ein Jude zum >stimmfähigen Ritter aus der deutschen Nation< ... ernannt wird, da hat es keine Noth mehr!« Es ging also vorwärts in Preußen! Oder waren eher taktische Erwägungen der Grund dafür, daß sich die Monarchie leutselig und liberal gab? Für das seit 1841 verwaiste Amt des Generalmusikdirektors wollte Humboldt unbedingt Giacomo Meyerbeer gewinnen. Zwischen ihm, Wilhelm Beer und der Intendanz wurden die Bedingungen ausgehandelt. Der Kompo292

nist hielt sich dabei zurück. Am Sonnabend, dem i 1. Juni 1842, diktierte der König in Sanssouci das Berufungsschreiben für Meyerbeer. Beim 5 -Uhr-Tee in Charlottenhof erhielt Alexander von Humboldt als erster die frohe Kunde. Er sandte einen Eilbrief in die Schadowstraße 15 nach Berlin, den Wohnsitz der Familie Meyerbeer seit 1841: »Ihre Sache, die unsrige, ist beendet, unterschrieben! Heute! Sagen Sie es niemand, als Gewohnheit. A Ht. Sanssouci 5 Uhr.« Als nächstes empfing Meyerbeer ein Schreiben des Intendanten, mit dem er sogleich zu den ersten Aktivitiiten bei Hofe verpflichtet wurde: »... Auch haben Seine Majestät ein kleines Hofconcert für Mittwoch in Sans-Souci befohlen, u Allerhöchstdieselben erwarten, daß Sie die Direction übernehmen werden ...« Der neue GMD hatte noch nicht einmal die Ernennungsurkunde in der Hand, da wurde ihm schon der erste Dienst abgefordert, und er hatte dafür ganze zwei Tage Vorbereitungszeit! In seinem ersten Brief an Meyerbeer schrieb Friedrich Wilhelm am i 1. Juni: »Ihr seit langer Zeit begründeter musikalischer Ruf, und die Beweise Ihres Talents bei dem Einstudiren und der Aufführung Ihres genialen, großen Werkes auf der Berliner Bühne ... hat den Wunsch in Mir erregt, Sie durch ein bleibendes Verhältniß Meinem Dienste und Ihrer Vaterstadt zu erhalten, und Ich freue Mich, daß Sie darauf eingegangen sind. Ich ernenne Sie hiermit zum General-Musikdirektor, und Sie haben diesen Titel Ihrem bisherigen als Hof-Kapell-Meister hinzuzufügen. Ihre Anwesenheit will Ich auf sechs Monate beschränken ... Während Ihrer Anwesenheit in Berlin werden Sie die Direktion der Hof-Musik mit Ausschluß der geistlichen, unter Oberaufsicht des zu diesem Zwecke von Mir ernannten Wirklichen Geheimen Rats General-Intendanten der Hof-Musik, Gr. v. Re dem übernehmen, und Ihre Zeit dem Einstudiren und Dirigiren der neuen großen Oper Ihrer und anderer Kompositionen widmen auch dem GeneralIntendanten Meiner Schauspiele in allen musikalischen Angelegenheiten mit Rath und That zur Seite stehen .. . Wenngleich Sie aus Zartsinn das Uebergehen des Geldpunktes wenigstens im ersten Jahr gewünscht haben, so finde Ich Mich doch veranlaßt, Ihr Gehalt auf dreitausend Thalern sofort festzustellen, welches Sie vom ist. Januar k. J. ab aus dem Kronfideicommiß-Fonds zu beziehen haben. Ich wünsche, daß Sie in dieser Bewilligung Meine große Anerkennung Ihres Talents und Mein Wohlwollen erkennen mögen. Friedrich Wilhelm« Damit hatte Meyerbeer die nötige Freiheit, die er für sich beanspruchen mußte, um die Pariser Projekte voranzutreiben. Zugleich ist durch diese Berufung das baldige Scheitern der Berliner Position quasi vorprogrammiert: Es war ein Repräsentationsamt ohne weitreichende Vollmachten. Einerseits war Meyerbeer froh, daß er keine Hofcharge übernehmen und in Uniform 293

Dienst tun mußte, andererseits empfand er sich auch nicht als Musikbürokrat, der vom Schreibtisch aus sein Amt verwaltete. Er hatte nur die Absicht, die Berliner Hofoper auf internationales Niveau, d. h. auf Pariser Niveau zu heben; allerdings hatte er dabei die Wünsche des Königs zu berücksichtigen. Natürlich hatte er eigene Ideen, die ihn davor bewahren sollten, aus Berlin eine schwache Pariser Kopie zu machen. Am 15. Juni 1842 trat auch der neue Generalintendant Karl Theodor von Küstner sein Amt an (eine Berufung, von der Meyerbeer seit Dezember des Vorjahres wußte) . Küstner war kein Neuling, sondern hatte ab 1817 in Leipzig, in Darmstadt und ab 1833 in München Intendantengeschäfte geführt. Er galt als ein Regent von strenger Hand, dessen Amtsführung die Zeitungen glossierten und die Künstler haßten. Wenn er zum Beispiel für die Verbesserung des Spielbetriebes sorgte, indem er den Urlaub der Sänger nach freier Wahl konsequent verbot, tastete er damit unverbriefte Rechte der Stars an, die noch aus dem 18. Jahrhundert stammten, als man die italienischen Primadonnen für hohe Summen bei Laune halten mußte. Aber er übertrieb seinen Pflichteifer durch bürokratische Enge und behinderte so den Theaterbetrieb mehr, als daß er ihn förderte, was Meyerbeer zu Beschwerdebriefen veranlaßte. In der Repertoireauswahl war Küstner nicht autark. Spielpläne mußten einer berufenen Prüfungskommission vorgelegt werden, deren Zusammensetzung niemandem bekannt war und die Stücke freigab, die nicht immer zum Wertvollsten gehörten. Dennoch gelang es dem Theatermann, neben dem von Meyerbeer verantworteten deutschen Repertoire auch achtbare französische Werke nachzuspielen, z. B. von Auber, Adam, Grétry, Halévy und Berlioz. Von Anfang an war Meyerbeers Verhältnis zu Küstner gespannt, denn der Generalintendant achtete sehr auf die Einhaltung der Kompetenzbereiche, die der Generalmusikdirektor häufig überschritt. Wenn Küstner darüber Klage führte, dann vielleicht mit der Bemerkung verbunden: »Säthersch, ich hab's doch glei gesacht«, denn er wurde in Leipzig geboren; im Beerschen Familienjargon jedenfalls wurde er »Säthersch« genannt. Das ständige Gerangel mit Küstner wurde zu einem der Gründe für Meyerbeers Bestreben, sein Amt wieder loszuwerden. Doch im Juni 1842 empfanden die Familie, besonders Mutter Amalia, und auch die Berliner Judenschaft große Genugtuung darüber, daß erstmals in der Geschichte Preußens ein Ungetaufter, ein Jude, der königlichen Hofmusik vorstand, denn das bedeutete einen nicht unerheblichen Prestigegewinn für die jüdische Gemeinde. Dennoch bereitete es selbst Meyerbeer Schwierigkeiten, die offizielle Kabinettsordre in einer preußischen Amtszeitung abdrucken zu lassen, bevor das preußische Kabinett dies genehmigt hatte. Humboldt erklärte dem Komponisten am 15. Juni die Gründe: »Daß der König nicht gern die Anzeige in der Staats Zeit. will, ehe Sp(ontini) weggeht, da er ihn gestern hat weinen sehen u Sp (bei der Langsamkeit der 294

hier herrschenden Formen) sein Versprechen des Vorschusses noch nicht hat, ist nur wahrscheinlich ...« Da aber die Sommerpause heranrückte, fuhr Meyerbeer erst einmal nach Paris und anschließend zur alljährlichen Badekur nach Schlangenbad. Er hatte genügend Muße, sich mit den Aufgaben seines neuen Amts vertraut zu machen. Aus den Unternehmungen des Generalmusikdirektors ist sein Konzept abzulesen. Zunächst ließ er sich die Gehaltslisten vorlegen und stellte mit Erstaunen fest, daß sich im Laufe von vierundzwanzig Jahren die Berliner Hofkapelle zwar um sechzehn Musiker vergrößert hatte, deren Etat aber nur um knapp viertausend Thaler erhöht worden war, so daß das Orchester zu den schlechtestbezahlten Europas gehörte. Er zog genaue Erkundigungen über die Lebenshaltungskosten ein (was er als Privatmann und Familienvater nie nötig hatte) und sandte dem Staatsminister, dem Fürsten zu Sayn und Wittgenstein, am 29. April 1843 eine Eingabe: »Es ist nicht zu verkennen, daß sich die Mitglieder der Königl. Kapelle zum größten Theile in einer sehr ungünstigen Lage befinden. Sie beziehen so geringe Besoldungen, daß sie kaum den eigenen nothdürftigen Lebens-Unterhalt damit bestreiten können, und da sie meistens Familien Väter und ganz vermögenslos sind, so sehen sich diese Männer, die ihr Leben dem mühevollen Erlernen und Ausüben einer so schwierigen Kunst gewidmet haben, nach vieljährigen Diensten bei allen Einschränkungen und Entbehrungen, die sie sich auferlegen, den drückendsten Nahrungssorgen Preis gegeben ... Diese Verhältnisse sind .. . um so fühlbarer und drückender, je mehr seit jener Zeit die Preise der Lebensbedürfnisse aller Art, insbesondere der Wohnungen und des Holzes in der Residenzstadt gestiegen sind, und wenn ihre Bitte um Abhülfe ihrer ungünstigen Lage schon hiernach berücksichtigungswerth seyn dürfte, so erscheint dieselbe noch um so begründeter ... wenn ... in Betracht gezogen wird, wie sehr die Anforderungen des Dienstes in der Kapelle sowohl in Hinsicht der Schwierigkeiten als der Anstrengung gegen früher erhöht sind. Die großen Executions-Schwierigkeiten der modernen Musik ... machen nicht nur die Aufführungen bei weitem anstrengender und ermüdender, sondern erfordern auch 3. und q.. mal mehr und längere Proben ...« Schließlich war Meyerbeer selbst einer der modernen Komponisten, die Musik von großen »Executions-Schwierigkeiten« schrieben. Seine 3000 Thaler Gehalt ließ er zur Lohn-Aufbesserung der am schlechtesten bezahlten Kapellmitglieder verwenden. Bei der »Langsamkeit der hier herrschenden Verhältnisse« konnte Küstner erst am 30. Oktober 1843 mitteilen, »... daß des Königs Majestät zu GehaltsVerbesserungen für die Mitglieder der Königlichen Kapelle die Summe von 7 bis 8000 Thlrn., einschließlich der auf dem Theater Etat disponiblen 1063 Thlrn. zu bewilligen geruhet haben«. Die Kapelle wußte, wem sie die neuen Gehälter zu verdanken hatte, und schrieb am 26. Februar 1844 an ihren Chef: »Hochwohlgeborener Herr, Hochzuverehrender Herr General-MusikDirector! 295

Ew. Hochwohlgeboren Einflußreichen Verwendung bei des Königs Majestät haben die Mitglieder der Königlichen Kapelle die durch Allerhöchste Gnade ihnen bewilligten Gehalts-Zulagen zu verdanken. Ist es die pecuniäre Verbesserung nicht allein, die wir verehren, sondern mehr noch ein erhebendes Gefühl, das uns beseelt, unsere der Kunst gewidmeten Bestrebungen einer so huldvollen Anerkennung gewürdigt zu sehen, so muß es uns mit dem freudigsten Danke für Ew. Hochwohlgeboren erfüllen. Ihn auszusprechen ist unsere angenehmste Pflicht, indem wir aufrichtig nur wünschen können, daß der Stellung, welche zur Ehre und zum Ruhme der Kapelle Ihnen anvertraut, und deren schönes Vorrecht Sie auf die Achtungswürdigste Weise geltend machen, Sie bewahrt und uns erhalten bleiben mögen.« Hinter den damals üblichen konventionell-verschnörkelten Wendungen kam deutlich zum Ausdruck, daß es die Kapelle schätzte, einen einflußreichen Chef zu haben, und daß er sich auf sie verlassen könne. Mit gleicher Intensität arbeitete Meyerbeer daran, ein leistungsfähiges Sängerensemble zu schaffen, das den neuen Aufgaben gewachsen war. Am 5. Dezember 1843 schrieb er aus Paris an seinen Intendanten: »... Der Zweck meines heutigen Schreibens ist 1) nochmals auf die Notwendigkeit des Engagements des Herrn Pischek zurückzukommen, ... und Ihnen vorzustellen, wie sehr wichtig und ersprießlich ich es für unsere Königliche Bühne halte, diesen ausgezeichneten Künstler, unstreitig den ersten Baritonisten Deutschlands, für unsere Bühne zu gewinnen. Die Sache schien mir doppelt dringend, da dieses Fach bei unserm Theater ganz und gar nicht besetzt ist, Herr Pischek schrieb mir ... daß die Summe des Gehalts, welches Ew. Hochwohlgeboren ihm offeriert haben, nicht nur gar zu sehr von seinen Forderungen abstäche, sondern auch tief unter den Anerbieten stände, die ihm von verschiedenen andern Hofbühnen gemacht werden... 2) Was unser weibliches Personal betrifft, so bedürfen wir außer den Frl. Marx und Tuzscheck auch noch einer dritten prima donna, welche das hochtragische Fach ... übernehmen kann, ... z. B. >AlcesteVestalin< ... In der >Euryanthe< fehlt uns die Eglantine, im >Don Juan< die Donna Elvira... 3) endlich bedürfen wir auch eines prononcierten Kontra-Altes, oder wir müssen auf das Repertoir der neuen französischen großen Oper, sowie auf das, was darin in der nächsten Zukunft erscheinen wird, und sogar auf das Beste des früheren italienischen Oper-Repertoirs gänzlich Verzicht leisten.« Meyerbeer wußte sehr gut, daß man kein leistungsfähiges Sängerpersonal engagieren konnte, wenn sich die Intendanz knauserig zeigte. Außerdem dachte er perspektivisch an seine eigenen Werke, z. B. an die Fides-Partie aus dem »Propheten«, dessen Partitur schon vorlag. Und wie kaum ein anderer kannte er das umfangreiche Repertoire der europäischen Bühnen, besonders in Italien und Paris. Er konnte nur hoffen, daß seine Anregungen in Berlin ernst genommen würden. 296

Eine weitere wichtige Aufgabe sah er in einem repräsentativen Spielplan. Hier konnte er an Spontinis Repertoirebildung anknüpfen, mußte aber auch geschickt taktieren, um seine Ideen mit denen des Königs in Übereinstimmung zu bringen, der auf allen Gebieten der Kunst, besonders auf dem der Musik, dilettierte. Meyerbeer kannte die königliche »Sucht nach Gluck« und stellte sich mit seiner ersten Einstudierung der »Armida« darauf ein. Neben den »Hugenotten« war Louis Spohrs »Faust« (i 816 durch Weber in Prag uraufgeführt) die dritte Novität der Saison, aufgeführt am 28. Juni 1843. Das war ein deutliches Zeichen: Meyerbeer wählte eine deutsche Oper aus eigener Entscheidung, anstatt eine aus dem Pariser Angebot zu übernehmen. Das besorgte Kästner, der den Spielplan 1842/43 durch Aubers »Die Krondiamanten« und »Der Herzog von Olonna«, Donizettis »Die Regimentstochter« und »Linda von Chamounix« sowie Rossinis »Wilhelm Tell« ergänzte. In der knapp vierjährigen Amtszeit hat Meyerbeer zusammen mit seinen tüchtigen Kapellmeistern Carl Wilhelm Hennig und Karl Gottfried Wilhelm Taubert an Opern deutscher Zeitgenossen aufgeführt: den »Fliegenden Holländer«, den der Komponist selbst einstudierte (Premiere am 7. Januar 18 44 im Schauspielhaus), Webers »Euryanthe«, Spohrs »Kreuzfahrer« (26. Juni 1845), Friedrich von Flotows »Alessandro Stradella« (29. August 1845) und Franz Lachners »Catharina Cornaro« (München 1841, Premiere am 15. Oktober 1845). In einem Schreiben vom 5. Februar 1845, das er als »Immediatsgesuch« direkt an den König richtete, legte Meyerbeer seine Absicht dar: »Geruhen Ew. Königl. Majestät nachstehenden allerunterthänigsten Vortrag huldreich zu gestatten, zu welchem ich mich im Interesse der deutschen Tonkunst aufgefordert fühle. Es scheint mir eine moralische Pflicht der deutschen Hofbühnen zu sein, alljährlich einige neue Opern lebender vaterländischer Tonmeister zur Aufführung zu bringen. Eine solche Beachtung ihrer Werke würde den deutschen Komponisten zur großen Aufmunterung, und dadurch der vaterländischen Tonkunst zur wahren Förderung gereichen: außerdem ist auch wohl zu berücksichtigen, daß den Werken deutscher dramatischer Komponisten in der Regel ja nur die deutschen Theater zugänglich sind. Die Hofbühne in Dresden geht in dieser Beziehung bereits mit einem erfreulichen Beispiele voran. Deutsche Originalopern von Marschner, Spohr, Ferdinand Hiller, Hoven, Richard Wagner und Röckel sind seit Jahresfrist dort von der Direktion angenommen und zum Theil bereits aufgeführt worden. Die hiesige Königl. Oper aber steht in dieser Beziehung sehr nach, und meine Bemühungen Aufführungen neuer deutscher Originalopern zu bewirken, finden keinen Anklang. — Es scheint mir jedoch sehr wünschenswerth daß eben die hiesige Hofbühne, welche sich der Ehre zu erfreuen hat, dem erhabenen Monarchen anzugehören ... in der fraglichen Beziehung nicht zurückstehe, sondern sich vielmehr in der ehrenden Anerkennung nationaler Kunst an die Spitze stelle. 297

Ich halte mich daher zu dem unterthänigen Antrag verpflichtet: Ew. Königl. Majestät wollen huldreichst zu befehlen geruhen, daß ... jährlich zwei bis drei neue Opern lebender deutscher Meister, oder, in so ferne dergleichen nicht im Jahre erscheinen sollte, frühere hier noch nicht gegebene Werke dieser Meister zur Aufführung gebracht werden sollen ...« Meyerbeer setzte sich in diesem Gesuch gleich für Spohr ein, »... der seit 3o Jahren durch gediegene geniale Schöpfungen in allen branchen der Tonkunst ... sich an die Spitze der deutschen Meister der Gegenwart gestellt hat«, um für dessen »Kreuzfahrer« die Erlaubnis zum sofortigen Nachspielen zu erhalten, denn das Werk war am i. Januar 1845 in Kassel zum ersten Male über die Bühne gegangen. Das Gesuch ist eines der diplomatischen Meisterstücke Meyerbeers, geeignet, die ehrgeizigen Pläne des Königs in die gewünschte Richtung zu lenken. Der delikate Hinweis auf die Dresdner Konkurrenz fehlte ebensowenig wie die Betonung der Pflicht gegenüber der deutschen Kunst, die der Komponist fühlte. Wer so selbstsicher schrieb, war alles andere als ein subalterner Musikbeamter, sondern sich seiner Verantwortung voll bewußt. Meyerbeer hatte erkennen müssen, daß die deutsche dramatische Kunst jener Jahre einem internationalen Vergleich, etwa mit Italien und Frankreich, nicht hätte standhalten können. Um so dringlicher schien es ihm, ihr im Heimatland genügend Chancen einzuräumen. Dieses Dokument war bisher niemandem zugänglich. Hätten es Zeitgenossen des Komponisten lesen können, so wären vermutlich mißgünstige Stimmen laut geworden, die in Meyerbeers Einsatz für deutsche Komponisten irgendeinen Winkelzug gewittert hätten. Noch im 1954 erschienenen Kommentar zu Spohrs Autobiographie wurde ernsthaft verbreitet, Meyerbeer hätte Spohr deshalb protegiert, um das Vordringen Wagners zu verhindern. Das ist ganz abwegig, denn abgesehen davon, daß dank Meyerbeers Einfluß der »Holländer« gegen den Willen Küstners aufgeführt werden konnte, sah Meyerbeer in Wagner gewiß keine Konkurrenz für sich. Spohr erhielt vom Kasseler Hof die Erlaubnis, die beiden ersten Berliner Vorstellungen der »Kreuzfahrer« selbst zu dirigieren. Ihm wurde ein herzlicher Empfang zuteil. Meyerbeer komponierte einen Begrüßungschor und hielt eine kleine Ansprache: »Verehrter Herr Kapellmeister. Die Mitglieder der Königl. Kapelle von denen Sie sich hier umgeben sehen, haben mir als Ihrem alten, vieljährigen Freund den ehrenvollen Auftrag ertheilt das Organ einer Bitte zu sein, welche sie Ihnen vorzutragen haben. Seit langen Jahren glänzt für uns Musiker alle der Name Spohr als ein leuchtendes Gestirn am musikalischen Horizont, doppelt strahlend durch den Glanz Classischer Tonschöpfungen wie durch hohe Würde des Charakters, der, nur dem Edlen und Wahren in der Kunst huldigend, stets verschmähete durch verwerfliche Mittel um die Gunst der Zeitgenossen zu buhlen ... Nehmen Sie mit Wohlwollen das einfache Liebeszeichen der Königl. Kapelle auf, theurer Meister, und mir 298

verzeihen Sie daß ich als ein Abc Schütz in der edlen Redekunst einen so großen Meister so schlicht und einfach haranguirt [eine festliche Rede halten] habe. Doch habe ich mir wenigstens einen Schlußsatz ausgedacht, den die K. Kapelle gewiß mit Begeisterung aufnehmen wird: nämlich, bald kehre Meister Spohr mit einer neuen Partitur wieder unter uns zurück und lange Jahre lebe er Vivat hoch. Glücklich wird sich die Kapelle fühlen wenn Sie den kleinen Tribut ihrer Verehrung mit Wohlwollen empfangen, und sich dadurch bewogen fühlen bald wieder unter uns zurückzukehren. Wir aber meine Herren, bringen dem theuren Meister ein dreifaches Lebehoch.« Auf diese Rede des Generalmusikdirektors folgte, so berichtete ein Augenzeuge, »eine ernste feierliche Stille, bis Prof. Wichmann, sich zuerst ermannend, auf Meyerbeer zuging und den gerechten Lobsprüchen über seine treffliche Rede die humorigen Worte hinzufügte: >wirklich, Demosthenes war nur ein Stümper im Vergleich zu IhnenDon Juan< oder >PuritanerPuritanernDon 299

Juan< für die Devrient und Rubini. 3.1. Dehn — Schlesinger — Redern — .. . Liszt ... 6.1. Um io Orchestermitglieder... An Rubini wegen Arie von >Don Juan< im Konzert. Mit Rubini probieren ...« usw. Große Ehre legte Meyerbeer ein, als im August 1845 die englische Queen Victoria den Rhein besuchte und aus diesem Anlaß sowohl auf Schloß Stolzenfels als auch im Koblenzer Schloß Festkonzerte anberaumt waren. Nach einem Bericht in der »Kölnischen Zeitung« vom 13. August 1845 fand »... während des Souper im Schlosse, zu welchem die Herren Minister und Gesandten, die hohe Generalität etc zugezogen waren, ... unter der Leitung des Herrn General-Musikdirectors Meyerbeer ein kleines Concert im Schlosse statt, wobei unter anderen Künstlern auch die erst spät vorgestern Abends hier eingetroffene berühmte schwedische Sängerin Frl. Lind mitwirkte.« Auch hier: Besteckgeklapper als Begleitmusik zur Kunst — oder Kunst zur Förderung der hochherrschaftlichen Verdauung. Am 16. August gab es ein umfangreiches Abendkonzert, dessen gedrucktes Programm folgende Piècen aufwies: »I i Gebet, Romanze und Duett aus Joseph (Méhul) 2 Phantasie für Violoncello Batta 3 18. Psalm von Marcello 4 Phantasie über Themata aus Freischütz 5 Der Flötenkampf Feldlager

Tuczek/Pischek Batta Viardot Möser Lind, Mantius

II i Wanderer Schubert 2 Le songe de Tartini, Ballade mit obligater Violinbegleitung von Pauseron 3 Terzett 3 Baßstimmen Margarethe von Anjou von Meyerbeer 4 Phantasie über spanische Nationalmelodien 5 Arie Don Juan 6 Spanische Volkslieder

Staudigl Viardot/ Vieuxtemps Staudigl, Pischek, Böttiger Liszt Lind Viardot«

Das war ein durchaus hörenswertes, farbiges Estradenprogramm. Zum Empfang der Queen waren dreizehn Musikchöre und alle Tamboure der 15. und 16. Infanteriebrigaden angetreten. Für Freiluftaufführungen war Blasmusik das bevorzugte Genre höfischer Repräsentation geworden. Die militärische Blasmusik hatte der Militärkapellmeister Wilhelm Friedrich Wieprecht (1802-1872) reorganisiert und auf ein hohes Niveau gebracht. Er begann 1829 damit, die für alle Waffengattungen übliche Besetzung von Kleiner und Großer Flöte, 2 Oboen, 2 Klarinetten in F, 6 bis 8 Klarinetten in C, 2 Fagotten, Kontrafagott, 2 bis 4 Hörnern, 2 bis 4 Trompeten, Posaune. 2 Bombardons und Janitscharenmusik (Große und Kleine Trommel, Becken, Tambourin, Triangel, Schellenbaum) in Infanterie-, Kavallerie- und Jägermusik aufzuteilen, indem er ihnen bestimmte Instrumente verstärkt zuord300

nete, z. B. mehrere Hörner für die Jägermusik. Er drillte eine Menge Musiker in den verschiedenen Regimentern und veranstaltete z. B. 1838 ein Konzert mit i 3oo Bläsern. Daneben war er ein gesuchter Arrangeur, dem u. a. Liszt, Spontini und Meyerbeer gern ihre Märsche zur Bearbeitung übergaben, da ihre Klänge auf diese Weise rasch an die Öffentlichkeit gelangten. Berlioz hat 1843 während seines Berlin-Besuchs voller Bewunderung von den »ledernen Lippen« der zweihundert Wieprecht-Mannen gesprochen, die zu seiner großen Zufriedenheit seine »Symphonie funèbre et triomphale« bliesen. Der erste Kompositionsauftrag, den Meyerbeer nach seinem Amtsantritt erhielt, entsprach einer am preußischen Hof üblichen Gepflogenheit. Graf Redern schrieb ihm am 7. August 1842: »In den ersten Tagen October ist die Vermählung der Prinzeß Marie mit dem Kronprinzen von Baiern, da wird der Fackeltanz getanzt, von 13o Blechinstrumenten (Trompeten, Posaunen) ausgeführt. Spontini hatte bisher jedesmal einen neuen komponirt. Se. Majestät haben mir jetzt erlaubt Sie darum zu ersuchen, . .. er ist V. Takt langsam gehend durch den Saal in vielen Umzügen. Bis Mitte September müßten wir ihn hier haben, damit die Trompeter lernen können, Wieprecht könnte auch arrangiren wenn Sie etwa nur Klavier Auszug schicken sollten ...« Bereits am 25. August erkundigte sich der Komponist von Paris aus, ob seine Musik zum Fackeltanz in B-Dur in Berlin angekommen sei. Diese Musik für Bläser ist bis jetzt eine der populärsten Piècen Meyerbeers geblieben, nur hört man sie in heutigen Rundfunkaufnahmen immer nur in einer Bearbeitung für großes Orchester mit Streichern. Das entspricht nicht der Originalgestalt, wie sie möglicherweise Wieprecht eingerichtet hat. Meyerbeer ließ sich von dem erfahrenen Militärkapellmeister häufig beraten, wie in den Tagebüchern nachzulesen ist. Fremd war indessen die militärische Blasmusik dem Komponisten nicht: Der langsame Mittelteil der »Dolchweihe« aus den »Hugenotten« ist dem langsam schreitenden, punktierten Rhythmus der Fackeltänze sehr ähnlich, und die ursprüngliche Einleitung zum dritten Akt der »Hugenotten« mit einem ähnlichen rhythmischen Modell fand in der Ouvertüre zum »Feldlager in Schlesien« Verwendung. Die Herkunft solcher Klänge ist unschwer zu erraten — Meyerbeer kannte sie von Spontinis heroischen Menuetten. G. Meyerbeer: »Les Huguenots«, Dolchweihe Pao andaafe

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Neben solchen kleinen Sachen erwartete man vom neuen General-MusikDirektor natürlich auch größere Werke. Als am 28. Februar 1843 im Berliner Schloß für drei- bis viertausend Gäste ein Hof-Maskenball ausgerichtet wurde, komponierte Meyerbeer auf einen Text von Ernst von Raupach »Das Hoffest von Ferrara«, eine Paraphrase auf Tassos »Befreites Jerusalem«. Mitglieder der königlichen Familie erschienen als Gäste aus dem Hause d'Este von Ferrara und stellten kostümiert »lebende Bilder« aus dem berühmten Epos vor: die Zauberin Alcina, das Christenheer, das Heer der Sarazenen, den Erzengel Gabriel beim Herzog Gottfried von Bouillon, Armide, Herminia bei den Hirten, die sterbende Clorinde, von Tancred getauft, sowie »Herminia und Nafrin finden den ohnmächtigen Tancred«. Zu allen Szenen hatte Meyerbeer Musik geschaffen, teils für Soli, teils für Chor. Wir wissen davon nur aus zeitgenössischen Zeitungsberichten, denn die Partitur gilt als verschollen. Vielleicht hat sie Meyerbeer auch für andere Werke geplündert. Nach einem Eintrag in das Tagebuch vom 28. Juni 1848 stammt der erste Chor der Bauern im »Propheten« aus dem »Hoffest«: »Ich radierte also auch einige Seiten deutschen Text weg ...« Die »lebenden Bilder« waren im 19. Jahrhundert ein beliebtes Gesellschaftsspiel, bevor man die lebendigen Bilder der Revue erfand. Ein historisches oder mythologisches Ereignis wurde zu einem theatralischen Bild stilisiert, indem sich Darsteller in nachempfundenen Kostümen und Dekorationen zum Tableau formten. Der Dichter Ernst von Raupach (1784-1852), ein erfolgreicher Bühnenautor, dessen insgesamt einhundertsiebzehn Stücke an den meisten Hofbühnen gespielt wurden, war in allen Genres beschlagen: Er schrieb Lustspiele in Kotzebues Manier, sentimentale Stücke wie das überaus langlebige Drama »Der Müller und sein Kind« (1835) und versuchte neben einigen Werken sozialkritischen Inhalts in seiner Dramenfolge »Die Hohenstaufen« (1837 ff., 8 Bände) die Totalität historischer Vorgänge mit einer Verherrlichung der deutschen Geschichte aus preußischer Sicht zu verbinden. Damit war er zwar nicht Meyerbeers Mann, wohl aber der Mann Friedrich Wilhelms IV., der sich auf der Rheinfestung Stolzenfels gern ganz mittelalterlich gab (übrigens erwirkte er auch die Vollendung des Kölner Domes). Immer wieder versuchte der König, Meyerbeer in Privataudienzen »unauffällig« auf das Thema Hohenstaufen zu lenken, was der GMD verstimmt in seinen Tagebüchern regi 302

strierte. Er lehnte diplomatisch, aber bestimmt ab. Trotz seiner königstreuen Erziehung fühlte er sich außerstande, eine preußische Siegesallee in Musik zu setzen, welche nach des Königs Willen mit »Adelheid von Italien« beginnen sollte. Noch bevor Meyerbeer ernsthaft daran gedacht hatte, sich in Berlin niederzulassen, befaßte er sich mit Stoffen deutscher Dichter, um sich nicht vorwerfen zu lassen, er habe sie aus Prinzip abgelehnt. 1841 ließ er sich Ludwig Tiecks Novelle »Des Dichters Tod« kommen und las auch den 184o erschienenen historischen Roman über die Renaissance-Figur »Vittoria Accoromba« sowie die Tagödie »König Saul« von Karl Gutzkow. Irn Januar 1842 besuchte Meyerbeer Tieck in Dresden; später, nachdem der Dichter als Berater der Königlichen Schauspiele nach Berlin gekommen war, traf man sich häufiger. Zu einer künstlerischen Zusammenarbeit ist es jedoch nie gekommen; offenbar lag Meyerbeer weder Tiecks Märchen-, Sagen- und Mittelalterwelt noch die Vermischung von Lyrischem, Epischem und Dramatischem. Er forderte von einem Libretto größte dramaturgische und sprachliche Disziplin. Die nächste literarische Autorität, mit der es Meyerbeer in Berlin zu tun bekam, war Ludwig Rellstab (1799-1860), der nach einer Ausbildung zum Artillerie-Offizier ab 1826 Musikkritiker und Redakteur der »Tante Voss«, der »Vossischen Zeitung«, war. Er trat als Autor von Unterhaltungsromanen, Novellen, Satiren und Liedern (z. B. »Leise flehen meine Lieder«) hervor. 1826 mußte er wegen seiner Schrift »Henriette oder die schöne Sängerin, eine Geschichte unserer Tage von Friemund Zuschauer«, die sich gegen die Auftritte der umjubelten Primadonna Henriette Sontag richtete, sogar eine Gefängnisstrafe auf sich nehmen. Damit wurde er zum »Märtyrer der Kunstkritik«. Er war bald die erste Autorität in Kunstsachen. Er bekämpfte alles, was aus Frankreich kam: Spontini, französische Musik, Napoleon, Meyerbeer. Haydn ließ er noch gelten, Mozart und Beethoven waren ihm schon zu modern. Außerhalb Berlins wurde sein hauptstädtischer Konservatismus verlacht; andererseits gab es keinen auswärtigen Virtuosen, der ihm nicht vor seinem Auftritt in Berlin einen Besuch abgestattet hätte; einige Sänger nahmen sogar pro forma Gesangsunterricht bei Rellstab, um ihn für ihre Auftritte günstig zu stimmen. Meyerbeers Kompositionen forderten seinen ganz besonderen Protest heraus. Als 1839 »Drei deutsche Lieder« auf Texte von Heinrich Heine, Michael Beer und Wilhelm Müller erschienen, bedachte sie Rellstab in der Zeitschrift »Iris« mit folgender Beckmesserei: »Drei deutsche Lieder hat Meyerbeer hier nicht componirt, d. h. den Sinn derselben durch Musik ausgedrückt, sondern, wenn man sich am gelindesten ausdrücken will, in die französische Salon-Musiksprache übersetzt ... er versuche doch ums Himmels Willen nicht mehr, etwas Deutsches zu machen; er bringt nichts hervor als eine Verzerrung, die dabei noch allzu oft nur recht flache, triviale Grundzüge hat ...« Dabei hatte Rellstab in einer Hinsicht durchaus recht: Meyer303

beer wollte nämlich gar kein »deutsches« Lied schreiben, was immer sich der Kritiker auch darunter vorstellen mochte, sondern eine kleine Szene mit

deutschem Text. Daß Rellstabs Verhalten ihn im Hause Beer nicht beliebt machte, liegt auf der Hand. Er erhielt deshalb von den Familienmitgliedern wenig schmeichelhafte Beinamen, unter denen sich einer besonders lange hielt: »die Ratte«. Frau Minna benutzte ihn sehr häufig. Leider konnte man auf die Dauer nicht auf Rellstabs Stimme verzichten, weil sie auch bei Hofe etwas galt. Über Graf von Redern als Vermittler war schon 1831 versucht worden, Rellstab die deutsche Übersetzung des »Robert-le-Diable« anzutragen. Er hatte abgelehnt! Doch Wilhelm Beer, Direktionsmitglied der Potsdam-Magdeburger und der Niederschlesisch-Märkischen Eisenbahngesellschaft und Mitglied des Ältesten-Kollegiums der Kaufmannschaft und des Central-Ausschusses der Preußischen Bank, fand endlich Zugang zu dem »Unbestechlichen«. Er schrieb seinem Bruder am 3. Juli 1838: »Ich habe ... Gelegenheit wahrgenommen mit dem infamen Hundsfott Rellstab Bekanntschaft anzuknüpfen. Er sollte nemlich etwas über unsere Eisenbahn schreiben, und dazu machte ich einige Notizen die ich ihm brachte. Daß er sich neulich bei Gelegenheit der >Hugenotten< annähernd geäußert weißt Du bereits. Es scheint mir also auch an der Zeit einen Schritt unsrerseits zu thun der wenn er nichts hilft auch nichts schaden kann ...« Dieser erste Schritt waren wohl Texte von Rellstab, die Wilhelm Beer seinem Bruder zur Komposition übergab. Der legte sie aber, wie andere Liedtexte auch, weit weg und zog sie erst im August 1842 wieder hervor, denn im Tagebuch lesen wir: »Das erste Lied (mit Klarinettenbegleitung) von dem Rellstabschen >Liederzyklus< komponiert & demselben nebst einem Briefe nach Berlin geschickt.« Wie so oft blieb es bei der Vertonung nur eines Liedes. Wahrscheinlich riß diese Art von Texten den Komponisten nicht gerade zu schöpferischen Höhenflügen hin: Hier oben, auf einsamen Höhen, umflossen von Himmelblau, von säuselnder Lüfte Wehen, hier ruh ich auf blumiger Au; rings lagern die Lämmer im Grünen, es tönet der Klang der Schalmei, von glänzender Sonne beschienen

ziehn wandernde Vögel vorbei! .. . In der Nacht vom 18. zum 19. August 1843 brannte das Knobelsdorffsche Opernhaus Unter den Linden nieder. Da man hier besonders in militärischen Angelegenheiten auf Echtheit Wert gelegt hatte, wurde auf der Bühne bei entsprechenden Erfordernissen mit richtiger Munition gefeuert, und da hatte sich doch ein noch glimmender Gewehrpfropfen, am Schluß des militärischen Balletts »Der Schweizersoldat« in einer Salve verschossen, in einen

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Haufen Kostüme gebohrt und dort einen Schwelbrand ausgelöst, der bald das ganze Haus mitsamt den leicht brennbaren Dekorationsteilen in Rauch und Flammen aufgehen ließen. Zwei Tage später befahl der König den Wiederaufbau und übertrug ihn dem Oberbaurat Karl Ferdinand Langhans, der sich mit Meyerbeer sowie den Kapell- und Konzertmeistern beriet, um den Neubau den Erfordernissen der modernen musikalischen Praxis anzupassen, besonders die Größe des Orchestergrabens betreffend. Als Interimsspielstätte diente bis zur Wiedereröffnung am 7. Dezember 1845 das Schinkelsche Schauspielhaus, in dem u. a. Wagners »Holländer« und Lortzings »Wildschütz« (24. Oktober 1843) ihre Berliner Erstaufführung erlebten. Der Generalmusikdirektor erhielt den Auftrag, für die festliche Neueröffnung eine ebenso festliche Oper zu komponieren. Da er in Berlin keinen geeigneten Librettisten fand, beriet er sich mit Scribe. Am 18. Oktober 18 43 notierte er nach einer solchen Besprechung: »Sei es große sei es komische Oper. Der Plan muß Scene für Scene enthalten. Wenigstens 2 Acte. 2 starke Stunden Dauer. — Feerie. Schausp.: Ballett: Oper: Dessauer Marsch. Müller Arnold — 7jähriger Krieg. patriotisch. Flöte — nicht Friedrich persönlich.« Es ist der Plan eines Gesamtkunstwerkes, eines Bühnenweihfestspieles, den ein Praktiker entworfen hat, der weiß, daß dergleichen nicht länger als »2 starke« Stunden dauern darf, da man nicht länger in festlich-patriotischen Hochgefühlen zu schwelgen vermag. Meyerbeer hielt sich weitgehend an den Plan, wenngleich aus den zwei Akten drei wurden und das Stück doch etwas länger dauerte als vorgesehen. Aber es wuchs sich nie zur großen Oper aus, sondern erhielt die Bezeichnung »Festspiel«. Das Libretto kam auf eine sehr sonderbare Weise zustande. Nachdem Meyerbeer in Müller-Arnolds »Geschichte des Siebenjährigen Krieges« geblättert hatte, fand er dort eine Episode, die den König mit seiner Flöte mitten in den Kriegswirren schilderte. Da nach einem Hausgesetz der Hohenzollern ein König niemals auf der Bühne erscheinen durfte, entwarf Scribe ein Szenarium, in dem wenigstens die königliche Flöte zu hören war. In dem am 26. Dezember 1843 geschlossenen regelrechten Vertrag mußte sich der Librettist zu völligem Stillschweigen über seine Arbeit verpflichten; dafür erhielt er 3000 F, die ihn für den Ausfall der Tantiemen entschädigen sollten. Wenn nämlich bekannt geworden wäre, daß der Libretto-Entwurf zu einem preußischen Festspiel ausgerechnet von Scribe stammte, hätte das sicherlich eine wüste Pressekampagne ausgelöst. Mit dem Plan zu der komischen Oper »Der erste Flötist des Königs, Episode aus dem Siebenjährigen Krieg« fuhr Meyerbeer nach Berlin zurück und prüfte das Terrain, um Rellstab die Versifizierung anzutragen. Frau Minna äußerte Bedenken: »Dein heute erhaltener Brief den Auftrag für die Ratte betreffend setzt mich in keine geringe Verlegenheit ... Er hat sich eigentlich doch gemein benommen ... Wäre ich Du, so benutzte ich diese Gelegenheit, u sagte ihm >liebe Ratte, ich freue mich daß wir endlich ver305

söhnt sind, künstlerische sympathie werde ich, das sehe ich nie bei Ihnen ernten, u ohne Diese, miteinander zu schaffen u zu arbeiten, dazu haben wir beide zu bestimmte u zu edle Naturen ...< Schließe aus diesem guten Rathe nicht etwa, daß die Ratte irgend Etwas, Dir Unbewußtes gegen Dich gethan habe, ich schwöhre Dir: nein, aber Du stehst zu hoch und sicher, wo wenn Du ihn erst ganz gewinnst, Deine Stellung mit ihm, der Welt gegenüber auch immer zweideutig sein wird ... Redern hat ihm [dem König] sonderbarerweise gesagt, Du würdest vielleicht den Plan von Scribe mitbringen wollen darauf habe der König gesagt auch dies sei ihm Recht, es müßte nur nicht zu piquant u abnorm sein, ich sagte nun zu Redern daß ich gar nicht wüßte ob das in Deiner idée liege, u wenn es Mal dahin käme so dürfte es auch Niemand darum wissen ...« (2. Dezember 1843). Wider Erwarten war Rellstab Feuer und Flamme! Am g. Januar 1844 beeilte er sich, Meyerbeer zu versichern: »Zugleich freue ich mich, Ihnen anzeigen zu können, daß ich mich nunmehr von einer früher bestellten Arbeit für die nächste Zeit freigemacht ... habe. So kann ich Ihnen denn meine ganzen Kräfte zu dem mir noch verschleierten Unternehmen zu Diensten stellen, und freue mich darauf sie mit bester Anstrengung zu gebrauchen.« Obwohl das Unternehmen noch ganz »verschleiert« war, stand Rellstab Gewehr bei Fuß; alle künstlerischen Bedenken aus früherer Zeit gegenüber Meyerbeer schienen vergessen. Was mag wohl seinen Sinneswandel bewirkt haben? Die Eitelkeit, mit Meyerbeers Namen verbunden berühmt zu werden? (Minna Meyerbeer sah es anders.) Auch die Aussicht auf Tantiemen mag ein Grund mehr gewesen sein, denn eine Oper von Meyerbeer hatte bisher immer Kassenrekorde gebracht, während Rellstab als Opernlibrettist bisher erfolglos geblieben war; seine Oper »Irene« mit der Musik von Karl Arnold hatte zehn Jahre zuvor nur vier Aufführungen erlebt (das »Feldlager« dagegen brachte ihm bis 1847 goo Thaler ein). So ward aus dem Saulus ein Paulus, zumal auch seine patriotische Gesinnung angesprochen war, denn es ging um ein Stück aus Preußens großer Zeit. Rellstab wußte nicht, daß die Idee aus Frankreich kam, und wenn er es ahnte, dann hat er das erfolgreich verdrängt. Er identifizierte sich so stark mit dem Text, als wär's ein Stück von ihm. In den Zeitungen kursierten bald die abenteuerlichsten Gerüchte, von wem der Text nun wirklich herrühre. Es wurden Tieck, der König selbst, Humboldt, Redern als die Erfinder bzw. Mitautoren des Librettos vermutet. Offenbar hatten die wenigen Eingeweihten wirklich nichts über den wahren Autor Scribe durchsickern lassen. Es ist nicht bekannt, ob der Mummenschanz Meyerbeer ein heimliches Vergnügen bereitet hat; für ihn war die Wahl Scribes eine künstlerische Notwendigkeit. Das Stück erhielt den Titel »Ein Feldlager in Schlesien« und handelt von einer verbürgten Episode aus dem Siebenjährigen Krieg (1756-1763), den Friedrich II. gegen halb Europa, besonders aber gegen Österreich führte. 306

I. Akt Der König ist ohne Begleitung auf Patrouille geritten und wird von ungarischen Husaren verfolgt. Es gelingt ihm, sich zunächst unter einer Brücke zu verbergen und dann in einem nahen Gehöft Zuflucht zu finden. Dort wohnt der pensionierte Hauptmann Saldorf mit seiner Nichte Therese, mit seiner Pflegetochter, der Zigeunerin Vielka, und dem Pflegesohn Conrad, welcher eben nach Berlin verabschiedet wird, wo er sich auf der Flöte weiterqualifizieren soll. Saldorfs leiblicher Sohn Leopold dient bei den Preußen als Soldat. Vielka bleibt zurück. In einer Romanze gedenkt sie ihrer verstorbenen Mutter, die dem Hauptmann einst das Leben rettete. Vielka hat eine Vision, daß ihrem Liebsten Conrad ein wechselvolles Schicksal bevorsteht. Er kehrt auch sogleich zurück und berichtet in seiner Arie von seiner Begegnung mit feindlichen Reitern und von der Flucht eines ihm unbekannten Soldaten in das Haus des Pflegevaters. Mit Vielka vereint sich Conrads Stimme zum Liebesduett. Saldorf erscheint mit Therese und erklärt, daß der Flüchtling der König sei. Im folgenden Ensemble berät man, wie man dem Monarchen helfen könne. Aufgeregte Mädchen verkünden in einem Chor, daß eine feindliche Truppe in den Garten eingedrungen sei. Vielka erkennt die stammesverwandten ungarischen Reiter und zähmt deren Wildheit durch ein Lied über ihre Mutter, die von den Zigeunern als Heilige verehrt wird. Von Tronk, dem Anführer der Reiter, erfährt Saldorf, daß sein Sohn Leopold erschossen werden soll, weil er trotz Verbot in der Nacht Feuer gebrannt habe, um seiner Braut Therese einen Brief zu schreiben. Tronk aber habe, als die Exekution vollzogen werden sollte, mit seinen Reitern die Preußen überfallen und Leopold gefangengenommen. Bei dieser Gelgenheit habe er erfahren, daß der König ausgeritten sei, und daraufhin beschlossen, den Monarchen selbst einzufangen. Aber die Spur ging verloren. Saldorf soll ihm bei der Suche behilflich sein. Der geht zum Schein darauf ein, verlangt aber als Gegenleistung für Conrad einen Freipaß bis Berlin. Mit diesem Papier und Conrads Reisemantel, der Flöte und den Noten schickt Saldorf Vielka zum König, der sich verkleiden und entfliehen kann. Conrad spielt den König, so gut es geht. Der falsche Conrad und richtige König ist unterdessen von einem österreichischen Wachtposten als verdächtig aufgehalten worden, doch Tronk ruft ihm durch das Fenster zu, er möge sich doch durch sein Flötenspiel legitimieren, was ja der König auch zufälligerweise trefflich kann. Der II. Akt ist, nach Art von Wallensteins Lager, ein großes Tableau vom Treiben im preußischen Feldlager. Die einzelnen Waffengattungen preisen als Husaren, Grenadiere, Kürassiere und Artilleristen die Vorzüge ihrer Waffen, verspotten einen Landmann, der das Los der Zivilbevölkerung während des Krieges beklagt, und lassen sich durch das Ballett der Marketenderinnen erfreuen. Die Soldaten erfahren aus unvollständigen Berichten von der Gefangennahme ihres Königs und beschimpfen Saldorf als einen Verräter. In 307

einem »Quadrupel-Chor« beschließen alle Soldaten, ihren König zu befreien. Unter Absingen kerniger Kriegsgesänge (»Ein Preußenherz schlägt voller Muth«) geht dieser Akt mit großem musikalischem Gepränge zu Ende. Der DI. Akt spielt nach dem Krieg in Sanssouci. Saldorf ist mit den Seinen hierherbefohlen worden. Sie sind in Sorge um Leopold, der sich zwar am Tage der Schlacht aus der Gefangenschaft befreien und zu seiner Truppe zurückkehren konnte, um dort den Sieg erringen zu helfen, doch hat man ihn wegen seines früheren Vergehens wieder festgesetzt. Tronk seinerseits, von den Preußen gefangen, dient nun als Heiduck dem König und berichtet, wie es Conrad erging: Er konnte, nachdem man den Betrug entdeckte, nur durch einen erneuten Überfall der Preußen vor dem Erhängen gerettet werden. Ohne die Uniform des Königs kam er nach Potsdam, aber die vielen Erlebnisse hatten seinen Geist verwirrt, so daß er die Erinnerung an die tatsächlichen Vorgänge verloren hat. Man hört nun aus dem Schlosse die Flöte blasen, und auf Vielkas Wunsch stimmt Conrad mit seiner Flöte ein. Im Duett wetteifert die Stimme Vielkas mit den Flötisten. Die Klänge rufen in Conrad seine Erlebnisse ins Gedächtnis zurück; Vielka diktiert ein Schreiben, das den König über die wahren Zusammenhänge jener Tage aufklären soll. Ein leiser Chor der Pagen befiehlt Conrad aufs Schloß. Therese beklagt das Los ihres Geliebten Leopold. Conrad kommt zurück, er darf sich eine Gnade vom König ausbitten. Vielka und Therese überreden ihn, ein Bittgesuch für Leopold aufzusetzen. Während noch Saldorf seine Befürchtungen über das Schicksal seines Sohnes äußert, kommt Antwort aus dem Schloß: Es gibt keinen Leutnant Saldorf mehr, sondern einen Kapitän Leopold Saldorf, dessen Patent beiliege. Conrad wird Erster Flötist in der Königlichen Hofkapelle. Nachdem Tronk die Gäste hinauskomplimentiert hat, spricht Vielka den Segen auf das Haus Hohenzollern und prophezeit dem Land eine ruhmvolle Zukunft. Im März 1844 begann Meyerbeer mit der Komposition. Er mußte sich, wie so oft, zur Arbeit zwingen. Seinem Tagebuch vertraute er den Grund an: »Neue Vorsätze das Tagebuch regelmässig zu führen, um mir Rechenschaft zu geben, wie fleissig ich bei der Komposition der neuen Oper sein werde ... Aber ich habe nicht regelmässig gearbeitet, besonders weil mir das Frühaufstehen jetzt sehr sauer wird.« »Sonnabend 16. III ... unbedeutend an dem Duett gearbeitet. Nachmittags kam Redern, mir den Text vom Finale des ersten Aktes zu bringen. Ich war unzufrieden damit, & das Mißbehagen darüber machte mich leider den ganzen Abend unfähig zur Arbeit ... Mittewoche i . V. Leider wieder fast 6 Wochen das Tagebuch nicht geführt. Bis jetzt sind leider von der neuen Oper nur fertig: i) ... 3) Konrads Arie komponirt, aber nicht instrumentiert... 3o8

Heute früh aber fing ich an, förmlich & ernsthaft an die Komposition dieses grossen Stückes zu gehen [das Finale I] ... Montag, 6. V. Präzise 6 fing ich an zu arbeiten, die Stimmung war glücklich & um 8 Uhr war der Pandurenchor fertig komponirt & wie ich glaube, gut & charakteristisch ... Circa 9 Stunden gearbeitet .. . Dienstag, 7. V.... Sehr schlechte Nacht. Herzklopfen, Zittern in den Gliedern, wahrscheinlich durch die Agitation des Nachtarbeitens verursacht, hielten mich wach im Bett bis 2 Uhr ...« Viele Eintragungen geben Rechenschaft über den Fortgang der Komposition. Immer wieder schwankte Meyerbeer zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Termindruck und dem Bedauern über seine geringe Leistung. Wie eine Mimose auf den Lufthauch reagierte er auf jede Störung oder Beunruhigung seiner Arbeitsatmosphäre. Im Tagebuch klingt das alles natürlich viel schlimmer, als es war, denn Meyerbeer konnte sehr rasch komponieren, nachdem er einmal eine Idee gefaßt hatte. Immerhin hatte er nur acht Monate Zeit für seine Partitur, und das war nicht sehr viel für die vielen Noten. Aber im Juni wuchs der zweite Akt mit seinen Kolossalszenen, womit der größte Teil der kompositorischen Arbeit bewältigt war. Im August 1844 reiste der preußische Generalmusikdirektor nach Dresden, um, vor Besuchern sicher, ungestört arbeiten zu können — »8 V. Stunden«, wie er am 20. B. im Tagebuch vermerkte. Zugleich ging er in der Semperoper ein und aus, um die »schwedische Nachtigall« Jenny Lind zu hören, die er für die Rolle der Vielka vorgesehen hatte und für deren Protektion er sich viel Arger einhandelte. Jenny Lind (182o-1887) hatte schon achtzehnjährig in Stockholm als Alice in »Robert-le-Diable« Furore gemacht. Im Dezember 1842 hatte Meyerbeer die Lind erstmals in Paris gehört und sogleich ein Vorsingen bei dem damaligen Operndirektor Pillet arrangiert, um sie für eine Rolle im »Propheten« zu empfehlen. Bei der Komposition des »Feldlagers« wußte er von Anfang an: Sie wird seine Vielka! Um aber ganz sicher gehen zu können, hörte er sie sich auf der Dresdner Bühne in einigen anderen Rollen an. Dann holte er die königliche Erlaubnis ein, mit ihr über ihre Mitwirkung am 7. Dezember 1844 zu verhandeln. Jenny Lind aber fühlte sich der Aufgabe noch nicht gewachsen und konnte sich nicht sofort zu einer Zusage entschließen. Sie verwies auf ihr mangelhaftes Deutsch, auf ihr zu kleines Repertoire, das damals außer der Alice u. a. die Pamina, die Gräfin im »Figaro« und die Agathe umfaßte. Andererseits stand sie in keinem festen Engagement. Ehe sie Meyerbeers Angebot annahm, erfuhr sie aus der Heimat, daß sie wegen der Krönungsfeierlichkeiten für Oskar I. und wegen der Erkrankung ihrer Mutter nach Stockholm zurückfahren müsse. Diese Nachricht machte Meyerbeer so mutlos, »... daß ich den ganzen Tag auch nicht eine Note komponieren konnte ...« (Tagebuch vom 26. August 1844). Am 19. September sah die Sache schon wieder besser aus: Der König in Schweden sollte seine Krone bereits im Oktober bekommen, so 309

daß die Lind daran anschließend zu den Proben nach Berlin kommen könnte. Am Sonntag, dem 22. September, schrieb Küstner »früh 6 Uhr. in Eile« an seinen Generalmusikdirektor nach Dresden: »... worauf Dlle Lind bis Mitte October in Berlin eingetroffen seyn könnte. Nach dem Allen und da Sie, verehrter Herr die Unterhandlung und Angelegenheit der Dlle Lind geleitet haben, da Sie allein den Stand Ihrer Studien bei der Abreise kennen, da Sie endlich bei letzterer die Abrede über ihre Rückkehr und Anwesenheit getroffen haben, so sollen und können auch Sie nur entscheiden: Ob mit Gewißheit auf Dlle Lind zur Eröffnung des Theaters gerechnet werden kann? ... Ich muß ferner bemerken, daß das Engagement einer Sängerin neben den Dlles Tuczek u Marx erwartet und gefordert wird, ich daher alles meinerseits thue, sodaß ich auf den Fall, daß die Lind nicht kommt, was Mitte September sich entscheiden sollte, eine Sängerin stelle, die die Ansprüche der Kritik und des Publikums erfüllt hat.« Der Intendant fühlte sich übergangen, weil Meyerbeer die Verhandlungen ohne ihn geführt hatte und sich die Erlaubnis zu bestimmten Vorhaben — unter Vermeidung des Dienstweges — immer direkt bei Friedrich Wilhelm IV. holte. Nun setzte Küstner Meyerbeer unter Druck und versuchte, gegen die Lind zu intrigieren. Von diesem Brief an begann ein zähes Ringen um die Besetzung der Vielka, das Meyerbeer verlor: In der Premiere sang schließlich Leopoldine Tuczek, die Berliner Primadonna. Auch mit dem von Küstner benannten Regisseur war der Komponist nicht einverstanden und beklagte sich im Oktober bei Humboldt darüber: »1) der H. Generalintendant hat ohne anderweitige Rücksprache den H. Bader als Opernregisseur angestellt. Ohne diese Wahl weiter hier angreifen zu wollen läßt sich doch wenigstens voraussetzen, daß H. Bader der jetzt zum ersten Maal in seinem Leben diese so schwierigen Functionen antritt, nicht gleich im Stande sein werde eine so complicirte und pittoreske Mise en Scene... erfinden zu können ... Es wäre also sehr ersprießlich wenn S. M. zu befehlen geruhten daß ausnahmsweise die Mise en Scene meiner Eröffnungsoper dem H. Stavinsky übertragen würde.« Am 12. Oktober 1844 reagierte der König auf Meyerbeers Wunsch: »Sie werden aus der Anlage ersehen, was Ich auf Ihre Wünsche unter dem heutigen Dato an den General-Intendanten Meiner Schauspiele erlassen habe ... will Ich, daß ... dieselbe Zahl von sechzig Extra-Choristen, welche er früher zu den >Hugenotten< und >Robert< erhalten hat, zugetheilt werde, auch will Ich, da die Zeit zum Einstudiren der neuen Oper heranrückt, daß keine neuen Oper-Gastspiele, außer den mit dem Sänger Behr kontrahirten, bis zum 7ten December veranlaßt ... damit die Zeit der in der neuen Oper auftretenden Sänger und Sängerinnen zum Einstudiren der letztem möglichst frei bleibe und sollen sie deshalb überhaupt bei Entwerfung des Repertoirs möglichst geschonet werden. Das in Scene setzen der neuen Oper haben Sie dem Stawinsky zu übertragen.« Es scheint, daß der so vom König vergatterte Kästner nun gerade ver310

suchte, dem Generalmusikdirektor Steine in den Weg zu rollen, was Meyerbeer natürlich sofort merkte, wie sein Klagebrief vom 15. Oktober an Kästner ausweist: »Die >Syrene< wird heute Abend gegeben, mithin ist es an der Zeit jetzt an die Probendisposition zu meiner Oper zu denken. Sie haben mir so wenig Zeit gelassen daß es fast an die Unmöglichkeit gränzt die Oper zu dem an dem von Sr. Majestät bestimmten Tage zu geben, und daß es nur durch die größte Energie und Fleiß möglich sein wird dies ins Werk setzen zu können. Obgleich ich bereits im July dem Kopisten einen Akt der Partitur, und anfangs September's den 2. Akt übergab, so hat er doch erst d 12. October die Particelle für den Chordirektor eines einzigen Aktes beendigen können wegen der Kopie der >SyreneHeinrich IV.< >Jungfrau von Orleans< oder dergleichen gegeben werden indem bei denselben sämmtliche Choristen als Statisten verwendet sind, und die Chorproben an solchen Tagen unmöglich werden ... N. B. Trotz der Kabinetsordre wird mir Sonnabend wo ich die Proben beginnen wollte geraubt, weil Sie >Don Juan< probiren um H Krause darin als Leporello debutiren zu lassen. Sänge ihn der gewöhnliche Darsteller der ihn schon seit 3 Jahren singt ... so hätte ich die Probe nicht verlohren.« Es ist schwer zu entscheiden, ob Küstner bewußt sabotierte, ob er organisatorisch überfordert war oder ob er versuchte, den Spielbetrieb aufrechtzuerhalten, was ja bekanntermaßen vor Eröffnung eines neuen Hauses besonders kompliziert ist. Mit dem 22. November 1844 begann ein intensiver Notenwechsel zwischen dem König, dem Fürsten Wittgenstein und Küstner über einige Vorkommnisse, die die Vorbereitungen der Premiere störten. Der König an Wittgenstein: »Der H Intendant der Schauspiele H v Kästner hat dem H Musik-Director Meyerbeer gegenüber ein Betragen angenommen, welches Ich auf das AllerEntschiedenste mißbilligen und in seine Schranken zurückweisen muß. Vor vielen Wochen bat er mich um Erlaubnis am Feste der Königin keine Oper geben zu dürfen, da die ... Oper Meyerbeers darunter leiden könne. Er schlug >Thomas Thyrnau< von der Birch-Pfeiffer vor. Ich genehmigte seinen Antrag mit Freuden. Bey meinem großen Interesse für Meyerbeers neues Werk erkundigte ich mich nun fleißig nach dem Verlauf der Proben ... und erhielt Andeutungen, als erschwere der H. Intendant dem Meyerbeer seine an sich schon große Mühe ... Da, am i fiten ... wird mir .. . ein Schreiben Kästners vorgetragen nach welchem er anzeigt, daß da es nun 311

doch zu späth für >Thomas Thyrnau< sey, habe er die Oper >Iphigenie< von Gluck als Fest-Oper zum 19. bestimmt. Ich war darüber sehr aufgebracht. Nicht blos weil die Ändrung ganz unmotivirt war, sondern weil durch die nothwendigen OpernProben die für den 7ten Dec. unterbrochen ... werden mußten und weil die Oper, auf die ich natürlich nicht gerechnet hatte, das Concert für den Abend des 19.ten hier in Charlottenbg. beeinträchtigen mußte, uns u. A. den Tenor raubte etc. Das veranlaßte mich ernstlicher nach dem Verlauf der Dinge wegen der künftigen Oper zu forschen, und da habe ich entdeckt, daß Meyerbeer, der der sanfteste, versöhnlichste mildeste Mann von der Welt ist, durch die beständigen Schwierigkeiten und Erschwerungen von Seiten Küstners völlig auf die Grenze seines Langmuths seiner Geduld getrieben worden ist. So hat Küstner die Mlle Lind damit empfangen, >das Publikum würde sie auspfeiffenFeldlagerFür unsern König unser Blut!< Diese Worte wirken wie ein elektrischer Schlag. Einer Explosion jubelnden Beifalls gesellte sich ein allstimmiger Dacaporuf. Das Musikstück, welches bis dahin nie besonders im Publikum hervorgehoben war, übte jetzt diese Gewalt. In ähnlicher Weise wurde der durch seine schwungvolle Composition hervortretende Chor aufgenommen: Ein Preußenherz schlägt voller Muth In Tod und in Gefahr .. . Endlich war es die gleiche Gattung freudig vaterländischer Bewegung, mit der das wunderschöne Schluß-Tableau begrüßt wurde, das Preußens Ruhm und Glück in allegorischen Bildern darstellt ... Das sind die Antworten, welche die Gesinnung der Hauptstadt, die mehr oder weniger doch immer den Prüfstein für die des Landes darbietet ... das sind die Antworten welche sie den hohlen, gehässigen, mit falscher Freiheitsbegeisterung prunkenden Reden giebt, die wir so häufig und noch jüngst in Frankfurt hören mußten...« Endlich also kam Rellstab durch sein Opus zur verdienten Anerkennung. Friedrich Wilhelm IV. hatte ihm außerdem zum größten Erlebnis seines Daseins verholfen: Am 19. März 1849 war Rellstab mit einem selbstverfaßten Aufruf zugunsten der preußischen Monarchie vor den König getreten und hatte von ihm den Auftrag erhalten, mehrere wohlverdiente (also königstreue) Berliner Bürger herbeizurufen, damit der Monarch seinen Bürgersinn öffentlich bekunden könne. Mit wehenden Rockschößen war Rellstab davongeeilt, um dem Wunsch seines Königs zu entsprechen. Er bezeichnete dieses Ereignis als »die denkwürdigste Unterredung, die jemals ein deutscher Journalist mit einem preußischen König gehabt hat«. Kein Wunder, daß die »Reden aus Frankfurt« Rellstabs blau-weiß-roter Gesinnung mißfielen. Da hatte sich doch die wahrlich nicht sehr entscheidungsfreudige Frankfurter Nationalversammlung am 3. April 1849 in der Paulskirche entschlossen, Friedrich Wilhelm die deutsche Kaiserkrone anzutragen, die der Preuße mit der Begründung ablehnte, er nehme aus Bürgerhänden keinen Thron an. Meyerbeer war zu dieser Zeit längst nicht mehr in Berlin, sondern damit beschäftigt, die Klänge dieser Revolution, die er in Paris und anderswo aufgenommen hatte, in die Partitur des »Propheten« hineinzunehmen. Nach der Premiere des »Feldlagers« hatte er sich, wiederum mit Humboldts Hilfe, einen einjährigen Arbeitsurlaub erbeten, da ihm die Aufgaben des Generalmusikdirektors, wie er sie vor dem 7. Dezember 1844 wahrnahm, doch zu aufreibend erschienen. Er wollte seine Pariser Projekte endlich wieder selbst in die Hand nehmen. Außerdem war 1846 das Aufführungsverbot für ein Schauspiel aufgehoben worden, das sein Bruder Michael Beer geschrieben hatte und das »Struensee« hieß. Die Spielsperre rührte noch aus dem Jahre 1827, als seine 317

Aufführung trotz der Annahme durch Brühl vom preußischen Hofe untersagt wurde. Weil das Stück am dänischen Hof spielt, fürchtete man wohl Proteste seitens des verwandtschaftlich verbundenen benachbarten Königshauses. Nunmehr erwirkte Mutter Amalia, die begreiflicherweise großes Interesse hatte, das Schauspiel ihres jüngsten Sohnes mit der Musik ihres ältesten Sohnes aufgeführt zu sehen, bei Friedrich Wilhelm die Erlaubnis zur Einstudierung. Es stand der Premiere nur noch entgegen, daß Heinrich Laube gleichfalls ein Stück mit dem Titel »Struensee« eingereicht hatte, aber das wurde zugunsten des älteren Projekts abgelehnt. Diese unerquicklichen Vorgänge waren wiederum Anlaß für Verleumdungen, die in der Oktobernummer 1846 der Leipziger »Illustrierten Theaterzeitung« erschienen: »Die Beersche Familie hat sich nicht irre machen lassen in Behauptung ihres Eigenthums, und damit Bruder Michael für alle Fälle eine Stütze auf den Brettern, welche Laube für das Stück erobert, haben möchte, hat Bruder Meyer dreizehn Musikstücke dazu componirt. Die Familie ist vorsichtig! man kann nicht wissen, ob das Publicum auch artig ist, und für den unartigen Fall ist der Besänftiger mit dem Glockenspiele eine Hülfe ... Der Laube mag sich einen Bruder suchen, welcher so gute Musik machen kann, und nun wollen wir doch sehen, ob er die Concurrenz bestehen wird. Arme deutsche Produktion der Gegenwart! Was wird Alles gegen Dich aufgeboten!« Schon sah sich der Komponist wieder in Terminnot: Die Premiere sollte bereits Ende August stattfinden, wurde aber zu seiner Erleichterung auf den 19. September verschoben. Im Juni befaßte er sich mit der Ouvertüre. Allein Meyerbeers Arbeitslaune wurde ständig durch alarmierende Nachrichten aus Paris gestört: Heine, so berichtete Gouin, habe Material gesammelt und wolle es veröffentlichen; außerdem war die in mühevollen Verhandlungen mit Pillet erarbeitete Besetzungsliste für den »Propheten« mehrmals geändert worden. Diese Nachrichten wirkten sich wieder lähmend auf Meyerbeers Arbeitseifer aus. Deshalb blieben doch wieder nur zwei Monate Zeit für die Komposition der Bühnenmusik zu »Struensee«, aber am 3. September war die Partitur fertig. Als Vorbild diente ihm Beethovens »Egrnont«-Musik, die er am 12. August 1846 erstmals gehört hatte. Meyerbeers neue Bühnenmusik zum Stück seines Bruders Michael besteht aus der Ouvertüre und dreizehn teils kurzen, teils ausführlicheren Teilen, nämlich dem »Melodram« zur neunten Szene des ersten Aktes (für Pfarrer Struensee, den Vater des Helden, nutzt Meyerbeer das erste Thema der Ouvertüre, das er seiner unvollendeten Oper »Noëma« entnommen hat und das das religiöse Elternhaus repräsentiert):

318

G. Meyerbeer: »Struensee« (Michael Beer), Ouvertüre

"'Melanie reioso (J .69) ;17. 4., 1 017 b (' 4)

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Nr. 3 ist der »1 Entreact (Der Aufruhr)«, dessen musikalisches Material dem Seitenthema der Ouvertüre entnommen ist. Ihm folgt das dänische Volkslied »König Christian stand am Mast« mit Chor- und Instrumentalstrophen. (Das Lied sollte auf königlichen Wunsch in der Ouvertüre paraphrasiert werden, aber Meyerbeer hat diese Idee nicht aufgenommen.) Nr. 4: »Fanfaren (hinter den Coulissen) für 3 Trompeten und Militärtrommeln«, zur elften Szene des zweiten Aktes. Nr. 5: »12. Szene Marsch und Chor« (mit dem Thema »König Christian«). Nr. 6: »15. Szene Königin Mathilde«, die in Struensee, den Günstling, ganz unstandesgemäß verliebt ist; durch sie gelangt er an die Spitze des dänischen Staates. Nr. 7: »Melodram zur letzten Szene II. Akt«. Nr. 8: »2. Entreact Der Ball«, eine Polonaise. Nr. 9: »3. Entreact Die Dorfschenke«, ein Pastorale. Nr. io: »4. Entreact«, benutzt Thema 1 und 2 der Ouvertüre. Nr. 1 1: »3. Szene V. Akt, Struensees Traum«, mit einem Thema aus Nr. 6 und dem Mathilden-Thema. Nr. 12: »7. Szene V. Akt Trauermarsch«. Nr. 13: »Melodram zur gleichen Szene«. Nr. 14: »Schlußszene« mit einer kurzen Reminiszenz des Trauermarschs. Die Ouvertüre, die den Weg des ehrgeizigen Emporkömmlings vom Elternhaus bis in die höchsten Staatsämter und seinen Sturz musikalisch mit den Themen aus den Szenen der Bühnenmusik nachzeichnet, hatte bald nach der Uraufführung die Runde durch die europäischen Konzertsäle gemacht. Sie ist auch heute noch gelegentlich zu hören. 1847 wurde sie vom Gewandhausorchester, von der Dresdner Hofkapelle, in Magdeburg, Bremen, Wien, Preßburg und Prag mit großem Beifall aufgenommen; nur in Königsberg hatte man sie, einem Bericht des Königs zufolge, ausgepfiffen. Am 2. September 1846 begannen die Orchesterproben. Keine Hand rührte sich nach dem ersten Durchspiel, vermerkte der Komponist in seinem Tagebuch, erst nach der zweiten Probe applaudierten die Orchestermusiker. Vom 7. bis 9. September gab es eine Unterbrechung der Proben, da Meyerbeers Pflicht als Hofkapellmeister ihn abberief: In Gelsdorf bei Angermünde, wo der Hof versammelt war, hatte der Maestro einigen adligen Damen zu akkompagnieren, die Ausschnitte aus Werken von Gluck, Händel, Rossini und Meyerbeer sangen. Die Militärmusik spielte auf nach Motiven aus dem »Feldlager«. Danach ging es mit des Königs Extrazug zurück nach Berlin, zu den Schlußproben. 319

Am 19. September notierte Meyerbeer im Tagebuch: »Heute Abend war die erste Vorstellung des >StruenseeJüdin< zu viel Ähnlichkeit hätte. Kurz sein — Bibelsprache. >Puritaner< von W. Scott, und >Jungfrau v. Orleans< lesen. Meine Rhyth326

men nachsehen — keine Bußpredigt — Massol Tresorier [Schatzmeister] — Terzett wo er bei der Theilung die anderen betrügt.« Meyerbeer befaßte sich also schon mit Einzelheiten, mit Motivationen bestimmter Vorgänge, immer ängstlich darauf bedacht, ähnliche Situationen, die Scribe für andere Komponisten erfand, zu vermeiden. Am 2. August 1838 wurde mit Scribe ein Vertrag abgeschlossen, demzufolge sich Meyerbeer zum Erwerb des Textbuches und zur Komposition der Oper bis 184o verpflichtete. Eine Aufführung des »Propheten« war für 1841 an der Académie ins Auge gefaßt worden. Ab Juni 1839 häuften sich die Tagebucheintragungen zum neuen Stück. Im Dezember des gleichen Jahres wurde entschieden, daß Scribe den fünften Akt, der bis dahin noch nicht vorlag, zu liefern habe. Im Januar 184o bot Gustav Schilling mehrere Stoffe zur Vertonung an, von denen Meyerbeer ein biblisches Oratorium auswählte, um den ehemals feindlich gesinnten Redakteur nicht zu verärgern. Künstlich zögerte Meyerbeer die Verhandlungen hinaus, warnte Schilling davor, etwas über die Arbeit an dem geplanten »Elias« verlauten zu lassen. Gewiß hat Meyerbeer nie daran gedacht, nach Mendelssohn diesen Stoff noch einmal zu vertonen, zumal er sich gerade mit einem anderen, einem falschen Propheten befaßte. Die Neuartigkeit des Scribeschen Stoffes verlangte nach neuen Mitteln. Meyerbeer wußte am besten, daß er ihn weder in der Art des »Robert« noch der »Hugenotten« würde darbieten können. Deshalb entschloß er sich am Ende doch, den anfangs so skeptisch betrachteten Text zu vertonen: Stand Robert noch zwischen Gut und Böse, beleuchteten die »Hugenotten« die Manipulation von Massen im Wechselspiel von Liebe und Religion, so bot Scribes Libretto die Möglichkeit, eine neue Konstellation von individuellem Geschick und gesellschaftlichem Umfeld zu zeigen. Beim Thema Fanatismus blieb Meyerbeer, doch standen nicht dogmatisierte Ligisten und Hugenotten einander gegenüber, sondern revolutionierte Bauern ihren Bedrückern, mit denen sie abrechnen wollten. Seit den »Hugenotten« interessierte Meyerbeer das Verhalten von Einzelpersonen im Kontext extremer historischer Prozesse. Er konnte am Verhältnis Mutter—Sohn demonstrieren, wie unter dem Zwang historischer Notwendigkeiten das natürlichste aller Bande pervertiert wird. Diese Ausgangsposition des Scribeschen Buches hatte ihn derart überzeugt, daß er alle Kräfte zusammenfaßte, sich dieser neuen, noch von keinem erprobten Aufgabe zu stellen. 1839 hatten sich die Gerüchte verdichtet, daß ein Direktionswechsel in der Académie bevorstünde. Duponchel hatte es in seiner Amtszeit nicht geschafft, eine zweite Oper von Meyerbeer zur Uraufführung zu erhalten. Nachdem er kurze Zeit mit Edouard Monnais die Geschäfte geführt hatte, trat im Mai 184o Léon Pillet das Amt des Direktors der Académie an. Pillet aber wartete nicht ab, bis sich der umworbene Maestro in Paris zeigte, sondern schrieb ihm am 15. Mai einen Brief nach Berlin: »Mein teurer Meister! ... Ich übernehme die Leitung unserer armen Oper ... Ich habe 327

mich dazu entschlossen und hoffe auf die Hilfe eines Messias, denn der allein ist fähig, dieses Wunder zu vollbringen. Nun aber wendet sich dieser Messias gen Preußen, und dieser Brief hat das Ziel, ihn zur Umkehr zu bewegen ...« Da man Duponchel nicht wegjagen konnte, blieb er als Co-Direktor für Ausstattung tätig. Pillet aber war für das Engagement der Künstler, die Verträge und die Auswahl der Stücke verantwortlich, wobei er keinem Beirat Rechenschaft schuldete. In einer Mischung aus Verzweiflung und Lobhudelei hieß es nun weiter: »Wäre es etwa wahr, teurer Meister, daß Sie daran denken könnten, noch einige Monate von Paris fernzubleiben, und daß Sie den schlimmen Gedanken hegten, uns in der Gefahr allein zu lassen? Wenn Sie ihn tatsächlich gehabt haben sollten, dann jagen Sie ihn ganz schnell fort und kommen Sie im Galopp wieder zurück. Kommen Sie, uns das Leben wiederzugeben. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß mir nichts zu teuer ist, um eine würdige Aufführung Ihres Stückes zu ermöglichen, und daß Sie unter allen Talenten, die wir an die Oper binden können, auswählen können. Denn Sie verstehen, daß ich mich herzlich wenig um den >Herzog von Alba< kümmere und daß ich überhaupt keine Eile habe, ihn von Donizetti aufführen zu lassen [er wurde 1882 in Rom uraufgeführt] . Ohne Sie weiß ich wirklich nicht, was aus mir werden soll. Mit Ihnen zähle ich auf eine glanzvolle Zukunft ...« Einem naiven Gemüt wäre dieser Brief wie eine Einladung ins Paradies erschienen. Meyerbeer las ihn mit einer Mischung aus Mißtrauen und Genugtuung. »Ich werde Dir«, so schrieb er seiner Frau, »seinen Brief schicken worin er mich le Messie de l'opéra nennt. Als dieser Leon Pillet noch Comissaire royal des königl. Theaters war, war er nicht sehr für mich. Das beweist mir wenigsten's daß er doch auf die Attraction meines Talentes bei dem Publicum glaubt« (25. Mai). Da Meyerbeer durchaus willens war, sein Talent dem neuen Direktor zur Verfügung zu stellen, antwortete er Pillet gleich am nächsten Tag. Gouin erhielt Instruktionen, wie mit Pillet zu verhandeln sei: »Hier mein Brief an Pillet. Lesen Sie ihn, und dann versiegeln Sie ihn! Sie würden mir einen ungeheuer großen Gefallen tun, wenn Sie ihm den Brief selbst aushändigen würden ... Ich möchte, daß Sie Herrn Pillet davon überzeugen, daß ... ich wirklich aus zwingenden Gründen das ganze Jahr über in Deutschland bleiben muß, daß Sie ihm indessen versichern können, daß ich zum Ende dieses Jahres oder spätestens zum Beginn des neuen Jahres in Paris sein werde, und zwar mit meiner neuen Oper. Aber es gibt eine neue Überlegung, die mich befremdet und die ich Ihnen anvertrauen will. Wenn man bei meiner Ankunft ... sofort mit der Abschrift beginnen würde, könnte ich Ende Januar mit den Proben beginnen, und nach 6monatiger Einstudierungszeit, d. h. Ende Juni könnte ich aufgeführt werden. Aber das ist die unvorteilhafteste Zeit des Jahres, und ich will nicht Gefahr laufen, mein Lieblings-Opus zu vertun ...« 328

Es gab nichts, das ihn gezwungen hätte, bis Ende 184o in Deutschland zu bleiben, außer abwartender Vorsicht. Vielmehr wollte Meyerbeer erst einmal hören, wie sich der neue Mann einführte. Gouin berichtete getreulich, was die ersten Vorstellungen ergaben. Zuerst fiel Meyerbeer auf, daß zwar »La Juive« und Rossinis »Guillaume Tell«, nicht aber seine »Hugenotten« auf dem Spielplan standen. Als sie dann doch wieder ins Repertoire übernommen wurden, schrieb Gouin, Pillet habe das erste Bild des fünften Aktes streichen lassen, jene wichtige Szene mit dem Ball der ahnungslosen hugenottischen Hochzeitsgesellschaft, der erst der hereinbrechende, blutbeschmierte Raoul die Augen über die Schrecken der Nacht öffnet. Mißtrauisch wie immer, beauftragte Meyerbeer Gouin, einige Details zu ermitteln: »1) Glauben Sie, daß, wie die >Gazette des théâtres< mitteilt, Herr Véron einen direkten oder indirekten Einfluß auf die gegenwärtige Leitung der Opéra hat? 2) Hat Gentil [Inspektor der Opéra] irgendeine Machtstellung in der neuen Leitung und sollte ich ihm einen Brief schreiben und mich beklagen? 3) Welche wird die erste neue Oper sein und mit welchen Komponisten wird man sich befassen?... 4) Stimmt es, daß man die Ankunft von Spontini in Paris erwartet, um >Fernand Cortez< wieder aufzunehmen, und zu welchem Zeitpunkt wird die Reprise stattfinden? 5) Glauben Sie, daß Halévy, wenn er die Opéra verläßt, unter Léon Pillet noch Einfluß haben wird?« Gouin wird ermittelt haben, daß man, ohne Spontinis Genehmigung abzuwarten, den »Cortez« als erste Oper gab; daß Halévy die Oper nicht verließ, obwohl er 184o Professor für Komposition am Conservatoire und Direktor der Privatmusik des Herzogs von Orléans geworden war. Weiterhin ließ Meyerbeer Gouin in der Presse eine Notiz lancieren, die dazu bestimmt war, von vornherein klare Fronten zu schaffen: »Man sagt, daß Herr Meyerbeer sich standhaft weigere, seine neue Oper vorzulegen, bevor nicht die Administration der Opéra eine neue Sängerin gefunden hat, die fähig ist, die Hauptrolle zu singen, die er ursprünglich für die Stimme von Mlle Falcon geschrieben hat.« Pillet verstand diesen Wink, den er am 15. Juli in der Zeitung las, sofort und reiste augenblicklich nach Bad Ems, wo der Komponist zur Bade- und Trinkkur weilte. Das erste Treffen zwischen dem Chef der Oper und dem Chef der Opernkomponisten scheint nicht günstig verlaufen zu sein, denn erstens hatte Pillet keine Sängerin vom Format der Falcon in Aussicht und zweitens lehnte es Meyerbeer ab, über den Auftritt von Duprez als Robert zu verhandeln, was Pillet gefordert hatte. Daraufhin reiste Pillet nach Mainz weiter, um Clara Heinefetter und Joseph Staudigl, zwei Wiener Sangesgrößen, zu hören, aber sie waren ihm nicht gut genug. Im August erkundigte sich Meyerbeer bei Gouin, wie denn die Presse (die — wie Vérons »Constitutionnel« oder »La Presse« — Pillet nicht wohlgesonnen war) 329

auf das Treffen in Bad Ems reagiert habe, weil er auch nach solchen Stimmen seine nächsten Schritte richten würde. Mit Pillet war er jedenfalls so verblieben, daß er aus familiären Gründen den Herbst über in Berlin bleiben müsse, daher die Partitur erst im Dezember beenden könne und eine Aufführung für April 1841 möglich wäre, immer unter der Voraussetzung einer geeigneten Sängerin. Inzwischen kursierten in den Zeitungen Gerüchte, Meyerbeer habe nur einen kleinen Teil der Partitur beendet, was insofern der Wahrheit entsprach, als er immer erst durch die genaue Kenntnis der sängerischen Möglichkeiten richtig inspiriert wurde. Aber am 1. Januar des neuen Jahres konnte er stolz ins Tagebuch schreiben: »Die letzten drei Monate hatte ich meine Vorsätze, wenigstens was die Komposition der neuen Oper betrifft, recht gut gehalten ...«, was viel besagt, da er doch meist den Jahresbeginn zum Anlaß nahm, seine Faulheit zu beklagen. Am 1 i. Januar 1841 wurde gegenüber Gouin zum ersten Male Pauline Viardot-Garcia als Sängerin für die Rolle der Mutter im »Propheten« genannt. Dieses Stimmwunder mit einem Stimmumfang von c bis zum dreigestrichenen f war Tochter und Schülerin des spanischen Gesangspädagogen Manuel Garcia und Schwester der Maria Felicità Malibran (1808-1836), der Frau von Charles de Bériot. 1821 geboren, wurde sie als junges Mädchen Kompositionsschülerin von Anton Reicha und Klavierelevin bei Franz Liszt. 1839 debütierte sie in London als Desdemona in Rossinis »Otello« mit einem solchen Erfolg, daß Viardot, der Direktor des Théâtre Italien, eigens auf die britische Insel kam, die Künstlerin nach Paris engagierte, dort seinen Posten aufgab und ihr Mann und Manager wurde. 1840 stand sie erst am Anfang ihrer Karriere. Meyerbeer hatte mit Kennerblick und Kennerohr diese grundhäßliche, begnadete Sängerin für seine neue Rolle auserkoren. Die Falcon sang nicht mehr, ihre Nachfolgerinnen waren mehr oder weniger profillos geblieben. So entschied sich Meyerbeer gegen die Sopran-Primadonnen und ihre tradierten Rechte auf die ersten Rollen. Mit ihrer Tiefe, die die Viardot ebenfalls vorteilhaft einzusetzen wußte, glaubte Meyerbeer die emotionale Kraft des Mutter-Schicksals besser über die Bühne bringen zu können. Er wußte Anfang 1841, daß er wegen dieser Sängerin keine Handbreit Boden aufgeben würde. Die Uraufführung des »Propheten« in den Jahren 1841/42 scheiterte an der hartnäckigen Weigerung Pillets, die Viardot zu engagieren (obwohl er doch Meyerbeer versprochen hatte, jede gewünschte Sängerin zu verpflichten!), und an der hartnäkkigen Weigerung Meyerbeers, die Rolle der Fides einer anderen Künstlerin zu überlassen — schon gar nicht Pillets Freundin Rosine Stoltz. Meyerbeer erfüllte seinen Vertrag gegenüber Scribe, bis März 1841 die Musik zu liefern. Er beauftragte Gouin, einen diskreten und ehrenwerten Advokaten zu finden, dem man die zum größten Teil fertige Partitur mit einigen »provisorisch« instrumentierten Teilen am Mittwoch, dem 24. März, zur Aufbewahrung übergeben könne. Tagebuch März 1841: »Freitag 19. Den 330

heutigen Tag brachte ich mit Packen & Briefschreiben zu, denn es ist wegen vieler Eventualitäten nicht ratsam, dass ich die Partitur durch die Diligence schicke. Da man aber auf der andern Seite doch von meiner Anwesenheit in Paris nichts wissen darf, weil dann gleich Leon Pullet auf Entscheidung dringen würde, ob ich die Stolz & Heinefetter für die Rollen der Fides & Bertha acceptieren will, wozu ich mich bei der Abwesenheit der Garcia jetzt nicht entschließen will, so werde ich im tiefsten Incognito reisen. Einen andern Pass unter dem Namen Eberty hatte ich durch meiner Schwiegermutters Pass erhalten. Ein entlegenes Hotel (Hôtel du Près aux Clercs, Rue Jacob 37, Faubourg St. Germain) hat Gouin, der einzige Mensch, der um meine Reise weiss, für mich gemietet. Mein neuer Bedienter George ist instruirt, & so denke ich mit Gottes Hilfe wird es gehen... Mittewoche 24. Früh morgens kam Gouin gleich. Nach geschehener Verabredung ging er zu Scribe, ihm anzuzeigen, dass die Partitur angekommen sei. Scribe war wütend & glaubte nun erst recht, dass ich ein anderes Werk für die Oper habe, weil ich das, was er mir zu unterzeichnen vorschlug, refüsierte & lieber die Partitur geschickt habe. Gouin beruhigte ihn & sagte, wenn er den Brief lesen würde, den ich Gouin geschrieben habe, er sich wohl überzeugen würde, dass ich nicht daran dächte, an der Oper etwas vor dem >Propheten< zu geben. Es ward verabredet, dass sich Scribe den andern Tag um 3 Uhr zu dem Notar Chandru (Rue J. J. Rousseau) begeben würde, um die Verification der Partitur vorzunehmen, welche dann dem Kontracte gemäss, mit seinem & meinem Siegel versehen, bei dem Notar versiegelt deponiert würde, woselbst sie 18 Monate bleibt, wenn nicht Scribe & ich vereint (einer allein kann es nicht) sie zurückfordern. Donnerstag, 25. Scribe kam nicht zum Notar, schickte aber sein Petschaft, begleitet von einem Schreiben an Gouin, worin er erklärte, daß er erkenne, daß ich die Partitur zur rechten Zeit & komplett abgeliefert habe... Mittewoche 31. Heute Nachmittag bei guter Zeit kam ich in Baden an & fand, dem Himmel sei es Dank, meine geliebte Minna & die beiden Kinder in bester Gesundheit. Ich aber brachte einen tüchtigen Husten & Schnupfen von der Reise mit.« Balzac und Kollegen brauchten solche Szenen nicht zu erfinden; das Leben schrieb sie. Meyerbeer hatte der Pflicht genügt und Pullet den Schwarzen Peter zugeschoben. Mochte der sehen, wie er zurechtkam (er scheiterte, wenn auch erst Jahre später). Der arbeitslose Komponist unterzog sich in Heidelberg einer Kur, die ihn derart anstrengte, daß er die Partitur seiner geliebten »Iphigenie in Aulis« von Gluck wieder habe »weglegen müssen, so benommen« war er im Kopfe. In Mannheim hörte er Bellinis »Nachtwandlerin«, Donizettis »Märtyrer« und Aubers »Die Falschmünzer«; als es ihm wieder besser ging, las er in den Partituren von Händels »Jephta«, »Acis«, »Die Wahl des Herkules«, Beethovens 3. und 6. Sinfonie und den ersten Akt der Oper »Tebaldo e Isolina« seines alten italienischen Bekannten Morlacchi. 331

Obwohl ihn ein »unangenehmer Brief von Heine« erreichte, in dem es um Klatsch in Paris ging, der ihn immer aufregte, ließ er es sich nicht nehmen, im wunderschönen Monat Mai eine Spazierfahrt nach Neckar-Steinach zu unternehmen: »Eine himmlische Partie, die niemand unterlassen sollte, welcher in Heidelberg ist. Wir kamen aber erst um V. 9 Uhr nach Hause, & ich hatte mich erkältet«, schrieb er ins Tagebuch. Für die nächsten Monate hatte Meyerbeer einen Aufenthalt in Berlin vorgesehen. Da er aber »... mit dem Packen nicht fertig werden konnte,« reiste er »... abends mit der Eisenbahn nach Mannheim, um morgens mit dem Dampfschiff nach Mainz & Frankfurt zu gehen ...« Im Frühherbst fuhr er von Berlin nach Dresden, um die Abschiedsvorstellung von Karoline Ungher zu hören. »Den anderen Tag kehrte ich mit der Eisenbahn nach Berlin zurück.« Und am 16. Oktober notierte er wieder eine Eisenbahnfahrt: »... In Cöthen musste ich noch 1 Stunde warten, ehe die Eisenbahn nach Leipzig abging (3/4 5), sehr langsam dieses Mal, denn wir kamen erst um 3/4 7 in Leipzig an. In der Stadt Rom [Hotel] nahe bei der Eisenbahn logiert ...« [Heute fährt der Personenzug Köthen—Leipzig eine Stunde 4o Minuten.] Sooft es ging, nutzte Meyerbeer das neue Verkehrsmittel, weil es ihn der strapaziösen Postkutschenfahrt enthob. Seit seiner ersten Fahrt über Land, nach Darmstadt, war er wohl zehntausend Meilen durch Europa geschaukelt worden, meist auf schlechten Wegen. Nun wollte er erleben, wie sich die Eisenbahn, deren Streckennetz sich in jenen Jahren nach den Plänen von Friedrich List über Deutschland ausbreitete, entwikkeln würde. Sein Bruder Wilhelm, der sich, aus anderen Gründen, ebenfalls dem neuen Verkehrsmittel verschrieben hatte, wird ihm wohl die Prosperität der neuen Technik anschaulich gemacht haben. Eisenbahn-Aktien, das konnte Meyerbeer sehen, waren stabil und gewinnbringender als preußischer Rübenzucker. Doch die Hausse war nicht unbegrenzt. Im Oktober 18 45 berichtete Wilhelm Beer von großen Kursstürzen im Geschäft. Nur die Kurse der Leipzig-Dresdner Eisenbahngesellschaft lagen fest bei 132 Prozent. »Diese sind an dem allerschwärzesten Tage doch nicht unter 129 zu haben gewesen... Keine Eisenbahn der Welt erfreut sich solcher Aussichten in der Zukunft, und darauf rathe ich Dir zu speculiren« (25. Oktober 18 45). In Berlin erwartete Minna ihr drittes Kind (Cornelie, am 4. Juni 1841 geboren), ein Grund mehr für Meyerbeer, trotz dringlicher Aufforderungen nicht nach Paris zu fahren. Aber in Berlin erwartete ihn ebenfalls etlicher Verdruß. Am 1. November fand er beim Nachhausekommen ein Billet von Schlesinger vor, wonach »... Szenen aus Opern deutscher Komponisten von den ältesten bis auf die heutigen Zeiten vorkommen sollen, & von mir der 4. Akt von >Robert< gegeben werden sollte, die Herren sich heute entschlossen hätten, die >Benediction des Poignards< [Dolchweihe aus den »Hugenotten«] anfangen einzustudieren, um sie übermorgen aufzuführen. Ein so langes & schweres Stück in 2 Tagen einstudieren & aufführen wollen, heisst es massakrieren 332

wollen« (Tagebuch). Über von Redern ließ Meyerbeer die Aufführung seines Stücks verbieten. Nun war das Vorbereitungskomitee böse mit ihm und ließ ihn ganz aus. »Donnerstag 4. Abends im Theater, wo die besagte Anthologie deutscher Opernmusik von Händel, Graun etc. bis auf unsre Zeit gegeben ward. Man hatte aber namhafte Meister dabei ausgelassen, wie z. B. Keiser (der Vater der deutschen Oper); Naumann, Weigl, Benda, Marschner. Auch die Wahl der Stücke selbst war nicht die glücklichste: unter Glucks Ouvertüren hatte man die von >Orpheus< gewählt (warum nicht die der >Iphigenie in Aulis