Gewaltgemeinschaften: Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert 9783737000635, 9783847100638, 9783847000631

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Gewaltgemeinschaften: Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert
 9783737000635, 9783847100638, 9783847000631

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Winfried Speitkamp (Hg.)

Gewaltgemeinschaften Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert

Mit 2 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0063-8 ISBN 978-3-8470-0063-1 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (FOR 1101/1). Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Herman Hugo, De militia eqvestri antiqva et nova ad regem Philippvm IV., libri qvinqve, Antverpiae 1630, S. 149 – 150. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Winfried Speitkamp Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans-Ulrich Wiemer Theoderich und seine Goten. Aufstieg und Niedergang einer Gewaltgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Cora Dietl Höfisch – freundschaftlich – gewalttätig. Ritterliche Gewaltgemeinschaften in der mittelalterlichen Literatur, untersucht am Beispiel des deutschen Prosalancelot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Horst Brunner Die pawrschafft hoch steyget / Vnd ritterschaft nider seyget. Gewalt und Gewaltgemeinschaften in der deutschen Literatur um 1400 . . . . . . . .

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Martin Kintzinger Brigands. Gewaltformationen im französischen Spätmittelalter . . . . . .

75

Christine Reinle / Peter Hesse Logik der Gewalt. Die Auseinandersetzungen der Percy und der Neville um die Mitte des 15. Jahrhunderts im Abgleich mit der kontinentalen Fehdepraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Ralf Pröve Gewaltformen in frühneuzeitlichen Lebenswelten

. . . . . . . . . . . . . 149

Patricia Bobak / Horst Carl Außer Rand und Band? Frühneuzeitliche Söldner als Gewaltgemeinschaften im niederländisch-spanischen Krieg . . . . . . . . 163

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Inhalt

Hans-Jürgen Bömelburg Strukturen einer mobilen Gewaltgemeinschaft im östlichen Europa. Der polnisch-litauische Freireiterverband der „Lisowczycy“ von der Entstehung im Moskauer Reich bis zur gewaltsamen Auflösung durch den polnisch-litauischen Reichstag (1607 – 1626) . . . . . . . . . . . . . . 185 Robert I. Frost The Death of Military Culture? The Citizen Army and the Military Failure of the Polish-Lithuanian Commonwealth 1648 – 1717 . . . . . . . . . . . 209 Andreas Helmedach / Markus Koller „Haiducken“ – Gewaltgemeinschaften im westlichen Balkanraum im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Werkstattbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 David Gaunt The Culture of Inter-Religious Violence in Anatolian Borderlands in the Late Ottoman Empire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Christine Hardung / Trutz von Trotha Komando und „Bande“. Zwei Formen von Gewaltgemeinschaften im südwestlichen Afrika des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts . . . 275 Winfried Speitkamp Die Ehre der Krieger. Gewaltgemeinschaften im vorkolonialen Ostafrika . 297 Sharon Bäcker-Wilke / Florian Grafl / Friedrich Lenger Gewaltgemeinschaften im städtischen Raum. Barcelona, Berlin und Wien in der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Peter Haslinger / Vytautas Petronis Erster Weltkrieg, Systemkonsolidierung und kollektive Gewalt in Ostmitteleuropa. Litauen und der „Eiserne Wolf“ . . . . . . . . . . . . . 343 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

Winfried Speitkamp

Einführung

Im August 2009 hat die Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ ihre Arbeit aufgenommen. Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, befasst sie sich mit Gruppen und Netzwerken, für die physische Gewalt einen wesentlichen Teil ihrer Existenz ausmacht, sei es, dass sie ihren Lebensunterhalt mit dem Einsatz von Gewalt erwerben, sei es, dass ihr Zusammenhalt und ihre Identität auf gemeinsamer Gewaltausübung beruhen. Das Konzept der Gewaltgemeinschaften basiert zum einen auf der Erkenntnis, dass befriedete Gesellschaften und staatliches Gewaltmonopol historisch gesehen eher eine Ausnahme darstellen. Die Regel waren und sind vielmehr Gesellschaften, in denen verschiedene Akteure beständig um Macht, Ressourcen und Anerkennung ringen. Zum anderen spiegelt der Begriff der Gewaltgemeinschaften die Beobachtung, dass gerade in Gesellschaften oder Regionen mit schwacher staatlicher oder zentraler Gewalt immer wieder das Aufkommen von Gruppen beobachtet werden kann, die durch permanente Gewaltausübung oder Gewaltandrohung charakterisiert sind und bei aller historischen und kulturellen Vielfalt doch gemeinsame Merkmale aufweisen. Der Begriff der Gewaltgemeinschaften bezieht sich also auf Konstellationen unvollständiger Staatlichkeit; er wird hier nicht für Träger von obrigkeitlicher Gewalt, an erster Stelle Polizei und Militär, angewendet. In zwei Ringvorlesungen hat die Forschergruppe im Sommer 2010 und im Sommer 2011 ihre Fragestellungen und Forschungsansätze vor einem breiteren Publikum zur Diskussion gestellt. In der ersten Ringvorlesung, noch in einer frühen Phase der Arbeit, präsentierten auswärtige Referenten ihre Überlegungen zum Problemzusammenhang „Gewalt und Gewaltgemeinschaften“ und gaben Anregungen für die weitere Fokussierung der Arbeit. In der zweiten Ringvorlesung stellten Mitglieder der Forschergruppe erste Ergebnisse zu den von ihnen untersuchten Gruppen vor und erörterten methodische und inhaltliche Aspekte ihrer Forschung. Der vorliegende Sammelband dokumentiert, in chronologischer Anordnung, die Beiträge der Ringvorlesungen und gibt dadurch Einblicke in die besonderen Probleme des Zugangs zu Gewaltgemein-

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Winfried Speitkamp

schaften, die in der Regel keine eigenen Quellen hinterlassen haben, aber auch in die enormen Erkenntnisgewinne, die eine nähere Beschäftigung mit dem Phänomen der Gewaltgemeinschaften in unterschiedlichen kulturellen Kontexten bietet. Die Spannbreite der Beiträge reicht zeitlich von der Antike bis zum 20. Jahrhundert und umfasst räumlich West-, Süd-, Mittel- und Osteuropa ebenso wie ausgewählte Regionen Afrikas südlich der Sahara. So wird ein weiter historischer Bogen geschlagen, der die Vielfalt ebenso wie die erstaunliche Vergleichbarkeit der beobachteten Phänomene vor Augen führt.1 Damit wird Neuland betreten, denn die historische und soziologische Forschung hat sich bislang nur punktuell für unterschiedliche Epochen und Konstellationen mit Gewaltgemeinschaften befasst und diese selten über den jeweiligen konkreten Kontext hinaus eingeordnet und verglichen.2 Im Hintergrund stand in der Regel die auch in der Soziologie lange dominierende Suche nach den Ursachen der Gewalt. Auch Forschung zu Gewaltgemeinschaften war insofern häufig keine Gewaltforschung, sondern Gewaltursachenforschung,3 und die inneren Bedingungen des Zusammenhalts und des kollektiven Agierens von Gewaltgemeinschaften gerieten seltener in den Blick.4 Auch der spezifische Zusammenhang von Gemeinschaft und Gewalt wurde kaum näher untersucht.5 In systematischer Hinsicht ergeben sich daraus Anregungen für die vergleichende Forschung. Der Blick muss dabei auch auf die Bedingungen des Agierens von Gewaltgemeinschaften gelenkt werden. Der Ethnologe Georg Elwert hat von

1 Diese Einführung schöpft aus den Antragsbänden der Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ und folgt in Auszügen den Darlegungen des Verfassers zum Stichwort „Gewaltgemeinschaften“ in: Michaela Christ / Christian Gudehus (Hg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013 [im Druck]. Der Forschergruppe gehören als Projektleiter an HansJürgen Bömelburg, Horst Carl, Cora Dietl, Peter Haslinger, Markus Koller, Friedrich Lenger, Christine Reinle, Winfried Speitkamp, Trutz von Trotha und Hans-Ulrich Wiemer. Erste Ergebnisse der Forschergruppe finden sich zudem in: Horst Carl / Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis zur Neuzeit (Krieg in der Geschichte, 72), Paderborn 2011. – Die redaktionelle Betreuung des Sammelbandes lag in den Händen der Koordinatorin der Forschergruppe Susanne V. Weber M.A. Mitgewirkt an der Bearbeitung der Beiträge hat Franziska Urner. Gemeinsam mit den studentischen Hilfskräften Franziska Urner und Dennis Bellof hat Susanne V. Weber auch die Ringvorlesungen betreut. Allen sei für ihre Hilfe sehr gedankt. 2 Anregende Studien über unterschiedliche Formen von Gewaltgemeinschaften: Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002; Kurt Beck, Das vorläufige Ende der Razzien. Nomadisches Grenzkriegertum und staatliche Ordnung im Sudan, in: Irene Schneider (Hg.), Militär und Staatlichkeit. Orientwissenschaftliche Hefte 12, 2003, S. 127 – 150. 3 Das gilt in großen Teilen auch für Wilhelm Heitmeyer / John Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002. 4 Ansätze bei Georg Elwert / Stefan Feuchtwang / Dieter Neubert (Hg.), Dynamics of violence. Processes of escalation and de-escalation in violent group conflicts, Berlin 1999. 5 Essayistisch: Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt/Main 1996.

Einführung

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„gewaltoffenen Räumen“ und „Gewaltmärkten“ gesprochen.6 Wo Staatlichkeit noch nicht, nicht mehr oder nur punktuell existiert, entstehen neue Strukturen, die scheinbar regellos sind, sich aber – genau betrachtet – nach Kriterien eigener Logik organisieren. Für Elwert gibt hier die Ökonomie die Regeln vor. Auch Gewaltgemeinschaften folgen demnach den Zwängen und Logiken des materiellen Erwerbs. Diese Konzentration auf Märkte, Kriegsunternehmer und ökonomische Interessen ist nicht unbestritten geblieben. Doch warf die Debatte zentrale Fragen auf, die gerade für Gewaltgemeinschaften zu beantworten sind, die Fragen nämlich nach der „Grammatik der Gewalt“.7 Welchen Zwecken und welchen Regeln folgt kollektiv organisierte Gewalt in solchen gewaltoffenen Räumen? Wie werden die Regeln vermittelt und umgesetzt? Wie bilden sich Gruppen, die von Gewalt leben und sich durch sie definieren? Wie werden die Hierarchien, Rollen, Regeln und Handlungen innerhalb derartiger Gruppen festgelegt? Hinter solchen Fragen steht die Überzeugung, dass der Einsatz von Gewalt, selbst von extremer Gewalt und Grausamkeit, nicht aus unkontrollierten, spontanen Ausbrüchen heraus erfolgt, nicht von blinder Wut und ungezügelter Aggression gesteuert ist, sondern einer inneren Logik entspricht, die entschlüsselt und dargelegt werden kann. Ein typologischer Ansatz eröffnet Zugänge zu Gewaltgemeinschaften, zur Praxis von Gewalt in der Gemeinschaft und zur Gemeinschaftsbildung durch Gewalt. Erstens können Gewaltgemeinschaften nach Dauer, Größe, sozialem Ort und Funktion differenziert werden. Zu nennen sind einmal Gemeinschaften, bei denen Gewalt zur Lebensform geworden ist. Das umschließt eine Vielzahl von Gruppen, die wiederum nach Herkunft, Funktion und Aktivitäten aufgegliedert werden können: etwa Kriegerverbände, Söldnergruppen, Räuberbanden, politische Wehrverbände und terroristische Gruppen. Davon sind Gewaltgemeinschaften zu unterscheiden, die sich für bestimmte, sachlich und zeitlich begrenzte Zwecke zusammenschließen, z. B. Fehdegemeinschaften. Daneben sind schließlich teilintegrierte Gewaltgemeinschaften zu nennen, etwa Jugendcliquen und Bünde, bei denen Gewalt nicht alleiniger Kern des Zusammenhalts ist und die noch in anderen sozialen Milieus und Gruppen verankert sind. Gewaltgemeinschaften sind meist Zusammenschlüsse junger Männer – nur wenige Ausnahmen wie das Amazonenkorps in Dahomey im 18. und 19. Jahrhundert sind bekannt –,8 in denen sich ganz spezifische Vorstellungen von männlicher, 6 Georg Elwert, Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1997, S. 86 – 101. 7 Herfried Münkler, Grammatik der Gewalt, in: Ronald Hitzler / Jo Reichertz (Hg.), Irritierte Ordnung. Die gesellschaftliche Verarbeitung von Terror, Konstanz 2003, S. 13 – 29. 8 Vgl. Robert B. Edgerton, Warrior women. The Amazons of Dahomey and the nature of war, Boulder 2000.

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Winfried Speitkamp

jugendlicher und kriegerischer Ehre verbinden. In manchen Gesellschaften bauen sie auf tradierten Vergemeinschaftungsformen auf, zum Beispiel im vorkolonialen Afrika auf Initiationsritualen und Altersklassen junger Krieger, in Europa auch auf Familienverbänden, Verwandtschaften oder Adelsbünden. Häufig werden darüber hinaus gerade von zuvor Marginalisierten neue Bindungen und Legitimationen geschaffen. In Gewaltgemeinschaften spielen nicht selten Konstruktionen oder Imaginationen von Ethnizität, Nationalität und Religiosität eine Rolle, sehen sich die Gruppen also als Vertreter „tribaler“ Rechte, nationaler Werte oder religiöser Wahrheiten, was in Erscheinungen von Gotteskriegertum, ,heiligen Kriegen‘ und Djihads gipfeln kann. Solche Selbstzuschreibungen werden als Legitimation der Gemeinschaftsbildung ebenso wie der Gewalttaten herangezogen. Denn Gewaltgemeinschaften suchen Formen von Abgrenzung, Bindung und Selbstverpflichtung, die für den Zusammenhalt unabdingbar sind. Dem liegen die Kameradschaft und wechselseitige Treueverpflichtung der Gemeinschaftsmitglieder – und nur dieser – zugrunde. Das begründet die innere Ordnung der Gruppen. Gewaltgemeinschaften entwickeln eigene Strukturen von Führung, Hierarchie und Abhängigkeit. Charisma und Klientelbildung sind dabei immer wieder als wesentliche und spezifische Bindungskräfte ermittelt worden. Dazu gehört aber auch die ideelle und ethische Festigung und Überhöhung von Gemeinschaft und Gewalt durch ein kollektives Tugendideal, einen Treue- und Ehrenkodex – dies sowohl beim Verhalten in der Gruppe als auch im Kampf. Und dazu gehören schließlich gemeinsame Erinnerungen: Gewalt stiftet Erinnerung, Erinnerung schafft Gemeinschaft, Gewaltgemeinschaften sind Erinnerungsgemeinschaften. Fremddeutungen in Literatur und Publizistik können hier ebenfalls eine Rolle spielen. Sie entstehen häufig in Wechselwirkung mit Selbstdeutungen oder befinden sich in einem Spannungsverhältnis dazu. Das verweist erneut auf die Vernetzung der Gewaltgemeinschaft mit der Herkunfts- und Trägergesellschaft und mit anderen Gruppen. Völlig abgeschottete, quasi autarke Gruppen, die beständig Gewalt ausüben und in keinem weiteren Austauschverhältnis zur Gesellschaft stehen, sind die Ausnahme. Im Übrigen kann beständige und exzessive Gewaltanwendung und die unwiderrufliche radikale Trennung von der Herkunftsgesellschaft auch, wie bei terroristischen Vereinigungen zu sehen, zur inneren Zermürbung und Auflösung führen. Abgesehen davon führen auch Erschöpfungs- und Ruhephasen zum Verlust von Vitalität und Dynamik, zur Lockerung des Zusammenhalts oder sogar zur Auflösung und Rückwendung an die Gesellschaft. Zweitens ist es notwendig, Formen der Gewaltpraxis in Gemeinschaft konkret und differenziert zu erfassen. Das entspricht der Forderung in der jüngeren Soziologie, anstelle der Ursachen stärker das Gewalthandeln selbst in den Blick zu nehmen, sei es durch „dichte Beschreibung“, sei es durch einen phäno-

Einführung

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menologischen Zugang.9 Gerade in jüngster Zeit ist dieser Ansatz zugespitzt worden, indem nach Bedingungen und Praktiken von extremer Gewalt und Grausamkeit gefragt worden ist.10 Das zielt auch auf die Logik und Dynamik des Handelns in der Gruppe über die schlichte „Komplizität“,11 die Meutenbildung12 oder die lediglich im Moment der Gewaltausübung erkennbare „Erregungsgemeinschaft“13 hinaus. Die konkrete Gewaltpraxis wiederum spielt sich in Gewalträumen ab, auf Kriegsschauplätzen14 und in Kampfzonen, die schon durch ihre topographische Realität Bewegung und Handlung, Vorrücken und Ausweichen, Angreifen und Fliehen beeinflussen. Eine besondere Bedeutung kommt ferner der Körperlichkeit und Dinglichkeit des Gewalthandelns zu. Körper werden für den Kampf inszeniert, vorbereitet und ausstaffiert. Körper können als Waffe dienen, und sie werden attackiert, von Waffen beschädigt und verletzt – dies auch dauerhaft, indem Narben als Erinnerungsmale des Kampfes oder sogar als Trophäen der Tapferkeit zurückbleiben. Dinge – Waffen an erster Stelle – prägen das Handeln, etwa indem Distanzwaffen wie Gewehre andere Strategien und Taktiken ermöglichen als Kurzschwerter. Die Nutzung solcher Nahwaffen in den südostafrikanischen Expansionskriegen der Zulu im früheren 19. Jahrhundert hat beispielsweise die Brutalität der Kämpfe erheblich gesteigert. Auch bestimmte Beutestücke, die als Ressource oder als Trophäe im Blick stehen, leiten das Kampfhandeln. Zur Gewaltpraxis zählen überdies die Spannbreiten von Emotionalität, ohne die Gewaltausübung nicht denkbar ist.15 Das fängt an mit der Grundkategorie „Vertrauen“, das sich konkretisieren und verstetigen kann in Freundschaft, Kameradschaft und Solidarität, sowie dem Gegenpol, dem Misstrauen, dass der Abgrenzung und dem Zusammenhalt gleichermaßen dient und auch für das Gewalthandeln wesentlich ist. Dazu treten weitere elementare Emotionen, primär Angst und Hass, aber auch Neid oder Rachgier, die die Interaktion im Gewalthandeln zwischen Tätern und Opfern dynamisieren. Damit werden auch 9 Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1997. 10 Trutz von Trotha / Jakob Rösel (Hg.), On cruelty – Sur la cruaut¦ – Über Grausamkeit, Köln 2011. 11 Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 392. 12 Sofsky, Traktat, S. 171. 13 Ulrich Bielefeld, Ethnizität und Gewalt. Kollektive Leidenschaft und die Existenzialisierung von Ethnizität und Gewalt, in: Wolfgang Höpken / Michael Riekenberg (Hg.), Politische und ethnische Gewalt in Südosteuropa und Lateinamerika, Köln 2001, S. 1 – 18, hier S. 12 f. 14 Vgl. zum Zusammenhang von Kriegsschauplatz und Gewalteskalation jetzt: Susanne Kuß, Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 2010. 15 So Jörg Baberowski, Gewalt verstehen, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 5, 2008, S. 5 – 17.

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Winfried Speitkamp

Bedingungen und Antriebskräfte einer Eskalation in der Gewaltausübung sowie die Formen quantitativer und qualitativer Grenzüberschreitung erfasst, mithin Exzess und Grausamkeit, die keinen vorher absehbaren Regeln mehr zu folgen scheinen. Die konkrete Gewaltsituation ist schließlich durch die Interaktion von Tätern und Opfern geprägt. Sie umfasst die Wechselwirkungen zwischen beiden Seiten, schon indem sich dabei erst Handlungsspielräume und Handlungsdynamiken ergeben. Nur unter Einbeziehung der Wechselwirkungen erklären sich Provokation, Eskalation oder Abschwächung von Gewalt. Und nur in der Interaktion werden Rollen- und Verhaltensmuster ausgeprägt. Diese können in der konkreten Gewaltsituation allerdings auch unscharf werden, bis hin zum Rollenwechsel: In der Konfrontation kann offen und wandelbar sein, wer Täter und wer Opfer ist. Ob das Opfer zum Täter wird und der Täter auch zum Opfer, ist zudem gerade in gewaltoffenen Räumen, in denen mehrere Gewaltgemeinschaften miteinander konkurrieren, oft nicht präzise zu entscheiden. Drittens wirft das Gewalthandeln in Gemeinschaft aus anderer Perspektive die Frage nach der Gemeinschaftsbildung durch Gewalt auf, und zwar unabhängig davon, ob es sich um reale, nur angedrohte oder befürchtete Gewalt handelt. Die durch Verdacht, Gerücht und Furcht antizipierte und imaginierte Gewalt bestimmt oftmals eigene Handlungsinitiativen wesentlich mit. Das umgreift Gewaltphantasien und Horrorvisionen ebenso wie Imaginationen von Gewaltgemeinschaften, z. B. Angstvorstellungen von Tiermenschen, sogenannten „Leopardenmännern“, wie sie im subsaharischen Afrika der Kolonialzeit kursierten, oder Verschwörungstheorien. Sie suggerieren einen – synchronen – Zusammenhang von Gewaltgemeinschaften oder sogar eine – diachrone – Kontinuität und Tradition der Gewalt. Für die Gemeinschaftsbildung durch Gewalt spielen ferner Formen und Möglichkeiten der Mobilität und Kommunikation eine Schlüsselrolle, dies sowohl innerhalb einer Gewaltgruppe als auch zwischen verschiedenen Gruppen sowie zwischen Gruppe und Umgebung. Die Bewegungen von Gruppen, Menschen, Körpern, Dingen, Waffen, Waren, Nachrichten und Gerüchten erhellen Integration und Interaktion von Gewaltgemeinschaften. Insofern sind Gewaltgemeinschaften auch danach zu differenzieren, wie sie sich im Raum und im Kampf bewegen, welche Mittel sie dabei einsetzen, etwa Lasttiere, Boten oder ortskundige Führer, und welche Aktionsradien sie beispielsweise für Raubzüge erschließen. Daran schließt sich die Frage an, in welchem Maße Gewalt nicht nur die Bildung von Gemeinschaft befördern, sondern auch ins Gegenteil umschlagen, zu Zerfall und Auflösung einer Gruppe führen kann. Im weiteren Sinn geht es folglich immer wieder um den Zusammenhang von Gemeinschaftsbildung und Gewaltausübung. Dieser Aspekt wird angesichts defizitärer Staatlichkeit in vielen Teilen der Welt und des Aufkommens von

Einführung

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„neuen Kriegen“16 an Bedeutung gewinnen und Erklärungen und geeignete Reaktionen verlangen. Die Forschergruppe will durch die Rekonstruktion und Analyse von Fallbeispielen, durch den historischen Vergleich und die epochenund kontinentübergreifende Typologisierung zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen.

16 Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Hamburg 2004.

Hans-Ulrich Wiemer

Theoderich und seine Goten. Aufstieg und Niedergang einer Gewaltgemeinschaft1

1.

Theoderich und seine Goten als Gewaltgemeinschaft

Theoderich der Große war für die deutsche Geschichtswissenschaft lange Zeit ein germanisch-deutscher „Volkskönig“, und seine Goten wurden als deutscher Stamm betrachtet; ihre Geschichte galt als Teil der deutschen Geschichte in ihrer germanischen Phase. So kennt man es aus Felix Dahns vielgelesenem Roman „Ein Kampf um Rom“, der seit 1876 immer wieder neu aufgelegt wird. In der Geschichtswissenschaft sind diese Vorstellungen indessen seit den 1960er Jahren überholt; die Diskussionen der letzten 40 Jahre kreisten um die Frage nach der Ethnogenese und Ethnizität sozialer Gruppen, die in das spätantike Imperium Romanum eindrangen und zur Entstehung des frühmittelalterlichen Europas beitrugen. Man betonte, dass sie wandelbar, anpassungsfähig und häufig kurzlebig waren, und fragte, wie es unter diesen Bedingungen zur Ausbildung eines Identitätsbewusstseins kommen konnte. In der Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ werden die Goten Theoderichs aus einer anderen Perspektive betrachtet: als Kriegergruppe. Guido M. Berndt hat vor kurzem eingehend dargelegt, weshalb der Kriegerverband, den Theoderich 474 von seinem Vater übernahm und im Winter 488/489 nach Italien führte, als eine Gewaltgemeinschaft angesprochen werden kann:2 Sein Kern bestand aus waffenfähigen und kampfgeübten Männern; der innere Zusammenhalt und zeitweise auch das 1 Die folgenden Ausführungen stellen die um einen bibliographischen Anhang erweiterte Fassung des Vortrages dar, den ich am 26. April 2011 in der Gießener Ringvorlesung „Gewaltgemeinschaften“ gehalten habe. Ich danke dem Auditorium, insbesondere Stefan Tebruck, für die anregende Diskussion, Guido M. Berndt für Rat und Hilfe bei der Ausarbeitung der Druckfassung sowie Agnes Luk für die sorgfältige Korrektur des Manuskriptes. Hinweise auf wichtige Literatur sowie ein Überblick über die Quellen, auf denen diese Darstellung des Gegenstandes beruht, finden sich am Ende des Aufsatzes. 2 Guido M. Berndt, Beute, Schutzgeld und Subsidien. Formen der Aneignung materieller Güter in gotischen Kriegergruppen, in: Horst Carl / Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis zur Neuzeit (Krieg in der Geschichte, 72), Paderborn 2011, S. 121 – 147.

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Hans-Ulrich Wiemer

Überleben der Gruppe wurden durch Beute und Subsidien gesichert. Zur Veranschaulichung mag ein Zitat aus der „Gotengeschichte“ des Jordanes dienen, die an dieser Stelle auf eine zeitgenössische, im Auftrag Theoderichs verfasste Darstellung zurückgehen dürfte: „Später nahm die da und dort bei den Nachbarvölkern gemachte Beute ab, und auch die Goten litten allmählich Mangel an Nahrung und Kleidung. Menschen, denen Kriege schon seit langem die Nahrung verschafft hatten, begann der Friede nachteilig zu sein; sie zogen alle mit lautem Geschrei vor den König Thiudimir und baten, er möge ein so großes Heer doch irgendwohin führen, wohin er nur wolle.“3

Jordanes will an dieser Stelle verständlich machen, weshalb die damals noch in Pannonien, dem heutigen Ungarn, ansässigen Goten ihre Wohnsitze im Jahre 473 verließen und unter der Führung von Theoderichs Vater Thiudimir nach Süden zogen: Ihre materielle Existenz beruhte seinem Bericht zufolge auf Beute; ihr Ausbleiben verursachte Mangel, der durch Gewalt behoben werden sollte. Aus dem fragmentarisch erhaltenen Werk des oströmischen Geschichtsschreibers Malchos von Philadelpheia ersehen wir, dass die Größe und Zusammensetzung dieser Gewaltgemeinschaft über mehr als ein Jahrzehnt hinweg starken Schwankungen unterworfen war, weil ihre Macht nicht ausreichte, um eine dauerhafte Anerkennung und ökonomische Absicherung als reichsangehöriges Kriegervolk zu erreichen.4 Auch nachdem Theoderich Anfang der 480er Jahre die beiden größten, auf dem Balkan agierenden Kriegerverbände unter seiner Führung vereinigt hatte, blieb die wirtschaftliche Existenz dieses Verbandes stets prekär. Der Kaiser zahlte nur unregelmäßig Subsidien; Beute, Schutz- und Lösegelder brachten kurzzeitig hohe Einnahmen, hielten aber nie lange vor. Theoderichs Gefolgsleute hatten selten ein festes Dach über dem Kopf und litten oftmals Hunger. Die Raubwirtschaft war zugleich eine Mangelwirtschaft. An dieser Stelle soll es freilich nicht um die fünfzehnjährige Phase gehen, in der Theoderich und seine Goten vergeblich versuchten, sich auf dem Balkan durch Gewalt ein gesichertes Auskommen zu verschaffen (474 – 489). Im Zentrum dieses Aufsatzes stehen Entwicklungen, die sich abspielten, nachdem Theoderich zum König in Italien geworden war. Aufgeworfen wird zum einen die Frage, wie es Theoderich gelang, seinen Kriegerverband in das Reich zu integrieren, das er in Italien errichtete. Es geht also um die Domestizierung einer 3 Jordanes, Getica 283: Minuentibus deinde hinc inde vicinarum gentium spoliis, coepit et Gothis victus vestitusque deesse, et hominibus, quibus dudum bella alimoniam praestitissent, pax coepit esse contraria; omnesque, cum magno clamore, ad regem Theudimir accedentes, Gothi orant, quacumque arte vellet, tantum ductaret exercitum. 4 Hans-Ulrich Wiemer, Kaiserkritik und Gotenbild bei Malchos von Philadelpheia, in: Andreas Goltz / Hartmut Leppin / Heinrich Schlange-Schöningen (Hg.), Jenseits der Grenzen. Beiträge zur spätantiken und frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung (Millennium-Studien, 25), Berlin 2009, S. 25 – 60.

Theoderich und seine Goten

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Gewaltgemeinschaft. Zum anderen soll der Frage nachgegangen werden, wie es kam, dass dieser gotische Kriegerverband, der im Reich Theoderichs eine militärische Funktionselite bildete, sich über zwei Generationen zunächst in eine Art Gewaltgemeinschaft zurückverwandelte, schließlich aber ganz auflöste. Um sie zu beantworten, müssen wir die Ereignisse nach dem Tode Theoderichs in den Blick nehmen.

2.

Die Domestizierung einer Gewaltgemeinschaft: Theoderich in Italien

Im Jahre 488 erhielt Theoderich von Kaiser Zenon den Auftrag, nach Italien zu ziehen und den dort seit 476 regierenden Odoakar zu stürzen, der in den Augen Zenons ein Tyrann war. Es dauerte volle vier Jahre, bis Theoderich seine Mission erfüllt hatte. Erst im August 492 gelang es Theoderich, seinen Widersacher, der sich in Ravenna verschanzt hatte, auch von der Seeseite her einzuschließen, und es verging noch einmal ein halbes Jahr, bis er ihn und seine Anhänger vollständig ausschalten konnte. Seit Frühjahr 493 aber herrschte Theoderich alleine über ganz Italien und Sizilien. Für Theoderich stellte sich nunmehr die Aufgabe, wie er diese durch Gewalt errungene Herrschaft stabilisieren konnte. Das Problem hatte drei Aspekte: erstens das Verhältnis zum Kaiser in Konstantinopel, zweitens das Verhältnis zu den italischen Eliten und drittens das Verhältnis zu den gotischen Kriegern, denen Theoderich seinen Erfolg verdankte. Betrachten wir zunächst das Verhältnis zum Kaiser. Theoderichs Position war neu auszuhandeln, weil es in Konstantinopel zu einem Herrscherwechsel gekommen war, während Theoderich gegen Odoakar kämpfte. Anastasios, seit 491 Nachfolger Zenons, war zunächst nicht bereit, Theoderich ein Herrschaftsrecht über Goten und Römer zuzugestehen. Schließlich aber kam ein Kompromiss zustande, der besagte, dass Theoderich die Zugehörigkeit seines Reiches zum Imperium Romanum anerkannte, dem Kaiser einen Ehrenvorrang zugestand und für seine Person auf den Titel sowie einige Insignien und Prärogative eines Kaisers verzichtete. Im Gegenzug wurde Theoderich als Herrscher im Rest des ehemaligen Westreichs anerkannt. Theoderich nahm den Titel Flavius Theodericus rex an. Dieser Titel beinhaltete den Verzicht auf die Stellung eines Kaisers im Westreich, brachte aber zugleich zum Ausdruck, dass Theoderich nicht beabsichtigte, als König eines gentilen Verbandes zu herrschen, wie es etwa die vandalischen Herrscher in Nordafrika taten. Theoderich war König, aber sein Königtum war nicht auf den Personenverband der Goten eingeschränkt, sondern erstreckte sich gleichermaßen über Goten und Römer, soweit letztere in Italien und den

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Hans-Ulrich Wiemer

angrenzenden Regionen lebten. Dadurch trat er in die Stellung ein, die zuvor der Kaiser des Westreichs innegehabt hatte. Das führt zum zweiten Problem, das Theoderich lösen musste, wenn er seine Herrschaft im Westreich auf Dauer stellen wollte: Er brauchte die Kooperation der einheimischen Eliten. Theoderich, der seine Jugend als Geisel in der Kaiserstadt Konstantinopel verbracht hatte, hatte erkannt, dass der spätrömische Staatsapparat einem Herrscher Machtmittel zur Verfügung stellen konnte, wie sie keiner seiner Vorfahren jemals besessen hatte. Als er Italien in Besitz nahm, besaß das Land noch immer viele Städte und verfügte über eine entwickelte Geldwirtschaft. Die durch Landwirtschaft und Gewerbe erzielten Überschüsse reichten nach wie vor aus, um den kostspieligen Lebensstil stadtansässiger Eliten zu finanzieren. Der spätrömische Staatsapparat aber war eine für vormoderne Verhältnisse außerordentlich effektive Maschinerie zur Extraktion und Allokation dieser Ressourcen; er trieb Steuern und Abgaben von allen freien Einwohnern des Landes ein und war in der Lage, den Transport von Gütern und Personen über große Entfernungen zu organisieren. Da dieser Apparat am Ende des 5. Jahrhunderts noch leidlich funktionierte, ergriff Theoderich die Chance, diese Einnahmen in seine eigenen Kassen zu leiten. Er wurde damit zum reichsten Herrscher des Mittelmeerraumes – nach dem Kaiser natürlich, dessen Reichtum alles in den Schatten stellte, was gentile Herrscher ihr Eigen nennen konnten. Theoderich hat sich darum wohlweislich gehütet, die von ihm vorgefundenen Strukturen der spätrömischen Zivilverwaltung zu zerstören; er übernahm sie weitgehend unverändert mitsamt ihrem teilweise hochspezialisierten Personal. Diese Entscheidung war die Grundlage des Kompromisses, den Theoderich mit den einheimischen Eliten – und das heißt dem Senatorenstand – schloss: Einerseits mussten die Senatoren sich der Herrschaft eines nicht-römischen, in ihren Augen also barbarischen Herrschers unterwerfen, dessen Macht auf einem aus der Fremde eingewanderten Kriegerverband beruhte; in diesem Zusammenhang mussten sie auch materielle Opfer bringen, von denen noch die Rede sein wird. Andererseits aber garantierte Theoderich ihren Besitz und ihre Privilegien und respektierte die Traditionen, die das Selbstverständnis und den Lebensstil dieses Standes bestimmten. Fast alle hohen Posten der Zivilverwaltung wurden mit Senatoren besetzt. Für Römer und Goten sollte gleichermaßen das römische Recht gelten. Die Macht des Königs wurde gegenüber den Römern in Formen repräsentiert und kommuniziert, die spätrömischen Usancen entsprachen. Für diese Politik stand das vom Hof des Königs verbreitete Schlagwort civilitas. Theoderich ist es auf diese Weise gelungen, die Senatoren Italiens für sich zu gewinnen; sie standen bis zum Ende seiner Herrschaft loyal auf seiner Seite. Der „konfessionelle“ Gegensatz zwischen den „katholischen“ Römern Italiens und den „arianischen“ – richtiger müsste es heißen homöischen – Goten hat

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dieser Zusammenarbeit nicht im Wege gestanden. Zwar gehörte die große Mehrheit der mit Theoderich eingewanderten Krieger einer Kirche an, die ihren eigenen Klerus, ihre eigene Liturgie, vor allem aber ein Glaubensbekenntnis besaß, das in den Augen der „katholischen“ Kirche als Irrlehre galt. Auch die Religion stand also trennend zwischen Goten und Römern. Dessen ungeachtet hat der „katholische“ Klerus Italiens einschließlich des Papstes Theoderich jedoch sogleich als Herrscher Italiens anerkannt und sich ihm in der Folge nicht bloß in weltlichen Dingen willig untergeordnet: Der König wurde zum Schiedsrichter angerufen, als es Ende 498 in Rom zur Doppelwahl zweier Päpste kam, und wenige Jahre später von einem in Rom versammelten Konzil sogar aufgefordert, über die Absetzung eines Papstes zu entscheiden. Dabei kam Theoderich für lange Zeit (bis 519) der Umstand zugute, dass die Kirchengemeinschaft mit der Reichskirche des Ostens seit 484 wegen dogmatischer Streitigkeiten unterbrochen war : Der Kaiser Anastasios war für den Papst daher nicht weniger ein Ketzer als der König Theoderich. Theoderich konnte unter diesen Umständen als das kleinere Übel erscheinen, weil er die Koexistenz zweier christlicher Kirchen akzeptierte, während der Kaiser sich verpflichtet glaubte, für die kirchliche Einheit aller Christen zu sorgen. Das dritte und größte Problem, das Theoderich lösen musste, wenn er eine stabile Herrschaftsordnung errichten wollte, bestand darin, dem mobilen Kriegerverband, dem er seinen Erfolg verdankte, eine Aufgabe und Stellung zuzuweisen, die seinen Fähigkeiten und Ansprüchen entsprach. Theoderich ist wohl mit etwa 100.000 Menschen nach Italien gekommen, also Männern, Frauen und Kindern. Von ihnen dürften etwa 20.000 bis 25.000 erwachsene Männer gewesen sein, die meisten von ihnen kampferprobte Krieger. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat betont, dass dieser Personenverband in ethnischer Hinsicht keineswegs so homogen war, wie die königliche Kanzlei vorgab. Für den König gab es nur Goten und Römer – die einen waren Krieger, die anderen Zivilisten. Die Realität war komplexer : Nicht alle, die dem Heer Theoderichs angehörten, waren ihrer Herkunft nach Goten, und nicht alle Goten auf dem Balkan waren Theoderich nach Italien gefolgt. Eine der Gruppen, die sich Theoderich auf dem Weg nach Italien angeschlossen hatten, – die Rugier – sonderte sich sogar soweit gegen die anderen ab, dass sie Mischehen nicht zuließ. Gleichwohl war die offizielle Sprachregelung auch kein Konstrukt ohne jeden Realitätsbezug, denn Theoderichs Gefolgsleute teilten mehrheitlich nicht bloß ihren kriegerischen Lebensstil und die Loyalität gegenüber dem König, sondern auch die gotische Sprache und die homöische Konfession. Größer als die ethnischen Differenzen waren wohl die sozialen Unterschiede. Der Kriegerverband Theoderichs war keine egalitäre Gemeinschaft und erst recht keine primitive Demokratie. Das kommt schon in der Bewaffnung und Kampfesweise sinnfällig zum Ausdruck: Zwar hatten die Goten schon im

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4. Jahrhundert gelernt, zu Pferde mit der Lanze zu kämpfen, und zur Zeit Theoderichs waren die Reiter überdies in der Regel gepanzert. Aber keineswegs alle Goten verfügten über die Mittel, um sich selbst auf diese kostspielige Weise auszurüsten. Viele kämpften zu Fuß mit Schwert oder Bogen. Andere waren darauf angewiesen, dass ihnen Pferd und Waffen zur Verfügung gestellt wurden. Denn natürlich gab es so etwas wie einen Adel, Männer, die selbst Gefolgsleute hinter sich scharten und sich keineswegs als bloße Befehlsempfänger des Königs betrachteten, auch wenn sie in der Überlieferung erst nach dem Tode des Königs deutlich hervortreten. Als Theoderich seine Schwester Amalafrida im Jahre 500 dem Vandalenkönig Thrasamund zur Frau gab, folgten ihr 1.000 Edle (dokimoi) und 5.000 kampffähige Männer (andres machimoi) als Dienstleute nach Karthago. Dieser Kriegerverband also hatte es Theoderich ermöglicht, sich zum Herrscher über den verbliebenen Rest des Westreichs aufzuschwingen. Etwa 20.000 bis 25.000 Männer mit ihren Familien. Die meisten hatten seit langem selten über längere Zeit an einem Ort gelebt, viele waren jahrelang mit Theoderich kreuz und quer über den Balkan gezogen. Sie hatten in dieser Zeit kaum jemals Ackerbau getrieben oder gar ein Handwerk ausgeübt. Ihr Metier war das Kämpfen; darauf verstanden sie sich. Als sie in Italien ankamen, bestand ihr persönlicher Reichtum in Dingen, die man am Leib trägt oder auf Wagen laden kann, in Kleidung und Bewaffnung, Gegenständen des täglichen Bedarfs, Schmuck und anderen Wertgegenständen; wer etwas galt, besaß auch Pferde, Vieh und Sklaven. Theoderich stand nun vor der Frage, wie er diesen mobilen Kriegerverband in das Reich integrieren konnte, das er in Italien für sich zu schaffen gedachte. Anders formuliert: Wie macht man aus einer Gewaltgemeinschaft eine staatstragende Einrichtung? Die Antwort, die Theoderich auf diese Frage gab, klingt verblüffend einfach: Man verwandelt sie in ein stehendes Heer. Aber ganz so einfach lagen die Dinge dann doch nicht. Die Krieger Theoderichs waren nicht bereit, sich für einen jährlich ausgezahlten Sold einem befristeten und kündbaren Dienstverhältnis zu unterstellen, wie es die Soldaten des Kaisers taten, die in dessen Auftrag mitunter über tausende von Kilometern versetzt wurden. Die Krieger Theoderichs forderten ein komfortables und krisensicheres Auskommen für sich und ihre Familien und zwar auf Lebenszeit. Die beste materielle Existenzsicherung aber war unter den Bedingungen der Zeit der Besitz von Land. Natürlich dachten Theoderichs Krieger nicht daran, ihre Schwerter zu Pflugscharen zu machen, und das wäre auch ganz und gar nicht im Sinne des Königs gewesen; sie wollten von Grundrenten leben, wie es römische Aristokraten seit eh und je taten. Theoderich hat ihnen diesen Wunsch erfüllt, obwohl dies Eingriffe in die bestehenden Besitzverhältnisse erforderlich machte, die sicher auch zu Lasten der italischen Eliten gingen. Die Senatoren haben diese Opfer akzeptiert, weil ihnen nichts anderes übrig blieb und weil sie es ver-

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schmerzen konnten: Es waren ja nur etwa 20.000 bis 25.000 Familien, die es mit Land auszustatten galt. Ihre Einbußen dürften sich auch deshalb in erträglichen Grenzen gehalten haben, weil Theoderich über das Land verfügen konnte, das sich bis dahin im Besitz Odoakars und seiner Vertrauten befunden hatte. Einige Senatoren haben vielleicht auch begriffen, dass die Kosten für die Finanzierung des Heeres damit mittelfristig gesenkt wurden, was sich positiv auf das Steuerniveau auswirken konnte, wenngleich natürlich nicht musste. Theoderich verwandelte also Krieger, deren Lebensunterhalt bisher hauptsächlich aus Beute und Subsidien bestritten worden war, in Empfänger von Grundrenten. Aber das allein reichte nicht aus, wenn diese Krieger künftig die Rolle eines stehenden Heeres spielen sollten. Theoderich musste auch Sorge dafür tragen, dass sie ihre militärischen Kompetenzen nicht durch Akkulturation an ihre pazifizierte Umwelt einbüßten. Der König dachte keineswegs daran, die Assimilation zwischen Goten und Römern im Sinne einer multikulturellen Gesellschaft zu fördern, wie man vor einigen Jahren argumentiert hat.5 Er wollte im Gegenteil eine soziale Scheidewand zwischen diesen beiden Gruppen aufrichten, weil er die Goten nur als Krieger in sein Herrschaftskonzept einbauen konnte. Integration durch Separation, wenn man so will. Die königliche Kanzlei verkündete unaufhörlich, dass die Goten ein kriegerisches Volk seien, das man nur zu rufen brauche, wenn ein Kampf bevorstehe. Diese Propaganda hat ihren Eindruck bei den zivilen Eliten Italiens nicht verfehlt. Ein katholischer Kleriker rühmt die Politik Theoderichs mit folgenden Worten: „Was für ein Mund wäre freilich vonnöten, lobend die Tatsache zu erwähnen, dass du in deiner Sorge um die Erhaltung unseres Friedens die Garanten gotischer Stärke behütest? Unter deiner Aufsicht lässt du die unbändige Jugend schon in der glücklichen Friedenszeit für den Krieg üben. Noch sind deine siegreichen Scharen im Vollbesitz ihrer Kräfte, und schon sind neue herangewachsen. Die Jugendlichen stählen ihre Muskeln im Training mit dem Wurfspieß und verrichten dieselben Aufgaben wie die tapferen Männer, während sie noch spielen. Gleichsam als Schauspiel wird vorgeführt, was in der Folgezeit als Erweis der Tapferkeit dienen könnte. Wenn die Jünglinge ihre geschmeidigen Speere noch mit Wurfriemen, wie es Knaben zu tun pflegen, schleudern, wenn sie die Bogen, die täglich Menschen den Tod bringen können, auf immer weitere Ziele richten, wird der ganze Bereich um die Stadtmauern bei einer nachgebildeten Schlacht zertrampelt.“6

5 Christoph Schäfer, Probleme einer multikulturellen Gesellschaft. Zur Integrationspolitik im Ostgotenreich, in: Klio 83, 2001, S. 182 – 197. 6 Ennodius, Panegyricus 83: Nam illud quo ore celebrandum est, quod Getici instrumenta roboris, dum provides ne interpellentur otia nostra, custodis et pubem indomitam sub oculis tuis inter bona tranquillitatis facis bella proludere? Adhuc manent in soliditate virium victricia agmina et alia iam creverunt. durantur lacerti missilibus et inplent actionem fortium, dum iocantur ; agitur vice spectaculi quod sequenti tempore poterit satis esse virtuti. dum ammentis

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Ob seine Goten tatsächlich stets so eifrig trainierten, musste der König freilich weitgehend lokaler Initiative überlassen. Behörden, welche die Erziehung heranwachsender Goten reglementiert und den Lebenswandel der Erwachsenen kontrolliert hätten, gab es nicht. Immerhin bestellte der König seine Goten einmal im Jahr an den Hof und konnte sich bei dieser Gelegenheit auch einen Eindruck von ihrer Dienstfähigkeit verschaffen. Zudem leistete ein Teil der Goten im Auftrag des Königs Garnisonsdienste; ihre Standorte waren häufig weit von ihren Siedlungsgebieten entfernt. Weiterhin stattete der König minder Begüterte mit Waffen und Pferden aus, wenn ihm dies geboten erschien. Theoderich kaufte in großem Stil Pferde für sein Heer und konnte zudem auf die staatlichen Waffenfabriken Italiens zurückgreifen. Zehn Jahre nach Theoderichs Tod befanden sich in Südwestgallien und in Venetien umfangreiche Waffenlager, die es König Witigis ermöglichten, ein ganzes Heer mit Waffen und Pferden auszurüsten. Die Rolle eines stehenden, nur gelegentlich in den Krieg geführten Heeres, die den Goten im Reich Theoderichs zufiel, hatte für den König freilich auch eine bedenkliche Seite, denn sie hatte zur Folge, dass seine Gefolgschaft, die vorher meist als geschlossener Verband in Nähe zum König umhergezogen war, nun zerstreut werden musste. Gotische Garnisonen gab es in ganz Italien einschließlich Siziliens, in der Provence, in der Westschweiz und in Dalmatien, wenngleich ihr Siedlungsschwerpunkt eindeutig in Norditalien lag. Dort befanden sich auch die königlichen Residenzen, in Ravenna, Verona und Pavia. Aber selbst in diesem Teil des Reiches waren die Entfernungen viel zu groß, als dass ein dauerhafter persönlicher Kontakt zwischen dem König und seinen Gefolgsleuten noch möglich gewesen wäre. Für Theoderich kam es unter diesen Bedingungen darauf an zu verhindern, dass sich lokale Machtkerne bildeten, die er nicht zu kontrollieren vermochte. Seine Möglichkeiten, direkt auf seine Gefolgsleute zuzugreifen, waren freilich begrenzt. Goten, die in Städten wohnten, unterstanden einem „Gotengrafen“, der für die Rechtsprechung zuständig war. Dieser comes Gothorum wurde vom König ernannt; aus welchen Kreisen er stammte und wie lange er im Amt blieb, wissen wir nicht. In Grenzprovinzen setzte Theoderich „Provinzgrafen“ (comites provinciarum) ein, die zivile und militärische Befugnisse vereinigten und für Goten und Römer gleichermaßen zuständig waren. Auch bei ihnen stehen wir vor dem Problem, dass die Quellen uns weder über die soziale Rekrutierung noch über die faktische Amtsführung aufklären. Zudem setzte der König eine Art von Kommissaren, die saiones, ein, die außerhalb der Ämterhierarchie standen und in seinem Namen überall eingreifen durften. Wenn Theoderich alle puerilibus hastilia lenta torquentur, dum arcus cottidianae capitum neces longius dirigunt, urbis omne pomerium simulacro congressionis adteritur.

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zum Kriegsdienst fähigen Goten einmal im Jahr an seinen Hof beorderte, so sollte das gewiss nicht allein die militärische Tüchtigkeit der Goten sichern, sondern diese zugleich auch an seine Person binden. Nicht umsonst wurde bei dieser Gelegenheit ein Geschenk von fünf Goldmünzen ausgezahlt. Größere Prämien waren für diejenigen ausgesetzt, die eines der oben genannten, besoldeten Ämter übernahmen und ihm deshalb in besonderer Weise verantwortlich waren. Schließlich hat Theoderich auch dadurch eine Art von Kontrolle ausgeübt, dass er an seinem Hof gotische Adlige um sich sammelte, die als „höhere Hausgenossen“ (maiores domus) einen Kreis von Beratern und Helfern des Königs bildeten, der neben dem traditionellen, mit Römern besetzten Kronrat (consistorium) bestand. Die Verwandlung eines mobilen Kriegerverbandes in ein stehendes Heer gelang während der Herrschaft Theoderichs erstaunlich gut. Natürlich war das Verhältnis zwischen gotischen Kriegern und römischen Zivilisten nicht spannungsfrei; die Einquartierung von Garnisonen war unbeliebt und der Durchzug von Soldaten gefürchtet. Aber das war im Imperium Romanum nicht anders. Obwohl es Ansätze zu einer Verschmelzung zwischen gotischem Adel und römischem Senatorenstand gab, blieb die militärische Schlagkraft der gotischen Krieger während Theoderichs Herrschaft ebenso unvermindert wie ihre Loyalität gegenüber dem König. Theoderich konnte stets auf sie zählen, wenn er sie zu den Feldzeichen rief, in den Jahren 504 (gegen die Gepiden), 508 (gegen Chlodwigs Franken), 511 und 513 (gegen Gesalech) und noch einmal 524 (gegen die Burgunder). Diese Loyalität ist auch deswegen keineswegs selbstverständlich, weil Theoderich nach dem Sieg über Odoakar nicht mehr selbst in den Krieg zog, sondern gotische Adlige mit dem Oberkommando betraute. Dass dies nicht ohne Risiken war, beweist die Tatsache, dass Theoderich im Jahre 500 den comes Odoin hinrichten ließ und später (514) den comes Petzia offenbar eigenhändig tötete. Aber zu so drastischen Maßnahmen musste der König offenbar nur selten greifen. Wenn es Theoderich über mehr als 30 Jahre hinweg gelang, die zentrifugalen Kräfte, die seiner Herrschaft über die Goten innewohnten, zu bändigen, so erklärt sich das zum Teil durch den Umfang der Ressourcen, die er an seine Anhänger verteilen konnte. So wissen wir zufällig, dass der bewährte Heerführer Tuluin von Theoderich mit Ländereien großzügig belohnt wurde. Wie wichtig die Redistribution von Ressourcen als Herrschaftsmittel war, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass Theoderich die Steuereinnahmen, die er ab 511 aus dem spanischen Gotenreich zog, unter den Goten Italiens und Spaniens verteilte. Aber er zehrte zweifellos auch von dem Prestige, das er aufgrund seiner einzigartigen Erfolge bei seinen Gefolgsleuten besaß: Theoderich hatte aus einer ebenso fluiden wie mobilen Kriegergruppe, die zeitweise vom Zerfall bedroht gewesen war, die militärische Stütze eines großen Reiches gemacht und dabei

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denjenigen, die sich ihm angeschlossen hatten, zu Wohlstand und Ansehen verholfen. Und die Serie seiner Erfolge war mit der Eroberung Italiens keineswegs beendet. Durch eine geschickte Kombination von militärischer Macht und diplomatischem Geschick gewann er vielmehr im Laufe seiner Regierung umfangreiche Gebiete hinzu, neben der prosperierenden Provence (508) vor allem Septimanien und Hispanien (511). Am Ende seines Lebens kontrollierte Theoderich ein Reich, das vom Atlantik im Westen bis zur Save im Osten reichte. Auch im Falle Theoderichs bewährt sich der Satz: Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg.

3.

Die Krise des Königtums nach dem Tode Theoderichs

Theoderich hat versucht, das Charisma, das er als erfolgreicher Herrscher besaß, durch die Propagierung dynastischer Legitimität auf seinen Nachfolger zu übertragen, doch dabei blieb ihm der Erfolg versagt. Eutharich, den er planvoll zum Thronfolger aufgebaut hatte, starb vor dem König. Als Theoderich das Ende nahe fühlte, rief er Goten und Römer zusammen und erklärte seinen Enkel Athalarich, ein zehnjähriges Kind, zum König; kurz darauf verschied Theoderich am 30. August 526. Das Königtum eines zur Regierung unfähigen Kindes war ein Novum in der Geschichte des Kriegerverbandes, den Theoderich angeführt hatte. Für den gotischen Adel stellte diese Nachfolgeregelung auch deswegen eine Provokation dar, weil sie mit der Regentschaft einer Frau verbunden war, denn für Athalarich sollte bis zum Erreichen der Mündigkeit dessen Mutter Amalaswintha regieren. Tatsächlich deutet manches darauf hin, dass der letzte Wille Theoderichs gegen erhebliche Widerstände vollzogen wurde. Unter der Vormundschaftsregierung der Amalaswintha trat der gotische Adel offen als oppositionelle Kraft hervor. Die Tochter Theoderichs wusste sich nicht anders zu helfen als durch die Beseitigung dreier führender Männer aus dem gotischen Adel und musste doch klein beigeben, als man von ihr verlangte, dass der Thronfolger nicht, wie seine Mutter es wünschte, nach römischem, sondern nach gotischem Brauch erzogen werde. Als Athalarich 534 starb, ohne jemals die Regierung angetreten zu haben, drohte Amalaswinthas Stellung vollends unhaltbar zu werden. Die Tochter Theoderichs trat die Flucht nach vorn an, indem sie sich selbst zur Königin ernannte und einen weitläufigen Verwandten namens Theodahat zum Mitkönig bestellte. Dieses einzigartige Experiment eines mannweiblichen Doppelkönigtums war nur von kurzer Dauer, denn Theodahat ließ seine Mitkönigin schon bald inhaftieren und schließlich töten. Dieses Verbrechen hat Theodahats Stellung jedoch keineswegs gestärkt. Im Gegenteil: Es lieferte Justinian einen Vorwand für die militärische Rückeroberung Italiens. Der Beginn der römischen Offensive Ende des Jahres 535 stürzte

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das gotische Königtum in eine akute Krise. Dass wir sie einigermaßen zu fassen vermögen, verdanken wir dem oströmischen Geschichtsschreiber Prokopios, einem gut informierten Zeitgenossen, der am gotisch-römischen Krieg bis 540 selbst teilgenommen hat. Als Theodahat den Vormarsch der kaiserlichen Truppen auf Rom nicht zu hindern vermochte, versammelte sich Ende 536 in Regata (bei Tarracina) ein gotischer Heerhaufen und rief einen Mann namens Witigis, der wegen seiner kriegerischen Tüchtigkeit hohes Ansehen genoss, an Stelle des regierenden Königs Theodahat zum König aus. Theodahat wurde kurz darauf im Auftrag des Witigis getötet. Witigis fand darauf unter den Goten Italiens allgemeine Anerkennung, enttäuschte aber die Erwartungen, die man in ihn gesetzt hatte. Der Versuch, Rom zurückzuerobern, musste im März 538 aufgegeben werden, als kaiserliche Truppen die gotischen Siedlungszentren in der Landschaft Picenum eroberten. Nach weiteren Misserfolgen nahm Witigis Verhandlungen mit Kaiser Justinian auf und signalisierte die Bereitschaft, auf ganz Italien südlich des Po zu verzichten, ja dem Kaiser in Zukunft sogar Tribut zu zahlen. Der gotische Adel indessen zögerte, sich dem fernen Kaiser zu unterwerfen, und drängte Witigis, das Königtum zugunsten des kaiserlichen Feldherrn Belisar niederzulegen. Nachdem Witigis zugestimmt hatte und Belisar zum Schein auf das Angebot eingegangen war, öffnete man im Mai 540 die Tore der befestigten Stadt Ravenna und ließ die kaiserlichen Truppen herein; Belisar nahm den Königsschatz in Besitz und schickte die Goten, deren Besitzungen südlich des Po lagen, nach Hause; Witigis aber und die gotischen Adligen nahm er gefangen. Prokopios, der sich damals bei den Truppen Belisars befand, schildert die Ereignisse folgendermaßen: „Ich selbst war damals Augenzeuge des Einzugs des römischen Heeres in die Stadt. Dabei kam mir der Gedanke, daß weder menschliche Klugheit noch sonst ein anderer Vorzug die Entscheidungen herbeiführt, sondern eine überirdische Macht, die jeweils den Sinn der Menschen dorthin wendet und leitet, wo dem Geschehen kein Widerstand begegnen kann. Denn die Goten übertrafen ihre Gegner bei weitem an Zahl und Stärke, hatten überdies, seitdem sie in Ravenna lagen, keine Schlacht geschlagen und waren auch sonst nicht in ihrem Selbstvertrauen erschüttert. Trotzdem waren sie von ihren schwächeren Gegnern gefangengenommen worden und sahen in ihrer Unterwerfung nicht einmal etwas Ehrenrühriges. Die gotischen Frauen jedoch, denen ihre Männer die Feinde als großgewachsen und zahlenmäßig überlegen dargestellt hatten, spieen insgesamt diesen ins Gesicht, wie sie alle vor ihren Augen in der Stadt herumhockten, und schimpften sie als Feiglinge, indem sie mit den Händen auf den Sieger zeigten.“7

Die Goten mussten freilich bald erkennen, dass Belisar keineswegs bereit war, gegen den Willen des Kaisers in Italien zu herrschen, denn der Feldherr traf Anstalten, Ravenna zu verlassen, um Witigis und seine Königin, den Königs7 Prokopios, Gotenkriege 2, 29, 32 – 34 (Übersetzung von Otto Veh).

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schatz und die in Ravenna befindlichen gotischen Adligen nach Konstantinopel zu überführen. Die Aussicht, ein ähnliches Schicksal zu erleiden, war nach dem Urteil des Prokopios der Hauptgrund, weshalb viele Goten in Norditalien die Kapitulation vor Belisar schnell bereuten. Gotische Adlige, die jenseits des Po zurückgeblieben waren, taten sich zusammen, begaben sich nach Pavia und boten dort dem Neffen des Witigis, einem Mann namens Uraias, die Königswürde an. Dieser lehnte ab und schlug vor, stattdessen Hildebad zum König zu erheben, der ein Neffe des Theudis, des Königs des Gotenreichs in Spanien, war. Hildebad nahm an, doch unter der Bedingung, dass man sich vorher noch einmal bei Belisar erkundigen solle, ob er tatsächlich entschlossen sei, die gotische Königswürde auszuschlagen. Erst nachdem Belisar dies noch einmal bekräftigt hatte, nahm jener die Wahl zum König an. Man versteht sein Zögern besser, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich ihm anfangs nicht mehr als 1.000 gotische Krieger zur Verfügung stellten. Hildebad gewann aber rasch neue Anhänger hinzu und kontrollierte bald ganz Italien nördlich des Po. Genützt hat es ihm wenig, denn er fiel schon nach wenigen Monaten einem Anschlag zum Opfer ; die Verwandten des Uraias rächten sich auf diese Weise dafür, dass Hildebad den Mann, dem er die Herrschaft verdankte, bald nach Regierungsantritt hatte töten lassen. Damit fehlte den Goten Norditaliens erneut eine politische und militärische Führung. Der gotische Kriegerverband, der einst mit Theoderich nach Italien gekommen war, stand in dieser Situation vor einer Zerreißprobe. Am schnellsten handelten die Rugier, jene bereits erwähnte Ethnie, die sich trotz der Zugehörigkeit zu den Goten Italiens ihre eigene Identität bewahren wollte. Die Rugier riefen nun einen der Ihren, einen gewissen Erarich, zum König aus. Unter den anderen Goten freilich regte sich schon bald Widerstand gegen diesen. Gotische Adlige einigten sich zu Beginn des Jahres 542 darauf, Totila, einem Neffen des Hildebad, die Königswürde anzubieten. Der nahm unter der Bedingung an, dass man Erarich vorher umbringe. Das war schnell getan, und die Goten Norditaliens hatten den vierten König innerhalb von knapp zwei Jahren. Die historische Lehre aus diesen verwirrenden Ereignisfolgen ist leicht zu ziehen: Das Königtum als Institution wurde auch nach dem Tode Theoderichs akzeptiert, aber der König sah sich einem starken Adel gegenüber, dessen Loyalität keineswegs unbedingt war ; Herrscher, die versagten, wurden abgesetzt oder beseitigt; andere aus persönlichen Motiven ermordet. Auffallend ist bei alledem die geringe Bedeutung, welche die Zugehörigkeit zur gens Gothica für politische Optionen hatte. Das kann man am besten an den Herrschern und ihren Familien zeigen. Als Amalaswintha befürchtete, der Opposition gotischer Adliger nicht mehr standhalten zu können, ließ sie beim Kaiser anfragen, ob er bereit sei, sie in Konstantinopel aufzunehmen. Ihr späterer Mitregent Theodahat hatte sich schon vor seiner Thronbesteigung mit dem

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Gedanken getragen, Justinian die Landschaft Tuszien zu überlassen, wenn er dafür eine angemessene Abfindung und den Rang eines Senators in Konstantinopel erhielte. Nachdem er Amalaswintha hatte beseitigen lassen, bot er dem Kaiser kurz nach Ausbruch des gotisch-römischen Krieges in Geheimverhandlungen an, auf das Königtum zu verzichten, wenn er dafür Ländereien erhalte, die ihm mindestens 1.200 Pfund Gold jährlich einbrächten. Theodahats Schwiegersohn Evermud (Ebrimus) lief bei Kriegsbeginn mit seiner Gefolgschaft zu den Kaiserlichen über ; er wurde darauf am Kaiserhof in allen Ehren empfangen und durch die Verleihung des Titels patricius in die höchste Rangklasse des Imperium Romanum erhoben. Witigis, der abgesetzte König, beschloss seine Tage als hochrangiger Senator im Imperium Romanum. Der kurzlebige Erarich bot Justinian kurz vor seiner Ermordung an, die Königswürde niederzulegen, wenn er eine hohe Geldsumme und die Würde eines patricius erhalte. Totila schließlich, der strahlende Held Felix Dahns, der vor der Erhebung zum König Kommandant der Stadt Treviso war, hatte dem kaiserlichen Feldherrn Constantianus bereits zugesagt, er werde sich, seine Goten und die Stadt ausliefern, wenn man ihm nur Schonung gewähre; kurz danach erreichte ihn die Aufforderung, er solle sich an die Spitze der Goten stellen. Die Bereitschaft, auf die Seite des Kaisers überzugehen, war aber keineswegs auf den Adel beschränkt, denn während des Krieges, vor allem in seiner Anfangsphase, gingen immer wieder ganze Truppenteile zu den Kaiserlichen über, wo man sie gerne aufnahm. Deutsch-nationale Historiker haben hier einen Mangel an Patriotismus beklagt; so schrieb etwa Heinrich von Sybel: „Von der moralischen Kraft volksthümlicher Zusammengehörigkeit ist bei Theoderich’s Schaaren noch weniger als bei Odoachar’s Truppen zu spüren; weder der Eine noch der Andere vermag ein innerlich gesundes und dauerndes Staatswesen zu gründen. Die Ostgothen sind ebenso wie ihre Vorgänger ein aus mannichfaltigen Völkertrümmern militärisch zusammengesetztes Conglomerat; so wenig wie jene kennen sie das Bewußtsein, die Fortsetzer eines altnationalen Staates zu sein.“8

Für unsere Zwecke genügt die Feststellung, dass der innere Zusammenhalt des gotischen Kriegerverbandes nach dem Tode Theoderichs durch adlige Machtansprüche bedroht und seine militärische Handlungsfähigkeit durch schwache Herrscher beeinträchtigt war. Diese Feststellung macht es leichter zu verstehen, weshalb die Gegenwehr der Goten gegen die kaiserliche Offensive bis zur Wahl des Totila so schwach war. Hinzu kommt ein weiterer Umstand: Die Goten rechneten lange Zeit nicht mit der Möglichkeit, dass der Kaiser versuchen würde, ihnen alle Privilegien, die sie während der Herrschaft gotischer Könige in Italien genossen hatten, wieder zu entziehen, wodurch sie gewöhnliche Soldaten 8 Heinrich von Sybel, Entstehung des deutschen Königthums, 2. Aufl., Berlin 1881, S. 294.

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geworden wären. Als ihnen jedoch die Gefahr einer Deportation in den Orient bewusst wurde, begannen sie entschiedenen Widerstand zu leisten und zeigten, dass sie sich gegen die Elitesoldaten des Kaisers durchaus zu wehren wussten.

4.

Der Zerfall einer Gewaltgemeinschaft: Die Goten unter Totila und Teja

Mit der Erhebung Totilas zum König begann 542 die zweite Phase des gotischrömischen Krieges, in der sich das Heer gotischer Könige allmählich wieder in eine Gewaltgemeinschaft verwandelte, deren materielle Existenz zunehmend durch Requisitionen und Beute gesichert wurde. Anfangs waren es wohl kaum mehr als 5.000 Krieger, die Totila Gefolgschaft leisteten. Als dem jungen und tatkräftigen König jedoch rasch Erfolge gelangen, schlossen sich ihm mehr Krieger an. Nach wenigen Jahren hatte er große Teile Italiens einschließlich Roms zurückerobert, und sein Heer war kaum kleiner, als das des Theoderich gewesen war – etwa 20.000 Männer unter Waffen. Dieses Heer aber bestand noch immer überwiegend aus Goten, die sich den in aller Welt rekrutierten Elitesoldaten des Kaisers als ebenbürtig, in manchen Situationen sogar als überlegen erwiesen. Freilich waren es nicht allein die kriegerische Tüchtigkeit der Goten oder die Führungsstärke Totilas, die es möglich machten, dass die kaiserlichen Truppen erst ein gutes Jahrzehnt später, im Jahre 552, entscheidende Erfolge auf dem Schlachtfeld erzielen konnten. Justinian hatte im Glauben, dass Italien für ihn bereits zurückgewonnen sei, die Zahlungen an sein italisches Heer stark reduziert, weil er im Osten mit den Persern alle Hände voll zu tun hatte; hinzu kamen die Auswirkungen der großen Pest. Das Ausbleiben der Soldzahlungen ließ die Kampfmoral der kaiserlichen Soldaten schnell in die Tiefe sinken; dazu kamen dauernde Querelen unter den Befehlshabern, die sich nicht auf einen gemeinsamen Kriegsplan einigen konnten. Dennoch beweist der langanhaltende, zähe Widerstand der Goten gegen die römische Reconquista, dass sie das Kämpfen auch unter Theoderichs unkriegerischen Nachfolgern nicht verlernt hatten. Freilich kämpften sie in den 540er Jahren unter erschwerten Bedingungen, weil Totila bald nicht mehr auf einen funktionierenden Apparat zur Erhebung von Steuern und Abgaben zurückgreifen konnte. Totilas Goten folgten ihrem König auf seinen Kriegszügen quer durch Italien und lebten von dem, was sie vor Ort vorfanden und sich gewaltsam aneigneten. So wurde aus einem stehenden Heer wieder eine mobile Kriegergruppe, die ihre Umwelt wie Feindesland behandelte. Die Endphase des gotisch-römischen Krieges hält aber noch eine andere Einsicht bereit: Sie bestätigt die Annahme, dass die Stabilität dieser Gewaltge-

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meinschaft wesentlich vom Erfolg und seinen Prämien abhängig war : Totila hielt sich länger als alle anderen Könige seit Theoderich und verfügte über nicht weniger Gefolgsleute als dieser. Er fiel im Sommer 552 in der Schlacht bei Tadinae (in den Apenninen). Mit ihm sollen etwa 6.000 Goten den Tod gefunden, viele gefangen genommen worden sein. Freilich war auch damit der Widerstandswille auf gotischer Seite noch nicht endgültig gebrochen, denn die gotische Besatzung von Pavia rief anschließend einen Mann namens Teja zum König aus. Teja sammelte in kurzer Zeit noch einmal ein Heer, verlor jedoch nur wenige Monate später am Mons Lactarius (Milchberg) bei Neapel gegen den kaiserlichen Feldherrn Narses Schlacht und Leben. Die überlebenden Goten vereinbarten mit Narses, dass sie auf ihre Güter zurückkehren durften, um dort als Untertanen des Kaisers friedlich zu leben. Diese Übereinkunft hielt freilich nicht lange: Als im folgenden Frühjahr ein alemannisch-fränkisches Heer, angelockt durch die Aussicht auf Beute, die Alpen überquerte, sagten sich die Goten Norditaliens vom Kaiser wieder los und schlossen sich der Führung des Butilin und Leuthari an. Der Kriegerverband zog plündernd bis zur Südküste Italiens und spaltete sich auf dem Rückweg; der eine Teil wurde durch Seuchen dezimiert, der andere stellte sich Narses bei Capua zur Schlacht und wurde vollständig besiegt (554). Im Jahr darauf ergab sich ein Teil der Goten, der an diesem Plünderungszug teilgenommen hatte, Narses und trat anschließend in kaiserliche Dienste. Die Frage drängt sich auf, weshalb die Goten Justinian am Ende unterlagen. Prokopios attestiert den Goten gravierende Defizite im Bereich militärischer Ausrüstung und Taktik. Seiner Auffassung zufolge waren sie den kaiserlichen Truppen in allen entscheidenden Belangen – in der offenen Feldschlacht, im Belagerungskampf und im Seekrieg – aufgrund mangelnden Know-hows unterlegen. Der von ihm geschilderte Verlauf des Krieges bestätigt dieses Urteil jedoch nur zum Teil, denn Feldschlachten waren in diesem Krieg eine große Ausnahme. Auch wurden Städte damals nur selten erstürmt, viel öfter ausgehungert oder durch List oder Verrat eingenommen. Das Fehlen einer schlagkräftigen Flotte war dagegen in der Tat ein gravierendes Manko. Dass die Goten bis weit in die 540er Jahre hinein nicht über nennenswerte Seestreitkräfte verfügten, war einer der Gründe, weshalb sie es lange Zeit nicht vermochten, den Krieg in Feindesland zu tragen; erst Ende der 540er Jahre griffen ihre Operationen über die italische Halbinsel hinaus nach Dalmatien, Sizilien, Sardinien und Korsika, einmal sogar nach Korfu und Epirus. Vor allem aber hatte die Unterlegenheit zur See auch Auswirkungen auf die Kriegführung in Italien selbst, weil die Goten für den Transport von Menschen und Gütern auf den Landweg angewiesen waren. Die Truppen des Kaisers dagegen konnten mit Hilfe der Flotte verhältnismäßig rasch über große Entfernungen verlegt und in Küs-

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tenstädten zumindest zeitweise auch versorgt werden, wenn sie von der Landseite her eingeschlossen wurden. Die tieferen Ursachen für die gotische Niederlage sind indessen in dem Umstand zu finden, dass der Kaiser über ungleich größere Ressourcen verfügen konnte, weil das Steueraufkommen Italiens zu jeder Zeit um ein Vielfaches geringer gewesen sein dürfte als dasjenige des Imperium Romanum mit den reichen Provinzen Ägyptens, Syriens und Kleinasiens. Gewiss hat Justinian zwischen 540 und 550 nur einen geringen Teil seiner Ressourcen in den Gotenkrieg investieren können, weil der Perserkrieg eine Konzentration der Kräfte an der Ostgrenze des Reiches erzwang. Sobald er jedoch im Osten wieder freie Hand bekam, erhielt der westliche Kriegsschauplatz wieder die erste Priorität. Die Goten konnten zu keiner Zeit mehr als etwa 30.000 Mann mobilisieren. Da die Anwerbung von Truppen außerhalb des eigenen Herrschaftsgebietes aus Geldmangel unmöglich, die Rekrutierung der im Waffengebrauch ungeübten Bevölkerung aber militärisch sinnlos war – und zwar für beide Seiten –, blieb das Heer der gotischen Könige trotz zahlreicher Überläufer mit der gens Gothica im Wesentlichen identisch. Diese Streitkräfte reichten niemals aus, um den kaiserlichen Truppen entscheidende Schläge zu versetzen, zumal die Goten im Nordwesten von den Franken bedrängt wurden: Totila hat die fränkische Okkupation Venetiens anerkannt, weil er zu schwach war, sie zu verhindern oder gar rückgängig zu machen. Schließlich musste sich auch die Tatsache, dass der Krieg fast ausschließlich in Italien geführt wurde, zum Nachteil der Goten auswirken, weil das Land durch die Kriegshandlungen verwüstet wurde und eine geregelte Steuererhebung daher wohl in vielen Provinzen kaum noch möglich war. Die Einnahmen Totilas dürften daher im Laufe der Jahre erheblich zurückgegangen sein. Die Enteignung der Senatoren hat diesen Einnahmenausfall schwerlich kompensieren können, zumal es schließlich gar keinen Apparat mehr gab, der diesen riesigen Besitz hätte verwalten und dadurch für den König nutzbar machen können; im Übrigen bedeutete diese Maßnahme den Bankrott aller Versuche, die einheimischen Eliten an den gotischen König zu binden. Eine Raubwirtschaft, wie sie von Totilas Goten praktiziert wurde, zerstört die Grundlagen, von denen ein politischer Verband zehrt, desto gründlicher, je länger sie andauert. Am Ende des römisch-gotischen Krieges waren weite Teile des Landes verödet, viele Städte verwüstet, Metropolen wie Mailand und Rom auf einen Bruchteil ihrer früheren Größe geschrumpft. Der mobile Kriegerverband, der einst mit Theoderich nach Italien gekommen war, hatte sich aufgelöst. Die Zahl der gefallenen Goten dürfte am Ende 10.000 überstiegen haben. Wohl kaum weniger traten während des Krieges in den Dienst des Kaisers und wurden darauf in den Osten des Reiches verlegt. Nach Beendigung des Krieges sollen im Jahre 555 noch einmal 7.000 gefangene Goten nach Konstantinopel verbracht

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worden sein. Der Rest blieb in Italien und kehrte auf seine Güter zurück. Ihre Spuren verlieren sich im Hochmittelalter.

5.

Zusammenfassung

Theoderich übernahm im Jahre 474 von seinem Vater Thiudimir einen mobilen Kriegerverband. Dieser Kriegerverband war eine Gewaltgemeinschaft im strengen Sinne. Sein Kern bestand aus kampfgeübten und kampfbereiten Männern, sein innerer Zusammenhalt und sein wirtschaftliches Auskommen wurden durch permanente Gewaltausübung gewährleistet; Beute und erpresste Zahlungen waren die wichtigsten Einnahmequellen. Die Größe und Zusammensetzung dieser Gewaltgemeinschaft war in dieser Phase starken Schwankungen unterworfen, weil ihre Macht nicht ausreichte, um eine dauerhafte Anerkennung und ökonomische Absicherung durch den Kaiser zu erreichen. Ihre wirtschaftliche Existenz blieb daher stets prekär. Der Kaiser zahlte nur unregelmäßig Subsidien; Beute, Schutz- und Lösegelder brachten kurzzeitig hohe Einnahmen, hielten aber nie lange vor. Erst der Auftrag, den Tyrannen Odoakar zu stürzen, verschaffte Theoderich die Möglichkeit, die Ansprüche seiner Gefolgsleute dauerhaft zu befriedigen und zugleich sich selbst aus der Abhängigkeit vom übermächtigen Kaiser zu befreien. In Italien gelang Theoderich die Umwandlung eines mobilen Kriegerverbandes in ein stehendes Heer. Seine Goten wurden durch Landbesitz wirtschaftlich abgesichert, blieben aber Krieger, deren Sozialisation und Ethos durch die Fähigkeit zur wirksamen Gewaltanwendung bestimmt wurde. Nach dem Willen Theoderichs, der sein Königtum als eine Herrschaft über zwei Völker deklarierte, sollte die Assimilation der gotischen Krieger an ihre weitgehend kriegsuntüchtige Umwelt verhindert und nicht etwa gefördert werden: Integration durch Separation. Diese Politik ermöglichte Theoderich den Kompromiss mit den einheimischen, in hohem Maße demilitarisierten Eliten, namentlich dem Senatorenstand, dessen Privilegien er konservierte. Dank ihrer keineswegs uneigennützigen Mithilfe verfügte er über die wohl effektivste Maschinerie zur Aneignung und Verteilung von Ressourcen, die Europa vor dem 17. Jahrhundert gekannt hat: die spätrömische Steuerverwaltung, die ihn zum reichsten Herrscher barbarischer Herkunft machte. Die Umwandlung des gotischen Kriegerverbandes in ein stehendes Heer eröffnete freilich ein weites Feld für die Entstehung rivalisierender Gefolgschaften und Machtansprüche. Wie es scheint, hat Theoderich diese zentrifugalen Kräfte jedoch bis zu seinem Lebensende zu bändigen vermocht, wofür neben seinem Reichtum vor allem sein alles überragender Erfolg verantwortlich sein dürfte. Theoderich versuchte vergeblich, das Charisma, das er aufgrund seines Er-

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folgs besaß, auf seine Nachfolger zu übertragen. Nach seinem Tode gewann der gotische Adel zeitweilig die Oberhand über das Königtum: Unter dem Druck der römischen Invasion wurden in den Jahren 535 bis 541 nicht weniger als vier Könige abgesetzt oder beseitigt. Als sich unter König Totila erneut militärische Erfolge einstellten, stabilisierte sich auch das Königtum wieder. In der ersten Phase des Krieges vermochten die Goten den Truppen des Kaisers keinen entschiedenen Widerstand zu leisten; viele waren bereit, den Frieden durch die Abtretung Italiens südlich des Po zu erkaufen. Als sich jedoch abzeichnete, dass ihnen dasselbe Schicksal drohte, das fünf Jahre zuvor die Vandalen getroffen hatte – ohne ihre Familien in den Orient deportiert zu werden –, besannen sie sich auf ihre alte Tugenden, wählten mit Totila einen fähigen Anführer zum König und leisteten den kaiserlichen Truppen für mehr als ein Jahrzehnt erbitterten Widerstand. Auf die Dauer jedoch war es unmöglich, die strukturelle Unterlegenheit im Bereich der Ressourcen gegenüber dem Imperium Romanum zu kompensieren. Das stehende Heer Theoderichs verwandelte sich unter Totila zurück in einen mobilen Kriegerverband, der für seine Versorgung zunehmend auf Requisitionen angewiesen war ; die eigene Bevölkerung wurde behandelt, als befinde man sich in Feindesland. Diese Raubwirtschaft bedeutete das Ende der Kooperation mit den einheimischen Eliten und war auf die Dauer auch ökonomisch dysfunktional. Als die gotischen Krieger erkennen mussten, dass der Krieg gegen den Kaiser nicht zu gewinnen war, trat ein Teil von ihnen in den Dienst des Kaisers, ein anderer zog sich auf seine Güter zurück.

Anhang: Hinweise zu Literatur und Quellen Da dieser Aufsatz in einem Band erscheint, der epochenübergreifend angelegt ist, wird es dem einen oder anderen Leser vielleicht willkommen sein, wenn er in aller Kürze über die moderne Literatur und die antiken Quellen zur Geschichte Theoderichs und seiner Goten orientiert wird. Felix Dahns Roman „Ein Kampf um Rom“ (1876) findet noch immer seine Leser (empfehlenswert ist die dtvAusgabe mit einem Nachwort von Hans-Rüdiger Schwab, München 2003), nur wenige aber wissen noch, dass Dahn im Hauptberuf Professor der Rechte (zunächst in Würzburg, dann seit 1872 in Königsberg, seit 1888 schließlich in Breslau) war und unter dem Titel „Die Könige der Germanen“ eine elfbändige Strukturgeschichte der Völkerwanderungsreiche (Würzburg/Leipzig 1861 – 1911) veröffentlichte. Während Dahns magnum opus heute nur noch wissenschaftsgeschichtliches Interesse beanspruchen kann, ist das zweibändige Handbuch des Dresdner Bibliothekars Ludwig Schmidt „Geschichte der deutschen Stämme bis zum Ausgange der Völkerwanderungszeit“ trotz vieler zeitbedingter Urteile wegen der umfassenden und sorgfältigen Verarbeitung der

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Schriftquellen noch immer unentbehrlich. Die erste Auflage erschien noch im Kaiserreich, die zweite im „Dritten Reich“ (ND München 1970 [1934 – 1941]). Schmidt dachte deutsch-national, hielt aber als Positivist bewusst und deutlich Distanz zur Germanenideologie nationalsozialistischer Prägung. Den Bruch mit dem Stammesbegriff des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vollzog der deutsche Mediävist Reinhard Wenskus in seinem bahnbrechenden und bis heute grundlegenden Buch: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln/Graz 1961, 19772. Wenskus verhalf der Erkenntnis Max Webers zu allgemeiner Anerkennung, dass das konstituierende Merkmal ethnischer Identität in Antike und Mittelalter nicht tatsächliche biologische Verwandtschaft, sondern der subjektive Glaube an eine solche ist. Die gentes der Völkerwanderungszeit waren heterogene und instabile, häufig ephemere Gebilde, die durch den Zusammenschluss verschiedener Gruppen unter gemeinsamen Anführern entstanden und in der Regel auch schnell wieder zerfielen. Diese Einsichten bilden seitdem den Ausgangspunkt jeder seriösen Beschäftigung mit den Germanen. Einen vorzüglichen Überblick über die neuere Forschung vermittelt ein Band des Wiener Mediävisten Walter Pohl: Die Germanen (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, 57), 2. Aufl., München 2004. Pohl hat auch einen ausgezeichneten Leitfaden zur Geschichte der Völkerwanderungsreiche verfasst: Walter Pohl, Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration, Stuttgart 2002, 20052. Wenig später legte der heute am King’s College London lehrende Mediävist Peter J. Heather eine brillante Darstellung des Untergangs des weströmischen Reiches vor: The Fall of the Roman Empire. A New History of Rome and the Barbarians, Oxford 2005; das Buch ist auch in deutscher Übersetzung erschienen (Stuttgart 2007). Die neueste Gesamtdarstellung stammt aus der Feder des Düsseldorfer Althistorikers Bruno Bleckmann und fokussiert ebenfalls die römisch-germanische Auseinandersetzung: Die Germanen. Von Ariovist bis zu den Wikingern, München 2009. Das wichtigste Buch zur Geschichte der Goten in deutscher Sprache hat der Wiener Mediävist Herwig Wolfram geschrieben: Geschichte der Goten, München 1979, 20095. Es ist in mehrere Sprachen übersetzt worden und liegt auch in einer Kurzfassung für die Reihe „Beck-Wissen“ vor: Die Goten und ihre Geschichte, München 2001, 20103. Eine Neuinterpretation legte 1996 Peter J. Heather vor: The Goths, Oxford 1996. Seiner Interpretation verdankt der vorliegende Versuch wichtige Anregungen. Die im deutschen Sprachraum maßgebliche Biographie wurde kurz nach dem Zweiten Weltkrieg von dem Althistoriker Wilhelm Ensslin veröffentlicht: Theoderich der Grosse, München 1947, 19592. Sie stellte der nationalsozialistischen Vereinnahmung Theoderichs und der Goten, wie sie etwa bei Gerhard Vetter, Die Goten und Theoderich (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte, 15), Stuttgart 1938 Ausdruck gefunden hatte, ein Bild gegenüber, in welchem Theoderich als ein germanischer

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Herrscher erscheint, „der, vom Geiste Roms berührt, germanische Volkskraft und sich selbst für alte Römerwelt eingesetzt“ (S. 353 bzw. 344) habe. Ensslins Buch ist heute konzeptionell veraltet und auch in vielen Einzelheiten überholt. 45 Jahre später legte der australische Mediävist John Moorhead unter dem Titel „Theoderich in Italy“ (Oxford 1992) eine neue Gesamtdarstellung vor, die freilich eine interpretatorische Grundlinie vermissen lässt. Im selben Jahr fand anlässlich des 1500-jährigen Jubiläums der Eroberung Italiens eine internationale Tagung über Theoderich und die Goten in Italien statt, deren Beiträge anschließend in zwei Bänden veröffentlicht wurden: Teoderico il Grande e i Goti d’Italia. Atti del XIII Congresso internazionale di studi sull’Alto Medioevo, Milano 2 – 6 novembre 1992, 2 Bde., Spoleto 1993. Eine moderne Biographie Theoderichs ist ein Desiderat der Forschung. An dieser Tatsache hat auch die knappe und forschungsferne Darstellung von Frank M. Ausbüttel, Theoderich der Große, Darmstadt 2003 nichts geändert. Unter den Schriftquellen ist an erster Stelle Cassiodor zu nennen, der als Inhaber hoher Hofämter damit befasst war, Schreiben im Namen Theoderichs und seiner Nachfolger zu verfassen, und ab 533 für einige Jahre die Leitung der zivilen Verwaltung Italiens innehatte. Die von ihm selbst veranstaltete Sammlung dieser amtlichen Schreiben umfasst 12 Bücher und trägt den Titel „Variae“. Die maßgebliche Ausgabe stammt von Theodor Mommsen: Cassiodorus Senator, Variae (Monumenta Germaniae Historica. Auctores antiquissimi, 12), Berlin 1894. Mommsens Ausgabe enthält auch Aktenstücke zum Laurentianischen Schisma sowie Fragmente von Reden, die Cassiodor auf gotische Könige gehalten hat (ediert von Ludwig Traube), und außerdem ausführliche Indizes. Das Fehlen dieser Bestandteile ist einer der Gründe, weshalb sich die neuere Ausgabe im „Corpus Christianorum“ nicht durchgesetzt hat: Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator, Opera, Vol. 1: Variarum libri XII cura et studio æke J. Fridh, De anima cura et studio James W. Halporn (Corpus Christianorum. Series Latina, 96), Turnhout 1973. Eine Gesamtübersetzung der „Variae“ ist ein dringendes Desiderat der Forschung. Eine kleine Auswahl hat Sam J. B. Barnish ins Englische übersetzt und kenntnisreich erläutert: The Variae of Magnus Aurelius Cassiodorus Senator chosen to illustrate the life of the author and the history of his family. Translated with notes and introduction (Translated Texts for Historians, 12), ND Liverpool 2006 [1992]. Weniger hilfreich ist das Büchlein: Briefe des Ostgotenkönigs Theoderich der Große und seiner Nachfolger. Aus den „Variae“ des Cassiodor. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Peter Dinzelbacher, Heidelberg 2010. Die „Gotengeschichte“ (Getica) des Jordanes fußt wahrscheinlich auf der verlorenen „Gotengeschichte“ Cassiodors. Da Cassiodor im Auftrag Theoderichs zu schreiben begann und sein Werk unter dessen Nachfolger Athalarich vollendete, gewährt die Bearbeitung seines Werks durch Jordanes einen ein-

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zigartigen Einblick in die Selbstdarstellung der Amalerdynastie. Der lateinische Text liegt in zwei modernen Editionen vor, die nach unterschiedlichen Prinzipien gestaltet wurden (dazu Walter Goffart, in: Gnomon 67, 1995, S. 227 – 229). Die eine stammt erneut von Theodor Mommsen und enthält neben der „Gotengeschichte“ auch die „Römische Geschichte“ (Romana) des Jordanes: Iordanes, Romana et Getica (Monumenta Germaniae Historica. Auctores antiquissimi, 5, 1), Berlin 1882. Dagegen bietet die Ausgabe von Francesco Giunta und Antonio Grillone allein die Getica: Iordanes, De origine actibusque Getarum (Fonti per la storia d’Italia, 117), Rom 1991. Es gibt eine alte, oftmals nachgedruckte Übersetzung ins Deutsche, die jedoch mit Vorsicht zu Rate gezogen werden sollte: Jordanes, Gotengeschichte nebst Auszügen aus seiner Römischen Geschichte. Übersetzt von Wilhelm Martens (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, 5), 3. Aufl., Leipzig 1913. Zuverlässiger und informativer ist die Übersetzung von Charles Christopher Mierow: The Gothic History of Jordanes in English Version with an Introduction and Commentary, ND Cambridge 1960 [Princeton, NJ 1915]. Ein moderner Kommentar fehlt. Unter den zahlreichen Werken des katholischen Klerikers Ennodius – Gesamtausgabe von Friedrich Vogel: Magnus Felix Ennodius, Opera (Monumenta Germaniae Historica. Auctores antiquissimi, 7), Berlin 1885 – ist die „Festrede“ (Panegyricus) auf Theoderich als Quelle das wichtigste. Dieser Text wurde von Christian Rohr mit deutscher Übersetzung, ausführlicher Einleitung und knappem Kommentar einzeln herausgegeben: Der Theoderich-Panegyricus des Ennodius (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte, 12), Hannover 1995. Die Ausgabe von Simona Rota bietet demgegenüber einen erheblich ausführlicheren Kommentar : Magno Felice Ennodio, Panegirico del clementissimo re Teoderico (opusc. 1) (Biblioteca di cultura romanobarbarica, 6), Rom 2002. Wichtig für die Geschichte Theoderichs ist weiterhin die Lebensbeschreibung des Bischofs Epiphanius von Pavia, die von Maria Cesa mit Übersetzung und Kommentar ediert worden ist: Ennodio, Vita del beatissimo Epifanio vescovo della Chiesa pavese (Biblioteca di Athenaeum, 6), Como 1988. Wer eine deutsche Übersetzung sucht, muss noch immer zu Michael Fertig, Magnus Felix Ennodius und seine Zeit, 2. Abtheilung, Landshut 1860 greifen. Das in Deutschland sehr seltene Buch Oeuvres complÀtes de Saint Ennodius, Bd. 1: Lettres. Texte latin et traduction franÅaise par Stanislas L¦glise, Paris 1906 enthält eine Übersetzung aller Briefe ins Französische. Die neue Bud¦-Ausgabe von St¦phane Gioanni bietet eine äußerst informative Einleitung und eingehende Kommentare, ist bislang aber nicht über die ersten vier (von neun) Büchern hinausgekommen: Ennode de Pavie, Lettres. Texte ¦tabli, traduit et comment¦, 2 Bde., Paris 2006 – 2010. Viele Informationen, vor allem zur Ereignisgeschichte, verdanken wir Chroniken, die zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert n. Chr. teils im Imperium

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Romanum, teils außerhalb verfasst wurden. Es war noch einmal der alte Mommsen, der sich die Mühe machte, sie in drei Bänden herauszugeben, und seine Ausgabe ist bis heute maßgeblich geblieben: Chronica minora saec. IV, V, VI, VII (Monumenta Germaniae Historica. Auctores antiquissimi 9 + 11 + 13), 3 Bde., Berlin 1892 – 1898. Einzelne, für die Gotengeschichte besonders wichtige Chroniken sind inzwischen jedoch mit Übersetzung und Kommentar separat ediert worden. Dazu zählen von byzantinischer Seite der sogenannte „Anonymus Valesianus“, eine Art Biographie Theoderichs, die Ingemar König übersetzt und kommentiert hat – Aus der Zeit Theoderichs des Grossen. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar einer anonymen Quelle (Texte zur Forschung, 69), Darmstadt 1997 –, sowie die „Chronik“ des Marcellinus Comes, der sich Brian Croke angenommen hat: The Chronicle of Marcellinus Comes. ATranslation and Commentary (with a reproduction of Mommsen’s edition of the text) (Byzantina Australiensia, 7), Sydney 1995. Eine kommentierte englische Übersetzung der in Spanien entstandenen „Chronik“ des Johannes von Biclaro sowie der „Historia Gothorum“ des Isidor von Sevilla findet man bei Kenneth Baxter Wolf, Conquerors and Chroniclers of Early Medieval Spain (Translated Texts for Historians, 9), Liverpool 1990, 19992. Schließlich ist auch auf Justin Favrods zweisprachige Ausgabe der in Burgund entstandenen „Chronik“ des Marius von Avenches zu verweisen: La chronique de Marius de Avenches (455 – 581) (Cahiers Lausannois d’Histoire M¦di¦vale, 4), Lausanne 1991. Unter den oströmischen Quellen in griechischer Sprache ragen die Geschichtswerke des Malchos von Philadelpheia, Prokopios von Kaisareia und Agathias von Myrina hervor. Das Geschichtswerk des Malchos ist nur in Fragmenten erhalten. Die beste Ausgabe (mit Übersetzung und Kommentar in italienischer Sprache) stammt von Lia Raffaella Cresci: Malco di Filadelfia. Testo critico, introduzione, traduzione e commentario (Byzantina et Neo-Hellenica Neapolitana, 9), Neapel 1982; in dieser Ausgabe wird die alte Zählung von Karl Müller verwendet. Weiter verbreitet ist allerdings die Ausgabe von Roger C. Blockley, der eine englische Übersetzung beigegeben ist: The Fragmentary Classicising Historians of the Later Roman Empire. Eunapius, Olympiodorus, Priscus and Malchus, Bd. 2: Text, translation and historiographical notes, Liverpool 1983. Eine kommentierte Übersetzung ins Deutsche wird vom Verfasser dieser Zeilen vorbereitet. Das unter dem Titel „Gotenkriege“ bekannte Geschichtswerk des Prokopios stellt in Wahrheit die Bücher fünf bis acht einer zusammenhängenden Darstellung der Kriege Justinians bis zum Jahre 550 dar. Die maßgebliche Ausgabe stammt von Jakob Haury, Procopius Caesariensis, Opera omnia, Vol. II: De Bellis libris V–III, ND Leipzig 1963 [1905] (Teubner). Im deutschsprachigen Raum wird meist die zweisprachige Ausgabe von Otto Veh benutzt, die jedoch recht unzuverlässig ist: Prokop, Gotenkriege. Griechisch-Deutsch, München 1966, 19782. Wer des Griechischen nicht mächtig ist,

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zieht besser die Loeb-Ausgabe von Henry B. Dewing zu Rate: Procopius with an English translation, 7 Bde., Cambridge, Mass./London 1914 – 1940. Das Geschichtswerk des Agathias, der die Darstellung des römisch-gotischen Krieges im Anschluss an Prokopios zu Ende führte, liegt in einer kritischen Ausgabe vor : Agathias Scholasticus, Historiarum libri quinque. Recognovit Rudolf Keydell (Corpus fontium historiae Byzantinae. Series Berolinensis, 2), Berlin-West 1967. Eine Übersetzung ins Englische besorgte Joseph D. Frendo, Agathias, The Histories. Translated with an introduction and short explanatory notes (Corpus fontium historiae Byzantinae. Series Berolinensis, 2 A), Berlin-West 1975. Die dokumentarischen Quellen sind durch Corpora erschlossen. Die unter dem Namen „Edictum Theoderici“ bekannte Gesetzessammlung ist von Friedrich Blume ediert worden: Monumenta Germaniae Historica. Leges 5, Hannover 1889, S. 145 – 179; dieser Ausgabe folgt auch Giovanni Baviera, Fontes iuris Romani antejustiniani, Bd. 2, 2. Aufl., ND Florenz 1968 [1940], S. 683 – 710. Eine Übersetzung steht bislang nicht zur Verfügung. Inschriften, die sich zur Geschichte der Ostgermanen in Beziehung setzen lassen, sind von Ludwig Schmidt und Otto Fiebiger gesammelt worden; zwischen 1918 und 1944 erschienen drei Bände: Inschriftensammlung zur Geschichte der Ostgermanen (Denkschriften der Akademie der Wissenschaften in Wien, phil.-hist. Kl., Bd. 60, 3. Abh., Wien 1918; Bd. 70, 3. Abh., Wien 1939; Bd. 72, 2. Abh., Wien 1944) (ebenfalls ohne Übersetzung). Die lateinischen Papyri Italiens sind in der monumentalen Edition Jan-Olof Tjäders mit Kommentar und deutscher Übersetzung zugänglich: Die nichtliterarischen lateinischen Papyri Italiens aus der Zeit 445 – 700, 3 Bde., Lund/Stockholm 1954 – 1982. Die Münzprägung hat Michael A. Metlich aufgearbeitet: The Coinage of Ostrogothic Italy from A. D. 476 & a Die Study of Theodahad Folles by E. A. Arslan and M. A. Metlich, London 2004. Die Überreste von Texten in gotischer Sprache, insbesondere die Bibel-Übersetzung des Wulfila, hat der Indogermanist Wilhelm Streitberg gesammelt und 1908 erstmals herausgegeben; sein Standardwerk liegt mittlerweile in siebter Auflage vor : Die gotische Bibel, Bd. 1: Der gotische Text und seine griechische Vorlage. Mit Einleitung, Lesarten und Quellennachweisen sowie den kleineren Denkmälern als Anhang (Germanische Bibliothek. 4. Reihe: Texte), 7. Aufl., Heidelberg 2000. Archäologische Funde schließlich, die den Goten Italiens zugeschrieben werden, hat Volker Bierbrauer aufgearbeitet: Die ostgotischen Grab- und Schatzfunde in Italien (Centro Italiano di Studi Sull’Alto Medioevo Spoleto. Biblioteca degli Studi medievali, 7), Spoleto 1975. Bierbrauer hat seine Ergebnisse in einem Aufsatz – Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.–7. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 28, 1994, S. 51 – 171, hier S. 140 – 152 – selbst zusammengefasst und vor kurzem auch das seit 1975 hinzugekommene Material besprochen: Neue ostgermanische Grabfunde des 5. und 6. Jahrhunderts in Italien, in: Acta Praehistorica et Archaeologica 39, 2007, S. 93 – 124. Bei der

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Interpretation sollte man jetzt jedoch von den methodischen Überlegungen ausgehen, die Philipp von Rummel, Gotisch, barbarisch oder römisch? Methodologische Überlegungen zur ethnischen Interpretation von Kleidung, in: Walter Pohl / Mathias Mehofer (Hg.), Archäologie der Identität (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 17), Wien 2010, S. 51 – 77 entwickelt hat.

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Höfisch – freundschaftlich – gewalttätig. Ritterliche Gewaltgemeinschaften in der mittelalterlichen Literatur, untersucht am Beispiel des deutschen Prosalancelot

[…] Et prist si grant afaitement Por soi, sans nul ensagnement, Et se contint si noblement, Si bel et si paisiblement, N’estoit parole de cors d’ome, Nis de l’emper¦or de Rome, N’ooit parler de chevalier Qui auques f¦ist — proisier, Qui de sa maisnie ne fust, Por oc qu’il avoir le p¦ust, Se por avoir servir volsist, Que rois Artus ne l’ retenist. Por les nobles barons qu’il ot Dont cascuns mieldre estre quidot; Cascuns s’en tenoit al millor, Ne nus n’en savoit le pior, Fist Artus la Roonde Table Dont Breton dient mainte fable (V. 9982 – 9999)1 […] und er [Artus] war ein Inbegriff tadelloser Höfischkeit und verhielt sich so edel, zuvorkommend und höfisch, dass kein menschlicher Hof, nicht einmal der des Kaisers in Rom, es mit seinem aufnehmen konnte. Er hörte nie einen Ritter preisen, ohne dass er ihn aufforderte, sich seinem Hof anzuschließen. So viele er konnte versammelte König Artus gerne um sich, damit sie ihm in Notzeiten zur Seite stünden. Für diese vielen edlen Fürsten, die bei ihm waren, von denen sich jeder bemühte, der beste zu sein und von keinem als weniger lobenswert angesehen zu werden, ließ Artus die Tafelrunde anfertigen, die bei den Briten in so hohem Ansehen steht.

1 Le Roman de Brut par Wace. Publ. par le Roux de Lincy, Bd. 2, Rouen 1838; Wace, Roman de Brut. A history of the British. Hg. von Judith Weiß, Exeter 1999. Vgl. Arthurian Chronicles: Roman de Brut by Wace. Übers. von Eugene Mason, Hazleton, PA 2007, S. 82.

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Seit ihrer ersten Erwähnung im Roman de Brut des Wace steht die Tafelrunde des Königs Artus für die Idealität des Königs und seines Hofs. Die Einbettung dieses Lobs des Artus in die von Kriegen und Feldzügen bestimmte Handlung des Roman de Brut verdeutlicht, dass es sich beim Artushof um nichts anderes als eine Kriegergemeinschaft handelt, aber eine, der auf vorbildliche Weise die Regulierung und Kanalisierung der Gewalt gelingt und die so ritterliche Perfektion erlangt hat. Dass die höfische Literatur, die von König Artus und seinem Hof erzählt, der literarischen Etablierung und Präsentation von ritterlicher tugent dient, gehört geradezu zu den Selbstverständlichkeiten der mediävistischen Literaturwissenschaft. Im Nachvollzug der Aventüre-Handlung, in der die literarischen Helden ihr höfisches Benehmen und ihre rechte Einstellung zu den höfischen Werten bewähren, sowie im Wahrnehmen der in den Romanen enthaltenen Ritterlehren wird das Publikum in ritterlichen Umgangsformen und Werten geschult bzw. unterwiesen – oder zumindest dazu angehalten, sie zu reflektieren. Immer wieder spielen die Erzähler mit einer fingierten Außensicht auf die ritterliche Welt, damit ihre Rezipienten versuchen mögen, sich des Eigenen bewusst zu werden. Ein Paradebeispiel hierfür ist die Frage des waltman in Hartmanns Iwein, „–ventiure? waz ist daz?“ (V. 527),2 welche der Artusritter Kalogrenant nur scherenschnittartig zu beantworten vermag: n˜ sich wie ich gew–fent bin: ich heize ein riter und h–n den sin daz ich suochende r„te einen man der mit mir str„te, der gew–fent s„ als ich. daz pr„set in, und sleht er mich: gesige aber ich im an, sú h–t man mich vür einen man, und wirde werder danne ich s„. (V. 529 – 536) Schau, wie ich bewaffnet bin: Ich heiße ein „Ritter“ und habe es mir zum Ziel gemacht, umherreitend nach einem Mann zu suchen, der gleich bewaffnet ist wie ich und gegen mich kämpft. Es bringt ihm Ehre ein, wenn er mich besiegt; besiege aber ich ihn, dann hält man mich für mannhaft und für ehrenwerter als ich es jetzt bin.

Derlei vereinfachte Darstellungen der höfisch-ritterlichen Werte und ihrer Bewährung in der Aventüre bzw. durch höfisch regulierte Gewaltanwendung brauchen keineswegs als parodistisch verstanden zu werden; sie dienen im Rezeptionskontext des Literaturvortrags sicherlich als Ansporn, eine eigene, bessere Definition des ritterlichen Bewährungskampfes zu finden. Immer wieder experimentiert die höfische Literatur auch mit dem Modellfall 2 Hartmann von Aue, Iwein. Nach der siebten Ausgabe von Georg F. Benecke u. Karl Lachmann. Hg. von Ludwig Wolff, komm. und übers. von Thomas Cramer, Berlin u. a. 2001.

Ritterliche Gewaltgemeinschaften in der mittelalterlichen Literatur

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eines isoliert außerhalb der Gesellschaft aufgewachsenen jungen Adligen3 und stellt die durchaus selbstkritisch zu verstehende Frage, ob es denn möglich sei, allein durch das lehrhafte Wort und ohne Erfahrung in der ritterlichen Welt einen „artuswürdigen“ Ritter zu erziehen. Wolframs von Eschenbach entschiedene Verneinung dieser Frage im Parzival ist hinreichend bekannt: Im Prolog4 wird die Reduzierbarkeit des Textes auf eine Lehre negiert; auf der Handlungsebene wird vorgeführt, wie Lehren höfischen Zusammenlebens von einem isoliert aufgewachsenen Helden ohne Gesellschaftserfahrung missverstanden und gesellschaftsdestruktiv umgesetzt werden können, etwa als Regeln der Gewaltanwendung statt der Gewaltregulierung. Freilich ist die höfische Literatur für den bereits sozialisierten Adeligen geschrieben; der Fall eines Außenseiters, der durch eine lehrhaft verstandene Literatur erst in die höfische Gesellschaft integriert werden soll, ist weitgehend ein theoretischer. So dient der fingierte zu sozialisierende Außenseiter, ähnlich wie der waltman in Hartmanns Iwein, als Motor der Selbstvergewisserung der höfischen Werte, aber auch der Reflexion über die Schwierigkeit der Befolgung höfischer Verhaltensregeln angesichts oft konkurrierender Werte. Die Frage, unter welchen Bedingungen höfische Verhaltensregeln ihre Gültigkeit verlieren können und damit u. a. Mechanismen der Gewaltregulierung außer Kraft gesetzt werden, wird in der höfischen Literatur wiederholt durchgespielt. Selten geschieht dies so breit wie im Prosalancelot. Dieser, eine um 1250 entstandene anonyme, keineswegs immer getreue Übersetzung des zwischen 1215 und 1230 entstandenen französischen Lancelot en prose,5 ragt nicht nur durch den pseudohistoriographischen Erzählstil und die Verwendung der Prosa aus der Tradition der deutschen Artusromane seiner Zeit heraus, sondern insbesondere auch insofern als er weniger den einzelnen Helden ins Zentrum stellt als den gesamten Hof. Die Perspektivverschiebung vom Einzelnen auf die Gruppe erlaubt es, die Frage nach den Grenzen der höfischen Verhaltensregeln noch einmal neu zu beleuchten. Die durch den an der Gruppe orientierten Blick neue Beleuchtung und auch neue Problematisierung des höfischen Verhaltenskodex’ ist Gegenstand der folgenden Untersuchung. Hierzu wird zunächst die Ritterlehre, die der einzelne Protagonist erfährt, analysiert, bevor zwei ex-

3 Vgl. dazu Anja Russ, Kindheit und Adoleszenz in den deutschen Parzival- und LancelotRomanen, Stuttgart 2000. Russ legt allerdings einen besonderen Akzent auf die Kinderminne, die hier nicht interessiert. 4 Vgl. Wolfram von Eschenbach, Parzival. Nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Einl. von Bernd Schirok, übers. von Peter Knecht, Berlin u. a. 2003, S. 5 – 16. 5 Für eine zusammenfassende Diskussion des Verhältnisses zur Vorlage vgl. Uwe Ruberg, Lancelot (Lancelot-Gral-Prosaroman), in: Kurt Ruh u. a. (Hg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon, Bd. 5, Berlin u. a. 1985, Sp. 530 – 546, hier Sp. 531 – 533.

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emplarische Szenen aus dem Roman betrachtet werden, in denen eine Gruppe von Rittern handelnd hervortritt.

1.

Die Ritterlehre der Frau vom See

Lancelot wächst in einem Feenreich auf, isoliert von menschlicher Gesellschaft, nachdem sein Vater, der französische König Ban, im Krieg gegen König Claudas vom Wüsten Land ums Leben gekommen war, woraufhin eine Fee Lancelot in ihr Reich entrückt hat, dem sie nach außen das Aussehen eines Sees gegeben hat. Im See erhält Lancelot eine höfische Ausbildung, wie sie seinem Stand angemessen ist: „Die frauw gab im einen meyster, der sin pflegen solt und hfflbscheit leren, als man zu recht sol thun eynes koniges kint“ (I,102,6 – 8).6 Bald erlernt Lancelot auch die Jagd- und Reitkunst und bewegt sich in „großer gesellschafft von junckherren und von fryen luten“ (I,102,23 f.) auch außerhalb des „Sees“; er hat allerdings nur vereinzelt Kontakt mit Menschen von „außen“. Wenn er schließlich das Schachspiel (I,102,26), Inbegriff königlicher Gesellschaftskunst,7 weitere höfische Spiele sowie die Sangeskunst (I,106,11) erlernt, erwirbt er alle Kulturtechniken eines Ritters. Mit der Aufnahme seiner Vetter Lyonel und Bohort ebenfalls in den „See“ schließlich kommt auch die Gesellschaft zu Lancelot. Lyonels und Bohorts Vater Bohort hatte mit Ban gegen Claudas gekämpft. Als Lancelot volljährig ist, ist er entschlossen, Ritter zu werden, und droht der Frau vom See damit, dass er zu Artus gehe, damit dieser ihn zum Ritter mache (I,328,25). Die Frau vom See klärt ihn daraufhin über den Stand der Ritter auf. Er sei eingerichtet worden, um die Rechte der Schwachen zu verteidigen; ihm seien besondere Bürden aufgelegt:8 der willen hett ritter zu werden und darzu erkorn was von aller der gemeynde das er ritter solt werden, der must wesen hubsch on dorperkeyt und gut on schalckeyt, barmherczig syn uber die armen und milte wiedder die durfftigen. Er mu˚st allwegen gereyt syn die reuber und die morder zu unern und von dem weg zu thund; gerecht ritter one fruntschafft und one haß, mit frfflntschafft nymant zu helffen wiedder recht, durch haß nymand syn recht zu nemen. (I,120,24 – 30) 6 Lancelot. Nach der Heidelberger Pergamenthandschrift Pal. Germ. 147 (Deutsche Texte des Mittelalters, 42 – 80). Hg. von Reinhold Kluge, 4 Bde., Berlin 1948 – 1997; Prosalancelot (Bibliothek des Mittelalters, 14 – 18). Hg. von Hans-Hugs Steinhoff, 5 Bde., Frankfurt 1995 – 2004. Die Stellenangaben beziehen sich im Folgenden auf die Edition von Steinhoff. Die Übersetzungen sind eigene. 7 Vgl. dazu grundlegend Olle Ferm u. a. (Hg.), Chess and allegory in the Middle Ages. A collection of essays, Stockholm 2005. 8 Vgl. Thordis Hennigs, Die Leitbegriffe in der Ritterlehre der Dame vom See im mittelhochdeutschen und altfranzösischen Prosa-Lancelot, in: Klaus Ridder u. a. (Hg.), Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext, Tübingen 2007, S. 61 – 75.

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Wer Ritter werden wollte und von der ganzen Gesellschaft dazu erkoren wurde, dass er Ritter werden sollte, der musste höfisch sein ohne bäuerliche Züge und gut sein ohne Falschheit, barmherzig zu den Armen und freigebig gegenüber den Bedürftigen. Er musste allzeit bereit sein, die Räuber und Mörder zu schänden und zu beseitigen; als ein gerechter Ritter ohne Freundschaft und Hass sollte er keinem aus Freundschaft widerrechtlich helfen und keinem aus Hass sein Recht nehmen.

Nach der Vorstellung der Fee (die außerhalb der menschlichen Gesellschaft steht) ist der Ritterstand dazu eingerichtet, dass der Ritter allein bleibt, ohne emotionale Bindung, um so der Gemeinschaft in aller Gerechtigkeit und Objektivität zu dienen. Gegenüber dem französischen Lancelot ist die Bindungslosigkeit des Ritters noch verstärkt; dort wird der Ritter beschrieben als: „Drois iugieres sans amour & sans haine“ (I,114,8 f.).9 Nicht nur amour, die Liebe, sondern auch die Freundschaft ist dem Ritter im Prosalancelot untersagt, ebenso wie blinder Hass. Zwar berichtet die Fee dies im Präteritum, doch scheint die Auflage für den Ritter, dass er allein bleiben müsse, um der Gerechtigkeit, Gott und dem Volk zu dienen, nach wie vor Bestand zu haben; allein die Bestellung des Ritters durch das Volk ist in der Zwischenzeit einer Herrschaft der Ritter über das Volk gewichen – einem Herrschen, das die Frau vom See mit dem Verhältnis zwischen Ross und Herr vergleicht: Der Ritter lenkt und beschützt das Volk, das ihn unterstützt (I,336,30 f.). Zugleich ist er Diener der Kirche und hat die Aufgabe, diese und alles, was der Kirche anempfohlen ist (dazu gehören ausdrücklich Witwen, Waisen, Schwache und Kinder), zu schützen (I,338,1 – 3). So übt er quasi ein pastorales Amt auf höherer Ebene aus. Dies bedeutet aber keine Verpflichtung zur Friedfertigkeit, vielmehr muss der Ritter zwei Herzen haben, „ein senftts und ein hertes als ein adamas“ (I,338,12 f.). Gegenüber guten Leuten soll er ein weiches, „wächsernes“ Herz besitzen, gegenüber üblen Menschen aber ein hartes, „diamantenes“: Also muß des ritters hercz syn starck und veste wiedder ungetruw lfflt und wiedder schelcke, die recht zu unrecht wollent machen und alwegen böse und schalckech wollen syn. (I,338,16 – 19) So muss das Herz des Ritters hart und fest sein gegenüber treulosen Menschen und Übeltätern, die das Recht in Unrecht verkehren wollen und allzeit auf Bosheit und Verrat trachten.

Die Strenge gegenüber den Übeltätern ist der Frau vom See wichtig; so betont sie kurz darauf noch einmal:

9 The vulgate version of the Arthurian romances. Hg. von H. Oskar Sommer, Bd. 3: Le Livre de Lancelot del Lac, Washington 1910.

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Er muß sich huten, als lieb als im syn ere ist, das er nymer weich noch senfft enwerd wiedder dieb noch wiedder verreter noch wiedder mörder.10 Die schrifft spricht das der ritter sichselber verdampt und verurteilt wann das er den ledig leßt der den dot verdient hat. Darwiedder spricht die geschrifft, welch man schalckeit mynnet und untrfflwe der haßet sinselbs sele; darumb muß der ritter senfft wesen und weich als ein warm wahs wiedder gu˚t lfflt und getruw, die alleweg recht wollen und wol. (I,338,23 – 31) Er muss sich hüten, so ihm seine Ehre lieb ist, dass er niemals weich oder sanft werde gegen Diebe, Verräter oder Mörder. Die Schrift sagt einerseits, dass der Ritter sich selbst in die Verdammnis führt und verurteilt, wenn er den straffrei lässt, der den Tod verdient hat. Andererseits sagt die Schrift, dass derjenige, der Falschheit und Treulosigkeit liebt, seine eigene Seele hasst. Deshalb muss der Ritter sanft und weich wie warmes Wachs sein gegenüber guten und treuen Leuten, die stets das Rechte und Gute wollen.

Die Gerechtigkeit soll der Ritter über alles stellen; sie ist ihm auch Lizenz zum Töten. Die von der Frau vom See genannten Fälle sind hierbei eindeutig: Räuber und Mörder sollen erschlagen werden. Das ist für einen Artusroman durchaus nichts Außergewöhnliches. Hartmanns Erec etwa erschlägt hemmungslos die Räuber, die ihn überfallen und seine Frau rauben möchten.11 Das Gebot, Frauen, Kinder, Unschuldige und die Kirche zu schützen, ist eine Selbstverständlichkeit und da diese in der Literatur in der Regel nur von Riesen oder unhöfischen Übeltätern bedrängt werden, ist auch hier die Frage der Gegnerschonung12 nicht unbedingt zu stellen. Dennoch erstaunt die Schärfe, mit der hier – unter Berufung auf das göttliche Gebot – zum Walten des Richteramts aufgerufen wird,13 verbunden mit dem Gebot, niemandes Freund zu sein.14 10 Hier lässt der deutsche Text einen Satz der Vorlage aus: „Car tour aouroit perdu outreement. Quanque il li auroit fait de bien.“ (I,116,8 f.) – Der Hinweis darauf, dass dann alles vergeblich sei, bindet das Gebot der Strenge noch einmal an den Zweck der Einrichtung des Rittertums zurück. Dies entfällt in der deutschen Fassung, wodurch der Hinweis auf das göttliche Gebot der Strenge (wohl nach Mt 18,8 f.) schwerer wiegt. 11 Hartmann von Aue, Erec. Hg. von Albert Leitzmann (Altdeutsche Textbibliothek, 39), 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006, V. 3233 f., 3390 f., 3398 f. 12 Vgl. Parzival, 171,25 – 30: „l–t derbärmde b„ dem vrävel s„n. / sus tuot mir r–tes volge sch„n. / An swem ir str„tes sicherheit / bezalt, dern hab iu sölhiu leit / get–n diu herzen kumber wesn, / die nemt, und l–zet in genesn.“ – Vgl. Christoph Huber, Ritterideologie und Gegnertötung. Überlegungen zu den Erec-Romanen Chr¦tiens und Hartmanns und zum ProsaLancelot, in: Kurt Gärtner u. a. (Hg.), Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1996, S. 59 – 73. 13 Ein augenfälliges Beispiel für die erzählerische Umsetzung dieser Härte führt Huber (wie Anm. 11), S. 70 auf: Der Verzicht auf Gegnerschonung wird, sofern es sich um Gottesfeine handelt, im Prosalancelot sogar aus priesterlichem Mund gelobt. Huber sieht diese Zuspitzung des ritterlichen Kampfes zu einem Vernichtungskampf gegen Ketzer und Gotteshasser v. a. in der Grals-Queste verwirklicht; im Folgenden wird zu zeigen sein, dass die von der Fee empfohlene Härte durchaus schon früher zum Einsatz kommt. 14 Wie vorbildlich im Rahmen der Grals-Queste Bohort diesem Grundsatz folgt und sich vom

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Sicherlich wird der Artusritter dem König nicht aus reiner Freundschaft dienen, sondern aus der Überzeugung heraus, dass Artus die Manifestation von Gerechtigkeit und Höfischkeit ist. In einem Roman aber, der gerade nicht, wie die sogenannten klassischen Artusromane den einzelnen Ritter in den Fokus nimmt, der tatsächlich die Aventiure als Kampf eines Ritters gegen einen anderen versteht, sondern den Hof zum Helden macht, könnte diese Auflage zum Problem werden.

2.

Ungünstige Konstellationen für die „Einzelkämpfer“-Lehre im Prosalancelot

Auf der Handlungsebene spielt der Prosalancelot mit verschiedenen Variationen der Schwierigkeit eines Verzichts auf Freundschaft und amour im ritterlichen Dasein. Die Liebe – eine kirchlichen Regeln widerstreitende Ehebruchsliebe – steht am Beginn von Lancelots Ritterschaft: Es ist nicht der König, „Inbegriff der Tugend“, der den Helden zum Ritter schlägt, sondern die Königin, der Lancelot höchst emotional verbunden ist: in einer Liebe, die ihn gleichsam magisch beherrscht und die zu immer neuen Versteck-, Trug- und Intrigenspielen führt.15 Sie gehört auf die Seite der schalckeit und der untrfflwe (gegenüber dem König), welche nach den Worten der Fee vom Ritter unbedingt zu bekämpfen sind; von ihr aber abzusehen, würde Lancelot als untrfflwe gegenüber der Königin sehen. Jede Verstellung führt zu wechselnden Bünden zwischen den Akteuren. Die Freundschaft und der Kampfverbund waren als Konstituenten der Handlung bereits vor Lancelots Eintritt in den Ritterstand angedeutet, durch die Zusammenführung der drei Vetter im „See“ und den Kampfverbund ihrer Väter ;16 Freundschaften zwischen den Rittern (speziell zwischen Lancelot und GalaTod von 201 Jungfrauen nicht rühren lässt, weil er – wie sich nachträglich herausstellt, zu Recht – überzeugt ist, auf der Seite der Gerechtigkeit zu stehen, zeigt Stefan Merl, Der deutsche Prosa-Lancelot. Die Auswirkung des Erscheinens von Galaad auf den Artushof, in: Brigitte Burrichter u. a., Aktuelle Tendenzen der Artusforschung, Berlin u. a. [erscheint 2013], S. 85 – 99, hier S. 98. 15 Zur Liebeskonzeption im Prosalancelot ist immer noch grundlegend: Cornelia Reil, Liebe und Herrschaft. Studien zum altfranzösischen und mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot (Hermaea, 78), Tübingen 1996; Katharina Philipowski, Minne und Kiusche im deutschen Prosa-Lancelot, Frankfurt/Main u. a. 2002 [mit einer besonderen Betonung des Konflikts zwischen religiöser Lebensform und weltlicher Liebe, die sie nicht als einen internen Konflikt des Rittertums versteht, sondern als einen Konflikt zwischen Hof und Kirche]; Walter Haug, Das erotische und das religiöse Konzept des Prosa-Lancelot, in: Klaus Ridder u. a. (Hg.), Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext, Tübingen 2007, S. 249 – 263. 16 Vgl. Elizabeth Andersen, Brothers and cousins in the German prose Lancelot, in: Forum for modern language studies 26, 1990, S. 144 – 159.

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hot)17 werden in der folgenden Handlung eine bedeutende Rolle spielen. Keiner der Ritter handelt wirklich allein. Schließlich wird dann auch die Aufgabe, die Kirche zu schützen, zum Problem, da die überirdische Macht, vertreten durch den Gral und präsent durch vielerlei Prophezeiungen und Erscheinungen, in den Handlungsraum eingreift und aufgrund der Uneindeutigkeit ihrer Zeichen zu einer permanenten Verunsicherung des Königs und des Hofs beiträgt. Zur elementaren Verunsicherung des Hofs tritt in den Lancelot-Romanen noch eine Gefährdung des Hofs hinzu, die sich in der Entführung Ginovers und anderer Mitglieder des Hofs manifestiert. Im Prosalancelot / Lancelot en prose ist diese Entführung der Königin gedoppelt, außerdem wird neben den Artusrittern auch Artus selbst entführt. Sobald ein Mitglied des Hofs entführt oder gefangengesetzt wird, ziehen die anderen aus, um es zu suchen.18 Oberstes Ziel ist für sie, die Gemeinschaft zusammenzuhalten bzw. wiederherzustellen. So wird am Ende von Ginovers zweiter Entführung Lancelot entführt; der Hof zieht aus, um nach ihm zu suchen. Am Ende der Queste nach Lancelot treffen die Artusritter bei einem Turnier in Camelot zusammen und stellen fest, dass elf von ihnen fehlen, also beginnt eine Suche des Artushofs nach den auf der Suche nach einem Artusritter verlorenen Artusritter. Die Paradoxität dieses Unternehmens ist augenfällig: Der Hof, der einst Fixpunkt der „klassischen“ Artusromane war, zerfällt hier bei der Suche nach sich selbst. Ob eine solche, von Freundschaft zwischen den Rittern und Selbsterhaltungstrieb einer Gemeinschaft angetriebene Handlung noch ritterlichen Normen, die an der Idee von einzelnen, dem Volk wie Gott verpflichteten, Rittern orientiert sind, zu folgen vermag, sei im Folgenden an zwei Beispielszenen untersucht.

17 Vgl. dazu Beatrice Michaelis, (Dis-)Artikulationen von Begehren als Schweigeeffekte in wissenschaftlichen und literarischen Texten über sexuelles Begehren, Geschlecht und Körper des Hoch- und Spätmittelalters (Trends in Medieval Philology), Berlin u. a. 2011, S. 254 – 265; Andreas Kraß, Freundschaft als Passion. Zur Codierung von Intimität in mittelalterlicher Literatur, in: Sibylle Appuhn-Radtke u. a. (Hg.), Freundschaft. Motive und Brechungen (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte), München 2006, S. 97 – 116, hier S. 97; Klaus Speckenbach, Freundesliebe und Frauenliebe im Prosa-Lancelot, in: Wolfgang Haubrichs / Wolfgang Kaiber / Rudolf Voß (Hg.), Vox sermo res. Festschrift Uwe Ruberg, Stuttgart 2001, S. 131 – 142; Matthias Meyer, Causa Amoris? Noch einmal zu Lancelot und Galahot, in: Kurt Gärtner u. a. (Hg.), Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der mittelhochdeutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1996, S. 204 – 214, hier S. 205; Gretchen Mieszkowski, The prose Lancelot’s Galahot, Malory’s Lavain and the queering of late medieval literature, in: Arthuriana 5, 1995, S. 21 – 51, hier S. 41. 18 Eine Übersicht der Suchen im Prosalancelot stellt Hans-Hugo Steinhoff zusammen in: Lancelot. Nach der Kölner Papierhandschrift W. f846* Blankenheim und der Heidelberger Pergamenthandschrift Pal. Germ. 137 (Deutsche Texte des Mittelalters, 80). Hg. von HansHugo Steinhoff u. a., Bd. 4, Berlin 1997, S. XI.

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Beispielszene 1: Die Burg zum Weißen Dorn Während der Suche des Artushofs nach den auf der Suche nach Lancelot verschollenen Mitgliedern des Hofs gelangen Lancelot, Gaheries, Bandemagus und Bohort, die miteinander unterwegs sind, zu einer schönen, gut situierten Burg, der Burg vom Weißen Dorn. Sie reiten über die hölzerne Brücke in die Burg hinein und hören ein lautes Geschrei, das sie verwundert. Sie reiten weiter ; da sehen sie einen Mann im Unterhemd auf einem abgemagerten Pferd reiten, die Füße unter dem Bauch des Pferdes zusammengebunden.19 Und nach im kamen men dan hundert buben und knaben, die yne alles aneschruen und yn mit mist wurffen. Sie hetten im syn antlicz auch hinden und fornen so sere geworffen das man yne kum gesehen mocht. Und als sie nah by sie kamen, da besahent sie yn lang, und Gaheries sah das es Mordret sin jungster bruder was. Des er so sere betrubt ward als er ummer mocht und rant die ghenen an die yn so schlugen. Er nam eym gebuer eyn groß byhel, das er trug, und begund groß schleg zu geben den ghenen die synen bruder also handelten. Er reyt durch die gaßen sie jagen und dotschlagen als schaff. (III,828,17 – 27)20 Und hinter ihm liefen mehr als hundert Buben und Knaben her, die ihn heftig anschrien und ihn mit Mist bewarfen. Sie hatten ihn hinten und vorne so sehr beworfen, dass man sein Gesicht kaum mehr sehen konnte. Und als sie [die Artusritter] in ihre Nähe kamen, da schauten sie ihn lange an und Gaheries sah, dass es Mordret, sein jüngster Bruder war. Davon wurde er so sehr betrübt, wie er je betrübt werden konnte, und er stürmte gegen diejenigen an, die ihn so schlugen. Er nahm einem Bauern seine große Axt ab, die er trug, und begann, starke Schläge an diejenigen auszuteilen, die seinen Bruder so behandelten. Er ritt durch die Gassen und jagte sie und schlug sie tot wie Schafe.

Buben und knaben handeln hier. Der Erzähler will nicht zwischen ihnen scheiden. Die buben gehören zu denen, die nach den Worten der Frau vom See den Tod verdienen, insbesondere da ihre Handlung hier geradezu als ein Zitat der Verspottung Christi gezeichnet ist. Wenn unter ihnen aber auch Knaben sind, dann fallen diese unter die Rubrik der vom Ritter zu schützenden Schwachen. Derjenige, der hier den Schandritt antreten muss, erscheint zunächst schuldlos entehrt. Während die anderen Artusritter noch in der Beobachtung verharren, reagiert Gaheries sofort, da er in dem Geschundenen seinen 19 Zu Mordrets Schandritt, der als Vorausdeutung auf Mordrets späteren Verrat (für den das die rechte Bestrafung wäre) verstanden werden kann, vgl. Beate Ackermann-Arlt, Das Pferd und seine epische Funktion im mittelhochdeutschen Prosalancelot, Berlin u. a. 1990, S. 151. 20 Im altfranzösischen Text steht anstelle von knaben der deutlich pejorative Ausdruck ribaut („Bube“); der Angriff ist hier ein frontaler; statt antlicz … hinden und fornen werden hier dens und bouche (Zähne und Mund) beworfen. Die Tötung der Buben durch Gaheries fehlt im altfranzösischen Text. Vgl. Kluge, Apparat zu I,444,8 – 16.

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Bruder erkennt. Das Leid seines Bruders betrübt ihn so sehr als er ummer mocht, d. h. jenseits aller m–ze. Die Ritterlehre des Gurnemanz im Parzival kennt ein solches Leid, das herzen kumber (171,29) bedeutet und von der Pflicht der Gegnerschonung befreit; die Ritterlehre der Frau vom See aber kennt keine legitime emotionale Erregung des Ritters, die allein aufgrund der Verwandtschaft und ohne Hinterfragung der Gründe zustande käme. Die Wut, die Gaheries hier aufgrund der Bruderliebe entwickelt, widerspricht deutlich der Ritterlehre der Fee. Dass Mordret später das Artusreich durch Verrat in den Untergang treiben wird, weiß freilich Gaheries und wissen auch die anderen Figuren hier nicht, dem literaturkundigen Leser/Hörer aber ist dies bewusst. Der Erzähler verweist hierauf aber auch nicht und lässt den Rezipienten mit seinem möglichen Vorwissen hier allein. Zweifel an Gaheries’ Tat aber sind in jedem Fall angebracht. Die unritterliche Qualität seiner emotionalen Reaktion wird dadurch unterstrichen, dass er seine Rachetat nicht gemäß der ritterlichen Kampfregeln vollzieht: Er benutzt nicht sein Schwert – Symbol ritterlicher Richtgewalt –, sondern er nimmt einem Bauern die Axt ab – Inbegriff einer unhöfischen Waffe –, um mit dieser die Bauern(-kinder) zu töten. Ein unmissverständlicher Kommentar des Erzählers – bekanntlich hält sich der Erzähler des Prosalancelot, wie es dem Charakter chronikalen Erzählens entspricht, generell zurück und kommentiert nicht direkt – besteht darin, dass erklärt wird, der Artusritter schlachte die Knaben ab als schaff. Durch diesen Vergleich mit Schafen werden die einstigen Aggressoren zu unschuldigen Opfern umgewertet, zum Volk, das einen Anspruch auf ritterlichen Schutz hätte, doch hier alles andere als ritterlich behandelt wird. Der Blick des Erzählers, der den überlebenden Fliehenden bis zum Burgherrn folgt, wird nun auch erkennen, dass hier keine verbrecherische Untat vorlag, sondern dass die Burgbewohner den Anweisungen ihres Burgherrn folgten und in der Tat eine Art von hoheitlicher Gewalt ausübten. Während der Burgherr seine Untertanen zum Widerstand gegenüber den Eindringlingen und zur Rache für die 40 getöteten Bürger aufruft, plündern Gaheries und Mordret rasch ein Haus, das gerade leer steht, weil der Hausherr dem Ruf des Burgherrn gefolgt ist, und kleiden Mordret neu ein. Jetzt erst schalten sich die anderen Artusritter ein. Sie wollen wissen, weshalb Mordret so behandelt worden sei, und er erklärt, es sei […] Darumb das sie yn mit gewalt gefangen hetten und das er sagt, er wer geselle von der tafelrunde, „und ich sag uch das hieinn sint die ungetrfflwesten lute der welt; und wie sie mir gethan hant, als ir sahent, also thun sie allen den ghenen die sie fahen ku˚nnent.“ (III,830,16 – 21) […] weil sie ihn im Kampf gefangen genommen hatten und weil er gesagt hatte, er sei ein Mitglied der Tafelrunde, „und ich sage euch, dass hier die treulosesten Leute der

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Welt sind. So wie sie mich behandelt haben, wie ihr gesehen habt, so behandeln sie alle, die sie fangen können.“

Drei Begründungen für die Freveltat der Bürger und zugleich Vorwürfe an sie führt Mordret auf: Erstens, er sei mit Gewalt gefangen worden. Der beobachtete Gewaltakt war also nur die Fortsetzung eines anderen, nämlich einer jener vielen Entführungen, unter denen die Tafelrunde im Prosalancelot leidet. Zweitens habe man ihn so behandelt, weil er sagte, er sei Ritter der Tafelrunde. Damit ist die Ehre der Tafelrunde gekränkt und eine Gruppen-Feindschaft angesprochen. Drittens bezeichnet Mordret sie als die ungetrfflwesten lute der welt; sie behandelten generell jeden so wie ihn – und damit gehören sie fraglos zur Gruppe derer, die laut Lehre der Frau vom See nicht geschont werden dürfen. Auf diese harte Beschuldigung (welche die französische Vorlage nicht kennt) reagiert Lancelot mit einem Befehl, der aus dem Mund eines Artusritters verwundern mag: Da gebott Lancelot das Bohort fuer in die stat stieß, anders mochten sie sie nit baß verderben. (III,830,21 f.) Da gebot Lancelot, dass Bohort Feuer in der Stadt lege; mit keinem anderen Mittel könnten sie sie besser vernichten.

Kein ritterlicher Kampf gegen den ungetrfflwen Feind wird hier gesucht, sondern ein Strafgericht, ein rasches Vernichten des „Unkrauts“. Freilich, die vom Burgherrn mobilisierten Truppen suchen doch die ritterliche Auseinandersetzung – und die Artusritter stellen sich ihnen mannhaft und gnadenlos entgegen. Er [Lancelot] slug zu dot man und pfert, er det in kurczer zitt so vil das sie yn allesamen ser forchten syner großen schleg halb die er yn gab und darumb das er sie on all erbermde dot schlug. So enwas ir keyner der syner schleg erbeyten dorst. Borhort halff im zumal wol, auch konig Bandemugus und die zwen gebruder. Der wil was das fuer uberall enzunt in der statt wunderlich groß. die funff gesellen jagten die von der statt vor yn hien, sie erdöten und schlugen ir so viel das sie durch das fuer fliehen musten. (III,832,2 – 11) Er [Lancelot] erschlug Männer und Pferde und leistete in kurzer Zeit so viel, dass sie ihn allesamt sehr fürchteten wegen seiner mächtigen Hiebe, die er ihnen austeilte, und deswegen, weil er sie ohne jegliches Erbarmen totschlug. So gab es unter ihnen keinen, der es wagte, sich seinen Schlägen entgegenzustellen. Bohort half ihm dabei gut und auch König Bandemagus und die zwei Brüder. Mittlerweile war das Feuer überall in der Stadt entzündet, wunderlich groß. Die fünf Kameraden jagten die von der Stadt vor ihnen her ; sie töteten und erschlugen so viele, dass sie [die Restlichen] durch das Feuer fliehen mussten.

Ausdrücklich ohne jedes Erbarmen rast Lancelot gegen Mann und Pferd. Die Tötung von Pferden gilt in der höfischen Epik als höchst unritterlich. Trotzdem anerkennt der Erzähler Lancelots Wüten durch die Formulierung „er det in

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kurczer zitt so vil“ geradezu als Leistung. Aus dem Preis der kämpferischen Heldentat heraus aber richtet der Erzähler seinen Blick auf das Feuer, das „wunderlich groß“ ist: Dass eine Stadt derart lichterloh in Flammen aufgeht, ist offensichtlich nicht normal. Hier setzt die Verunsicherung des Rezipienten ein: Ist das von den Artusrittern angezündete Feuer vielleicht doch ein Höllenfeuer, das eine allzu stolze Stadt zerstört? Damit wäre der quasi-richterliche Akt der Zerstörung gerechtfertigt; oder möchte der Verweis auf das „Wunderliche“ ein Erstaunen über diese brutale Tat der Artusritter und die von ihnen verursachten großen Verluste wecken? – Hier ruft der Erzähler wieder das Bild wach, das er bereits einmal genutzt hat: Die Bürger werden vor den Rittern hergetrieben, jetzt aber nicht mehr „wie Schafe“, denn sie sind bewaffnet. Die Artusritter tragen hier anders als zuvor Gaheries ritterliche Waffen – aber das Feuer ist eine nichtritterliche Hilfswaffe. Der Erzähler schaut noch einmal genauer hin und betrachtet die Einzelkämpfe. Lancelot hat einen Ritter gefangen und erpresst von ihm, dass er ihm zeige, wer der Burgherr sei. Der Gefangene weist zum Burgherrn hinüber, der gerade von Bohort gefangengenommen wird. Lancelot sah umb sich wie yn Bohort neben synem roß hielt und im den helm uß dem heubt zoch. Da rant Lancelot da hien und schlug yn mit dem schwert, so das er im den kopff abschlug. (III,832,15 – 18) Lancelot blickte um sich und sah, wie ihn Bohort neben seinem Pferd festhielt und ihm den Helm vom Haupt zog. Da rannte Lancelot dorthin und schlug mit dem Schwert auf ihn ein, so dass er ihm den Kopf abschlug.

Lancelot verhindert durch diese Tat jeden Dialog mit dem Burgherrn und demonstriert klar, dass er an keinerlei Gnade interessiert wäre. Er hat, gemeinsam mit den anderen Artusrittern, das Urteil über diesen „Treulosesten aller Burgherrn“ bereits gefällt, auch wenn er kein Räuber oder Mörder ist, offensichtlich emotional bewegt durch einen Hass, der kein persönlicher ist, sondern bedingt ist durch einen Verstoß gegen die Gruppenidentität. So fasst auch der Erzähler am Schluss die Motivation der Zerstörungsaktion zusammen mit den Worten: Also ward die burgk vom Wissen Thorn von Lancelot gewunnen und verbrant umb der schanden willen die den gesellen von der tafelrond alda geschach. (III,832, 28 – 30) So wurde die Burg vom Weißen Dorn von Lancelot erobert und verbrannt wegen der Schande, die den Kameraden von der Tafelrunde dort widerfahren war.

Eine Ehrverletzung der gesellen, des Freundschaftsbundes der Artusritter, entfesselt ein offensichtlich hassgeleitetes Blutbad. Den Rittern geht es hier nicht darum, konkrete höfische Werte zu verteidigen oder gar in einem ritterlichen Kampf zu bewähren; ihnen ist vielmehr jedes Mittel zur Vernichtung der Gegner recht. Ein irgendwie gearteter Bezug zum König wird nicht hergestellt; die Ge-

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meinschaft der Ritter scheint ohne ihn zu funktionieren – als eine Gewaltgemeinschaft. Der Erzähler, der in der Schilderung des Vorgangs immer wieder zwischen fast topischem Lob der Tapferkeit der Ritter im Kampf und kritischen Tönen geschwankt hat, versucht nachträglich eine Positivierung der gemeinschaftlich verübten Gewalttat der Tafelrundenritter. Er greift das Rühmenswerte an der Aktion heraus und lässt in der folgenden Aventiure, wenn die Artusritter schon wieder auf eine Burg stoßen, die der Tafelrunde gegenüber feindlich gesonnen ist, einen der Knappen in der Burg warnend erwähnen, dass jeder dieser fünf Kameraden so kräftig sei, dass er es mit hundert „normalen“ Rittern aufnehme (III,834,13 f.). Es wird also nicht mehr auf die Motivation und auf die Durchführung des letzten Kampfes geachtet, sondern nur noch auf die Zahlen, die für Tapferkeit und Kampfeskraft stehen. Als eine zweite Strategie der Rehabilitierung der Ritter versucht der Erzähler, seinen Rezipienten in Vergessen zu wiegen. Im folgenden Abenteuer nämlich verhalten sich die Artusritter ganz korrekt, suchen den Dialog mit dem Gegner und gewähren ihm, als sie ihn im Kampf überwunden haben, Gnade. Anschließend trennen sie sich, jeder geht seines Weges und kämpft da wieder seine ritterlichen Einzelkämpfe ganz nach den höfischen Regeln. Gerade durch diesen Gegensatz aber wird deutlich, dass dieses Gewalthandeln, das gegen die ritterlichen Regeln verstößt, eng an die Gemeinschaft der Ritter gebunden ist, die offensichtlich anderen Gesetzen folgt als der eine Ritter, der im Kampf dem einen Gegner gegenübersteht.

Beispielszene 2: Mordret und der Einsiedler Einige Zeit später kann sich Lancelot, der inzwischen wieder gefangen genommen ist, befreien und rettet auch Mordret aus erneuter Gefangenschaft. Zu zweit sind sie unterwegs zurück zum Hof, den es nach ihrer Gefangenschaft zu restituieren gilt, und bilden gemeinsam mit mehreren Knappen, die sie begleiten, eine Gemeinschaft, die sich der aventiure und den Zufälligkeiten des Wegs stellt. Als Lancelot die Heilige Messe hören will, lassen sie sich den Weg zu einem ehrwürdigen alten Geistlichen in weißem Habit weisen. Der begrüßt Lancelot und Mordret, indem er darauf hinweist, dass sie die unglückseligsten Ritter seien. „Sicher“, sprach der alt man, „ich mag uch sagen das zwen die ungluckhafftigsten ritter versamelt sin die ich weiß, und wil uch wol sagen warumb und in was wise.“ Da sprach Lancelot zu den schiltknechten das sie ein wenig von yn gingen. (IV,274,1 – 5)21 21 Die Begleiter der beiden Ritter werden im französischen Text differenzierter genannt als ein vavassour (Edelmann) und mehrere escouiers (Knappen). Vgl. Kluge, Apparat zu II,598,23.

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„Sicherlich“, sagte der alte Mann, „ich kann Euch sagen, dass hier die zwei unglückseligsten Ritter versammelt sind, die ich kenne, und ich will Euch gerne sagen wie und warum.“ Da sagte Lancelot zu den Knappen, dass sie ein wenig zur Seite gehen sollten.

Im Vertrauen – die „Öffentlichkeit“, vertreten durch die Knappen, ist weggeschickt – prophezeit der Geistliche Mordret, dass nicht nur er selbst durch Mordret getötet werde, sondern dass v. a. auch die Tafelrunde durch ihn zerstört werde sowie dass Mordret seinen Vater töten werde. Mordret fasst diese Worte als doppelten Angriff auf: gegen die Tafelrunde und gegen ihn selbst. Er bezichtigt den Einsiedler der Lüge, schließlich sei sein Vater tot. Der Geistliche aber klärt ihn auf, dass Lot nicht sein Vater sei, sondern Artus. Mit dieser Erklärung aber verbindet sich der verbale Angriff auf die Tafelrunde mit einer Schmähung des Königs und Mordrets als eines unehelichen Kinds. Dies aber würde eine doppelte Befleckung der Tafelrunde bedeuten. Wütend tobt Mordret, zumindest in Bezug auf seinen eigenen Tod habe der Geistliche ein wahres Wort gesprochen, er werde ihn auf der Stelle töten. Jeder Versuch des Priesters, ihn wenigstens so lange um Gnade zu bitten, bis er auch mit Lancelot gesprochen habe, ist vergeblich. „So helff mir gott nummer me“, sprach Mordret, „ob yr ymer von mir oder andern me geliegent!“ Er zoch astunt syn schwert und slug off yn so hart das er im das heubt zur erden fallen deth und das der lib alda gestreckt lag. (IV,276,24 – 28) „Gott möge mich verlassen“, sprach Mordret, „wenn Ihr über mich oder andere noch mehr Lügen verbreiten dürft.“ Er zog sofort sein Schwert und schlug so hart auf ihn ein, dass ihm das Haupt zur Erde fiel und dass der Körper ausgestreckt da lag.

Die Ritterlehre der Frau vom See hat vorgesehen, dass alle Priester Gottes in besonderer Weise zu verteidigen seien. In diesem Fall wird der Verstoß gegen das Gebot des Schutzes der Kirche noch dadurch verschärft, dass die Ritter ursprünglich auf den Priester zugegangen sind, um die Heilige Messe zu hören. Der Grund, weshalb ihn Mordret tötet, ist aus der Sicht Mordrets eine Schmähung der Tafelrunde und die Lüge; schalckeit aber sollen Ritter ahnden. Aus der Sicht des Rezipienten aber ist der Grund für die Tötung allein die Tatsache, dass dieser die Wahrheit prophezeit hat, welche Mordret erzürnt. Wut und Zorn aber sind dem Ritter verboten. Lancelot steht daneben, verhindert das Verbrechen nicht, weist aber Mordret anschließend in ruhigem Ton (in der französische Vorlage schreit er stattdessen) auf sein Fehlverhalten hin: „Ach Mordret“, sprach Lancelot, „ir habt zu mal ubel gearbeit und dötlich sunde gethan das ir dißen byderman also erschlagen hant, und furware, uch wurt nit me dann schande und unere darvon komen.“ (IV,276,24 – 31)

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„Ach, Mordret“, sprach Lancelot, „Ihr habt eine üble Mühe aufgewandt und eine Todsünde geübt, indem Ihr diesen braven Mann so erschlagen habt, und fürwahr, Euch wird nur Schande und Unehre daraus erwachsen.“

Schon während er diesen Tadel ausspricht, aber ist Lancelots Hauptinteresse auf einen Brief gerichtet, den der Priester bei sich trägt. In diesem Brief ist ausgeführt, dass Mordret Artus töten werde, aber auch von Artus getötet werde. Auf diese Nachricht reagiert Lancelot: Lancelot besah den brieff gar sere und gewann groß erbermde das er von konig Artus gelesen hatt, wann er liebt den konig Artus ob allen mannen inn der welt, und deth im wee das im yt geschehen solt, darumb das er an im funden hett alle gfflt und hubscheit der welt. Und hett er mögen den funt finden, das er ynn hett mögen döten mit recht, so hett er yn von stund erschlagen. Und er gewann nye zu keynem manne großeren willen zu döten als yn vom leben zum dot zu bringen, hett ers nit gelaßen durch hern Gawans willen. (IV,278, 22 – 30) Lancelot sah den Brief genau an und es berührte ihn sehr, was er über König Artus gelesen hatte, denn er liebte König Artus mehr als alle Männer in der Welt und es tat ihm weh, dass ihm etwas geschehen sollte, weil er an ihm alle Güte und Höfischkeit der Welt erkannte. Und hätte er einen Weg gefunden, um ihn [Mordret] rechtens töten zu können, dann hätte er ihn sofort erschlagen. Er verspürte nie einen größeren Willen, einen Mann zu töten und ihm vom Leben in den Tod zu befördern, aber er unterließ es wegen Gawan.

Nicht das Gebot, dass man einen Priester schützen müsse, nicht der offenkundige Mord ist es, der in Lancelot die Lust, Mordret zu töten, aufkommen lässt, sondern die Freundschaft zu Artus, den er „liebt […] ob allen mannen inn der welt“. Diese Liebe zu seinem König wühlt ihn emotional auf und weckt einen tödlichen Hass. Liebe wie Hass aber sind ihm von der Fee als Antrieb seiner Handlungen verboten, wenngleich es ihm geboten ist, Mörder zu richten. In der Tat gelingt es Lancelot auch, seine Emotionen zu unterdrücken und so unterlässt er es, den Priestermörder und künftigen Königsmörder zu töten – allerdings nicht mit Blick auf die ritterliche Lehre, sondern aus Rücksicht auf den Freund Gawan. Wieder also ist es die Freundschaft, die sein Handeln bestimmt, nicht die Gerechtigkeit. Hier aber wird es schwerfallen, ein Urteil über die ritterliche Korrektheit von Lancelots Nichthandeln zu fällen. Er folgt zwar nicht dem Gebot des scharfen Richteramtes, er vermeidet aber eine emotionale Handlung – freilich aus emotionalen Gründen.

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3.

Cora Dietl

Fazit

Freundschaften sind es, die quer durch den Prosalancelot hindurch Gewalthandlungen rechtfertigen, entgegen der anfangs genannten Ritterlehre, dass ein gerechter Ritter keine Freundschaft kenne. Es mag sein, dass die Ritter – wie in diesem Fall – ein Verbrechen klar als solches erkennen, aber die freundschaftliche Verpflichtung gegenüber dem anderen Ritter setzt das Rechtsempfinden außer Kraft. Unhöfisches Verhalten aufgrund von Freundschaft tritt auch bei Rittern, die einzeln unterwegs sind, auf, vermehrt aber zeigt es sich dann, wenn mehrere Artusritter sich den Weg teilen. Dann ist die Freundschaft zwischen den Reisenden ein akutes Movens und erlaubt damit jede noch so rechtlose und unritterliche Gewalt gegen andere, die der Freundschaft entgegen zu stehen scheinen. Die beiden behandelten Beispiele haben gezeigt, wie sich unterschiedliche Ebenen der Freundschafts- und Liebesbindung überlagern und zum Teil auch widersprechen können – so etwa die Liebe zu Artus und die Freundschaft mit den anderen Rittern; im Konfliktfall aber siegt immer die Freundschaft zwischen den Rittern, die durch das gemeinsame Reisen und Kämpfen immer wieder neu bestätigt wird, zumal die Reisen der Artusritter hier stets nur einem Zweck dienen, nämlich die Gemeinschaft zu restituieren. Eine zentrale Rolle in den verschiedenen Überschreitungen höfischer Regeln durch die Artusritter um der Liebe zur eigenen Gemeinschaft willen nimmt immer wieder Mordret ein. Ihm gelingt es in besonderer Weise, die Emotionen der Ritterkollegen anzusprechen, damit sie jeden verbalen oder anderen Angriff auf die Gemeinschaft gewaltsam abwehren – auch wenn dieser wie in der zweiten Beispielstelle eine Prophezeiung dessen ist, dass gerade er die Gemeinschaft durch einen Gewaltakt zerstören wird. Die eher unberührte Haltung des Erzählers, der nur gelegentlich sanft kritische Töne anschlägt (zuweilen auch verlagert in die wörtliche Rede, um sich selbst davon distanzieren zu können), generell aber jede Gewalttat als einen Nachweis von Kraft und Macht lobt, erweckt den Eindruck, als gebe es an jedem einzelnen Punkt der Handlung keine Möglichkeit, sich anders zu entscheiden, selbst wenn die Entscheidung als nicht ritterlich im engeren Sinne erkannt wird. Die Handlung zeigt, dass es einen Ritter ohne Freundschaft und Liebe nicht geben kann – v. a. nicht im Rahmen der Tafelrunde, die auf der Idee der Egalität und Freundschaft zwischen den Rittern aufbaut. Ein Erzählen von der Tafelrunde setzt voraus, dass die Tafelrunde als Gruppe existiert und dass die Ritter versuchen zusammenzuhalten. Jeder Angriff auf die Tafelrunde als Angriff auf die Gemeinschaft ist natürlich auch ein Angriff auf die Erzählung von der Tafelrunde. Wie sollte der Erzähler der Freundschaft also negativ gegenüberstehen? Die Gruppe kann nur als Gruppe funktionieren, wenn sie als solche aktiv wird – anders als im „klassischen“ Artusroman. Dann aber können klassische,

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auf Einzelritter fokussierte Aventüre-Definitionen wie die in Hartmanns Iwein keinen Bestand mehr haben. Die Fee betrachtet das Rittertum von außen und aus historischer Perspektive: Offensichtlich fehlen ihr, wenn sie die Ritterlehre formuliert, Einblicke in die Komplexität der (aktuellen) ritterlichen Welt. Die Nichteinhaltbarkeit ihrer Lehre könnte damit auch ein versteckter literaturkritischer Kommentar zur überholten Dichtung über Einzelhelden sein.

Horst Brunner

Die pawrschafft hoch steyget / Vnd ritterschaft nider seyget.1 Gewalt und Gewaltgemeinschaften in der deutschen Literatur um 1400

Thema des vorliegenden Versuches ist ein – nicht nur aus heutiger Sicht – eher düsteres Kapitel der deutschen Literatur- und Gesellschaftsgeschichte. Es geht um die Frage der Einschätzung der bäuerlichen Unterschicht, in mittelalterlicher Terminologie der laboratores, durch die weltliche Oberschicht, die bellatores. Mit anderen Worten: um das Bild, das die kleine Schicht der Herrschenden sich von der großen Zahl der machtlosen arbeitenden Bevölkerung machte, die sich freilich ab und an zu wehren versuchte – bis hin zu den Kriegen, die schließlich zur Gründung der Eidgenossenschaft führten, und bis hin zum Trauerspiel des Bauernkrieges von 1525, der aber nicht Thema dieses Beitrages ist. Bekanntlich unterschied man im Mittelalter idealtypisch drei Stände: Zu den schon genannten laboratores und den bellatores kamen – nach der im 10. Jahrhundert formulierten Terminologie – noch die oratores, der geistliche Stand; mittelhochdeutsch hießen die Stände geb˜re, ritter, phaffen.2 In der Theorie waren die drei Stände gottgewollt und von gleichem Wert, in der Realität sah es freilich anders aus. Einen Eindruck davon liefern die höfischen Romane, die seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in großer Zahl entstanden. Sie entwarfen ein Idealbild der weltlichen Oberschicht, deren männliche Angehörige seit etwa 1180 als ritter bezeichnet wurden – der Ritter ist tapfer, edel, gerecht, betrachtet seine Ehre als höchsten Wert, kämpft für Gott, seinen Lehensherrn und für Witwen und Waisen, verfügt über feines Benehmen und geht mit Damen, aber auch mit Feinden, sofern sie gehobenen Standes sind, in stets nobler Art um.3 Das Gegenbild zum Ritter in diesen Romanen ist der Angehörige 1 Zitat aus: ,Das große Neidhartspiel‘, in: John Margetts (Hg.), Neidhartspiele (Wiener Neudrucke, 7), Graz 1982, V. 1655 f. – Der Beitrag ist weitgehend in der Vortragsform belassen. Die Anmerkungen geben nur die nötigsten Hinweise. 2 Vgl. Artikel ,Stand, Stände, -lehre‘ (Ralf Mitsch u. a.), in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, 1997, Sp. 44 – 53. 3 Vgl. Joachim Bumke, Studien zum Ritterbegriff im 12. und 13. Jahrhundert (Beihefte zum Euphorion, 1), 2. Aufl., Heidelberg 1977; ders., Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, 2 Bde., München 1986.

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des dritten Standes, der altfranzösisch vilain, Schurke, eigentlich Dorfbewohner, mittelhochdeutsch dörper genannt wird. Der „Nährstand“, jene über 90 % der Bevölkerung, deren Aufgabe es war, nicht nur sich selbst, sondern auch die Oberschicht zu ernähren, wurde vom Adel im Allgemeinen nicht für voll genommen, sondern verachtet. Dazu gezählt wurden seit dem Aufblühen des Städtewesens im 12. und 13. Jahrhundert auch die nichtadligen Stadtbewohner, Handwerker, Kaufleute – ungeachtet der Tatsache, dass nicht wenige von ihnen über weit größeren Besitz verfügten als viele Adlige. Als eigener Stand wurden die Stadtbewohner aber nicht betrachtet. Kam es zum Zusammenstoß der Stände, so ging das nicht ohne Gewalt ab, es bildeten sich folglich Gewaltgemeinschaften. Ich konzentriere mich im vorliegenden Beitrag auf die Zeit um 1400, eine Epoche im Umbruch. Dazu wenige Stichworte: Niedergang der Königsherrschaft nach dem Tod Kaiser Karls IV. 1374 und dem Beginn der Herrschaft seines Sohnes Wenzel, der als deutscher König schließlich wegen Untätigkeit im Jahr 1400 abgesetzt wurde – indes war auch sein Nachfolger, der Wittelsbacher Ruprecht von der Pfalz, deutscher König bis 1410, nicht in der Lage, die Probleme, zu denen das Papstschisma gehörte, zu bewältigen; Kriege der Habsburger gegen die Eidgenossenschaft; Auseinandersetzungen zwischen Städten und Territorialfürsten; innerstädtische Auseinandersetzungen. Literaturgeschichtlich gesehen ist von Interesse, dass der Gegensatz von Adel und drittem Stand in dieser Epoche vorwiegend im Bild einer bestimmten, auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts zurückgehenden literarischen Tradition gesehen und dargestellt wurde. Darum soll es hier gehen.

1.

Das ,Große Neidhartspiel‘

Den Einstieg bietet ein Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts. Unter Fastnachtspielen versteht man meist lustige, bisweilen obszöne, manchmal auch ernste Spiele, die – vorwiegend in spätmittelalterlichen Städten – in der Vorfastenzeit aufgeführt wurden.4 Das erste überlieferte Spiel dieser Art stammt aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts; die Tradition geht dann bis in die Zeit um 1600 weiter. Der bekannteste Fastnachtspieldichter ist der Nürnberger Dichter Hans Sachs (1494 – 1576), der Hauptvertreter dieser Tradition im 16. Jahrhundert. Gepflegt wurde das Fastnachtspiel insbesondere in Lübeck, in Nürnberg, in der Schweiz und in Tirol. Aus der Tiroler Tradition stammt das in einer Handschrift des späten 15. Jahrhunderts unikal überlieferte ,Große‘ oder auch ,Tiroler 4 Vgl. Horst Brunner, Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit im Überblick, Stuttgart 2010, S. 366 f., 483 – 485.

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Neidhartspiel‘.5 Wann genau dieses Spiel entstanden ist, kann man nicht sagen, ob im frühen, mittleren oder späten 15. Jahrhundert. Verarbeitet ist in ihm jedenfalls ein Stoff, der schon im 14. Jahrhundert und auch um 1400 – wie wir noch sehen werden – völlig geläufig war. Wo das ,Große Neidhartspiel‘ aufgeführt wurde, wissen wir ebenfalls nicht – man kann durchaus an die Aufführung an einem Fürstenhof, etwa dem in Innsbruck, denken. Dafür spricht der erforderliche erhebliche Aufwand – viel Musik, zahlreiche, rund 100, Akteure, eine erhebliche, eher untypische Länge (ca. 2.600 Verse) –, dafür spricht ohne Zweifel auch die Tendenz des Stückes, dessen Thema der Triumph des Rittertums über die ärgerliche und unsympathische Bauernwelt ist. Sicher sein kann man allerdings nicht, da lange und aufwendige Spiele auch in den Städten nicht unüblich waren, und außerdem Stadtbewohner zwar von Seiten des Adels zu den Bauern gezählt wurden, ihrerseits aber auch auf die rustikale Welt herabsahen. Zum Technischen: Es handelt sich um ein im Freien aufgeführtes Simultanspiel, d. h. die Bühne besteht aus einzelnen Ständen, in unserem Fall anscheinend vier, auf denen die Akteure gleichzeitig anwesend sind und von denen aus sie, wenn die Handlung dies vorsieht, zu anderen Ständen hingehen. Das Stück beginnt, wie üblich, mit einem Prolog, in dem ein „Vorläufer“ genannter Spieler seine Herrin, die Herzogin von Österreich, rühmt. Wer ihr und ihren Jungfrauen dienen wolle, der eile an den Hof und suche das Veilchen, den ersten Frühlingsboten – wem das gelinge, der solle das ganze Jahr über Vortänzer beim höfischen Tanz sein. Auch der Herzog ist mit seinen Rittern zugegen. Wem das höfische Wesen etwas bedeute, der solle beim Tanz mitmachen (V. 67 f.). Die Musik spielt auf, die Herzogin und ihre Damen tanzen. Szenenwechsel zu den Bauern. Auf Anstiften ihres Anführers Engelmayr beschließen sie voll Übermut, sich in den höfischen Tanz einzudrängen und den Vortritt für sich zu beanspruchen. Die Bauern tanzen zum Stand der Höfischen hinüber und machen den Damen auf ihre grobe Art Avancen. Engelmayr verspricht der ersten Jungfrau einen Rosenkranz, einen Lebkuchen, einen guten Käse, Buttermilch und anderes, wenn sie mit ihm tanzen wolle. Er wird aber als grober pawr (V. 111) entschieden zurückgestoßen: Get jr pawrisch lewt wider haym / Vnd fresset ewr schlegl milch [eure Buttermilch] allain (V. 123 f.). Daraufhin beschließen die Bauern, ihren eigenen Tanz zu veranstalten. Sie kehren zu i h re m Stand zurück, es beginnen in Rede und Gegenrede Werbungsgespräche zwischen den dörppern (V. 262), den gätlingen (V. 337), d. h. den Bauernburschen und den Bauerndiernen (V. 368), deren Grobheit und se5 Margetts, Neidhartspiele; vgl. dazu Artikel ,Neidhartspiele‘ (Horst Brunner), in: Killy Literaturlexikon, 2. Aufl., Bd. 8, 2010, S. 515 f.; Cora Dietl, Tanz und Teufel in der Neidharttradition. ,Neidhart Fuchs‘ und ,Großes Neidhartspiel‘, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 125, 2006, S. 390 – 414.

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xuelle Unverblümtheit nichts zu wünschen übrigen lassen. Daran schließt sich dann der Tanz an. Erneuter Szenenwechsel zum Hof. Im Kontrast zu den Werbungsgesprächen der Bauern hört man nun die der Ritter, die der hüpschen mynn (V. 384), der höfischen Minne, gewidmet sind. In überaus vornehmer Weise, mit dem traditionellen, feinen Vokabular des höfischen Minnesangs, rühmen sie die Damen und bemühen sich um ihre Minne; die Damen antworten fein ziseliert mit vornehmer, jedoch wohlwollender Zurückhaltung. Nachdem die Zuschauer auf diese Weise mit den Protagonisten bekannt gemacht wurden, beginnt die eigentliche Handlung. Die Herzogin stellt fest, der Winter sei vergangen, womit dann die Zeit der sommerlichen kürtzweyl (V. 614) beginne. Das erste Veilchen soll als Frühlingsbote gefunden werden – der Finder soll belohnt werden. Jetzt tritt der Ritter Neidhart auf. Er will das Abenteuer der Veilchensuche auf sich nehmen und sich damit bei den Damen angenehm machen. Die Herzogin gibt ihm ihren Segen, dann geht Neidhart weg vnd sucht den veyol frölich mit singen (V. 655). Als er das Veilchen gefunden hat, bedeckt er es mit seinem Hut, denn die Herzogin persönlich soll es pflücken. Mit fröhlichem Gesang kehrt er zu ihr zurück. Der Bauer Entzlman hat das Geschehen beobachtet. Er hebt den Hut auf, pflückt das Veilchen, setzt einen Haufen und stülpt den Hut wieder über die Stelle. Später wird gesagt, dies sei die Rache für die Zurückweisung beim höfischen Tanz, sowie für den Neid und Hass Neidharts gegen die Bauern gewesen. Neidhart führt die Herzogin mit ihren Damen in feierlichem Zug mit Musik herbei – was dann passiert, kann man sich leicht ausmalen. Die empörte Herzogin sagt zu Neidhart: Dein hertz ist aller schanden vol / Der tewfl muoss des veyols walten (V. 745 f). Der Veilchenraub fungiert in alle Zukunft als geradezu mythischer Grund der Feindschaft zwischen den Rittern und den Bauern, die fortan Thema des Stückes ist. Neidhart schwört Rache, seine ritterlichen Gesellen schließen sich ihm an. Sie bilden eine Gemeinschaft, deren Ziel es ist, den Bauern ihre Beine vngerad (V. 775) zu machen, d. h. ihnen ein Bein abzuschlagen und ihnen künftig den Tanz und die damit verbundene Freude zu verwehren. Der Ritter Gawein zu Neidhart: Leyb vnd guot wag ich mit dir (V. 790). Der von den viltzpawren zu Tzeyslmaur (V. 821 f.) geplante Tanz soll die Gelegenheit zum Losschlagen bieten. Die Ritter wappnen sich mit Schwert und Harnisch, Neidharts Knecht wird zum Spionieren ausgeschickt. Szenenwechsel zum Bauerntanz. Engelmayr freut sich, dass die Ritter wegen der Veilchenschändung die Gunst des Herzogs verloren haben. Der Spion berichtet, es seien über vierzig Bauern versammelt. Nun erfolgt der Überfall. Die Bauern fliehen, zehn oder zwölf werden gefangen. Das linke Bein wird ihnen abgehauen und es werden ihnen Stelzen angebunden, sie können nicht mehr tanzen, d. h. um die Gunst der Frauen werben. Engelmayr entkommt, er versteckt sich unter dem Mantel seiner Geliebten. Zwischen einigen Bauern gibt es Streit wegen Engelmayrs Flucht – Vorbote dessen, was sich

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später zuspitzt. Die Ritter melden ihre Tat voller Stolz am Hof. Wegen seiner ritterlichen Leistung wird Neidhart wieder in Gnaden aufgenommen, er muss dem Herzog schwören, der Schande wegen, die dem Hof durch die Bauern zugefügt wurde, fortwährend Bauernfeind zu bleiben: Jch will zu den pawren keren / Vnd will sy newe sprunge leren (V. 1173 f.). Es schließen sich nun weitere Taten Neidharts an: Er geht in Verkleidung als Schwertfeger zu den Bauern und sammelt unter dem Vorwand sie zu reinigen ihre verrosteten Schwerter ein. Als er sich zu erkennen gibt, fliehen die nun wehrlosen Bauern, zwei von ihnen hängt er auf. Dann erscheint er als Mönch. Er lässt die Bauern beichten, dann macht er sie betrunken. Den Schlafenden schert er eine Tonsur und legt ihnen Mönchskutten an. Als sie erwachen, führt er sie in ein Kloster. Sie klagen über Hunger und prügeln sich. Dann dürfen sie gehen. Sie klagen: Er hat uns zu Narren gemacht (V. 1595). Nun folgt – etwas überraschend – eine Teufelsszene in der Hölle, durch die den Geschehnissen eine gleichsam heilsgeschichtliche Tiefe verliehen wird. In einer Predigt führt der Oberteufel Luzifer aus, worin das Vergehen der Bauern bestehe. Sie wollen sich nicht in die gegebene Ständeordnung fügen, sondern wollen es den Rittern gleichtun: Die pawrschafft hoch steyget / Vnd ritterschafft nider seyget (V. 1655 f.). Die Bauern sind reich, sie wollen so gekleidet sein wie die Ritter, sie geben sich nicht mehr mit ihrer traditionell einfachen Kleidung zufrieden, dazu prügeln sie sich untereinander. Früher, als sie noch mit ihrem Stand zufrieden waren, herrschte Friede, jetzt aber wird es nie mehr gut. Die Teufel sollen alles daran setzen, dass diese Verhältnisse so bleiben, denn dann würden die Seelen der Bauern der Hölle zuteil. Sathanas rühmt sich, er habe den Zorn und Hass zwischen den Bauern und den Rittern gesät und er habe auch bewirkt, dass der wilde grobe dorffmann (V. 1751) das Veilchen geschändet habe. Der Teufel Lasterbalg will die Bauern weiterhin zu Lastern und Verbrechen verführen. Beim nächsten Bauerntanz tragen die Bauern ausdrücklich Messer an der Seite. Sie stoßen Drohungen aus. Engelmayrs stiftet eine Verschwörung gegen Neidhart, die Bauern leisten einen Eid. Ihre Aggressivität richtet sich aber sogleich gegeneinander, zumal sie nach dem Tanz zum Wein gehen. Anlass der Streitigkeiten sind Eifersüchteleien, auch wird Engelmayr seine zeitige Flucht zum Vorwurf gemacht. Einige Bauern verschwören sich gegen ihn, besänftigende Reden werden zurückgewiesen. Engelmayr wird zunächst gedroht, dann wird gegen ihn gekämpft, schließlich verliert er durch die eigenen Leute ein Bein und ist damit wie alle anderen. Erst als alles vorbei ist – Neidhart hat die ganze Szene versteckt in einem Weinfass beobachtet – erkennen die Bauern, was sie ihrem haubtman (V. 2298), der stets gute Ratschläge gegeben habe, angetan haben. In langen Reden beklagen sie ihn und die eigene Torheit. Nach einem letzten Abenteuer verführt der verkleidete Neidhart die Bauern dazu zu zeigen,

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was sie ihm, Neidhart, antun würden – wenn sie ihn denn hätten: sie schlagen mit ihren Waffen brutal, aber natürlich lächerlich sinnlos, auf eine Säule ein. Dann kehrt der Ritter an den Hof zurück. Er wird verpflichtet, weiterhin Feind der Bauern zu bleiben. Das ,Große Neidhartspiel‘ ist voll von Gewaltszenen. Die Gewalt wird inszeniert von zwei Gruppen, die sich rasch zu Gewaltgemeinschaften formieren. Diese stehen sich freilich keineswegs auf gleicher Ebene gegenüber, es gibt vielmehr grundsätzliche Unterschiede. Diese manifestieren sich bereits in den Namen. Während die Bauern lächerliche Namen tragen wie Ackertrapp, Regenwart, Schnabelraus, Schlickenpreyn, Eysengreyn, Wegendrüssel usw. heißen ihre ritterlichen Widersacher (soweit sie überhaupt Namen tragen) Gawein, Parzival, von Rosen, Veyol. Die ritterliche Gewaltgemeinschaft bildet sich aufgrund der Standesverletzungen und -überhebungen, die sich die Bauernschaft hat zuschulden kommen lassen, ihrer superbia, mittelhochdeutsch übermüete. Symbolhaft wird dies insbesondere in der Veilchenschändung gezeigt: Die Bauernschaft stört, ja sie zerstört die Freude der höfischen Gesellschaft. Die Ritter nehmen Rache für die ihnen dadurch zugefügte Schmach und sie weisen ihre Gegner nachdrücklich in die Standesschranken. Nur die Ritter wissen, wie man kämpft – ihre Aggression richtet sich voll und ganz gegen die bäuerlichen Feinde. Für sie ist die Gewalt- oder Kampfgemeinschaft etwas, was zu ihrem Selbstverständnis gehört. Sie wissen, wie man sich dabei zu verhalten hat und sie richten ihre Aggressivität ausschließlich auf die Gegner, nach außen, niemals nach innen. Die bäuerliche Gewaltgemeinschaft dagegen ist nur angeblich imstande, gegen die ritterlichen Feinde aufzutreten. Neidhart wird zwar im Bild der Säule auf lachhafte Weise bekämpft, in Wirklichkeit bekommt man den schlauen Ritter, der sich zu verkleiden weiß, gar nicht zu fassen. Tatsächlich richtet sich die bäuerliche Gewalt fast nur nach innen, gegen die eigenen Leute, nicht zuletzt auch unter dem Einfluss des Weingenusses. Es zeigt sich, dass der dritte Stand nicht in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, seine Angehörigen wissen mit ihrer Gewaltgemeinschaft nicht umzugehen, eine derartige Gemeinschaft steht ihnen in Wahrheit auch gar nicht zu. Aus der Standesüberhebung folgt nichts als Streit und Krieg. Letztlich steckt, dies zeigt das Stück, hinter dem falschen Verhalten der Bauern nichts anderes als der Satan, die Bauernschaft bleibt nicht im gottgewollten und von Gott gesetzten ständischen Rahmen, der ihre Unterwürfigkeit erfordert. Das Gegeneinander von Rittern und Bauern illustriert den Gegensatz von potestas und violentia.6 Die den Rittern gegebene Gewalt ist Amtsgewalt, die „institutionalisierte, rechtmäßige Herrschaft über Sachen, Personen und ihre 6 Vgl. zum Folgenden Artikel ,Potestas‘ (L. Vonnes), in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, 1995, Sp. 131 – 133; die folgenden Zitate: ebd. Sp. 131.

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Organisationsformen“, die – nach einer von Irenäus von Lyon im zweiten nachchristlichen Jahrhundert begründeten Tradition – göttlicher Fürsorge entspringt, „um durch die Aufrechterhaltung der Ordnung die selbstzerstörerischen Kräfte des der menschlichen Natur innewohnenden Bösen zu bannen.“ Nach Augustinus ist die Unterwerfung der Bauern unter die Obrigkeit „naturgegebene Notwendigkeit“. Die von den Bauern ausgeübte Gewalt ist hingegen widerrechtliche violentia, bloße Gewalttätigkeit, die sich gegen ihre Urheber richtet.

2.

Die Neidharttradition

Der Entwurf des ,Großen Neidhartspiels‘ ist zweifellos imposant – bei allem, was man aus damaliger und heutiger Sicht gegen die darin zutage tretende Tendenz sagen kann. Der unbekannte Autor hat aber freilich das meiste nicht selbst erfunden, sondern er hat traditionelle literarische Versatzstücke geschickt miteinander verbunden. Dazu ein Blick auf einige literaturgeschichtliche Sachverhalte. Der Name des Protagonisten Neidhart geht zurück auf einen Lieddichter aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts.7 Die Schaffenszeit Neidharts – manchmal fälschlich mit einem neuzeitlichen Kunstnamen Neidhart von Reuental genannt – waren die Jahrzehnte zwischen etwa 1210 und etwa 1240. Er wirkte im bayerischen Raum, am Hof des Erzbischofs von Salzburg und am baierischen Herzogshof in Landshut, später am Hof des Herzogs von Österreich, damals der Babenberger Friedrich II., genannt der Streitbare. Neidhart – den sein großer Zeitgenosse Walther von der Vogelweide als den Verderber des Minnesangs betrachtete – kam dadurch zu großem Ruhm, dass er die übliche Szenerie des Minnesangs – der Ritter liebt in vergeblicher Hoffnung eine höfische Dame ¢ vom Hof in das bäuerliche Milieu verlegte. In seinen Sommerliedern drängen sich die derben Bauernweiber und Bauernmädchen danach, die Liebe des freilich armen Ritters von Reuental zu erringen. In den Winterliedern zieht der Ritter meist den Kürzeren gegenüber den aggressiven und überheblichen Bauernburschen, bereits hier kommt es zu Prügeleien, allerdings immer nur der Bauern untereinander. In den für echt gehaltenen Liedern Neidharts gibt es keine zusammenhängenden Erzählungen, der Autor begnügt sich mit genrehaften Momentbildern. Neidharts Manier blieb das ganze spätere Mittelalter hindurch, bis in das 16. Jahrhundert, lebendig, manche namentlich bekannten und noch mehr an7 Vgl. den Artikel ,Neidhart‘ (Horst Brunner), in: Killy Literaturlexikon, 2. Aufl., Bd. 8, 2010, S. 512 – 515; Edition: Ulrich Müller u. a. (Hg.), Neidhart-Lieder. Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke, 3 Bde., Berlin/New York 2007.

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onym bleibende Autoren des 13. bis 15. Jahrhunderts dichteten in seiner Art.8 Bereits im Lauf des 13. Jahrhunderts wurde Neidhart dann zu einer stehenden Kunstfigur, deren Feindschaft mit den Bauern in allerlei Schwankliedern, den sogenannten „Neidharten“, thematisiert wurde, er wurde zum sprichwörtlichen Bauernfeind. Noch heute kann man an der Außenseite des Wiener Stephansdomes das angebliche Grab des Bauernfeindes sehen. Einzelne der im Spätmittelalter sehr beliebten Schwanklieder – den Veilchenschwank, den Fassschwank, den Beichtschwank, den Kuttenschwank – hat auch der Verfasser des ,Großen Neidhartspiels‘ benutzt. Populär war vor allem der Veilchenschwank, der beispielsweise auch in spätmittelalterlichen Wandbildern begegnet; auch das älteste, aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts erhaltene Fastnachtspiel, das ,St. Pauler Fastnachtspiel‘, behandelt den Veilchenschwank.9 Gegen Ende des 15. Jahrhunderts reihte man zahlreiche Neidhartlieder an den Faden der fiktiven Lebensgeschichte des Bauernfeindes. Der gedruckte ,Neithart Fuchs‘ – so heißt Neidhart hier : der Fuchs als Signum seiner Schläue – blieb ein Erfolg bis in das 16. Jahrhundert.10

3.

Wittenwilers ,Der Ring‘

Bereits um oder kurz nach 1400 ließ ein genialer Autor Neidhart als handelnde Figur in einem epischen Text auftreten. Es handelt sich um das komisch-didaktische Epos ,Der Ring‘ des am bischöflichen Hof zu Konstanz wirkenden Juristen Heinrich Wittenwiler – die wohl bedeutendste epische Dichtung in deutscher Sprache zwischen der Blütezeit des höfischen Romans im 12./ 13. Jahrhundert und dem ,Simplicius Simplicissimus‘ Grimmelshausens von 1668.11 Wittenwilers annähernd 10.000 Verse umfassendes Werk stellt eine Lehrdichtung dar, die in eine vorwiegend komisch-schwankhafte Handlung eingebettet ist. Das Gedicht besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil wird man über 8 Vgl. Eckehard Simon, Neidharte und Neidhartianer. Zur Geschichte eines Liedkorpus, in: Horst Brunner (Hg.), Neidhart (Wege der Forschung, 556), Darmstadt 1986, S. 196 – 250; Gertrud Blaschitz (Hg.), Neidhartrezeption in Wort und Bild, Krems 2000. 9 Edition: Margetts, Neidhartspiele. 10 Vgl. den Artikel ,Neithart Fuchs‘ (Horst Brunner), in: Killy Literaturlexikon, 2. Aufl., Bd. 8, 2010, S. 517. 11 Vgl. den Artikel ,Wittenwilder, Heinrich‘ (Horst Brunner), in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 10, 1999, Sp. 1281 – 1289; Edition: Horst Brunner (Hg.), Heinrich Wittenwiler. Der Ring. Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Durchges. und bibliogr. erg. Ausg., Stuttgart 2003. Vgl. zu Wittenwiler auch: Ortrun Riha, Die Forschung zu Heinrich Wittenwilers ,Ring‘ 1851 – 1988 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie, 4), Würzburg 1990; Frank Fürbeth, Die Forschung zu Heinrich Wittenwilers ,Ring‘ seit 1988, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 160, 2008, S. 350 – 390.

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die Werbung des Mannes um die Frau belehrt, im zweiten darüber, wie man sich in der Welt verhalten soll, der dritte Teil thematisiert das Verhalten in Kriegszeiten. Da, wie der Autor ausführt, die bloße Didaxe meist als langweilig empfunden wird, band er die Lehren in eine mit viel Sprachwitz und Komik gestaltete Handlung mit äußerst lachhaft-dummen Bauern als Protagonisten ein. Belehrende bzw. unterhaltende Partien werden auf bisweilen verwirrende Weise durch eine rote bzw. grüne Farblinie am Rand der einzigen erhaltenen Handschrift auseinander gehalten. Wichtig zu wissen ist, dass bisweilen die Belehrung durch das exemplum contrarium erfolgt, d. h. die handelnden Figuren verhalten sich in der Erzählung so, wie der Leser oder Hörer sich nicht verhalten soll, er soll durch falsches Verhalten auf das richtige Verhalten gewiesen werden. Die Handlung lässt sich kurz zusammenfassen. Im ersten Teil wirbt der Held, der Bauernbursche Bertschi Triefnas aus Lappenhausen, mit viel Aufwand, u. a. mit einem Turnier (zu dem wir gleich kommen), um die unsäglich hässliche Mätzli Rüerenzumph, d. h. Rührdenschwanz. Im zweiten Teil wird nach zahlreichen Belehrungen über das richtige Leben und Verhalten Hochzeit gefeiert, wobei das höchst unappetitliche Hochzeitsmahl in ein wildes Tanzvergnügen übergeht. Im dritten Teil artet der Tanz zunächst in eine Prügelei, schließlich in eine Art Weltkrieg aus, in dem die feindlichen Dörfer Nissingen und Lappenhausen von Zwergen, Riesen, Hexen, Recken, Schweizern und Heiden unterstützt werden. Am Ende steht der durch Verrat herbeigeführte Untergang Lappenhausens und eine für die Sieger, die Nissinger, blamable und verlustreiche Belagerung Bertschis auf einem Heuschober. Schließlich zieht der Held, der als einziger Lappenhauser den Krieg überlebt hat, sich als Einsiedler in den Schwarzwald zurück. Der gelehrte Autor hat eine große Zahl deutscher und lateinischer Quellen verarbeitet. Den Handlungsfaden lieferte ihm der sogenannte Bauernhochzeitsschwank, eine in zwei Fassungen überlieferte, harmlose Verserzählung des 14. Jahrhunderts, der er teilweise auch seine lächerlichen Bauernnamen entnommen hat. Wittenwilers Werk ist freilich viel mehr als ein unterhaltsames Lehrgedicht. Aus der Verbindung von Lehren und Handlung entwirft der Autor eine umfassende epische Welt. Trotz ihrer Buntheit, trotz der anziehenden Vitalität der Protagonisten und trotz aller weisen Lehren erscheint diese Welt – was hier nur angedeutet werden kann – als eine Art Tollhaus. Der ,Ring‘ zeigt auf noch heute geradezu beklemmende Weise die Negativität aller irdischen Verhältnisse ohne einen Himmel darüber. In der deutschen Literatur des Mittelalters bieten allenfalls das ,Nibelungenlied‘ und der ,Reinhart Fuchs‘, beide aus der Zeit um 1200, eine vergleichbare negative Sicht.12 12 Vgl. dazu Horst Brunner u. a., Dulce bellum inexpertis. Bilder des Krieges in der deutschen Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts (Imagines Medii Aevi, 11), Wiesbaden 2002, S. 13 – 36.

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Das Geschehen wird eröffnet mit einem von Bertschi Triefnas veranstalteten Turnier.13 Er möchte damit seiner Angebeteten imponieren. An einem Sonntag sieht man Bertschi mit elf wackeren Kumpanen auf den Lappenhauser Turnierplatz reiten, neben Bertschi zehn Dorfgenossen mit Namen wie Kunz vom Stadel, Heinzo mit der Geiß, Graf Burkhart mit dem Überbein usw. Ihre Helme sind geflochten wie Körbe, die Schilde sind Kornschwingen, als Rüstungen tragen sie Lodenkittel, die mit Heu und Stroh ausgepolstert sind, die Beinschienen sind Baumrinden. Sie reiten auf Eseln und Ackergäulen, als Lanzen haben sie Ofenkrücken. Ihre Wappen sind höchst lächerlich: ein Hase in grünem Feld, drei Nüsse an einer Weinrebe, drei Fliegen in einem Glas, zwei Gabeln in einem Misthaufen usw. Den geheimnisvollen zwölften Mitstreiter kennen die unglücklichen elf anderen nicht – der Erzähler lässt jedoch verlauten, es handle sich um einen schlauen Ritter, einen Bauernfeind, der alle Dorftölpel hasst, sein Name sei wahrscheinlich Neithart. Befeuert wird das Turnier durch den Spielmann Gunterfai – der Name bedeutet „wertloses Zeug, Tinnef“ – der wild drauflos pfeift und dazu die Trommel schlägt. Da die Turnierteilnehmer niemanden finden, der gegen sie antritt, beschließen sie, wild gegeneinander zu reiten (1). Am Ende liegen elf von ihnen auf der Erde – zwei sind schwer verletzt und scheiden aus (Troll und Knotz), einer ist beleidigt (Kunz) und zieht sich ebenfalls zurück. Die restlichen acht beschließen, gegen den Fremden zu reiten (2). Dieser stellt sich ängstlich und reizt sie dadurch umso mehr. Der folgende, höchst lächerliche Kampf hat ein katastrophales Ergebnis: zwei Teilnehmer, die Neithart verfolgen, verunglücken tödlich, andere sind durch eigene Dummheit kampfunfähig, so reitet etwa Bertschi kampflustig gegen den Fremden an – doch leider stolpert sein Pferd über eine Erbse und er fliegt in hohem Bogen herunter und auf sein großes Maul. Als die Katastrophe perfekt ist, reut die wenigen, die noch übrig geblieben sind, ihr Verhalten. Sie bereuen ihre Sünden – und Neithart schlüpft nun in die Rolle des Beichtigers: Wittenwiler nimmt hier den Beichtschwank der Neidhartlieder auf, der auch im ,Großen Neidhartspiel‘ verwendet wird. In den Beichten der Bauern kommen natürlich allerlei Torheiten zutage. Anschließend bittet Bertschi den Fremden, sie erst einmal zu belehren, wie man richtig turniere (3). Dass auch das folgende einigermaßen regelgerechte Turnier nicht gut ausgeht, versteht sich von selbst. Neithart schlägt die Bauern schließlich mit einem mit Stroh getarnten Bengel aus Eisen nieder, dann macht er sich davon. Wittenwilers ,Ring‘ ist ein Text voller brutaler Gewalttaten. Schlägereien, Übergriffe aller Art, auch Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung. Die 13 Vgl. dazu besonders Claudia Händl, Hofieren mit Stechen und Turnieren. Zur Funktion Neitharts beim Bauernturnier in Heinrich Wittenwilers ,Ring‘, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 110, 1991, S. 98 – 112.

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Eröffnung des Ganzen mit einem lachhaft gestalteten Turnier ist vom Autor wohlkalkuliert, sie stellt ein angemessenes Vorspiel dar. Inspiriert wurde der Autor ganz ohne Zweifel von der zu seiner Zeit längst etablierten Neidharttradition. Ausgangspunkt ist die Bildung einer bäuerlichen, zunächst spielerisch gemeinten Gewaltgemeinschaft. Die Bauern möchten es in ihrer Hybris dem Adel gleichtun, sie verfügen jedoch weder über eine angemessene Bewaffnung, noch wissen sie, welche Regeln für ein Turnier gelten. Deshalb richten sie ihre Gewalt zunächst ungezügelt gegeneinander, mit schlimmen Folgen. Der Versuch, ihre Gewalttaten auf den anonym anwesenden Ritter zu lenken, scheitert kläglich an dessen verstandesmäßiger und materieller Überlegenheit. Statt in höfischer Freude endet das ganze Unternehmen schließlich in Verwundung, Verlust und Tod. Die Forschung bringt das Bild der Bauern im ,Ring‘ mit den Erfahrungen zusammen, die der Hofbeamte Wittenwiler mit den innerstädtischen Auseinandersetzungen in der Bischofstadt Konstanz und mit den im Bodenseeraum geführten Kriegen machte.14 In Konstanz herrschte damals ein spannungsvolles Mit- und Gegeneinander zwischen Patriziat und Zünften sowie zwischen den Zünften untereinander. Außerhalb der Stadt sahen sich die Herzöge von Österreich und der mit ihnen verbündete Adel der zunehmenden Opposition von Bauernbünden gegenüber, die sich mit der Eidgenossenschaft verbündeten. Die Gegner der Adelsherrschaft wurden generell als geb˜ren bezeichnet. Die Auseinandersetzung kulminierte zu Beginn des 15. Jahrhunderts im Appenzellerkrieg, in dem das Heer der Städte 1403 von den Appenzellern und den mit ihnen verbündeten Schwyzern geschlagen wurde. 1405 siegten die Appenzeller über Österreich und Konstanz, der danach geschlossene Bund am See expandierte rasch bis in das Allgäu. Erst 1408 gelang es den österreichischen Herzögen, dem Herzog von Bayern, dem Grafen von Württemberg und der Schwäbischen Ritterschaft das Heer des Bauernbundes zu schlagen. Als Folge wurden jedoch 1411 Appenzell und bald darauf St. Gallen in die Eidgenossenschaft aufgenommen. Letztlich betrifft das durch und durch negative Bauernbild aber nicht eine einzelne Gruppe aus der Lebenswelt des Dichters. Wittenwiler ist kein politischer Autor. Im Verlauf des Werkes wird vielmehr klar, dass dies die Perspektive ist, mit der er die conditio humana überhaupt betrachtet. Die weisen Lehren, die reichlich gegeben werden, bleiben weitgehend folgenlos, die Figuren folgen vielmehr vorwiegend ihren elementaren Trieben, zu denen eine ungezügelte Aggressivität gehört. Die Notwendigkeit moralischer, religiöser und praktischer Lehren ergibt sich bei Wittenwiler aus seiner Sicht des Weltzustandes, der durch 14 Vgl. Eckart Conrad Lutz, Spiritualis fornicatio. Heinrich Wittenwiler, seine Welt und sein ,Ring‘ (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, 32), Sigmaringen 1990.

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ein Übermaß an menschlicher Unvollkommenheit, Unordnung, Verstörtheit, Aggressivität, körperlicher und geistiger Hinfälligkeit, Gefährdung, Unsicherheit und Bedrohtheit zu charakterisieren ist. Die weisen Lehren sollen das Schlimmste verhindern, sie leisten dies nach Wittenwilers Vorstellung angesichts der Heillosigkeit der Weltzustände jedoch gerade nicht, weil die Menschen in ihrer Triebhaftigkeit nicht bereit sind, sie zu befolgen. Der Kontrapunkt zum eröffnenden Turnier ist dann der große, blutige Krieg, mit dem das Werk endet. Die bäuerliche Welt Bertschis richtet sich darin jämmerlich selbst zugrunde, die ritterliche Welt hält sich fern und überlässt die Bauern sich selbst. Wittenwiler, ein Autor, der seine Figuren nicht liebt, schafft sie sich gnadenlos vom Hals, er rottet sie buchstäblich aus. Einzig Bertschi überlebt. Er zieht sich, wie erwähnt, als Einsiedler in den Schwarzwald zurück – die Forschung ist sich nicht einig, ob dieser Rückzug aus weiser Einsicht erfolgt oder ob er als weiteres Zeichen der irreparablen Torheit des Hauptprotagonisten angesehen werden muss.15

4.

,Vom Würzburger Städtekrieg‘

Das dritte literarische Werk, auf das ich hier eingehe, ist eines, in dem um 1400 die Schwelle zur historischen Realität überschritten wird, eine sogenannte politische Ereignisdichtung, d. h. ein Text, in dem es um einen tendenziösen Blick auf realhistorische Ereignisse geht.16 Es handelt sich um ein Gedicht in über 2.000 Reimpaarversen, das unter dem Titel ,Vom Würzburger Städtekrieg‘ herausgegeben wurde.17 Behandelt werden historische Ereignisse, die sich zwischen 1397 und 1400 in und um Würzburg zugetragen haben.18 Würzburg war bis zum Reichsdeputationshauptschluss von 1803, der die Auflösung der geistlichen Herrschaften des Heiligen Römischen Reichs verfügte, bekanntlich ein Fürstbistum, d. h. der Bischof war zugleich Landesherr. Er führte seit dem 12. Jahrhundert den Titel eines 15 Vgl. dazu Brunner u. a., Dulce bellum inexpertis, bes. S. 33 – 36. 16 Vgl. Sonja Kerth, „Der landsfrid ist zerbrochen.“ Das Bild des Krieges in den politischen Ereignisdichtungen des 13. bis 16. Jahrhunderts (Imagines Medii Aevi, 1), Wiesbaden 1997, bes. S. 1 – 6. 17 Edition: Rochus von Liliencron (Hg.), Die historischen Volkslieder der Deutschen, Bd. 1, Leipzig 1865, Nr. 40. Vgl. dazu zuletzt: Ernst Schubert, Die Lieder vom Würzburger Städtekrieg (1397 – 1400), in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 64, 2004, S. 39 – 61; Klaus Arnold, „Byberstein was ir geschrey…“ Würzburgs Traum von der Reichsfreiheit zu Ausgang des 14. Jahrhunderts im Licht der Überlieferung, in: Hans-Peter Baum u. a. (Hg.), Wirtschaft – Gesellschaft – Mentalitäten im Mittelalter. Festschrift Rolf Sprandel (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 107), Stuttgart 2006, S. 453 – 471. 18 Vgl. Ulrich Wagner (Hg.), Geschichte der Stadt Würzburg. Von den Anfängen bis zum Ausbruch des Bauernkriegs, Bd. 1, Stuttgart 2001, S. 94 – 121.

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Herzogs von Franken – auf den Bischofsgrabmälern im Würzburger Dom, unter denen die beiden von Tilmann Riemenschneider die berühmtesten sind, werden die Bischöfe daher jeweils mit Bischofsstab u n d Schwert dargestellt. Seit dem 11. Jahrhundert kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen über die Rechte der Stadtgemeinde, wozu auch beitrug, dass die zahlreichen geistlichen Höfe in der Stadt den Stadtbürgern durch ihre Produkte, z. B. Wein, der die Hauptquelle der städtischen Einkommen war, Konkurrenz machten, sie jedoch gegenüber der Stadtgemeinde nicht steuerpflichtig waren. Angesichts der wiederholten Unruhen und Aufstände hatten die Bischöfe ihren Sitz schon im 13. Jahrhundert aus der Stadt in die Burg auf dem Marienberg verlegt. Die Auseinandersetzungen kulminierten am Ende des 14. Jahrhunderts. Anlass waren neue Steuern, die Bischof Gerhard von Schwarzburg den Bürgern auferlegt hatte – als der Bischof den städtischen Protest mit dem Kirchenbann belegte, brach Pfingsten 1397 der Aufstand los. Die Würzburger glaubten sich durch ihr Bündnis mit elf weiteren Städten des Bistums einigermaßen abgesichert. Zwei Ratsherren, die als Vertraute des Bischofs galten, wurden ermordet, Geistliche gejagt und gefangen gesetzt, die kirchlichen Gebäude geplündert und niedergerissen, der Bischof wurde in seiner Festung bis zum Entsatz elf Tage lang belagert. Der Pfaffenhass kannte kaum Grenzen. Politisches Ziel der Stadtgemeinde war die als ungerecht empfundene Herrschaft des Bischofs abzuschütteln und mit Hilfe König Wenzels die Reichsfreiheit zu erlangen. Das schien zunächst zu gelingen, die Stadt zahlte 4.000 Gulden und erhielt ein Freiheitsprivileg. Als König Wenzel im Dezember 1397 in die Stadt kam, wurde er nach allen Regeln hofiert und gefeiert – allerdings widerrief er bereits im Januar 1398 auf dem Reichstag in Frankfurt seine Zusagen. Der Würzburger Traum von der Reichsfreiheit endete dann endgültig am 11. Januar 1400 in der Schlacht bei dem Dorf Bergtheim mit der völligen, überaus blutigen Niederlage der Städter. Der Bischof ließ einige der Anführer hinrichten, die Stadt musste hohe Summen als Reparationen bezahlen, viele wurden gedemütigt, ein Großteil gerade der vermögenden Bürger wanderte aus. Die Einwohnerzahl halbierte sich. Würzburg verlor seine Rolle als führende Stadt in Franken endgültig an die Freie Reichsstadt Nürnberg. Das Gedicht ,Vom Würzburger Städtekrieg‘ enthält eine detaillierte Darstellung der Ereignisse aus bischöflicher Sicht. Es ist eine eindeutige Tendenzdichtung, kein historischer Bericht. Erhalten geblieben ist es, weil ein Unbekannter es 1527 als gedruckte Flugschrift nach dem Bauernkrieg, der 1525 erneut eine Auseinandersetzung zwischen Stadtgemeinde und Bischof gebracht hatte, offenbar als Warnung für die Stadtgemeinde publizierte.19 Der Anonymus von 1527 betätigte sich offensichtlich auch als Redaktor, der eine größere Anzahl 19 Vgl. dazu im Einzelnen Schubert, Lieder vom Würzburger Städtekrieg. Faksimile des unikalen Druckes: http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00048858/image_49 [11. 10. 2012].

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ursprünglich selbständiger kürzerer Gedichte mehr oder weniger notdürftig zu einem Konglomerat zusammenstellte.20 Tendenzdichtungen dieser Art waren damals gängige Medien zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Die Texte wurden durch Sprecher vorgetragen oder in Abschriften verbreitet. Auseinandersetzungen aller Art, auch Kriege, wurden und werden stets auch mit literarischen Mitteln ausgetragen. Darin geht es selbstverständlich um die Meinungshoheit. Jede Seite beansprucht die Wahrheit, die Berechtigung des eigenen Handelns für sich. Der Gegner oder Feind wird diffamiert, lächerlich gemacht, dämonisiert, wobei man in der Wahl der literarischen Mittel alles andere als zurückhaltend verfährt. Das Würzburger Gedicht braucht hier nicht in allen Details besprochen zu werden, ich wende mich gleich dem in unserem Zusammenhang interessanten Punkt zu.21 Zu Beginn werden die Würzburger Bürger als plind an gu˚ten witzen (V. 4) bezeichnet, d. h. als jeden Verstandes bar, kennzeichnend für sie ist ihr übermu˚t (V. 398). Der städtische Rat ist tumb (V. 31), voller dorheit (V. 32) und falsch (V. 36). Der auf diese Weise diffamierte Rat verschwört sich illegal gegen Bischof und Geistlichkeit. Ratsherren, die Einwände haben, werden umgebracht, der Großteil der ärmeren, politisch einflusslosen Bevölkerung, die Häcker, d. h. die Weinbauern, werden gegen den Landesherrn instrumentalisiert – nur die armen Handwerker verweigern sich. In unserem Zusammenhang ist interessant, dass die aufständischen Städter ganz und gar durch die Brille der Neidhartliteratur gesehen und damit lächerlich gemacht werden. In genauer Übereinstimmung mit dem Bauernbild der Neidharttradition werden die Würzburger als töricht, ehrlos, streitsüchtig, aber feige charakterisiert. Sie sind nicht mit dem zufrieden, was sie haben und sind, sondern sie wollen sich über ihren Stand erheben und selbst herrschen. Mehrere der typischen Züge der Neidhartliteratur werden aufgenommen und zum Teil breit ausgemalt. So findet sich etwa ein Namenskatalog, wie er in der Neidharttradition gang und gäbe ist. Die Städter werden darin ausdrücklich als „Neidhartsknechte“ bezeichnet – an anderer Stelle werden sie „Neidharte“ (V. 844) genannt – und es wird von ihrem Reihen, ihrem Tanz, gesprochen. Der bäuerliche Tanz ist ja der gewöhnliche Anlass für den Ausbruch von Streitigkeiten. Es heißt an einer Stelle:

20 Der als Dichter an einer Stelle einmal genannte Bernhard von [d. h. aus] Utzingen (Uissigheim) war wahrscheinlich nur Verfasser eines der Teile. 21 Vgl. auch Horst Brunner, Verkürztes Denken. Religiöse und literarische Modelle in der politischen Dichtung des deutschen Mittelalters, in: ders., Annäherungen. Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Philologische Studien und Quellen, 210), Berlin 2008, S. 272 – 290, bes. S. 284 – 286.

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Sporlin Lorlin Steckru˚be, an den hieng ein groß gebu˚be, in der stat die ganze gemein, jung alt groß und klein, Maffel Melber Mulbach den was ze disen dingen gach. Henn und ouch Müllnäre den gefielen wol die märe, derselben Nithartes knechte kan ich nit alle genennen rechte. Kurzwil und Hemlin Holin woldn auch an irem reien sin, der Schnurer unde Hanspolt wolden haben kein gedold. (V. 445 – 458) Sporlin, Lorlin, Steckrübe hatten ein großes Lumpenpack zu Anhängern, nämlich die ganze Stadtgemeinde, Jung, Alt, Groß und Klein. Maffel, Melber und Mulbach pressierte es, sich anzuschließen. Henn und Müllner, denen gefiel die ganze Geschichte. Ich kann nicht alle „Neidhartsknechte“22 namentlich erwähnen. Kurzwil und Hemlin und Holin wollten auch bei dem Reigentanz dabei sein. Der Schnurer und Hansbolt zögerten nicht.

Die meisten der genannten Städter sind übrigens urkundlich nachweisbar, es handelt sich keineswegs um literarische Erfindungen. Es gibt auch einen Hinweis auf einen der bekanntesten Neidhartschwänke, den oben bereits erwähnten Fassschwank. Die Würzburger laufen zusammen wie die Bauern, die Neidhart, der ihre Reden, ihren Tanz und ihre Rauferei in einem Fass belauscht hat, vergeblich zu fangen versuchen: Snurrenpfil dem bütenäre gefielen wol dieselben märe. „So tu˚n wir unsern harnisch an! nieman uns bestriten kan!“ E er die wort gar gesprach, drütusent liefen hinden nach, hin und her von gaß zu gaß; si ducht der Nithart wär im faß. (V. 1151 – 1158) Dem Büttner Schnurrenpfeil gefielen diese Sachen. „Ziehen wir unseren Harnisch an, keiner kann es mit uns aufnehmen!“ Bevor er ausgesprochen hatte, liefen 3.000 hinter ihm her von Gasse zu Gasse. Sie glaubten, Neidhart stecke im Fass.

22 Das Wort bedeutet: „Bauerntölpel, wie man sie von Neidhart her, aus der Neidharttradition, kennt“.

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Der Neidharttradition entlehnt ist schließlich auch die spöttische Beschreibung der Bewaffnung der Würzburger, wie sie ganz ähnlich auch in Wittenwilers ,Ring‘ begegnet: Die burger liefen hin und her, einer licht, der ander swer. Ir maneger was gewapent wol, auch was sin blase wines vol. Ir maneger einen kittel häte, das was sin osterlich gewäte, sin schild was ein korb mit miste, damit er wib und kind friste, ein grober filz sin isenhu˚t, in den hadern er da wu˚t. Sin blate was ein alte schop, darin het er der burger lob; sin koller und sin beingewand das het die sunn im gar verbrant […]. (V. 311 – 324) Die Bürger liefen hin und her, einer leicht, der andere schwer. Viele von ihnen waren gewappnet, ihre Blasen waren voll von Wein. Viele hatten gewöhnliche Kittel als Festkleider. Der Schild war ein Mistkorb, womit man Weib und Kind retten wollte. Ein derber Filz diente als eiserner Helm – in diesen Lumpen tobten sie herum. Der Brustpanzer war eine alte Joppe – dafür wurde man gelobt. Koller und Beinschienen bestanden aus der sonnenverbrannten Haut […].

Der oder die Autoren im Dienste des Bischofs „bewältigten“ das Problem des Aufstandes der Würzburger Bürger gegen ihren angeblich gottgesetzten Herrn, indem sie die Städter mit den vertrauten, allgemein als zwar ungebärdig, aber doch auch lächerlich empfundenen Bauerntölpeln der Neidharttradition identifizierten. Auch hier findet sich im Übrigen – wie im ,Großen Neidhartspiel‘ – eine Szene, aus der hervorgeht, dass hinter allem der Satan stecke, der seinem höllischen Herrn Luzifer zuarbeite (V. 634 ff.). Über den Ausgang der Erhebung der Städter kann es aus dieser Sicht gar keinen Zweifel geben – den kennt man gewissermaßen schon aus der Neidhartliteratur. Die tatsächlichen Ursachen für den Aufstand treten nicht in das Blickfeld. Der Leser oder Hörer braucht sich keine eigenen Gedanken über die wahren Sachverhalte zu machen – durch das vorgegebene populäre Denkmuster wird ihm diese Mühe erspart.

5.

Fazit

Bäuerliche oder auch städtische, gegen die weltliche oder geistliche Oberschicht gerichtete Gewaltgemeinschaften wurden im deutschen Spätmittelalter öfter in

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dem von der Neidhartliteratur vorgegebenen stereotypen Bild gesehen. Durch sie wurde der „richtige“ Blick auf den dritten Stand gewissermaßen eingeübt – und was literarisch gängig war, das konnte ohne weiteres auch auf außerliterarische Realität angewendet werden. Auf diese Weise wurde Zuschauern, Hörern und Lesern gewissermaßen ohne eigenes Nachdenken der Unterschied zwischen den legitimierten adligen und den illegitimen bäuerlichen oder städtischen Gewaltgemeinschaften klar gemacht. Es gibt keine wirkliche Trennung von Leben und Literatur. Wir alle sind in unseren Sichtweisen, beileibe nicht nur im politischen Bereich, von Kindheit an programmiert durch literarische Texte, durch Märchen und biblische Geschichten etwa, durch Fabeln, durch Sprichwörter, durch Romane aller Art, Filme usw. Wir neigen dazu, uns durch die Berufung auf gängige, weithin akzeptierte Denkmuster eigenes, der jeweiligen Sache angemessenes, differenziertes Nachdenken zu ersparen. Oft muss erst das Leben uns lehren, dass vorgegebene Denkmuster keineswegs allgemeine Gültigkeit besitzen. Etwa: dass der Böse immer bestraft wird; dass der scheinbar oder tatsächlich Dumme am Ende der Gewinner ist; dass jener, der alles erduldet, am Ende belohnt wird; dass jeder seines Glückes Schmied ist – was ja leider nur dann stimmt, wenn die Umstände entsprechend sind. Völlig frei von derartigen Denkmustern ist man natürlich nie, man kann es nicht sein, da das Leben fortlaufend Probleme aufgibt, die man gefühlsmäßig oder gedanklich ohne Rückgriff auf Auseinandersetzung mit vorgegebenen Mustern oder Modellen kaum bewältigen kann. Bei den erwähnten Beispielen geht es um Stereotype, um Denkmuster, die den einzelnen betreffen. Von nicht minder großer Bedeutung ist die Vorgabe von Denkmustern im öffentlichen Bereich. Bei jeder Auseinandersetzung zwischen politischen Gruppen erscheint es als wichtig, auch moralisch im Recht zu sein. Das Geschichtsbild ist deshalb in aller Regel das der Sieger. In solchen Zusammenhängen wird meist bedenkenlos manipuliert, es werden vorgefertigte Denkschemata und traditionelle Vorurteile aktiviert, mit denen man den Gegner oder den Feind in das denkbar schlechteste Licht rückt und durch die eigenes Nachdenken verhindert werden soll. Auch im gegenwärtigen alltäglichen demokratischen politischen Leben, in der Auseinandersetzung der Parteien, versucht jede, wichtige Begriffe in ihrem Sinn positiv zu besetzen, den Gegner durch Zuweisung negativ definierter Begriffe zu diffamieren. Der vorliegende Versuch verdeutlicht, dass dieses Procedere Tradition hat – alles andere als eine ehrwürdige Tradition!

Martin Kintzinger

Brigands. Gewaltformationen im französischen Spätmittelalter

1.

Das Thema als Tradition „Man trifft hier Bösewichter an, die Erstaunen abzwingen, ehrwürdige Missetäter, Ungeheuer mit Majestät; Geister, die das abscheuliche Laster reizen, um der Größe willen, die ihm anhänget, um der Kraft willen, die es erforderte, um der Gefahren willen, die es begleiten. Man stößt auf Menschen, die den Teufel umarmen würden, weil er der Mann ohne seinesgleichen ist“.1

Gewaltige Worte und große Gesten, notiert ausgerechnet während der Ostermesse 1781. Der Verfasser dieser Zeilen hatte ein dramatisches Schauspiel geschrieben, sein erstes, und nun die Vorrede dazu verfasst, entschlossen und überzeugt von seinem Gegenstand und zugleich besorgt um dessen Wirkung: „[Man wird, M. K.], fürcht ich, […] meine Absicht vereiteln, wird vielleicht eine Apologie des Lasters […] darin zu finden meinen“.2 So riet er schließlich selbst davon ab, das Stück auf die Bühne zu bringen, und veröffentlichte es 1781 zunächst anonym, ohne die emphatische Vorrede und unter dem schlichten Titel „Die Räuber“. Sein Zögern war begründet, denn nachdem es ein Jahr später doch zu einer Uraufführung gekommen war, löste das Stück einen Skandal aus. Der Dichter wurde zwei Wochen lang inhaftiert und von der Zensur abgestraft, sein Name war aber mit einem Schlag bekannt geworden: Friedrich Schiller (1759 – 1805). Später, 1792, sollte er wegen seiner „Räuber“ zum Ehrenbürger der revolutionären französischen Republik ernannt werden. Wie bekannt zumindest der Titel seines Werkes in Frankreich war, zeigte sich noch anlässlich der Uraufführung der letzten großen Oper von Jacques Offenbach (1819 – 1880) in Paris 1869. Auch sie handelte von einer Räuberbande. Offensichtlich um eine Verwechslung mit Schillers Drama zu vermeiden, wurde für die Räuber und somit den Titel der Oper nicht der ursprüngliche Begriff „les bandits“ verwen1 Friedrich Schiller, Die Räuber, in: Sämtliche Werke 1, 8. Aufl., München/Darmstadt 1987, S. 481 – 618, hier [Unterdrückte] Vorrede S. 482. 2 Ebd., S. 487; fast wortgleich, in kürzerer Fassung S. 483.

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det, sondern auf eine ältere französische Wortbildung zurückgegriffen: „Les brigands“. Offenbachs Räuber sind allerdings eher komische Gestalten mit satirischen Qualitäten, die sich am Ende eines Besseren belehren lassen und ihre Existenz legalisieren. Unter Verweis auf Offenbach wirken die Räuber im Übrigen noch in der heutigen Theaterlandschaft Frankreichs als Kennwort; eine 2000 gegründete Kompanie mit einem Programm aus satirischen Stoffen und historischen Sujets nennt sich entsprechend Les brigands.3 Das Motto in Schillers Drama hingegen, die Schwurformel der Räuberbande, „Tod oder Freiheit“, brachte des Dichters Anliegen auf einen anderen Begriff: Die Straftaten der Räuber sollten nicht legitimiert, aber im möglichen Einzelfall (so bei dem Protagonisten Karl von Moor) als unausweichliche Folge der Ungerechtigkeiten und Zwänge erkannt werden, als welche sich die Fürstenherrschaft der Zeit darstellte und wogegen die Freiheitsforderungen der Menschen gerichtet waren. Die Räuber symbolisierten jene Kritiker ihrer Zeit, die unter der Gewalt des Despotismus und der Zensur zu leiden hatten und die in ihrem Streiten für Gerechtigkeit und Freiheit in die Illegalität abgedrängt worden waren.4 Unausgesprochen steht hinter dem Drama, das die Züge des literarischen Sturm und Drang trägt, eine sehr alte Rechtsvorstellung: Wenn die Herrschaft ihre gottgewollte oder natürliche Pflicht zur Gerechtigkeit, das Regimen iustum, missachtet, ist Widerstand gerechtfertigt. Wenn Herrschaft durch unkontrollierte Gewalt illegitim und, weil auch der Herrscher unter dem Gesetz steht, zugleich illegal wird, ist Widerstand legitim und legal.5 Dreißig Jahre nach Schiller, 1808/1810, gestaltete Heinrich von Kleist (1777 – 1811) die überlieferten Vorstellungen von Gerechtigkeit und Recht, legitimem Widerstand und der Rechtsgewohnheit der Fehdeführung in seiner Novelle „Michael Kohlhaas“, nach einem authentischen Ereignis aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts.6 Schillers Räuber folgten keiner besonderen historischen 3 http://www.lesbrigands.fr/comp.html [22. 2. 2012]. 4 Ebd., Vorrede [zur ersten Auflage], S. 486 f.: „Diese unmoralischen Charaktere, von denen vorhin gesprochen wurde, mussten von gewissen Seiten glänzen, ja oft von Seiten des Geistes gewinnen, was sie von Seiten des Herzens verlieren. […] auch dem Lasterhaftesten, ist gewissermaßen der Stempel des göttlichen Ebenbilds aufgedrückt, und vielleicht hat der große Bösewicht keinen so weiten Weg zum großen Rechtschaffenen als der kleine“. 5 Vgl. Martin Kintzinger / Jörg Rogge (Hg.), Königliche Gewalt – Gewalt gegen Könige. Macht und Mord im spätmittelalterlichen Europa (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 33), Berlin 2004. 6 Vgl. Christoph H. F. Meyer, Freunde, Feinde, Fehde. Funktionen kollektiver Gewalt im Frühmittelalter, in: Jürgen Weitzel (Hg.), Hoheitliches Strafen in der Spätantike und im frühen Mittelalter, Köln 2002, S. 211 – 266; Christine Reinle, Umkämpfter Friede. Politischer Gestaltungswille und geistlicher Normenhorizont bei der Fehdebekämpfung im deutschen Spätmittelalter, in: Stefan Esders / Christine Reinle (Hg.), Rechtsveränderungen im politischen und sozialen Kontext mittelalterlicher Rechtsvielfalt, Münster 2005, S. 147 – 174;

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Vorlage. Beide, Kleist und Schiller, waren sich aber unzweifelhaft der rechtsgeschichtlichen Kontexte bewusst, die sie mit den gewählten Sujets aufriefen und die weit in das europäische Mittelalter zurückführen. Nicht „rohe Gewalt“ seien nach dem heutigen Forschungsstand die Akte mittelalterlicher Fehdeführung gewesen, wie der Rechtshistoriker Martin Pilch 2009 resümierte. Vielmehr stellten sie einen „Kampf um Recht und zugleich Krieg im kleinen“ dar, der seinen Ausgangspunkt im Kampf um faktisch oder behauptungsweise verletztes Recht fand. Dieser Kampf legitimierte Gewaltakte dann, wenn sie der Wiederherstellung von Recht dienten, analog zur Legitimität des Kriegsgrundes innerhalb des ius ad bellum. Als legitimes Rechtsmittel war die Fehde aus der Sicht der aktuellen rechtshistorischen Forschung indes gerade keine Selbsthilfe, weil diese sich nur als terminologisches Gegenstück zu einer staatlichen Rechtsdurchsetzung (umgangssprachlich dem staatlichen Gewaltmonopol) denken lässt, das im Mittelalter noch nicht vorhanden war.7 Wenn es aber den Gegensatz, das Gewaltmonopol, noch nicht gegeben hat, dann kann es die Selbsthilfe als Zuwiderhandlung dagegen auch noch nicht gegeben haben. Für die folgenden Ausführungen wird dieser Zusammenhang entscheidend sein und nur daher ist hier der Exkurs zur Fehde notwendig: Die Beurteilung der Handlung von Räuberbanden entscheidet sich daran, ob sie, als Akte physischer Gewalt (im Sinne des lateinischen violencia), einen Geltungsgrund als legitime Gewalt (im Sinne der potestas) beanspruchen können. Der Philosoph Giorgio Agamben hat in einer Abhandlung über den Ausnahmezustand 2003 sein Plädoyer für die Bindung der Gewalt an das Recht in genau dieser Dichotomie zusammengeführt.8 Trifft nun der Legitimitätsanspruch nicht zu, so sind die Taten der Räuber als bloßer Rechtsbruch, als Friedensstörung und Straftat zu werten. Andernfalls, wenn sie einen Legitimitätsanspruch vertreten, erscheint das Handeln der Räuber als politisches Instrument einer Rechtsfindung, die sich aus Vorstellungen von Rechtlichkeit im Herrschaftshandeln und von VerteiChristine Reinle, Fehden und Fehdenbekämpfung am Ende des Mittelalters. Überlegungen zum Auseinandertreten von „Frieden“ und „Recht“ in der politischen Praxis zu Beginn des 16. Jahrhunderts am Beispiel der Absberg-Fehde, in: Zeitschrift für Historische Forschung 30, 2003, S. 355 – 388. Zum Begriff der Rechtsgewohnheiten, der in der aktuellen rechtshistorischen Forschung statt des bislang gebräuchlichen Begriffs des Gewohnheitsrechts präferiert wird: Martin Pilch, Der Rahmen der Rechtsgewohnheiten. Kritik des Normensystemdenkens entwickelt am Rechtsbegriff der mittelalterlichen Rechtsgeschichte, Wien/Köln/Weimar 2009, mit zahlreichen Nachweisen zum Rechtsinstrument der Fehde; zu ihrer politischen Instrumentalisierung als Widerstand S. 149: „Noch im 15. Jahrhundert wird rechtmäßig – sogar und gerade auch gegen den König – Fehde geführt“. 7 Pilch, Rahmen, S. 153. Zur dialektischen Herleitung der Definition des modernen Staates als Überwinder und Erbe des Fehdeverhältnisses: ebd., S. 157. 8 Giorgio Agamben, Ausnahmezustand (Homo sacer, II,1), Frankfurt/Main 2004 [italien. Original 2003], S. 103 f.

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lungsgerechtigkeit begründen. Räuber handeln dann in Reaktion auf soziale oder rechtliche Ausgrenzung und zugleich die damit verbundene materielle Not. Sie stehen dabei nicht nur für sich selbst, sondern vielfach auch für andere ihresgleichen oder allgemeiner für Ausgegrenzte, Benachteiligte, Notleidende und Entrechtete. Hierzu zählen jene legendarischen Heldenfiguren, die sich in der englischen Geschichte des 13. Jahrhunderts und seither etablierten und bis in die Filmproduktion der heutigen Gegenwart hinein, vielfach verwandelt, von ungebrochener Popularität sind: William Wallace etwa (im modernen Film Braveheart, 1995 mit Mel Gibson in der Hauptrolle), der auf eine historische Figur zurückgeht, oder Robin Hood (soeben, 2010, mit Russel Crowe als Titelheld verfilmt), der vermutlich von Beginn nicht mehr als eine typologische Verdichtung von Widerstandsfiguren und Gerechtigkeitsvorstellungen war. Im Übrigen versteht die heutige, jüngste Verfilmung Robin Hood eben nicht, wie zuvor üblich, als Rächer der Entrechteten, sondern zeigt gerade, wie er, einer aus geordneter Existenz, dazu kam, sich gegen die Ordnung zu stellen und sich in die Wälder zurückzuziehen.9 Auch der vielberufene Raubritter der spätmittelalterlichen Reichsgeschichte ist ein Beispiel dafür (wenngleich er sich kaum für filmische Heroisierung eignet): Er war Räuber, wenn er Kaufleute überfiel, zugleich aber Fehdeführer, wenn er einer Stadt und ihren Bürgern den Streit erklärt hatte.10 In jedem Fall kämpfte er den verlorenen Kampf einer funktionslos gewordenen Kriegerelite in einer Zeit, die sich den Anfängen moderner Staatlichkeit und ihrer Gewaltregulierung verschrieben hatte.11 In seinem äußeren Erscheinungsbild ist er eben deshalb nicht von seinen ordnungsgemäß handelnden Standesgenossen zu unterscheiden: Rüstung, Waffen und Habitus des Raubritters erwiesen ihn als Ritter, erst seine Taten als Räuber.

2.

Theorien und Turbulenzen

An diesem Punkt – dem Verhältnis von „staatlicher“ Gewalt und selbstorganisierten Gewalten – setzen die Diskussionen der Gießener Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ an. Sie beziehen historische Exempla programmatisch auf eine aktuelle Realität: den faktischen Verlust des grundsätzlich gegebenen, staatlich begründeten Gewaltmonopols in Zeiten des internationalen Terrorismus im 21. Jahrhundert. Nicht nur die Aktualität des Themas ist damit ange9 Verena Lueken, Die Kunst des Bogenschützen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Mai 2010, S. 31. 10 Vgl. die Beiträge Kurt Andermann (Hg.), in: „Raubritter“ oder „Rechtschaffene vom Adel“?, Sigmaringen 1997. 11 Joachim Ehlers, Die Ritter. Geschichte und Kultur, München 2006, S. 96 – 99.

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sprochen. 2009 hat der New Yorker Anthropologe Arjun Appadurai das Scheitern der Staaten an der Durchsetzung ihres Gewaltmonopols gegenüber den terroristischen Risiken der Globalisierung und angesichts eines expandierenden Angebots von privaten Sicherheitsanbietern beschrieben.12 Auf der Gegenseite sind es, wie er sagt, „kleine Gruppen“, ihrerseits global vernetzt, mobil und flexibel, unabhängig von jeglicher staatlichen Ordnung, die als Kern des globalen Terrorismus das größte Gefahrenpotential in der gegenwärtigen Welt darstellen. Sie handeln, so die These Appadurais, aus der Situation einer Minorität gegenüber den global expandierenden Majoritäten heraus.13 Damit negieren jene „kleinen Gruppen“ faktisch das zentrale staatliche Gewaltmonopol und bewirken folgerichtig einen Zerfall staatlicher Macht in konkurrierende Machtzentren. Genau so hat der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma in seiner vielbeachteten Studie von 2008 den Prozess einer, wie er es nennt, dynamischen Entmonopolisierung beschrieben.14 Mit ähnlichen Parametern arbeitet der Erklärungsansatz der „neuen Kriege“, wie ihn der Berliner Politologe Herfried Münkler seit einigen Jahren etabliert, um den terroristischen Krieg des 21. Jahrhunderts gegen die früheren Kriege der Blöcke und der Nationalstaaten abzugrenzen.15 Eine der jüngsten Spielarten solcher „kleiner Gruppen“ und neuer Kriege sind die Piraten vor der somalischen Küste, die der seit der Antike und dem Mittelalter geschriebenen Geschichte der Seeräuber ein modernes Kapitel hinzufügen. In seiner 2009 erschienenen Geschichte der Piraterie weist der Konstanzer Historiker Michael Kempe darauf hin, dass die somalischen Piraten ihr Tun selbst aus der Bedrohung ihrer Lebensgrundlagen durch internationale Fischereiunternehmen legitimieren.16 Solche Feststellungen der heutigen Forschungsliteratur haben selbstverständlich nicht die Absicht, Unrecht mit Unrecht aufzurechnen oder die kriminellen Taten moderner Piraten durch falsch verstandene Historisierung zu entschuldigen. Indem aber die historischen, kulturellen und ökonomischen Hintergründe ihrer Genese berücksichtigt werden, dringt man zu einer differenzierteren, kontextuellen Beurteilung der Räuber und ihrer Taten vor. Dieser Ansatz wiederum ist für das Verständnis vergleichbarer Figuren und ihrer Handlung in der historischen, auch der mittelalterlichen Realität, hilfreich. Von romantischen Vorstellungen abenteuerli12 Arjun Appadurai, Die Geographie des Zorns, Frankfurt/Main 2009 [engl. Original 2006], S. 55, zur konstitutiven Bedeutung von Gewalt bei der Formation von Staaten S. 57. 13 Ebd., S. 94 – 99. 14 Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 179. 15 Vgl. Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2002; ders., Der neue Golfkrieg, Hamburg 2003; ders., Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswirst 2006. 16 Michael Kempe, Piraten. Wissen was stimmt, Freiburg/Brsg. 2009, S. 10 f., 113 f.

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cher Räuberhauptleute bleibt dann nichts mehr übrig. Erst auf dieser Grundlage kann die von Reemtsma beschriebene „Selbstfaszination durch die Selbstermächtigung zur Gewalttat“17 verstanden werden. Unser Thema enthält eine Vielzahl von strukturellen Facetten, die sich hinter der abenteuerlichen Fassade von Räubergeschichten verbergen. Drei Varianten des Typus eines Räubers sind nach den bisherigen Ausführungen zu unterscheiden: Erstens der kriminelle Dieb und Wegelagerer, der aus niederen Beweggründen (wenn auch vielleicht mit unlauterer Vortäuschung höherer Absichten) anderer Menschen Gut und Eigentum raubt, zweitens der tatsächlich aus Zwang der Umstände motivierte Räuber, der um eigener und anderer Not willen Güter und Geld raubt, drittens der von der Gesellschaft durch Entrechtung, Status- oder Funktionsverlust an den Rand Gedrängte, der sich gegen seine Ausgrenzung wehrt und dadurch in der Illegalität handelt. Letzterer, der einmal Rang und Auskommen besaß und nun verloren hat, vermag auf wiederum drei verschiedene Arten zu reagieren: Er kann, zunächst, den Zustand seiner Ausgrenzung bekämpfen und um Teilhabe und Wiedereingliederung ringen, er kann sodann sich durch Widerstand und Obstruktion für das ihm Widerfahrene rächen und eine Gegenordnung etablieren und er kann schließlich schlicht sein Überleben sichern, indem er sich mit allen verfügbaren, auch illegalen Mitteln, selbst organisiert. Grundsätzlich zu unterscheiden ist bei alledem, ob die Betreffenden ein für alle Mal und unwiderruflich aus der Gesellschaft und der Ordnung legalen Handelns ausgeschieden sind, sich endgültig von ihr abgewandt haben und ausgeschlossen wurden, oder ob sie unter bestimmten Umständen wieder zurückkehren können. Diese Unterscheidung ist für moderne, staatliche Verhältnisse rechtlich eindeutig geregelt, nicht hingegen für vormoderne, vorstaatliche Verhältnisse. Im Mittelalter dominierte unter solchen Umständen nicht rechtliche Klarheit, sondern personelle Zugehörigkeit: Wer aus der Ordnung von Herrschaft und Gefolgschaft herausfiel, hatte seine Zugehörigkeit verloren. Er leistete keinen Dienst mehr für einen legitimen Herrn und genoss keines Herrn Schutz. Wenn es ihm aber gelang, sich wieder in die Zugehörigkeit eines legitimen Herrn einzugliedern, war er wieder Teil der Herrschaftsordnung. Das Gast- und Fremdenrecht funktionierte nach diesen Regeln und ebenso die Unterscheidung von Leuten, die Kriegsdienste im Auftrag legitimer Herren leisteten von solchen, die „auf eigene Rechnung“ agierten.18 Zeitgleich konnte es 17 Reemtsma, Vertrauen, S. 526. 18 Vgl. exemplarisch Marie Theres Fögen (Hg.), Fremde der Gesellschaft. Historische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Differenzierung von Normalität und Fremdheit, Frankfurt/Main 1991; Irene Erfen / Karl-Heinz Spieß (Hg.), Fremdheit und Reisen im Mittelalter, Stuttgart 1997. Als theoretische Erklärungsansätze: Georg Simmel, Exkurs über den Fremden, in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung

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sich dabei um zwei verschiedene Formationen handeln, von denen die eine aus einer Zugehörigkeit heraus agierte, die andere nicht. Es konnten aber – und hier liegt die Bedeutung dieses Zusammenhanges für unser Thema begründet – dieselben Personen sein, die einmal als Zugehörige handelten, ein anderes Mal nicht und umgekehrt. Zugespitzt heißt das: Ihr Handeln wechselte von Legalität zu Illegalität, je nach gegebener oder fehlender Beauftragung durch einen fürstlichen Herrn, und konnte bei nächster Gelegenheit wieder ins Gegenteil umschlagen. Ob das Handeln solcher Personen als legal oder illegal gilt, liegt demnach nicht an einer festen Statuszuordnung der Handelnden, sondern daran, in welchem Zustand von gegebener oder fehlender Zugehörigkeit zu einem Herrn sie sich jeweils befanden. Hinzu kommt die folgenreiche Differenzierung, dass sie im Auftrag legal handelnd als Teilnehmer auf dem Schlachtfeld agierten, ohne Auftrag und illegal handelnd hingegen außerhalb des eigentlichen Kriegsgeschehens als gewalttätige Banden durchs Land zogen, die selbstorganisiert ihre Kampfkraft nur dazu einsetzten, sich selbst zu versorgen. Dass es zugleich zu eigenmächtigen Handlungen regulärer Truppen außerhalb von Kampfhandlungen kommen konnte, zu Übergriffen auf die Zivilbevölkerung, erschwert und kompliziert die Einordnung der Phänomene einmal mehr. Alle genannten Formen von illegaler, räuberischer Existenz können ineinander übergehen, je nach Lage im Einzelfall. Was alle diese Formen gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass gewöhnlich nicht ein einzelner als Räuber von sich reden macht, sondern die Räuber stets als Kollektiv organisiert sind und verstanden werden, das sich selbst eine interne Ordnung gibt und der Herrschaft und Gesellschaft ihrer Zeit eine auf Gewaltpraxis begründete eigene Ordnung entgegenstellt. In der Sichtbarkeit für die Zeitgenossen und in der praktischen Wahrnehmung der Opfer kriegerischer Gewalt vor aller Theorie mussten die Grenzen fließend sein: Wer wollte die Gewaltbereitschaft des Einzelnen bei Übergriffen von Kriegsleuten auf die Zivilbevölkerung danach unterscheiden, ob es sich um reguläre Truppen oder um selbstorganisierte Banden handelte? Wir bleiben dennoch vorerst bei der Theorie mit der folgenden Frage: Wie stellt sich das Verhältnis der Angehörigen einer Gewaltgemeinschaft zu der (Georg Simmel. Gesamtausgabe, 11), Frankfurt/Main 1992 [1908], S. 764 – 771; Hans-Dieter Bahr, Die Sprache des Gastes. Eine Metaethik, Leipzig 1994. Zuletzt Rudolf Stichweh, Weltgesellschaft und Fundamentalismus (2006), in: ders., Der Fremde. Studien zur Soziologie und Sozialgeschichte, Frankfurt/Main 2010, S. 177 – 194, mit der Vorstellung einer Dekontextualisierungsthese, wonach Unterscheidungen zwischen Zugehörigkeit und Fremdheit sich auch unabhängig von traditionalen Kontexten zu halten vermögen, sowie der Annahme von Identitätsartikulationen zur Erklärung fundamentalistischer Selbstverortungen in einer als different wahrgenommenen Umgebung.

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umgebenden Gesellschaft dar, aus der heraus die Gemeinschaft sich formiert hat? In der zitierten rechtshistorischen Diskussion über mittelalterliche Rechtsgewohnheiten geht es um zwei einander anscheinend direkt widersprechende Befunde zur strittigen Legitimität von Gewaltpraktiken, die sich innerhalb eines etablierten Systems der Gewaltregulierung und gegen dessen Geltungsanspruch stellten. Zum einen war nach mittelalterlichem Verständnis eine grundsätzlich vereinbarte Freundschaft (amicitia) zwischen Personen und Gruppen mit einer aktuell begründeten Feindschaft durchaus vereinbar, jedenfalls gleichzeitig möglich. Die feindlichen Parteien einer öffentlich erklärten Fehdeführung mussten also keineswegs notwendig eine zuvor beschlossene gegenseitige Freundschaft verlieren.19 Es ist, mit anderen Worten, denkbar, dass ein Mitglied einer Gewaltgemeinschaft zugleich als Angehöriger anderweitiger Zugehörigkeiten und gefolgschaftlicher Ordnungen zu identifizieren ist. Parteizugehörigkeiten verstanden sich nicht zwangsläufig exklusiv und sie als stabile Größen zu deuten, gehört zu den Missverständnissen unserer Zeit. Hingegen lehrt zum anderen die aktuelle rechtshistorische Diskussion auch, dass man nicht unbedingt von der Annahme ausgehen sollte, Streitparteien seien zwangsläufig weiterhin Bestandteile einer gemeinsamen politischen (Herrschafts-)Ordnung geblieben. Stattdessen könnte die Annahme überlegenswert sein, „dass jede Fehde mit dem Bestehen gegeneinander gerichteter politischer Einheiten gleichzusetzen […] und damit notwendig das Zerbrechen jeder zuvor bestehenden übergreifenden politischen Einheit verbunden ist“.20 Hieraus ergeben sich folgende Leitfragen für unser Thema: Legitimierten Gewaltgemeinschaften im spätmittelalterlichen Europa ihr Gewalthandeln aus dem Anspruch einer Rechtsposition? Wenn Gewaltgemeinschaften sich aus der Ordnung der Gesellschaft ihrer Zeit herausnahmen und tendenziell gegen sie stellten, waren dann zuvor bestehende Bindungen und Zugehörigkeiten ihrer Mitglieder abgebrochen oder konnten sie latent weiter bestehen? Blieben die Gewaltgemeinschaften und ihre Mitglieder zugehöriger Teil einer übergeordneten politischen Einheit (einer Gefolgschaft oder Herrschaft), verloren sie diese Zugehörigkeit oder brachen sie die übergeordnete Einheit gar auf, indem sie sich selbst zu politischen Einheiten entwickelten? Gleich, welche Antworten auf diese Fragen zu finden sein werden: Das Bild des Mittelalters als Epoche ungezügelter Gewalt wird nicht mehr dabei herauskommen. Noch 1994 überschrieb der Journalist und Politikberater Alain Minc seinen monographischen Kommentar zu den Abscheulichkeiten des da-

19 Ebd., S. 157. 20 Pilch, Rahmen, S. 156.

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maligen Balkan-Krieges mit der griffigen Formel „Le nouveau Moyen Age“.21 Eine Phase exzesshafter Gewaltakte und der Abwesenheit jeglicher Steuerung durch staatliche Instanzen wollte er damit auf den Punkt bringen. Die Deutung des Mittelalters über unkontrollierte Gewalt ist allerdings auch in der öffentlichen Wahrnehmung längst überwunden. Wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Kulturgeschichte des Krieges und der Gewaltpraxis im Mittelalter sowie die öffentlichkeitswirksame Vermittlung von deren Ergebnissen haben inzwischen erheblich zur Relativierung beigetragen.22 Dabei soll und kann die Gewalthaftigkeit der Konfliktaustragung im Mittelalter nicht relativiert, sondern aus den strukturellen Bedingungen ihrer Zeit heraus erklärt und verstanden werden. Die Untersuchung der Kultur der Zeichen und Rituale beispielsweise hat Verständnishorizonte eröffnet, die dem modernen Zugang zu den Text- und Bildüberlieferungen des Mittelalters zuvor nicht ohne weiteres naheliegend waren.23 Zunächst vor allem in der französisch-, dann auch in der englischsprachigen Mittelalterforschung entwickelt, hat sich die Kriegsgeschichte mit kulturwissenschaftlichem Ansatz mittlerweile auch in der deutschsprachigen Mediävistik etabliert.24 Selbst die für das 21. Jahrhundert entwickelte (und bis heute umstrittene) These des US-amerikanischen Politologen Samuel Huntington vom Clash of Civilizations, wonach weniger ideologische oder sozioökonomische als vielmehr kulturelle Konflikte die moderne Gegenwart prägen sollten, ist mittlerweile (jedenfalls in der französischen Mittelalterforschung) aufgenommen, allerdings bislang nur auf die gemeinsame Geschichte von Islam und Christentum appliziert und noch kaum mit der gleichzeitig weiterentwickelten Kulturgeschichte des Krieges zusammengeführt worden.25 Nach dem aktuellen Diskussionsstand werden insbesondere von der 21 Alain Minc, Le nouveau Moyen Age, Paris 1994. 22 Vgl. Malte Prietzel, Kriegführung im Mittelalter. Handlungen, Erinnerungen und Bedeutungen, Paderborn 2006. Eine auch nur akzentsetzende Übersicht über die zahlreichen einschlägigen Veröffentlichungen ist hier nicht beabsichtigt. 23 Vgl. Michael Jucker, Le butin de guerre au Moyen Age. Aspects symboliques et ¦conomiques, in: Francia 36, 2009, S. 113 – 133; Valentin Groebner, Menschenfett und falsche Zeichen. Identifikation und Schrecken auf den Schlachtfeldern des späten Mittelalters und der Renaissance, in: Steffen Martus / Marina Münkler / Werner Röcke (Hg.), Schlachtfelder. Codierung von Gewalt im medialen Wandel, Berlin 2003, S. 21 – 32; Birgit Emich / Gabriela Signori (Hg.), Kriegs/Bilder in Mittelalter und Früher Neuzeit (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 42), Berlin 2009. 24 Vgl. Michael Jucker, Verstetigung und Verrechtlichung der Diplomatie. Krieg als Innovationsfaktor für die Politik (1415 – 1460), in: Peter Niederhäuser / Christian Sieber (Hg.), Ein „Bruderkrieg“ macht Geschichte. Neue Zugänge zum Alten Zürichkrieg, Zürich 2006, S. 43 – 53. 25 Jean-Paul Roux, Un choc de religions. La longue guerre de l’islam et de la chr¦tient¦ 622 – 2007, Paris 2007; Hans-Henning Kortüm (Hg.), Transcultural wars from the Middle Ages to the 21st century, Berlin 2006.

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seit einigen Jahren expandierenden, für die mittelalterliche Geschichte allerdings erst spät erschlossenen Gewaltforschung künftig weitere Erkenntnishorizonte zu erwarten sein.26 Trotz der weiten gegenwärtigen Forschungsperspektiven ist der hier zu behandelnde Gegenstand bislang in der deutschsprachigen Forschung nahezu ausschließlich (und dies erst seit wenigen Jahren) in Bezug auf ein besonderes historisches Realitätsfeld zur Sprache gekommen, die Geschichte der Söldner. Dieser Befund mag sich unter anderem daraus erklären, dass die dominanten Diskurse entweder einer kulturwissenschaftlichen Relecture der Kriegs- und Gewaltgeschichte galten oder einer Folgeabschätzung zur Globalisierung, so bei der Debatte über den Kampf der Kulturen, die Widersprüche zwischen Gewaltregulation und Gewaltexzess in der Moderne und noch bei den jüngsten Theorien zur Genese des internationalen Terrorismus. Die Geschichte der Söldner ist dagegen zumeist im Rahmen landes- und sozialhistorischer Forschung und/oder mit einem modernen militärhistorischen Ansatz untersucht worden. Auch hier lässt die Zusammenführung gleichzeitiger, aber bislang unverbundener Ansätze noch neue Erkenntnishorizonte erwarten, so etwa hinsichtlich der Frage, inwieweit die Söldner des späten Mittelalters als eine „kleine Gruppe“ in der Definition Appadurais verstanden werden können.

3.

Söldner als Spezialisten

Je nach Standpunkt mag man die Söldner des Mittelalters als Kennzeichen eines Aufbruchs in die Moderne verstehen, dann als Vorbote neuzeitlicher Berufsarmeen im Gegensatz zu den traditionellen Ritterheeren oder als Rückfall in die Barbarei gewaltbetonter Kriegführung, dann im Unterschied zur höfisch zivilisierten Form ritterlichen Kampfes. Im römisch-deutschen Reich kamen beide Deutungen am Ende des 15. Jahrhunderts in bizarrer Form zusammen: Kaiser Maximilian I. ließ sich gern als „letzter Ritter“ titulieren und in reich mit Holzschnitten bebilderten literarischen Werken entsprechend stilisieren. Gerade auf diesen Bildern ist aber zu sehen, dass er weit mehr als seine Vorgänger auf Söldnerverbände setzte. Mit deren Hilfe und unter Einsatz schwerer Artillerie suchte er schnelle Schlachtentscheidungen und war dabei so konsequent 26 Manuel Braun / Cornelia Herberichs (Hg.), Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen, München 2005; in Vorbereitung: Martin Kintzinger / Hanna Vollrath (Hg.), Chivalric heroism or brutal cruelty – how violent were the Middle Ages?; Martin Kintzinger / Frank Rexroth / Jörg Rogge (Hg.), Zwischen Widerstand und Umsturz. Zur Bedeutung politischer Gewalt für die politische Kultur des späten Mittelalters, künftig in: Vorträge und Forschungen. Vgl. Wilhelm Heitmeyer / Hans-Georg Soeffner (Hg.), Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt/Main 2004.

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und erfolgreich, dass er zugleich als „Vater der Landsknechte“ galt.27 Er setzte damit auf eine Entwicklung, die technische Innovation und soziale Mobilität gleichermaßen bedeutete und entsprechend für jene Modernisierung in Anspruch genommen werden kann, welche die traditionale Ordnung der ritterlichen Welt gerade in Frage stellte. Ein Kriegsunternehmer wie Wallenstein (1583 – 1634), der im Dreißigjährigen Krieg durch die politische Instrumentalisierung skrupellosen Eigeninteresses und mit einem geradezu marktorientierten Angebot seiner Soldtruppen ein neues Kapitel Kriegsgeschichte schrieb, ist ein spätes Ergebnis dieser Entwicklung. Wallenstein vermochte es, bei Bedarf die auch für seine Zeit gewaltige Zahl von über 50.000 Söldnern binnen kurzem auszurüsten und einsatzfähig zu machen. Die Verhältnisse einhundert Jahre zuvor waren davon noch weit entfernt, sowohl was die Zahlen, die Bewaffnung und Ausbildung als auch die systematische Führungsstruktur anging. Allgemein schlachtentscheidend und damit zu einem bedeutenden Instrument der Herrschaftspolitik wurden die Söldnerverbände im Reichsgebiet erst seit dem ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert. Hier spielten insbesondere die überaus schlagkräftigen und gefürchteten Eidgenossen eine entscheidende Rolle – zur selben Zeit, als sie auch als Leibgarde des Papstes in Dienst gestellt wurden. Bereits seit dem Ende des 13. Jahrhunderts hatte sich die organisierte Alte Eidgenossenschaft begonnen, als Staatenbund aus dem Reich zu lösen. 1499 errang sie einen weiteren folgenreichen militärischen Sieg über das Haus Habsburg. Die Eidgenossen dienten dem Reich also nicht mehr als dessen Glieder, sondern bereits in selbstbewusst agierenden, vergleichsweise professionalisierten Kampftruppen, die ihren Marktwerkt in unruhigen Zeiten auszunutzen verstanden und gegen entsprechende Soldvereinbarung grundsätzlich jeder Partei zu Diensten standen. Entgegen lang gehegten Vorurteilen handelte es sich bei den eidgenössischen Söldnern keineswegs nur um Angehörige randständiger sozialer Gruppen. Vielfach fanden sich zahlreiche Personen darunter, die in ihren Heimatgemeinden soziales Ansehen genossen und die aufgrund bedrängter wirtschaftlicher Lage oder aus persönlichen Gründen den Kriegsdienst als einträgliches Erwerbsgeschäft entdeckt hatten. Sie alle verband die Fähigkeit zu flexibler Taktik als leichte Infanterie, zu entschiedener Kampfbereitschaft und einer hohen Motivation, die nicht zuletzt durch materielle Anreize wie die Aussicht auf Beute begründet wurde.28 Nach Abschluss aktueller Kampfhandlungen und Erhalt ihres Soldes dienten 27 Ehlers, Ritter, S. 96. Vgl. Peter Burschel, Söldner im Nordwestdeutschland des 16. und 17. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 131), Göttingen 1994. 28 Susan Marti / Peter Niederhäuser, Die Kriegstechnik der Eidgenossen, in: dies. / Till-Holger Borchert / Gabriele Keck (Hg.), Karl der Kühne (1433 – 1477). Kunst, Krieg und Hofkultur [Katalog der Ausstellung Bern/Brüssel 2008/2009], Bern/Brüssel 2008, S. 328.

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sie entweder dem nächsten Auftraggeber oder gingen in ihre Heimatgemeinden zurück. Hinter dieser scheinbar alltäglich klingenden Feststellung verbirgt sich allerdings ein bedeutendes Konfliktpotential, wie noch zu zeigen sein wird. Die Schlagkraft der eidgenössischen Söldnerverbände war legendär und gefürchtet. Dennoch waren sie von einem der mächtigsten europäischen Fürsten seiner Zeit unterschätzt worden, zumal da sie gegen ihn auch noch im eigenen Interesse kämpften. Niemals zuvor hatte es ein Ereignis gegeben wie die Niederlage des sieggewohnten burgundischen Heeres mit dem Schlachtentod Herzog Karls des Kühnen 1477 bei Nancy gegen die Eidgenossen. Erst seit wenigen Jahren hatte sich das Heilige Römische Reich unter den Schlägen der burgundischen Expansionstruppen darauf besonnen, „deutscher Nation“ zu sein und dem König von Frankreich war in Herzog Karl ein übermächtiger Gegner im eigenen Reich erwachsen. Dessen völlig unerwartetes Ende, welches das burgundische Erbe in die Hände der Habsburger brachte und damit die europäische Landkarte nicht unerheblich umschrieb, folgte unmittelbar daraus, dass die Burgunder die taktische Leistungsfähigkeit der eidgenössischen Verbände falsch eingeschätzt hatten. Mit gutem Grund prägen daher die Soldkämpfer aus der Eidgenossenschaft bis heute die Erinnerung an den Untergang des Rittertums. In den westeuropäischen Monarchien war die Indienstnahme von besoldeten Kämpfern schon lange zuvor eingeleitet worden. Spätestens seit dem 14. Jahrhundert hatten sich die traditionellen Ritterheere nachweislich mit mobilen, militärtechnisch versierten Infanterieeinheiten schwergetan und manche Schlacht deshalb verloren.29 In den häufiger werdenden Konflikten zwischen den Reichen griffen die Fürsten zunehmend auf bedarfsbezogen eingeworbene und besoldete Hilfstruppen zurück. Selbst Herzog Karl der Kühne von Burgund hatte die Chancen durchaus erkannt, die darin lagen, sein Heer durch Soldtruppen zu erweitern. Er dachte allerdings an eine funktional passgenaue Ergänzung um solche Einheiten, die das eigene Heer nicht besaß oder die sich durch besondere Leistungsfähigkeit auszeichneten. Mit erheblichem finanziellen Aufwand versuchte er einen berühmten venezianischen Söldnerführer für sich zu verpflichten. Er scheiterte damit aber am Widerspruch Venedigs. Englische Verbände folgten ihm nur deshalb, weil ihr König als Verwandter des Burgunders sie zu dessen Verfügung gestellt hatte. Dass die Stärke von Söldnern gerade in ihrer beliebigen Verfügbarkeit und in der Verbindung von zahlenmäßiger Stärke mit eigenen und ei29 Auf die Unterscheidung von regulären Infanterieeinheiten und Söldnerverbänden soll im Folgenden nicht näher eingegangen werden. Entscheidend für den hier zu behandelnden Zusammenhang ist die militärtaktische Überlegenheit der von beiden Formationen verwendeten Kampftechniken, die im Folgenden zu skizzieren sein wird.

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genwilligen Kampftechniken lag, hatte Karl verkannt. Sein Anliegen galt einer Professionalisierung seines Heeres, das er seit dem Beginn der 1470er Jahre von einem reinen Lehnsaufgebot auf ein stehendes Heer mit starker, moderner Artillerie umrüstete.30 Dieses Vorgehen sollte sich zwar später als die eigentliche Modernisierung des Militärs erweisen, aber der Weg führte nicht über die Söldnertruppen, die im burgundischen Heer keine prägende Rolle spielten, ansonsten aber das Schlachtgeschehen der Zeit prägten. Weil sie in Burgund nur marginal zur Geltung kamen, zogen sie im Gegenzug den Verdacht der mangelnden Verlässlichkeit auf sich. So wusste die burgundische Hofhistoriographie die überraschenden und verheerenden Niederlagen des herzoglichen Heeres im Kampf gegen die Eidgenossen durch Verrat der italienischen Söldner und der Engländer zu erklären. Die Italiener hätten sich nach verlorener Schlacht sogar an der Plünderung des herzoglichen Lagers durch die Eidgenossen beteiligt.31 Anders als in Burgund wurden die Söldner gerade dort nachgefragt, wo die Leistungsfähigkeit des traditionellen Lehnsaufgebots als unzureichend erkannt war, aber die Mittel fehlten, um das eigene Heer zu professionalisieren. Der Hundertjährige Krieg war von seinem Beginn 1339 an dadurch geprägt, dass die adligen Lehnsaufgebote der kriegführenden Könige durch Söldnerkontingente erweitert wurden, die zahlenmäßig oft einen erheblichen Anteil des Gesamtheeres ausmachten. Bei ihnen handelte es sich nicht um eidgenössische Kämpfer, sondern um Einheiten aus ganz verschiedenen Ländern, teils um europaweit agierende Spezialisten, etwa Armbrustschützen aus Genua oder Verbände aus Böhmen, welche die kriegführenden Fürsten gegen Soldvereinbarungen in Dienst nahmen.32 Was solche Krieger auszeichnete, war nicht nur ihre besondere Flexibilität im Feld. Durch die beständige Kampftätigkeit erwarben sie einen hohen Grad an Übung und Erfahrungswissen. Dadurch, und weil sie gesuchte Spezialisten insbesondere am Langbogen oder der Armbrust waren, wurden sie zu ähnlich professionalisierten Kriegern wie es die Ritter waren und sind daher auf den großen Illustrationen der Chroniken zu den Schlachten des Hundertjährigen Krieges prominent vertreten.33 30 Susan Marti, Das burgundische Heer, in: dies. / Peter Niederhäuser / Till-Holger Borchert / Gabriele Keck (Hg.), Karl der Kühne (1433 – 1477). Kunst, Krieg und Hofkultur [Katalog der Ausstellung Bern/Brüssel 2008/2009], Bern/Brüssel 2008, S. 322 f., hier S. 322. 31 Malte Prietzel, Schlachten und Erinnerungen. Grandson, Murten und Nancy in der Sicht von Burgundern und Eidgenossen, in: Klaus Oschema / Rainer C. Schwinges (Hg.), Karl der Kühne von Burgund. Fürst zwischen europäischem Adel und der Eidgenossenschaft, Zürich 2010, S. 109 – 121, hier S. 113. Vgl. Martin Clauss, Kriegsniederlagen im Mittelalter. Darstellung – Deutung – Bewältigung (Krieg in der Geschichte, 54), Paderborn u. a. 2010. 32 Uwe Tresp, Söldner aus Böhmen. Im Dienst deutscher Fürsten. Kriegsgeschäft und Heeresorganisation im 15. Jahrhundert (Krieg in der Geschichte, 19), Paderborn u. a. 2004. 33 Trotz einer Vielzahl überlieferter bildlicher Darstellungen vor allem in illuminierten

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Allerdings folgte für Söldner aus solcher Professionalität keine sozialständische Verortung. Sie wurden von ihren Auftraggebern nur für eine aktuelle Konfliktsituation eingeworben, verdienten mit ihrem Einsatz auf dem Schlachtfeld ihren Lebensunterhalt und traten dadurch nicht in ein Schutz- oder Zugehörigkeitsverhältnis ein. Entsprechend fielen sie nach Beendigung der Kampfhandlungen wieder aus dem Soldverhältnis heraus. Sie wurden, modern gesprochen, beschäftigungslos. Ganz ähnlich den Raubrittern, wie sie aus der Reichsgeschichte bekannt sind, aber ohne eine vergleichbare soziale Position, mussten sie sich bis zum nächsten Auftrag durchschlagen und konnten dafür lediglich auf ihre kampftechnischen Fertigkeiten zurückgreifen. Hier liegt der Hintergrund dafür, dass die oben dargestellte Differenzierung zwischen zugehörigen und nicht zugehörigen Kämpfern wirksam werden konnte, also solchen, die im Auftrag eines Herren legal handelten, und solchen, die ohne Auftrag, illegal, tätig waren – jene als Kampfverbände in der Schlacht, diese als selbstorganisierter Gewalthaufen. Im Übrigen hat sich diese Unterscheidung in reguläre, einer offiziell kriegführenden Partei zugehörige Kämpfer und „auf eigene Rechnung“ handelnde Söldner bis in die Gegenwart gehalten: Seit der Einführung eines Kriegsvölkerrechts in der Frühen Neuzeit können nur reguläre Soldaten den Schutzstatus als Kombattanten beanspruchen, während Söldner als Zivilisten gelten, die illegal in das Kampfgeschehen eingegriffen haben und entsprechenden Strafen unterzogen werden können.34 Anders als die Raubritter, hatten die Söldner im Mittelalter (wie bereits erwähnt), weil sie nicht aus einer vorherigen sozialen Stellung herausgefallen waren, jederzeit die Möglichkeit, wieder einen Kampfauftrag anzunehmen und dann erneut als Soldkräfte tätig zu sein. Was ihnen an anderer Stelle ein Problem war, ihre fehlende Zugehörigkeit zu einem Gefolgschaftsverband, kam ihnen Handschriften, die zahlreich in der einschlägigen Forschungsliteratur reproduziert werden, und trotz Studien zu Bildern des Krieges fehlt bislang eine systematische Auswertung des Bildmaterials bezüglich der dargestellten Personengruppen und ihrer nicht nur militärgeschichtlich, sondern auch kulturwissenschaftlich definierbaren Einordnung. Vgl. neuerdings zu den Darstellungen von Wehrbauten (und mit einer bezeichnenden Selbstbeschreibung in der Titelformulierung): Christian Raynaud, D¦fenses annexes et fortifications de campagne dans les enluminures des XIVe – XVe siÀcles. PremiÀre approche, in: HansHenning Kortüm (Hg.), Krieg im Mittelalter, Berlin 2001, S. 197 – 249, Abbildungen S. 286 – 300. 34 Rainald Maaß, Der Söldner und seine kriegsvölkerrechtliche Rechtsstellung als Kombattant und Kriegsgefangener (Bochumer Schriften zur Friedenssicherung und zum humanitären Völkerrecht, 2), Bochum 1990; Martin Niewerth, Private Militärunternehmen im Völkerrecht, München 2008. Vgl. zum Mittelalter Matthew Strickland, Rules of war or war without rules? Some reflections on conduct and the treatment on non-combatants in medieval transcultural wars, in: Hans-Henning Kortüm (Hg.), Transcultural wars from the Middle Ages to the 21st century, Berlin 2006, S. 107 – 140.

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hier zugute. Für ihre Rezeption durch die adelige Gesellschaft blieb die fehlende sozialständische Verortung indes nicht folgenlos: Aus der Sicht der Höfe, des Adels und der Ritter waren die Soldkämpfer sozial deklassiert und entzogen sich einer eindeutigen Zuordnung innerhalb ständischer Ordnungen. Sie wurden in der Wahrnehmung durch die Ritter deshalb den Fußtruppen aus den abhängigen Bauern der lehnsherrlichen Aufgebote gleichgestellt. Daher schob man ihrer vermeintlichen Bindungslosigkeit und fehlenden Verlässlichkeit gern die Verantwortung für Niederlagen zu, die in Wahrheit durch taktische Fehlentscheidungen der Heerführer und Ritter verschuldet worden waren. Eine fatale Unterschätzung ihrer faktischen Kampfkraft war die Folge und eben darum waren es die Söldner in den Heeren der Könige, die den gegnerischen Rittereinheiten vernichtende Niederlagen beibringen konnten. Nicht selten ist auch die Tatsache bezeugt, dass die eigenen Heerführer ihre Soldtruppen vorschnell, verzögert oder an der taktisch falschen Stelle einsetzten, so dass sie wirkungslos bleiben mussten. Manche Niederlage hätte andernfalls abgewendet werden können. So erging es der französischen Armee bereits bei Courtrai 1302 und wieder bei Cr¦cy 1346. Auch die vor allem für den französisch-burgundischen Adel verheerende Niederlage gegen die Türken vor Nikopolis 1396 war wesentlich durch denselben taktischen Fehler verursacht worden: Die auf eigenen Ruhm bedachten Ritter hatten überhastet die wohlorganisierte türkische Infanterie angegriffen, die bereitstehenden, kampfstarken ungarischen Fußtruppen aber nicht zum Einsatz kommen lassen.35 Wie an diesem Beispiel zu sehen, ist die Abgrenzung von Soldeinheiten zu herrschaftsgebundener Infanterie innerhalb der Lehnsaufgebote mitunter schwieriger zu rekonstruieren, als es bei einfacher Gegenüberstellung zunächst schien.36 Ein grundsätzlicher Unterschied bestand zweifellos in der funktionalen Ausbildung, Bewaffnung und Kleidung sowie in der professionellen Organisation der Söldner als Kampfverband. Dagegen dürfen aber Infanterieeinheiten im Lehnsaufgebot nicht ohne weiteres als unter Waffen gestellte Bauern abgesetzt werden. Man wird davon ausgehen dürfen, dass vielfach erfahrene, trainierte und gut ausgerüstete Fußtruppen aus dem eigenen Herrschaftsbereich eines kriegführenden Fürsten ebenfalls unter Sold standen. Inwieweit sie sich ähnlich

35 Martin Kintzinger, Sigismond, roi de Hongrie, et la croisade, in: Jacques Paviot / Martine Chauney-Bouillot (Hg.), Actes du Colloque international organise par l’Academie des sciences, arts et belles-lettres de Dijon et le Centre national de la recherche scientifique reuni a Dijon, au Conseil regional de Bourgogne, le 18 octobre 1996 (Annales de Bourgogne, 68, 1996), Dijon 1997, S. 23 – 33. 36 Hierzu und zum Folgenden grundsätzlich Philippe Contamine, Guerre, ¦tat et soci¦t¦ — la fin du Moyen Age. Etudes sur les arm¦es des rois de France (1337 – 1494) (Civilisations et soci¦t¦, 24), Mouton 1972, S. 22 – 25, 301 – 313 u. ö.

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den international agierenden Söldnern professionalisieren konnten, bleibt bislang eine offene Frage. Nicht zufällig ist hier immer wieder auf Frankreich zu verweisen. Es scheint als sei der französisch-burgundische Adel von besonderer Widerständigkeit gewesen bei der Einsicht in die faktische Wirkmächtigkeit einerseits, die taktische Nutzbarkeit andererseits der neuen Waffen- und Kampftechniken in seiner Zeit und der Soldtruppen als deren Spezialisten. Schon in Cr¦cy 1346 waren die Genueser Armbrustschützen, von denen man ungefähr 6.000 Mann für die französische Armee angeworben hatte, unklug eingesetzt worden, weshalb sie wirkungslos blieben. Gegen die Distanzschüsse der englischen Langbogenschützen, auch sie mit knapp 6.000 Mann angetreten, waren sie wie auch das französische Ritterheer, das insgesamt mehr als doppelt so viele Köpfe zählte, insgesamt chancenlos. In Azincourt 1415 waren es wiederum die Bogenschützen, jetzt verstärkt von taktisch klug agierenden englischen Fußtruppen, die die in Phalanx-Formation und starker Überzahl antretenden französischen Ritter vernichtend schlugen.37 Wegen der enormen Durchschlagskraft des innovativen Langbogens setzte man diese Waffe in Frankreich aus Rücksicht auf die kämpfenden Ritter zunächst nicht ein und beschränkte sich stattdessen auf die weitaus weniger wirksamen herkömmlichen Bogen und auf Armbrüste. Die als Soldtruppen verpflichteten Genueser Armbrustschützen verloren zudem immer mehr an Bedeutung.38 Grundsätzlich blieben die Armbrüste aber noch lange in Verwendung und wurden, wie der Langbogen auch, erst im 16. Jahrhundert allmählich von den aufkommenden Schusswaffen verdrängt. Der taktische Vorteil eines Einsatzes der Langbogenschützen lag zum einen in ihrer logistischen Flexibilität, zum anderen in der gewaltigen Anzahl von Pfeilen, die bei hoher Schlagzahl jedes einzelnen Schützen von deren Linien aus ganze Felder des gegnerischen Heeres über große Distanz flächendeckend erreichen konnten. Der Einsatz von mehreren tausend Mann konnte bei kluger Taktik ohne weiteres schlachtentscheidend wirken.39 In Cr¦cy und Azincourt stand eine funktionale, pragmatische, auf moderne Technik gestützte Taktik der Engländer gegen eine über ritterliche Ehrvorstellungen legitimierte Strategie der Franzosen, die weiterhin auf die Waffen, die Kampftechnik und die Rüstungen der Ritter setzten. Dass den neuen Kriegsspezialisten, den Söldnern, die Zukunft gehörte, war eine schmerzliche Erfahrung, die sich der französische Hof offenbar zunächst anzunehmen weigerte.

37 Vgl. Joachim Ehlers, Der Hundertjährige Krieg, München 2009, S. 68 – 71. 38 Zum technischen Unterscheid zwischen den gewöhnlichen Bogen und den englischen Langbogen: Renaud Beffeyte, L’art de la guerre au Moyen Age, Rennes 2005, S. 55, mit Abbildung. 39 Vgl. Marcus Popplow, Technik im Mittelalter, München 2010, S. 22 – 25, 60 – 63, bes. S. 62.

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Erst 1448 wurde eine entsprechende Einheit durch königliche Ordonnanz förmlich eingerichtet.40 Ein Grund für das Zögern mag auch darin gelegen haben, dass mit den Bogenschützen, nichtständischen Kämpfern und Söldnern eine entscheidende Rolle bei der königlichen Kriegführung zugebilligt werden sollte. Seit dem 12. Jahrhundert war in England die Benutzung des Langbogens nicht nur systematisch im königlichen Heer trainiert worden. Zugleich verbreitete man den Besitz und die Beherrschung des Langbogens in der Bevölkerung, aus der heraus die Schützen bei Bedarf gezogen wurden.41 Regelmäßiges Training war für die Langbogenschützen unerlässlich, weshalb keine ungeübten Kräfte eingesetzt werden konnten und die Indienstnahme von geübten Schützen kostenaufwendig war.42 Gewiss auch schon deshalb kam es für Herrscher außerhalb Englands nicht zwangsläufig in Frage aus den Reihen ihrer Kämpfer Langbogenschützen abzustellen. Die erfahrenen und trainierten englischen Schützen hingegen ließen sich andernorts nicht ohne weiteres verpflichten. Am königlichen Hof in England hatte man die strategische wie taktische Bedeutung der eigenen Langbogenschützen frühzeitig erkannt, deren Integration in die Heere, auch auf der Grundlage von Soldvereinbarungen, zur Regel gemacht und Maßnahmen getroffen, um sich den exklusiven Dienst dieser Spezialisten zu sichern. Dabei handelte es sich aber stets um Kräfte aus dem eigenen Herrschaftsbereich, insbesondere schottische oder auch walisische Verbände. Selbst wenn sie unter Sold standen, so fanden sie sich doch anders als fremde Söldner in einem Gefolgschaftsverhältnis zu ihrem König, kämpften mit ihm für ihr Land und waren insofern weitaus verlässlicher als angemietete auswärtige Kräfte. Nach Beendigung der Kampfhandlungen zogen sie sich, ähnlich wie es die eidgenössischen Söldner taten, in ihre Heimatregionen zurück, wo sie ihre soziale Verortung und ihr Auskommen hatten.43 Dieser Zusammenhang erklärt auch, warum die englischen Bogenschützen gewöhnlich nicht als Söldner in Diensten anderer Herren belegt sind. Sie kämpften ausschließlich auf der Seite ihres Reiches und wenn sie für andere Herren antraten, wie im Falle Karls des Kühnen von Burgund, so waren sie von

40 Contamine, Guerre, ¦tat, S. 304 – 310. 41 Vgl. John Clements, Wielding the weapons of war. Arms, armor, and training manuals during the later Middle Ages, in: Andrew Villalon / Donald J. Kagay (Hg.), The Hundred Years War. A wider focus (History of warfare, 25), Leiden/Boston 2005, S. 446 – 475. 42 Marti, Das burgundische Heer, S. 323. 43 Die Umstände der Reintegration in die heimische Gesellschaft bedürfen einer eigenen Problematisierung, die hier nicht geleistet werden kann. Vgl. Anne Curry, Les „gens vivans sur le pas“ pendant l’occupation anglaise de la Normandie (1417 – 1450), in: Philippe Contamine / Olivier Guyotjeannin (Hg.), La guerre, la violence et les gens au Moyen Age, 1. Guerre et violence, Paris 1996, S. 209 – 221.

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ihrem König dem anderen Herrn zur Verfügung gestellt worden.44 Der Burgunder Herzog konnte sich dadurch immerhin eine Leibgarde aus englischen Langbogenschützen leisten und erhielt zudem nicht weniger als 1.000 Schützen für die Schlacht von Nancy 1477 gestellt.

4.

Söldner und Spezialisten als Soldateska

Den Beteiligten an den Kriegshandlungen waren solche feinen Unterschiede zweifellos bewusst, schon weil sie viel über die Selbst- und Fremdzuordnung des Einzelnen aussagten. Der Zivilbevölkerung, den Opfern der Umstände, mögen die Differenzierungen zwischen den militärischen Einheiten oft unbewusst geblieben sein. Für ihr Erleben der Kriegsereignisse hingegen waren sie durchaus entscheidend. Dies lag nicht an der Aufstellung von Kampfformationen in der Schlacht, sondern an dem Verhalten der verschiedenen Einheiten während und im Umfeld der Kämpfe sowie, vor allem, nach dem Ende der Kampfhandlungen. Dann kam zum Tragen, was hier bereits zur Unterscheidung der zugehörigen, zurückkehrenden von den nicht zugehörigen, sozusagen „heimatlosen“ Kämpfern zu sagen war. Die letzteren verwandelten sich dann allzu oft von Soldaten zu Räubern, bis sie wieder als Soldaten angemietet wurden oder auch dauerhaft, sofern sie mit Raub ihr Leben bestreiten konnten und wollten.45 Hinzu kam, dass die großen Schlachten zwischen den Heeren der Könige von Frankreich und England, die das Bild der Epoche in ganz Europa verdunkeln, für die Zeitgenossen nicht einmal das Entscheidende in ihrer bedrückenden Kriegserfahrungen waren. Als solches benannten sie stattdessen die zahllosen, ständig neu ausbrechenden und mit unkalkulierbaren Gefahren für die einfache Bevölkerung verbundenen kriegerischen Zusammenstöße zwischen den Parteien innerhalb der Reiche.46 Sie waren eine unmittelbare Folge der großen Konflikte, entwickelten aber eine bedrohliche Eigendynamik, die ihrerseits das Geschehen auf der oberen Ebene der Diplomatie und des Krieges der Könige ein ums andere Mal nachhaltig beeinflussten. Bis in die Titel der aktuellen Forschungsarbeiten hat sich der Tenor der untersuchten Quellenaussagen niedergeschlagen: Nicht einfach um den hundert Jahre währenden Krieg geht es dann, sondern um border bloodshed, das Blutvergießen an der englisch-schottischen Grenze in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts etwa, oder la maudite guerre, den verfluchten Krieg, den Bürgerkrieg in Frankreich in den ersten beiden 44 Marti, Das burgundische Heer, S. 323. 45 Zu den ausbleibenden Soldzahlungen und gleichzeitiger Führungslosigkeit der Soldaten nach Beendigung ihrer Kampfaufträge: Curry, Gens vivans, S. 214. 46 Michel Mollat du Jourdin, La guerre de Cent Ans vue par ceux qui l’ont v¦cue, Paris 1992.

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Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts.47 Es waren diese Ereignisse, die ein unheilvolles Entfaltungspotential gerade nicht für ritterliche Kämpfer, sondern für Soldtruppen boten und die nicht zuletzt die Gefahren, die von Söldnern am Rande und nach dem Ende von Kampfhandlungen ausgingen, vervielfachten. Anne Curry hat hierzu einen grundlegenden Aufsatz 1996 veröffentlicht.48 Der Eindruck, den das Treiben der Söldner auf die Menschen machte, wurde jetzt so dominant, dass er die gesamte Kriegswahrnehmung in der Bevölkerung prägte. Manche Literaten gaben dem allgemeinen Empfinden Ausdruck, so der Diplomat und Dichter Alain Chartier (ca. 1385 – 1433) in einem Gebetsgedicht: „Was ich Krieg nenne? Es ist kein Krieg, was in diesem Königreich [Frankreich] geführt wird. Ohne gute Ordnung und ohne Gerechtigkeit, ist es Raub und öffentliche Gewalt. Man ruft zu den Waffen und die, die gerufen sind, werden gegen die Feinde aufgestellt. Aber ihre Taten richten sich gegen mich, indem sie mein bescheidenes Auskommen und mein armseliges Leben zerstören“.49

Die Ordnung von Herrschaft und Recht (bon ordre et justice), zu der auch der reguläre Krieg zählt, ist verloren, wenn Raub und Gewalt den Ton angeben (brigandage et violence). Leid und Zerstörungen wurden in der Zeit Chartiers vielfach zum Thema gemacht: in literarischen Klagen, in Chroniken und durchaus auch in politischen Traktaten, die ein Ende der Schrecken forderten. Zuvor hatte es solche Klagen in dieser Dichte noch nicht gegeben, sie waren eine Reaktion auf die Zustände um 1400, in der bedrängten Phase des Hundertjährigen Krieges, als sich aus dem Krieg gegen die Engländer von 1400 bis 1419 ein grausamer Bürgerkrieg zwischen den Herzogshäusern Burgund und Orl¦ans entzündete und ein englisches Invasionsheer zudem seit 1415 das Kernland des Königreichs Frankreich besetzte.50 Politische Kriegstraktate und selbst die Formulare der Kanzlei passten ihren Wortgebrauch an, so indem sie bei der 47 Alastair J. Macdonald, Border bloodshed. Scotland, England and France at war, 1369 – 1403, East Lothian 2000; Bertrand Schnerb, Les Armagnacs et les Bourguignons. La maudite guerre, Paris 1988. Für die deutschsprachige Literatur maßgeblich: Ehlers, Der Hundertjährige Krieg, S. 59 – 76. 48 Curry, Gens vivans, passim, bes. S. 214 – 218; zur Demobilisation der Soldaten ebd., S. 214. Vgl. dies. (Hg.), Agincourt. A new history, Stroud 2006. 49 Alain Chartier, Quadrilogue invectif, zitiert nach: Mollat, La guerre, S. 132 [Übersetzung des Autors]: „Qu’est-ce que j’appelle la guerre? Ce n’est pas une guerre qui se mÀne en ce royaume; faute de bon ordre et de justice, c’est brigandage et violence publique“. Vgl. Nicolas Offenstadt, Faire la paix au Moyen Age. Discours et gestes de paix pendant la guerre de Cent Ans, Paris 2007, hier S. 44 – 48 (Lucifer, fauteur de guerre). 50 La „France anglaise“ au Moyen Age, […], Paris 1988; Werner Paravicini / Bertrand Schnerb (Hg.), Paris, Capitale des ducs de Bourgogne (Beihefte der Francia, 64), Ostfildern 2007; Schnerb, Armagnacs; zuletzt Malte Prietzel, Der Tod auf dem Schlachtfeld. Töten und Sterben in der Chronistik des Hundertjährigen Krieges, in: Birgit Emich / Gabriela Signori (Hg.), Kriegs/Bilder in Mittelalter und Früher Neuzeit (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 42), Berlin 2009, S. 61 – 92.

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Beschreibung von Krieg und Frieden neben die klassischen Topoi die programmatische Forderung stellten, man müsse das Vergießen christlichen Blutes endlich beenden.51 Zur Bezeichnung jeder Art von Gewalttaten konnte man sich dabei grundsätzlich des Wortfeldes der violence bedienen. Der Begriff lässt sich aus dem lateinischen violentia ableiten, für die physische, tendenziell illegitime oder illegale Gewalt im Unterschied zur legalen Herrschaftsgewalt, dem pouvoir nach der lateinischen potestas. In der Forschung ist allerdings darauf hingewiesen worden, dass der Begriff violence in den Überlieferungen des späten Mittelalters zwar bekannt war, aber selten verwendet wurde. Literarische Zitate wie bei Chartier sind insofern nicht unbedingt aussagekräftig auch für jene Überlieferungen, die näher am Duktus der Klagen in der Bevölkerung standen, wie etwa Zeugenaussagen in Gerichtsakten. Dort wurde violence meist nicht als Substantiv verwendet, sondern in einer adverbialen Konstruktion, die für Grausamkeit oder Unmenschlichkeit des so bezeichneten Tuns stand.52 Hingegen ist ein weiterer Begriff, der im selben Kontext auftaucht, erst aus den französischen Überlieferungen im Übergang zum 15. Jahrhundert bekannt, literarischen wie forensischen. Er bezeichnete diejenigen, denen man vorwarf, durch ihre Gewalttaten für das Leiden der Menschen verantwortlich zu sein: Was sie taten, nannte man brigandage, sie selbst brigands. Chartier war hier eine Stimme neben vielen, die sich dieser Begriffe bediente. Es war das Wortfeld des brigand, das die Gewalterfahrungen der Menschen auf den Punkt brachte. In der französischen Forschung sind seit Jahren Studien zum Zusammenhang von Gewalt und öffentlicher Ordnung vorgelegt worden, besonders in den Arbeiten Claude Gauvards, so in ihrer Aufsatzsammlung „Violence et ordre public au Moyen Age“ von 2005.53 Während Untersuchungen zum hochmittelalterlichen Frankreich sich zumeist mit dem Zusammenhang von Herrschaft, Gerichtshoheit und Gewalt befassen, tritt in Bezug auf das späte Mittelalter der Kontext von physischer Gewalt, Herrschaftsgewalt und Krieg als gleichbedeutendes, tendenziell sogar dominierendes Forschungsfeld hinzu – nicht zuletzt

51 Martin Kintzinger, Westbindungen im spätmittelalterlichen Europa. Auswärtige Politik zwischen dem Reich, Frankreich, Burgund und England in der Regierungszeit Kaiser Sigmunds (Mittelalter-Forschungen, 2), Stuttgart 2000, S. 348 – 359. Zur ikonographischen Repräsentation des Widerstreits zwischen Friedensprogrammatik und ständischer Kriegskultur jetzt: Patrick Boucheron, Paroles de paix et seigneurs de guerre en Italie dans le premier tiers du XIVe siÀcle. Quelques programmes iconographiques, in: Sylvie Caucanas / R¦my Cazals / Nicolas Offenstadt (Hg.), Paroles de Paix en temps de guerre, Toulouse 2006, S. 165 – 179. 52 Claude Gauvard, Violence licite et violence illicite dans le royaume de France — la fin du Moyen ffge, in: Memoria y Civilizaciûn 2, 1999, S. 87 – 115. 53 Dies., Violence et ordre public au Moyen Age (Les M¦di¦vistes franÅais, 5), Paris 2005.

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ausgehend von den Arbeiten Philippe Contamines zur Geschichte des Krieges.54 Schon die Forschungen Contamines und die von ihm angeregten Studien anderer sind nicht auf eine „klassische“ Militärgeschichte bezogen, sondern fragen stets mit einem weiten, sozial- und institutionengeschichtlich wie auch kulturhistorisch akzentuierten Ansatz nach den handelnden Personen.55 Exemplarisch für diesen Ansatz sind auch die Arbeiten von Anne Curry zu nennen.56 Entsprechend werden die Akte illegitimen Handelns der Herrschaft und der Zusammenhang von Gewalt, Streit und Widerstand untersucht.57 Jüngere Untersuchungen öffnen solche Fragestellungen neuerdings für eine Geschichte der Emotionen, was der Erforschung von Kriegsklagen neues Gewicht gibt.58 Im Zusammenhang der Entstehung differenzierter Gerichtsinstanzen hat Claude Gauvard seit längerem die Erforschung der Kollaboration als Gegenpart zum Widerstand etabliert.59 Hierbei wird eine Selbstvergewisserung und Institutionalisierung der Instanzen fassbar, die zu einer zunehmend differenzierten Beschreibung von Ereignisphänomenen führte. Das erklärte Ziel dieses Prozesses im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts war es, Akte von Gewalt justiziabel zu machen, um sie damit kontrollieren und eindämmen zu können. Sie wurden in ihrem rechtlichen Charakter, zugleich ihrer politischen Bedeutung und ihren 54 Zum Hochmittelalter : H¦lÀne Couderc-Barraud, La violence, l’ordre et la paix. R¦soudre les conflits en Gascogne du XIe au d¦but du XIIIe si¦cle, Toulouse 2008. Zum Hoch- und Spätmittelalter : Claude Gauvard / Robert Jacob (Hg.), Les rites de la justice. Gestes et rituels judiciaires au Moyen Age occidental (Cahiers du L¦opard d’or, 9), Paris 1999. Zum Spätmittelalter : Claude Gauvard, „De grace especial“. Crime, ¦tat et soci¦t¦ en France — la fin du Moyen Age, 1. 2., Paris 1991; Mat¦ Billar¦ / Myriam Soria (Hg.), La trahison au Moyen Age. De la monstruosit¦ au crime politique (Ve – XVe siÀcle), Rennes 2009; Contamine, Guerre, ¦tat; ders., La guerre au Moyen Age (Nouvelle Clio, 24), Paris 1980; ders., La guerre et l’Etat monarchique dans la France de la fin du Moyen Age, in: Werner Rösener (Hg.), Staat und Krieg vom Mittelalter bis zur Moderne, Göttingen 2000, S. 64 – 81. 55 Vgl. Philippe Contamine / Olivier Guyotjeannin (Hg.), La guerre, la violence et les gens au Moyen Age, 2. Guerre et Gens, Paris 1996; Christiane Raynaud, La violence au Moyen Age, XIIIe – XVe siÀcle d’aprÀs les livres d’histoire en franÅais, Paris 1990; Kapitel 3: Jacques Paviot / Jacques Verger (Hg.), Les acteurs. Typologie des protagonistes des scÀnes de violence. Guerre, pouvoir et noblesse au Moyen Age, Festschrift Philippe Contamine, Paris 2000. 56 Anne Curry, The Hundred Years War, Basingstoke 2003 [London 1993]. 57 Violence et contestation au Moyen Age […], Paris 1990; Claude Gauvard, Les r¦voltes du rÀgne de Charles VI. Tentative pour expliquer un ¦chec, in: dies., Violence et ordre publique, S. 206 – 213. 58 Ansgar Köb (Hg.), Emotion, Gewalt und Widerstand. Spannungsfelder zwischen geistlichem und weltlichem Leben in Mittelalter und Früher Neuzeit (MittelalterStudien, 9), München 2007. Der Sonderforschungsbereich 437 der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“, der von 1999 bis 2008 an der Universität Tübingen angesiedelt war, befasste sich nicht mit Studien zur mittelalterlichen Geschichte. 59 Claude Gauvard, R¦sistants et collaborateurs pendant la guerre de Cent ans. Le t¦moignage des lettres de remission, in: La France anglaise, S. 123 – 138.

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sozialen Implikationen sukzessive eindeutiger und unterscheidbarer : Widerstand und Kollaboration, legales und illegales Verhalten, Eigenmächtigkeit und kollektive Bindung beispielsweise.60 In der grundlegenden Unterscheidung von erlaubter und unerlaubter Gewalt konnte man zwischen individuellen und kollektiven Akten unterscheiden oder zwischen verschiedenen Tötungsdelikten und man konnte Akte von Verrat und Treuebruch einerseits, von Rache und Vergeltung andererseits bestimmen und die geeigneten Strafmaße jeweils genau festlegen.61 Indes war hier nicht einfach eine Geschichte der Modernisierung des Gerichtswesens am Werk. Zumindest ebenso wirksam blieb die Einsicht in die Geltungskraft überkommender Wertvorstellungen wie der Ehre oder der Gefolgschaftsbindung, die noch immer eigene Vorstellungen von Rechtlichkeit kannten und sich nicht ohne weiteres einer gerichtlichen Behandlung unterwerfen ließen oder den geltenden Rechtssätzen zu entziehen vermochten. Hierin liegt nach Claude Gauvard der Schlüssel zum Verständnis des Gerichtssystems im späten Mittelalter : in seiner Offenheit für die Berücksichtigung tradierter sozialer Werte, deren Anerkennung auch von den Richtern geteilt wurde.62 Zwei für unseren Zusammenhang erhebliche Konsequenzen folgten daraus. Zum einen konnte man nun, und dies je länger desto genauer, zwischen verschiedenen Fällen von unerlaubtem Gewalthandeln unterscheiden, also Straßenräuber, Brandschatzer, Plünderer, Kirchenräuber, Falschspieler, Münzfälscher, Betrüger und was es an Kriminellen sonst gab, in rechtlichem wie sozialem Kontext differenziert bewerten.63 Jene brigands, über die Chartier und mit ihm so viele klagten, ließen sich danach über ihre Taten genauer zuordnen, weil sie

60 Dies., De grace, 1, S. 853 – 859; dies., Discipliner la violence dans le Royaume de France aux XIVe et XVe siÀcles. Une affaire d’Etat?, in: Disziplinierung im Alltag des Mittelalters und der Frühen Neuzeit […] (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Sitzungsberichte, 669. Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, 17), Wien 1999, S. 173 – 204; dies., Violence, S. 265 – 282. 61 Dies., Violence licite, S. 265 – 273. La trahison. 62 Ebd., S. 273, 275: „Le systÀme judiciare de la fin du Moye Age est parfaitement ouvert aux valeurs sociales qui peuvent s’y infiltrer et irriguer les sentences car, de faÅon g¦n¦rale, l’arbitraire des juges reste entier. […] L— est la cl¦: l’honneur continue d’exister au coeur du tissu social mais son application est en pleine ¦volution. Les autorit¦s n’ont aucune envie de la balayer; au contraire, elles continuent de le louer“; dies., Discipliner la violence, S. 173 – 204, hier S. 203. 63 Vgl. dies., Discipliner la violence, S. 177: „[…] larrons, mendiants, espieurs de chemins, ravisseurs de femmes, violeurs d’¦glises, tireurs — l’oye, joueurs de faulx dez, trompeurs, faulx monnayeurs, malfaicteurs et autres associez, recepteurs et complices“. Vgl. Nicole Brocard, Pauvres, marginaux, sorciers, complots et trahison — BesanÅon et dans le comt¦ de Bourgogne au XVe siÀcle, in: La trahison, S. 239 – 253. Vgl. die Unterscheidung der „pertubateurs de paix“ bei Offenstadt, Faire la paix, S. 131 – 145.

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durch Straßen- und Kirchenraub auffielen, durch Brandschatzung und Plünderung. Unter den zahlreichen Abbildungen zeitgenössischer Handschriften, die das gewaltsame Treiben von Soldaten zeigen, finden sich typologisch zwei Szenen besonders häufig: Das Zusammentreffen der Heere auf dem Schlachtfeld und die Eroberung und Plünderung einer befestigten Stadt.64 Hierfür wurden mitunter Erzählungen aus antiken oder biblischen Vorlagen verwendet, die als Allegorien von Kriegsdarstellungen fungierten. Mehrheitlich allerdings boten die Illuminationen bewusst realistische Darstellungen der Ereignisse der eigenen Zeit, ähnlich drastisch gefasst wie die gleichzeitigen literarischen und chronistischen Kriegsklagen. Nicht im Zusammenhang von Schlachten und Kriegszügen, sondern von Raub und Plünderungen hat daher Val¦rie Toureille 2006 ihre Studie über die brigands des französischen Spätmittelalters verfasst und unter den Titel „Vol et brigandage au Moyen Age“ gestellt.65 Folgerichtig unterscheidet sie die Masse der Diebe und Kleinkriminellen von den organisiert Handelnden, die Tagediebe (larcins) von den Berufskriminellen (larrons professionels) und rechnet die brigands im Vergleich zu letzteren. Während die Tagediebe mit List ihre Gelegenheit suchten, erfolgten die brigandages grundsätzlich mit Waffen und weil die brigands bewusst und planvoll an der Grenze von Gewalttat und Krieg handelten, standen sie dem „großen Verbrechen“ (la grande criminalit¦) näher als den Gelegenheitsdieben. Dennoch waren sie aufgrund ihrer Genese aus dem Militär auch von den Berufsverbrechern grundsätzlich zu unterscheiden. Die „räuberische Karriere“ eines gewöhnlichen Straftäters und die eines Kriegsmannes verliefen durchaus anders. Deshalb war auch die Zuweisung von Devianz durch die Umwelt wahrscheinlich kein Problem: In ihrer Identität als Kämpfer werden die brigands Formen einer Identität entwickelt haben, die sich gleichbleibend bewahren ließ und die umgebende Gesellschaft wird sie situationsabhängig zwar sehr unterschiedlich wahrgenommen haben, wohl immer aber über ihr Auftreten als Kämpfende. Für die Fremd- wie auch für die Selbstzuweisung wird dabei die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, der jederzeit grundsätzlich mögliche

64 Vgl. Anne Curry, Bourgeois et soldats dans la ville de Mantes, pendant l’occupation anglaise de 1419 — 1449, in: Jacques Paviot / Jacques Verger (Hg.), Les acteurs. Typologie des protagonistes des scÀnes de violence. Guerre, pouvoir et noblesse au Moyen Age, Festschrift Philippe Contamine, Paris 2000, S. 175 – 184. 65 Val¦rie Toureille, Vol et brigandage au Moyen Age, Paris 2006. Im Folgenden sind die entsprechenden Formulierungen aus dem Inhaltsverzeichnis in Klammern angefügt. Vgl. die Terminologie bei Curry, Gens vivans, S. 212 („routiers“), S. 215 („violence, vol et oppression“), S. 220 („brigands“).

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Wechsel von der Legalität in die Illegalität und umgekehrt, eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben. Was bereits zur Differenzierung der legal und zugehörig handelnden Söldnern zu den nicht legal und ohne Auftrag und Zugehörigkeit agierenden Kämpfern zu sagen war, entspricht diesem Befund Toureilles: An der Grenze zwischen Krieg und Raub, in beide Richtungen variabel handelnd – Phänomen einer Liminalität (figure de la frontiÀre) –, bewegten sich die brigands eigenständig im rechtsfreien Raum (des hommes sans ¦tat), ohne Zugehörigkeit und Anbindung (des hommes sans attache). Ihre Taten, die brigandages, wurden so zu einer Verwandlungsform des Krieges (avatar de la guerre).66 Im römisch-deutschen Reich war es die Erfahrung der marodierenden Söldner des Dreißigjährigen Krieges und deren eindringliche Schilderung etwa im Simplicissimus Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens (ca. 1622 – 1676) sowie die spätere Gestaltung des Motivs bei Schiller, die aus der Bezeichnung der Soldaten diejenige der Soldateska entstehen ließ, die bis heute gebräuchlich ist. Wiederum markierte Wallenstein hier einen Höhepunkt der Entwicklung; er war es, der nicht nur als Kollateralschaden faktisch in Kauf nahm, sondern absichtsvoll anordnete, dass seine Söldner sich aus dem Land selbst versorgen sollten, das sie kriegsbedingt überfallen und verwüstet hatten und das sie nun zudem im Eigeninteresse unter ungeheuren Grausamkeiten gegen die Bevölkerung ausplünderten. Etymologisch verrät der Begriff der Soldateska allerdings seinen Ursprung in den berüchtigten italienischen Söldnerbanden der Frühen Neuzeit und schon des späten Mittelalters.67 Auch die brigands des französischen Spätmittelalters bezeichneten ursprünglich eine Truppeneinheit der Infanterie im (königlichen) Heer.68 Zunächst waren es die gegenüber den Rittern leichter, in Leder statt in Rüstung, bekleideten Kämpfer ohne schwere Waffen. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts wurde der Begriff allmählich pejorativ konnotiert, was er seither blieb. Man verwechselte diese Leute bisweilen mit jenen Leichtbewaffneten, welche die Ritter in der Schlacht begleiteten und immer wieder durch disziplinloses, gewaltsames Verhalten, Raub und Plünderungen im Land auffielen. Erfahrungsbedingt vermischte man ihre Wahrnehmung zudem mit jener der Banden, die bei Aufständen durch Gewalttaten hervortraten und deshalb mitunter sogar als Widerstandskämpfer galten. Sie alle wurden mit demselben Begriff belegt und bald unterschied man nicht mehr zwischen den brigands als

66 Vgl. ebd., S. 134: La frontiÀre de la legitimit¦. 67 Vgl. Toureille, Vol, S. 44; Stephan Selzer, Deutsche Söldner im Italien des Trecento (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 98), Tübingen 2001. 68 Contamine, Guerre, ¦tat, S. 22 – 25, 304 – 310; Toureille, Vol, S. 44 – 46.

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bloßen Banditen und den brigands als auftragslosen, marodierenden Soldaten.69 Es zählte dafür nur, dass ihnen fehlende herrschaftliche und organisatorische Zugehörigkeit gemeinsam waren: „ils ne recevaient pas de solde royale et n’avaient ni domicile fice ni capitaine reconnu“.70 Brigands war fortan die Bezeichnung für selbstorganisierte, bewaffnete und kampferfahrene Banden, die die Zivilbevölkerung durch exzessive Gewalt bedrängten. Seit den 50er Jahren des 14. Jahrhunderts waren sie ein zunehmendes Problem nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch eine dramatische Herausforderung für die Politik der Könige geworden, zumal sie immer dann mit ihrem Treiben auffielen, wenn ein Friedensvertrag oder Waffenstillstand abgeschlossen worden war.71 Sehr häufig waren solche Waffenstillstände nur für kurze Dauer vereinbart und ihr Bestand war oft tatsächlich noch kürzer als vorgesehen, wenn sie eigentlich nicht einer längerfristigen Befriedung nutzen, sondern nur der Sammlung der Kräfte für eine Fortführung der Kämpfe dienen sollten. Für die Menschen im Land unberechenbar, konnte es daher immer wieder, für unbestimmte Zeit und jederzeit wiederholbar, zum Auftauchen von marodierenden Banden kommen. Mehr als anderes und zunehmend wurden sie als ein Anzeichen dafür verstanden, dass die fürstlichen Herren ihre Pflicht zur Friedenswahrung im eigenen Reich nicht mehr leisten konnten oder wollten. Sofern die finanziellen Mittel es erlaubten, versuchten sie daher, sie in ihren Dienst zu stellen und damit zu disziplinieren.72 Das Problem der Desertion regulärer Truppenteile infolge ausbleibender Bezahlung stellte sich im Grundsatz nicht anders dar.73 Anne Curry bringt die Klagen der Zeitgenossen hierzu auf den Punkt: „Les soldats de garnison n’¦taient pas toujours des modÀles de bonne conduite“.74 Insbesondere während der wechselvollen Ereignisse in der Zeit des Bürgerkriegs und unter den Verwerfungen während der beiden ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts, dann nach dem Aufbrechen der Konflikte um die Legitimität des Thronfolgers und das unerhörte Bündnis der Burgunder mit dem englischen Kriegsgegner 69 John Bell Hennemann, Art. Brigand/brigandage, in: William W. Kibler (Hg.), Medieval France. An Encyclopedia (Garland reference referee of the humanities, 932. Garland encyclopedias of the middle ages, 2), o. O. 1995, S. 145; Toureille, Vol, S. 46 – 51, 133 mit der grundsätzlichen Feststellung, dass aufgrund der Überlieferungslage die brigands auch für die heutige Forschung noch ein schwer isolierbares Phänomen darstellen. 70 Curry, Gens vivans, S. 214. 71 Vgl. Jonathan Sumption, The Hundred Years War, II. Trial by fire (The companies 1347 – 1359), London 1999, S. 351 – 404. 72 Toureille, Vol, S. 136 f. 73 Christopher Allmand, Le problÀme de la d¦sertion en France, en Angleterre et en Bourgogne — la fin du Moyen Age, in: Jacques Paviot / Jacques Verger (Hg.), Les acteurs. Typologie des protagonistes des scÀnes de violence. Guerre, pouvoir et noblesse au Moyen Age, Festschrift Philippe Contamine, Paris 2000, S. 31 – 41; Curry, Gens vivans, S. 212. 74 Curry, Gens vivans, S. 214.

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gegen den eigenen König in der Mitte der 30er Jahre fehlten aber die Möglichkeiten die brigands zu finanzieren oder anderweitig zu disziplinieren, so dass sie nahezu ungehindert ihr Unwesen treiben konnten. Ihrer durch die fehlende Anbindung gegebenen räumlichen Beweglichkeit wegen nannte man sie im 14. Jahrhundert auch routiers, was mit Wandernden, aber auch Wegelagerern assoziiert werden kann, und wegen ihrer Taten seit dem frühen 15. Jahrhundert zugleich ¦corcheurs, Menschenschinder.75 Dass sie seitens der Herrschaft sukzessiv rechtlich kriminalisiert wurden, vermochte allerdings praktisch wenig auszurichten.76 Für nicht wenige Menschen in der Bevölkerung der Städte und vor allem auf dem Land war die Belastung durch die Gewalt der brigands so unerträglich geworden, dass sie die Besatzung der Engländer seit 1415, die sich um geordnete Verwaltung und die Gewährleistung von Ruhe und Sicherheit bemühten, den vorherigen, chaotischen Verhältnissen vorzogen.77 Dass sich die brigands im Laufe der Jahre selbst zunehmend effektiver organisierten und insofern auf eigene Art „professionalisierten“, konnte kaum überraschen. Allmählich gewannen sie den Status von compagnies, selbstorganisierten Kampfeinheiten.78 Es blieb zunächst dabei, dass sie Personen ohne Stand, vielfach gerade auch solche aus fragwürdigem Umfeld und mit dunkler Vergangenheit zusammenführten. Immer wieder brachten sie aber ebenso Männer hervor, die durch kämpferische Leistungen auffielen und wegen ihrer Heldentaten sogar in den offiziellen Hofchroniken lobend erwähnt wurden. Der neue Typ des militärischen Karrieristen (homme de guerre) war auch für die in der Welt ritterlicher Tugend- und Ehrvorstellungen befangene Hofgesellschaft nicht ohne Faszination; mit den Worten Michel Mollats von 1992: „der Aufstieg eines neuen sozialen Typs des Kriegers, die Waffenbruderschaft, die Gewinne des Krieges, die Rekrutierung der Armeen, die Unabhängigkeit im Geist und die Tat der Kompagniechefs“.79 75 Toureille, Vol, S. 41 – 43. Vgl. Rainer Leng, Gründe für berufliches Töten. Büchsenmeister und Kriegshauptleute zwischen Berufsethos und Gewissensnot, in: Horst Brunner (Hg.), Der Krieg im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Gründe, Begründungen, Bilder, Bräuche, Recht (Imagines Medii Aevi, 3), Wiesbaden 1999, S. 307 – 348; Curry, Gens vivans, S. 212: „Ces hommes ¦taient les routiers de l’¦poque“. 76 Toureille, Vol, S. 150 – 156. 77 Martin Kintzinger, Der Auftrag der Jungfrau. Das besetzte Frankreich im Hundertjährigen Krieg, in: Markus Meumann / Jörg Rogge (Hg.), Die besetzte Res publica. Zum Verhältnis von ziviler Obrigkeit und militärischer Herrschaft in besetzten Gebieten vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, 3), Münster 2006, S. 63 – 88; Curry, Gens vivans, S. 214 f. o. ö. 78 Zum Folgenden Mollat, La guerre, S. 117 – 123. 79 Ebd., S. 118 [Übersetzung des Autors]: „…l’ascension d’un nouveau type social de guerrier, la fraternit¦ d’armes, les profits de la guerre, le recruitement des arm¦es, l’indep¦ndeance d’esprit et d’action des chefs de compagnies“. Mollat kontrastiert den homme de guerre ohne soziale Herkunft mit den capitaines en renom, die ihre Stellung einer entsprechenden so-

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Hierzu gehörte durchaus auch die Einsicht, zu welchen Leistungen professionalisierte, ungebundene und vielfach geradezu genossenschaftlich organisierte Verbände in der Lage waren. Sofern sie bereitstanden, um ihre Dienste gegen Soldzahlung auch dem eigenen Interesse der fürstlichen Herren zur Verfügung zu stellen, mussten diese nicht grundsätzlich abgeneigt sein, sich ihrer zu bedienen. Die Perspektive der Herren und der Bevölkerung ihrer Länder konnte hier, wie so oft, durchaus divergieren. Im Hintergrund standen nicht nur die bereits erwähnten Überlegungen und Planungen, fürstliche und königliche Heere über die Kontingente der traditionellen Lehnsaufgebote hinaus effektiv zu erweitern und insofern zu professionalisieren. Unter den gegebenen Umständen hatte man längst zur Kenntnis nehmen müssen, dass Kriegführung zwar in der Theorie den Königen vorbehalten war, in der Praxis aber viele andere Kräfte daran entscheidend beteiligt waren. Im Extremfall – so in Frankreich seit Beginn der schweren Erkrankung des Königs, Karls VI., 1392 und bis zu seinem Tod während der nächsten 30 Jahre, nochmals verschärft in der Zeit des Bürgerkriegs – war der König nicht die entscheidende Figur im eigenen Reich, wenn es um die Sache von Krieg und Frieden ging.80 Es konnte dazu kommen, dass seine Lehnsleute sich gegen ihn stellten, mit seinem Kriegsgegner paktierten, wenn es ihnen selbst nützte. Ein „Machiavellismus avant la lettre“ wurde spätestens in der Zeit des Hundertjährigen Krieges erfunden.81 In ihrer pragmatischen, unabhängigen und widerständigen Art, den eigenen Vorteil zu sichern, standen die brigands ebenso für einen solchen Machiavellismus. Ohne latente Bindung an eine legitime Herrschaft waren sie eine jener „kleinen Gruppen“, die aus sich heraus handelnd, zugleich untereinander vernetzt und mitunter international rekrutiert, die dominanten Ordnungen ihrer Zeit, die selbst Wandlungsprozessen unterlagen, zu provozieren und zu irritieren vermochten. Dies ändert nichts an ihrer unvermeidlichen Zuordnung zu Räubern und Gewalttätern. Nicht entschuldigend oder verstehend, sondern als notwendige historische Kontextualisierung ist ihre Genese zugleich immer auch aus dem Zusammenhang der zeitgenössischen Soldtruppen sowie aus den Risiken einer sozialen Existenz an Rändern und Grenzen der Gesellschaft zu erzialständischen Herkunft verdanken. Contamine, Guerre, ¦tat, S. 278 – 301. Vgl. Patrick Gilli, Des capitaines au Parlement (1353 – 1370), in: Jacques Paviot / Jacques Verger (Hg.), Les acteurs. Typologie des protagonistes des scÀnes de violence. Guerre, pouvoir et noblesse au Moyen Age, Festschrift Philippe Contamine, Paris 2000, S. 313 – 322. 80 Contamine, La guerre et l’Etat, S. 69, 73. 81 Vgl. Martin Kintzinger, Europäische Diplomatie avant la lettre? Außenpolitik und internationale Beziehungen im Mittelalter, in: Christian Hesse / Klaus Oschema (Hg.), Aufbruch im Mittelalter – Innovationen in Gesellschaften der Vormoderne. Festschrift Rainer C. Schwinges, Ostfildern 2010, S. 245 – 268.

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klären. Die sie kennzeichnende Selbstorganisation als Gewaltgemeinschaften mussten die brigands nicht erst finden. Sie brachten sie bereits als Merkmal ihrer Existenz im Umfeld der Soldkämpfer und über den gegebenen sozialen Zwang zur „Verbandsbildung“ mit. Wenig trennte sie auch insofern von Räuberbanden einerseits, von angeworbenen regulären Infanterieeinheiten der königlichen Heere andererseits – hingegen sehr vieles von jenen legendären Figuren, die als Rächer der Entrechteten oder als Idealfiguren eines zu Unrecht Ausgestoßenen bis heute unsere Sympathie finden.

Christine Reinle / Peter Hesse

Logik der Gewalt. Die Auseinandersetzungen der Percy und der Neville um die Mitte des 15. Jahrhunderts im Abgleich mit der kontinentalen Fehdepraxis*

Der folgende Beitrag bietet eine erste Standortbestimmung nach gut einjähriger Laufzeit des Arbeitsvorhabens; er formuliert daher eher Arbeitshypothesen als fest gegründete Ergebnisse. Nach einem Blick auf die Forschung (1: Reinle) werden in einem zweiten Teil allgemeine Überlegungen zu adligem Gewalthandeln in England und zu den Möglichkeiten, dieses vor dem Hintergrund der europäischen Situation zu systematisieren, angestellt (2: Reinle). In einem weiteren Teil wird der konkrete Untersuchungsgegenstand, die Situation im Norden Englands um die Mitte des 15. Jahrhunderts und insbesondere die Magnatenfamilie der Percy, im Mittelpunkt stehen (3: Hesse). Hier werden auch deren konkretes Gewalthandeln (4: Hesse) und dessen Trägergruppen, die „Gewaltgemeinschaften“, beschrieben und eingeordnet (5: Hesse/Reinle). In einem letzten Teil wird eine generalisierende Analyse versucht (6: Reinle).

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Stand der Forschung

Beim Thema „Gewalt“ in der spätmittelalterlichen Gesellschaft denkt man aus deutscher Perspektive vielleicht als erstes an die Existenz vermeintlicher „Raubritter“, die aber, wie sich mittlerweile herumspricht, ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts sind; sodann, bei näherem Hinsehen, an das Rechtsinstitut der Fehde. So verbreitet die gewaltsame Selbsthilfe, insbesondere die des Adels, die Fehde, auch war, so sehr wurde sie nämlich im 20. Jahrhundert kritisiert. Diese Kritik konnte sich auf Stimmen der Zeitgenossen stützen, welche die Folgen der Fehde für die Nichtkombattanten beklagten: „O herr Gott“, entfuhr es etwa dem Augsburger Chronisten Burkhard Zink, „laß dichs erbarmen und understand das groß übel und das ellend, das den armen Leuten beschicht, den man nimpt, was sie hand, und in ire heuser verprent, die doch unschuldig sind.“1 * Für freundliche Hinweise danken die Verfasser Mathis Prange M.A. (Gießen). 1 Die Chronik des Burkard Zink. 1368 – 1468, in: [Ferdinand] Frensdorff / [Matthias] Lexer

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Der Forschung – auch der nichtdeutschen – schien die Existenz der Fehde gar ein Indiz für einen Niedergang der „Staatlichkeit“ im deutschen Spätmittelalter zu sein.2 Auch wenn diese Fehleinschätzung durch die Forschungen Otto Brunners korrigiert und die Einbindung der Fehde in das Rechtssystem im römisch-deutschen Reich herausgearbeitet wurde, blieb die Deutung bestehen, dass das römisch-deutsche Reich hier einen Sonderweg beschritten habe, der einer geringer ausgeprägten Institutionalität, insbesondere im Bereich der Gerichtsverfassung,3 geschuldet war. In stärker zentralisierten Monarchien – im normannischen Sizilien4 oder in England,5 zunehmend aber auch im spätmit-

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(Hg.), Die Chroniken der deutschen Städte (Die Chroniken der schwäbischen Städte, 2), Bd. 5, ND Stuttgart 1965 [Leipzig 1866], S. 1 – 330, hier S. 245; erwähnt in: Rainer Bach, „Der ritterschaft in eren“. Das Bild des Krieges in den historiographischen Schriften niederadliger Autoren des 15. und frühen 16. Jahrhunderts (Imagines Medii Aevi, 10), Wiesbaden 2002, hier S. 49 (Anm. 221). Die These eines Entwicklungsrückschritts aufgrund des Zersplitterns der Zentralgewalt im römisch-deutschen Reich vertrat u. a. Geoffrey Barraclough, Tatsachen der deutschen Geschichte, Klagenfurt 1948 [Oxford 1946], dt. Ausgabe S. 44 – 48; zur vermeintlichen Anarchie des Spätmittelalters ebd., S. 62 – 65. Vgl. hierzu die Bemerkungen von F. R. H. Du Boulay, Law enforcement in medieval Germany, in: History 63, 1978, S. 345 – 355, hier S. 345: „The king of England’s justice was far from perfect, but at least it was clear by the twelfth century that his writ ran throughout his realm and his law was broadly the same for all free men. So it takes some effort of imagination to understand later medieval Germany where effective royal courts were lacking and where the very forms of law differed from region to region. The weakness of the German legal structure lay not in any lack of learning, intelligence or wealth, […] but in the size and diversity of the country, the circumscription of royal power and the corresponding multiplicity of jurisdiction.“ Vgl. hier das Fehdeverbot in den Konstitutionen von Melfi aus dem Jahren 1231, vgl. Wolfgang Stürner (Hg.), MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. Tomus II. Supplementum. Die Konstitutionen Friedrichs II. für das Königreich Sizilien, Hannover 1996, hier I, 8, S. 158 f. und bes. I, 9, S. 159 f.; Mattias G. Fischer, Über den Rechtscharakter der Fehde im Spätmittelalter, in: Jost Hausmann / Thomas Krause (Hg.), „Zur Erhaltung guter Ordnung“. Beiträge zur Geschichte von Recht und Justiz. Festschrift für Wolfgang Sellert zum 65. Geburtstag, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 123 – 139, hier S. 133 f. Bereits Otto Brunner konstatierte einen „Zusammenhang zwischen Fehde und innerer Struktur, Staat und Recht“ und macht dies daran fest, dass „längere Zeit wirksame Fehdeverbote nur in jenen mittelalterlichen Staaten durchgesetzt werden konnten, die wir als Vorbilder des neuzeitlichen Staates ansprechen, in den Normannenstaaten der Normandie, Siziliens und Englands“, vgl. Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Darmstadt 1984 [unveränd. reprograf. ND der 5. Aufl., Wien 1965], S. 34. Zum Forschungsstereotyp des von Todschlagrache und Fehde freien hochmittelalterlichen England, das durch die Forschungen von Paul Hyams grundsätzlich in Frage gestellt wurde, vgl. auch Jeppe Büchert Netterstrøm, Introduction. The study of feud in medieval and early modern history, in: ders. / Bjørn Poulsen (Hg.), Feud in medieval and early modern Europe, Aarhus 2007, S. 9 – 67, hier S. 12. Zur Verortung dieses Stereotyps in der viktorianischen Historiographie, die ihr Staatsverständnis im klassischen Lehnszeitalter besser repräsentiert sah als im vermeintlichen spätmittelalterlichen Nieder-

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telalterlichen Frankreich6 – habe legitime Eigengewalt des Adels keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Platz gehabt. Dies galt erst recht unterhalb des Adels, denn die Abwesenheit von Eigengewalt auch in Gestalt der (Blut-)Rache betrachteten die Zeitgenossen als ein zentrales Unterscheidungsmerkmal des französischen vom deutschen Rechtssystem.7 Ihr Haupt erhoben habe illegitime gang der Lehnsstrukturen, vgl. Michael Hicks, Bastard feudalism (The Medieval World Series), London 1995, S. 14. 6 In Frankreich sah sich das hochmittelalterliche Königtum einer weit verbreiteten und akzeptierten Fehdepraxis des Adels gegenüber, die sich auch gegen den König richten konnte, die das Königtum aber sukzessive (und früher erfolgreich) als im römisch-deutschen Reich zu unterbinden unternahm, vgl. Walther Kienast, Untertaneneid und Treuevorbehalt in Frankreich und England, Weimar 1952, S. 131 – 161. Die Annahme, bereits Ludwig der Heilige habe die Fehde in ganz Frankreich unterbinden können, darf jedoch als widerlegt gelten. Im hochund spätmittelalterlichen Königreich Frankreich konnte nämlich bis 1413 kein allgemeines Fehdeverbot durchgesetzt werden. Doch forderte das Königtum bereits seit Philipp II. August die Einhaltung der „Quarantaine-le-roi“, einer Vierzig-Tages-Frist vor Beginn einer Fehde. Wer keinen fehdeförmlichen Konfliktaustrag wünschte, konnte überdies in der Krondomäne seinen Gegner zu einem eidlichen Friedensversprechen, einem „asseurement“ bzw. einer „assecuratio“, gerichtlich nötigen. Hochgerichte – oft königliche Gerichte – überwachten die Einhaltung der „asseurements“. Ludwig IX. brachte den Zwang zur Abgabe eines Friedensversprechens darüber hinaus auch in den Lehensfürstentümern zur Geltung, vgl. Robert Holzmann, Französische Verfassungsgeschichte, ND München 1965 [Berlin/München 1910], S. 221 f.; Heinrich Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters. Grundlinien einer vergleichenden Verfassungsgeschichte des Lehnszeitalters, 11. unveränd. Aufl., Weimar 1986, S. 373 f.; Reinhold Kaiser, Selbsthilfe und Gewaltmonopol. Königliche Friedenswahrung in Deutschland und Frankreich im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 17, 1983, S. 55 – 72, hier S. 70 f. Als entscheidenden Faktor für die Ausbildung eines staatlichen Gewaltmonopols nennt Kaiser, ebd., S. 72 den „Aufbau einer funktionierenden staatlichen Rechtsprechung“. Diese bereits von Holzmann angedeutete Auffassung wird durch die Untersuchungen Kaeupers bestätigt, der aufzeigte, in welchem Umfang zum einen Einzelmaßnahmen wie die eben genannten, aber auch die Ausstellung von Geleitsbriefen, Verbote des Waffentragens etc., zum anderen die gerichtliche Verfolgung von Übertretungen von den Zeiten Ludwigs des Heiligen bis zu Philipp V. († 1322) eingesetzt wurden, um Frieden herzustellen. Sowohl den durch Summierung der Einzelmaßnahmen erzielten Erfolg wie die Grenzen dieser Politik benennt Kaeuper präzise, vgl. Richard W. Kaeuper, War, justice and public order. England and France in the later Middle Ages, Oxford 1988, hier S. 231 – 260. Zu den Grenzen der königlichen Friedenspolitik vgl. aber Howard Kaminsky, The noble feud in the later Middle Ages, in: Past and Present 177, Nov. 2002, S. 55 – 83, hier S. 65 – 71, der nicht nur auf die Häufigkeit von Fehden, sondern auch auf die große Zahl königlicher Pardonierungen wegen solcher Fehdehandlungen hinweist. 7 Schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts galt das Obwalten der (Straf-)Gewalt eines Herrn im Fall einer Tötung als Charakteristikum des Königreichs Frankreich, da der Delinquent dem Herrn mit Leib und Gut verfalle, während der Herr des Getöteten im römischdeutschen Reich eine Geldsumme erhielt, und überdies mit den Freunden bzw. Verwandten des Getöteten eine Fehde anstehen konnte. So jedenfalls unterschied ein Zeuge den Teil der Straße beim Bach Biesme, die Frankreich gehörte, von jener zwischen dem Bach Biesme und Verdun, die zum Reich gehörte: „Et dit encor, que par delai le dit tu de Byeme ou roialme de France la coustume est teile, que cil qui occist home, est en la main le signor, cors et avoirs, et n’en demande-on riens les amis; et par desai le dit ru de Byeme devers Verdun en l’empire, qui

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Eigengewalt in England in erster Linie in Zeiten der Schwäche des Königtums, und zwar in Gestalt von Rebellionen und Bürgerkriegen, aber auch von Exzessen inneradliger Rivalitäten. Mit seiner strikten Hinordnung aller Lehns- und Treuebeziehungen auf den König8 sei England bereits seit der Regierungszeit Henrys II. ein vermeintlich „modernes“, durch eine funktionierende königliche Gerichtsbarkeit und durch königliche Exekutivorgane geordnetes und befriedetes Land gewesen.9 Bereits die Assize of Novel disseisin von 1166 habe so Adelskonflikte kanalisiert und adlige Eigengewalt sukzessiv kriminalisiert.10 Gewalttätigkeit, die es selbstverständlich weiterhin und in nicht unbeträchtlichem Umfang gab, war demnach Ausweis von Devianz, wenn nicht von Kri-

occist home, il est quites au signor parmi certainne soume d’argent et at la werre as amis“, vgl. Instrumentum Commissariorum de inquisitione facta. 1288 Mai 25, in: Jakob Schwalm (Hg.), Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, Bd. 3, Hannover/Leipzig 1904 – 1906, Nr. 410, S. 392 – 405, hier S. 306 Z. 39 – 43 (freundlicher Hinweis von Prof. Dr. JeanMarie Moeglin, Paris). Zum Sachverhalt vgl. außerdem Heinz Thomas, Deutsche Geschichte des Spätmittelalters 1250 – 1500, Berlin/Köln/Mainz 1983, S. 73, der den in der Quelle erwähnten Herrn mit dem Gerichtsherrn gleichsetzte und folgerte, „[…] daß in Frankreich der Bruch des (absoluten) Rechtsfriedens dem König gesühnt werden muß, während in dem zum Reich gehörigen Verdun der Totschlag noch immer weitgehend als Privatangelegenheit zwischen Täter und Geschädigten behandelt wird, die mit Fehde oder Kompensation bereinigt werden kann“. Eigengewalt – hier in Gestalt der Blutrache – galt also als typisch für das Reich. Zu weiteren rechtlichen Unterschieden zwischen Frankreich und dem Reich sowie zur Identifizierung der Ortsangabe „Byeme“ mit dem Bach Biesme vgl. Georg Jostkleigrewe, „Ganzer frid noch staeter suon […] wirt nimmer ˜f der riviere der zweier r„che gemerke“ – eine deutsch-französische Erbfeindschaft „ante litteram“? Ottokar von Steiermark und die problematische Konstruktion „nationaler“ Grenzen in vornationaler Zeit, in: Ulrich Knefelkamp / Kristian Bosselmann-Cyran (Hg.), Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter. 11. Symposium des Mediävistenverbandes vom 14. bis 17. März 2005 in Frankfurt an der Oder, Berlin 2007, S. 37 – 53, hier S. 40 f. 8 Die Hinordnung der Lehnsbeziehungen auf den König und die zentripetale Wirkung des Lehnswesens in England betonte bereits Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters (wie Anm. 6), S. 425. Auch Fehlen von Allod stellt eine die lehnrechtliche Komponente verstärkende Besonderheit der englischen Verfassung dar, vgl. Karl-Friedrich Krieger, Geschichte Englands, 2. durchges. Aufl., München 1996, S. 89. 9 Die Fortschrittlichkeit Englands, gemessen an der Schnelligkeit eines „Staatsaufbaus“, an seinen Institutionen und der Entwicklung monarchischer Souveränität betonte Joseph R. Strayer, Die mittelalterlichen Grundlagen des modernen Staates. Hg. und übers. von Hanna Vollrath, Köln/Wien 1975 [Princeton 1970], S. 32 – 44, bes. S. 43 (Zitat) und S. 44. Zum Entwicklungsrückschritt im römisch-deutschen Reich vgl. etwa ebd., S. 32. 10 Vgl. etwa die Wertung des sich an die Assize of Novel Disseisin anschließenden Verfahrens bei Krieger, Geschichte Englands, S. 132: „Diese Verfahrensweise hatte den Vorteil, daß sie jede gewaltsame Besitzstörung im Wege der Selbsthilfe, ein Verfahren, das ja in Deutschland unter dem Begriff der Fehde bis zum Ende des Mittelalters blühte, grundsätzlich als Unrecht diskriminierte und die Parteien auf den Rechtsweg verwies, was in der Praxis bereits die Vorwegnahme des vom modernen Staat beanspruchten ,Monopols legitimer Gewaltanwendung‘ bedeutete“.

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minalität.11 Dennoch sei England im Letzten ein im Innern befriedetes Land gewesen.12 Als Folge der „Meistererzählung“ von der erfolgreichen Fehdebekämpfung des angevinischen Königtums verwundert es nicht, dass die Forschung lange Zeit Gewalthandlungen im englischen Königreich mit den Augen der Krone betrachtete und als Vergehen einstufte, statt sie daraufhin zu befragen, in welchem Umfang sie dem zeittypischen Fehdeverhalten des Adels in Europa entsprach. Dagegen wurde gewaltbasierte Devianz von der älteren Forschung mit der Transformation der englischen Gesellschaft im Spätmittelalter in Beziehung gesetzt. Hervorzuheben ist hier besonders der Ausbau der affinities, königlicher, aber auch adliger Gefolgschaften, welche die bestehenden proto-„staatlichen“ Strukturen überlagerten. Vom klassischen Lehnswesen als „Bastardfeudalismus“ abgegrenzt, wurde das Gefolgschaftswesen als Verfallserscheinung und damit als Normabweichung betrachtet und für die Zunahme innerer Gewalt vom Verbrechen über private war(s) bis zum Bürgerkrieg verantwortlich gemacht.13 Bereits die zeitgenössische Kritik bot für eine solche Deutung Anhaltspunkte. Ihr folgend, diskutierte die englische Forschung Gefolgschaftswesen und Bastardfeudalismus zunächst mit negativem Vorzeichen, bis sich seit den Forschungen Kenneth McFarlanes14 allmählich eine neutralere Besetzung des Begriffs „Bastardfeudalismus“15 und der dazugehörigen Netzwerke16 durchsetzte. Als Forschungsstand darf nunmehr gelten, dass im Rahmen des Bastardfeudalismus, teils gestützt auf Verträge mit Gefolgsleuten, teils ohne diese for11 Vgl. Hicks, Bastard feudalism, S. 113 zum älteren Forschungsstand. 12 So noch Anthony Goodman, The Wars of the Roses. The soldiers’ experience, Stroud 2005, S. 35 f. (für die Zeit vor dem Ausbruch der Rosenkriege). 13 Vgl. die Zusammenfassung des Forschungsstandes vor den Arbeiten McFarlanes bei Hicks, Bastard feudalism, S. 12 – 15, Zitat S. 15. 14 Vgl. etwa Kenneth B[ruce] McFarlane, Parliament and ,bastard feudalism‘, in: Transactions of the royal historical society, 4th series, 26, 1944, S. 53 – 79; ders., England in the fifteenth century (History series, 5). Collected essays. Introduction by G. L. Harriss, London 1981. Zum Neuansatz McFarlanes und seiner Rezeption vgl. zusammenfassend Hicks, Bastard feudalism, S. 16 – 19. 15 Aus der Fülle der Literatur sei genannt: Christine Carpenter, The Beauchamp affinity. A study of bastard feudalism at work, in: English Historical Review 95, 1980, S. 514 – 532, hier S. 514, 531 f. 16 Vgl. etwa Craig A. Robertson, Local government and the King’s „affinity“ in fifteenthcentury Leicestershire and Warwickshire, in: Transactions of the Leicestershire Archaeological and Historical Society 52, 1976/77, S. 37 – 45, hier S. 38, der das Konzept McFarlanes zur Basis seiner eigenen Forschungen machte und wie folgt zusammenfasste: „The term bastard feudalism is meant here in the broad sense intended by the late K. B. McFarlane, who included in his brilliant treatments of the subject not only the practice of retaining armed men by indentures, but the entire pattern by which men substituted pensions, letters patent and vaguer ,good lordship‘ for the decrepit bond of tenurial feudalism, in order to obtain service. It cannot be limited to just the liveried retinue. […] Contemporaries used the term ,affinity‘ to describe this class of relations […]“.

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malisierte Bindung, eine Klientel- und Patronage-Beziehung17 aufgebaut wurde, welche ein Dienst- und Soldverhältnis sowie Schutz und Förderung beinhaltete. Der Einsatzbereich der Gefolgsleute (retainer), die sich durch das Tragen bestimmter Farben und Abzeichen nach außen als Gruppe darstellen konnten, war vielfältig und keineswegs nur militärisch; gleichwohl konnten sie auch als Gewaltgemeinschaft in Erscheinung treten. Sie durchsetzten aber auch die Gerichte und brachten die Justiz in den Ruf partieller Korrumpierung.18 Mit vergleichbarer Wirkung banden sich ferner Männer an einen good lord, von dem sie sich in einer „lossely-knit and shamelessly competitive society“ wie der spätmittelalterlichen englischen die Förderung ihrer Interessen als Geschäft auf Gegenseitigkeit versprachen.19 Insgesamt schreibt man heute dem Bastardfeudalismus keineswegs mehr automatisch eine die königliche Autorität zersetzende,20 son-

17 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, 2. durchges. Aufl., München 2000, S. 136 definierte eine „Patronage-Klientel-Beziehung“ als „dyadische[n] interpersonelle[n] Kontrakt, durch den ein Patron einem oder mehreren Klienten relativ dauerhaft Schutz und andere Vorteile gewährt“, während der Klient sich durch Gegenleistungen erkenntlich zeigt. Eine vertragliche Absicherung der gegenseitigen Pflichten erfolgte laut Reinhard in der Regel nicht. Ihrer Natur nach ist die Beziehung ferner durch „Asymmetrie“ gekennzeichnet. Die sonst als Bastardfeudalismus bezeichneten Formen der Bindung, das Unterhalten von „Indentured Retainers“ in England wie das System der „Bonds of Manrent“ in Schottland, rechnet Reinhard zu Ausprägungen des Klientelwesens (ebd., S. 137). Nach seiner Definition handelte es sich „um einen befristeten oder unbefristeten Loyalitätsvertrag mit einem Herrn, oft gegen Unterhalt in dessen Haushaltung und Geldzahlungen“, wobei die Leistungen des Klienten „häufig militärischer Art“ waren (ebd.). 18 Zur Einflussnahme der Magnaten auf die Besetzung der „Schaltstellen“ der Gerichtsbarkeit, der Ämter des Friedensrichters und des Sheriffs und zu der daraus resultierenden Parteilichkeit der Rechtsprechung vgl. z. B. Carpenter, The Beauchamp affinity, S. 524 f.; ebd., S. 525 außerdem zur Option, Gewalt einzusetzen, wenn das gewünschte Ergebnis auf „legalem“ Weg nicht erzielt wurde. Ein drastisches Beispiel dafür, wie Richter und Geschworene unter Druck gesetzt wurden, um Verfahren zu unterbinden, bietet Storey. Sein Beispiel fand mit der Ermordung eines bereits bis zur Untätigkeit eingeschüchterten Richters und anschließenden Repressalien gegen dessen Witwe ihr fatales Ende, vgl. R[obin] L. Storey, The end of the House of Lancaster, ND London 1986 [1966], S. 119. Umgekehrt suchten Menschen „the patronage of influential magnates who could ,maintain‘ them in their quarrels as the ordinary course of the law failed to provide justice or protection“, vgl. ebd., S. 117 f. Zur Parteilichkeit im englischen Rechtswesen trotz seines hohen Institutionalisierungsgrads vgl. außerdem Simon Walker, Order and law, in: Rosemary Horrox / W. Mark Ormrod (Hg.), A social history of England, 1200 – 1500, Cambridge 2006, S. 91 – 112, hier S. 101 – 104. Ein abgewogenes Bild von der Funktionsweise des Justizsystems und einschlägigen Instrumentalisierungsversuchen zeichnet John G. Bellamy, Bastard feudalism and the law, London 1989, S. 10 – 33. 19 McFarlane, Parliament and ,bastard feudalism‘, S. 70; vgl. auch Carpenter, Beauchamp affinity, S. 532. 20 Michael Hicks, Bastard feudalism, Overmighty subjects and idols of the multitude during the Wars of the Roses, in: History 85, 2000, S. 386 – 403. Bereits McFarlane hatte die Verant-

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dern eine ambivalente bzw. eine paradoxe Wirkung zu, bei der systemstabilisierende wie -destabilisierende Wirkungen gleichermaßen möglich waren.21 Auch wenn die soziale Funktion des Bastardfeudalismus zunehmend in ihrer konstruktiven Dimension gesehen wurde und in Puncto Rechtsprechung nicht nur das Versagen der ordentlichen Justiz, sondern auch das (netzwerkbasierte) Schlichtungswesen in den Blick genommen wurde,22 verlor die negative Bewertung der Auswirkungen des Bastardfeudalismus auf die Gerichtsbarkeit und die Ämterverfassung offenbar auch in der Folgezeit nur wenig von ihrer Überzeugungskraft. Aus der beobachtbaren adligen Infiltration der königlichen Institutionen konnte sogar die Raison d’Þtre des Bastardfeudalismus abgeleitet werden. Nach einer 1989 von Peter Coss formulierten These entstand der Bastardfeudalismus nämlich als Reaktion auf die angevinischen Reformen: Soziale Beziehungen wurden demnach etabliert und aktiviert, um proto-bürokratische Strukturen auszuhebeln.23 Fragt man, warum solche Interpretationen so viel Plausibilität entfalten, wird man auf die hinter ihnen liegenden Annahmen verwiesen. Besonders in der älteren Forschung beruhten diese, wie es scheint, letztlich auf einem nicht unproblematischen Modell, das auf der Grundlage normativer Vorstellungen vom Funktionieren einer Gesellschaft entwickelt wurde. Es räumte den königlichen Institutionen unhinterfragt ein Prae ein. Folglich war es Aufgabe der königlichen Amtsträger, Rechtssicherheit und inneren Frieden zu gewährleisten, während adlige Parallelstrukturen und erst recht adlige Eigengewalt mit einiger Wahrscheinlichkeit einen Missstand darstellten.24 Eine solche Betrachtungsweise hat

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wortung dafür, dass Untertanen des Königs diesen an Macht übertrafen, im Versagen der Krone gesehen, nicht in der Machtgier des Adels. Hicks, Bastard feudalism, S. 2. Für das 15. Jahrhundert vgl. etwa John G. Bellamy, Criminal law and society in late medieval and Tudor England, Gloucester/New York 1984, S. 79 – 83; Philippa Maddern, Violence and social order. East Anglia 1422 – 1442 (Oxford Historical Monographs), Oxford 1992, S. 14 – 16, 68, 227. Der Vorwurf, der Bastardfeudalismus habe das Gerichtswesen und die Ämterverfassung zersetzt, wurde bereits in viktorianischer Zeit erhoben, vgl. Hicks, Bastard feudalism, S. 15 und unter veränderten Vorzeichen in jüngerer Zeit wieder von Coss in den Mittelpunkt der Argumentation gestellt, vgl. hierzu P[eter] R. Coss, Bastard feudalism revised, in: Past and Present 125, 1989, S. 27 – 64; ferner David Crouch, Debate. Bastard feudalism revised. Comment I, in: Past and Present 131, 1991, S. 165 – 177; D. A. Carpenter, Comment II., ebd., S. 177 – 189; Peter Coss, Reply, a. a. O., S. 190 – 203; sowie hierzu die Zusammenfassung des Forschungsstandes bei Hicks, Bastard feudalism, S. 24 – 27. Hicks selbst relativierte hingegen den Vorwurf, im Rahmen des adligen Gefolgschaftswesens sei die Justiz korrumpiert worden. Die zunehmenden Klagen führte er u. a. auf eine erweiterte Quellenbasis und auf verändertes Problembewusstsein zurück, vgl. ebd., S. 119 – 124. Zum Paradigmenwechsel der neueren Forschung, die von der alleinigen Zuständigkeit des Königtums für die Rechtswahrung abrückt, vgl. jedoch Maddern, Violence and social order, S. 15 – 17.

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fraglos ihren Rückhalt in den Quellen, in denen der königliche Anspruch, „lawes“ und „pees“25 zu verteidigen, ebenso ihren Ausdruck findet wie die Erwartung der Zeitgenossen, die genau diese Funktion dem König zuschrieb.26 Was bei einer solchen traditionellen Betrachtungsweise jedoch interpretatorisch verkürzt wurde, war der Zusammenhang von Bastardfeudalismus und Gewalthandeln. Nicht nachdrücklich genug war nämlich die Handlungslogik der Akteure hinterfragt worden, die mit den Stichworten Machtstreben, Ausnutzung der Schwäche der Krone oder bestenfalls Selbsthilfe in Anbetracht des Versagens der Krone hinreichend beschrieben schien. Erst in der jüngeren englischen Forschung hat sich dies geändert. Sie fragt intensiv nach dieser Handlungslogik und nach den Gründen für die Gewaltaffinität des Adels.27 Dabei lenkte insbesondere John Bellamy den Blick immer wieder auf die Bedeutung des Landbesitzes für die englische Oberschicht und arbeitete den Zusammenhang zwischen begrenzten gewaltsamen Auseinandersetzungen und Konflikten um Land heraus, dessen es sich bei umstrittenem Besitz faktisch oder symbolisch zu bemächtigen galt.28 Weiterhin wies die Forschung darauf hin, dass Gewalt zur Verteidigung der eigenen Ehre und des familiären Nutzens eingesetzt wurde.29 Schließlich wurde der Gewaltanwendung 25 Vgl. das Einschreiten des königlichen Rats gegen Handlungen, die „ayent oure lawes and pees“ gerichtet waren, vgl. Harris Nicolas (Hg.), Proceedings and ordinances of the Privy Council of England, Bd. 6, London 1837, S. 147 und passim. 26 So beklagten schon die Zeitgenossen das Versagen der Krone in dieser Beziehung zur Zeit Henrys VI., wie etwa John Hardings Chronik ausweist, vgl. C. L. Kingsford, Extracts from the first version of Hardyng’s Chronicle, in: English Historical Review 27, 1912, S. 740 – 753, hier S. 745, 749; in Auszügen zitiert in: A. R. Myers (Hg.), English historical documents, Bd. 4: 1327 – 1485, London 1969, Nr. 152, S. 274 und bei Keith Dockray, Henry VI, Margaret of Anjou and the Wars of the Roses. A source book, Stroud 2000, Nr. 3, S. 32; vgl. auch Maddern, Violence and social order, S. 2. 27 Vgl. hierzu etwa die von Kaminsky, The noble feud, S. 76 f. und 78 f. als zentrale Referenzen angeführten Werke von Maddern, Violence and social order, S. 21, 227 und Simon Walker, The Lancastrian affinity. 1361 – 1399, Oxford 1990. 28 Zur Bedeutung des Landbesitzes für den Adel vgl. z. B. Bellamy, Bastard feudalism, S. 35. Zum Bestreben der Magnaten, den eigenen Erbbesitz und das eigene „Land“ zu kontrollieren, vgl. Coss, Bastard feudalism revised, S. 29; zur Bedeutung von Land für den Aufbau eine affinity und für das Aufrechterhalten des eigenen Status vgl. Carpenter, The Beauchamp affinity, S. 515, 521; dieses Bestreben gilt als zentrales handlungsleitendes Motiv. Den Konflikten um Land entsprachen spezifische Formen des Konfliktaustrags wie forcible entries, vgl. Bellamy, Bastard feudalism, S. 39 – 43; ders., Criminal law, S. 65 – 70; Hicks, Bastard feudalism, S. 118; Christine Reinle, „Fehde“ und gewaltsame Selbsthilfe in England und im römisch-deutschen Reich, in: Rolf Lieberwirth / Heiner Lück (Hg.), Akten des 36. Deutschen Rechtshistorikertages. Halle an der Saale, 10.–14. September 2006, Baden-Baden/Bern/ Stuttgart 2008, S. 99 – 132, hier S. 113 f. mit einer Zusammenstellung weiterer Belege. 29 So konstatiert Goodman, The Wars of the Roses, S. 33 f.: „The English elites certainly paid plenty of lip service to the general importance of upholding the king’s peace, but from mere gentleman to quasi-princely duke, when they believed that the honour and profit of their family was in jeopardy, they were prepared to resort to force“.

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in Abkehr von den alten forschungsleitenden Prämissen gewaltinduzierter lawlessness und disorder von Philippa Maddern eine ordnungsstiftende Funktion innerhalb der Gesellschaft zugeschrieben und ihr Stellenwert für das Erzielen außergerichtlicher Vereinbarungen betont.30 In allen Fällen wurde Gewalt als Instrument zur Durchsetzung bestimmter, nicht von vorneherein verwerflicher Ziele betrachtet. Umgekehrt jedoch wurde jenen, die von der älteren Forschung für die Gewaltausbrüche um die Mitte des 15. Jahrhunderts verantwortlich gemacht worden waren, den (vermeintlich) übermächtigen Magnaten Henrys VI., auch die Befähigung zugeschrieben, anstelle des dazu unfähigen Königs friedenswahrend tätig zu werden.31 Den bislang letzten Schlag versetzten zwei amerikanische Forscher dem alten Bild des prinzipiell befriedeten, lediglich durch Missstände in Friedlosigkeit abgleitenden England. So hat Paul Hyams die hartnäckige Fortdauer einer Fehdementalität in England auch nach den angevinischen Reformen betont.32 Howard Kaminsky, dem eine Übersetzung von Otto Brunners Hauptwerk „Land und Herrschaft“ ins Englische zu verdanken ist,33 hat gar die Parallelität zu kontinentalen Strukturen hervorgehoben sowie nach der spezifischen legality fehdeförmlichen Handelns gefragt.34 30 Kaminsky, The noble feud, S. 76. Konsequenterweise gehen Maddern und nach ihr Kaminsky von der Komplementarität von Recht und Gewalt auch in England aus. Bereits bei der Rekapitulation des jüngsten Forschungsstandes bemerkt Maddern: „Increasingly […] historians are examining the status of violence as a form of litigation by other means. This tends to break down the distinction between orderly law and disorderly violence“, vgl. Maddern, Violence and social order, S. 14, vgl. außerdem S. 16; ein Argument, das die gern gewählte Perspektive, Fehde sei die Fortsetzung des Rechtsstreits mit anderen Mitteln, produktiv umkehrt. Auch resümierend sieht Maddern beim Einsatz beider Optionen das Bestreben am Werk, die gottgewollte gesellschaftliche und politische Ordnung zu verteidigen, vgl. Maddern, Violence and social order, S. 229, 231; nach Maddern Kaminsky, The noble feud, S. 77 f. Die Thesenbildung Madderns beruht, wie einschränkend zu Bedenken gegeben wird, freilich in bedenklichem Ausmaß auf dem Verzicht auf eine Unterscheidung zwischen obrigkeitlichem Zwang bzw. obrigkeitlicher Strafgewalt und von Individuen ausgeübter Gewalt, vgl. Maddern, Violence and social order, S. 232 – 234. Auf der andere Seite kann man an der von ihr vorgeschlagenen Zusammenführung von Gewalt und Recht gut den Paradigmenwechsel der neueren Forschung ablesen, hatte doch die ältere Forschung als Hauptcharakteristikum der gewaltbereiten spätmittelalterlichen englischen Gesellschaft das Vorherrschen von „lawlessness“ (!) und „disorder“ betrachtet. 31 Vgl. das Referat des Forschungsstandes, insbesondere der Forschungen Christine Carpenters, bei Maddern, Violence and social order, S. 18 f. 32 Paul R. Hyams, Feud in medieval England, in: Haskins Society Journal 3. Studies in Medieval History for 1991, 1992, S. 1 – 21; ders., Nastiness and wrong, rancor and reconciliation, in: Warren C. Brown / Piotr Gûrecki (Hg.), Conflict in medieval Europe. Changing perspectives on society and culture, Aldershot 2003, S. 195 – 218; ders., Rancor and reconciliation in medieval England, Ithaca 2003. 33 Otto Brunner, „Land“ and lordship. Structures of governance in medieval Austria. Übers. von Howard Kaminsky und James Van Horn Melton, Philadelphia 1992. 34 Kaminsky, The noble feud, S. 75 f. Vgl. ebd., S. 78: „Analogous to the Brunnerian shift from

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Vor dem Hintergrund dieser differenzierten neueren Forschungsdiskussion wird man nicht länger unbesehen annehmen, dass alle, die an der Produktion gewaltoffener „Missstände“ beteiligt waren, wider besseren Wissens gleichsam kriminelle Energie walten ließen. Statt dessen wird man unter Fortführung der Ansätze der jüngeren Forschung noch konsequenter fragen müssen, in welchen Handlungszusammenhängen, aus welchen Motiven und in welchen Formen (Hoch-)Adlige Gewalt im spätmittelalterlichen England ausübten und warum diese Gewaltpraktiken nicht entschlossener bekämpft wurden. Dies gilt besonders für die 1450er Jahre, die von Maddern aus ihrer grundlegenden Studie ausgespart worden waren und in denen nach bisherigem Forschungsstand der gesellschaftliche Konsens über den zulässigen Einsatz von Gewalt gesprengt worden sein könnte.35 Zur Einordnung dürfte außer einer immanenten Analyse auch ein vergleichender Blick auf die adlige Gewaltpraxis auf dem Kontinent, die Fehde, hilfreich sein. Möglicherweise lässt sich aus einer Untersuchung aber auch auf gesellschaftliche Funktionen von Gewalt schließen, die den Betroffenen selbst gar nicht immer bewusst sein mussten.

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Adliges Gewalthandeln in England

Betrachten wir zunächst die strukturellen Kontexte von Gewaltanwendung etwas genauer. Auf den ersten Blick fällt auf, dass Gewalt überall präsent und in nach außen gewandten Kontexten auch nicht negativ konnotiert war, etwa im Krieg gegen äußere Feinde oder bei raids, Plünderungszügen an der schottischen Grenze, die – für uns befremdlich – nicht immer als Vergeltung für erlittenes Unrecht, sondern auch anlassunabhängig aus schierer Beutelust vom Zaun gebrochen wurden.36

the historical construction of a medieval German ,state‘ to the study of lordship, it opens the way to transforming the noble feud in England from an illegal, criminal disruption of royal law and order into the manifestation of an alternative legality, with its own logic of pacification.“ 35 Daher fordert Maddern ausdrücklich dazu auf, diese Zeitspanne näher zu betrachten, vgl. Maddern, Violence and social order, S. 234. 36 Diese Einsicht verdanke ich der Magisterarbeit von Mathis Prange, Der Norden Englands im Spannungsfeld zwischen Königtum und Magnaten im Spätmittelalter, Magisterarbeit Gießen 2011 (Ms.), S. 18. Auch Ablehnung politischer Projekte mochte sich in Plünderungszügen artikulieren, wie Rose dies für die Raubzüge der Henry Percy unterstehenden Garnison von Berwick ca. 1433 unterstellt. Denn diese Raubzüge könnten der Unzufriedenheit Percy mit der geplanten Abtretung von Roxburgh und Berwick an Schottland geschuldet gewesen sein. Erst recht bedurfte es für den Wiederausbruch von Gewalttätigkeiten nach Ablauf eines Waffenstillstands offenbar keines konkreten Anlassens, wie Roses Schilderung des englischen Vorgehens gegen Dunbar im Sommer 1448 nach Ablauf eines Waffenstillstandes na-

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Doch auch im Innern gab es akzeptierte Gewalt. Hier ist zunächst die Tradition des Widerstandsrechts gegen den König zu nennen, die im Lehnrecht gründete.37 So galt noch im 13. Jahrhundert Fehdeführung gegen den König38 bzw. Rebellion nicht als Hochverrat. Erst unter Edward I.39 und Edward II.40 wurden Rebellen dann als Hochverräter betrachtet, wobei nach Claire Valente auch unter Edward II. ein Vorgehen gegen königliche Favoriten, anders als ein Vorgehen gegen den König selbst, weiterhin nicht als Hochverrat, sondern „nur“ als Vergehen (trespass) betrachtet wurde.41 Mit dem Statute of Treason von 1352, das unter Edward III. erlassen worden war, wurde Kriegs- bzw. Fehdeführung, wenn sie sich gegen den König richtete, endgültig zum Hochverrat erklärt.42 Erkennbar war der Übergang zur offenen Kriegführung am Entfalten der Banner.43 Nach wie vor aber war das Aufstellen einer Armee noch nicht ipso facto Hochverrat, sondern es wurde dies erst, wenn die Armee gegen den König geführt wurde.44 Auch der offene oder heimliche Ritt bewaffneter Männer, die Totschlag, Raub oder Menschenraub ausführten und damit fehdeanaloge

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helegt, vgl. Alexander Rose, Kings in the north. The House of Percy in British history, London 2002, Paperback-Ausgabe London 2003, S. 461 f., 480. Kienast, Untertaneneid, S. 277 – 300; Claire Valente, The theory and practice of revolt in medieval England, Aldershot 2003, S. 21 – 23, bes. S. 21, 29, 32. Das Widerstandsrecht zielte auf Korrektion des schlecht regierenden Königs. Die „Ausübung“ dieses Widerstandsrechts zeigte sich in der „Aufkündigung des Herrschaftsverhältnisses“, vgl. Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte (1250 – 1650), Bd. 2, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 229. Doch wurde Widerstand nicht nur geübt, wenn die Rechte einer Gemeinschaft verletzt wurden, sondern auch im Fall individueller behaupteter Rechtsverweigerung. Dazu s. u. bei Anm. 69. Kienast, Untertaneneid, S. 293 – 300 zum Unterschied zwischen lehnrechtlicher Felonie, als welche Fehdeführung gegen den König immer galt, und dem Tatbestand des Hochverrats, sowie den unterschiedlichen darauf ausgesetzten Strafen. So wurde Felonie mit Lehnsentzug (escheat) sanktioniert, Hochverrat dagegen mit forfeiture, dem Entzug aller Lehen, auch der der Aftervasallen. Darüber hinaus war die Hinrichtung des Hochverräters mit schrecklichen physischen Qualen verbunden, vgl. Kaeuper, War, justice, S. 230. Maurice H. Keen, Treason trials under the law of arms, in: Transactions of the royal historical society, 5th ser., 12, 1962, S. 85 – 103, hier S. 103; Kaeuper, War, justice, S. 230; Jean Dunbabin, Government, in: J. H. Burns (Hg.), The Cambridge history of medieval political thought c. 350 – c. 1450, Paperback-Ausgabe Cambridge 1991 [1988], S. 477 – 519, hier S. 492. Zur Debatte, ob Fehde gegen den König bereits vor Edward I. als Hochverrat gegolten habe, vgl. Valente, Theory, S. 33 Anm. 104. Valente, Theory, S. 36 f. Ebd., S. 39. The Statutes of the Realm, Bd. 1, ND London 1963 [1810], S. 319 f., hier S. 320 (258 Edw. III. Stat. 5 c. 2); Valente, Theory, S. 37, 40. Zum Entfalten der Banner, die den Übergang zu einem offenen Krieg bzw. zu einer „universalis guerra“ kennzeichneten, vgl. Keen, Treason trials, S. 93 f., 102. Valente, Theory, S. 41. Dies galt selbst dann, wenn der König von den militärischen Handlungen negativ betroffen wurde, wie 1405 durch die Percy-Rebellion. Die lehnrechtliche Strafbarkeit einer solchen Felonie ist, worauf Kienast, Untertaneneid, hingewiesen hatte, davon unberührt.

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Handlungen begingen, galt nach dem Statute of Treason noch nicht als Hochverrat, sondern lediglich als felony bzw. trespass.45 Einen Schritt weiter ging erst Richard II., der 1381 jede Form von riot („Aufruhr“46) als Verrat sanktionierte.47 Dass jedoch 1381 oder 1393 in der Rezeption dieses Statuts ein „Aufrührer“ wegen Verrats angeklagt wurde, ist nicht belegbar.48 Gleichwohl ist die Tendenz offensichtlich, sowohl die mit dem feudalen Gegenseitigkeitsprinzip korrespondierende Gegenwehr bei enttäuschter normativer Erwartungshaltung wie auch jede Form der Eigengewalt sukzessive auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu unterbinden. Doch liegt es auch in der Natur der Sache, dass Widerstand nur dann als Rebellion bewertet und bestraft werden konnte, wenn er erfolglos blieb. Im Erfolgsfall hingegen – und solche Erfolge verzeichneten Henry IV., Edward IV. und Henry VII. – begründete Widerstand gegen einen angeblich tyrannisch regierenden oder illegitimen Herrscher neue Herrschaft mit Legitimitätsanspruch. Dass dieser Legitimitätsanspruch seinerseits leichter angefochten werden konnte als der einer etablierten Dynastie, steht dabei auf einem anderen Blatt. 45 The Statutes of the Realm 1, S. 319 f., hier S. 320 (258 Edw. III. Stat. 5 c. 2); Kaeuper, War, justice, S. 230. Kaeuper bringt diese Regelung mit der Fehdebereitschaft der englischen Magnaten in Verbindung, ebd., S. 265 f. 46 „Riot“ war ein unspezifischer Begriff, als er in die königliche Statutengesetzgebung eingeführt wurde. Er bezeichnete bei seiner ersten Verwendung 1361 nach Bellamy vielleicht nur „,boisterious wrongdoing‘ by a group of miscreants“, vgl. Bellamy, Criminal law, S. 54. In den Vordergrund trat jedoch bald „the violent nature oft he deeds wrought“ und das „banding together“, so dass Raub, Brandstiftung und Totschlag 1437 als Bestandteil von „greet ryotes“ bezeichnet wurden (ebd.). Erst allmählich bildete sich die später gängige Bedeutung „banding together for an illegal purpose“ heraus (ebd., S. 55), die etwa auch der Definition Baileys zugrunde liegt, vgl. N[athan] Bailey (Hg.), An universal etymological dictionary, 5th edition, London 1731, S. 726, s. v. riot: „the forcible doing of an unlawful Act, by three or more Persons met together for that purpose“. Im 15. Jahrhundert wurde „riot“, wie Bellamy herausarbeitete, oft auf Adelskonflikte, aber auch auf gewaltsame innerstädtische Auseinandersetzungen bezogen, während im 14. Jahrhundert auch Volksaufstände als „riot“ firmieren konnten. Bei Adelskonflikten beobachtet er einen Zusammenhang von „riot“ und Gewalthandlungen, etwa „to band together as in the manner of war, to lie in wait to beat, maim, and kill people, and to take possession of land on one’s own authority and hold it by force“ (ebd., S. 57). Die Aneignung von Land verband „riot“ mit dem forcible entry, vgl. Bellamy, Criminal law, S. 53 – 70. Gleichwohl wurde im 15. Jahrhundert auch die Meinung vertreten, dass Gewaltanwendung nicht zwingendes Charakteristikum von „riot“ sei, vgl. ebd., S. 58. Im Mittelfranzösischen scheint die Wortbedeutung ebenfalls relativ offen gewesen zu sein. So gibt Godefroy für „riot, rihot“ lediglich die Bedeutung „dispute, querelle“, für „riote, riotte, rihote“ die Bedeutung „d¦bat, discussion, dispute, querelle“ an, vgl. Fr¦d¦ric Godefroy, Dictionnaire de l’Ancienne Langue FranÅaise, et de tous ses Dialectes du IXe au XVe SiÀcle, 7 Remebrant-Traioir, Paris 1892, S. 200. Vgl. außerdem Reinle, „Fehde“ und gewaltsame Selbsthilfe, S. 116 f. 47 Vgl. The Statutes of the Realm, Bd. 2, ND London 1963 [1826], S. 20 (58 Ric. II. Stat. I c. 6) sowie die spätere Bekräftigung ebd., S. 89 (178 Ric. II c. 8); Bellamy, Criminal law, S. 56. 48 Bellamy, Criminal law, S. 56.

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Nächst der Gewalt gegen äußere Feinde oder gegen den König ist außerdem zwischenadlige Gewalt zu erwähnen, die häufig in Auseinandersetzungen um Grund und Boden zum Einsatz kam. Soziale Praxis und Rechtsnorm divergierten in Bezug auf derartige gentlemen’s wars49 oder land wars, wie James Bellamy diese Auseinandersetzungen ohne Rückbindung an eine entsprechende Quellenterminologie nennt,50 erheblich. Begrenzter Gewalteinsatz zur (Wieder-) Erlangung strittigen Güterbesitzes war nämlich faktisch weit verbreitet und fand insbesondere in Form von forcible entries in umstrittene Güter statt. Selbst große Aufgebote an Personen dienten nach Bellamy dazu, das Moment der Einschüchterung so dominant werden zu lassen, dass auf faktische Gewaltanwendung weitgehend verzichtet werden konnte.51 Die hier geübte eher punktuelle Form der Gewaltanwendung beinhaltete nicht von vorneherein ein Moment des Widerstands gegen die Krone, sondern war Ausdruck adliger Eigenmacht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten. In ihren Austragsformen ähnelten gerade die forcible entries phänomenologisch und funktional Fehden im römisch-deutschen Reich.52 Zu den „klassischen“ und häufigen gentlemen’s wars oder land wars konnten jedoch auch weitergreifende Auseinandersetzungen wie jene treten, die in diesem Beitrag untersucht werden. Sie sind wegen ihrer spektakulären, bis hin zu Mord und „Schlachten“ reichenden Austragsformen bereits vor den land wars in den Blick der Forschung gerückt,53 zumal sie den völligen Zusammenbruch der Herrschaft Heinrichs VI. paradigmatisch zu illustrieren schienen. Sie verdienen aber eine weitergehende Analyse, um sie im Spektrum zwischen Widerstand und Eigenmacht einzuordnen, zu der hier ein Beitrag geleistet werden soll. Zu erwähnen ist last but not least die Delinquenz der Gentry,54 die in dieser 49 Ebd., S. 65, 70. 50 Bellamy, Bastard feudalism, S. 34 – 56; Hicks, Bastard feudalism, S. 33, 178 f. 51 Hierzu grundlegend: Bellamy, Criminal law, S. 65 – 70; zur relativen Gewaltarmut der Vorgehensweise bei forcible entries vgl. ebd., S. 69 f.; vgl. ferner ders., Bastard feudalism and the law, S. 39 – 46. Hicks nimmt mit Erstaunen zur Kenntnis, dass diese besonders vom Adel ausgeübte Form der „Verbrechen“ (crimes) auf gut überlegte Weise zielgerichtet und sorgfältig begrenzt war und „strangely bloodless“ ablief, vgl. Hicks, Bastard feudalism, S. 118. Für ihn ist dies ein Beleg dafür, dass sich das Gewaltaufkommen in der Gesellschaft trotz der Klagen der Zeitgenossen in Wirklichkeit verminderte. Meines Erachtens spricht die Beobachtung jedoch erst einmal dafür, dass sich auch beim englischen Adel fehdeanaloge Formen des Konfliktaustrags fanden, die, wie bei Fehden üblich, unterhalb der Schwelle größerer Militäraktionen blieben. 52 Reinle, „Fehde“ und gewaltsame Selbsthilfe, S. 130 f. 53 Ralph A. Griffiths, The reign of Henry VI. The exercise of royal authority. 1442 – 1461, London 1981, S. 569 – 609. 54 Nigel E. Saul, Knights and esquires. The Gloucestershire Gentry in the fourteenth century, Oxford 1981, hier S. 168 ff.; Barbara A. Hanawalt, Crime and conflict in English communities 1300 – 1348, Cambridge/London 1979, S. 139 ff.

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Studie jedoch nicht interessiert. Es muss daher offengelassen werden, ob sie stärker ausgeprägt war als die im römisch-deutschen Reich, ob sie systematischer verfolgt wurde oder aber ob der Eindruck einer höheren Verbrechensrate der Gentry durch eine stärkere Divergenz zwischen sozialem Normensystem (Gewaltaffinität) und rechtlichem Normensystem (Kriminalisierung von Eigengewalt) generiert wurde. Zusammengenommen ergibt sich der Eindruck einer Gesellschaft, in der Gewalt nicht nur häufig zum Einsatz kam,55 sondern offenbar auch jenseits obrigkeitlicher Delegationsketten in ihrem instrumentellen Charakter sozial akzeptiert war.56 Daher ist in Weiterführung des neueren Forschungsstandes erneut zu fragen: Wieso aber griffen Adlige in Auseinandersetzungen mit ihren Standesgenossen zur Gewalt? Weder der Dauerkrieg in Frankreich und die Gewaltoffenheit der Grenzregion mit Schottland noch das durch das Legitimitätsdefizit der Dynastien Lancaster und York,57 die seit 1453 manifeste Regierungsunfähigkeit Henrys VI., die strukturelle Überforderung der englischen Monarchie durch permanente Grenzkriege und Invasionen58 oder die Kämpfe im Innern (seit 1455) geschwächte Königtum erklären diese Gewaltbereitschaft; denn die genannten Faktoren markieren lediglich begünstigende Rahmenbedingungen, gleichsam gewaltoffene Situationen, sie benennen aber keine genuine Motivation. Stattdessen wird man die Ursachen personen- und gruppenbezogen auf der Ebene mentaler Dispositionen suchen, gesellschaftsbezogen wird man nach der Funktion von Gewalthandeln fragen. Was die mentalen Dispositionen betrifft, liegt es auf der Hand, dass der Adel, der bei aller Funktionsausweitung ein Stand der „bellatores“ geblieben war, Gewaltfähigkeit zur Grundvoraussetzung hatte und folglich die Sozialisation seiner Angehörigen daraufhin ausrichtete. Darüber hinausgehend hat Paul Hyams auf der Basis theologischer und literarischer Texte sowie von Rechts-

55 In Abgrenzung von der Forschung der 1970/1980er Jahre stellte jedoch Maddern die These auf, die englische Gesellschaft sei gar nicht besonders gewaltbetont bzw. delinquent gewesen, vgl. Maddern, Violence and social order, S. 73 f., 175, 177, 226 und passim. Die These, die u. a. darauf basiert, Anklagen nur dann zu glauben, wenn eine Gegenüberlieferung sie bestätigt und überdies prioritär Gewalt gegen Personen zu berücksichtigen, scheint mir jedoch nur bedingt plausibel. Insbesondere das zweite Argument verliert seine Stichhaltigkeit vor dem Hintergrund der auf Sachschädigung basierenden Fehdepraxis im römisch-deutschen Reich. 56 Die soziale Akzeptanz von Gewaltanwendung wird von Maddern bestätigt und argumentativ weitergeführt, vgl. hierzu Anm. 30. 57 Zum Legitimitätsdefizit des Hauses Lancaster vgl. zusammenfassend Karl-Friedrich Krieger, Das Haus Lancaster, in: Natalie Fryde / Hanna Vollrath (Hg.), Die englischen Könige im Mittelalter. Von Wilhelm dem Eroberer bis Richard III., München 2004, S. 150 – 185, hier S. 171 f., 174; zum Legitimitätsdefizit der Könige ab 1461, dem Jahr der Thronbesteigung Edwards IV. aus dem Hause York, vgl. Hicks, Overmighty subjects, S. 388. 58 Ebd., S. 387.

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quellen – etwa den Writs „de otio et athia“59 – für das Hochmittelalter auf den Fortbestand einer Rachementalität60 auch nach den angevinischen Reformen geschlossen. Persönliche Rache und öffentliche Justiz schlossen sich nach Hyams nicht aus, sie konnten koexistieren oder sogar zusammenwirken.61 Noch im 13. Jahrhundert existierte nach Hyams auf allen gesellschaftlichen Ebenen die feud; Todfeindschaft war gesellschaftlich etabliert.62 Das Referenzsystem „Ehre“ wiederum dürfte gewaltbegünstigend gewirkt haben, weil die Antwort auf Kränkungen schwerer an eine Institution und an ein transpersonales Verfahren zu delegieren war, sondern nach persönlicher Antwort rief.63 Auf indirekte Weise trug eine weitere mentale Disposition zum Entstehen eines gewaltoffenen Umfelds bei, nämlich der Primat familialen bzw. gruppenbezogenen Denkens, durch den „staatliche“ Strukturen von vornherein in ihrer Wirksamkeit begrenzt blieben. Dies lässt sich am Gerichtswesen ablesen. Schon die Zeitgenossen wussten, dass das prinzipiell hoch entwickelte Rechtssystem auf personeller Ebene infiltriert werden und daher parteiisch agieren konnte. Fragt man nun, warum man sich nicht in einem allgemein-gesellschaftlichen Konsens auf die Gewährleistung „neutral“ zusammengesetzter Gerichte (oder anderer Institutionen) verständigte, dann wird man mit der Frühneuzeitforschung, für die stellvertretend Wolfgang Reinhard angeführt sei, auf die „relativ geringe, wenn auch zunehmende Bedeutung formaler, organisationsbezogener Sachorientierung“64 im Vergleich zu persönlichen Beziehungen in der Vormoderne hingewiesen. Auch Institutionen beruhten, wenn sie erfolgreich sein sollten, auf „Gruppensolidarität“, wobei diese wiederum u. a. durch Verwandtschaft oder Klientelbeziehungen konstituiert wurde. Wer von Recht sprach, orientierte sich weniger an einer abstrakten Gerechtigkeitsidee als an der Vor59 Dieses Writ kam zur Anwendung, wenn der Beklagte geltend machte, der Kläger sei bei seiner Anklage durch Hass und Bosheit („atia“) geleitet gewesen. Es gewährte die Einsetzung einer Jury, um die Motive, die hinter der Anklage standen, zu untersuchen, vgl. Hyams, Rancor, S. 175 ff., bes. S. 175. 60 Zum Fortbestand der Fehde und des Bedürfnisses, Rache zu üben, vgl. Hyams, Nastiness, S. 199, 214 und passim. 61 Ebd., S. 199, 208 f., 213 f.; ders., Rancor, S. 173, 175 ff., 191 ff. 62 Hyams, Nastiness, S. 213. 63 Zum Zusammenhang von Ehre und Fehde vgl. grundlegend Hillay Zmora, Values and violence. The morals of feuding in late medieval Germany, in: Jeppe Büchert Netterstrøm / Bjørn Poulsen (Hg.), Feud in medieval and early modern Europe, ærhus 2007, S. 147 – 160. Zmora macht geltend, dass Fehde ein Kommunikationsmittel über adlige Ehre gewesen sei. Wer bereit war, Fehde zu führen, erwies sich als Mann von Ehre und Prinzipien und zugleich als wehrhafte Person (bes. S. 157 f.). Auch Maddern verweist auf den engen Konnex von Ehre und Gewalt, verweist aber auch auf die Möglichkeit, die Ehre rechtlich oder im Rahmen eines Schiedsverfahrens zu verteidigen, vgl. zusammenfassend Maddern, Violence and social order, S. 232. 64 Reinhard, Staatsgewalt, S. 133.

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stellung von Rechten einer Gruppe oder von Individuen; Familie war es, die Solidarität beanspruchte und bot, nicht der „Staat“.65 Insofern wurden Verwaltungsformen, wie Ernst Schubert für das römisch-deutsche Reich betonte, in der Regel „nach nur wenigen Generationen von den gesellschaftlichen Interessen amalgamiert“.66 Dies dürfte erklären, warum man zwar die konkreten Auswirkungen parteiischer (oder gar korrupter) Justiz in eigenen Angelegenheiten kritisieren konnte, ohne selbst auf eine klientelistische Unterwanderung der bestehenden Institutionen zu verzichten. Ja, es kann in diesem Zusammenhang noch einmal daran erinnert werden, dass auch die Herausbildung des sogenannten „Bastardfeudalismus“ als adlige Reaktion auf die angevinischen Reformen, etwa den Aufbau von Delegationsketten, betrachtet und daher bereits im 12. Jahrhundert angesiedelt wurde.67 Noch vorteilhafter wäre freilich – dies sei in Parenthese bemerkt – der Ausbau eigener gerichtlicher Immunitäten gewesen. Möglicherweise deutet eine Episode des Jahres 1453, in der tenants der Percy die Zustellung der Ladung eines königlichen Gerichts verhinderten, um die Alleinzuständigkeit der Percy zu dokumentieren, auf solche Ambitionen hin.68 Zusammengenommen spricht einiges dafür, dass es ein im modernen Sinne „funktionierendes“ Gerichtswesen kaum geben konnte. Zwischen (vermeintlichen) Defiziten des Rechtssystems und der Beanspruchung von Eigengewalt aber bestand, wie von der Forschung seit langem thematisiert, für die mittelalterlichen Zeitgenossen eine naheliegende Verbindung. Der Widerstandsgedanke des Lehnrechts etwa macht sich am Punkt der Rechtsverweigerung fest.69 Auch das Fehdedenken beruht auf dem Anspruch, anderweitig versagtes Recht mit Gewalt zu erlangen. Gewöhnung an Gewaltausübung durch die vielen Kriege der englischen Mon65 Ebd., S. 133 f. (Zitat S. 133). 66 Ernst Schubert, König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 63), Göttingen 1979, S. 196. 67 Zur These von Peter Coss s. o. Anm. 23. 68 Ralph A. Griffiths, Local rivalries and national politics. The Percies, the Nevilles, and the Duke of Exeter, 1452 – 55, in: Speculum 43, 1968, S. 589 – 632, hier S. 592 mit Anm. 15; vgl. auch Rose, Kings, S. 482. Auch später unterbanden die Grafen von Northumberland königliche Eingriffe gegenüber ihren Leuten, vgl. Hicks, Bastard feudalism, S. 154 zur Zeit des vierten und fünften Earls von Northumberland. Zur gegenläufigen Tendenz, der allmählichen Zurückdrängung adliger Immunitäten durch die englischen Könige seit dem Hochmittelalter, vgl. Heinrich Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters, S. 333, 392, 429. 69 Kienast, Untertaneneid, S. 284 – 286. Nach Keen war Fehdeführung so lange durch den Gedanken der Rechtsverweigerung gedeckt, wie Recht als privates Recht betrachtet worden sei. Das Begründungsmuster habe seine Geltung verloren, als die öffentliche Autorität als dritte Seite in die Konflikte eingegriffen habe, vgl. Maurice H. Keen, The laws of war in the late Middle Ages, London 1965, S. 73. Diese Ansicht korrespondiert jedoch lediglich mit dem juristischen Diskurs.

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archie und an die raids im englisch-schottischen borderland tat vermutlich ein Übriges: Sie mochte Gewalteinsatz als selbstverständlich erscheinen lassen und die Sensibilität für die Differenz zwischen rechtlicher und sozialer Norm tendenziell eingeebnet haben. Gewalteinsatz war aber nicht zwingend an ein Aktions-Reaktions-Muster gebunden, sie musste nicht die Antwort auf eine Verletzung des eigenen Rechts und der eigenen Ehre sein. Gewalt konnte in einem Heinrich Popitz’ Machtbegriff abwandelnden Sinne instrumentell eingesetzt werden,70 etwa als Drohung mit Gewalt oder Gewaltanwendung, um den Gegner unter Druck zu setzen und die eigenen Ansprüche zu untermauern. Derartige Gewalt bedurfte dann keiner Verankerung in sozialen Emotionen und keiner Rückbindung an einen konkreten Rechtsstreit. Die Bedeutung dieser Form von Gewaltanwendung ist über ihre gesellschaftliche Funktion und über ihren Zeichencharakter zu fassen. Denn ein erfolgreicher Einsatz von Gewalt markierte im Gefüge adliger Rivalitäten die Stärke oder Schwäche der eigenen Position, wie ich in Modifikation einer auf das römisch-deutsche Reich bezogenen These Hillay Zmoras postulieren möchte.71 Umgekehrt signalisierte der Gewalteinsatz gegen Dritte als Kehrseite der Medaille die Befähigung, die eigene Klientel zu schützen. Diese Funktion von Patronen, als good lords militärischen wie gerichtlichen Schutz zu gewähren, betont die englische Forschung seit langem und zu Recht; sie war im Übrigen charakteristisch für nicht befriedete Gesellschaften, wie entsprechende Reflexionen Ulrichs von Hutten über die Notwendigkeit, sich als Adliger einem Fürsten zu unterstellen, belegen.72 Gewaltanwendung begünstigte demnach gesellschaftliche Hierarchisierung.73 Fast könnte man davon sprechen, dass sich

70 Heinrich Popitz unterscheidet drei Formen von Macht: Aktionsmacht, die Verletzungen bewirken kann, instrumentelle Macht, die auf der Basis von Drohungen und Versprechungen ausgeübt wird, und autoritative Macht, die über das Gewähren von Anerkennung oder den Entzug von Anerkennung funktioniert, vgl. Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, 2. stark erw. Aufl., Tübingen 1992, S. 24 – 29. Gewalt gilt ihm als eine mögliche Durchsetzungsform von Macht, vgl. ebd., S. 43 ff. 71 Hillay Zmora, State and nobility in early modern Germany. The knightly feud in Franconia, 1440 – 1567, Cambridge 1997. 72 Vgl. den berühmtem Brief Ulrichs von Hutten an Willibald Pirckheimer vom 25. 10. 1518, in: Eduard Böcking (Hg.), Ulrichs von Hutten Schriften, Bd. 1: Briefe von 1506 – 1520, ND Aalen 1963 [Leipzig 1859], S. 201 f. Dass die Unterstellung unter einen Fürsten freilich auch die Gefahr mit sich brachte, für diesen in dessen Angelegenheiten gleichsam als Geisel genommen zu werden, thematisierte Hutten an gleicher Stelle. 73 So außer Zmora auch Joseph Morsel, „Das sy sich mitt der besstenn gewarsamig schicken, das sy durch die widerwertigenn Franckenn nitt nidergeworffen werdenn.“ Überlegungen zum sozialen Sinn der Fehdepraxis am Beispiel des spätmittelalterlichen Franken, in: Dieter Rödel / Joachim Schneider (Hg.), Strukturen der Gesellschaft im Mittelalter. Interdisziplinäre Mediävistik in Würzburg, Wiesbaden 1996, S. 140 – 167; vgl. auch die Thesen Gadi Algazis (wie Anm. 74).

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Gewaltausübung und Schutzgewährung zirkulär bestätigten (dies in Abwandlung einer These von Gadi Algazi).74 Diese gesellschaftliche Funktion von Eigengewalt mochte die Persistenz des Fehdedenkens auch in Zeiten der obrigkeitlichen Kriminalisierung von Fehdeführung und Widerstandsrecht begünstigen. Möglicherweise spielte für den Fortbestand von Eigengewalt aber auch das kontinentale, durch die häufigen Kriege in Frankreich bekannte Vorbild eine Rolle. Denn gewaltsame, aber regelgebundene Selbsthilfe war, wie bereits erwähnt, in vielen Ländern des Kontinents gängige Praxis, im römisch-deutschen Reich war sie sogar Bestandteil des Rechtssystems. Nicht nur die Landfrieden, sondern auch die Tatsache, dass Fehdeführung im Reich etwa als entlastendes Argument gegen die Klage unrechter Gewaltanwendung vor Gericht vorgebracht werden konnte; ferner Reflexe in Herrscherurkunden, aber auch im Sachsenspiegel, sowie das Vorhandensein des (von mir) so genannten Selbsthilfevorbehaltes in Lehens- und Pfandurkunden belegen die Zugehörigkeit der Fehde zum Rechtssystem im römisch-deutschen Reich.75 Doch auch in anderen Teilen Europas gehörte lizensierte oder faktisch ausgeübte Eigengewalt zur Wahrung der eigenen Rechte zum Kernbestand adligen Handelns in der Vormoderne. So wies David Viola die Existenz von Fehden (unter Einschluss dieses Quellenbegriffs) in Luxemburg nach, das rechtlich betrachtet Reichslehen, kulturell betrachtet jedoch auch von Frankreich und Burgund beeinflusst war.76 Auch in Frankreich war Fehdeführung, wie bereits erwähnt, noch im Spätmittelalter toleriert. Hier konstatierte und akzeptierte Philippe de Beaumanoir 1283 die Fortexistenz von „guerres priv¦es“77 als Ausfluss der Souveränität der Barone; und nächst ihm schrieb Christine de Pizan allen Herzögen und anderen weltlichen Herren, die weltliche

74 Gadi Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch (Historische Studien, 17), Frankfurt 1996. 75 Christine Reinle, Innovation oder Transformation? Die Veränderung des Fehdewesens im Spätmittelalter, in: Christian Hesse / Klaus Oschema (Hg.), Aufbruch im Mittelalter – Innovationen in Gesellschaften der Vormoderne. Studien zu Ehren von Rainer C. Schwinges, Ostfildern 2010, S. 197 – 230, hier S. 204 f. 76 David Viola, Die Fehde in Theorie und Praxis. Untersuchung zur Anwendbarkeit der Fehdetheorie an „luxemburgischen“ Beispielen, in: H¦mecht 61/2, 2009, S. 149 – 195. Violas Belege beziehen sich auf inneradlige Fehden und decken das 15. Jahrhundert von dessen Beginn bis in die 1470er Jahre ab. 77 So postulierte Beaumanoir : „[…] gentil homme puissent guerroier selonc nostre coustume“, vgl. die Coutumes de Beauvaisis, in: Am¦d¦e Salmon (Hg.), Texte Critique Publi¦ avec une Introduction, un Glossaire et une Table Analytique, 2 Bde., Paris 1899 – 1900, cap. 1667 – 1689, S. 354 – 365, cap. 1673, S. 357; The Coutumes de Beauvaisis of Philippe de Beaumanoir, tr. by F. R. P. Akehurst, Pennsylvania 1992, cap. 1673, S. 612. Hierzu und zur Souveränität als wichtigem, aber nicht ausschließlichem Kriterium für Fehdeberechtigung vgl. Keen, The laws of war, S. 72, 78.

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Jurisdiktion besaßen, die Fehdeberechtigung zu.78 Besonders für Frankreich, aber auch für England hat, wie ebenfalls bereits erwähnt, Howard Kaminsky 2002 außerdem auf die phänomenologische Ähnlichkeit der Adelskonflikte mit der deutschen Fehdepraxis hingewiesen.79 Auf Motivation und Erscheinungsformen des ständisch übergreifenden Racheverhaltens (vengeance) verwies Claude Gauvard.80 Gauvards Schüler Jean-Philippe Juchs schließlich untersuchte die „guerre seigneuriale“,81 die Adelsfehde also, die als sozial akzeptiert gelten durfte, wie die häufige Begnadigungspraxis belegt.82 Erst 1413 gelang in Frankreich die Abschaffung der Fehde, wobei Kaiser der königlichen Rechtsprechung eine größere Bedeutung als der Gesetzgebung zumisst.83 Für Ungarn konnte Istv‚n Tringli immerhin nachweisen, dass adlige Eigenwalt zwar untersagt war, insbesondere gewaltsam ausgetragene Güterkonflikte faktisch aber häufig vorkamen und von den Tätern als legitime Form der Gewaltanwendung betrachtet und bezeichnet wurden. Formalen Regeln wie der Absage oder der Einhaltung von Absagefristen unterlag diese Form fehdeanalogen Handelns freilich nicht. Erst im 15. Jahrhundert konnten solche „actus potentiariae“ zurückgedrängt werden.84 Die spezifisch italienische Situation kann hier nicht beleuchtet werden. Vor dem Hintergrund weitverbreiteter Fehdeusancen kann man Paul Hyams beipflichten, der 2002 die englischen Forscher zu dem Eingeständnis aufgefordert hatte: „Feuding was not just a function of ,backward‘ societies such as the German Empire is often considered to be. Rather, feud must be seen as an integral part of the culture of the medieval nobility everywhere, even in areas of strong order under a well-defined central authority like Flanders and England“.85 78 Ebd., S. 77. 79 Kaminsky, The noble feud. 80 Claude Gauvard, „De Grace Especial“. Crime, Êtat et Soci¦t¦ en France — la Fin du Moyen Age, Paris 1991, S. 753 – 788. 81 Jean-Philippe Juchs, Vengeance et guerre seigneuriale au XIVe siÀcle (royaume de France – principaut¦ de Li¦ge), Th¦se (ms.) Paris 1 – Panth¦on-Sorbonne 2012. 82 Ders., „Et par vertu aussi du general commandement que nous aviens fais faire pour cause de nos guerres c’est assavoir que aucun ne guerroyast ne fist aucun contrevangement nos dictes guerres durans“. La Faide entre Normes Juridiques et Pratiques Judiciaires en France dans la PremiÀre Moiti¦ du XIVe SiÀcle, in: Beno„t Garnot (Hg.), Normes Juridiques et Pratiques Judiciaires du Moyen ffge — l’Êpoque Contemporaine, Dijon 2007, S. 51 – 59. Untersuchungszeitraum war die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts. 83 Kaiser, Selbsthilfe, S. 71. 84 Istv‚n Tringli, Fehde und Gewalttätigkeit. Vergleich eines germanischen und ungarischen Rechtsinstituts, in: Elem¦r Balogh u. a. (Hg.), Legal transitions. Development of law in formerly socialist states and the challenges of the European Union (A Pûlay Elem¦r alap†tv‚ny Könyvt‚ra, 17), Szeged 2007, S. 281 – 286. 85 Hyams, Feud, S. 21. Zur starken Verbreitung von Fehde im spätmittelalterlichen Europa, insbesondere in Schottland und Wales, vgl. Goodman, The Wars of the Roses, S. 33 f.

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Als Teil der Adelskultur könnte die französische Fehdetradition dem englischen Adel während des Hundertjährigen Kriegs bekannt geworden sein. Eine unmittelbare Kenntnis der deutschen Situation ist dagegen nicht anzunehmen. Wenn im Folgenden dennoch auch nach Parallelen zwischen der englischen Gewaltpraxis und der Fehde im römisch-deutschen Reich gefragt wird, dann nicht, um beides umstandslos gleichzusetzen. Vielmehr soll ein an formalen Kriterien, am Erscheinungsbild und an der Funktion des Gewalthandelns orientierter Vergleich den Blick für die Spezifik adligen Gewalthandelns im England Henrys VI. schärfen.

3.

Der Norden Englands um die Mitte des 15. Jahrhunderts

Wenden wir uns dazu zunächst dem konkreten Fallbeispiel zu. Die Percys kamen während der normannischen Invasion im 11. Jahrhundert nach England. In den folgenden Jahrhunderten stieg die Familie zu einer der mächtigsten Adelsdynastien im Norden Englands auf. Am Ende des 13. Jahrhunderts besaß sie ausgedehnte Ländereien im East Riding von Yorkshire. Während des 14. Jahrhunderts dehnten die Percy ihren Einflussbereich in nordöstlicher Richtung auf Northumberland aus. König Richard II. erhob Lord Henry Percy im Zuge seiner Krönung im Jahre 1377 zum Earl of Northumberland. Dieser war 28 Jahre später maßgeblich an der Absetzung Richards II. und der Erhebung Henry Bolingbrokes zum König beteiligt.86 Die Politik des neuen Herrschers, der dem Haus Lancaster, einer Seitenlinie der englischen Königsfamilie, der Plantagenets, entstammte, lief jedoch den Interessen der Percy entgegen. Daher erhob sich der Earl im Jahre 1403 zusammen mit seinem Sohn gegen den König. In der folgenden Auseinandersetzung unterlagen die Percy und verloren Land und Titel.87 Aber bereits König Henry V. – Bolingbrokes Sohn – erhob den Enkel des ersten

86 Edward Barrington de Fonblanque, Annals of the House of Percy. From the conquest to the opening of the nineteenth century, Bd. 1, London 1887, S. 11, 21 – 24; Chris Given-Wilson, The English nobility in the late Middle Ages. The fourteenth century political community, London/New York 1987, S. 47, 132 f.; J. Anthony Tuck, The Percies and the community of Northumberland in the later fourteenth century, in: ders. / Antony Goodman (Hg.), War and border societies in the Middle Ages, London 1992, S. 178 – 195, hier S. 180 – 83; Andy King, War, Politics and landed society in Northumberland, c. 1296 – c. 1408, Ph.D.Thesis, Department of History, University of Durham 2001, S. 205 f.; ders., The emergence of a northern nobility. 1250 – 1400, in: Northern history 22, 1986, S. 1 – 17, hier S. 5, 10 f. 87 Given-Wilson, Nobility, S. 53, 160 – 162; R[obin] L. Storey, Thomas Langley and the Bishopric of Durham. 1406 – 1437, London 1961, S. 12 f., 17, 24 f. Bolingbroke hatte versucht, seinen Einfluss auf Kosten der Percy in den Grenzmarken zu erweitern. In der folgenden Auseinandersetzung unterlagen die Percy. Vgl. King, War, S. 215 – 230.

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Earls im Jahre 1416 wieder zum Earl of Northumberland und setzte ihn zum Teil wieder in die alten Besitztümer ein.88 Neben den Percy findet sich seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine weitere aufstrebende Dynastie in der englischen Grenzregion zu Schottland, die Familie Neville. Wie die Percy verfügte auch diese Familie über ausgedehnten Landbesitz im Norden, den sie zu arrondieren suchte. Auch die Nevilles stiegen im 14. Jahrhundert in der Adelshierarchie auf, als sie im Jahre 1397 zu Earls of Westmorland erhoben wurden.89 Beide Familien zielten darauf, Einfluss in der Region zu gewinnen, unter anderem, indem sie das Amt der Wardens of the Marches besetzten. Bei den Marches handelt es sich um die Grenzmarken Englands. Die Grenzregion zu Schottland war seit Jahrhunderten Schauplatz von Kämpfen gewesen. Schottische und englische Adlige unternahmen Raubzüge auf die jeweils andere Seite der Grenze. Die Landschaft war zudem immer wieder Opfer gegenseitiger Invasionen. Um die Verhältnisse auf englischer Seite zu stabilisieren, wurden Marken geschaffen, deren Verteidigung und Sicherung die Krone eigens zu diesem Zweck ernannten Wardens unterstellte.90 Ihre Hauptaufgabe bestand darin, die Grenze zu sichern, indem sie die bedeutendsten regionalen Festungen kampfbereit hielten. Zudem sollten sie im Falle von Übergriffen mit Hilfe einer ausreichend gerüsteten Truppe reagieren. Zu diesem Zweck hatte ihnen die Krone die Kontrolle über die Einberufung aller waffenfähiger Männer in den Marches sowie weitreichende Kompetenzen gegenüber den Keepers der Castles, örtlichen Sheriffs, Mayors, Bailiffs und anderen teilweise königlichen Amtsträgern übertragen. Um den Frieden effektiv sichern zu können, waren sie zudem mit der Befugnis ausgestattet, selbständig eine Waffenruhe von bis zu zwei Monaten mit den Schotten zu schließen. Innerhalb der Marches galt ein spezielles Marcher Law, dessen Bestimmungen und Verfahren darauf ausgerichtet 88 William Hunt, Percy, Henry, second Earl of Northumberland (1394 – 1544), in: Sidney Lee (Hg.), Dictionnary of national biography, Bd. 15, Oxford 1895 – 1896, S. 850 – 852, hier S. 850. 89 R[obin] L. Storey, The Wardens of the Marches of England towards Scotland, 1377 – 1489, in: English Historical Review 285, 1957, S. 593 – 615, hier S. 596; Anthony James Pollard, NorthEastern England during the Wars of the Roses. Lay society, war and politics 1450 – 1500, Oxford 1990, S. 245 – 265; Given-Wilson, Nobility, S. 105 f.; James Tait, Neville, Ralph, sixth Baron Neville of Raby and first Earl of Westmorland (1364 – 1425), in: Leslie Stephen (Hg.), Dictionnary of national biography, Bd. 14, Oxford 1894 – 1895, S. 273 – 278, hier S. 274. 90 Die Ursprünge der Marches lassen sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Geographisch handelt es sich um jene Liberties der Counties Northumberland und Cumberland, die eine Grenze zu Schottland besaßen. Im 14. Jahrhundert erhielten bis zu acht Adlige den Auftrag, die East oder die West March zu schützen. Seit den 1380er Jahren findet sich nur noch je ein einzelner Warden für die East March und die West March, vgl. Storey, Wardens (wie Anm. 89), S. 594 – 601, 609 – 615; Rachel Robertson Reid, The office of Warden of the Marches and it’s origins and early history, in: English Historical Review 32, 1917, S. 479 – 496, hier S. 479 – 482, 486 f.

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waren, grenzüberschreitend Streitigkeiten zwischen Schotten und Engländern zu lösen. Die Wardens nahmen eine bedeutende Stellung innerhalb des Marcher Laws ein. So beriefen sie den March Day ein, auf dem die Streitigkeiten vor einer gleichermaßen aus Engländern und Schotten bestehenden Jury vorgebracht wurden. Zudem waren sie befugt, Personen zu inhaftieren, welche die Sicherheit der Marches gefährdeten.91 Seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert findet sich oftmals der Earl of Northumberland in der East March als Warden, während Vertreter der Neville-Familie häufig das Wardenship der West March erhielten.92 Im Grenzbereich gaben somit zwei Magnaten den Ton an, die mit Titeln, Ämtern, Sonderrechten und der Herrschaft über große Ländereien ausgestattet waren. Trotz dieser latenten Konkurrenzsituation entstanden zunächst keine gravierenden Konflikte zwischen den Percy und den Neville. Von der Forschung wurden verschiedene Gründe angeführt, durch welche den Familien nicht an einem offenen Konflikt gelegen sein konnte. Seit er im Jahre 1416 zum Earl of Northumberland eingesetzt worden war, hatte Henry Percy darum gekämpft, die früheren Besitzungen der Familie wiederzugewinnen. Das Verhältnis zu den Nevilles stabilisierte er, indem er eine Tochter des Earls of Westmorland heiratete. Mit ihr hatte er zwölf Kinder, von denen acht männlichen Geschlechts waren,93 darunter den Erstgeborenen und Erben Henry und seine jüngeren Brüder Thomas, Richard, Ralph und William.94 91 Peter Booth, Men behaving badly? The West March towards Scotland and the Percy-Neville feud, in: Linda Clark (Hg.), The fifteenth century III. Authority and subversion, Woodbridge 2003, S. 95 – 116, hier S. 105 – 107; Cynthia J. Neville, Violence, custom and the law. The Anglo-Scottish border lands in the later Middle Ages, Edinburgh 1998, S. IX – XI, 46 – 51; dies., Keeping the peace on the Northern Marches in the later Middle Ages, in: English Historical Review, 109, 1994, S. 1 – 25, hier S. 7 – 9; Reid, Office of Wardens, S. 483, 483, 493 f. Zudem konnten die Wardens einen Lieutenant und zwei oder auch vier Deputy-Wardens ernennen, vgl. dies., Office of Wardens, S. 493 f. 92 Storey, Wardens, S. 604 – 607, 612 – 614. 93 Der Annalist von Whitby, dessen genealogische Angaben allerdings als nicht immer zuverlässig gelten, erwähnt acht Söhne, vgl. John Christopher Atkinson (Hg.), Cartularium Abbathiae de Whiteby (Surtees Society, 72), Bd. 2, Durham u. a. 1881, S. 694; dazu auch Hunt, Percy, S. 851 f., wo die Rede von zwölf Kindern ist. Hunt nennt jedoch lediglich sechs Söhne und drei Töchter beim Namen und lässt das Geschlecht der übrigen drei Kinder offen. 94 Hunt, Percy, S. 851; Tait, Westmorland, S. 277; Pollard, North-Eastern, S. 245 f. Nach der Rebellion von 1408 verloren die Percy neben dem Titel auch sämtliche Besitzungen. Als König Henry V. im Jahre 1416 Henry Percy den Titel seines Großvaters erneut verlieh, musste der junge Earl belegen, welche Besitzungen zum Earldom gehörten. Auch wenn dies gelang, waren etliche Ländereien mittlerweile anderweitig vergeben worden. Die Wiederverleihung des Titels betraf nicht jene Besitzungen, die nicht an den Titel gebunden, sondern einzeln vererbt worden waren. Auch sie waren mittlerweile teilweise anderen Adligen zur Nutzung verliehen worden. Teilweise waren langwierige Verhandlungen notwendig, bis sie wieder den Percy zugeteilt wurden, vgl. J. M. W. Bean, The estates of the Percy family. 1416 – 1537, Oxford 1958, hier S. 69 – 77.

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Innerhalb der Familie Neville kam es nach dem Tode des ersten Earls of Westmorland im Jahre 1425 zu langwierigen Erbauseinandersetzungen. Der Earl hatte zweimal geheiratet, in erster Ehe eine Tochter des Earls of Stafford, nach deren Tod Joan Beaufort, eine Tochter John of Gaunts und Halbschwester Henry Bolingbrokes. Die enge Verwandtschaft der Kinder aus zweiter Ehe zum Königshaus wird den Earl dazu bewogen haben, dass der älteste Sohn aus erster Ehe nach dem Tod des Vaters zwar den Titel des Earls of Westmorland, der älteste männliche Nachkomme aus der zweiten Ehe, Richard Neville Earl of Salisbury, aber etwa die Hälfte der Besitzungen der Familie, vor allem diejenigen, die in Yorkshire lagen, erben sollte.95 Erst um die Jahrhundertmitte kam es zu ernsten Auseinandersetzungen zwischen den Familien Percy und Neville. Ein erster Konflikt entstand in Cumberland. Die jüngeren Söhne der beiden Earls, Thomas Neville und Thomas Percy Lord Egremont, wurden beide in dieser Zeit dorthin geschickt, um die Interessen der jeweiligen Familie zu vertreten.96 Dort scheint bis zu dieser Zeit ein Gleichgewicht hinsichtlich der Machtinteressen zwischen den Familien geherrscht zu haben. Die Politik hinsichtlich der Einsetzung von Sheriffs kann diesbezüglich als Gradmesser angesehen werden. Auch wenn die Neville Wardens der West March waren, kontrollierten die Percy ebenso wie sie die Einsetzung von Sheriffs in der Region.97 Nachdem jedoch die Nevilles eine Reihe von Vorteilen in Bezug auf Gerichtsprivilegien und Landbesitz erlangt hatten, kam es zum Konflikt.98 Im Jahre 1450 überfiel Thomas Percy ein Manor der Neville und richtete dort Schaden an. Eine weitere Gewaltaktion fand in der Weihnachtszeit des Jahres 1452 statt.99

95 Der zweite Earl of Westmorland heiratete eine Schwester Northumberlands, vgl. Tait, Westmorland, S. 277. 96 Der Earl of Northumberland wird seinem Sohn Thomas wahrscheinlich die Verwaltung der Percy-Besitzungen übertragen haben. Booth, Men, S. 101 f. 97 Ebd., S. 102; Griffiths, Local rivalries, S. 592. 98 Thomas Percy wurde zwar zum Lord Egremont ernannt, die zugehörige Barony erhielt jedoch Ralph Neville, Earl of Westmorland. Neben Gerichtsprivilegien, die denjenigen der Palatinate ähnelten, wurde dem Earl zudem die Verwaltung der Ländereien des geisteskranken George Neville Lord Latimer übertragen. Die genauen Motive Thomas’ Percy, Gewaltaktionen zu starten, sind jedoch nur schwer zu ergründen. Möglich ist, dass er provoziert wurde. Es ist sogar vermutet worden, dass er psychotisch war, vgl. Booth, Men, S. 100 – 102, 105; Griffiths, Local rivalries, S. 592. 99 Thomas Layton, der wahrscheinlich in Verbindung zu den Neville stand, wurde von den Anhängern Thomas’ Percy in seinem Haus überfallen, entführt und über sechs Monate hinweg festgehalten, vgl. Booth, Men, S. 102, 105.

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4.

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Annäherung an das Gewalthandeln

In der Folge nahmen die Spannungen an Intensität zu; zunehmend kamen Formen des Konfliktaustrags ins Spiel, die auf Gewaltanwendung hinsteuerten. So soll Egremont einem Diener des Grafen von Salisbury und Sheriff von Cumberland, Thomas de la More, gedroht haben, ihn zu ermorden,100 umgekehrt lief Egremont selbst Gefahr, im Juni 1453 von aufgehetzten Leuten der Percy im Auftrag John Neville gefangen genommen zu werden.101 Kurz zuvor hatte Egremont einige Yorker Handwerker bzw. Kaufleute mit Livreen ausgestattet und damit nicht nur als Parteigänger aufgenommen, sondern auch kenntlich gemacht.102 Friedensbrüche schlossen sich an, deren Einordnung zwischen einer Straftat und einer Erhebung unklar war.103 Auch die Einsetzung einer königlichen Untersuchungskommission setzte dem Treiben kein Ende.104 Vielmehr kam es erneut zu Aktionen, die wohl als Hausfriedensbruch gewertet werden dürfen.105 Zu einem ungenannten Zeitpunkt nach dem 1. Mai 1453106 schließlich verheiratete sich Thomas Neville mit Maud Stanhope. Die Hochzeit fand im Süden, in Lincolnshire, statt. Auf dem Weg nach Sheriff Hutton, einem Manor der Nevilles, begegnete am 24. August 1453 dem Tross der Nevilles in der Nähe von York auf Heworth More eine Streitmacht, die von Thomas und Richard Percy, den Söhnen des Earls of Northumberland, angeführt wurde. Die Percy-Söhne hatten über 700 Gefolgsleute mobilisiert. Die Bewaffneten, die sie zusammengezogen hatten, stammten zu über 90 % aus Yorkshire, oftmals von den dortigen Manors der Percy. Es finden sich auch Bürger Yorks, wo die Familie ein Anwesen besaß, und anderer Städte des Nordens unter ihnen.107 Ob es bei dieser Begegnung zu Tätlichkeiten kam, ist fraglich, da die Quellen einander widersprechen.108 Vielleicht handelte es sich lediglich um eine Demonstration der Stärke, 100 101 102 103

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Storey, End, S. 126; Griffiths, Local rivalries, S. 592. Storey, End, S. 129; Griffiths, Local rivalries, S. 594 unter Verweis auf KB9/149/1/54. Storey, End, S. 129; Griffiths, Local rivalries, S. 602 unter Verweis auf KB9/149/1/49. Der Auftrag an die im Juli 1453 eingesetzte Commission of Oyer and Terminer umschloss die Untersuchung von „felonies, trespasses, congregations, insurrections, confederations, and liveries of badges, gowns, and caps“. Vgl. Calendar of Patent Rolls, preserved in the public record office. Henry VI., Bd. 6: 1452 – 1461, London 1910, S. 121 f., hier S. 122 f.; Storey, End, S. 129; Griffiths, Local rivalries, S. 594. Nach Storey, End, S. 146 blieb die Kommission „a dead letter“. Griffiths spricht von „breaking and entering“. Griffiths, Local rivalries, S. 595. Ebd., S. 593 Anm. 22. Ebd., S. 593 f., 597 – 601. Die Indictments der vom König eingesetzten Commission of Oyer and Terminer geben lediglich über die Absicht zu töten, jedoch nicht über einen stattgefunden Kampf Aufschluss: „[…] aggregatis sibi quampluribus alijs malefactoribus et pacis domini regis perturbatoribus […] vi et armis videlicet gladijs […] et sagittis loricis […] capis ferreis

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die von den Neville als Herausforderung gedeutet werden musste. Andererseits erhob eine (nominell) vom König eingesetzte Untersuchungskommission den Vorwurf, es habe sich um eine „guerra“ gehandelt, die sogar gegen den König gerichtet gewesen sei.109 Dieser von der Forschung noch nicht berücksichtigte Hinweis spricht eher dafür, dass bereits nach Heworth eine Gewalteskalation befürchtet wurde. Es ist argumentiert worden, dass die Gründe für diese Begegnung in der Heirat zu suchen seien. Zum Erbe, das die Braut zu erwarten hatte, gehörten zwei Manors, die sich bis zur Rebellion des ersten Earls im Besitz der Percy befunden hatten und später nicht wieder an sie ausgegeben wurden.110 Land war die Grundlage des Adels für Macht und Einfluss im späten Mittelalter. Konflikte um Land waren daher an der Tagesordnung, und nur wenige Adlige des 15. Jahrhunderts waren nicht in solche verwickelt.111 Es liegt daher nahe zu vermuten, dass es den Percy kaum als hinnehmbar erschienen sein wird, dass durch die Heirat ehemaliges Percy-Land in den Besitz der Neville gelangen sollte. Es ist zudem argumentiert worden, dass am Ende der 1440er Jahre die Neville die Percy zu dominieren drohten. Während letztere nach wie vor nicht ihre alte Macht vollständig hatten wiederherstellen können, hatten die ersteren ihre Besitzungen in Nordengland arrondiert. Zudem verfügten sie über die bessere Stellung am königlichen Hof.112 Denn die Neville standen in enger Beziehung zum Haus York, die Percy dagegen zum Haus Lancaster. Ersteres gewann während der Handlungsunfähigkeit Henrys VI. sukzessive die Oberhand. Der Ausbruch der Feindseligkeiten wird somit auf die einseitige Bevorzugung der Neville durch die Krone in Cumberland zurückgeführt, die sich auf Rechte und Landbesitz bezog. Diese Ungleichbehandlung wird zudem ebenfalls als Auslöser für die Begegnung auf Heworth More angeführt. Pollard erklärt vor

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lanceis […] apud Heyworth iuxta Eboracum ex milicia precogitata ad Ricardum Nevell comitem Sarum et Alesiam uxorem eius Thomam Nevell militem et Matildam uxorem eius […] Johannem Nevell militem similiter destruendum et interficiendum […]“ (KB9/149/1/ 89; siehe auch KB9/149/1/47). Anders stellt jedoch der Annalist von Whitby das Geschehen dar, den Griffiths zitiert. Er berichtet davon, dass es bereits in der ersten, von ihm irrig ins Jahr 1452 datierten Phase des Konflikts dazu kam, dass „there arose, for dyverse causes, a greate discord betwixt him and Richard the Erle of Salisbery hys Wyfe’s Brother, insomuch that many men of both partes were beten, slayne, and hurt“, vgl. Cartularium Abbathiae de Whiteby, S. 695 – 695. Diese Aussage bezieht Griffiths ausdrücklich auf den Zusammenstoß bei Heworth More, vgl. Griffiths, Local rivalries, S. 597. Storey hingegen geht davon aus, dass es kein Blutvergießen gegeben habe, vgl. Storey, End, S. 131. KB9/149/1/26. Bei Maud Stanhope handelte es sich um eine Nichte Lord Cromwells, der für seine Dienste von Henry VI. im Jahre 1438 mit den ehemaligen Percy-Manors Wressle (Yorkshire) und Burwell (Lincolnshire) belohnt worden war, vgl. Griffiths, Local rivalries, S. 593 f. Bellamy, Bastard feudalism, S. 34 – 56; Given-Wilson, Nobility, S. 104 – 123. Pollard, North-Eastern, S. 249 – 255.

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dem Hintergrund der langfristigen Entwicklung in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, dass die von den Neville in die Defensive getriebenen Percy mit Gewalt agierten, als die Dominanz der Neville zu offensichtlich zu werden schien. Der Überfall von Heworth stand in einer Kette gewaltsamer Auseinandersetzungen, die vor allem anhand der im Jahr 1454 niedergeschriebenen Indictments, der Klageschriften einer eigens für diesen Konflikt eingesetzten gerichtlichen Kommission, nachvollzogen werden kann. Am 9. September erschien Richard Percy in Gargrave, einem Dorf in der Nähe von Skipton im Norden Yorkshires. Dort überfiel er die örtliche Kirche, in welcher der Bailiff von Staincliff, Lawrence Caterall, die Messe besuchte. Es kam zu einer tumultartigen Szene, in der Caterall zum Altar floh, verfolgt von Percy und seinen Anhängern, die mit dem Vikar zusammenstießen. Dieser stellte sich ihnen entgegen und forderte sie im Namen Gottes dazu auf, von ihrem Tun abzulassen. Schließlich nahmen Richard Percy und seine Anhänger, darunter ein John Caterall, Lawrence Caterall gefangen und verschleppten ihn nach Cockermouth in Cumberland, wo er so lange Zeit in Haft saß, bis er das Amt des Bailiffs aufgab.113 Später im selben Monat wurde auch der Vikar von Aughton, östlich von York, von einer Gruppe von Percy-Anhängern überfallen. Kurz darauf wurden die Beauftragten des Sheriffs von Cumberland – jenes bereits erwähnten Dieners Salisburys Thomas de la More – von Thomas Percy und seinen Männern überfallen und verwundet, als sie königliche Abgaben eintreiben wollten.114 Die

113 „[…] ecclesiam parochialem de Gargrave […] intraverunt et in Laurencium Caterall nuper […] Wapentach de Staynclyff adtunc in pace dei in ecclesia predicta existentem et missam suam ibidem devote audientem insultum fecerunt et cum gladijs suis extractis ad ipsum interficiendum adtunc et ibidem secuti fuerunt idemque Laurencius Caterall pre timore mortis sue et in salvacionem vite sue usque vestibulum ecclesie predicte iuxta summum altare ibidem ubi vicarius ecclesie illius adtunc ad missam sanctam fuerat […] idem vicarius ibidem cessaverat de missa sua pre timore mortis sue acceperit corpus dominicum in manibus suis eisdem malefactoribus precipiens in nomine dei quidem cessarent de malo proposito suo ibidem faciendum idemque Ricardus Percy et alij malefactores predicti adtunc et ibidem prefatum Laurencium Caterall […] et ibidem caperunt et ipsum extra eandem ecclesiam usque castrum de Iselle infra dominium de Cokermouth et abinde usque castrum de Cokermouth in comitatu Cumbrie duxerunt et ipsum ibidem imprisonaverunt et in prisona diu detinuerunt quousque idem Laurencius officium suum perdidit […]“ (KB9/149/1/34); Storey, End, S. 131. Den Konflikt hat Griffiths im Detail insbesondere hinsichtlich der politischen Entwicklungen in der Region und im Königreich England aufgearbeitet. Die folgenden Ausführungen zum chronologischen Ablauf stützen sich auf dessen Ausführungen, vgl. Griffiths, Local rivalries, S. 590 – 595, 597 – 598, 602 f., 611 – 616, 621 – 628. 114 Storey, End, S. 131; Griffiths, Local rivalries, S. 603; Rotuli Parliamentorum, ut et Petitiones, et Placita in Parliamento […], 6 Ab anno duodecim R. Edwardi IV. Ad Finem eiusdem Regni Tempore Ricardi R. III, Henrici R. VII., London 1777, S. 63 f.; KB9/149/1/121.

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Gegenseite tat sich derweil durch die Beschädigung von Northumberlands Haus in Catten hervor.115 Im Oktober schließlich versammelten die Percy-Söhne ein weiteres Mal etwa 50 Bewaffnete in Topcliffe, einem ihrer zentralen Manors in Yorkshire. Ziel waren wiederum die Neville, mit denen man drei Tage später bei Topcliffe mit unbekanntem Ausgang zusammentraf. Bei dieser Gelegenheit erschienen ausnahmsweise auch die ältesten Söhne der Earls und verschiedene ältere Verwandte.116 Auch in die Stadt York wurde der Konflikt zwischen den beiden Familien getragen. Im Mai 1454 brachen Anhänger der Percy dort in das Stadthaus eines Mitglieds der Neville-Familie ein, nachdem zuvor, im März 1454, in Egton das Haus Sir John Salvins, des bekannten Percy-Aktivisten, durch Thomas Neville und seine Leute überfallen worden war.117 Etwa gleichzeitig, am Zehnten des Monats, zog Thomas Percy über 200 Bewaffnete auf einem der Landgüter der Familie in Yorkshire zusammen. Die Hälfte von diesen Personen gehörte bereits auf Heworth More zur Truppe der Percy. Etliche von ihnen waren in den vergangenen Wochen bereits gegenüber Bürgern von York gewalttätig geworden. Nur vier Tage später tauchte Thomas Percy zusammen mit seinem Verbündeten, dem Duke of Exeter, und mit einem Trupp Bewaffneter in York auf. Dort versuchten sie weitere Personen anzuwerben. Der Bürgermeister, der bereits im Jahr zuvor Opfer eines Übergriffes von Seiten der Percy geworden war, stellte sich ihnen entgegen, musste jedoch, nachdem er im dortigen Münster von den Aufrührern bedroht worden war, nachgeben und wurde unter Misshandlungen durch die Stadt getrieben.118 Thomas Percy sammelte nun etwa 400 Bewaffnete um sich, von denen viele bereits auf Heworth More auf seiner Seite gestanden

115 Storey, End, S. 131; Griffiths, Local rivalries, S. 603 unter Verweis auf KB9/149/1/54. 116 Neben dem Earl of Northumberland war auch sein ältester Sohn Henry Percy, Lord Poynings zugegen sowie Sir Thomas Clifford of Skipton in Craven, ein Cousin des Earls. Auf der Seite der Nevilles erschien neben dem Earl of Westmorland auch sein Sohn der Earl of Warwick (KB9/149/1/76). 117 Griffiths, Local rivalries, S. 610. 118 Ebd., S. 611, 616 unter Verweis auf KB9/148/1/15. Zum Einbruch in Salisburys Haus: „[…] in festo sancti Johannis ante portam latinam, anno regni regis Henrici sexti post conquestum anglie tricesimo secundo venerunt apud Eboracum, in commune civitatis Eboraci, ad quandam domum Ricardi comitis Sarum et illam ibidem fregerunt et intraverunt, et ibidem quendam Johannem Skipwyth, tenentem ipsius comitis, […] eadem domo […] insultum fecerunt ipsumque adtunc, et ibidem verbauerunt vulneraverunt et male tractaverunt unde de vita sua disperabat, contra pacem domini regis“ (KB9/148/1/7). Zur Versammlung weiterer Bewaffneter unter Thomas Percy in Spofford: „[…] se armaverunt congregaverunt et insurrexerunt et abinde usque Spofford in comitatu Eboraco ad Thomam Percy militem […] contra pacem domini regis congregandum […]“ (KB9/148/1/11).

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hatten. Sein Verbündeter, der Duke of Exeter, zog auch die Regionen außerhalb Yorkshires in den Konflikt. Er warb per Brief Männer aus Lancashire an.119 Am 21. Mai kehrten Thomas Percy, Exeter und ihre Truppen nach York zurück und verlangten die Herausgabe der Stadtschlüssel. Was mit Überfällen und Rechtsbrüchen begonnen hatte, sollte nun auf die Kontrolle einer der größten Städte Englands hinauslaufen. Als sich die Aufrührer in den folgenden Tagen auf den Gütern der Percy berieten, wie man schottische Kräfte für die eigenen Zwecke instrumentalisieren könnte, griff man so in die Außenbeziehungen des Königreiches ein.120 Auch in einer weiteren Beziehung nahm der Konflikt im Mai eine über die inneradligen Auseinandersetzungen hinausgehende Dimension an: Durch die Verbindung Egremonts mit Exeter verflocht sich der Konflikt Percy-Neville, der durch die engen Verbindungen der Neville mit dem Haus York ohnehin eine latent reichspolitische Komponente hatte, mit den Auseinandersetzungen um das Königtum Henry VI. Denn Exeters Intentionen gingen über das Verfolgen güterrechtlicher Ansprüche121 hinaus. Sie zielten auf die Ausübung des Protektorats über den handlungsunfähigen König, das Richard von York seit dem Frühjahr 1454 innehatte.122 Die königliche Seite reagierte entsprechend alarmiert, als sie erneut von Erhebungen erfuhr.123 In der Folge wurde Exeter sogar vorgeworfen, seine Truppen „wt standards displeied full outrageously and indiscreetly“ und „seditious letters“ verschickt zu haben.124 Egremont wurde im Zusammenhang dieser Aktionen beschuldigt, dass er „of his owne presumpsion, wt oute any autoritee or power from us maketh divers and strange proclamations to stirre oure trewe subgittes into rebellion and breking of oure lawes and pees“.125 Bereits zuvor waren Banden von Percy-Anhängern von Spofforth, einem der Manors der Familie, ausgezogen und hatten an verschiedenen Orten der Region Gewalttaten verübt.126 Selbst den obersten königlichen Herold, den Garter King of Arms, respektierten die Percy- Anhänger nicht mehr, denn tenants der Percy 119 Griffiths, Local rivalries, S. 612, 222 Personen sind bereits aus früheren Übergriffen der Percys bekannt (ebd., S. 616). 120 Ebd., S. 615; „[…] apud Spofford in comitatu Eboraco quendam Heraldum dicti domini regis vulgariter nuncupatis Garter kyng of armes ceperunt et […] eum spoliaverunt“ (KB9/ 149/1/51); „[…] apud Spofford et Topclyff predictis falso et proditorie fuerunt adherentes et consentientes Jacobo regi Scotorum inimico et adversario dicti regi mittentes ei ut idem rex Scotorum veniret cum maxima potestate […]“ (KB9/149/1/36). 121 Zu diesen vgl. Storey, End, S. 143; Griffiths, Local rivalries, S. 607 f. 122 Ebd., S. 613. 123 Ebd., S. 610. Griffiths spricht von insurrections. 124 Storey, End, S. 144; Nicolas, Proceedings 6, S. 189 f., Zitat S. 189. 125 Nicolas, Proceedings 6, S. 193 f., Zitat S. 193. 126 Griffiths, Local rivalries, S. 615 f.; „[…] cum predicto Thoma equitaverunt a Spofford predicta usque Skipton et alijs diversis locis intra comitatem […]“ (KB9/149/1/42).

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nahmen ihn gefangen und beraubten ihn, als er Briefe des königlichen Rats an den schottischen König überbringen wollte.127 Als jedoch der Protektor des Königreiches Richard Duke of York im Mai in Yorkshire erschien, flohen Thomas Percy und der Duke of Exeter aus der Stadt, kurz bevor Richard in York ankam. Am 28. Mai fassten sie jedoch bereits den Plan, den Duke zu ermorden. Es wurde beschlossen, den Herzog unter einem Vorwand aus der Stadt York zu locken, dann sollte einer der Percy-Anhänger, ein Esquire aus Yorkshire, die Tat in seinem eigenen Dorf ausführen. Der Mordplan wurde jedoch entdeckt und verhindert.128 Weiterhin fanden in Yorkshire Kämpfe zwischen den Parteien statt. Im Oktober schließlich kam es zum Gefecht zwischen den Kontrahenten in der Nähe des Neville-Manors von Stamford Bridge. Dort wurden nicht nur viele Personen getötet, sondern auch Thomas und Richard Percy gefangen genommen.129 In York wurden sie zu einer Strafe von 16.800 Mark, zu zahlen an verschiedene Mitglieder der Familie Neville, verurteilt.130 Dem Gefängnis konnte Thomas Percy sich erst 1456 durch Flucht entziehen.131 Dennoch kam die Region langfristig nicht zu Ruhe. Im Winter 1455 – 1456 weigerten sich die Percy, mehrere Castles, die der Earl zuvor besetzt hatte, an den Earl of Salisbury herauszugeben. Zudem wurde ein königlicher Bote von Bediensteten des Earls getötet. Auch für das Jahr 1457 findet sich die Nachricht über Gewalthandlungen in Yorkshire.132 Ein Überblick über die Ereignisse wäre allerdings unvollständig, wollte man nicht auch die Reaktionen der königlichen Seite einbeziehen, die freilich zunächst nur zögerlich handelte. Dies war der Erkrankung des Königs geschuldet, die im August 1453 offen ausgebrochen war. An Stelle des Königs führte die Königin zusammen mit dem King’s Council die Regentschaft.133 Bereits vor dem Überfall von Heworth hatte der königliche Rat Vorladungen vor König und Rat bzw. vor das Parlament ausgesprochen134 und in der Folge eine Commission of Oyer and Terminer eingesetzt, die jedoch offenbar nicht tätig wurde.135 Nach Heworth wurden sowohl der Earl of Northumberland als auch der Earl of Salisbury am 8. Oktober 1453 daran erinnert, dass sie den Frieden zu wahren hätten. Das King’s Council erklärte gegenüber Thomas Percy, dass er von der

127 Storey, End, S. 146; Griffiths, Local rivalries, S. 615 unter Verweis auf KB9/149/1/51. 128 Griffiths, Local rivalries, S. 615 f. unter Verweis auf KB9/149/1/62. 129 G. L. Harriss (Hg.), John Benet’s Chronicle for the years 1400 to 1462, in: Camden Miscellany (Camden forth series, 9), 24, 1972, S. 151 – 233, hier S. 212. 130 Griffiths, Local rivalries, S. 621 f. 131 Harriss, Benet’s Chronicle, S. 217. 132 Griffiths, Local rivalries, S. 625 f. 133 Ebd., S. 604; ders., Reign, S. 715 – 723. 134 Nicolas, Proceedings 6, S. 140 – 142; Storey, End, S. 129; Griffiths, Local rivalries, S. 594 f. 135 Storey, End, S. 146.

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Krone zum Baron Egremont erhoben worden sei, um ihr in Zukunft zu dienen.136 In diesem Zuge wurden Egremont und seine Verbündeten im Frühjahr 1454 vor den Lord Chancellor nach Westminster geladen. Egremont mied jedoch seine üblichen Aufenthaltsorte, damit die Briefe ihm nicht zugestellt werden konnten. Weiterhin wurde eine Petition eingebracht, in der die Vergehen Richards und Thomas’ Percy aufgelistet wurden. Nach ihrer Annahme durch das Parlament wurden die Brüder nochmals vor den Lord Chancellor geladen. Sollten sie nicht Folge leisten, drohte ihnen nun der Entzug ihrer Titel und die Ächtung. Zudem beschloss das Parlament, dass fortan Angehörige der Nobility bestraft werden könnten, falls sie, nachdem sie den Frieden gebrochen hatten, die Ladungen des Chancellors missachteten. Für die Percy war diese Maßnahme heikel, denn Richard Neville Earl of Salisbury bekleidete seit dem Frühjahr des Jahres 1454 das Amt. Die mögliche Bestrafung konnte sogar den Verlust von Ämtern, Titeln und Parlamentssitz beinhalten. Zudem wurde das Marcher Law geändert. Fortan sollte niemand mehr im Namen der Wardens inhaftiert werden dürfen, der gegen dessen Bestimmungen verstoßen hatte.137 Die Regierung beließ es also zunächst bei Gesetzesänderung und dem Verfassen von Mahnschreiben und Vorladungen. Aktiv griff jedoch Richard Duke of York in den Konflikt ein, der mittlerweile als Protektor des Königreiches fungierte. Im Mai 1454 reiste der Duke in den Norden, um dort die Lage unter Kontrolle zu bringen. Dass er dort Partei für die Neville ergriff, verwundert nicht. Richard Duke of York war John Neville Earl of Salisbury seit Jahren eng verbunden. Sie waren nicht nur zusammen aufgewachsen und hatten den König im Jahre 1430 nach Frankreich begleitet, sondern Richard hatte zudem Nevilles jüngste Schwester geehelicht.138 Die Percy hingegen gehörten, wie bereits erwähnt, zu diesem Zeitpunkt zu den Parteigängern des Hauses Lancaster. Der Konflikt, der ursprünglich auf den Norden des Königreiches beschränkt war, wurde von dieser Zeit an in die Auseinandersetzung

136 Griffiths, Local rivalries, S. 603 f. 137 Booth, Men, S. 105 – 107; James Tait, Neville, Richard, Earl of Salisbury (1400 – 1460), in: Leslie Stephen (Hg.), Dictionnary of national biography, Bd. 14, Oxford 1894 – 95, S. 279 – 283, hier S. 281 f.; Griffiths, Local rivalries, S. 609 f.; ders., Reign, S. 726 f. Der Abt des Karmeliterkonvents in Hulne (Northumberland), der sich den Percy angedient hatte, indem er Proklamationen für sie verbreitet hatte, wurde am 5. Juni 1454 aufgefordert, dies zu unterlassen und zu helfen, den Frieden wiederherzustellen. Thomas Lord Clifford und der Sheriff von Westmorland erhielten am selben Tag ähnliche Anweisungen. Zugleich erhielten die Städte York und Hull Dankesadressen bezüglich ihres Widerstandes gegenüber Exeter. Im Mai ergingen erneut Vorladungen an Thomas Percy, außerdem an seine Brüder Henry und Ralph. Auch der Earl selbst wurde aufgefordert, vor dem King’s Council zu erscheinen, vgl. Griffiths, Local rivalries, S. 617 f. 138 Pollard, North-Eastern, S. 258; Griffiths, Reign, S. 693 – 698, 722 – 727.

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der Häuser Lancaster und York verwoben, die als Rosenkriege das Königreich für die nächsten drei Jahrzehnte erschüttern sollten. Am 19. Mai 1454 kam Duke Richard in York an. Im Juni begann dann eine unter seiner Ägide arbeitende Gerichtskommission, die Klagen gegen die Percy und ihre Verbündeten zu hören.139 Offiziell handelte es sich um eine von der Regierung in Westminster eingesetzte Commission of Oyer and Terminer. Dabei handelt es sich um ein Sondergericht, dass meist auf Grundlage einer Petition mit Richtern besetzt wurde, die der King’s Bench – einem Krongericht in Westminster – und der Gentry derjenigen Region angehörten, in der sich die zu untersuchenden Fälle ereignet hatten.140 Die für Yorkshire eingesetzte Kommission des Jahres 1454 ist dabei jedoch als Instrument des Dukes anzusehen. Schließlich war sie vor allem mit Richtern besetzt, die zu seinen Anhängern oder zur Partei der Neville zählten. Demgemäß lesen sich die überlieferten Quellen: Vor allem Mitglieder der Familie Percy sowie deren Gefolgsleute finden sich in den Klageschriften. Die Neville und ihre Anhänger tauchen dort nur sehr selten als Täter auf.141 Dass eine der Streitparteien zugleich zu Gericht saß, war im 15. Jahrhundert keine Seltenheit, sondern oftmals sogar die Regel. Auch die Besetzung anderer gerichtlicher Instanzen spiegelt diesen Zustand wider. Die Personen, die in den 1440er und 1450er Jahren in Yorkshire, Northumberland, Cumberland und Westmorland als Justices of the Peace wirkten, waren zu einem großen Teil Anhänger der Percy oder der Neville. Das hochentwickelte, stetig

139 Griffiths, Local rivalries, S. 609 f., 612, 615, 617 f.; Pollard, North-Eastern, S. 254; Storey, End, S. 145 – 146, 253; Griffiths, Reign, S. 666 – 700. 140 Bellamy, Bastard feudalism, S. 52 f. 141 Zu den Mitgliedern der Jury zählten: Warwick, Lord Greystoke, der Bürgermeister Yorks Thomas Nelson, Lord Clifford und Sir Henry Fitz Hugh sowie zwei Richter : Richard Bingham und Ralph Pole, Griffiths, Local rivalries, S. 618, KB9/148/1/8v und 16v. Nach Bellamy handelt es sich bei einer parteiischen Jury um einen weitverbreiteten Zustand. Im Norden findet sich eine solche Parteinahme auch in umgekehrter Weise. So wurde im Jahre 1453 Sir William Lucy von der Regierung in Westminster beauftragt, als Vorsitzender einer Commission of Oyer and Terminer, den Konflikt zwischen den Percy und den Neville zu lösen. Lucy stand offensichtlich im Sold der Percy, war mit ihnen durch Heirat weitläufig verwandt, vgl. Calendar of Patent Rolls 1452 – 1461, S. 122; Josiah C. Wegwood, History of parliament. Biographies of the members of the Commons House 1439 – 1509, London 1936, S. 559 f.; Bellamy, Bastard feudalism, S. 18. Mitglieder der Familie Neville lassen sich in dem untersuchten Konflikt an zwei Stellen als Beklagte identifizieren: So wird Thomas Neville beschuldigt, die Absicht gehabt zu haben, Egremont in Spofford gefangenzunehmen, (KB9/ 149/1/53). Verschiedene Mitglieder der Familie finden sich zudem in dem Indictment, das die sogenannte Schlacht bei Stamford Bridge behandelt (KB9/149/1/35). Die diesbezügliche Kargheit der Quellen kann jedoch vor dem Hintergrund ihrer Entstehung nicht als Beleg für die Friedfertigkeit der Neville gewertet werden, denn es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie die Gewaltaktionen der Percy nicht ebenfalls durch Gewalt beantworteten, vgl. Booth, Men, S. 106, 112; Pollard, North-Eastern, S. 256.

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arbeitende englische Rechtssystem war demgemäß von den streitenden Parteien unterwandert. Die Krone konnte somit nur schwer mit Hilfe der Gerichte die Gewalt im Norden einschränken. Trotz dieser überwiegenden Besetzung der Gerichtskommission durch die Gegner der Percy, wurden zumindest hinsichtlich der Vergehen im Mai 1454 relativ milde Urteile gesprochen. Die meisten der Angeklagten verloren zwar Land und Besitz, aber nur wenige wurden geächtet, einige wurden sogar pardoniert, unter ihnen Lord Egremont. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Richter es für aussichtslos erachteten, die Angeklagten durch härtere Urteile zur Räson zu bringen. Auch wird die Schwierigkeit der Exekution der Urteile bei einer derartigen Masse an Personen der Kommission deutlich gewesen sein. Schließlich ist es möglich, dass man als Reaktion auf ein hartes Urteil weitere Gewaltausbrüche befürchtete. Diesbezüglich kann auch das weitere Handeln des Dukes of York gedeutet werden. Im Juli desselben Jahres gelang es York, den Duke of Exeter gefangen zu nehmen. Nach diesem Erfolg gegen einen seiner hartnäckigsten Gegner entschied York, die Exekution der Bestrafungen gegenüber den Percy und ihren Anhängern vorerst auszusetzen.142 Ganz ähnlich verfuhr der Duke mit seinen Gegnern nach der Schlacht von St. Albans. Richard siegte dort über die königliche Partei und sollte in der folgenden Zeit zum zweiten Mal als Lordprotektor die Regierung maßgeblich führen. In der Schlacht hatte Henry Earl of Northumberland an der Seite des Königs gekämpft und war dort gefallen. Zahlreiche Überlebende der LancasterPartei wurden nach der Schlacht durch den Duke pardoniert, unter anderem auch Lord Egremont.143 Nachdem König Henry VI. im Jahre 1456 den Duke of York zunächst wieder aus der Herrschaft drängen konnte, unternahm er im Jahre 1458 die Anstrengung, auf einem sogenannten Love-day einen Frieden zwischen den verfeindeten Parteien zu vermitteln. Die einzelnen an den Konflikten beteiligten Personen verpflichteten sich, der Krone hohe Summen zu zahlen, falls sie den Frieden gegenüber ihren Feinden brechen sollten. Ob diese Maßnahme eine Einstellung der Feindseligkeiten im Norden Englands bewirkte, ist fraglich. Ruhe schien eher dann einzukehren, wenn einzelne der Rädelsführer in Gefangenschaft gerieten, wie Egremont und sein Bruder Richard im Oktober des Jahres 1454, oder aber den Tod fanden.144

142 Griffiths, Local rivalries, S. 618 – 621. 143 Ebd., S. 625. 144 Ebd., S. 621 f., 626 – 628. Der Earl of Northumberland fiel in der Schlacht von St. Albans im Jahre 1455, die zwischen den Anhängern der Häuser Lancaster und York ausgetragen wurde. Sein Sohn Lord Egremont kam in der Schlacht von Northampton im Jahre 1460 um.

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5.

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Annäherung an die Gewaltakteure

Um die Gewaltaktionen durchzuführen mobilisierten die Percy als Anführer eine große Anzahl Bewaffneter. Die Quellen sprechen in dieser Hinsicht teilweise von Kontingenten von bis zu über 700 Personen. Die Grundlage für die Aushebung war in erster Hinsicht der Landbesitz der Familie. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts besaß der Earl of Northumberland ausgedehnte Ländereien. Dazu gehörten über 120 Manors, von denen die meisten in Northumberland, Cumberland und Yorkshire lagen.145 Diese Besitzungen bildeten zwar keine geschlossenen Gebiete, jedoch findet sich in den angesprochenen Countys eine bemerkenswerte Häufung und Dichte in der Anzahl von Manors der Percy, verglichen mit dem oftmals über weite Teile Englands verteilten Grundbesitz anderer hochadeliger Familien. Im Spätmittelalter vergaben die Adligen das Land vor allem an Pächter.146 Diese waren meist keine Freien. Ihre Streitigkeiten wurden oft ebenfalls innerhalb des Manors geklärt. Ein Gericht, bei dem der Earl oder sein Vertreter Recht sprach, war für viele dieser Fälle zuständig. Somit stellen die Manors innerhalb der englischen Lehnsgesellschaft eine weitgehend autarke wirtschaftliche, soziale und auch rechtliche Einheit dar. Die Familien des englischen Hochadels konnten auf diese Weise nicht nur die Bewirtschaftung ihres Landbesitzes organisieren und überwachen, sondern auch eine große Anzahl von Personen an sich binden. Aus den Manors konnten die Adeligen zahlreiche Einnahmen ziehen, darunter Pachtzinsen, Abgaben, die bei Einsetzung, Heirat oder Tod des Pächters fällig werden konnten, sowie die Gebühren und Strafgelder der Gerichte. Der Earl of Northumberland zog aus seinem Landbesitz pro Jahr Einnahmen in Höhe von circa 3.100 Pfund.147 Weitere personale Bindungen entstanden durch die Verwaltung des Landbesitzes und innerhalb des Haushalts des Earls, zu dem über 50 Bedienstete gehörten. Hier finden sich die verschiedensten Bediensteten: Für Northumberland, Cumberland und Yorkshire begegnet je ein Receiver, der die Einnahmen von den Gütern entgegennahm. Er lieferte sie beim Keeper of the Coffers, dem Schatzmeister des Earls, ab. Seit den 1470er Jahren sind zudem Kontrollbeauftragte bezeugt, die von Manor zu Manor reisten. Für den Haushalt selbst ist anzunehmen, dass ein Marshal of the Stable und ein Clerk of the Kitchen existierte. Solche Positionen, die mit der unmittelbaren Bewirtschaftung beschäftigt waren, wurden oftmals von Söhnen von Yeomen besetzt. Hingegen werden Abkömmlinge des Landadels im Haushalt des Earls Aufgaben und Ämter 145 Maurice Hugh Keen, English society in the later Middle Ages. 1348 – 1500, London u. a. 1990, S. 171 f.; Given-Wilson, Nobility, S. 19. Zur präzisen Verortung einzelner Manors siehe die Karte ebd., S. XX – XXII. Eine weitere Karte findet sich bei Storey, End, S. 128. 146 Given-Wilson, Nobility, S. XX – XXII, 9 – 11; Bean, Estates, S. 81 f. 147 Keen, Society, S. 161, 173 – 176; Given-Wilson, Nobility, S. 19 – 21.

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übernommen haben, die als ehrenvoll galten. Vielfach handelte es sich um jüngere Männer, die man in den Haushalt eines Barons gab, damit sie dort erzogen wurden. Sie dienten dann als Page, Butler, Chamberlain oder Gentleman of the Hall.148 Zusätzlich verpflichtete der Earl Personen durch Geldzahlungen zur Gefolgschaft. Dabei handelte es sich um Männer, die meist anderen Herren oder Institutionen zur Treue verpflichtet waren. Da es sich hier um Verhältnisse handelte, die die Lehnsbindungen auch gegenüber dem König unterwanderten und mit ihnen konkurrierten, spricht man von einem „Bastard Feudalism“, also einem dem Lehnswesen nur ähnelnden System.149 Hinzu kommt, dass der Earl als einer der Wardens of the Marches das Recht besaß, stets Männer unter Waffen zu halten.150 Unklar ist jedoch, ob derart angeworbene Männer in den hier interessierenden inneradligen Auseinandersetzungen eine Rolle spielten.151 Stattdessen lässt sich ein Kern von Personen herausdeuten, die über Jahre in Diensten einzelner Mitglieder der Familie Percy standen. Diese finden sich teilweise als Beteiligte der geschilderten Konflikte. Zu ihnen zählten etwa verschiedene Mitglieder der Familie Belingham. Henry Belingham bezog von den Percy Jahresrenten und war für sie möglicherweise als Receiver in Northum148 Ebd., S. 166 f.; ebd., S. 87 – 89; Bean, Estates, S. 48 f., 137 f., 161 f.; zur Organisation des Households eines Nobleman siehe ebd., S. 90 – 97. Gemäß den Angaben, die sich im „Household Book“ der Earls of Northumberland aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts finden, verschlang der Haushalt zu Beginn des 16. Jahrhunderts pro Jahr fast 17.000 Scheffel Weizen, über 27.000 Gallonen an Bier, fast 21.000 Pfund an getrockneten Beeren, 124 Rinder, 667 Schafe und etwa 14.000 Heringe, vgl. Keen, Society, S. 168. 149 Kenneth Bruce McFarlane, Bastard feudalism, in: ders., England in the fifteenth century. Collected essays, London 1981 [ursprünglich veröffentlicht in: Bulletin of the Institute of Historical Research 20, 1945, S. 161 – 180], S. 23 – 43, hier S. 23 f., 29 f.; Hicks, Overmighty subjects, S. 389 f.; ders., Bastard feudalism, S. 1. 150 Griffiths, Local rivalries, S. 591. 151 Ebd., hält es für möglich, dass der seit 1440 als Warden of the East March amtierende Henry Percy, Lord Poynings und der ab 1443 als Warden of the West March belegte Richard Neville, Earl of Salisbury auf diese Weise Aufgebote zusammen gebracht haben könnten, die ihrer jeweiligen Familie in den inneradligen Auseinandersetzungen zur Verfügung standen. Ein sicherer Beleg fehlt jedoch. Zu bedenken ist außerdem, dass sich die Lords des Nordens, die sich an dem Aufstand Henry Bolingbrokes gegen Richard II. beteiligten, offenbar nur auf ihre „persönlichen Anhänger“ stützen konnten, vgl. Prange, Der Norden, S. 66. Erst recht gilt das für den Aufstand der Percy gegen Henry IV. Hier stützte sich Henry Hotspur auf Männer aus dem von Richard II. begünstigten Cheshire; sein Vater, der Earl von Northumberland, höchstwahrscheinlich auf eigene Anhänger und nicht Personen, die er als Warden angeworben hatte, vgl. die Zusammenfassung des Literaturstandes ebd., S. 83 – 86. Die Position des Wardens gab ihrem Inhaber im Innern des Königreichs also keine beliebig verfügbaren Gewaltmittel an die Hand. Insofern ist der Zusammenhang zwischen der Existenz von „Privat“-Armeen der Wardens und dem Ausbruch der Rosenkriege, den die ältere Forschung vertreten hatte, zu relativieren. Zur älteren These vgl. Storey, Wardens, S. 607, siehe dort auch S. 614 zu den Amtsdaten Henry Percy und Richard Nevilles.

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berland tätig. Richard Belingham hingegen war zeitweilig Escheator für Cumberland und Westmorland und saß für das County Cumberland in den Jahren 1449 und 1450 im Parlament. Zudem finden sich in Heworth Robert Belingham und sein gleichnamiger Sohn als Beteiligte der Gewalthandlungen. Auch in den späteren Jahren kämpften sie an der Seite der Percy, so in den Schlachten von Wakefield (1460) und Towton (1461). Als Mitglieder der Gefolgschaft der Percy werden sie häufig in den Gerichtsakten erwähnt.152 Zahlreiche Einträge finden sich dort zudem für Sir John Salvin, der vermutlich ebenfalls eine regelmäßige Jahresrente vom Earl of Northumberland erhielt. Salvin unterstützte den Earl bereits in einer Auseinandersetzung der 1440er Jahre mit John Kemp, dem Erzbischof von York.153 Ein weiterer Begleiter der Percy in ihren Kämpfen war der Ritter John Swinburne, der ebenfalls eine jährliche Zahlung vom Earl erhielt, zudem für ihn als Receiver in Cumberland und als Bailiff von Allerdale tätig war und in den Jahren 1452 – 1453 Mitglied eines Schiedsgerichts in Cumberland unter dem Vorsitz von Lord Egremont war. Swinburne war als Gewalthandelnder bereits aktenkundig geworden, als er im Jahre 1447 ein königliches Pardon erhalten hatte, nachdem er einen Mann erschlagen hatte.154 Die Reihe der Beteiligten, die seit Jahren in Verbindung mit der Familie Percy standen, ließe sich fortsetzen. Sie alle erhielten entweder Zahlungen durch den Earl oder waren für ihn als Beauftragte tätig. Neben ihnen tauchen jedoch auch Mitglieder der Gentry auf, die offenbar keine unmittelbare Verbindung zum Earl of Northumberland oder seinen Söhnen unterhielten, jedoch aus dem Norden stammten und zumindest zur Durchführung einiger Gewalthandlungen von den Percy angeworben worden waren. Unter ihnen befindet sich Richard Metham, der bereits im Jahre 1449 pardoniert wurde, weil er einen Mann erschlagen hatte.155 Immer wieder findet sich John Caterall unter den Percy-Anhängern bei ihren Gewaltaktionen. Über lange Zeiten gehörte er zum Lager der Percy. Noch im Jahre 1460 wurde er durch eine Kommission verhaftet, die aus Anhängern des Dukes of York bestand. Auch für die Teilnahme an der Schlacht von Wakefield im Dezember desselben Jahres

152 Griffiths, Local rivalries, S. 600 f., 616, 630; Bean, Estates, S. 96 f.; J. Crawford Hodgson (Hg.), Percy bailiff ’s rolls of the fifteenth century (Publications of the Surtees Society, 134), Durham 1921, S. 91 – 95; Rotuli Parliamentorum, ut et Petitiones, et Placita in Parliamento […], 5 […] ab Anno decimo octavo R. Henrici sexti ad Finem eiusdem Regni, London 1775, S. 477; Wedgwood, Parliament, S. 63. 153 Joseph Anthony Nigota / John Kempe, A political prelate of the fifteenth century, Ann Arbor 1973, S. 513 – 517. 154 Bean, Estates, S. 96 f. 155 Calendar of the Patent Rolls. Preserved in the Public Record Office. Henry VI., Bd. 5: 1446 – 1452, London 1909, S. 304; Griffiths, Local rivalries, S. 601.

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wurde er angeklagt.156 Ein Anhänger des Hauses Lancaster war zudem Roland Kirkeby, der im Jahr 1459 von König Henry VI. eine Jahresrente aus einem Manor erhielt, dass der König von Richard Earl of Salisbury eingezogen hatte.157 Für alle diese Personen gilt, wie bereits Griffiths konstatiert hatte, dass sie „had […] a substantial social status as leaders of their communities, [and were] able to muster tenants, yeomen, and labourers in support or their favoured causes“.158 Sie können demnach als Multiplikatoren angesprochen werden.159 Da sie in mehreren aufeinanderfolgenden Gewaltaktionen tätig wurden, könnte ihnen, in einem abgeschwächten Sinne, der Status von „Veteranen“160 und Kristallisationskernen für das Aufgebot der Percy zugekommen sein. Was die Percy selbst betrifft, ist daran zu erinnern, dass der Earl of Northumberland offensichtlich eine große Zahl von Söhnen hervorgebracht hatte. Diese angemessen zu versorgen, dürfte ihn vor erhebliche Probleme gestellt haben, zumal der Krieg in Frankreich erloschen war und kein Betätigungsfeld mehr bot. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass es ganz überwiegend einige der jüngeren Söhne des Earls sind, die als Anführer innerhalb der Gewaltaktionen genannt werden, nämlich Richard und vor allem Thomas Percy. Es waren sie, die lediglich über ein geringes Einkommen verfügten und kaum eine Aussicht auf eine Verbesserung ihrer Lage hatten, jedoch über ihre familiären Verbindungen Männer rekrutieren konnten. Freilich handelte es sich bei diesen zu ganz überwiegendem Teil um tenants der Percy,161 nicht um Vertreter des Niederadels oder um professionelle Krieger. Amateure in Bezug auf Kriegführung waren wohl auch die Handwerker, die Egremont in York anwarb162 und entgegen dem Verbot von „livery and maintainance“163 in seine Gefolgschaft aufnahm. Die Tatsache, dass Egremont sich auf derartige Helfer stützte und sich sogar über ein herrscherliches Statut hinwegsetzte, legt die Vermutung nahe, dass seine eigene Ressourcenbasis zu schmal 156 Calendar of Patent Rolls 1452 – 1461, S. 608; Rotuli Parliamentorum Bd. 5, S. 477; Griffiths, Local rivalries, S. 595, 600, 602, 603, 616; Rose, Kings, S. 484. 157 Griffiths, Local rivalries, S. 596, 601; zur Person ferner Bean, Estates, S. 96 f. 158 Ebd., S. 601, vgl. auch S. 599. 159 Zur Bedeutung der Dorfeliten und lokalen Autoritäten für die Rekrutierung von Soldaten vgl. Goodman, The Wars of the Roses, S. 80. 160 Zur Bedeutung von Veteranen in den Kampfhandlungen vgl. ebd., S. 93 f. 161 Griffiths, Local rivalries, S. 599. 162 Zu den Gründen, warum York sich als Rekrutierungsbasis für Egremont eignete, äußerte Storey Vermutungen, vgl. Storey, End, S. 127. 163 Hicks, Bastard feudalism, S. 128 zu den zwischen 1390 und 1429 erlassenen Einschränkungen des Unterhalts von Gefolgsleuten für niedere Adlige; vgl. ferner Griffiths, Local rivalries, S. 591 mit Anm. 13 zur Einordnung von Egremonts Verhalten. Nach einem Statut Heinrichs IV., das 1429 bekräftigt wurde, durfte nämlich kein Ritter und auch kein Mann von geringerem Status Livreen oder andere, visuell distinguierende Objekte an seine Leute ausgeben.

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war und ihm die väterlichen Ressourcen nur bedingt Anknüpfungspunkte boten. Da er seine Helfer aber nicht aus dem Kreis der Berufskriminellen, sondern aus der Landbevölkerung und der Bürgerschaft bezog, kann angenommen werden, dass seine Handlungen auch von jenen, die sich ihm zur Verfügung stellten, nicht von vorneherein als kriminell eingestuft wurden. Im Gegensatz zu den jüngeren Percy waren der Earl of Northumberland oder sein erstgeborener Sohn nur an einer Stelle in den Quellen direkt involviert. Mehr noch, beide waren wie ihr Antipode, der Earl von Salisbury, in der Frühphase und nach der Eskalation des Konflikts 1453 seitens des königlichen Rats dazu aufgerufen worden, den Gewalttaten der nachgeborenen Söhne bzw. Brüder Einhalt zu gebieten.164 Dennoch müssen der Earl und sein Erstgeborener von den gewaltsamen Umtrieben der jüngeren Familienmitglieder gewusst haben. Ohne ein Einverständnis des Earls hätten sie zudem die Ressourcen der Familie an Männern und Material nicht nutzen können. Es ist also ein stetiges stillschweigendes Einvernehmen Northumberlands vorauszusetzen.165 Der Umfang der Gewaltaktionen, die die Percy und ihre Anhänger verübten, war beträchtlich. In den Indictments finden sich Angaben zu den Waffen und den Taten. Immer wieder genannt werden Schwerter und Lanzen, Pfeile, Bögen und Stöcke, was für eine kriegstaugliche, aber nicht für eine ritterlich-professionelle Bewaffnung spricht.166 Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass die Angeklagten mit Waffen und mit Gewalt167 vorgegangen seien.168 So brachen sie 164 Nicolas, Proceedings 6, S. 147 f., 159 – 161; Storey, End, S. 129, 131; Griffiths, Local rivalries, S. 603. 165 Thomas’ Percy diesbezügliche Einkünfte betrugen 10 Pfund Sterling pro Jahr, vgl. Booth, Men, S. 102; Griffiths, Local rivalries, S. 592; KB9/149/1/35. 166 Dieser Eindruck ist jedoch vorläufig. Die Bewaffnung der Täter und die Verteilung der Waffen nach Angriffs- und Verteidigungswaffen sowie nach dem Professionalisierungsgrad muss noch aufgeschlüsselt werden. Dies gilt besonders vor dem Hintergrund, dass in England die Tradition der „Volksbewaffnung“ nicht durch das Lehnsaufgebot verdrängt wurde, sondern erhalten blieb. Ein Statut von 1388, das 1410 aktualisiert wurde, schrieb Handwerkern und Arbeitern Besitz und Übung mit Bogen vor. Doch auch Äxte, „stakes“, Schwerter sowie Lanzenspitzen waren Waffen, mit denen die Gemeinen, wie ein Bericht von der Schlacht von Azincourt ausweist, umzugehen verstanden, vgl. Goodman, The Wars of the Roses, S. 116, 121. Besser Ausgestattete verfügten außerdem über Helm, Brustschutz, Schild oder Pavese und Speer, ebd., S. 91. Natürlich war die Bewaffnung „nach oben hin“ steigerungsfähig. Gerade deswegen verspricht eine Untersuchung der Bewaffnung Hinweise auf den Professionalisierungsgrad der zusammengerufenen Truppe. Denn dem Einwand Madderns, Waffenangaben in Trespass-Indictments seien formelhaft und sagten über den Waffengebrauch nichts aus, sei insofern widersprochen, als die Waffenangaben sich eben doch von Indictment zu Indictment unterschieden. Dies geht sogar aus einer von Maddern selbst erstellten Tabelle zu Waffenangaben hervor, vgl. Maddern, Violence and social order, S. 28 f. 167 Zur Bezugnahme auf die Verübung einer Tat „vi et armis“ vgl. Anm. 168, 190. 168 „[…] vi et armis videlicet gladijs baculis arcubus sagittis lanceis […] ac alijs armis defensivis […]“ (KB9/149/1/34); „[…] vi et armis […] arcubus sagittis gladijs et lanceis ac

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in Häuser ein. Verschiedentlich, so die Quellen, misshandelten, schlugen und verwundeten sie ihre Opfer. Im Falle der Begegnung auf Heworth More ist zudem die Rede von der Absicht, zu zerstören und zu töten.169

6.

Überlegungen zum Gewalthandeln

Anknüpfend an diese Beobachtung soll in der Folge das beobachtete Gewaltverhalten auf einer systematischen Ebene analysiert und abschließend noch einmal nach der Vergleichbarkeit von Gewalthandeln in England und der Fehdepraxis im römisch-deutschen Reich gefragt werden. Da Eigengewalt in England nicht Bestandteil des Rechtssystems war, kam der durch die Einhaltung von Formen markierten Abgrenzung legitimer (Fehde-) Gewalt von illegitimer krimineller Gewalt nach bisherigem Kenntnisstand keine Bedeutung zu: Absagen und die Einhaltung von Fristen zwischen Absage und Übergriff spielen so gut wie keine Rolle.170 Auch ein Rechts- bzw. Berechtigungsdiskurs, wie er für Fehden im römischdeutschen Reich charakteristisch war, fehlt. Stattdessen wird nur pauschal auf certaines discordes and debates verwiesen, die am Beginn der Friedensbrüche standen.171 Zu klären wäre, ob die Dominanz der rechtlichen Argumentation bei Verlautbarungen über deutsche Fehden darauf zurückgeht, dass der deutsche Fehdediskurs mit der causa iusta ein Element der Definition des gerechten Kriegs aufgenommen hatte (während er bekanntlich andere, insbesondere die auctoritas principis, überging), und ob darin ein Versuch zu sehen ist, die mit der bellum-iustum-Lehre letztlich nicht kompatible deutsche consuetudo zumindest an einem Punkt an den herrschenden gelehrten Diskurs anzuschließen. Eine alijs armis defensivis […]“ (KB9/149/1/38); „[…] vi et armis scilicet gladijs arcubus sagittis […] capis ferreis lanceis longis rostris et alijs armis defensivis […]“ (KB9/149/1/47); „[…] vi et armis videlicet baculis gladijs et alijs armis defensivis […]“ (KB9/149/1/75). 169 „[…] ad Ricardum Nevell comitem Sarum et Alesiam uxorem eius Thomam Nevell militem et uxorem eius Thome Nevell militis […] destruendum et interficiendum insidiati fuerant […]“ (KB9/149/1/47). „[…] Ricardus Percy, Johannes Podsay et alij rebelles predicti in sua rebellione adtunc et ibidem […] et congratulantes clausum et domos Alani Clerk fregerunt et intraverunt et in eiusdem Alani ac Thomam Bateman servientis ipsius Alani adtunc pace domini regis existentes […] huiusmodi rebellionibus in aligno concensientes insultis fecerunt et […] adtunc et ibidem verbaverunt vulneraverunt et male tractaverunt ac ipsius Thomam Bateman maletractaverunt […] clausum et domos Jacobi Kyng fregerunt et intraverunt et in ipsum Jacobum kyng ac Thomam Sawson et Johannem Sawson adtunc et ibidem insultum fecerunt et ipsos verbaverunt vulneraverunt et maletractaverunt“ (KB9/ 149/1/46). 170 Reinle, „Fehde“ und gewaltsame Selbsthilfe, S. 130 f. 171 Nicolas, Proceedings 6, S. 141 f., Zitat S. 141.

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solche Notwendigkeit aber bestand dort, wo Fehde ohnehin kein Bestandteil des Rechtssystems war, nicht. Nun könnte man vermuten, dass das Fehlen eines Rechts- bzw. Berechtigungsdiskurses in englischen Quellen auch der Provenienz der Quellen geschuldet war, welche häufig königlichen Institutionen zu verdanken sind und daher auf Rechtsbrüchen insistierten, während die adlige Binnensicht nur schemenhaft erkennbar wird. Dem steht allerdings entgegen, dass Quellen aus dem nächsten Umfeld der Percy – konkret: drei Balladen und eine Chronik – die eigene Sicht auf inneradlige Konflikte ebenfalls nicht thematisieren. Vielmehr werden andere Auseinandersetzungen – z. T. unter Umdeutung der Tatsachen – genutzt, um den Ruhm des Hauses zu verbreiten: So wurden Auseinandersetzungen mit den Schotten, z. T. unter Rückgriff auf das Motiv der Jagd, zu Belegen für die Ritterlichkeit Henry Hotspurs stilisiert, wobei dessen Rebellion gegen König Henry IV. ins Gegenteil verkehrt wurde,172 oder es wurde die im Kriegsdienst manifestierte Parteinahme für König Henry VI. betont,173 ohne die eng mit den Thronauseinandersetzungen verwobene Bürgerkriegssituation zu problematisieren. Ja, eine Familienchronik versteckte ihre vermutlich vorhandene Kenntnis der Auseinandersetzungen mit den Neville sogar hinter Bekundungen vermeintlicher tatkräftiger Loyalität gegenüber dem Herrscher.174 Es scheint daher, dass sich inneradlige Konflikte als Belege für die Erprobung der eigenen Ehre in adligen Traditionsmedien nicht eigneten. Das bedeutet nicht zwingend, dass es bei solchen Konflikten nicht um die Durchsetzung reklamierter Rechte gegangen sein kann. Aber der dominante königliche Kriminalitätsdiskurs dürfte einen auf feuding gegründeten Rechts- und Ehrdiskurs unmöglich gemacht haben. Umso schwerer ist es für den Betrachter, konkrete Gründe für das Gewalthandeln jenseits allgemeiner Rang- und Machtstreitigkeiten namhaft zu machen. Bisher scheint es, dass an keinem Punkt der Auseinandersetzung konkrete Forderungen an die Gegenseite erhoben wurden, wie dies für Fehden im römisch-deutschen Reich aus den fehdeabschließenden Sühnen hergeleitet wer172 Gudrun Tscherpel, The importance of being noble. Genealogie im Alltag des englischen Hochadels in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Historische Studien, 480), Husum 2004, S. 120 f. 173 So eine Verschronik, die wohl zwischen 1516 und 1523 von William Peeris, einem Sekretär Algernon Percy geschrieben wurde. Vgl. ebd., S. 125 f. zur Einordnung des Textes und S. 252 – 268 mit einer Transkription. Die relevante Stelle findet sich auf S. 266. 174 So liest man in der in Anm. 173 erwähnten, von William Peeris verfassten Percy Chronicle: „Noble Thomas lorde egrymonde // By the vith kinge henry promotyde and under his proteccion // Rebelles and traytours he was ay redy to conforwnde // Whiche agayne his sufferayne lorde made insurreccyon // To faithe and fidelyte he had zele and affeccyon // At Northampton he was slayne in his princis quarrel and vindicacion // Of Saint Thomas day of Canturbery in the translacyon“, vgl. ebd., S. 266.

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den kann. Lediglich beim Überfall auf den Hochzeitszug Sir Thomas Nevilles wird ein Konfliktanlass – nämlich ein Güterstreit – erschließbar, der dessen Verehelichung mit Maud Stanhope für die Percy unerträglich machte. Doch wird auch dieser Konfliktanlass nicht explizit benannt. Zu überlegen ist, ob es an diesem Fehlen eines eingrenzbaren und benennbaren Konfliktgegenstands lag, dass sich beide Seiten bei ihrer Konfliktführung nicht auf den gezielten Einsatz begrenzter, primär ökonomischer Repressalien beschränkten, wie sie für Fehden im spätmittelalterlichen römisch-deutschen Reich typisch waren. Derartige Repressalien sollten den Gegner zum Einlenken in einem spezifischen Konflikt bewegen. Wo es jedoch nicht um einen konkreten Konflikt, sondern um die Machtposition in einer Region ging, mochte es näher liegen, auch die Person des Gegners bzw. Personen aus dessen Gefolge zu bedrohen. Auch eine Sühne nach erfolgtem Kräftemessen war schwerer zu erzielen, denn diese konnte nicht durch „Abarbeiten“ bekannter Konfliktpunkte erzielt werden. Diese Beobachtung leitet über zu einer näheren Betrachtung der Austragsformen von Konflikten. Hier fallen erhebliche Unterschiede zwischen England und dem Reich ins Auge. Zunächst wurden im Untersuchungsfall in begrenztem Umfang Livreen verteilt; in der Folge wurde seit Ende Juli 1453 das Versammeln von Anhängern, in der Diktion der Krone also das Abhalten von „grete assembles and riottous gaderings of people“,175 durch die Konfliktparteien und damit adelstypisches „Fehde“-Verhalten beklagt. In beiden Fällen wurde eine personelle Basis für ein Gewalthandeln geschaffen, indem eine potentielle Tätergruppe gebildet wurde. Von deren Gewalthandlungen war in der Folge das umliegende Land betroffen, in dem – wiederum in der Perspektive der Krone – „right grete vexation and trouble of our contre and subgitts there, directly ayenst oure lawes and pees, by ye which to grete an inconvenience were like to ensew“176 verübt wurden. Welche Aktionen genau zu Lasten des platten Landes vonstatten gingen, ist für die erste Phase des Konflikts nicht bekannt. Bereits in der Frühphase der Auseinandersetzung waren jedoch, wie aus anderen Quellen bekannt und bereits erwähnt, Exponenten der Gegenseite das potentielle Ziel von Gewalt, wobei es zunächst bei Morddrohungen177 oder bei Plänen, einen Gegner ge-

175 Nicolas, Proceedings 6, S. 147 – 150, Zitat S. 147 f.; vgl. auch die knapp zwei Wochen später vorgebrachten Klagen ebd., S. 154 f., hier S. 154, die „divers riottes, routes and gaderings of people contrarie to oure lawes and pees“ anprangern, welche Ralph Percy, Richard Percy und John Penyngton zur Last gelegt wurden. Auch ein Jahr später wollte der Kronrat das Abhalten von „gaderings“ unterbinden, vgl. ebd., S. 190 f. 176 Ebd., S. 147 f., Zitat S. 147; für die vorangegangenen und späteren Gewalttaten vgl. ebd., S. 141 und 154 f. Von Ende Juni 1453 bis zum 10. August 1453 bezog sich der königliche Rat auf entsprechende Klagen, die an ihn gekommen waren. Adressaten dieser Schreiben waren überwiegend Mitglieder des Hauses Neville. 177 Storey, End, S. 126; Griffiths, Local rivalries, S. 592.

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fangen zu nehmen,178 blieb. Als Reaktion wurde eine Kommission eingesetzt, die Taten in einer Spanne zwischen schlichtem trespass und insurrection einordnen und untersuchen sollte.179 Nach der Einrichtung der als parteiisch erachteten Commission of Oyer and Terminer wurden seitens der Percy außerdem „Einbrüche“ verübt.180 Trotz dieser Annäherungen an das Tatspektrum fehlen nähere Informationen darüber, ob und wenn ja, welche dieser Taten als vexation galten bzw. welche sonstigen Taten unter den Begriff vexation subsummiert wurden, mit dem die Gewalttaten vor dem Zusammentreffen von Heworth bezeichnet wurden. Zunächst einmal scheint der Begriff auf das Belästigen, ja Terrorisieren des platten Landes zu verweisen. Zudem wird er in einer Weise gebraucht, die den Anschein erweckt, als seien nicht nur Parteigänger der Gegenseite belästigt worden, sondern die Einwohner des Landes unterschiedslos von den Gewalthandlungen betroffen gewesen. Dies würde ebenfalls einen Unterschied zum römischdeutschen Reich darstellen, wo Neutrale theoretisch zu schonen waren. Als Zweck ungezielt ausgeübter Gewalthandlungen könnte man die symbolische Besetzung eines als Einflusssphäre beanspruchten Raums vermuten. Doch ist Vorsicht geboten. Denn bei der Unterstellung, Gewalt sei wahllos ausgeübt worden, dürfte es sich wiederum um die Perspektive der Krone handeln. Für sie zählte allein, dass die Betroffenen ihre „sugitts“181 waren. Ob Dienstoder andere Loyalitätsbeziehungen die Geschädigten in besonderem Maß mit einer Seite verbanden, war für die Krone unerheblich. Daher sollte ihre Sichtweise nicht ohne weiteres übernommen werden. Der auf den Zusammenstoß von Heworth folgende Konfliktablauf spricht im Gegenteil nämlich dafür, dass Schädigungen sehr wohl gezielt an Anhängern der Gegenseite und nicht unterschiedslos an der Landbevölkerung vorgenommen wurden. Noch ein weiteres gilt es zu bedenken: Der Begriff vexation stand nicht für einen Straftatbestand, er war vielmehr in einem juristischen Unschärfebereich angesiedelt. Möglicherweise wurde er zunächst eingeführt, um keine strafrechtliche Festlegung vorzunehmen und den Tätern ein Einlenken zu ermöglichen. Auch der Auftrag der Untersuchungskommission, Gewalttaten daraufhin zu untersuchen, ob es sich um eine felony, einen trespass oder eine insurrection handelte, beinhaltete noch keine verbindliche Festlegung bezüglich der Einordnung der Taten, sondern benannte lediglich Möglichkeiten der Klassifikation. Ein weiteres fällt ins Auge: Bereits vor dem Überfall von Heworth waren Personen Ziel von Angriffen, ja sogar angeblicher Mordpläne, was im deutschen 178 179 180 181

Ebd., S. 129; ebd., S. 594. Calendar of Patent Rolls 1452 – 1461, S. 121 – 123. Griffiths, Local rivalries, S. 595. Nicolas, Proceedings 6, S. 141 f., hier S. 141; 147 f., ähnlich S. 148, 154, 162, 178.

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Spätmittelalter ganz untypisch war. Auch in Heworth selbst sollte es den Gegnern, den Neville, an den Kragen gehen.182 Die auf Heworth 1453 folgenden Gewalttaten beider Seiten zielten ebenfalls auf Personen oder deren Wohnsitz;183 sie schlossen überdies Plünderungen184 ein. Wo Personen gefangen oder getötet werden sollten, kann im Sinne Reemtsmas von „lozierender Gewalt“ gesprochen werden, von einer Gewalt, die darauf zielte, die Person des Gegners aus dem Weg zu schaffen.185 Hausfriedensbruch tangierte einen Bereich, welcher der Person am nächsten war, und verletzte daher symbolisch auch die Person. Dass mit einer Gewalthandlung eigentlich die Person gemeint war, gilt auch und gerade dann, wenn das Ziel der Aktion weniger das Beutemachen als das Zerstören und die Demonstration eigener Handlungsmacht war.186 Doch auch Übergriffe auf den Besitz, die Quelle und das Symbol von Einfluss,187 trafen letztlich den Status der Person. Zu den Angriffen auf Personen und deren Nahbereich kamen größere Zusammenstöße wie der Hinterhalt bei Heworth oder das Gefecht von Stamford. Derartige Gewalteskalationen waren untypisch für inneradlige Fehden im römisch-deutschen Reich, wo Gefechte weitgehend gemieden wurden.188 Doch auch für die königlich-englische Seite war hier eine rote Linie überschritten: Denn es blieb nicht bei dem sonst geäußerten Vorwurf, die Beschuldigten seien „vi et armis“189 vorgegangen, sie hätten also ein trespass190 verübt. Vielmehr wurde der Vorwurf erhoben, die Parteigänger der Percy hätten sich versammelt „insurgendum […] et ad guerram erga […] regem levandum“.191 Aber auch die 182 Storey, End, S. 131; KB9/149/1/26; KB9/149/1/47. 183 Vgl. die Heimsuchung von Northumberlands Haus durch John Neville, dazu Storey, End, S. 131; Griffiths, Local rivalries, S. 603, das bei dieser Aktion verwüstet wurde; oder die ein Jahr später erfolgte Heimsuchung Sir John Salvins, eines Anhängers Northumberlands, durch die Gegenseite, vgl. ebd., S. 610; sowie der Angriff Yorker Bürger auf das Haus Salisburys und einen seiner Tenants, vgl. ebd., S. 611. 184 KB9/149/1/73; KB9/149/1/121. 185 Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, hier S. 108 – 112, 116 f. 186 Griffiths, Local rivalries, S. 603. 187 Ders., Reign, S. 567. 188 Freilich gilt diese Beobachtung nicht für alle Gebiete des römisch-deutschen Reichs gleichermaßen. So wies David Viola auf Gefechte und Gefangennahmen in luxemburgischen Fehden hin, vgl. Viola, Fehde, S. 167, 180 f. 189 S. o. Anm. 167, 168. 190 Die Formel, jemand habe „vi et armis contra pacem regis“ gehandelt, wies die fragliche Tat als trespass, als fiskalisch zu büßendes Vergehen aus, vgl. Jens Röhrkasten, Die englischen Kronzeugen 1130 – 1330 (Berliner historische Studien, 16), Berlin 1990, S. 59. Die Formulierung „vi et armis“ begegnet aber auch in Kombination mit anderen Delikten wie der „insurrectio“, vgl. etwa KB9/149/1/47. Dabei war nicht jeder trespass gleich eine Erhebung, eine Erhebung (und noch schwerere Taten) beruhte jedoch auf der Anwendung von „vi et armis“. 191 KB9/149/1/26.

Logik der Gewalt

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Angriffe auf die adligen Gegner lieferten einen Begründungszusammenhang für die Anklage, dass die Anhänger der Percy „guerram adtunc et ibidem in plano campo levaverunt contra pacem domini regis“.192 Diese Einordnung dürfte nicht erst im Licht des Jahres 1454 erfolgt sein, in dem durch Exeters Eintreten in den Konflikt die Schwelle zur Rebellion überschritten wurde.193 Denn bereits im Oktober 1453 wurde Egremont explizit vorgeworfen, „dispose you fully to doo as it were in lande of werre“.194 Möglicherweise trug außer dem Ausmaß der Aufgebote und deren bei Heworth bewiesener prinzipieller Konfliktbereitschaft auch das Plündern zur Einordnung des Konflikts als „guerra“ oder als kriegs- bzw. fehdeähnlich bei. Denn Plünderungen – so gängig sie im Reich bei Adelsfehden waren – waren in England als Mittel des Konfliktaustrags nicht in gleichem Maß akzeptiert. Sie kamen nach bisherigem Kenntnisstand zwar auch in kleinräumigen land wars vor, galten aber eigentlich als unzulässig.195 Ansonsten waren Plünderungen dezidiert Kriegen vorbehalten.196 Im Inneren angewandt, taten sie der Akzeptanz der Handelnden und der von ihnen vertretenen Sache erheblichen Abbruch.197 Gleiches gilt für Gefangennahmen. Auch sie waren als Mittel der Kriegführung im Ausland und im Landesinnern verpönt.198 Noch in einem weiteren Bereich wurde ein Tabu gebrochen: nämlich beim Angriff auf einen Gegner in einer Kirche, dem selbst der zuständige Pfarrer nicht wehren konnte, samt der anschließenden Gefangennahme des Betroffenen. Dies stellte eine klare Verletzung des Kirchenrechts dar und hatte den Charakter eines Sakrilegs. Lediglich zwei kriegsübliche Gewaltmuster unterblieben: So ist weder von Brandstiftungen und Brandschatzungen noch von Vergewaltigungen die Rede. Doch nicht nur aus dem Umgang mit dem eigentlichen Gegner, auch im Verhältnis zur Krone ist eine Eskalation des Konflikts festzustellen. Hier indizierte der Angriff auf mit der königlichen Abgabeneinnahme betraute Personen199 den allmählichen Übergang von Friedensbrüchen an den Untertanen, 192 Ebd. 193 Vgl. den Brief des königlichen Rats an den Abt von Hulme zu Exeters Aktivitäten, Nicolas, Proceedings 6, S. 193 f., hier S. 193. Auch Harriss, Benet’s Chronicle, S. 211 f. berichtet vom Einschreiten des Herzogs von York 1454 gegen den Herzog von Exeter und Lord Egremont, „qui in comitatu Eboraci insurrexerunt et rebellarunt contra pacem regiam.“ 194 Nicolas, Proceedings 6, S. 161 – 163, Zitat S. 162; vgl. auch Storey, End, S. 129. 195 Bellamy, Bastard feudalism, S. 42; vgl. auch die Zusammenstellung von Belegen bei Reinle, „Fehde“ und gewaltsame Selbsthilfe, S. 100 f. 196 Keen, Treason trials, S. 97. 197 So führte Goodman das schlechte Image Königin Margarets, der Frau Henrys VI., und der von ihr geführten Lancasterarmee im Jahr 1461 nicht zuletzt auf die Plünderungen zurück, die ihnen zur Last gelegt wurden, vgl. Anthony Goodman, The Wars of the Roses, S. 59. 198 Keen, Treason trials, S. 97. Allerdings wurde kein Lösegeld erpresst (freundlicher Hinweis von Mathis Prange, Gießen). 199 Dies gilt trotz der Bindung des betroffenen Sheriffs von Cumberland an die Person Salis-

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durch die sich die Krone geschädigt sah,200 über eine von königlicher Seite als „guerra“ eingeschätzte Konfliktführung innerhalb des Hochadels zu einer offenen Herausforderung der Krone durch Egremont und Exeter, die sich an der Gefangennahme des obersten königlichen Herolds201 und am Entfalten des eigenen Banners durch Exeter zeigte.202 Das Entfalten der Banner war Kriegen vorbehalten und charakterisierte, da Kriegführung gegen den König seit dem Statute of Treason von 1352 als Hochverrat galt, den Übergang zur offenen Rebellion. Ob die Percy freilich von Anfang an die Krone angreifen wollten oder ob der Konflikt – gegebenenfalls durch das Bündnis mit Exeter – aus dem Ruder lief, sei dahingestellt. Die Tatsache, dass Egremont alles versuchte, um sich durch auch im Reich übliche Tricks einer gerichtlichen Vorladung zu entziehen, lässt eher vermuten, dass er ein ungünstiges Urteil fürchtete, das seiner Position abträglich gewesen wäre. Völlig stellt er die königliche Autorität also nicht in Frage. Eher scheint mir, dass die Konfliktbeteiligten zunächst mit dem Anspruch aufgetreten sind, „Fehde“ gegen den Gegner als adelsinterne Auseinandersetzung führen zu können. Dabei musste im Gegensatz zum römisch-deutschen Reich nicht zwingend ein Rechtsgrund für eine solche „Fehde“ ins Feld geführt werden. Der Wunsch nach Vergeltung – hier für die Verdrängung aus ehemaligem Familienbesitz – und/oder der Wunsch nach Statusbehauptung mochten vielleicht ausreichen. Als sekundäre Motivation kann für die Percy, seit dem Einsetzen einer einseitig besetzten Untersuchungskommission und dem Vorgehen gegen sie 1454, freilich sehr wohl der Gedanke hinzugekommen sein, Widerstand gegen Rechtsverweigerung bzw. gegen eine parteiische Positionierung derer zu leisten, die für die Krone sprachen. Hierzu mochten sich die Percy umso mehr bereitfinden, als sie durch die Verschiebungen im königlichen Machtapparat zugunsten der York-Neville-Partei und durch biographische Zufälle zunehmend politisch isoliert waren.203 Aus dem Widerstand mag schließlich die offene Rebellion erwachsen sein. Die These, die Percy und die Neville hätten zunächst eine Adelsfehde führen wollen, mag überraschen, denn die Aktionen der Kontrahenten entsprachen nur sehr bedingt dem, was im römisch-deutschen Reich üblich war. Einerseits spielte

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burys; zu ersterer vgl. Storey, End, S. 126; Griffiths, Local rivalries, S. 592; zum Vorfall ebd., S. 603. Rose, Kings, S. 484 interpretiert den Vorfall dahingehend, dass er offenlege, „that the younger Percys did not respect even royal authority“. Dies dürfte aus der Formel hervorgehen, die Auseinandersetzungen zwischen Lord Egremont und John Neville hätten zu „grete trouble and vexation of our countree and sugitts there“ geführt, vgl. Nicolas, Proceedings 6, S. 141 und passim [Hervorhebung Christine Reinle]. Storey, End, S. 146. Vgl. hierzu auch ebd., S. 144. Vgl. hierzu Rose, Kings, S. 489.

Logik der Gewalt

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auch in England materielle Schädigung des Gegners eine erhebliche Rolle. Andererseits war der stark personenzentrierte Zugriff, bei dem in England der Gegner und sein Haus gezielt ins Visier genommen wurden, im Reich unüblich. Hier bezweckten Fehden, eine eigene (vermeintliche) Rechtsposition durchzusetzen und den Gegner zur Einlassung auf die eigene Position zu zwingen, nicht jedoch, ihn zu vernichten.204 Anders in England: Da konkrete Ziele, die eine Einlassung möglich gemacht hätten, nicht formuliert wurden, fehlte jenes Moment, das Fehde im römisch-deutschen Reich als Selbsthilfe auswies. Dennoch spricht gerade die Art des Konfliktaustrags dafür, dass „Fehde“ geführt wurde – freilich in einem anderen als im Reich üblichen Sinn. Denn die Handlungsformen der Beteiligten entsprachen, was bislang noch nicht beachtet wurde, in Teilen dem, was die gelehrte Theorie der romanischen Länder als „guerre couverte“ bezeichnete und die Forschung feudal war nennt. Der gelehrten Theorie zufolge war zwischen dem „bellum hostile“ bzw. dem von der Forschung als public or open war bezeichneten Krieg der Fürsten und der „guerre couverte“ bzw. dem feudal war zu unterscheiden. In Ersterem wurden Beute und Gefangene gemacht, in Letzteren, einer von den zeitgenössischen Juristen missbilligten Form, durfte der Kontrahent verwundet und getötet werden; Brandlegung, Raub und Gefangennahme waren aber verpönt.205 Die von den Percy und den Neville angewandten Techniken des Verwundens und versuchten Tötens entsprachen demnach dem Muster feudaler Kriege bzw. feudaler Fehden. Zunehmend überlagert wurde diese Art der Konfliktführung durch Bräuche, die zum „bellum hostile“ gehörten. Offen muss allerdings bleiben, ob Egremont und die Percy den Diskurs über die „guerre couverte“ vom Kontinent kannten oder ob sie einfach in England ausübten, was auf dem Kontinent gängige Praxis war. Gerade die kontinentale Praxis des „bellum hostile“ dürfte die Vermischung beider Formen der „Kriegführung“ noch vor dem Übergang in offene Rebellion befördert haben. Das Fehlen besonders schwerwiegender Gewaltformen wie Brandstiftung und Vergewaltigung spricht allerdings dafür, dass sich die Akteure des Unterschieds zu einer im „Ausland“ geführten „guerra“ bewusst waren. Zugleich bot die Großauseinandersetzung der Percy und der Neville offenbar auch niederen Adligen wie den Caterall die Möglichkeit, sie für eigene Angelegenheiten zu nutzen. Dass Täter und Opfer beim Überfall von Gargrave denselben Namen trugen, legt diese Deutung jedenfalls nahe. Auch wenn das hier untersuchte Segment inneradliger englischer Auseinandersetzungen der Fehde im römisch-deutschen Bereich deutlich weniger ähnelte als die in land wars praktizierten forcible entries, existierten doch Parallelen zur Fehdeführung auf dem Kontinent, die künftig noch weiter unter204 Vgl. auch Viola, Fehde, S. 169. 205 Kaeuper, War, justice, S. 227 f.; Keen, The laws of war, S. 70 f., 104.

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sucht werden müssen. Sie zeigten sich in den Formen des Konfliktaustrags und beziehen auf der motivationalen Ebene gewaltfördernde, nicht behebbare strukturelle Defizite des Rechtssystems ebenso ein wie den vermuteten widerstandsrechtlichen Begründungszusammenhang des Gewalthandelns. Eine vergleichbare rache- und ehrfokussierte Adelsmentalität dürfte weiterhin begünstigend gewirkt haben. Gleiches gilt für die hierarchisierende Wirkung von Gewalthandeln. Ein allein auf die bürokratische Fortschrittlichkeit Englands gerichteter Blick ist daher zu einseitig.

Ralf Pröve

Gewaltformen in frühneuzeitlichen Lebenswelten

1.

Themenaufriss

Gewalt ist in aller Munde, sie scheint allgegenwärtig zu sein, den Alltag zu bestimmen. Kein Tag vergeht, an dem die Medien nicht von Gewalt in Familien und Schulen, Amokläufen, Terroranschlägen, Bürgerkriegen oder Auslandseinsätzen der Bundeswehr berichten. Erfurt, die Rütli-Schule in Berlin, Kundus oder die Twin Towers in New York City geraten so zu Symbolen einer offenbar aus den Fugen geratenen Welt, in der auf den ersten Blick Werte wie Toleranz, Verständigung und Friedensbereitschaft immer mehr ins Hintertreffen geraten. So ist es ohne weiteres nachvollziehbar, warum die Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft dem Gießener Antrag auf eine Forschergruppe zu Gewaltgemeinschaften grünes Licht verschafft haben. Die Aktualität des Problemfeldes Gewalt zeigt sich auch in ihrer multidisziplinären Reflexion; so befassen sich Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft, Kulturwissenschaft, Geschichte, Psychiatrie, Rechtsmedizin, Verhaltensbiologie, Pädagogik und einige Fächer mehr mit diesem Phänomen. Dieser Reflexion unterliegen jeweils ganz unterschiedliche Betrachtungslogiken, eigene wissenssoziologisch fundierte Fragestellungen und Herangehensweisen. Hier nur einige wenige Einblicke: Im soziologischen Verständnis ist Gewalt eine Quelle der Macht, Max Weber1 und darüber hinausgehend Heinrich Popitz2 verstehen unter Gewalt eine Form von Machtausübung, Hans Magnus Enzensberger3 spricht von der Universalität der Gewalt und ihrer gesellschaftlichen Funktionalität und Jan Philipp Reemtsma4 unterscheidet drei Typen von Gewalt, die lozierende, die raptive und die autotelische Form. Die Politikwissenschaft fasst Gewalt als Staatsgewalt und beleuchtet dabei Grenzen und For1 2 3 4

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 2005. Heinrich Popitz, Gewalt, in: Mittelweg 36, 4, 1995, S. 19 – 40. Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt/Main 1993. Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008.

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men legitimer Machtausübung und diskutiert Prinzipien von Gegengewalt. Andere Disziplinen begreifen Gewalt als emotionalen Prozess, fragen nach aggressiven Verhaltensweisen, untersuchen den frontalen Cortex auf Durchblutungsstörungen und messen zu niedrige Serotoninspiegel, berücksichtigen strafmindernde oder strafverschärfende Begleitumstände von Gewalttaten oder kombinieren Verhaltensziele mit emotionalen Zuständen. Schon dieser erste Überblick macht dabei deutlich, dass sich das Phänomen Gewalt einer einfachen Definition und Zuordnung entzieht. Erschwerend kommt hinzu, dass unser Aufmerksamkeitsfokus durch die Eigengesetzlichkeit der Medien (unter anderem durch den gezielten Einsatz von Bildern) gesteuert wird und es deshalb auch immer schwieriger wird, Quantität und Qualität gewalttätiger Vorkommnisse angemessen zu erkennen und Aussagen zu der Frage zu treffen, ob denn eine Klimax zu beobachten sei. Gerade weil wir immer nur mit bestimmten Gewaltformen konfrontiert werden, gerade weil bestimmte moralische Zielvorgaben internalisiert werden, wird das Phänomen nie vollständig erfasst. Auch dieser Beitrag wird keinen grundsätzlichen Ausweg aus diesem Dilemma bieten können. Er soll lediglich einen Versuch darstellen, über einen Einstieg in die Lebenswelt der Frühen Neuzeit, verschiedenen Gewaltformen nachzuspüren. Welche erkenntnistheoretischen und methodischen Probleme gibt es bei einer Untersuchung von Gewalt in der Frühen Neuzeit? Wie entsteht Gewalt, wo kommt Gewalt vor und wie wird sie wahrgenommen?

2.

Gewalt in struktureller Perspektive

Gerade für das mittlere der drei Frühneuzeitjahrhunderte scheint Gewalt geradezu ein Strukturmerkmal zu sein. In wohl keinem anderen Säkulum in Europa wurden Alltag und Leben der Menschen so sehr von Gewalt und Krieg bestimmt wie in diesem 17. Jahrhundert. Besonders prägend und zum Signum für diesen Zeitabschnitt wurde der Dreißigjährige Krieg, der mit seinen Gewaltorgien und Zerstörungskräften ganze Dörfer und Städte, ganze Landstriche und Regionen verwüstete. Es war aber nicht nur dieser extrem lange Krieg, zugleich waren es überhaupt Anzahl und Dichte der kriegerischen Auseinandersetzungen, die Paul Münch 1986 veranlassten, das 17. als das Jahrhundert des immerwährenden Krieges zu bezeichnen.5 Neben dem Dreißigjährigen Krieg suchten etwa die Kriege Frankreichs gegen Spanien und das Reich, die Nordischen Kriege zwischen Russland, Schweden und Polen, Revolution und Bürgerkrieg in England, das Vordringen der Türken auf dem Balkan oder zu Beginn des neuen Jahr5 Zitiert nach: Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt/Main 1992, S. 10.

Gewaltformen in frühneuzeitlichen Lebenswelten

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hunderts der Spanische Erbfolgekrieg die Bevölkerung Europas heim. Nach einer Zählung hatte es im 17. Jahrhundert insgesamt 5.193 Kriege gegeben; im 16. oder 18. Jahrhundert lag die Zahl demgegenüber jeweils weit unter 1.000.6 Es wundert daher nicht, wenn das Thema Krieg und Gewalt nicht nur für zeitgenössische Chronisten, Publizisten und Staatsrechtler eine große Rolle spielte, sondern auch seine vielfache Bearbeitung in Literatur, Musik und Theater oder Malerei und Graphik fand. Bekannt geworden sind etwa die Holzschnitte und Radierungen von Jacques Callot oder Hans Ulrich Franck, welche die dargestellten Menschen mit abgeschlagenen Köpfen und durchbohrten Leibern oder vergewaltigte Frauen zeigen, oder die Literarisierung von Gewalt in Grimmelshausens Simplicissimus oder etwa auch die düsteren Gedichte eines Andreas Gryphius. Auch in Selbstzeugnissen finden sich Hinweise auf Gewalt und Krieg. Als schwedische Truppen im Jahre 1633 die bayerische Stadt Landsberg eroberten, beschrieb der Bäckerssohn und Pfarrvikar Maurus Friesenegger die Eroberung folgendermaßen: „Den 19. April fing die Stadt Landsberg zu kapitulieren an, weil von München kein Succurs kam. Während der Kapitulation, und wieder gegebener Parole überstiegen die Feinde nächtlicherweise die Mauern, plünderten 4 Tage lang die Stadt, töteten über 160 Menschen, rissen den Baier-Turm nieder. Und also nach verübten allen Gattungen Schandtaten, und Notzuchten gingen sie mit ungeheurer Beute sowohl von der Stadt als von der umliegenden Gegend.“7

Derartige Zitate beschreiben Episoden aus dem Dreißigjährigen Krieg, die für den Kriegsverlauf selbst und die Große Politik zwar weniger wichtig waren, für die unmittelbar Betroffenen jener Zeit jedoch zu den beinahe alltäglichen leidvollen Erfahrungen gehörten. Ständige Angst vor Raub und Plünderung, Vergewaltigung, Misshandlung und dem gewaltsamen Tod prägte eine ganze Generation. Solche Ängste wurden durch Nachrichten und Gerüchte über besonders blutige Schlachten und Massaker noch geschürt. So beschrieb etwa der Magdeburger Ratsherr Otto Guericke die Eroberung seiner Stadt durch den kaiserlichen General Tilly 1631 mit den Worten: „Da ist es geschehen, dass die Stadt mit allen ihren Einwohnern in die Hände und Grausamkeiten ihrer Feinde gerathen. […] Da ist nichts als Morden, Brennen, Plündern, Peinigen, Prügeln gewesen“.8 6 Ebd. 7 Maurus Friesenegger, Tagebuch aus dem 30jährigen Krieg. Nach einer Handschrift im Kloster Andechs mit Vorwort, Anmerkungen und Register. Hg. von Willibald Mathäser, München 1996, S. 42 f. 8 Friedrich Wilhelm Hoffmann, Geschichte der Belagerung, Eroberung und Zerstörung Magdeburgs von Otto von Guericke, Magdeburg 1860, S. 84.

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Nach diesem ersten Einblick in Krieg und Gewalt des 17. Jahrhunderts erscheint es sinnvoll, der Begriffsbedeutung von Gewalt und vor allem dem zeitgenössischen Verständnis nachzugehen. Heute wird unter Gewalt vor allem die „Anwendung physischen und psychischen Zwangs gegenüber Menschen“ und Dingen, also vor allem die „rohe, gegen Sitte und Recht verstoßene Einwirkung auf Personen“ verstanden.9 Gleichzeitig, und dieser Nebensinn ist heute weniger präsent, bedeutet Gewalt auch das „Durchsetzungsvermögen in Macht- und Herrschaftsbeziehungen“.10 Gewalt manifestiert sich zum einen als individuelle Gewalttätigkeit und zum anderen als obrigkeitliche Herrschaftsdurchsetzung. Zugleich werden beide, sich überlappende Gewaltbedeutungen relativiert, indem sie an nicht näher erläuterte Rechtsnormen und sittliche Empfindungen gekoppelt werden. Im zeitgenössischen „Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste“ von Johann Heinrich Zedler wird Gewalt denn auch weniger als Handlung, sondern vor allem als Rechtsbegriff verstanden, wird zwischen legitimer und verbotener Gewaltausübung differenziert. Gewalt, so Zedler, sei im Sinne von potestas „das Vermögen etwas auszurichten, entweder mit Fug und Recht […] oder ohne Recht und aus Muthwillen, da ist es eine straffbare Gewaltsamkeit“ im Sinne von violentia: „und da ist man befugt, Gewalt mit Gewalt, wie man kann, zu vertreiben“.11 Die Ausübung von Gewalt wird also unmittelbar an die jeweilige Herrschaftsdurchsetzung und Rechtsetzung geknüpft. Dieses doppelte Verständnis von Gewalt, also einmal als herrschaftskonforme und rechtmäßige Form von Gewalt, einmal als unrechtmäßige, im Widerspruch zur Herrschaft stehende Form von Gewalt, führt zu dem von der Forschung beschriebenen säkularen Staatsbildungsprozess, der im Spätmittelalter einsetzte und im 19. Jahrhundert seinen Abschluss fand.12 Mit diesem zentralen politischen Vorgang trat eine zunehmende Verrechtlichung, Verdichtung und Rationalisierung von Herrschaft ein. Traditionelle Herrschaftsformen wurden allmählich verdrängt und Herrschaft zunehmend versachlichter und rationaler mit einem immer dichter werdenden Netz von Gesetzen und Verordnungen ausgeübt. Der Fürst konnte 9 Diese Perspektive wird stärker betont in: Thomas Lindenberger / Alf Lüdtke (Hg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt/Main 1995. 10 Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, Mannheim 1986 – 1994, hier Bd. 8, 1989, S. 453. 11 Johann Heinrich Zedler, Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, 64 Bände plus 4 Supplementbände, Leipzig 1732 – 1754, hier Bd. 10, 1735, Sp. 1377 f. 12 Zum Anwachsen der Staatsgewalt vgl. pointiert Wolfgang Reinhard, Das Wachstum der Staatsgewalt, in: Der Staat 31, 1992, S. 59 – 75. Vgl. auch Winfried Schulze, „Von den großen Anfängen des neuen Welttheaters“. Entwicklung, neuere Ansätze und Aufgaben der Frühneuzeitforschung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44, 1993, S. 3 – 18, der die Entwicklung des modernen Staates zu entscheidenden Problembereichen der Frühen Neuzeit erklärt.

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am Ende die Fäden in einer Hand vereinigen und sein institutionalisiertes Herrschaftsmonopol über den Instanzenzug der Behörden und Verwaltungen, aber auch über neu aufgestellte Exekutivkräfte, vor allem das stehende Heer und bald auch eine effektive Gendarmerie absichern. Dieser frühmoderne Staat musste nach ,innen‘ wie nach ,außen‘ durchgesetzt und abgesichert werden: Im ,Inneren‘ wurden die intermediären Kräfte zurückgedrängt und damit die Stände, also Adel, Städte und Klerus, die seit alters her auf den Landtagen an der Macht partizipiert hatten, von der politischen Mitsprache ausgeschlossen; zugleich die Bewohner des Landes in ihrer Stellung zur Zentrale zu Untertanen deklariert und mit vielfachen Normierungen und Pflichten, etwa der Zahlung von Landessteuern, der Verpflichtung zum Kriegsdienst und anderem mehr belastet. Nach ,Außen‘ galt es, die Landesgrenzen mit Festungen, Militärposten und Grenzstationen zu sichern und sich gegen rivalisierende Mächte und gegen Rechtsansprüche konkurrierender Fürsten durchzusetzen. Dieser Staatsbildungsprozess führte auf der einen Seite zu einer Minderung der offen ausgetragenen Gewalttätigkeiten, auf der anderen Seite jedoch schuf er wiederum selbst Gewalt und Krieg. Sicherlich, der frühmoderne Staat mit seinem Gewaltmonopol trug erheblich dazu bei, dass die Straßen und Wirtshäuser sicherer und damit Reisen und der Transport von Gütern kalkulierbarer wurden13 oder dass auf den Marktplätzen und Gassen in den Städten Policeydiener, Marktwächter und nächtliche Patrouillen Sicherheit vermittelten. Auch sorgten ein durchgebildeter Instanzenzug der Gerichte, ein stetig wachsendes Heer von akademisch geschulten Juristen und die Einrichtung von Appellationshöfen für ein Mindestmaß an Rechtssicherheit und regelten zivilrechtliche Klagen ebenso, wie sie Proteste gegen die lokalen Obrigkeiten kanalisierten. Auf den ersten Blick scheinen sich damit die Vermutungen der älteren Forschung, der Staatsbildungsprozess habe in Europa zu einer massiven Minderung von Gewalt und Krieg geführt, zu bestätigen. Übersehen wird dabei, dass die Staatsbildung selbst wiederum Krieg und Gewalt gebar. Nicht nur nach außen am Beispiel der so genannten Staatsbildungskriege,14 auch in der Sicht nach ,innen‘ schuf der Staatsbildungsprozess Gewalt. Neue Verhaltensformen und Denkmuster bei der Ausübung der Religion etwa oder im sozialen Umgang und wirtschaftlichen Verkehr wurden durchgesetzt, aber auch neue Gesetze und Vorschriften verkündet, wozu vor allem die Erhebung neuartiger Steuern und 13 Vgl. zu folgendem Aspekt Holger Th. Gräf / Ralf Pröve, Wege ins Ungewisse. Reisen in der Frühen Neuzeit, 1500 – 1800, Frankfurt/Main 1997, bes. S. 193 – 241. 14 Vgl. im Folgenden Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg als frühmoderner Staatsbildungskrieg, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45, 1994, S. 487 – 499; sowie ders., Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: Zeitschrift für Historische Forschung 24, 1997, S. 509 – 574.

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Abgaben zählte. Die unmittelbar Betroffenen empfanden die Setzung bestimmter Normen und die Ablösung der Rechtssysteme je nach ,Umsetzungsgeschwindigkeit‘ durchaus als gewaltsamen Akt. Den Menschen begegnete Gewalt damit sowohl in Gestalt von Räuberbanden oder marodierenden Söldnern, die ihre Häuser niederbrannten und Wertsachen stahlen, als auch in Gestalt von Soldatenwerbern, die ihre Söhne für die fürstlichen Regimenter „preßen“ wollten, sowie von Polizeibediensteten und Steuerbeamten, die neue landesherrliche Gesetze, disziplinierende Interaktionsformen und weitere Steuern durchsetzen wollten. Nicht zufällig zählt die Forschung nahezu während der gesamten Frühen Neuzeit, freilich im 18. Jahrhundert deutlich abnehmend, viele tausend kleinere und größere Aufstände und Steuerrevolten; zu den bekanntesten und größten zählt der Bauernkrieg zu Beginn des 16. Jahrhunderts.15 Der werdende Staat reagierte auf solche Widersetzlichkeiten mit drakonischen Strafen, mit Tod, Verstümmelung oder physischer Zerstückelung der Delinquenten, Ehrstrafen am Pranger oder jahrelanger Festungsbauhaft; die Gefängnisse und Zuchthäuser sind im Wesentlichen eine Erfindung des frühmodernen Staates.16 Selbst die obrigkeitlichen Hexenverbrennungen des 16. und 17. Jahrhunderts stellen eine Reaktion auf die Setzung und Durchsetzung neuer Verhaltensmuster dar.17 Eine Folge von Herrschaftsdurchsetzung und Rechtsetzung war die Unterscheidung in gute und böse, in legitime und illegitime Gewalt. Kriegsrecht und frühmodernes Gesetzwerk ließen eine künstlich geschaffene staatlich-rechtliche Toleranzschwelle entstehen, die sich vor die traditionellen, oft generationenlang eingeübten Barrieren der Duldsamkeit legte. Die daraus resultierende, sich allmählich wandelnde Gewaltwahrnehmung und Gewaltrechtfertigung ist zum Beispiel in den beiden anfangs zitierten Söldnertagebüchern unmittelbar greifbar. Als etwa Bauern in einem Schloss verbrannt wurden, sah sich der ungenannte ,Söldner‘ dazu genötigt, eine Erklärung abzugeben, nämlich, dass die Landbewohner sich als Nichtkombattanten gewehrt hätten und ihrem Widerstand deshalb auch einige Soldaten zum Opfer gefallen

15 Vgl. hierzu etwa Peter Blickle (Hg.), Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, München 1980; oder Winfried Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit (Neuzeit im Aufbau, 6), Stuttgart 1980. Generell zu Unruhen Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300 – 1800 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 1), München 1988. Unter modernem und politikgeschichtlichem Blickwinkel vgl. Wolf-Dieter Narr, Physische Gewaltsamkeit, ihre Eigentümlichkeit und das Monopol des Staates, in: Leviathan 8, 1980, S. 541 – 573. 16 Vgl. Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrechtsrituale in der frühen Neuzeit, Frankfurt/Main 1995; sowie Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main 1976. 17 Vgl. Wolfgang Behringer, Hexenverfolgung in Bayern. Volksmagie, Glaubenseifer und Staatsräson in der Frühen Neuzeit, München 1987.

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seien.18 Der Schreiber unterscheidet nach dem Kriegsrecht in rechtmäßige Gewaltausübung nach „Kriegsgebrauch“ und unrechtmäßige Gewalt, trennt also in potestas und violentia. Gilt der Kampf, die Tötung des Gegners, auch die Brandschatzung einer eroberten Stadt mit Vergewaltigung und Plünderung als gerechtfertigt, als militärisch opportun, so ist die übermäßige Gewaltausübung gegen scheinbar Unbeteiligte verpönt und muss eigens legitimiert werden. Verstieß der Gegner gegen das Kriegsrecht, flüchtete er etwa aus Feigheit, wurde er ,ohne alle Gnade‘ „caput gemacht“.19 Demgegenüber durfte eine Festungsbesatzung, die ihren ,Accord‘ mit den Belagerern gemacht hatte und kapitulierte, mit allem „Sack und Pack“ unbehelligt die Festung verlassen. Dieser Doppelsinn von Gewalt, einmal verstanden als legitime Form der Herrschaftsdurchsetzung, einmal begriffen als illegitimer Übergriff, ist auch heute noch sprachlich fassbar. So kennen wir sprichwörtliche Redensarten wie etwa „Mit roher Gewalt“, die auf letztere Bedeutung hinweisen,20 während Redensarten wie „Jemanden in seine Gewalt bringen“ oder „In jemandes Gewalt stehen“ die erste Konnotation widerspiegeln.21 Es ist bezeichnend, dass die Herrschaftsbefugnis bei bestimmten Funktionsträgern sogar personalisiert wurde. So war etwa der „Gewaltige“ eine Charge, die als Stockhausverwalter oder Profoss Amtsgewalt über inhaftierte Soldaten oder Festungsbaugefangene ausübte.22 In den bisherigen Überlegungen wurde vor allem von kriegerischer Gewalt gesprochen. Doch auch im zivilen Bereich, etwa auf der Straße, im Wirtshaus23 oder im Wohnhaus, kam es immer wieder zu Gewaltszenen und Übergriffen. So berichtete etwa der in Halle lebende Barbier Johann Dietz in lapidarem Ton Ende des 17. Jahrhunderts, dass er regelmäßig Ehefrau und Dienstmagd körperlich

18 Jan Peters (Hg.), Ein Söldnerleben im Dreißigjährigen Krieg. Eine Quelle zur Sozialgeschichte, Berlin 1993, S. 74 f. 19 Herbert Röhrig (Hg.), Hannoversche Rotröcke in Griechenland. Das Tagebuch des Fähnrichs Zehe in den Türkenkriegen 1685 – 1688, Hildesheim 1975, S. 87. 20 Lutz Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 5 Bde., Freiburg/Brsg. 1994, hier Bd. 2, S. 545 f. Vgl. auch die zahlreichen Komposita in: Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in mehreren Abteilungen, Leipzig 1854 – 1954, hier Bd. 4, 1911, Sp. 5220 – 5234. 21 Röhrich, Lexikon, S. 545 f. 22 Ralf Pröve, Stehendes Heer und städtische Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Göttingen und seine Militärbevölkerung 1713 – 1756, München 1995, S. 176. Weitere Beispiele wie etwa der „Gewaltbote“ bei Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache, bisher 8 Bde., Weimar 1914 – 1984, hier Bd. 4, 1939/1951, Sp. 695 – 697. 23 Vgl. etwa Joachim Eibach, Städtische Gewaltkriminalität im Ancien R¦gime. Frankfurt am Main im europäischen Kontext, in: Zeitschrift für Historische Forschung 25, 1998, S. 359 – 382, hier S. 371 f.; sowie Ralf Pröve, Der Höckelheimer „Tumult“ vom Jahre 1728, in: Northeimer Jahrbuch 56, 1991, S. 133 – 137.

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Ralf Pröve

züchtige.24 Doch auch hier, im scheinbar privaten Bereich, findet sich die Doppeldeutung von Gewalt. Ausdrücklich wird im Lexikon von Zedler darauf Bezug genommen. Gewalt im Sinne von potestas, also Herrschaft, übe jede rechtmäßige Obrigkeit über ihre Untertanen aus. So seien, wie Zedler formulierte, Hausvater und Hausmutter durchaus befugt, bei Fehlverhalten ihrer Bediensteten zu prügeln oder die Mägde als „Schand-Huren“ zu beschimpfen.25 Hinter dieser merkwürdigen Formulierung verbarg sich die Vorstellung vom ,ganzen Haus‘ als einer für die alteuropäische Sozialverfassung charakteristischen rechtlichen wie sozioökonomischen Konfiguration. Das ,ganze Haus‘ umfasst die im vormodernen Europa übliche Einheit von Arbeiten und Wohnen, von Wohnraum und Betriebsstätte. Im ,Haus‘ lebten und arbeiteten nicht nur die Familie des Hausbesitzers (etwa ein Kaufmann oder Handwerksmeister), sondern auch betrieblich Angestellte, Hauspersonal oder weitere Verwandte. Der hausväterlichen Gewalt waren alle Personen unterworfen, wobei der pater familias das Haus vor Gericht vertrat und überdies Ansprechpartner der Obrigkeit war.26 Die Ausübung von Gewalt unter Anwendung unmittelbaren Zwangs galt auch für alle anderen Bereiche der frühneuzeitlichen Gesellschaft, in denen Gehorsamkeit Untergebener unter Verabreichung von Prügeln eingefordert wurde; so schlug der Meister den Lehrling,27 der Bauer den Knecht, der Vater den Sohn und der Unteroffizier den einfachen Söldner.28 Es ist zum weiteren Verständnis unerlässlich, sich diese zeitgenössische Bedeutung von Gewalt als Herrschaftsbefugnis, aber auch die alltägliche Praxis der daraus abgeleiteten Gewalttätigkeit bewusst zu machen; allzu oft wurde der Fehler begangen, unter dem Vorzeichen des ,sozialen Mitleids‘ zu schreiben und die karge frühneuzeitliche Lebenswelt 24 Meister Johann Dietz des Großen Kurfürsten Feldscher. Mein Lebenslauf, München 1966, bes. S. 210 – 258. 25 Freilich bewirkte die Aufklärung ab der Mitte des 18. Jahrhunderts hier einen Wandel, wurde statt Brutalität und Schlägen eher auf Argumentation und Pädagogik, Liebe und Mitleid gesetzt. Diese Tendenz ist in den Artikeln bei Zedler bereits deutlich spürbar. Vgl. zu dieser Entwicklung auf autobiographischer Ebene Bodo von Borries, Vom „Gewaltexzess“ zum „Gewissensbiss“? Autobiografische Zeugnisse zu Formen und Wandlungen elterlicher Strafpraxis im 18. Jahrhundert, Tübingen 1996. 26 Trotz berechtigter Kritik an dem Brunnerschen Modell vom ,ganzen Haus‘ wird übersehen, dass dieses Konstrukt für die lokalen Verwaltungsbehörden in fiskalischer und polizeilicher Hinsicht eine wichtige Rolle spielte, vgl. etwa Claudia Opitz, Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des ,ganzen Hauses‘, in: Geschichte und Gesellschaft 20, 1994, S. 88 – 98; sowie Hans Derks, Über die Faszination des „Ganzen Hauses“, in: Geschichte und Gesellschaft 22, 1996, S. 221 – 242. 27 Zur Gewalt innerhalb der Handwerkerschaft vgl. Eibach, Städtische Gewaltkriminalität, S. 374 f.; sowie Andreas Grießinger / Reinhold Reith, Lehrlinge im deutschen Handwerk des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Historische Forschung 11, 1986, S. 149 – 197. 28 Mit Belegen für die militärische Gesellschaft Pröve, Stehendes Heer, S. 150 – 154.

Gewaltformen in frühneuzeitlichen Lebenswelten

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nicht mit zeitgenössischen Zuständen zu vergleichen, sondern mit heutigen Verhältnissen in Relation zu setzen. Freilich gab es auch hier eine Toleranzschwelle, jenseits welcher Gewalt unrechtmäßig und damit sanktionierbar wurde. Als der erwähnte Barbier Dietz zum Beispiel seiner Magd einmal bei einer seiner Maßregelungen das Nasenbein brach und diese ihr Blut im ganzen Gesicht verwischte und damit laut schreiend durch die Gasse lief, stellte das Gericht eine unangemessene Reaktion fest und belegte Dietz mit einer Geldstrafe.29 Eine wichtige Basisfunktion erhielt die öffentliche Ordnung. Erst wenn das Unrecht öffentlich wurde und damit zur Sünde und Frevel gegen göttliches und weltliches Recht, schritt die Jurisdiktion ein. Als etwa eine Frau in Göttingen um 1700 in ihrer Wohnung lautstark die Obrigkeit beschimpfte, wurde sie, so die Begründung des Richters, nur deshalb zu einer besonders hohen Geldstrafe verurteilt, weil die Fensterläden offenstanden und die ganze Gasse mitgehört hatte.30 Zwischen tätlicher Gewalt und Verbalinjurien wurde vor vielen Gerichten nicht geschieden.31 Fassen wir kurz zusammen: Es ist unbestreitbar, dass das Gewaltmonopol der frühmodernen Herrschaft, vom Thron abgestuft bis zum ,ganzen Haus‘, eine Gewalt mindernde Wirkung nach sich zog; zugleich jedoch schuf der Staatsbildungsprozess nach ,innen‘ wie ,außen‘ selbst wiederum Gewalt und Krieg. Erklärlich wird damit die massive Anhäufung kriegerischer Gewalt im 17. Jahrhundert, dem Höhepunkt der Staatsbildung. Bisher haben wir Gewalt als strukturelles Problem gefasst, das dialogisch auftritt, als Ausdruck und Indiz für Herrschaftsbildung und Modernisierung fungiert. Damit werden jedoch längst nicht alle Gewaltvorkommen in der frühneuzeitlichen Lebenswelt beleuchtet. Ein weiteres Feld erschließen Gewaltrituale in kulturanthropologischer Perspektive.

3.

Gewalt in kulturanthropologischer Perspektive

Beginnen wir mit zwei Beispielen: Das erste Beispiel stammt aus der gelehrten Welt der Universitäten. Wollte ein Studienanfänger sein Studium etwa im frühneuzeitlichen Köln aufnehmen, so wurde er bereits am Stadttor zum unfreiwilligen Akteur eines gewaltsamen Rituals. Das Schauspiel begann, indem so genannte Depositoren unter lautem Geschrei mit Ruten über die Neuankömmlinge herfielen und sie zwangen, ein bestimmtes Lied zu singen. An29 Meister Johann Dietz, S. 214 f. 30 Zu diesem Fall Pröve, Stehendes Heer, S. 268. 31 Vgl. dazu auch Eibach, Städtische Gewaltkriminalität, S. 361 f.

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Ralf Pröve

schließend mussten die Kandidaten sich auf eine Bank legen, um dort dreimal durchgeprügelt zu werden; dabei war der Kopf auf ein mit Nägeln gefülltes Kissen zu legen. Zu den weiteren Schikanen gehörten das Begießen mit Wasser und abwechselnde Rutenhiebe.32 Nicht viel anders erging es Europas Handwerkern, wenn sie in den Gesellenstand aufgenommen wurden. Nach Beendigung der Lehrzeit erfolgten Prüfung und Lossprechung des Lehrlings wiederum in ritualisierter Form. Bei einem angehenden Tischlergesellen sah dies so aus: „Sie legen den Jungen, welchen sie nur Kuh-Schwantz nennen, auf eine Bank, beschneiden, behacken und behobeln ihn und brauchen alle Werkzeuge der Tischler an ihm, als denn muss er sich in die Stube legen, da denn einem Gesellen von denen Meistern aufgegeben wird eine architektonische Säule, welche sie wollen, aus ihm zu machen. Solche muss ein Geselle mit einem großen hölzernen Circul, an dessen einen Fuß ein mit schwarzer Farbe eingenetzter Pinsel steckt, an dem in der Stube liegenden Kandidaten aufreissen. Wenn nun der Geselle mit dem Riß fertig ist, so spricht ein Meister : die Säule wäre nicht recht, und sei nichts nütze. Darauf der Geselle die Hand voll Ruß habende, des neuen Gesellens Gesichte überstreichet und ihn also schwarz machet. Nach einer längeren Rede endet der Redner mit dem Satz, Darum, mein lieber Kuhschwantz tu dich bedenken und laß dem Meister eine Kanne Bier einschenken. Wenn nun diese Zeremonien alle vollbracht, muss der gemachte neue Geselle sich wieder rein und sauber ankleiden, als dann spielen die Gesellen mit ihm in der Karte, wodurch er gleichsam ehrlich gemachet wird.“33

Diese beiden Beispiele geben den Blick frei auf ritualisierte Formen von Gewalt, die ubiquitär in frühneuzeitlichen Lebenswelten auftauchen. Rituale sind kulturelle Äußerungen, die ihren Sinn in der Erhaltung und Bestätigung, der Festigung und Bekräftigung sozialer oder kultureller Ordnungen haben. Zu den Merkmalen zählen etwa standardisierte Wiederholungen von Handlungen, dramatisches und expressives Pathos. In Ritualen dominiert eine Prozessabfolge, die von den an ihnen Beteiligten zwar aktiv initiiert und vollzogen wird, von der diese aber im Akt des Vollzuges selbst erfasst werden. Sie werden also einerseits geplant, initiiert, inszeniert und ausgeübt, andererseits vollziehen sie sich quasi von selbst, schreiben den Beteiligten ihre Handlungen weitgehend vor, und sie entfalten ihre Wirkung umso effizienter, je undurchsichtiger ihre Wirkungsweise für die an ihnen Beteiligten bleibt.34 32 Marian Füssel, Riten der Gewalt. Zur Geschichte der akademischen Deposition und des Pennalismus in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 32, 2005, H. 4, S. 605 f. 33 Lebenserinnerungen Friedrich Freses, Leipzig 1708, zitiert in Michael Stürmer (Hg.), Herbst des Alten Handwerks. Meister, Gesellen und Obrigkeit im 18. Jahrhundert, München 1986. 34 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe, in: Jürgen Martschukat / Steffen Patzold (Hg.), Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter

Gewaltformen in frühneuzeitlichen Lebenswelten

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Rituale konstituieren oder bestätigen Bindungen ganz unterschiedlicher Art. Sie vermitteln zwischen verschiedenen Sphären. Rituale sind Orte von Grenzerfahrungen. Die Fähigkeit von Ritualen, Bedeutung hervorzubringen und Schwellenüberschreitungen zu erwirken, lässt sie als performative Akte zwischen dem Autonomieanspruch des Subjekts und entsubjektivierenden Verhaltensmustern oszillieren. So dienen sie dazu, Beziehungen und Antagonismen zum Ausdruck zu bringen, soziale Konflikte zu verhindern bzw. einzugrenzen, Menschen in neue Sozialpositionen und gesellschaftliche Rollen einzuweisen und lokale Gemeinschaften und soziale Gruppen zu stabilisieren. Rituale sind damit Ausdruck verdichteter Kommunikation, die Strukturen schaffen bzw. vermitteln und sichtbar werden lassen. Rituale verbergen oder maskieren damit nicht nur Machtverhältnisse, sondern sie sind Teil von Aushandlungsprozessen.35 Arnold van Gennep trennt das Übergangsritual in drei Phasen: eine Trennungsphase, eine Schwellen- und Übergangsphase sowie eine Angliederungsphase. Besonderes Augenmerk liegt auf der mittleren Phase, die einen besonderen Zwischenstand anzeigt, der nicht selten Merkmale des Unstrukturierten, Paradoxen, Undifferenzierten und Inversiven ausmacht.36 Victor Turner hat diese Phase als Vorbereitung auf den Wandel durch die Initiation ausgemacht, in der sich die altbekannten Konventionen und Verhaltensmuster auflösen und die Potenziale der Transformation andeuten.37 Die Kulturanthropologie verweist auf diese kulturelle Funktion von Gewalt, auf ihre integrative Wirkung und damit auch auf positive Erwartungen an Gewalt in der Sicht der Beteiligten. In den frühneuzeitlichen Gesellschaften habe Gewalt der Normstabilisierung gedient, Gewalt sei zur Absicherung eines gefährdeten ökonomischen Status, zur Herstellung oder Stärkung der Identität bis zur Neuzeit, Köln 2003, S. 33 – 54; Andr¦a Belliger / David J. Krieger (Hg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, 4. Aufl., Wiesbaden 2008. 35 Vgl. dazu Catherine Bell, Ritualkonstruktion, in: Andr¦a Belliger / David J. Krieger (Hg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, 4. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 37 – 47; Ulrike Brunotte, Ritual und Erlebnis. Theorien der Initiation und ihre Aktualität in der Moderne, in: Christoph Wulf / Jörg Zirfas (Hg.), Rituelle Welten (Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, 12, H. 1 und 2), Berlin 2003, S. 29 – 53; Klaus-Peter Köpping / Ursula Rao (Hg.), Im Rausch des Rituals. Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Performanz, Münster 2000; sowie Michael Wimmer / Alfred Schäfer, Einleitung. Zur Aktualität des Ritualbegriffs, in: dies. (Hg.), Rituale und Ritualisierungen, Opladen 1998, S. 9 – 47. 36 Vgl. Arnold van Gennep, Les rites de passage (dt. Übergangsriten), Frankfurt/Main 1986 [1909]. Vgl. hierzu auch das Nachwort von Sylvia M. Schomburg-Scherff, S. 233 – 253. 37 Victor Witter Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt/Main 2005 [engl. Original 1969]; sowie ders., Liminalität und Communitas, in: Andr¦a Belliger / David J. Krieger (Hg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, 4. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 249 – 260.

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Ralf Pröve

bestimmter Altersgruppen, Berufsgruppen oder Dorfgemeinschaften angewandt worden. Die Ritualisierung von Gewalt habe zur Eingrenzung der Gewalt Stärkerer geführt und den Beteiligten jederzeit die Möglichkeit eingeräumt, aus einer gewalthaften Auseinandersetzung ,auszusteigen‘.38 Zwischen Herrschaft und Obrigkeit auf der einen und den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und sozialen Milieus auf der anderen Seite habe es überdies unterschiedliche Normen über die zulässige Gewalt gegeben. Die Reichweite der staatlichen Normierungsbemühungen sei begrenzt gewesen, stattdessen wären Gewaltkonflikte in den lokalen Gemeinschaften in der großen Mehrheit ohne obrigkeitliche Institutionen ausgetragen und reguliert worden. Versuchen wir ein erstes Resümee. Gewaltentstehung, Gewaltaustrag und Gewalteindämmung hängen unmittelbar zusammen und sind in der frühneuzeitlichen Gesellschaft, aber nicht nur da, vielfach ritualisiert und symbolisiert und in komplexe soziale, kulturelle und ökonomische Strukturen eingebunden. Gewalt gehört zum festen Bestandteil des Alltags und übt eine wichtige, den Zusammenhalt sozialer Systeme garantierende Funktion aus. Freilich nur, solange die empfindliche und komplizierte Balance zwischen auslebbarer, weil in Rituale eingebundene Gewalt und Gewalt jenseits dieser Schwelle, die die Gemeinschaft zu zerstören droht, nicht gefährdet ist.39 Diese unsichtbare Grenze wird letztlich von Individuen, Familien, Nachbarschaften, Dorfgemeinschaften, aber auch von Berufsgruppen bestimmt; sie ist oft über Generationen festgelegt und wird nicht selten über Initiationsrituale, etwa bei der Aufnahme in die Zunft oder in die Burschenschaft oder aber beim Eintritt in das Militär, vermittelt.40 Wiewohl in den Grundsätzen übereinstimmend, liegen doch die jeweiligen Gewaltschwellen in den frühneuzeitlichen Gemeinschaften unterschiedlich hoch. Gewalttätigkeiten, die in einer städtischen Gilde nicht mehr geduldet wurden, konnten in adligen Kreisen oder gar in militärischen Gesellschaften noch Gruppenkonsens erlangen. Diese anthropologische, traditionelle Form der 38 Vgl. im Folgenden Martin Dinges, Formenwandel der Gewalt in der Neuzeit. Zur Kritik der Zivilisationstheorie von Norbert Elias, in: Helga Breuninger / Rolf Peter Sieferle (Hg.), Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte, Frankfurt/Main 1998, S. 171 – 194, bes. S. 187 – 190. Vgl. auch Michael Wimmer / Christoph Wulf / Bernhard Dieckmann (Hg.), Das zivilisierte Tier. Zur historischen Anthropologie der Gewalt, Frankfurt/Main 1986. 39 Vgl. etwa Jozsef Kotics, Soziale Kontrolle als Gewalt. Die Rolle der Gewalt im CharivariRitual, in: Rolf Wilhelm Brednich / Walter Hartinger (Hg.), Gewalt in der Kultur. Vorträge des 29. Deutschen Volkskundekongresses, Passau 1993, S. 377 – 385. 40 Einen guten Einblick in die vielfältigen und häufig mit Gewaltelementen versehenen Zunftrituale verschafft Stürmer, Herbst des Alten Handwerks. Vgl. etwa auch Wolfgang Steusloff, Äquatortaufen auf deutschen Schiffen während des 20. Jahrhunderts. Aspekte der Gewalt in einem berufsspezifischen Initiationsbrauch, in: Rolf Wilhelm Brednich / Walter Hartinger (Hg.), Gewalt in der Kultur. Vorträge des 29. Deutschen Volkskundekongresses, Passau 1993, S. 387 – 400.

Gewaltformen in frühneuzeitlichen Lebenswelten

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Gewalt wird im Zuge von Staatsbildung und Vergesellschaftung zunehmend überdeckt von neuen, die einzelnen Gemeinschaften transzendierenden Gewaltnormen, die wiederum selbst neue Gewalt schufen. Überdeckt, jedoch nicht wirklich abgelöst; obwohl etwa die frühmoderne Herrschaft versuchte, diese autonomen, als rivalisierend empfundenen Gewaltregulierungen zu unterbinden und zum Beispiel das Duell zu verbieten, gelang ihr dies nicht wirklich.41 Damit bleibt Gewalt also einerseits eine dauerhafte Konstante in der Frühen Neuzeit und darüber hinaus bestehen, andererseits wurden bestimmte, offene Gewaltformen allmählich, wenn auch nicht linear und zudem regional und schichtenspezifisch unterschiedlich, verdrängt. Das Erstaunen der Forschung über den Rückgang der Gewalt im 18. Jahrhundert dürfte damit zum Teil erklärt werden.

41 Vgl. etwa für das 18. und 19. Jahrhundert Peter Dieners, Das Duell und die Sonderrolle des Militärs. Zur preußisch-deutschen Entwicklung von Militär- und Zivilgewalt im 19. Jahrhundert, Berlin 1992; oder Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991.

Patricia Bobak / Horst Carl

Außer Rand und Band? Frühneuzeitliche Söldner als Gewaltgemeinschaften im niederländisch-spanischen Krieg

1.

Zweierlei Eroberungen: Bonn 1584 und Bonn 1587

Als der Kupferstecher und Kölner Verleger Frans Hogenberg seiner Darstellung der Eroberung der kurkölnischen Residenzstadt 1584 eine gereimte Erklärung der Vorgänge beifügte, zielte diese weniger auf das militärische als vielmehr das moralische Versagen der Verteidiger ab – sie hatten die Stadt schlicht an die Feinde verkauft:

Frans Hogenberg, Übergabe der Stadt Bonn an die Spanier 1584. Abb.: Fritz Hellweg (Hg.), Franz Hogenberg – Abraham Hogenberg. Geschichtsblätter, Nördlingen 1983, S. 252.

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Patricia Bobak / Horst Carl

„In Bonn am Rhein, ein Cölsche Statt, der Truchses ein Besatzung hatt, die doch ohn großen Mangel drinn Uneinig war in ihrem Sinn. Drumb sie dem feind nach kurtzer Zeit Die statt ergab ohn allen streit, verkauft ihr ehr und herrschaft stoltz ein jeder für acht gulden solds.“1

Die solcherart präsentierte Übergabe Bonns stellte eine prominente Episode des sogenannten Truchsessenkrieges oder auch „Kölner Krieges“ dar, der zwischen 1583 und 1588 um die Herrschaft über das Fürstbistum Köln geführt wurde.2 Der Truchsess, von dem hier die Rede ist, Gebhard Truchsess von Waldburg, firmiert als Namensgeber dieses Krieges, dessen politische Implikationen weit über die engere Region hinausreichten. Als gewählter und seit 1577 amtierender Erzbischof versuchte er, nachdem er 1582 zum Protestantismus übergetreten war, das geistliche Kurfürstentum zu säkularisieren. Ihm selbst bot sich mit dem Konfessionswechsel und der Transformation vom geistlichen zum weltlichen Herrscher die einmalige Chance, als Territorialfürst eine eigene Dynastie zu begründen. Diesem Unterfangen aber standen sowohl die Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens von 1555 und damit das Reichsrecht als auch die Wittelsbacher als mächtigste katholische Dynastie im Reich entgegen.3 Nach harten militärischen Auseinandersetzungen in eben jenem Truchsessenkrieg vermochten die Wittelsbacher ihren katholischen Prätendenten Ferdinand von Wittelsbach als Erzbischof durchzusetzen, womit nicht nur die Katholizität dieses rheinischen Kernlandes, sondern auch die entsprechende katholische Mehrheit im Kurkolleg gesichert wurde. Aufgrund der konfessionellen Gegensätze und Parteibildung geriet dieser Regionalkonflikt rasch ins Fahrwasser der 1 Ein Hinweis auf die genannte Bildunterschrift befindet sich auch im grundlegenden Werk von Max Lossen, Der Kölnische Krieg, Bd. 2: Die Geschichte des Kölnischen Kriegs 1582 – 1586, München/Leipzig 1897, S. 473, Anm. 1. In die 1587 erschienene zweite Auflage seiner Geschichtsbilder hat Hogenberg den Text der Bildunterschrift nicht aufgenommen. Grund dafür war wohl deren deutlich antispanische Tendenz, die am Druck- und Verlagsort Köln als problematisch angesehen wurde. Vgl. dazu auch Eva-Maria Schnurr, Religionskonflikt und Öffentlichkeit. Eine Mediengeschichte des Kölner Kriegs (1582 bis 1590), Köln/Weimar/Wien 2009, S. 150 – 156. 2 Neben dem aus den Quellen geschöpften Klassiker von Max Lossen (wie Anm. 1) vgl. zu den militärischen und politischen Entwicklungen: Franz Petri, Im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: ders. / Georg Droege (Hg.), Rheinische Geschichte, Bd. 2, Düsseldorf 1976, S. 1 – 216; Johannes Arndt, Das Heilige Römische Reich und die Niederlande 1566 – 1648, Köln 1998, S. 104 – 110; Schnurr, Religionskonflikt, S. 278 – 290. 3 Günther von Lojewski, Bayerns Weg nach Köln. Geschichte der bayerischen Bistumspolitik in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, Bonn 1962; Hansgeorg Molitor, Das Erzbistum Köln im Zeitalter der Glaubenskämpfe (Geschichte des Erzbistums Köln, 3), Köln 2008, S. 1515 – 1688.

Frühneuzeitliche Söldner als Gewaltgemeinschaften

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großen konfessionspolitischen Auseinandersetzung der Epoche in der unmittelbaren Nachbarschaft, dem spanisch-niederländischen Krieg, der sich seit 1568 zur größten und langwierigsten kriegerischen Auseinandersetzung in Westeuropa entwickelt hatte.4 In der Residenzstadt Bonn hatte Truchsess Gebhard eine Garnison unter dem Kommando seines Bruders Karl platziert, und es war die Meuterei jener Garnison, die 1584 über das Schicksal der Residenzstadt des Kölner Kurfürsten entschied. Die eingangs genannte Bildunterschrift bestreitet allerdings, dass einer der üblichen Anlässe von Meutereien wie Mangel an Verpflegung oder Sold Ursache des Ungehorsams gewesen sei. Sarkastisch machten andere Zeitgenossen den Söldnern den Vorwurf, sie seien jeden Abend, wenn sie auf Wache zogen, „altem bonnischem Brauch nach […] toll und voll“ gewesen.5 Aber so „toll und voll“, dass sie nicht handlungsfähig gewesen sind, waren die Landsknechte in Bonn nicht. Als Ferdinand von Bayern mit spanischer Unterstützung und schwerer Belagerungsartillerie anrückte und sich zu einer Belagerung der Stadt anschickte, handelten die Söldner der Bonner Garnison jedenfalls planvoll und zielgerichtet.6 Der Gehorsamsverweigerung folgte die Überwältigung des Kommandostabes, worauf die Söldner selbst das Heft des Handelns in die Hand nahmen.7 Verhandlungen mit der Gegenseite wurden im Übrigen dadurch erleichtert, dass man es mit seinesgleichen zu tun hatte, denn auch dort waren es vornehmlich Söldner und Kriegsunternehmer, die das militärische Geschäft betrieben. Schnell wurden die Geschäftspartner deshalb handelseinig: Für insgesamt 4.000 Gulden wurde den Landsknechten der Garnison freier Abzug „mit Ober- und Untergewehr, samt Weibern und Kindern und allem, was ihnen zuständig“8 erlaubt. Dass der Befehlshaber Truchsess Karl gleich mitverkauft wurde, war Teil des Geschäftes. Mit dem in Aussicht stehenden Lösegeld wollte Ferdinand von Bayern nämlich den Sturmsold für seine eigenen Knechte be4 Einen guten Überblick über den vielschichtigen Konflikt bieten Alastair Duke, Reformation and revolt in the Low Countries, London/Ronceverte 1990; Jonathan Israel, The Dutch Republic. Its rise, greatness, and fall, 1477 – 1806, Oxford 1995; ders., Conflicts of empires. Spain, the Low Countries and the struggle for world supremacy, 1585 – 1713, London/Rio Grande 1997; Geoffrey Parker, Der Aufstand der Niederlande. Von der Herrschaft der Spanier zur Gründung der niederländischen Republik 1549 – 1609, München 1979 [engl. Original 1977]. 5 Die mehrfach aufgelegte „Kurtze Relation, was massen die meuterei und unerhörte verräterei schäntlich ubergebung der stat Bon […] sich zugetragen, Heidelberg 1584“ bedient sich nicht weniger als drei Mal dieser Formulierung; vgl. auch Lossen, Der Kölnische Krieg, S. 464, Anm. 1. 6 Die im Folgenden skizzierten Vorgänge finden sich detailliert bei Lossen, Der Kölnische Krieg, Bd. 2, S. 463 – 472. Eine populäre Darstellung bietet Werner Bülow, Als die Bayern Bonn eroberten. Aus der Erlebniswelt einer Generation im Europa des 16. Jahrhunderts, München 2003, S. 9 – 20. 7 Lossen, Der Kölnische Krieg, Bd. 2, S. 465 f. 8 Ebd., S. 469.

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gleichen, den er ihnen dafür zahlte, dass sie seine künftige Residenz nicht plünderten.9 Bei bewaffneter Einnahme der Stadt im Sturm hätte ihnen genau dies nach Kriegsbrauch und Kriegsrecht zugestanden. Auch die Bürger der Stadt Bonn kamen bei diesem Geschäft nicht schlecht weg, denn Plünderung oder gar schlimmere Exzesse blieben der Stadt so erspart. Lediglich einigen notorischen Unterstützern der protestantischen Sache ging es an den Kragen, die beiden Prädikanten wurden kurzerhand in den Rhein geworfen – was wiederum einer wie durch ein Wunder überlebte.10 Die Bonner Ereignisse von 1584 zogen jedoch weitere Kreise, weil eine nach Maßstäben der Zeit beträchtliche Anzahl von protestantischen Flugschriften die Vorgänge im Reich publik machte.11 In ihnen wurden die Bonner Meuterei und ihre Folgen unter den Schlagworten „unerhört“ und „schändlich“ traktiert und eine Unterscheidung zwischen den treu gebliebenen und verräterischen Kriegsknechten gemacht. Einige der aus diesem Anlass erschienen Flugschriften gingen sogar so weit, dass sie die Namen der „treulosen“ Kriegsknechte veröffentlichten. Drei Jahre später, 1587, kam die Stadt Bonn allerdings nicht mehr so glimpflich davon. Überraschend tauchte mit einer vergleichsweise kleinen Truppe von 150 Reitern und 250 Fußsoldaten Schenk Martin von Nideggen am 23. Dezember 1587 vor der Stadt auf. Der Schenk von Nideggen (ca. 1540 – 1589) war Abkömmling einer Nebenlinie eines im Herzogtum Jülich und den benachbarten Territorien begüterten alten Niederadelsgeschlechtes.12 Seit den 1580er Jahren erwarb er den zweifelhaften Ruf, der umtriebigste, aber auch am meisten gefürchtete und verhasste Söldnerführer im Rheinland, in Westfalen und den angrenzenden Niederlanden zu sein. Zunächst hatte er im Dienst der Generalstaaten gefochten, war dann aber 1577 auf die spanische Seite gewechselt, nachdem die Generalstaaten ihn aufgrund von strittigen Besitzrechten zur Herausgabe seines Stammschlosses in der Provinz Limburg nötigen wollten. In 9 Für die detaillierte Darstellung des Akkords und der Gefangennahme des Truchsessen Karl vgl. ebd., S. 468 – 470. 10 Ebd., S. 472. 11 Diese neue propagandistische Dimension des niederländischen Aufstandes und damit einhergehend auch der Konfessionskonflikte am Niederrhein sind Gegenstand neuerer medienund kommunikationsgeschichtlicher Studien: Arndt, Das Heilige Römische Reich, S. 213 – 293; Schnurr, Religionskonflikt, passim; Dieter Maczkiewitz, Der niederländische Aufstand gegen Spanien (1568 – 1609). Eine kommunikationswissenschaftliche Analyse, Münster 2007. 12 Heike Preuß, Martin Schenk von Nideggen (1540 – 1589) und der Truchsessische Krieg, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 49, 1985, S. 117 – 138; Karl Kossert, Martin Schenk von Nideggen oder die Fehltritte der Tapferkeit, Duisburg 1993; den neuesten Stand, der auch im Folgenden skizziert wird, bietet online die biographische Skizze samt Quellenverweisen von Heike Preuß auf http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/persoenlichkeiten/S/Seiten/MartinSchenkvonNideggen.aspx [10. 1. 2012].

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den folgenden Jahren machte er sich als Kommandeur einer in spanischen Diensten stehenden Söldnertruppe von bis zu viertausend Mann an der östlichen Peripherie der Niederlande einen Namen und führte 1580 beispielsweise Entsatz für das belagerte Groningen herbei. Nach zwischenzeitlicher Gefangennahme durch die Niederländer und Konflikten mit der spanischen Generalität, die sich gleichfalls an Streitigkeiten um Besitzansprüche auf sein Stammschloss entzündeten, schloss er sich wieder den Generalstaaten an und trat 1585 mit dem Titel eines kurkölnischen Feldmarschalls in den Dienst des Gebhard Truchsess von Waldburg. Spektakuläre Aktionen in dessen Diensten folgten: Anfang 1586 plünderte er Neuss, danach die Stadt Werl in Westfalen, um schließlich das eroberte Ruhrort zu seinem Hauptquartier zu machen. Von dort aus unternahmen seine Söldner Kontributionszüge in die angrenzenden Gebiete der Herzogtümer Jülich und Kleve, obwohl beide Territorien nominell neutral waren. Sein großer Coup war jedoch die überraschende Eroberung Bonns am 23. Dezember 1587. Dass dies unmittelbar vor dem Heiligen Abend geschah, passte nur allzu gut in das Bild des berüchtigten Söldnerführers, dem offenbar nichts heilig war.13 Die städtischen Wachmannschaften waren zwar noch gewarnt worden, aber eine Scheinattacke ließ sie den falschen Mauerabschnitt verteidigen. Als sie die Täuschung bemerkten, waren der Schenk und seine Söldner bereits in der Stadt und begannen unverzüglich zu plündern. Allerdings gelang es dem Schenken, bereits nach einer Stunde das von seinen Söldner gemäß Kriegsbrauch in Anspruch genommene freie Plünderungsrecht zu unterbinden – nicht zuletzt, weil er mit dem Kirchenschatz des Münsters, v. a. den mittelalterlichen Reliquienschreinen und Monstranzen, einen besonders lukrativen Gegenwert für die Gemeine Beute14 seiner Söldner ins Geschäft einbringen konnte.15 An einer zu starken Schädigung, sprich Ausplünderung der Bürger hatte er aber auch deshalb kein Interesse, weil es sich nicht um einen kurzfristigen raid handelte, sondern er sich längerfristig in der Stadt festsetzen wollte. Mit dem Versuch, von hier aus eine eigenständige Rolle im großen Krieg zu spielen, scheiterte er jedoch. Nach sechs Monaten gelang es spanischen Truppenteilen, seine Garnisonstruppen aus der Residenzstadt zu vertreiben. Schenks Stellvertreter Otto von Puttlitz übergab die Stadt in aussichtsloser Situation auf Befehl Schenk 13 Dass im folgenden Jahr 1588 die Reichsacht über ihn verhängt wurde, trug noch weiter zu diesem einschlägigen Ruf bei. Seiner Reputation als Söldnerführer schadete dies freilich nicht im Geringsten, eher war das Gegenteil der Fall. 14 Zur Gemeinen Beute vgl. Stefan Xenakis, Plündern, teilen, herrschen. Beutemachen, Beuteansprüche und Beuteverteilung in Süddeutschland an der Wende zur Neuzeit, in: Horst Carl / Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis in die Neuzeit (Krieg in der Geschichte, 72), Paderborn 2011, S. 162 f. 15 Lossen, Der Kölnische Krieg, Bd. 2, S. 633.

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Martin Schenk von Nideggen, Kupferstich, nach 1586 – dargestellt als Mitglied des englischen Hosenbandordens, in den ihn der englische Statthalter in den Niederlanden, Rubert Dudley, Earl of Leicester, 1586 erhoben hatte, sowie in seiner Eigenschaft als kurkölnischer Feldmarschall. Abb. nach einem Kupferstich im Museum Kurhaus, Kleve, Slg. Angerhausen, Kat.-Nr. B 1. Foto: Museum Kleve.

Martin von Nideggens. Der dabei geschlossene Akkord gewährte den Söldnern immerhin freien Abzug.16 Der Versuch im August 1589 in Nimwegen schließlich den Bonner Coup noch einmal zu wiederholen, kostete den berüchtigten Söldnerführer schließlich das Leben. Sein Einnahmeversuch scheiterte diesmal an der Wachsamkeit der Bürger. Beim überstürzten Rückzug über den Rhein ertrank Nideggen, die Bürger stellten seinen gevierteilten Leichnam danach tagelang aus.17 Bis in die Gegenwart bewahrt die Festung Schenkenschanz, die er 1586 auf einer Rheininsel bei Lobith hatte anlegen lassen und die aufgrund ihrer Lage zur wichtigsten und entsprechend umkämpften Sperrfestung am Rhein wurde, seinen Namen. Das Beispiel der Eroberungen Bonns ist jedoch nicht in erster Linie wegen der schillernden Persönlichkeit des Schenken von Nideggen als Einleitung gewählt, vielmehr kann man an diesen beiden Beispielen bestimmte Aspekte des Forschungsprojektes zu Gewaltlogiken in Söldnerheeren der Frühen Neuzeit veranschaulichen. Die erste Eroberung Bonns bietet eine exemplarische Meuterei von Söldnern, die das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen – aus ihrer 16 Ebd., S. 634. 17 Preuß, Schenk von Nideggen.

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Sicht handeln sie autonom gemäß eigener Interessen, aus Sicht ihres Dienstherren werden sie zu vertragsbrüchigen Verrätern. Im Fall der zweiten Eroberung kommt es zur Plünderung der Stadt, die im Sturm genommen wird. Bemerkenswerterweise läuft diese Plünderung nicht wie andere „Furien“ aus dem Ruder,18 sondern präsentiert sich als ein strikt kontrolliertes Geschehen: Nach einer Stunde ist Schluss, weil der Kriegsherr Schenk von Nideggen seine Söldner so im Griff hat, dass er die Plünderung auch nach ihrem Beginn noch einzudämmen weiß. Ohne sein beträchtliches Charisma und die Akzeptanz, die er bei seinen Soldaten genoss, wäre dies undenkbar gewesen, doch ist auch schon darauf verwiesen worden, dass er seinen Kriegsknechten auch eine materielle Kompensation in Gestalt der Beteiligung an der reichen Gemeinen Beute der entwendeten Kirchenschätze bieten konnte.19 Mit Martin Schenk von Nideggen haben wir es mit einem jener warlords zu tun, die selbst aus der Region stammten und sich wesentlich von eigenen lokalen Interessen leiten ließen. Er erscheint wie eine regionale Variante jener Kriegs- bzw. Söldnerunternehmer, die Schlüsselfiguren in den Kriegen der Söldnerheere im 16. und frühen 17. Jahrhundert darstellten.20 Nicht minder prägten die eigentlichen Gewaltakteure, die Söldner auf beiden Seiten, diesen Krieg um die Kontrolle fester Stützpunkte, von denen dann immer wieder Plünderungs- und Kontributionsraids in das Umland gestartet wurden. Wenn einzelne dieser Akteure aufgrund von Meutereien in „Neuen Zeitungen“ namentlich genannt wurden, treten sie bisweilen sogar aus der üblichen Anonymität heraus.

2.

Frühneuzeitliche Söldner als Akteure auf Gewaltmärkten

Söldner leisten per definitionem Kriegsdienst gegen materielle Entlohnung, so dass zu vermuten ist, dass hier der Zusammenhang von ökonomischer Rationalität und Logiken kollektiver Gewaltausübung besonders ausgeprägt ist.21 Frühneuzeitliche Söldner traten zudem als distinkte gesellschaftliche Gruppe auf, die sich in Selbst- und Fremdsicht durch eine spezifische Gruppenidentität auszeichnete. Als Rechtsverband mit eigener Gerichtsbarkeit und eigenen 18 Zum exzessiven Gewalthandeln meuternder Söldner etwa während der sogenannten „Spanischen Furie“, dem Sacco di Roma oder „Englischen Furie“ vgl. Abschnitt 4. 19 Die materiellen Verluste Bonns waren also trotz abgebrochener Plünderung erheblich, gingen den geistlichen Institutionen neben Sachwerten doch auch eine große Anzahl ihrer Reliquienschätze verloren. Vgl. Edith Ennen / Josef Niessen, Geschichte der Stadt Bonn, Bd. 2, Bonn 1956, S. 267 f. 20 Hierzu immer noch am umfassendsten Fritz Redlich, The German military enterpriser and his work force. A study in European economic and social history, 2 Bde., Wiesbaden 1964. 21 Michael Sikora, Söldner – historische Annäherungen an einen Kriegertypus, in: Geschichte und Gesellschaft 29, 2003, S. 210 – 238.

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Normen lassen sie sich innerhalb der ständischen Gesellschaft als eigenständige Korporation beschreiben,22 deren Mitglieder zudem durch Besonderheiten etwa in Kleidungsverhalten oder Ehrvorstellungen Distinktion markierten. Gemeinsame regionale bzw. „nationale“ Herkunft stärkte darüber hinaus solche kollektiven Identitäten, die nicht nur in Abgrenzung gegen die Zivilbevölkerung,23 sondern auch gegen konkurrierende Söldnergruppierungen artikuliert wurden, wie dies beim bekannten Antagonismus von Schweizer Reisläufern und oberdeutschen Landknechten der Fall war. Frühneuzeitliche Söldner sind kein Forschungsneuland. Monographische Darstellungen wie die von Peter Burschel24 oder Reinhard Baumann25 sind Beispiele dafür, dass Militär und Krieg lohnende Untersuchungsfelder für sozialund kulturgeschichtliche Ansätze sind.26 Das vorliegende Projekt hat einen etwas anderen Fokus: Es will anhand solcher im historischen Kontext der Frühen Neuzeit besonders markanten Kriegergemeinschaften untersuchen, welche Funktion physische Gewalt für das „Auf-Dauer-Stellen“ solcher Gruppierungen gehabt hat. Dazu dient der Vergleich von spezifischen gewaltaffinen Situationen, 22 Hierzu vgl. Hans-Michael Möller, Das Regiment der Landsknechte. Untersuchungen zu Verfassung, Recht und Selbstverständnis in deutschen Söldnerheeren des 16. Jahrhunderts, Wiesbaden 1976. 23 Zum Verhältnis von Söldnern und Zivilbevölkerung vgl. Michael Kaiser, Die Söldner und die Bevölkerung. Überlegungen zu Konstituierung und Überwindung eines lebensweltlichen Antagonismus, in: Stephan Kroll / Kersten Krüger (Hg.), Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit, Münster 2000, S. 79 – 120. 24 Peter Burschel, Söldner im Nordwestdeutschland des 16. und 17. Jahrhunderts. Sozialgeschichtliche Studien (Veröffentlichungen des Max-Planck Instituts für Geschichte, 113), Göttingen 1994. 25 Reinhard Baumann, Landsknechte. Ihre Geschichte und Kultur vom späten Mittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg, München 1994; Anstöße sind vor allem von der angelsächsischen Forschung ausgegangen: Michael Mallett, Mercenaries and their masters. Warfare in Renaissance Italy, London 1974; Geoffrey Parker, The army of Flanders and the Spanish Road 1557 – 1659. The logistics of Spanish victory and defeat in the Low Countries’ wars, Cambridge 1972; David Potter, The international mercenary market in the sixteenth century. Anglo-French competition in Germany, 1543 – 1550, in: The English Historical Review 111, 1996, S. 24 – 58. 26 Bernhard R. Kroener, Soldat oder Soldateska? Programmatischer Aufriß einer Sozialgeschichte militärischer Unterschichten in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Manfred Messerschmidt (Hg.), Militärgeschichte. Probleme – Thesen – Wege, Stuttgart 1982, S. 100 – 123; Matthias Rogg, Gottlose Kriegsleute? Zur bildlichen Darstellung von Söldnern des 16. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Lebenswirklichkeit, öffentlicher Meinung und konfessioneller Bildpropaganda, in: Michael Kaiser / Stefan Kroll (Hg.), Militär und Religiosität in der frühen Neuzeit, Münster 2004, S. 121 – 144; Brage bei der Wieden, Niederdeutsche Söldner vor dem Dreißigjährigen Krieg. Geistige und mentale Grenzen eines sozialen Raums, in: Bernhard R. Kroener / Ralf Pröve (Hg.), Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Paderborn 1996, S. 85 – 107; Jan Willem Huntebrinker, „Fromme Knechte“ und „Garteteufel“. Söldner als soziale Gruppe im 16. und 17. Jahrhundert (Konflikt und Kultur. Historische Perspektiven, 22), Konstanz 2010.

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in denen Eigenlogiken von kollektiver Gewalt bei Söldnern besonders prominent hervortreten.27 Einem übergeordneten Interesse verdankt sich schließlich auch die Auswahl der Gewaltschauplätze, in diesem Fall der Territorien zwischen Rhein und Maas um 1600, denn auch hier können Ansätze der neueren sozialwissenschaftlichen und anthropologischen Gewaltforschung, die ökonomische Kontexte und Raumbezüge miteinander verknüpfen, für historische Kontexte erprobt werden. Es handelt sich um das von Georg Elwert entwickelte Konzept der „Gewaltmärkte“.28 Mit dem Begriff des Marktes unterstreicht Elwert die ökonomische Rationalität der Akteure, deren zweckrationale Gewaltanwendung zum Güter-, aber auch Macht- und Prestigeerwerb dient. Gewaltmärkte sind hochprofitable und bisweilen für mehrere Jahrzehnte stabile Sozialsysteme, welche nur durch Monopolisierung der Gewalt, durch Erschöpfung der inneren Ressourcen oder durch das Ende des Zustroms der äußeren Ressourcen kollabieren. Die Kosten der Gewalt halten die Zahl der Opfer in Schranken, doch wenn die Gewalt in den Dienst nicht-ökonomischer Ziele – etwa religiöser Art – gestellt wird, erhöht sich die Zahl der Opfer drastisch. Deren Wahl ist im Übrigen ein komplexes Phänomen, da die Gewalthaber auch Handelspartner und Unterstützer brauchen. Die Entscheidung darüber kann allerdings jederzeit willkürlich werden. Eine Grundannahme des Konzeptes, das ursprünglich vor allem für Bürgerkriege und nachkoloniale Konflikte in Afrika entwickelt worden ist, scheint auch auf konkrete Konstellationen um 1600 übertragbar. Gewaltmärkte etablieren sich in gewaltoffenen Räumen aufgrund eines noch nicht existierenden oder geschwächten Gewaltmonopols. Eine weitere Setzung dieses Konzeptes, wonach in solchen gewaltoffenen Regionen und deren Gewaltmärkten keinerlei feste Regeln den Gebrauch von Gewalt organisieren, kann jedoch für die Verhältnisse in der Frühen Neuzeit nicht ohne weiteres übernommen werden, sondern bedarf der Überprüfung von Taten und Motiven der jeweiligen Akteure. Wenn eine Region des Reiches um 1600 als „gewaltoffener Raum“ im Sinne Elwerts charakterisiert werden kann, dann ist dies der Niederrhein – die Region zwischen Rhein und Maas nördlich von Bonn und Aachen. Hier entwickelte sich der Krieg in besonderem Maße zu einem permanenten Phänomen.29 Nachdem 27 Für einen vergleichbaren methodischen Ansatz historischer Gewaltforschung – dem Ausgang von definierten Gewaltsituationen – plädiert Jörg Baberowski, Gewalt verstehen, in: ders. (Hg.), Gewalt. Räume und Kulturen, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 5, 2008, http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041Baberowski-1 – 2008 [3. 2. 2012]. 28 Georg Elwert, Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt. Sonderheft der Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln 1997, S. 86 – 101. 29 Dies zeigt schon ein Blick in die jülich-bergischen Landtagsakten der entsprechenden Jahre von Georg von Below, Landtagsakten von Jülich-Berg, Bd. 2: 1563 – 1589, Düsseldorf 1907.

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die Region vom Beginn des niederländischen Aufstandes zunächst nur peripher betroffen war, wurde sie mit dem Truchsessenkrieg ab 1583 zum Nebenkriegsschauplatz, auf dem niederländische Interventionen und spanische Feldzüge (etwa 1598, 1604, 1612 und 1621) einander abwechselten. Regionale Konflikte wie der Truchsessenkrieg oder die Auseinandersetzungen um die klevische Erbfolge ab 1609 wurden im unmittelbaren Einzugsgebiet des niederländischspanischen Konfliktes zwangsläufig zu Stellvertreterkriegen. Der konfessionspolitische Antagonismus wirkte jedoch auch innerhalb der angrenzenden Territorien und Reichsstädte destruktiv, so dass die kriegerischen Konflikte von schweren politischen Krisen der Territorien dieses Raumes begleitet wurden. Zu nennen sind vor allem der Zerfall des bedeutenden Territorialkomplexes der klevischen Herzöge und des Herzogtums Geldern sowie schwere innere Auseinandersetzungen in den Reichsstädten Aachen und Köln oder Existenzkrisen der geistlichen Fürstentümer Kurköln und Lüttich. Der zeitweilige Zusammenbruch territorialer Ordnung erinnert an failing states, zumal auch der Niederrheinisch-Westfälische Reichskreis es nicht vermochte, als territorienübergreifende Organisationsstruktur die Rolle eines Ordnungsfaktors zu spielen.30 Für die Manifestationen von Kriegsgewalt gab es dabei keine eindeutigen Eine zusammenhängende, aktuelle Darstellung der Geschichte der niederrheinischen Territorien oder etwa der dort stattfindenden Kriegshandlungen bleibt ein Desiderat. Einen Überblick über die politische Entwicklung bietet Wilhelm Janssen, Kleine rheinische Geschichte (Veröffentlichung des Instituts für Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande der Universität Bonn), Düsseldorf 1997, S. 179 – 195. Zu den militärischen Entwicklungen vgl. Arndt, Das Heilige Römische Reich, S. 100 – 138; Jörg Engelbrecht, Der Dreißigjährige Krieg und der Niederrhein. Überblick und Einordnung, in: Stefan Ehrenpreis (Hg.), Der Dreißigjährige Krieg im Herzogtum Berg und in seinen Nachbarregionen (Bergische Forschungen), Neustadt/Aisch 2002, S. 10 – 26; ders., Ein hortus bellicus. Das nördliche Rheinland als kriegerisches und militärisches Durchgangsland in der Neuzeit, in: Jörg Engelbrecht (Hg.), Krieg und Frieden in Düsseldorf. Sichtbare Zeichen der Vergangenheit (Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Düsseldorf, 10), Düsseldorf 2004, S. 15 – 35. Zur Alltagsgeschichte des Krieges besonders aufschlussreich die zeitgenössischen Quellen bei Klaus Bambauer / Hermann Kleinholz (Hg.), Geusen und Spanier am Niederrhein. Die Ereignisse der Jahre 1586 – 1632 nach den zeitgenössischen Chroniken der Weseler Bürger Arnold von Anrath und Heinrich von Weseken, Wesel 1992; Michael Kaiser, Überleben im Krieg – Leben mit dem Krieg. Zur Alltagsgeschichte des Dreißigjährigen Krieges in den niederrheinischen Territorien, in: Stefan Ehrenpreis (Hg.), Der Dreißigjährige Krieg im Herzogtum Berg und in seinen Nachbarregionen (Bergische Forschungen), Neustadt/Aisch 2002, S. 181 – 233 (geht auch auf die kriegerische Vorgeschichte ein). 30 Arndt, Das Heilige Römische Reich, S. 97 – 141; Andreas Schneider, Der NiederrheinischWestfälische Kreis im 16. Jahrhundert. Geschichte, Struktur und Funktion eines Verfassungsorganes des alten Reiches, Düsseldorf 1985; Heribert Smolinsky, Jülich-Kleve-Berg, in: Anton Schindling / Walter Ziegler (Hg.), Die Territorien des Reiches im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500 – 1650, Bd. 3: Der Nordwesten, Münster 1991, S. 86 – 108.

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Frontlinien, weil die kriegführenden Parteien sich jeweils in den festen Orten der betroffenen Territorien festsetzten. Zum Teil wechselten dabei strategisch besonders wichtige Orte wie das am Rhein gelegene kurkölnische Rheinberg zwischen 1580 und 1606 sechsmal oder die Rheinfestung Schenkenschanz immerhin noch viermal den Besitzer. Ziel der Söldnerkontingente war es, von diesen Stützpunkten das Umland zu kontrollieren. Konkret hieß dies, die dortige Bevölkerung zur eigenen Ressourcenmobilisierung möglichst in Form von Geldkontributionen heranzuziehen.31 Was sich aus der Vogelperspektive für mehrere Jahrzehnte als Flickenteppich spanischer und niederländischer Garnisonen ausnimmt, gestaltete sich in der lokalen Perspektive als „Kleiner Krieg“ von weitgehend autonom handelnden Söldnertruppen. Hier fanden sich dann auch lokale adelige Söldnerführer, die das fehlende oder verlorengegangene Gewaltmonopol der infiltrierten Territorien substituierten und dabei Züge von warlords annahmen: Furchterregende, aber eben deshalb auch populäre Gestalten wie der Schenk von Nideggen, der sich mit Schenkenschanz eine eigene Sperrfestung im Rhein einrichtete, oder Graf Wirich von Daun, der als bekennender Calvinist und Parteigänger der Niederländer den Spaniern solch ein Dorn im Auge war, dass sie ihn bei seiner Gefangennahme 1599 regelwidrig über die Klinge springen ließen,32 oder Graf Adolf von Neuenahr als permanenter Unruhestifter. Diese Adeligen profitierten als Anbieter von Gewalt von diesen permanenten kriegerischen Konflikten und waren für die Söldner vor allem dann gesuchte Arbeitgeber, wenn sie aus dem Krieg ein erfolgreiches Geschäft machten. Dabei spielte es für ihre Attraktivität als Kriegsunternehmer gar keine so große Rolle, wie erfolgreich sie Schlachten schlugen. Der bedeutendste dieser Kriegsunternehmer, Ernst von Mansfeld, ist geradezu berüchtigt dafür, dass er alle seine bedeutenderen Schlachten verloren hat. Dennoch hat niemand vor Wallenstein das System der geregelten Ressourcenextraktion von ganzen Territorien so effektiv gehandhabt wie Mansfeld, und für die Söldner war er gerade deshalb ein attraktiver Arbeitgeber.33 31 Norbert Winnige, Von der Kontribution zur Akzise. Militärfinanzierung als Movens staatlicher Steuerpolitik, in: Bernhard R. Kroener / Ralf Pröve (Hg.), Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Paderborn 1996, S. 59 – 83; Horst Carl, Art. „Kontribution“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, Stuttgart 2007, Sp. 1161 – 1164. Zur Kontributionserhebung als quellennahes, detailliertes Exemplum vgl. Jürgen Kloosterhuis, „…an villen Orteren von allerseidtz Kriegsfolck verdorben …“. Die Folgen des SpanischNiederländischen Krieges (1566 – 1609) für die Grafschaft Mark, in: Der Märker 32, 1983, S. 125 – 132, 162 – 173 sowie 200 – 211. 32 Vgl. dazu Rolf-Achim Mostert, Wirich von Daun Graf zu Falkenstein (1542 – 1598). Ein Reichsgraf und bergischer Landstand im Spannungsgefüge von Machtpolitik und Konfession, Düsseldorf 1997. 33 Auch zu ihm liegt aktuell eine neue Biographie vor: Walter Krüssmann, Ernst von Mansfeld (1580 – 1626). Grafensohn, Söldnerführer, Kriegsunternehmer gegen Habsburg im Dreißigjährigen Krieg (Historische Forschungen, 94), Berlin 2010.

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Ob die warlords und ihre Söldner auf spanischer oder niederländischer Seite kämpften, änderte nichts an der Tatsache, dass die Söldnerverbände aus dem Lande leben mussten, und dies taten sie in Gestalt von Kontributionen als legitimer, weil geregelter Form des Beutemachens.34 Der in den niederrheinischen Gebieten von den Söldnergruppen zu hoher Perfektion gebrachte Kontributionskrieg entsprach dabei dem, was Trutz von Trotha in seiner Analyse kriegerischer Gewalt unter dem Begriff des raids gefasst hat: eine Kombination von materieller Schädigung und „absoluter“, weil überraschender und unvorhergesehener Gewalt – auch dies ist charakteristisch für die sogenannten Gewaltmärkte.35 Wenngleich es dabei auch weiterhin zu gewaltsamen Konfrontationen mit der Zivilbevölkerung kommen konnte, zeigt doch der diachrone Vergleich, dass dies immer mehr zur Ausnahme wurde.36 Dies lag zum einen an der Logik der Profitmaximierung, die für die Söldner gleich welcher Couleur handlungsleitend war. In dieser Logik war die Drohung mit Gewalt rentabler als deren tatsächliche Ausübung, da letztere eines erheblich höheren Aufwands und Risikos bedurfte. Statt wirklich mit Feuer und Schwert das Umland zu bedrohen und „Brandschatzungen“37 zu betreiben, oder statt durch kaum kaschierten Raub Beutegut zu erlangen, verlegten sich die Garnisonen immer häufiger auf die bequemere schriftliche Abforderung von Kontributionsleistungen; dies rückte die ganze Angelegenheit zunehmend in die Nähe ordentlicher Steuern. Gewalt war hier nur noch als Erinnerung an vormals geschehene Aktionen präsent, wobei die Erinnerung an Gewaltexzesse unter Kosten-Nutzen-Aspekten besonders nützlich war. Daneben verlegten sich die Söldner beider Seiten auf das sogenannte „Fangen und Spannen“ der Untertanen als unter Kosten-Nutzen-Relationen 34 Fritz Redlich, De praeda militari. Looting and booty 1500 – 1815, Wiesbaden 1956; Horst Carl / Hans-Jürgen Bömelburg, Einleitung. Beutepraktiken – Historische und systematische Dimensionen des Themas „Beute“, in: dies. (Hg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis in die Neuzeit (Krieg in der Geschichte, 72), Paderborn 2011, S. 11 – 31; Xenakis, Plündern, teilen, S. 149 – 166. 35 Trutz von Trotha, Forms of martial power. Total wars, wars of pacification, and raid. Some observations on the typology of violence, in: Georg Elwert u. a. (Hg.), Dynamics of violence. Processes of escalation and de-escalation in violent group conflicts, Berlin 1999, S. 35 – 60. 36 Fernando Gonz‚lez de Leýn, Soldados platicos and Caballeros. The social dimensions of ethics in the early modern Spanish army, in: David J. B. Trim (Hg.), The chivalric ethos and the development of military professionalism, Leiden 2003, S. 235 – 268, insbes. S. 259 – 265; Randall Lesaffer, Siege warfare and the early modern laws of war, in: Ius brabanticum, ius commune, ius gentium. Opstellen aangeboden aan prof. mr. J.P.A. Coopmans ter gelegenheid van zijn tachtigste verjaardag, Nijmegen 2007, S. 87 – 109. 37 Schon bei Brandschatzungen ging es nicht darum – wie es ein populärer Sprachgebrauch suggeriert –, Behausungen abzubrennen, sondern damit zu drohen. Ziel war die „Schatzung“, also eine Abgeltung für nicht vollzogenen Brand, vgl. Horst Carl, Art. „Brandschatzung“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Stuttgart 2005, Sp. 385 – 388.

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weitere einträgliche Form der Ausbeutung der Zivilbevölkerung. Dabei machten Streiftrupps gezielt Jagd auf Angehörige der ländlichen Eliten, bevorzugt reiche Bauern, deren es auch unter Kriegsbedingungen noch reichlich gab, oder städtische Ratsbürger, um sie auf den jeweiligen Stützpunkt zu bringen und dann Lösegeld zu verlangen. Die Praxis der Geiselnahme und Ranzionierung, vor 1600 vereinzelt geübt, nahm schließlich einen massenhaften Charakter an: Die Chroniken aus der Hand Weseler oder Kölner Bürger sind nach 1600 voll von Berichten über Entführungen und Geiselnahmen durch Söldner, und eine Eingabe der jülich-bergischen Stände an den Kaiser 1627 listete weit über 50 Entführungen nur für dieses Jahr auf, darunter zwei Personen aus der Ritterschaft, ein landesherrlicher Beamter sowie alleine aus dem Amt Porz über 40 Personen.38 Wenn umgekehrt zur gleichen Zeit die direkten Militäraktionen zwischen niederländischen und spanischen Söldnern trotz Kriegszustandes nahezu zum Erliegen kamen, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Söldner beider Seiten ihren eigenen Krieg führten – zu Lasten der Zivilbevölkerung, die sie im doppelten Wortsinn aushalten musste. Diese Form der Übergriffe sollte freilich nicht den Blick für die vielfältigen Arrangements verstellen, die zwangsläufig die Interaktion von stationären Söldnereinheiten und lokaler Bevölkerung sowie den örtlichen Amtleuten regelten. Geraubtes Kriegsgut wurde von den Söldnern in ihrem Garnisonsort oder in dessen Nachbarschaft ganz offen „mit dem Trommelschlag“ zum Verkauf angeboten, was der Zivilbevölkerung entweder den Rückkauf des Raubgutes ermöglichte oder sie als Käufer und oft genug Hehler von Beutegut am Profit partizipieren ließ.39 Das beiderseitige Kerngeschäft aber war das (Zwangs-)Angebot respektive der Kauf von Schutz. Dies war eine im Grunde paradoxe Verflechtung, wenngleich symptomatisch für Schutzgelderpressung, sorgten doch diejenigen, die als Gefahr für die Zivilbevölkerung auftraten, gerade damit dafür, dass Schutz ein besonders nachgefragtes Gut war. Die extreme Unsicherheit, aber auch die undurchsichtigen Abhängigkeiten und Querverbindungen zwischen Söldnern, lokalen Magnaten und Bauern werden in einer aufschlussreichen zeitgenössischen Quelle zur Sprache gebracht, dem Bericht über die Reise des polnischen Kronprinzen Władysław Wasa – des späteren Władysław IV. –, die ihn von Warschau über Brüssel nach Paris führte.40 Auf seinem „Grand Tour“ an die wichtigsten europäischen Höfe kam 38 Bambauer / Kleinholz, Geusen und Spanier, passim; Kaiser, Überleben im Krieg, S. 192 – 196; Hans-Wolfgang Bergerhausen, Köln in einem eisernen Zeitalter. 1610 – 1686 (Geschichte der Stadt Köln), Köln 2012, S. 19, 64 – 81. 39 Zu einem solchen Beutemarkt vgl. exemplarisch Michael Römling, Ein Heer ist ein großes gefräßiges Tier. Soldaten in spanischen und kaiserlichen Diensten und die Bevölkerung der vom Krieg betroffenen Gebiete in Italien zwischen 1509 und 1530, Göttingen 2002. 40 Die nachfolgende Beschreibung der Reise findet sich detailliert bei Bolko Schweinitz [Adam

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dieser hochgestellte Zeitgenosse Anfang 1625 auch an den Rhein. Gerade das Gebiet zwischen Köln und Lüttich erwies sich als besonders schwierig zu durchqueren, denn selbst im Vergleich zu Polen oder dem schon vom beginnenden Dreißigjährigen Krieg betroffenen Reich galt diese Region regelrecht als „kriegsverseucht“. Folglich musste in Köln mit einem halben Dutzend von Abgesandten der im Einzugsbereich der Reiseroute gelegenen Garnisonen und lokalen Gewalthaber über die Höhe des Schutzgeldes verhandelt werden. Als Mittelsmänner der jeweiligen Garnisonen und Söldnereinheiten, die nominell sowohl auf spanischer wie niederländischer Seite agierten, erschienen in Köln freilich nicht Militärs, sondern Zivilisten – meist lokale Amtmänner mit Verhandlungsvollmacht. Bei aller Ausbeutung der Zivilbevölkerung durch die Söldnereinheiten hatte sich folglich längst ein Zustand wechselseitigen Parasitismus ausgebreitet: Die Söldner lebten auf Kosten der Zivilbevölkerung, doch gab es auch auf deren Seite zahlreiche Akteure, die an den Schutzgeldern der Söldner partizipierten. Wechselseitiger Nutzen bildete folglich den Kern der lokalen Arrangements zwischen Söldnern und Zivilbevölkerung im Kleinen Krieg. Trotz dieser undurchsichtigen Lage kam der Kronprinz letztlich ohne größere Probleme nach Lüttich, und die adeligen Söldnerführer in ihren Stützpunkten erwiesen sich als chevalereske Gastgeber für den hohen Besuch.

3.

Meutereien

„Gemeutert wurde im 16. Jahrhundert viel, desertiert wenig.“41 Die Meuterei war die prototypische Situation, in der frühneuzeitliche Söldner als Gewaltgemeinschaft gleichsam autonom auftraten und in der Eigenlogiken der von ihnen als Kollektiv praktizierten Gewalt in besonderem Maße freigelegt wurden.42 Das Bild, das sich mit solchen Meutereien verbindet, rührt vor allem von spektakulären Exempeln: So fielen zwei solch bedeutende Städte wie Rom als künstlerisches und geistliches Zentrum der Christenheit und Antwerpen als Weltwirtschaftszentrum jeweils 1527 und 1576 dem entfesselten Treiben meuternder Söldnerarmeen zum Opfer. Der Sacco di Roma und die „spanische Furie“ zu Antwerpen markierten jeweils tiefe Zäsuren nicht nur der jeweiligen Przybos] (Hg.), Die Reise des Kronprinzen Władysław Wasa in die Länder Westeuropas in den Jahren 1624/1625, Leipzig/München 1988, S. 94 – 97. 41 Burschel, Söldner, S. 218. 42 Grundlegend hierzu Geoffrey Parker, Mutiny and discontent in the Spanish army of Flanders, 1572 – 1607, in: Past and Present 58, 1973, S. 38 – 52; ebenso ders., Army of Flanders; David J. B. Trim, Ideology, greed and social discontent in early modern Europe. Mercenaries and mutinies in the rebellious Netherlands 1568 – 1609, in: Jane Hathaway (Hg.), Rebellion, repression, reinvention. Mutiny in comparative perspective, Westport 2001, S. 47 – 61.

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Stadtgeschichte, sondern auch in den europäischen Auseinandersetzungen, in deren Rahmen sie sich abspielten.43 Aber auch lokale Ereignisse wie das Massaker an den Bauern des Delbrücker Landes unweit Paderborns, das meuternde spanische Söldner, die es bis nach Westfalen verschlagen hatte, am 14. März 1604 verübten, schlug sich nicht minder als traumatisches Ereignis in der lokalen Erinnerungskultur nieder.44 Dies ist jedoch allenfalls die Spitze des Eisberges, denn von Kaiser Maximilians Landsknechtsheeren bis zu den schwedischen Armeen des Dreißigjährigen Krieges bildeten Meutereien immer wieder entscheidende Einschnitte oder gar Wendepunkte in den jeweiligen militärischen Auseinandersetzungen. Aus der Sicht ihrer Befehlshaber und ihrer politischen Auftraggeber war dies freilich höchst kontraproduktiv, doch noch bei den Friedensverhandlungen zu Osnabrück bildete die „Satisfaktion“ der schwedischen Söldner und Militärangehörigen – gemeint war die Auszahlung rückständiger Soldansprüche – eine der höchsten Hürden für den Abschluss des Dreißigjährigen Krieges. Dass dieser Punkt überhaupt auf die Agenda der Westfälischen Friedensverhandlungen kam, hatten Söldner und Militärs durch wiederholte Meutereien seit 1633 durchgesetzt.45 Wenn Meutereien also ständige Begleiter der mit Hilfe von Söldnerarmeen geführten Kriege des 16. und 17. Jahrhunderts waren, so traten sie doch im spanisch-niederländischen Krieg gehäuft und besonders prominent auf. Auch wenn sie sich nicht nur auf Seiten der spanischen Flandernarmee ereigneten, sondern auch bei ihren niederländischen Widersachern auftraten, weil auch deren Armee noch hohe Anteile von Söldnerverbänden aufwies, so war doch vor allem die Flandernarmee berüchtigt für ihre Meutereien. In den Jahren zwischen 1572 bis 1607, in denen diese Armee ununterbrochen im Kampf stand, lassen sich insgesamt 46 größere Meutereien nachweisen, mit einer eklatanten Häufung in den Jahren zwischen 1589 und 1607; fünf Meutereien zwischen 1572 und 1577 standen 37 in dieser späteren Phase des Krieges gegenüber.46 Auslöser all dieser Meutereien war ein evidentes Versagen der Krone Spaniens, da die Meutereien

43 Zum Sacco die Roma vgl. Rainer Brüning, „Kriegsbilder“. Wie Flugschriften über die Schlacht bei Pavia (1525), den Sacco di Roma (1527) und die Belagerung Wiens (1529) berichten, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 24, 1989, S. 13 – 43; Römling, Ein Heer ist ein großes gefräßiges Tier, S. 63 – 86. Zur Plünderung von Antwerpen vgl. M. P. Gennard, La furie espagnole, documents pour Servir aÈ l’histoire du sac d’Anvers en 1576 (Annales de l’acad¦mie d’arch¦ologie de Belgique, XXXII), 3e s¦rie tome II, Antwerpen 1876. 44 Manfred Köllner, Das Massaker an Delbrücker Bauern durch spanische Meuterer im März 1604, in: Die Warte 121, 2004, S. 15 – 17. 45 Theodor Lorentzen, Die schwedische Armee im Dreissigjährigen Kriege und ihre Abdankung, Leipzig 1894, S. 91 – 130. 46 Die Zahlen nach Parker, Mutiny and discontent, S. 39.

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ausnahmslos aus berechtigten Forderungen der Söldner nach Bezahlung ihres rückständigen Soldes oder eines vereinbarten Sturmsoldes resultierten. Trotzdem wäre die Schlussfolgerung falsch, mit den Meutereien sei jeweils das völlige Chaos ausgebrochen und seien die Söldnerverbände außer Kontrolle – außer Rand und Band – geraten. Der Ablauf der Meutereien folgte einem festen Muster und dies unabhängig von der Herkunft der involvierten Einheiten und damit regionalen oder nationalen Traditionen.47 Fast nie ereigneten sie sich vor den Sommerkampagnen, sondern meist erst auf deren Höhepunkt oder an deren Ende. Die Söldner hatten zuvor ihre Arbeit mehr oder weniger erfolgreich erledigt, sodass sie der Vorwurf des Vertragsbruches gegenüber ihrem Dienstherren nur bedingt traf. Sie fühlten sich subjektiv im Recht, was Versuche der Kriminalisierung ihres Handelns durch die Obrigkeiten zumindest erschwerte. Im Fall der Meuterei der Bonner Garnison 1584 legte die Argumentation der Heidelberger Flugschrift denn auch besonderen Wert auf die Feststellung, dass die Söldner keinen Grund zu ihrem Vorgehen gehabt hätten, da weder die Versorgung unterbrochen noch der Sold rückständig gewesen sei. Erst dies begründet in der Folge den Vorwurf der Treulosigkeit und des Verrats.48 Am Anfang standen Konspirationen – Verschwörungen bzw. Schwureinungen eines überschaubaren Kreises von Akteuren, der sich zumeist aus erfahrenen Veteranen zusammensetzte. Häufig mitten in der Nacht wurde dann zu einem festgesetzten Zeitpunkt mit der Trommel Alarm geschlagen und den zusammenlaufenden Kameraden wegen unhaltbarer Zustände die kollektive Arbeitsverweigerung bzw. kollektiver Ungehorsam vorgeschlagen. Dies war der eigentlich kritische Moment einer Meuterei: Wenn die Rädelsführer die Reaktion ihrer Kameraden falsch eingeschätzt hatten, diese sich verweigerten und sie somit isoliert waren, dann bestand das Risiko, dass sie ihre Aktion mit dem Leben bezahlen mussten, denn natürlich konnte der Dienstherr dies als Bruch des Kontrakts – des Artikelbriefs – ahnden. Dafür aber war ausdrücklich die Todesstrafe vorgesehen. Doch nur in dieser Situation, in der es um die Solidarisierung der Gewaltgemeinschaft ging, stand diese Sanktionsmöglichkeit als reale Drohung im Raum. War der Entschluss der Gemeinschaft zur Meuterei gefallen, dann bewies sie ihre ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstorganisation: Wer nicht teilnehmen wollte, hatte das Lager zu verlassen; dies galt auch für die Offiziere, denn die meuternden Einheiten schufen sich eine eigene Organisation: Stets wurden eigene Anführer und Offiziere gewählt, wofür im Kreis der erfahrenen Veteranen und Unteroffiziere genügend Potenzial und Erfahrung vorhanden war. Dem gewählten Anführer wurde ein regelrechter Stab zugeordnet, mit Funktions47 Zum Folgenden ebd., S. 39 – 42. 48 „… die doch ohn großen Mangel drinn …“ (wie Anm. 1).

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differenzierung der Räte oder Kommissare. Deren Kompetenzen auch gegenüber der Gemeinde der Söldner spiegelten die üblichen militärischen Befehlsverhältnisse wider. Jeder Söldner schwor diesen Anführern mit einem neuen Eid unbedingten Gehorsam, auf Insubordination stand auch hier die Todesstrafe. Dies alles stellte keine verkehrte Welt der Unordnung dar, sondern kopierte militärische Ordnung. Zu dieser basalen Selbstorganisation gehörte schließlich auch die symbolische Distinktion in Gestalt eigener Zeichen. Die Fahne der Einheit war dabei, wie im Kriegsgeschehen durchweg, zentrales Symbol militärischer Vergemeinschaftung mit hohem Verpflichtungsgehalt, denn auf die Fahne wurde geschworen. Welche Bedeutung gerade dem Besitz der Fahne des Regiments zugemessen wurde, lässt sich aus dem Bericht des Regimentsherren Caspar von Widmarckter, eines Adeligen in hessischen Diensten,49 über den Hergang der großen Meuterei der Söldner zu Rheinberg 1599 rekonstruieren: „Den 6. September. 99 haben sich des Obristen Lenty¨ […] Soldaten mitt fliegenden Fendlein meuterischer Weise aus dem Felde zu ziehen understanden, welche aber also gesehen, daß mein Fendlein mihr ehrlich dem Quartir zu gefolget, sich geschämet und wieder umbgekehret. Wenigk Tage hernach haben obgemelte Soldaten ihren schelmischen Abzugk, wie auch ein Theil der Reutterey vollents ins Werk gerichtet, und also ich gesehen, daß meine Knecht gleichfals einen Ring geschloßen und den andern folgen wollen, bin ich neben meinem Fendrich, Hans Friedrich von Stockhausen, zu ihnen in den Ring geritten und nachdem ich sie von ihrem bösen Furnehmen nicht abhalten können, das Fehnlein nicht mitt kleiner Gefahr, mitt Hülf gemeltes meines Fendrichs, den ich zuvor darzu underrichtet, ihnen mitt Gewalt aus dem Ringe und darvon gefuhret, aber auff ihr embsieges Bitten und daß sie auffs Neuw ahn Eides stadt zusagten, mir ins Quartir und hinfuro allenthalben zufolgen, ihnen gutwilligk […] wieder gegeben, welchem [dem Versprechen] zu wieder, alsbald sie es [die Fahne] in ihren Feusten wieder gehabt, ihrer meineidigen Gesellschafft nachgeeilet. Die Befehlhabre seind aber alle bey mihr verbliben wie auch eine Ahnzal Soldaten […].“50

Neben der Auseinandersetzung um das symbolische Kapital des im Wortsinne einheitsstiftenden militärischen Symbols war der nächste Schritt im Ablauf einer Meuterei, sich gegen mögliche Angriffe des Dienstherren zu wappnen, um die Meuterer gewaltsam zur Räson zu bringen. Auch hier wurde routinemäßig und routiniert verfahren: Angesichts der militärischen Bedeutung fester Garnisonsorte gerade auf dem niederländischen und niederrheinischen Kriegsschauplatz suchten sich auch die Meuterer möglichst umgehend die Kontrolle über solch einen festen Ort zu sichern, egal ob die Meuterei selbst innerhalb 49 Holger Thomas Gräf (Hg.), Söldnerleben am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges. Lebenslauf und Kriegstagebuch 1617 des hessischen Obristen Caspar von Widmarckter, Marburg 2000. 50 Ebd., S. 79.

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eines solchen Garnisonsortes stattfand, fremde Garnisonen zum Anschluss bewogen wurden oder die Meuterer einen festen Stützpunkt eroberten. Von diesem trieben die Meuterer dann in Kontributionsraids aus dem umliegenden Land Geldkontributionen und Nahrung ein – nicht anders, als dies reguläre Garnisonen im Kriegszustand praktizierten. Hatte man sich erst einmal entsprechend etabliert, dann führten die Meuterer mit dem Dienstherren regelrechte Verhandlungen über die Begleichung ihrer Forderungen. Geoffrey Parker hat herausgearbeitet, dass sie sich dabei keineswegs in einer schwachen Position befanden, denn diese Verhandlungen waren aus Sicht der Söldner fast durchweg von Erfolg gekrönt.51 War die Regierung zahlungsfähig gewesen – die sogenannten Staatsbankrotte Spaniens 1575, 1596 und 1629 lösten zuverlässig umfangreiche Meutereien aus –, dann erkaufte sie sich das Ende der Meutereien fast durchweg durch Zahlung der rückständigen Summen. Da es Teil solcher Vereinbarungen war, den Söldnern Amnestie für ihren Ungehorsam zuzusichern und sogar die Zeit der Meuterei wie reguläre Dienstzeiten zu verrechnen, wurde ihnen auch entsprechender Verdienstausfall zugestanden. Daraus folgten dann Korrespondenzen wegen entsprechender Nachzahlungsansprüche mit der spanischen Finanzbehörde (Contadura), aufgrund derer wir sogar über einzelne Söldner in spanischen Quellen Informationen finden, die wie schon im Fall der Flugschriften aus der anonymen Masse hervortreten.

4.

Spanische und andere Furien

Nun entspricht dieses Bild der Meuterei doch nur in geringem Maße den gerade im kollektiven Gedächtnis der Zeitgenossen wie der Nachwelt überlieferten Schreckensbildern der „Furie“, der exzessiven Gewalt gerade meuternder Söldner in eingenommen Städten oder auch gegen eine sich wehrende Landbevölkerung – mit allen erdenklichen Gräueltaten bis hin zu regelrechten Massakern, von Antwerpen bis zum westfälischen Delbrück 1604. Es sei deshalb auf zwei Kontexte verwiesen, in denen die Funktionalität der kollektiven Gewalt, ihre „Kalkulierbarkeit“, außer Kraft gesetzt wurde. Gerade vor dem Hintergrund der eingehegten Gewalt in den endemischen Meutereien lassen sich spezifische Bedingungen solch exzessiver Gewaltausübung besser bestimmen. Die im Sturm auf Antwerpen und der brutalen Plünderung gipfelnde spanische Furie 1576, die schätzungsweise 8.000 Menschen das Leben kostete, lässt sich so durchaus auf besondere situative Konstellationen – jenseits des Reichtums der Stadt – zurückführen. Die Brutalität der Söldner, die in den blutigen 51 Parker, Army of Flanders, S. 290 – 292; ders., Mutiny and discontent, S. 42.

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Exzessen der wochenlangen Plünderung Antwerpens 1576 zum Ausdruck kam, war Folge einer Brutalisierung des Krieges, wie sie der Herzog von Alba seit 1568 systematisch betrieben hatte.52 Weil die niederländischen Stände auf die Meuterei des gesamten spanischen Heeres ebenfalls mit Ausnahmemitteln reagierten, indem sie die Landbevölkerung bewaffnen ließen, blieb den meuternden Söldnern als letzter und im Übrigen verzweifelter Ausweg nur der überraschende Sturm auf Antwerpen.53 Der Verzweiflungsakt eines raids einer ganzen Armee gelang wider Erwarten, denn darin hatten die Söldner entsprechende Expertise. Der erfolgreiche Sturm auf die Großstadt setzte dann erst recht eine Eskalationsspirale der Gewalt über das übliche Maß hinaus in Gang. Die in jeder Hinsicht exzessive Plünderung war jedoch nicht das einzige Ereignis, das von den Zeitgenossen mit dem Begriff der „Furie“ bedacht wurde. Als 1580 englische Söldner im Sold der Generalstaaten die alte Hauptstadt Mechelen eroberten und plünderten, ging dies als „English Fury“ in die einschlägige Geschichte ein, und entsprechend firmierte der Angriff des auf niederländischer Seite fechtenden Duc d’Anjou auf Antwerpen 1583, der von den Bürgern innerhalb der Stadtmauern zurückgeschlagen wurde, als „Franse Furie“. Die Plünderung von Aalst durch deutsche Landsknechte 1584 wiederum wurde als „Duitse Furie“ populär.54 Allein schon der Verweis auf die ethnischnationale „Fremdheit“ der Gewaltakteure verstärkte die Wahrnehmung oder Zuschreibung als „Fremdkörper“ in einer geordneten ständischen Gesellschaft und bestritt den professionellen Gewaltakteuren damit einen angemessenen sozialen Ort in der Ständegesellschaft, den diese durchaus anstrebten.55 In den von exzessiver Gewalt geprägten Übergriffen solcher Furien oder in Massakern an einer sich wehrenden bäuerlichen Bevölkerung wie in Delbrück 1604 äußerte sich kollektive Gewalt auch als soziale Demonstration eines prekären Anspruchs auf ständische Ehre. Der Gewaltüberschuss war in dieser Situation zwar nicht mehr kalkuliert, aber auch nicht dysfunktional: Der exklusive Anspruch auf ein ständisches Gewaltmonopol wurde gegenüber den in dieser Situation zur Wehrlosigkeit verurteilten Städtern und Bauern in einer Weise exerziert, wie dies Gewaltakteure gegenüber ihresgleichen in der Regel nicht praktizierten. Es erscheint jedoch durchaus fraglich, ob die Einhegung exzessiver Gewaltausübung durch frühneuzeitliche Söldner mit dem klassischen Erklärungsmuster erfolgreicher obrigkeitlicher Disziplinierung und Durchsetzung eines staatlichen Gewaltmonopols zureichend erklärt wird. Die klassischen Formulierungen dieser Disziplinierungsthese rühren aus den Forschungen Werner 52 53 54 55

Gonz‚lez de Leûn, Soldados platicos, S. 241 – 249. Parker, Mutiny and discontent, S. 48 f. Trim, Ideology, greed and social discontent, S. 49. Burschel, Söldner, S. 150 – 157.

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Hahlwegs zur sogenannten Oranischen Heeresreform56 zu Beginn des 17. Jahrhunderts und wurden vor allem durch den Marburger Frühneuzeitler Gerhard Oestreich zu einer grundlegenden These frühneuzeitlicher Staatsbildung und Gesellschaftsformung ausgeweitet. Als Reaktion auf die überbordende Gewalt habe demnach die Obrigkeit mit einem umfassenden Disziplinierungsprogramm geantwortet, das bei den Soldaten ansetzte,57 dann aber die gesamte Gesellschaft in den Fokus rückte. Geht man aber von den auf den ersten Blick so destruktiven Meutereien der 1570er bis 1590er Jahre aus, dann waren die Söldner nicht Objekte, sondern selbst Akteure in diesem Prozess. Die Meuterer der Flandernarmee stellten jedenfalls noch weitere explizite Forderungen, die über die Bezahlung rückständigen Soldes hinausgingen. Sie forderten 1) einen geregelten Nahrungspreis, der sie davor schützen sollte, zum Spekulationsobjekt von Preismanipulationen der Marketender und der Landbevölkerung zu werden, 2) keine Bestrafung eines Soldaten dürfe ohne Prozess vorgehen, was sich gegen willkürliche Ausnutzung einer Disziplinarhoheit durch die vorgesetzten Offiziere richtete, und 3) eine geregelte seelsorgerische und medizinische Versorgung der Soldaten.58 Alle diese Forderungen wurden nicht unmittelbar, aber innerhalb der nächsten anderthalb Jahrzehnte realisiert, womit gerade die Flandernarmee in administrativer Hinsicht zur modernsten Armee ihrer Zeit wurde. In den 1580er Jahren wurde eine eigenständige Militärgerichtsbarkeit mit einem Generalauditor geschaffen, zugleich durch Zentralisierung der Brotversorgung der Truppen im Vorgriff auf das Magazinsystem des 17. Jahrhunderts die regelmäßige Versorgung mit diesem Grundnahrungsmittel gewährleistet. Neben einer Hierarchie von Feldkaplänen unter einem eigenen Generalvikar wurde schließlich auch ein erstes Militärspital eingerichtet und jedem Regiment ein Feldscher von der Regierung zugeordnet. All dies machte – zumindest auf dem Papier – die buntgemischte Söldnerarmee des spanischen Königs zum Vorbild für alle späteren kontinentalen Armeen und deren staatliche Administration.59 Mit ihren Forderungen reagierten die Söldner als erste auf die sich wandelnden Rahmenbedingungen des Krieges, der vom saisonalen Geschäft in eine 56 Werner Hahlweg, Die Heeresreform der Oranier und die Antike. Studien zur Geschichte des Kriegswesens der Niederlande, Deutschlands, Frankreichs, Englands, Italiens, Spaniens und der Schweiz vom Jahre 1589 bis zum Dreißigjährigen Kriege, ND Münster 1987 [Berlin 1941]. 57 Gerhard Oestreich, Soldatenbild, Heeresreform und Heeresgestaltung im Zeitalter des Absolutismus, in: ders., Schicksalsfragen der Gegenwart, Bd. 1, Tübingen 1957; ders., Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates. Zu seinem 350. Todestage (24. März 1606), in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 35 – 79; Winfried Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit“, in: Zeitschrift für Historische Forschung 14, 1987, S. 265 – 301. 58 Parker, Mutiny and discontent, S. 41 – 43. 59 Ders., Army of Flanders, passim.

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permanente Beschäftigung überging. Die Rahmenbedingungen des Übergangs zu den stehenden Heeren als Antwort auf die strukturellen Änderungen des Kriegsgeschehens haben die Gewaltexperten deshalb in hohem Maße mitbestimmt.

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Strukturen einer mobilen Gewaltgemeinschaft im östlichen Europa. Der polnisch-litauische Freireiterverband der „Lisowczycy“ von der Entstehung im Moskauer Reich bis zur gewaltsamen Auflösung durch den polnisch-litauischen Reichstag (1607 – 1626) Im Sommer 1620 legten die niederösterreichischen Landstände eine Allerunterthänigste Supplikation an den Kaiser vor. Darin wird „das Grausamb / Unmenschlich / und Barbarisch Tyrannisiren des Kayserlichen Kriegsvolcks / sonderlich der Cosaggen und Walonen“ beschrieben. In der Bittschrift heißt es, insbesondere die „unglückseligen Kosaken“ verübten „mit rauben / morden / plündern / brennen / niderhawen / und andern Barbarischen Grewelthaten“ den Niedergang des Landes; sie hätten nicht nur „Herren und Landleut geplündert“, sondern „ganze Flecken“ darunter auch Kammergüter, ausgeraubt und in Brand gesteckt, „Knaben und Weibspersonen / nach schrecklicher Schendung / Hinweg geführt“. Verantwortlich hierfür seien „sonderlich die Cosaggen / dergleichen unerhörte / schreckliche und abscheuliche Thaten zu verüben / kein entsetzen gehabt / noch einig schew getragen“.1 Ähnliche Bittschriften und Beschreibungen finden sich – nur aus dem deutschen Sprachraum – 1620 auch in Böhmen, 1622 in Baden und in der Pfalz und 1623 in Mähren. Kosaken in Niederösterreich und in der Pfalz? Hinter dieser Zuschreibung verbergen sich leichte polnisch-litauische Reitertruppen, die von kaiserlichen Gesandten 1620 in höchster Not gegen die böhmischen Aufständischen und 1622 und 1623 erneut zur „Pazifizierung“ ganzer Landstriche angeworben worden waren, die jedoch eine komplexe Entstehungsgeschichte und einen weiten Weg hinter sich hatten: Einzelne Freireiter und ihre Führer waren 1610/11 in Moskau gewesen, die Einheiten hatten noch 1618 bei der vergeblichen Belagerung der Stadt in Zentralrussland Lebensmittel requiriert und Kleinstädte und Dörfer ausgeplündert. Diese – zu klären wird noch sein, ob und wenn ja, warum – in besonderem 1 AllerUnderthänigste Supplication / Etlicher NiederOesterreichischen Land-Ständ an die Kayserliche Mayestät. Daraus das Grawsamb / Unmenschlich / vnd Barbarisch Tyrannisiren des Kayserlichen Kriegsvolcks / sonderlich des Cosaggen vnd Walonen wieder dieselbe Land / zu sehen ist, Universitätsbibliothek Augsburg, Sign. 02/IV.13.4.158angeb.1., S.I. 1620.

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Maße gewalttätigen Verbände wurden um 1620 zu einem erheblichen Problem für den polnisch-litauischen Staat. Sie stellten innerhalb des Reichsverbandes wie auch international eine erhebliche Gewaltgruppe dar, deren Reichweite und schrittweise Einhegung als Fallbeispiel im Zentrum des Beitrags stehen soll. Bemerkenswert ist der Verband vor allem wegen seiner unter den frühneuzeitlichen Verhältnissen außergewöhnlichen Mobilität, der ihn zwischen 1616 und 1622 für saisonale Kampagnen nach Zentralrussland, Oberungarn (die heutige Slowakei), Böhmen, die Pfalz, Hessen und nach Lothringen führte. In der europäisch vergleichenden Forschung wurden die Verbände, die zudem unter unterschiedlichen Namen in den Quellen auftauchen, bisher außerhalb der polnischsprachigen Forschung trotz ihres gesamteuropäischen Radius kaum berücksichtigt.2

1.

Polen-Litauen: Ort einer Staatsbürgergesellschaft oder Brutstätte von Gewaltgemeinschaften?

Betrachtet man, welche Leitbegriffe und -kategorien die internationale Geschichtsschreibung zum Phänomen der Gewalt und zu Gewaltgruppen im frühneuzeitlichen Polen-Litauen akzentuiert, so lassen sich zwei stark gegensätzliche Trends herausstellen. Eine erste, vor allem in der angloamerikanischen, aber auch in der polnischen Forschung zu Polen-Litauen starke, ja wohl gegenwärtig bestimmende Untersuchungsrichtung sieht in dem frühneuzeitlichen Staatsverband eine frühmoderne „Staatsbürgergesellschaft“, in der Gewalt durch einen gemeinsamen republikanischen Verhaltenskodex begrenzt und durch eine schrittweise errichtete mehrstufige Gerichtsverfassung – die Kreisgerichte und das 1578/82 geschaffene kronpolnische und litauische Tribunal – eingehegt worden seien.3 Gewalt wird hier als verfassungsrechtliches Rand2 Der einzige deutschsprachige Aufsatz stammt aus dem 19. Jahrhundert: Anton Dolleczek, Die Lisowczyken, ein Beitrag zur Geschichte des österreichischen Heerwesens im dreissigjährigen Kriege, in: Streffleur’s österreichische militärische Zeitschrift, 1893, H. 3, S. 175 – 182; die ältere polnische Literatur stützt sich vor allem auf die zweibändige unkritische Zusammenstellung von Maurycy Dzieduszycki, Krûtki rys dziejûw i spraw lisowczykûw [Kurzer Abriss der Geschichte und der Angelegenheiten der Lisowczycy], 2 Bde., Lwûw 1843 – 1844; neben zahlreichen Aufsätzen zu Einzelproblemen ist insbesondere die Darstellung von Władysław Magnuszewski, Z dziejûw elearûw polskich. Stanisław Stroynowski, lisowski zagon´czyk, przywûdca i legislator [Aus der Geschichte der polnischen Elearen. Stanisław Stroynowski, ein Freischärler, Führer und Gesetzgeber der Lisowczycy], Warszawa Poznan´ 1978 hervorzuheben. Henryk Wisner, Lisowczycy, Warszawa 2004 [1995] verarbeitet insbesondere weitere Informationen litauischen Ursprungs zu den Verbänden, verzichtet aber vielfach auf Belege; wichtigster ostslavischer Beitrag: Aleksandr Zorin, Aspidy Lisowskogo (1616 – 1618), in: Siversˇcˇyna v istoriji Ukrany 3, 2010, S. 124 – 133. 3 Andrzej Sulima Kamien´ski, Historia Rzeczpospolitej wielu narodûw 1505 – 1795. Obywatele,

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phänomen behandelt und oft psychologisiert, Gewaltgemeinschaften lediglich in den nur teilweise kontrollierten und unbefriedeten Gewaltmärkten in der heutigen Zentralukraine gesehen. Im Vordergrund steht stattdessen die Adelskultur mit ihren frühparlamentarischen Aushandlungsprozessen. Diese Forschungsrichtung führt dazu, dass Gewaltphänomene in der polnisch-litauischen Gesellschaft oft ausgeblendet und als bloße „Pathologien“ gesehen werden. Dagegen steht eine eher skeptische, in der älteren Forschung vor allem rechtshistorische Argumentation, die zunächst darauf hinweist, dass es im frühneuzeitlichen Polen-Litauen niemals gelang einen Landfrieden abzuschließen oder mittels Strafandrohung durchzusetzen, die Gesellschaft also durch die ganze Frühe Neuzeit von erheblicher alltäglicher Gewalt geprägt gewesen sei, in deren Kontext Grundbesitzer wie kleinadlige Bünde und Söldnerverbände vielfach straflos handeln konnten. Die Durchsetzung von rechtskräftigen Urteilen habe vor Ort nicht funktioniert, eine durchsetzungsfähige Exekutive weitgehend gefehlt. Aus der deutschen Perspektive wurde deshalb sogar von einer frühneuzeitlichen „Fehdegesellschaft“ (Inge Auerbach) gesprochen, wobei zwar fehdeähnliche kanonisierte und ritualisierte Austragsprozesse vorgekommen seien, eine Kodifizierung und eine der „Fehde“ entsprechende Begrifflichkeit und festgelegte Fehdepraktiken aber nur ansatzweise entwickelt worden seien: Zwar habe die altpolnische Rechtspraxis die Praxis des gewaltsamen „Einritts“ (zajazd) in gegnerische Güter gekannt, doch sei das Verfahren weniger stark formalisiert gewesen.4 Diese gegensätzlichen Forschungspositionen sind schwer untereinander vermittelbar. Im Rahmen der Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ wird gegenwärtig an der Justus-Liebig-Universität Gießen versucht, in zwei räumlich und zeitlich getrennten Bereichen Fallstudien durchzuführen. Ein von Daria Starcˇenko bearbeitetes Projekt beschäftigt sich mit den Gewaltmärkten und Kosakenaufständen in der heutigen Ukraine im späten 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts.5 Alle staatlichen Verbände im östlichen Europa, vom ich pan´stwa, społeczen´stwo, kultura [Die Geschichte der Respublica vieler Nationen 1505 – 1795. Die Staatsbürger, ihr Staat, die Gesellschaft und die Kultur], Lublin 2000; ders., Imponderabilia społeczen´stwa obywatelskiego Rzeczypospolitej wielu narodûw [Unwägbarkeiten der Bürgergesellschaft der Respublica vieler Nationen], in: Andrzej K. Link-Leczowski / Mariusz Markiewicz (Hg.), Rzeczpospolita wielu narodûw i jej tradycje. Materiały konferencji […], Krakûw 1999, S. 33 – 58; englischsprachige Einführung: Karin Friedrich / Barbara M. Pendzich (Hg.), Citizenship and identity in a multinational commonwealth. Poland-Lithuania in context, 1550 – 1772, Leiden/Boston 2009. 4 Inge Auerbach / Andrej Michajlovicˇ Kurbskij, Leben in ostmitteleuropäischen Adelsgesellschaften des 16. Jahrhunderts, München 1985, S. 404 – 408; dies., Stände in Ostmitteleuropa. Alternativen zum monarchischen Prinzip in der frühen Neuzeit. Litauen und Böhmen, München 1997. 5 Daria Starcˇenko, Verheerende Geschwindigkeit – Zweckrationalität von Gewalt. See-Expe-

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Moskauer Großfürstentum über Polen-Litauen bis zu den Fürsten in der Moldau, warben hier Söldnertruppen an. Diese vielfach unzulässigerweise als „Kosaken“ vereinheitlichten und zugleich ausgegrenzten Verbände spielten im ostmittel- und osteuropäischen Kontext als Gewaltgruppen wie Söldner eine zentrale Rolle. Ein zweites Projekt von Mariusz Kaczka widmet sich soldatischen Bünden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als – durchaus parallelisierbar mit dem Dreißigjährigen Krieg – durch schwedisches und osmanisches Eingreifen im polnisch-litauischen Kontext ein dreißig Jahre andauernder Krieg entfesselt wurde, in dem in Bürgerkriegen um ausstehenden Sold, aber auch um Zugang zur Macht Gewaltpraktiken an der Tagesordnung waren.

2.

Entstehung und Mobilität der „polnischen Reiter“ in den Bürgerkriegen der Smuta

Eine Gruppe, die gerade wegen ihrer Mobilität und teilweise exzessiver Gewaltpraktiken eine gesonderte Studie verdient, sind die Verbände leichter Kavallerie, in der deutschen Terminologie müsste man wohl von „Freireitern“ sprechen, die sich in erster Linie wegen der zu erwartenden Beute bei nur minimalem Sold von Kriegsherren im frühen 17. Jahrhundert im Kontext der expansiven Außenpolitik der polnischen Wasakönige anwerben ließen. Die polnische Historiographie spricht hier von den sogenannten „Lisowski-Verbänden“, den „Lisowczycy“ – benannt nach ihrem ersten Anführer in den Kriegen der Smuta, Aleksander Lisowski. Gerade angesichts des fünfzehnjährigen Bürgerkriegs östlich der polnisch-litauischen Grenzen (1605 – 1619) wie des Dreißigjährigen Kriegs (1618 – 1648) westlich und südlich der Grenzen sollte auch die polnisch-litauische Rolle in diesen Kriegen näher untersucht werden. Es stellt sich die Frage, welche Rolle indigene Gewaltgemeinschaften in dieser Situation spielten und ob, unter welchen Voraussetzungen, mit welchen Mitteln und mit welchen Ergebnissen die postulierte „Staatsbürgergesellschaft“ in der Lage war, diese gewalttätigen Gruppen einzuhegen und aufzulösen. Die europäische Reichweite dieser „polnischen Freireiter“ ist bisher nicht hinreichend analysiert worden: Sie entstanden zwischen 1607 und 1618 im Großfürstentum Moskau in der „Zeit der Wirren“ (russ. Smuta), als nacheinander mehrere Prätendenten auf den Zarenthron mit Unterstützung irregulärer ditionen und (Beute-)Kriege bei polnisch-litauischen Kosaken am Beispiel der KhotinKampagne 1621, in: Horst Carl / Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis zur Neuzeit (Krieg in der Geschichte, 72), Paderborn 2011, S. 167 – 199; dies., Kosaken zwischen Tatendrang und Rechtfertigungsdruck. Ordnungsvorstellungen einer Gewaltgemeinschaft im Kontext von Konkurrenz und Gewaltkultur, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 60, 2011, H. 4, S. 494 – 518.

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polnisch-litauischer Einheiten antraten, darunter zwei angebliche Zarensöhne, die falschen Demetriusse, zeitweise König Sigismund III. und schließlich dessen Sohn, der spätere König Władysław IV.6 Nach der Rückeroberung von Moskau durch russische Truppen (1612) mündete der Konflikt in einen langen Abnutzungskrieg. Den zahlenmäßig schwachen polnisch-litauischen Verbänden stellte sich das Problem der Versorgung aus dem Lande wie der Beherrschung des eroberten Raumes. In dieser Phase agierte die irreguläre leichte Kavallerie oft weit entfernt von den Hauptheeren, sie plünderte das gesamte zentrale Russland und griff mit Vorliebe nicht befestigte Orte an. Dort lernten die Führer und Einheiten auch die Taktik des „kleinen Krieges“, die sie später immer wieder anwandten. Der Namensgeber und die Führungsfigur der Freireiter, Aleksander Jûzef Lisowski (1575 – 1616), stammte aus dem litauischen Kleinadel.7 Er war auf litauischer Seite am Krieg gegen schwedische Truppen 1604/05 in Livland beteiligt, wurde dort jedoch von dem Feldherrn und litauischen Großhetman Jan Karol Chodkiewicz (1560 – 1621) wegen Insubordination, Desertion, Gewalttaten und Plünderungen für vogelfrei erklärt. Der Ablauf der Ereignisse ist nur aus Briefen von Chodkiewicz überliefert, Lisowski wurde vorgeworfen, einen soldatischen Bund gegen den Großhetman gegründet, die Einheiten nach Litauen geführt und dort geplündert zu haben.8 Nach dem Urteil verstärkte Lisowskis Gruppe die Klienteltruppen Janusz Radziwiłłs (1579 – 1620), des innerlitauischen Gegenspielers von Chodkiewicz. Mit größeren Adelsverbänden war sie an der antimonarchischen Konföderation 1606/07 gegen Sigismund III. beteiligt, die in der Bürgerkriegsschlacht bei Guzûw am 5. Juli 1607 geschlagen wurde. Lisowski floh mit seinen Leuten ins heimische Litauen, im September 1607 hieß es, er treibe sich mit seinen Leuten in Litauen herum, „wie Wölfe, die um eine Herde streifen“.9 6 Zur Genese des Konfliktes Wojciech Polak, O Kreml i smolen´szczyzne˛. Polityka Rzeczypospolitej wobec Moskwy w latach 1607 – 1612 [Um den Kreml und Smolensk. Die Politik PolenLitauens gegenüber Moskau 1607 – 1612], Torun´ 1995; zur Besetzung von Moskau liegen polnische Ego-Dokumente vor: Moskwa w re˛kach Polakûw. Pamie˛tniki dowûdcûw i oficerûw garnizonu polskiego w Moskwie w latach 1610 – 1612 [Moskau in den Händen der Polen. Erinnerungen von Anführern und Offizieren der polnischen Garnison in Moskau 1610 – 1612], Liszki 1995. 7 Das Biogramm im Polski Słownik Biograficzny [im Folgenden PSB], Bd. 17, Wrocław 1972, S. 470 – 472 ist unpräzise und durch den gegenwärtigen Stand der Forschung überholt; neuere biographische Skizzen fehlen. 8 „Lisowski […] czł[owie]k bezboz˙ny i buntownik. On tej konfederacji powodem, on proces jej czynił, i w Litwe˛ wprowadził, jego to teraz fabryka, z˙e sie˛ rozeszli.“ Kazimierz Tyszkowski, Aleksander Lisowski i jego zagony na Moskwe˛ [Aleksander Lisowski und seine Verbände im Moskauer Reich], in: Przegla˛d Historyczno-Wojskowe 5, 1932, H. 2, S. 1 – 28; Wisner, Lisowczycy, S. 25. 9 „sie˛ po Litwie kre˛ca˛, jako wilcy na stado czyhaja˛c“. Biblioteka Polskiej Akademii Nauk [im

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Nach diesen Ereignissen war in Polen-Litauen die Karriere Lisowskis zunächst beendet. Allerdings fand sich im Bürgerkrieg im Großfürstentum Moskau schnell ein neues Betätigungsfeld: Mehrere Prätendenten stritten um den Zarenthron, Lisowski tauchte mit seiner Gewaltgruppe im Winter 1607/08 an der litauisch-polnischen Ostgrenze bei den Truppen des (zweiten) „falschen Demetrius“ (russ. Dmitrij), der sich als Sohn Ivan IV. ausgab, auf, die sich im Kern aus nicht bezahlten polnischen Söldnern und polnisch-litauischen Freiwilligen rekrutierten und in Moskauer Territorien einmarschierten. Einheiten von Freireitern unter dem Kommando von Lisowski agierten zwischen 1608 und 1610 weitgehend selbständig von der Basis Suzdal’ aus, trieben Verpflegung und transportierbare Wertgegenstände ein und plünderten unbefestigte zentralrussische Orte. Ziel war es insbesondere, der zarischen Herrschaft in Moskau den Nachschub abzuschneiden. Die Einnahme größerer befestigter Orte, das Kloster des Heiligen Sergij in Sergijev-Possad, von Jaroslavl’ oder Kostroma gelang hingegen nicht.10 Als polnische Truppen 1610 offen in den russischen Bürgerkrieg eingriffen, lief Lisowski mit seiner Gruppe im Sommer desselben Jahres zu ihnen über. Polnische Einheiten marschierten 1610 in Moskau ein. 1610/11 muss er mit polnisch-litauischen Würdenträgern – wahrscheinlich durch Vermittlung von Klientelverbänden um die ostslavische Bojarenfamilie der Sapiehas – eine Aufhebung des Urteils gegen ihn verhandelt haben; der polnisch-litauische Reichstag hob im Herbst 1611 das Urteil gegen Lisowski und seine Gewaltgruppe auf und berief sich auf dessen „Verdienste“ auf Seiten Polen-Litauens im russischen Bürgerkrieg. Lisowski erhielt königliche Schutzbriefe ausgestellt und kehrte in die polnisch-litauische Armee zurück. Unklar ist, ob er an dem gescheiterten polnischen Entsatzversuch Moskaus – die polnische Besatzung im Kreml ergab sich am 25. Oktober (3. November nach dem in Westeuropa gültigen gregorianischen Kalender) 1612 – im Herbst 1612 beteiligt war. Nach dem Scheitern der polnischen Intervention in Moskau, als Moskauer Truppen bis vor die Festung Smolensk vordrangen, agierte Lisowskis ca. 100 bis 300 Mann zählende Gruppe von der litauischen Grenzfestung Zavolocˇe aus, von wo aus eigene Verbände 1613 bis Pskov vorstießen. Allerdings ging Zavolocˇe 1613 verloren, ein weiterer Beweis dafür, dass die Truppen Lisowskis für reguläre Festungs- und Belagerungskämpfe ungeeignet waren. Die Gewaltgruppen führten 1613/14 den Grenzkrieg fort und stellten im Sommer 1614 den Entsatz der in Smolensk eingeschlossenen litauischen Besatzung sicher. Aus dieser Zeit

Folgenden BPAN] Krakûw, rkps 354 Lev Sapieha an Sigismund III., 30. 9. 1607, zitiert nach: Wisner Lisowczycy, S. 26 – 27. 10 Tyszkowski, Aleksander Lisowski, S. 5 – 7.

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sind auch erstmals überhaupt Geldzahlungen für ausstehenden Sold in Höhe von 15.000 zł. an Lisowskis Einheiten wahrscheinlich.11 Vor dem Hintergrund dieser Bewährung erhielt Lisowski im Winter 1614/15 von Chodkiewicz den Auftrag, mit größeren Freiwilligeneinheiten den Krieg wieder auf Moskauer Territorium zu verlagern. Der oberste litauische Feldherr verfolgte mit diesem Manöver mehrere Ziele: Neben einer Schwächung des Moskauer Staates sollte Lisowski auch die in Litauen umherstreifenden und die Bevölkerung bedrückenden Soldaten an sich binden und außer Landes führen. Am 12. Januar 1615 verkündete Lisowski in MahilÚu˘ öffentlich, er solle im Auftrag des Großhetmans die im Lande umherstreifenden „eigenmächtigen Haufen ohne Dienst“ (swawolne kupy ludzi bez słuz˙by) sammeln und mit der Gewissheit reicher Einnahmen in das Moskauer Territorium führen. Tatsächlich unternahm Lisowski zwischen Februar 1615 und Februar 1616 mit ca. 600 Freireitern und einer unbestimmten Zahl von Gesinde und „Kosaken“ einen raid nach Zentralrussland. Die Erfolge und die Aussicht auf Beute ließen die Gruppe anwachsen, die bis zu 1.500 Freireiter umfasst haben soll. Der Zug führte den Verband bis nach Rzˇev, Uglicˇ, Kostroma und an die Oka nordöstlich von Moskau, wo man – einzelne Gruppen bis zu 250 km nordöstlich von Moskau – überwinterte und erst im Februar 1616 nach Litauen zurückkehrte. Diese Operationen mit Tagesmarschleistungen bis zu 150 km verbreiteten Lisowskis Ruhm in Polen-Litauen, ohne dass dieser, der am 11. Oktober 1616 starb, daraus großen Nutzen ziehen konnte.12 Der raid mit einer kleinen Einheit durch Zentralrussland besaß jedoch für die Legendenbildung um die Gewaltgruppe eine Bedeutung – in späteren Erzählungen und Reden rühmten sich die „Helden“, bis zum „Nordmeer“ und in die „Eiswüsten“ vorgedrungen zu sein und dort Abenteuer erfolgreich bestanden zu haben. Als der Verband 1620 bei Wien in die Dienste Ferdinand II. trat, rühmte sich der Führer Jarosz Kleczkowski in einer pathetischen Rede der bisherigen Verdienste der Gruppe, schilderte das Vordringen bis zum „Eismeer“ und hob hervor, die Gruppe habe die Eisgewalten „mit ihren bloßen Körpern abgewehrt“ (pierszami swymi przepierali).13 Männlichkeit, Ritterlichkeit und verwegene

11 Wisner, Lisowczycy, S. 42 – 46. 12 Tyszkowski, Aleksander Lisowski. 13 Witanie cesarza Ferdynanda wtûrnego orzy przeje˛ciu słuz˙by wojennej u niego z wojskiem swym lisowskim 1620 [Die Begrüßung der Lisowczcy durch Kaiser Ferdinand II. und die Annahme des Kriegsdienstes bei ihm], in: Bronisław Nadolski (Hg.), Wybûr mûw staropolskich [Auswahl altpolnischer Reden], Warszawa/Krakûw 1961, S. 262 – 263. Die Rede wurde zeitgenössisch wiederholt zitiert und angeführt, vgl. Samuel Twardowski, Władysław IV, krûl polski i szwedzki [Władysław IV., polnischer und schwedischer König], Leszno 1649, S. 28 – 29; weitere Beispiele bei Magnuszewski, Z dziejûw elearûw, S. 23 – 25.

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Tollkühnheit, mit diesen Attributen umschrieben sich die „Lisowczycy“ in ihrem Selbstbild. Die von Lisowski aufgestellten Gewaltgruppen hoben sich durch einige Spezifika aus den in den Kriegen agierenden Verbänden heraus: Sie erhielten im Krieg gegen Moskau zunächst keinerlei Sold, sondern ernährten sich nur aus den eroberten Territorien mit dem Versprechen zukünftiger Reichtümer bei militärischen Erfolgen. Die Gruppe bewegte sich 1615/16 als leichte Kavallerie mit mehreren Pferden für jeden Freireiter ohne Tross, was die erhebliche Mobilität ermöglichte, aber die Verbände zugleich gänzlich und immer wieder aufs Neue auf Wegnahmen von Verpflegung, Plünderungen und Ernährung aus dem Lande verwies. Bei Zusammenstößen mit größeren Einheiten vermied die Gewaltgruppe offene Schlachten und suchte durch ihre Schnelligkeit zu entkommen. Die Aussicht auf leichte Erfolge und Beute ließ wiederholt kosakische Gruppen und Garnisonssoldaten zu Lisowskis Gewaltgemeinschaft übertreten. Die soziale und nationale Zusammensetzung der Gewaltgruppe war bereits für die Zeitgenossen widersprüchlich und unklar : Viele Mitglieder gaben sich einerseits als adlig aus, wurden aber andererseits in der zeitgenössischen Literatur als „Bauern“ und nichtadlig denunziert; ja man spottete sogar, sie verdeckten mit adligen Herkunftserzählungen ihre exzessive Gewalttätigkeit.14 Bereits bei dem raid 1615/16 werden aus den verschiedenen Quellen „Polen“, „Litauer“, „Kosaken“, aber auch zeitweise „deutsche Knechte“ genannt. Gesichert ist lediglich, dass an der Spitze der Gruppe die jüngeren Söhne litauischer und polnischer Kleinadliger standen, die in einer wirtschaftlich schwierigen Situation im Kriegs- und Gewalthandwerk ein Auskommen suchten.15 Die Mehrheit der Gruppenmitglieder hatte eine ungeklärte Herkunft und stammte aus gewaltbereiten, soldatischen und unterbäuerlichen Gruppen. Die Einheiten Lisowskis standen bei den litauischen Oberkommandierenden in schlechtem Ruf, brieflich beschwerte sich der litauische Großhetman Jan Karol Chodkiewicz bei Kanzler Lev Sapieha (1557 – 1633) am 5. März 1616 insbesondere über die Qualität der Einheiten: „Die Grenzen sind mit leichtfertigen Leuten und Kosaken besetzt, deren Treue mir immer suspekt war und diese erbärmliche Handvoll Menschen wird mit allen Unsicherheiten beladen“.16 14 Walerian Nekanda Trepka, Liber generationis plebeanorum. Hg. von Włodzimierz Dworzaczek, 2 Bde., Wrocław 1995 [1963], dort S. 57 – 59 der Abschnitt „O lisowskich i konfederackich z˙ołnierzach“ [Über die Lisowski-Soldaten und die Konföderierten], weiterhin S. 190 – 191 Eintrag „Kalinowski“, S. 269 „Moczarski“. 15 Magnuszewski, Z dziejûw elearûw, S. 14 – 15 beschreibt dies für Stanisław Stroynowski, einen der Führer der Verbände in den 1620er Jahren. 16 „lekkiemi ludz´mi to jest kozactwem, ktûrych fides zawsze u mnie suspecta była granicy opatrzył, i na tej lichej gaszteczce wszystko niebezpuieczen´stwa złoz˙ył“, Biblioteka Czartoryskich rkps 3236, S. 373 – 375, zitiert nach: Andrzej Grzegorz Przepiûrka, Wyprawa lis-

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Lisowskis Gruppe hätte im Frühjahr 1616 in Litauen (Regionen Mozyr und Mir) überall Güter geplündert und sich „schlimmer als die Tataren“ verhalten.17 Vorgeworfen wurde den Einheiten auch eine Reihe von Morden gegen Bauern, die sich zur Wehr gesetzt hatten, sowie Kirchenplünderungen. Zugleich fürchteten die Oberkommandierenden bereits 1616, dass die Einheiten in PolenLitauen weiter plündern würden, und wollten sie deshalb im Sommer 1616 möglichst schnell erneut auf Moskauer Territorium schicken: „Lisowski möglichst schnell wieder auf Moskauer Territorium schicken, denn seine Leute verderben Litauen, sie ziehen wieder über die Grenzen, wenn er dorthin geht.“18 Zugleich wurde klar der Nutzen der Gruppen beschrieben: Sie kosteten den Staatsverband nichts und schädigten nur die gegnerische Seite. Tatsächlich unternahm die Gruppe 1616/17 nach dem Tode Lisowskis einen neuen raid, der sie bis nach Kursk führte. 1618 war der Verband an dem gescheiterten polnisch-litauischen Marsch auf Moskau beteiligt. Nach dem Tode Lisowskis lassen sich in den Quellen über die Gruppe immer stärker genossenschaftliche Züge nachweisen: Entscheidungen fallen „im Kreis“ (koło) der „Genossen“ (towarzyszy), der selbst Unterführer wählt, die nach außen für die Gruppe auftreten. Von außen zugewiesene Unterführer werden nicht akzeptiert. Jedes Fähnlein stand unter einem Unterführer mit einer Stärke von ca. 100 Mann, insgesamt bis zu 1.000 Personen. Wohl als Versuch einer Kontrolle stand mit Krzysztof Chodkiewicz (†1652) ein Verwandter des litauischen Großhetmans formal an der Spitze der Einheiten.19

3.

Die Verlagerung des Aktionsradius nach Mitteleuropa

Als 1618/19 der 15-jährige Waffenstillstand von Deulino zwischen Polen-Litauen und dem Moskauer Reich geschlossen wurde, endete die Möglichkeit für die Gewaltgruppe, sich im Großfürstentum Moskau „aus dem Land“ zu ernähren, die Truppen wichen nach Polen-Litauen zurück und sollten sich dort auflösen. Dies taten sie aber nicht, sondern überwinterten 1618/19 in kleineren Einheiten in Litauen. Dort setzten sie – sicher auch gezwungenermaßen, da sie keinerlei owczykûw na Siewierszczyzne˛ na przełomie 1616 i 1617 roku [Der Raid der Lisowczcy nach Severien 1616/17], in: Studia Historyczno-wojskowe 2, 2007, S. 85 – 98, hier S. 86. 17 „Chora˛gwie Jas´nie Miłos´ciwego Pana Lisowskiego […] dwûr najechawszy wniwecz spla˛drowali […] gorzej Tatarzyna“, BPAN Krakûw, rkps 356, Nr. 55 Stanisław Lipnicki an Jan Karol Chodkiewicz, 24. 4. 1616, zitiert nach: Wisner, Lisowczycy, S. 51. 18 „Lisowskiego jako najpre˛dzej wyprawic´ do Moskwy, bi i ludzie jego, ktûrzy plocha˛ po Litwie, szli by zaraz z nim za granice˛, tam je by obrûciło.“ Jan Karol Chodkiewicz an Eustachy Wołłowicz, 27. 6. 1616, Biblioteka Narodowa, BOZ, rkps 960, S. 458, zitiert nach: Przepiûrka, Wyprawa, S. 88. 19 Ebd., S. 93 – 98.

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Sold erhielten – ihre Ernährung „aus dem Lande“ durch Plünderungen und Beschlagnahmen fort, was auf den Landtagen 1619 zu einer ersten großen Welle von Klagen über Raub und Gewalttaten führte und den Druck auf die Gruppe erhöhte.20 Einige Gruppen zogen bereits im Frühjahr 1619 nach Kleinpolen, angelockt durch Versprechungen polnischer Militärs und habsburgischer Diplomaten. Hetman Z˙ûłkiewski plante einen Zug in die Moldau und nach Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges 1619 bat der habsburgische Hof beim verschwägerten Hof in Polen um Unterstützung. Bei Verhandlungen in Neiße im Mai und Juni 1618 verwies Kronprinz Władysław die habsburgischen Werber auf die beschäftigungslosen „Lisowczycy“. Die Verbände erhielten ein Angebot, in kaiserliche Dienste zu treten, verhielten sich hier aber zögerlich: Sie hatten Bedenken, sich ohne Infanterie und schwere Kavallerie in mitteleuropäischen Regionen zu bewegen, in denen Befestigungen die Regel waren.21 Stattdessen ließen sich die polnischen Reiter 1619 von dem ungarischen Adligen György III. Homonnai (1584 – 1620), einem Konkurrenten Gabor Bethlens um den siebenbürgischen Thron und Verbündeten der Habsburger, anwerben. Nachdem sie auf dem Anmarschweg die polnische Stadt Biecz geplündert hatten, fielen sie im Spätherbst – ab dem 21. November 1619 – in Oberungarn ein. Dort errangen sie über schwache siebenbürgische Verteidigungstruppen Bethlens Erfolge und plünderten die Umgebung von Kaschau, Munkacs und Tokaj, ohne die befestigten Städte erobern zu können. Das Unternehmen war vor allem deshalb erfolgreich, weil die Truppen Gabor Bethlens in dieser Zeit vor Wien standen. Nach einem vierwöchigen raid kehrten die Truppen im Dezember 1619 nach Südpolen zurück, beladen vor allem mit Kirchenschätzen, wie polnische Quellen beschrieben.22 Das Ziel der Expedition, die nicht das militärisch verteidigte Böhmen, sondern das von Soldaten entblößte Oberungarn attackierte, entsprach nicht den Vorstellungen des polnischen Hofes, der die Truppen zur unmittelbaren Unterstützung der Habsburger in Marsch setzen wollte, konnte sehr wohl aber die Beutegelüste der „Lisowczycy“ zufriedenstellen. Die Rückkehr der Einheiten nach Kleinpolen löste heftige Befürchtungen vor weiteren Ausschreitungen aus, die sich in Briefen und im Januar in den Beratungen der Landtage Luft machten. So beschrieb Bischof Jakub Zadzik (1582 – 1648) in einem Schreiben an den Erzbischof von Gnesen Wawrzyniec Gembicki 20 Magnuszewski, Z dziejûw elearûw, S. 31 – 32. 21 Jerzy Zbaraski an König Sigismund III., 16. Februar 1621, in: Adam Sokołowski (Hg.), Listy ksie˛cia Jerzego Zbaraskiego, kasztelana krakowskiego [Briefe Fürsts Jerzy Zbaraski, des Kastellans von Krakau] (Scriptores Rerum Polonicarum, 5), Krakûw 1880, S. 24 – 25. 22 Adam Kersten, Odsiecz wieden´ska 1619 r. [Der Entsatz von Wien], in: Studia i materiały do historii wojskowos´ci 10, 2, 1964, S. 47 – 87; Wisner, Lisowczycy, S. 88 – 89.

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(1559 – 1624), „es wird wohl dazu kommen, dass man sie mit Gewalt dazu bringt“ außer Landes zu gehen, denn „solch eine Gruppe verlässt niemand, der kein Haus hat“.23 Die Landtage forderten ein Eingreifen der regulären Armee, drastische Nachrichten über Ausschreitungen und Exzesse auch in Kleinpolen verbreiteten sich. Kreisaufgebote drängten die Gewaltgruppe im Winter 1620 aus Kleinpolen nach Schlesien ab. Tatsächlich überschritten Kommandos bereits Anfang Februar 1620 die polnisch-schlesische Grenze und versorgten sich im schon vom Bürgerkrieg gezeichneten Schlesien. Im Frühjahr 1620 wurden Kommandos der „Lisowczycy“ von dem habsburgischen Sondergesandtem, dem Grafen Michael Adolf von Althan(n) (1574 – 1638), für zunächst nur sechs Monate in kaiserliche Dienste angeworben. Bereits die kurze Zeit der Indienstnahme zeigt, dass das kaiserliche Militärkommando die Truppen nicht in den eigenen Territorien überwintern lassen wollte. Die nun gegen – relativ niedrigen – Sold angeworbenen Kommandos zogen über Schlesien durch Mähren plündernd bis vor Wien und Krems, wo sie von kaiserlichen Militärs der habsburgischen Armee attackiert wurden. Sie nahmen am kleinen Krieg gegen die böhmischen Aufständischen teil und wurden zunächst zur Versorgung der habsburgischen Armeen mit Pferden, Vieh und Lebensmitteln sowie zur Pazifizierung Niederösterreichs und Böhmens eingesetzt. In Flugschriften hieß es, sie hätten „Knaben und Weibspersonen / nach schrecklicher Schendung hinweg geführt: Die leut / Jung und alt / Weib und Mann / auf allerley grawsame unerhörte weis gemartert“.24 Anschließend nahmen mehrere Abteilungen 1620 an der Schlacht am Weißen Berg teil, partiell dienten sie zur südöstlichen Grenzsicherung und kehrten im Winter 1620/21 nach Polen zurück, freigestellt auch auf den Rat kaiserlicher Militärs wie Karl Graf Buquoy (1571 – 1621), die auf die erhebliche Verwüstung Niederösterreichs und Böhmens durch die Verbände hinwiesen.25 Von da an, etwa bei den späteren Einsätzen 1622 im Reich, wurden die Verbände bei dem Marsch durch eigenes Territorium stets von kaiserlichen Militärverbänden eskortiert. Zeitgleich hatte sich in Polen die militärische Lage dramatisch verändert: 1620 war ein polnisches Heer in der Moldau bei Cecora (rum. T ¸et¸ora) unweit von Ias¸i vernichtend geschlagen worden, ein osmanisch-polnischer Krieg stand bevor. In dieser Situation wurden die Einheiten im Frühjahr 1621 in Dienst genommen. Dem polnischen Militär gelang es im Sommer und Herbst 1621 vor Chocim in einem befestigten Lager eine große osmanische Armee unter per23 „przyjdzie podobno gwałtem ich do tego przycisna˛c´, bo trudno temu sie˛ z gromady rozjechac´, ktûry nigdzie ni ma domu“. Zitiert nach: Kersten, Odsiecz, S. 84. 24 AllerUnderthänigste Supplication, Bl. 3. 25 Documenta Bohemica Bellum Tricennale Illustrantia, Praha 1974, Bd. 2, Nr. 639, 754, 842, 853, 878, 882, 884, 886, 887; Bd. 3, Nr. 25.

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sönlicher Leitung von Sultan Osman II. abzuwehren.26 1621/22 überwinterten die Einheiten der Freireiter in den ukrainischen Wojewodschaften und in Kleinpolen – eindeutig entgegen eines königlichen Befehls vom 8. Januar 1622, die Einheit aufzulösen und „auseinanderzugehen“. Im April und Mai 1622 wurden die polnischen Freireiter erneut von Karl von Liechtenstein (1569 – 1627) „zur Zerschlagung der Häretiker und der Häresie“ im Namen von Kaiser Ferdinand und Kurfürst Maximilian angeworben. Dabei wurde ihnen unter Androhung der Todesstrafe verboten, eigenmächtig zu plündern. Auffällig ist darüber hinaus die wiederholte Vereidigung der Gruppe auf eine strenge Militärdisziplin (30. Mai 1622 in Krzepice). Zunächst wurden die Verbände gegen Reste des böhmisch-schlesischen Widerstands im Glatzer Bergland und protestantische Bauernmilizen eingesetzt, die dort von Bernhard von Thurn aufgebaut worden waren. Auf Anweisung Liechtensteins und gemeinsam mit Truppen Karl Hannibal von Dohnas zerschlugen die Kavallerieeinheiten die bäuerlichen Milizen und plünderten die Ortschaften aus.27 Die Truppen zogen dann nach Böhmen, wo sie in Braunau und in Klattau auf die kaiserlichen Kriegsartikel vereidigt wurden, die schwere Sanktionen gegenüber Kirchenraub, Subordination oder Plünderungen vorsahen. Von dort aus marschierten sie, um Ausschreitungen zu verhindern stets begleitet von kaiserlichen Truppen, durch würzburgische und bambergische Territorien zum Sammelort Wimpfen am Neckar. Hier wurden sie dem Kommando Erzherzog Leopolds, Bischof von Passau (1586 – 1632), unterstellt, der über eine reiche Erfahrung als Söldnerführer auch in der Plünderung von Regionen verfügte. Von dort aus entsandte man sie nach Baden und in die Pfalz, um die Region den siegreichen kaiserlichen Truppen zu unterstellen und lokalen Widerstand zu brechen. Im Sommer 1622 operierten sie insbesondere in der Region um die Städte Worms und Speyer, zwischen Mannheim und Frankenthal bis nach Zweibrücken, unternahmen aber sogar Streifzüge nach Lothringen. Auf dem Rückmarsch nach Polen machten sich die Verbände im Oktober 1622 im Auftrag des Kaisers und Karl von Lichtensteins in Böhmen „nützlich“, indem sie durch Einquartierungen und Plünderungen gewaltsam Nichtkatholiken zum Konfessionswechsel bewogen und insbesondere nichtkatholische 26 Radosław Lolo, Rzeczpospolita wobec wojny trzydziestoletniej. Opinie i stanowiska szlachty (1618 – 1635) [Polen-Litauen gegenüber dem Dreißigjährigen Krieg. Meinungen und Einstellungen des Adels], Pułtusk 2004, S. 163 – 175; Starcˇenko, Verheerende Geschwindigkeit, S. 188 – 196. 27 Eugenia Triller, O lisowczykach w Ziemi Kłodzkiej według „Przewag …“ Wojciecha Dembołe˛ckiego [Über die Lisowczycy im Glatzer Land nach der „Übermacht…“ Wojciech Dembołe˛ckis], in: Rocznik Ziemi Kłodzkiej 3, 1959, S. 139 – 151 (dort auch das Zitat); vgl. auch die schlesische Aktenüberlieferung: Julian Krebs (Hg.), Acta publica. Verhandlungen und Correspondenzen der schlesischen Fürsten und Stände, Bd. 5: Die Jahre 1622 – 1625, Breslau 1880, S. 221 – 226.

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Geistliche aus dem Land vertrieben. Im Winter 1622/23 kehrten die Einheiten erneut nach Polen zurück. Ein Geheimnis für den Erfolg der Verbände bei ihren Zügen war, dass sie sich bei Bedarf mit einer zeitgenössisch extrem hohen Marschgeschwindigkeit bewegten – 70 bis 100 km tägliche Marschleistung –, deshalb kaum zu verfolgen waren und scheinbar „aus dem Nichts“ auftauchen konnten. Für die Habsburger waren die polnischen Verbände billige Hilfstruppen, denn sie erhielten nur niedrigen Sold, ernährten sich durchweg „aus dem Lande“ und wurden im Herbst aus den kaiserlichen Diensten entlassen (also keine hohen Kosten für die Winterlager). Sie kehrten dann durchweg in die Krone Polen, vor allem nach Klein- und Großpolen, zurück, überwinterten dort – zu einem erheblichen Teil auf Kosten der ortsansässigen Bevölkerung – und standen im Frühjahr zu neuen Diensten zur Verfügung. Dieses Prozedere löste bereits seit 1619 massive Proteste der adligen, geistlichen und städtischen Betroffenen im südlichen Polen aus. 1623 mündete das in eine Resolution des polnisch-litauischen Reichstags, welche die Auflösung der Banden befahl und ihre Teilnehmer für vogelfrei erklärte. Seit 1623 entstanden in den südlichen und westlichen Kreisen und Wojewodschaften von den Kreis- und Landtagen angeworbene militärische Kreisaufgebote, die auffällige Söldnerverbände bekämpften. Um diesem „Verfolgungsdruck“ zu entgehen, ließ sich ein Teil der „Lisowczycy“ 1623 nach Mähren, wo Bauernaufstände ausgebrochen waren, als „polnisches Heer des Kaisers“ im schlesischen Glogau anwerben und überwinterte dort 1623/24 mehrheitlich in den ehemals nichtkatholischen Gütern und Bauerndörfern. Der Bischof von Olmütz, Kardinal Franz von Dietrichstein, berichtete, sie hätten dort Städte und mehrere Dutzend adlige Höfe verwüstet.28 Da eine Rückkehr nach Polen immer schwieriger wurde, ging von dort ein Teil der „Lisowczycy“ in andere kaiserliche Einheiten, eine größere Gruppe zog unter dem Kommando von Idzi Kalinowski nach Norditalien. Von dort aus sind kleinere Gruppen kontinuierlich in den kaiserlichen Armeen nachweisbar, werden dort allerdings zumeist als „Kroaten“ bezeichnet.29 Andere Gruppen kehrten nach Polen zurück und wurden dort seit 1626 in das polnische Heer eingegliedert, das in Preußen im Ersten Nordischen Krieg gegen einen schwedischen Einmarsch kämpfte. Nach der polnischen Niederlage bei Mewe (Gniew) 1626 wurden 30 Kavalleristen mit Kalinowski an der Spitze wegen Plünderungen und Exzessen aus dem Militär ausgeschlossen.30 In der zweiten Hälfte der 1620er 28 Lolo, Rzeczpospolita. 29 Dolleczek, Lisowczyken; zu Kalinowski PSB, Bd. 11 (1964 – 65), S. 454 – 455. 30 Radosław Sikora, Wojskowos´c´ polska w dobie wojny polsko-szwedzkiej 1626 – 1629. Kryzys mocarstwa [Die polnische Kriegskunst im polnisch-schwedischen Krieg 1626 – 1629], Poznan´ 2005, S. 83 – 91.

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Jahre verliert sich die Spur der „Lisowczycy“, ihre bekanntesten Führer sind zu diesem Zeitpunkt bereits tot oder verschollen.

4.

Zusammensetzung und innere Struktur des Gewaltverbandes

Die gesellschaftliche und ethnische Zusammensetzung der polnischen Freireiter war bereits für die Zeitgenossen äußerst strittig. In den deutschsprachigen Quellen tauchen sie häufig als „Kosaken“, im Großfürstentum Moskau als „Polen“, in Polen auch als „Russen“, „Litauer“ oder „polnische Kosaken“ auf. Seit 1616/18 setzte sich die Benennung „Lisowczycy“ in Polen durch, die zeitgenössisch mehrheitlich pejorativ konnotiert war. Es gibt im Polnischen vor allem aus den städtischen und bäuerlichen Quellen der dreißiger Jahre des 17. Jahrhunderts die Redewendung, „sich herumtreiben und Unruhe stiften wie ein Lisowczyk“.31 Im Reich wurden sie zumeist als „Kosaken“, manchmal auch als „Polen“, „Tataren“, ja sogar als „Kroaten“ wahrgenommen. 1621 in Polen hieß es, unter ihnen befänden sich vor allem „Kroaten und Wallonen“,32 als sie 1623 nach Polen zurückkehrten, hieß es, in ihren Reihen befänden sich viele „Deutsche“, „Böhmen“ und „Schlesier“.33 Sicher lässt sich sagen, dass die Führer mehrheitlich aus dem polnisch-litauischen Kleinadel stammten und das Polnische durchweg die Kommunikations- und Befehlssprache der Kompanien darstellte. Unter den 27 im Jahre 1620 in Breslau wegen Plünderung und Mord gehängten Söldnern, deren Namensliste bekannt ist, befanden sich vor allem Kleinadlige aus der Region Sandomierz und aus Litauen.34 Es gibt keine nennenswerten überlieferten ostslawischen Sprachzeugnisse, deshalb ist auch die Beschreibung als „Kosaken“ unhaltbar. Hinter diesen wechselnden Zuschreibungen verbarg sich jedoch eine sozial und ethnisch äußerst gemischte Herkunft, gerade die Reihen der Hilfskompanien, der Knechte und des Trosses wurden vielfach von örtlicher Bauernbevölkerung 31 „Co hultaj, to lisowczyk“, aus: Aleksander Brückner (Hg.), Co nowego. Zbiûr anekdot polskich z r. 1650 [Etwas Neues. Eine polnische Anekdotensammlung von 1650], Krakûw 1903, S. 78. 32 Listy ksie˛cia Jerzego Zbaraskiego, S. 25 33 Archiwum Głowny Akt Dawnych, Archiwum Radziwiłłûw, Abt. V, Bd. 333, Nr. 13855. Lew Sapieha an Krzysztof Radziwiłł, 24. 12. 1622, Warszawa. 34 August Mosbach (Hg.), Przyczynki do dziejûw polskich z Archiwum miasta Wrocławia [Informationen zur polnischen Geschichte aus dem Stadtarchiv Breslau], Poznan´ 1860; August Mosbach (Hg.), Wiadomos´ci do dziejûw polskich z Archiwum Prowincji Szla˛skiej [Nachrichten zur polnischen Geschichte aus der dem Archiv der Schlesischen Provinz], Wrocław 1860, S. XXXVIII; Publizistik: Pogrom i egzekucja wywołan´cûw zgromadzonych [o. O. o. J.], Biblioteka Ossolin´skich XVII – 807 – III.

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russischer, ostslawischer, polnischer, schlesischer und anderer Herkunft aufgefüllt, die bei Bewährung und glücklichen Zufällen in die Reihen der „Genossen“ der Einheiten aufsteigen konnte. Deshalb entbehrt die in vielen polnischen Dokumenten zu findende Behauptung, zahlreiche adlige Mitglieder der Verbände maßten sich einen Adelstitel nur an, nicht der Plausibilität. Die einzige zeitgenössische bildliche Darstellung eines Mitglieds der Lisowski-Verbände stammt allerdings erst aus dem Jahre 1655, eine genaue Zuordnung ist nicht möglich. Von Rembrandts „Polnischen Reiter“ ist nicht bekannt, ob er sich auf konkrete Ereignisse bezieht.35 Er wurde allerdings bereits im 17. Jahrhundert als „Ein lisower Reytter“ angesehen und publiziert.36 Auffällig und für die Zeitgenossen ungewöhnlich stellten sich die äußeren und inneren Befehls- und Funktionsmechanismen der Gewaltverbände dar. Die „Lisowczycy“ bestanden auf der selbständigen und ungehinderten Wahl ihrer Obersten und der Unterführer. Die eigene Wahl des obersten Kommandierenden stieß dabei wiederholt auf Probleme, da weder die polnisch-litauische Militärführung noch das habsburgische Oberkommando den Verbänden dies zugestehen wollte. Eine Lösung bestand in der Wahl eines formal hochadligen Führers, der aber nur Vermittlungskompetenzen besaß, so 1617 nach dem Tode Lisowskis Krzysztof Chodkiewicz, ein Neffe des litauischen Großhetmans Jan Karol Chodkiewicz oder 1622 den Malteserritter Zygmunt Karol Radziwiłł (1591 – 1642) aus einer bekannten litauischen Fürstenfamilie. Auffällig ist weiterhin, dass in beiden Fällen keine „fremden, ausländischen“ Führer akzeptiert wurden sowie die tatsächlichen Befehlsstrukturen in den Händen der eigenen Kommandostruktur blieben. Die eigenen Oberste hatten in zahlreichen Fällen eine durch Plünderungen und Ausschreitungen „verhaltensauffällige“ militärische Karriere hinter sich. Lisowski selbst wurde 1605 wegen Meuterei, Plünderungen und Ausschreitungen in Kurland für vogelfrei erklärt.37 Kalinowski wurde mehrfach (1622, 1626) öffentlich aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen, Stroynowski galt als „infamis et poscriptus“.38 Innerhalb ihrer Verbände gliederten sich die „polnischen Reiter“ in Kompanien mit ca. 100 Mann, wobei bündische Elemente stark hervortraten: Hier wurden die Unterführer „im Kreis“ gewählt, die Soldaten sprachen sich wechselseitig mit Waffenbruder (towarzysz) an, eine Gewohnheit, die aus den adligen polnischen Husarenregimentern übernommen worden war. Weiterhin auffällig war – und auch deshalb eigneten sich die Reiter nicht für reguläre Einsätze – die 35 36 37 38

Jan Białostocki, Rembrandt’s ,Eques Polonus‘, in: Oud Holland 84, 1969, S. 163 – 176. Dolleczek, Lisowczyken, S. 181. PSB 17, S. 470 – 472. Wisner, Lisowczycy, S. 120.

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dezentrale Organisation: Lediglich zwei in der Regel besonders gut ausgerüstete und für den zentralen Kampfeinsatz reservierte Kompanien standen unbeschränkt unter der Leitung des Obersten, die restlichen Kompanien agierten in der Regel unter Unterführern eigenständig. Quantitativ umfassten die polnischen Reiter bei ihren Einsätzen Kommandos von mehreren hundert bis 3.000, im Maximalfall sogar bis zu 6.000 Soldaten. Höhere Zahlen tauchen zwar zeitgenössisch immer wieder auf, sind aber nicht wirklich verifizierbar. Insgesamt sind jedoch erhebliche Gruppen – wohl über 20.000 Personen – durch diese Söldnergruppen für kurze oder längere Lebensabschnitte hindurchgegangen. Die spezifische Beutepraxis der Verbände ist dagegen gut belegt: In allen militärischen Artikeln, welche die Verbände annahmen, beharrten sie auf dem Recht, sich frei aus dem Lande zu bereichern. So waren sie 1619/20 bereit in kaiserliche Dienste zu treten, für 15 zł. Quartalssold und unter der Bedingung, das Recht zu Plünderungen zu haben.39 Durch ihre Kampfesweise und das regelmäßige Niederbrennen von Ortschaften – eine Politik der „verbrannten Erde“, welche die Gemeinschaft bereits im Moskauer Reich angewandt hatte – richtete die Gewaltgruppe große Schäden an. Fraglich ist jedoch, ob der materielle Nutzen für die Freireiter besonders groß war : Ihr gegenüber den Kampfverbänden unbeweglicherer Tross wurde wiederholt zerschlagen und die geraubten Güter gingen verloren bzw. wurden von feindlichen Truppen erbeutet (1615 bei Orel, 1620 Enzersdorf bei Wien und 1623 in Schlesien). Auch dies erklärt die Gewalttätigkeit auch in den Winterlagern, denn die Gruppen verfügten vielfach im Februar oder März über keine Lebensmittel und Geldvorräte mehr. Den „Lisowczycy“ wurde immer – und nur hier sind sich die russischen, polnischen, schlesischen, böhmischen und deutschen Quellen ausnahmsweise einig – eine besondere Gewaltbereitschaft zugeschrieben. Was ist davon Zuschreibung, was ist begründ- und beweisbar? Zunächst muss klar gesagt werden, dass ihre besondere Struktur als irreguläre Hilfsverbände, als „Freireiter“, die nur zur Zeit der Kriegskampagnen sehr unregelmäßig bezahlt wurden und wiederholt über Jahre hinweg keinen Sold empfingen, die Kompanien besonders gewalttätig machte. Nur zum Vergleich: In dem Moskauer Feldzug Władysław IV. 1617/18 erhielten die Soldaten der Husareneinheiten pro Quartal 20 Dukaten, die Kosaken 15, die „Lisowczycy“ dagegen – nur sporadisch und oft mit großer Verspätung gezahlt – acht Dukaten. Die Gruppen mussten sich so aus dem Lande ernähren, ein Prozedere, dass sie bereits unter den harten klimatischen Bedingungen ihrer Streifzüge im Großfürstentum Moskau entwickelt hatten. Polnische Quellen sprechen davon, dass 39 Adam Freiherr zu Wolckenstein, Puncta, in polnischer Übersetzung in: Mosbach, Wiadomos´ci, S. 263.

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während dieser raids in Krankheitsfällen auch eigene Mannschaften nicht zurückgelassen, sondern aus Furcht, diese könnten etwas über Pläne und Marschrouten verraten, ebenfalls umgebracht worden seien. Lisowski selbst soll eigenhändig kranke Mitglieder der Kompanien umgebracht haben – so die gegenüber dem Anführer ansonsten nur ruhmreiche polnische Überlieferung.40 Solche Angaben sind kaum zu überprüfen, schürten jedoch um die Söldner eine Wahrnehmung von besonderer Brutalität.

5.

Bittschriften von Geschädigten und Selbstzeugnisse

Wir sind vor allem durch zwei Quellentypen über die Praktiken der polnischen Reiter informiert, einerseits durch ein spezifisches Selbstzeugnis aus den Reihen der Söldner selbst, und andererseits durch wiederholte Schadenslisten, Schadensersatzforderungen, Proteste und Supplikationen von Geschädigten – hier vor allem aus Polen und dem Reich, aus dem Großfürstentum Moskau sind solche Dokumente nicht bekannt. Ein mit dem Verband 1622 ins Reich ziehender Franziskaner, Wojciech Dembołe˛cki (1585 – 1645), verfasste 1623 zur Verteidigung des Gewaltverbandes die Verteidigungsschrift „Überlegenheit der polnischen Elearen, die einst Lisowczycy genannt wurden“, die bereits 1623 in Posen gedruckt, wiederholt neu aufgelegt und 2005 ediert wurde. Dembołe˛cki ist als Persönlichkeit notorisch und berüchtigt, denn er verbindet in seinen Publikationen einen aggressiven kämpferischen Katholizismus mit einem drastisch geäußerten Überlegenheitsgefühl aus der Position einer „auserwählten polnischen Nation“. Zudem findet sich bei ihm eine barocke Rhetorik mit einer zwar humoristisch verdeckten, aber doch immer wieder hervortretenden großsprecherischen Brutalität, vor denen er auch selbst in Taten wie in publizistischen Auseinandersetzungen nicht zurückschreckte.41 40 „[…] ni przed, ni za soba˛ / Zostawuja˛c nikogo, kto-li z swych choroba˛ / Lub strawiony niewczasem ustał za nim ke˛dy, / Scia˛ł go samz˙e“ [nicht vor, nicht hinter sich ließ er niemanden; wer auch immer, wegen seiner Krankheit, oder anderen Unpässlichkeiten zurückblieb, tötete er selbst], Twardowski (1649), zitiert nach: Wisner, Lisowczycy, S. 49. 41 Biografie: PSB 5, S. 80 – 82; Dembołe˛cki war ein Urenkel von Justus Ludovicus Decius. Literatur : Julian Bartoszewicz, Ksia˛dz Wojciech z Konojad Dembołe˛cki [Priester Wojciech D.], in: ders., Studia historyczne i literackie, Bd. 2, Krakûw 1881 [1854], S. 90 – 112; Maria Kochan´ska, Ksia˛dz Wojciech Dembołe˛cki z Konojad, in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Wrocławskiego, Seria A Prace literackie 1, 1956, S. 101 – 143; Zbigniew Ogonowski, Z dziejûw megalomanii narodowej [Aus der Geschichte nationaler Überheblichkeit], in: ders., Filozofia polityczna w Polsce XVII wieku i tradycje demokracji europejskiej, 2. erw. Aufl., Warszawa 1999, S. 192 – 208. Zuletzt beschäftigte sich mit Dembołe˛cki aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive heraus Radosław Sztyber, vgl. dessen Einleitung zu Dem-

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In Dembołeckis Darstellung wird beschrieben, wie die Gewaltgruppe die ortsansässige Bevölkerung, auch durch Drohungen und Folter, zwang, Wege und Verstecke zu zeigen. Solche bäuerlichen Helfer wurden dennoch wiederholt ermordet, nachdem sie ihre Schuldigkeit getan hatten.42 Noch häufiger rühmt Dembołe˛cki bei seiner Gewaltgruppe eine offene Brutalität insbesondere gegenüber Andersgläubigen: So hätten die Soldaten nach der Schlacht am Weißen Berg, „die Säbel vom Blut der Ketzer abgewischt und die Kehlen vom Staub des Weißen Bergs freigespült“.43 Zuvor hätten sie jedoch noch – bei der Eroberung der Stadt Prachatitz (tschech. Prachatice) gezwungen, auch abgesessen zu kämpfen – nach dem Sturm „unbarmherzig zum Schrecken anderer [die Bevölkerung] mit Stumpf und Stiel ausgerottet und niedergehauen, vom größten bis zum kleinsten Gliede, kein Geschlecht verschonend, eine solch große Grausamkeit, wie sie niemals vom kaiserlichen Volk verübt wurde.“44 Dembołe˛cki sieht in den Söldnern auserwählte Glaubenskrieger, den Makkabäern gleich. In dem neu von ihm kreierten, aber als programmatisch aufgefassten Begriff „Eleare“ stecke „El“ als älteste Bezeichnung Gottes, sowie das lateinische „electus“, die Söldner seien also „von Gott auserwählte Soldaten“.45 In göttlichem Dienste bekämpften sie die Ketzer und verdienten so Belohnung, aber keine Bestrafung. So kann in Kürze die Verteidigungslinie von Dembołe˛cki zusammengefasst werden, mit der er 1623 die Söldnerverbände zu rechtfertigen suchte. Dies fasste Dembołe˛cki mehrfach in – im Polnischen auch mnemotechnisch verwendbare – Merkverse: „Aller Welt sei gesagt, Dass diese Männer Auf der Welt das Gelobte Land suchen, Durch Meere und Einöden ermorden sie die Heiden, Gott selbst ist ihr Führer, der Herr über die Herren,

42 43 44 45

bołe˛cki, Przewagi, S. 1 – 154 (S. 152 – 154 Bibliographie) und die Monographie Piûrem, kropidłem i szczabła˛. Wojciecha Dembołe˛ckiego pisarska i kapelan´ska przygoda z lisowczykami (1619 – 1623). Studia i szkice [Mit Feder, Weihwasser und Schwert. Wojciecha Dembołe˛ckiegos schriftstellerisches und geistliches Abenteuer mit den Lisowczycy], Zielona/Gûra 2005. Eine Beschäftigung mit den Texten Dembołe˛ckis aus der Perspektive der historischen Gewaltforschung fehlt allerdings bisher. „Chłopa ´scie˛li“, Dembołe˛cki, Przewagi, S. 213. „szable ze krwi kacerskiej otarłszy, a gardła z kurzawy białogûrskiej opłukawszy“, ebd., S. 221. „miasto dostali i ono tak nielutos´ciwie dla postrachu drugim w pien´ od najwie˛tszego do najmniejszego, z˙adnej płci nie odpuszczaja˛c, wysieczono, iz˙ sie˛ na z˙adnym inszym miejscu tak wielkie okrucien´stwo nie stało od ludu cesarskiego.“ Ebd., S. 206. Ebd., S. 32 – 33; Radosław Sztyber, Dlaczego Dembołe˛cki „przerobił“ lisowczyka na eleara? [Warum arbeitete Dembołe˛cki die Lisowczcy in Elearen um?], in: Almanach Historycznoliteracki 1, 1998, S. 7 – 19.

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Und sie sein Volk und ihm untertan, Er selbst hat sie herangezogen.“46

Solche Texte wurden – wahrscheinlich ebenfalls von Dembołe˛cki, von dem auch musiktheoretische Schriften und Lieder überliefert sind – zu Zwecken einer positiven Selbstdarstellung vertont und zeitgenössisch gedruckt. Die „Lieder der ehrenhaften Lisowski-Kosaken oder die Niederlage der Tschechen und Calvinisten durch die Lisowczyken“ erschien 1620.47 Für alle Welt besungen wurde hier die Tapferkeit und der Wagemut der „ruhmreichen Ritter“. Im Druck beigefügt wurde weiterhin ein Epitaph für Aleksander Lisowski, in dem dessen ruhmreiche Taten vorgestellt und seine Nachfolger herausgestellt wurden.48 Die Zeugnisse der Opfer – darunter auch zahlreicher Katholiken – sprechen eine gänzlich andere Sprache, decken sich aber in manchen Beschreibungen durchaus mit den Täterberichten. So werden neben Plünderungen, Vergewaltigungen, Morden und physischer Gewalt vor allem immer wieder Entführungen beschrieben: Die Söldner hätten im Reich Bauernsöhne entführt, diese zu Pferdeknechten gemacht und sie dann in Gefechtssituationen Scheinattacken und vorgetäuschte Fluchtmanöver reiten lassen, hinter denen die tatsächlichen Kampfkompanien lauerten. Dieser Einsatz von „Kindersoldaten“ ist relativ gut belegt und wird von Dembołe˛cki selbst als eine angeblich kluge List seiner Elearen beschrieben. Zugleich nahm der Gewaltverband wiederholt Offiziere und Zivilisten gefangen, von denen man sich ein Lösegeld erhoffte. Solche Entführten und Geiseln wurden teilweise ausgetauscht, teilweise auch an andere Söldnerverbände abgegeben, die dann Lösegelder forderten.

6.

Maßnahmen zur Ausgrenzung und Auflösung der Verbände in Polen

In Polen-Litauen selbst standen die Söldner bereits seit 1619 vor allem in der Kritik der kleinpolnischen und rotreußischen adligen Öffentlichkeit. Öffentlich angeklagt wurden die Raubzüge und Überfälle insbesondere in den Winterla46 „Wszystek ´swiat powie, / Iz˙ ci me˛z˙owie / Szukaja˛ po ´swiecie ziemi obiecanej, / Przez morza i puszcze, morduja˛c pogany, / Sam Bûg im hetmanem, sam panem nad pany, / A oni lud jego i jemu oddany, / On sam ich s´ciany.“ Wisner, Lisowczycy, S. 111. 47 Pies´ni o cnych Lysowskich Kosakach. Abo pogrom Czeczûw y Kalwinistûw przez Lisowczyki [Lied über die tapferen Lisowski-Kosacken. Pogrom der Böhmen und Cavinisten durch die Lisowczycy], o. O. 1620. 48 Na pamia˛tke˛ nies´miertelna pułkownika K. I. M. niezwycie˛z˙onego, Iosepha Alexandra Lisowskiego [Zur Erinnerung an den unsterblichen und unbesiegten Oberst Joseph Alexander Lisowski]. Ebd.

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gern, dabei sei es – hauptsächlich im Falle von Widerstand und bei alkoholischen Exzessen – wiederholt zu Gewalttätigkeiten und Toten gekommen. Die Söldner wurden öffentlich als „schlimmer als Tataren“ bezeichnet, sie zögen „plündernd, brennend, verwüstend und mordend“ durch das Land.49 Aber es gab auch andere Reaktionen: Gegenüber den polnischen Adelseliten appellierten die „Lisowczycy“ wiederholt an eine adlige Solidarität und „Brüderschaft“. 1620, als die Gewaltgruppe aus Polen nach Schlesien verdrängt wurde, äußerte ein Anführer, Jarosz Kleczkowski, in einem Appell an den Adel: „Es ist wahrlich keine Neuigkeit, dass Ritter oder solche, die durch ihre Abstammung den Frieden nicht ertragen, sich mit dem Säbel ihr Brot verdienen, aber es ist seltsam, wenn Brüder, die Söhne einer Mutter, sich gegenseitig bemühen, sich das Leben schwer machen. In einem hungrigen Jahr verletzt ein Hund den anderen […]“.50

Rhetorische Appelle wie dieser, der in zahlreichen Abschriften überliefert ist, fanden durchaus ein Echo und führten dazu, dass es gerade unter dem Kleinadel – seltener unter dem wohlhabenden Adel, der die gewalttätigen Banden nicht als seinesgleichen wahrnahm – auch eine Solidarität mit den armen „adligen Brüdern“ gab. Dagegen forderten die kleinpolnischen Landtage, die vom wohlhabenden mittleren Adel und dem in seinen Gütern geschädigten Hochadel bestimmt waren, seit 1619 eine Auflösung und Beseitigung der Gewaltgruppe. Eine Rolle spielte auch die Wahrnehmung zahlreicher Kirchenplünderungen in Böhmen, aber auch anderswo, die neben den nichtkatholischen Abgeordneten auch die konfessionell gemäßigten Katholiken aufschreckte. Wir haben hier einen Mechanismus von adliger Öffentlichkeit, in dem die Proteste der Betroffenen und Geschädigten ein Forum erhielten, das auch vom königlichen Hof nicht ignoriert werden konnte, denn dies löste eine Verschärfung der Spannungen zwischen Hof und Adel aus. Das ist der Kommunikationsmechanismus, den die Vertreter der These einer „Staatsbürgergesellschaft“ im Auge haben, die selbstregulierend Gewaltphänomene ausschließe. Allerdings zeigte dieser Mechanismus zunächst zwischen 1608 und 1623 in ganz andere Richtungen Wirkung. Vor dem Hintergrund der Proteste und Schadensersatzforderungen wurde vom Wasahof zunächst der Weg eines Exports der Gewalt gewählt. Die Gewaltgemeinschaften sollten als Söldner abgeschoben und möglichst noch außenpolitisch in den Kriegen der Smuta oder im Dreißigjährigen Krieg nutzbar gemacht werden: Der Wasahof rechnete auf Erfolge gegenüber Moskau und die Dankbarkeit des verschwägerten habsburgi49 Wisner, Lisowczcy, S. 51; Lolo, Rzeczpospolita, S. 201 – 204. 50 „Nie nowina to wprawdzie, z˙e ludzie rycerscy, lubo to z przyrodzenia pokoju nie czerpia˛cy, chlebûw sobie dostawaja˛ szabla˛, ale to dziwna, gdy bracia, jednej matki synowie wzajem sie˛ znosic´ usiłuja˛. W głodny rok pies psa ka˛sa…“, Zitat nach Lolo, Rzeczpospolita, S. 111.

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schen Hofes, somit mit mittelfristigem politischen Nutzen. Zugleich konnten die Verbände im Bedarfsfall – so geschehen 1621 angesichts der osmanischen Bedrohung bei Chocim – zurückgerufen und zur Landesverteidigung eingesetzt werden. Diese Rechnung ging jedoch mittelfristig nicht auf: Die Freireiterverbände ließen sich nicht dauerhaft exportieren, sondern kehrten regelmäßig in den Wintermonaten in ihre Ausgangsbasen in Polen zurück. Raub und gewalttätige Konflikte griffen dort um sich, die öffentliche Meinung brachten besonders Überfälle auf Kirchen und Klöster – 1622 auf das Zisterzienserkloster in Szczyrzyk, 1623 auf das Frauenkloster in Trebnitz, 1625 auf das Kloster Neumark bei Löbau – gegen sie auf. Auch Plünderungen heimischer Kleinstädte verursachten erhebliche Schäden: 1622 wurden beim Anmarsch der Verbände in kaiserliche Dienste in Großpolen die Kleinstädte Koło und Radziejûw geplündert und angesteckt.51 Solche notorischen Fälle führten seit dem Winter 1622/23 zu einer Verschärfung der Resolutionen gegen die Verbände. Nach scharfen Voten der Landtage52 wurde im Februar 1623 eine Konstitution des polnisch-litauischen Reichstags gegen „eigenmächtige Banden“ (kupy swawolne) verabschiedet, die für vogelfrei erklärt wurden.53 Das reguläre polnische Heer ging im Frühjahr 1623 gegen die „Lisowczycy“ in Kleinpolen und in der Ukraine vor, die Landtage stellten weiterhin eigene Landes- und Kreiskompanien auf, die die Söldnertrupps bekämpften. Das war die Situation, in der Dembołe˛ckis oben erwähnte Verteidigungsschrift gedruckt wurde, die aber keine messbaren Wirkungen entfaltete. Eher im Gegenteil, die Feindschaft durch die polnische Umgebung wuchs. 1624 folgte ein bis dahin präzedenzloser und außergewöhnlich scharfer Reichstagsbeschluss zur „Heimatlichen Verteidigung gegen die eigenmächtigen Banden“, schon das Betreten polnischen Bodens „mit Fahnen und Kriegszeichen in Banden“ sollte nun bestraft werden. Zugleich versuchte der Beschluss auch die Solidarität innerhalb der Gewaltgruppe zu unterminieren, indem verkündet wurde, dass derjenige Vogelfreie, der einen anderen Vogelfreien töte, selbst wieder aus seinem rechtlosen Status befreit werde.54 Besonderes Aufsehen hatte zuvor ein 1623/24 von mehreren Söldnergruppen in Masowien und Podlachien angewandtes Prozedere erregt: Diese „begnügen sich nicht mit dem Diebstahl von Pferden, Geld, Vieh und Gütern, diese ent51 Wisner, Lisowczycy, S. 107. 52 Auszüge bei Lolo, Rzeczpospolita, S. 209 – 214. 53 Volumina legum [im Folgenden VL], Bd. 3, S. 448 – 450; zu den Diskussionen des Sejms in der Frage Lolo, Rzeczpospolita, S. 215 – 219. 54 „kto by był banitem a takiego zabił, eo ipso od banicji wollen be˛dzie“. VL, Bd. 3, S. 223 – 224; zur Genese Lolo, Rzeczpospolita, S. 237 – 240.

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führen Kinder von ihren Eltern und geben sie teilweise gegen Lösegeld frei oder führen sie ganz mit sich“.55 Hier wurden nun in der polnischen Heimat Verfahren zur Erpressung von Geldmitteln angewandt, welche die Gewaltgemeinschaft bereits auf dem Moskauer Territorium entwickelt und in ihren Einsätzen im Alten Reich perfektioniert hatten. Solche Entführungen und Lösegelderpressungen lösten aber zugleich massive Gegenreaktionen aus. Auch dies hatte zur Folge, dass die Kreisaufgebote in den einzelnen Regionen die Söldnergruppen immer stärker verfolgten. Am 3. Juni 1625 wurden in Krakau über 20 Söldner hingerichtet.56 Andere wurden einzeln aufgespürt und umgebracht. Stanisław Stroynowski (†1626), der Anführer während der Expedition in die Pfalz, wurde im Frühjahr 1626 in Pakosz in Großpolen wahrscheinlich durch Paweł Działyn´ski (1594 – 1643), damals Starost und später Wojewode von Pommerellen, gestellt und erschossen. Es ist unklar ob hier der vorherige Überfall auf das Kloster der Franziskaner-Reformaten in Neumark im Kulmer Land die Ursache für die Gewalttat war oder persönliche und finanzielle Motive eine Rolle spielten.57 Grundsätzlich gelang es den polnisch-litauischen ständischen Institutionen und Exekutivorganen in den frühen 1620er Jahren, in einer Phase, in der in Polen-Litauen nach mehreren Kriegen weitgehend Frieden herrschte, die beschriebene Gewaltgemeinschaft zu zerschlagen. Welche Rolle spielte hierbei die staatsbürgerliche, auf Partizipation ausgerichtete Struktur des Reichsverbands? Grundsätzlich hatten die Landtage und der Reichstag einen Anteil an einer öffentlichen Willensbildung, welche die Gewaltexzesse verurteilte. Der zunächst betriebene Export von Gewalt in die umliegenden Staaten ging in erster Linie vom Königshof und militärischen Instanzen aus, die das Kapital der Söldnerbanden in politische Erfolge oder in ein bei Bedarf zur Verfügung stehendes kostenloses militärisches Potential ummünzen wollten. Die Landtage und die ständische Öffentlichkeit sahen dagegen vor allem die inneren Schäden und die eigenen Verluste, die durch die Gewaltgemeinschaft verursacht wurden und griffen deshalb zu bewaffneten Gegenmaßnahmen und Repressionen (Exekutionen, Tötung für vogelfrei erklärter Personen). Allerdings spielte sich der ganze Prozess in einer Friedensperiode ab, in der die strukturelle Kriegsfurcht der Eliten deutlich zum Ausdruck kam. Unter anderen Rahmenbedingungen – etwa dem andauernden Kriegszustand wie er im Reich oder in Polen-Litauen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts 55 „Nie kontentuja˛c sie˛ kon´mi, pienie˛dzmi, bydłem, fantami, ci biora˛ dzieci od rodzicûw i okupywac´ je kaz˙a˛, a drugie ze soba˛ uwoz˙a˛“. Wisner, Lisowczycy, S. 130. 56 Ebd., S. 131. 57 Magnuszewski, Z dziejûw elearûw, S. 101 – 119.

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herrschte – hätte eine Befriedung erheblich größere Probleme aufgeworfen oder wäre gescheitert. Insgesamt sind die „polnischen Freireiter“ die militanteste Gewaltgruppe, welche die polnisch-litauische Gesellschaft in der Frühen Neuzeit hervorbrachte. Zu ihrer Militanz trugen einerseits die Rahmenbedingungen (fehlender Sold, Ernährung nur aus dem Lande), aber andererseits auch die konfessionelle Frontstellung gegenüber orthodoxen Bevölkerungen im Moskauer Reich und Protestanten im Alten Reich und in Ungarn bei. Allein auf Beute angewiesen, beruhten die Erfolge der Gewaltgruppe insbesondere auf ihrer Schnelligkeit. In dem Moment, in dem sie die Gewaltpraktiken jedoch auch in den Winterlagern gegenüber der einheimischen Bevölkerung fortsetzten, verloren sie vor Ort ihren Rückhalt und konnten in Polen-Litauen unter den Bedingungen eines inneren Friedens erfolgreich bekämpft werden.

Robert I. Frost

The Death of Military Culture? The Citizen Army and the Military Failure of the Polish-Lithuanian Commonwealth 1648 – 1717

“What a world, what a world! Menacing, wild, murderous. A world of oppression and violence. A world without authority, without government, without order and without compassion. Blood was cheaper than wine; a human being cheaper than a horse. Whomsoever the Tatar did not kill the ruffian killed; whomsoever the ruffian did not kill, his neighbour killed. A world in which it was hard to be virtuous; to keep the peace unlikely.”1

With these dramatic words, Władysław Łozin´ski opened Prawem i Lewem, his classic account of noble life in the palatinate of Ruthenia in the early modern period. His title was ironic, playing on the ambiguity of the words prawo, which means both ‘right’ and ‘the law’, and lewo, which means ‘left’, but actions committed ‘na lewo’ or ‘lewem’ are illicit or illegal. Łozin´ski used the local court books, the akta grodzkie i ziemskie, primarily of Przemys´l in what is today southeastern Poland, to recount in coruscating detail the crimes and misdemeanours of the Ruthenian szlachta (nobility). The book was first published in 1903, 108 years after the disappearance of the Polish-Lithuanian Commonwealth from the map of Europe, and reflected the mixture of pride felt by contemporary Poles in the szlachta’s fiercely independent spirit and love of liberty, and the recognition that it was the failure to build a powerful central state that had left the Commonwealth open to dismemberment by its neighbours. This view was most energetically presented by Michał Bobrzyn´ski (1849 – 1935), whose astringent suggestion in his 1879 Dzieje Polski w zarysie (An outline history of Poland) that the great national disaster should not be blamed primarily on the rapacious partitioning powers, but on the szlachta’s anarchic spirit 1 ‘Co za s´wiat, co za s´wiat! Groz´ny, dziki, zabûjczy. S´wiat ucisku i przemocy. S´wiat bez władzy, bez rza˛du, bez ładu i bez miłosierdzia. Krew w nim tan´sza od wina, człowiek tan´szy od konia. S´wiat, w ktûrym łatwo zabic´, trudno nie byc´ zabitym. Kogo nie zabił Tatarzyn, tego zabił opryszek, kogo nie zabił opryszek, zabił go sa˛siad. S´wiat, w ktûrym cnotliwym byc´ trudno, spokojnym nie podobna.’ Władysław Łozin´ski, Prawem i lewem. Obyczaje na Czerwonej Rusi w pierwszej połowie XVII wieku [By the law and against the law. Customs in Red Ruthenia in the first half of the seventeenth century], 2 vols., 5th ed., Cracow 1957 [1903], I, 3.

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and suspicion of authority was controversial in Polish intellectual circles, more attuned to the ideas of historians presenting the szlachta’s love of liberty and suspicion of authority in more positive terms. Łozin´ski tended more to the Bobrzyn´s´ki view, and although Prawem i lewem was strongly criticised on its publication, its vivid style and picaresque tales rapidly won a large readership.2 The image of the early modern Polish-Lithuanian Commonwealth as an anarchic and dysfunctional polity has certainly been well entrenched among foreign historians for years. If the master narrative of early modern political history remains the story of state-building, then most general accounts of European history pay little attention to Poland-Lithuania; where they do, the Commonwealth is frequently presented without any great attempt to understand why or how it should have failed to follow the route taken by the majority of states after 1450. Textbooks tend to fall back on the idea of a selfish nobility looking after its class interests that was traditional among some Polish historians long before it was institutionalised in the Communist period. Historians are often content merely to note that by the eighteenth century, Poland-Lithuania had been reduced to what a distinguished British historian of the Commonwealth terms ‘an almost Hobbesian state of anarchy’.3 Yet, as Gottfried Schramm, the distinguished German historian of Poland-Lithuania has pointed out, it was only after the mid-seventeenth century that a steep decline set in; up to then, the Commonwealth had seemed to be powerful enough: “Es mag manchem so scheinen, als habe Polen schon sehr rasch die Quittung dafür bekommen […] daß hier das Werk der Staatsintegration gleichsam den Fürsten weggenommen wurde, die eigentlich dafür prädestiniert waren. Denn im 17. Jahrhundert fiel das polnisch-litauische Ständewesen in einen extrem anmutenden Regionalismus zurück. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts stellte sich das Reich, das um 1600 noch so mächtig dagestanden hatte, vollends als ein Gewirr von ehrgeizlosen Duodezstaaten dar, deren Kraft, gemeinsam zu handeln, auf einen kläglichen Rest zusammengeschmolzen war.”4

2 See the critical review by Adam Szela˛gowski, in: Kwartalnik Historyczny XVIII, 1904. Prawem i lewem was on its sixth edition by 1973; A less racy account of life in the old Commonwealth, Z˙ycie polskie w dawnych wiekach [Polish life in past centuries], 1907, had clocked up no fewer than fourteen: Antoni Knot, ‘Władysław Łozin´ski (1843 – 1913)’, in: Polski Słownik Biograficzny [The Polish Biographical Dictionary] XVIII, Cracow 1973, p. 462. 3 Jerzy T. Łukowski, Liberty’s folly. The Polish-Lithuanian Commonwealth in the eighteenth century, London 1991, p. 266. 4 Gottfried Schramm, ‘Staatseinheit und Regionalismus in Polen-Litauen (15.–17. Jahrhundert)’ (Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte, 11), 1966, p. 8.

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1.

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Military Culture

In this paper I wish to take up Schramm’s point, and explore this problem through looking at the relationship between the state, the army, and szlachta society in the Commonwealth, mostly in the second half of the seventeenth century. For, ever since Bodin formulated his controversial doctrine that sovereignty was indivisible and Hobbes claimed that it was necessary to submit to the sovereign to prevent the war of all against all, the notion of the state’s monopoly of the legitimate use of violence has been central to definitions of the modern state. Whether or not they accept the theory of the Military Revolution as proposed by Michael Roberts and Geoffrey Parker, historians have charted the emergence across Europe of John Brewer’s fiscal-military state, with an increasingly effective centralised administration, the efficient mobilisation of resources, both human and financial, the development of a permanent military establishment, and the waging of new kinds of warfare in which only the state could mobilise resources on a sufficient scale, afford the ever more sophisticated weaponry required for the effective waging of war, and construct the new navies and artillery fortifications which were required. In recent years, historians have questioned overly simplistic views of the supposedly absolute states of early modern Europe, pointing out that they were far from the rational, efficient, coercive machines as which they had traditionally been presented; nevertheless, even critics of the model accept, on the whole, that crucial changes in the relationship between war, state and society did take place, if the emphasis is now placed more on the social compromises rulers had to make to achieve their ends. In the words of the late Jan Glete: “The state developed from an arena for political interaction and a source of legitimacy for socio-economic forces into an articulated and centralised organisation with both an apparatus for resource extraction and a capability to use armed force independently of the local power-structures in society. This transformation was the result of innovative and entrepreneurial activities by rulers, elites and men with ambitions to join the elite. The fiscal-military states were not independent of surrounding societies, but they had become new and coherent power-structures of their own with resources controlled by central power-holders.”5

These new fiscal-military states were not ‘inherently oppressive’ institutions according to Glete; neither were they simple reconfigurations of the medieval system of cooperation between rulers and elites, but a complex organisation, ‘a

5 Jan Glete, War and the state in early modern Europe. Spain, the Dutch Republic and Sweden as fiscal-military states, 1500 – 1600, London/New York 2002, p. 2.

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new type of social system with a dynamic and logic of its own, and with a remarkable potential for growth’.6 It is this interaction of society with the developing military systems of early modern Europe which has increasingly fascinated historians since Otto Büsch’s pioneering work on what he termed the ‘social militarisation of Prusso-German society’.7 While Büsch focused largely on the structural level, analysing the changing relationship between peasant society and the new fiscal-military state, historians have more recently been interested in the cultural impact of war, and in the role of what might broadly be termed ‘military culture’ in the formation of broader social attitudes in states where an increasing proportion of society had direct experience of military service or indirect contact with the military.8 European nobles were particularly affected by the changes. If historians initially focused on the apparent crushing by the state of the independent military capacity of the nobility – Richelieu’s famous demolition of noble castles in France during the 1620s and 1630s is the definitive example – it was increasingly recognised that the burgeoning new armies of the early modern period represented great opportunities for nobles to perform roles which matched their view of themselves as a military caste whose social privileges were justified by their obligation to defend the realm. If this saw the emergence in France and, to an extent in Britain, a symbiotic relationship between nobles and the crown in the development of a standing army in which nobles owned, bought and sold regiments and, in practice, bore part of the cost of maintaining and equipping them, in northern, central and eastern Europe, the service ethic of the nobility was coopted into the creation of military states whose armies were run by officer corps largely dominated by nobles – almost exclusively so in the case of Frederician Prussia. The hierarchical values of the nobility were institutionalised in the officer corps: explicitly so with the development of tables of ranks in the eighteenth century. Within these new armies, noble officers exercised the roles of 6 Ibid. 7 Michael Roberts, ‘The military revolution, 1550 – 1660’, in: id., Essays in Swedish history, Minneapolis 1997; Geoffrey Parker, The military revolution. Military innovation and the rise of the West 1500 – 1800, Cambridge 1988; Otto Büsch, Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713 – 1807. Die Anfänge der sozialen Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft, Berlin 1962. 8 See, for example, the essays in Horst Lademacher / Simon Groenveld (eds.), Krieg und Kultur. Die Rezeption von Krieg und Frieden in der Niederländischen Republik und im Deutschen Reich 1568 – 1648, Münster 1998. For the debate on the militarisation of Swedish society in the eighteenth century following the creation of the Swedish military state, see Björn Asker, ‘Militärstat eller militariserat samhälle. Synpunkter p” det karolinska Sverige med anledning av en aktuel debatt’ [Military state or militarised society? Views of Caroline Sweden with regard to an actual debate], in: Historisk Tidskrift 1987; and ‘æter om det karolinska samhällets “militarisering”’ [Once more on ‘militarisation’ of Caroline society], in: Historisk Tidskrift 1988, pp. 70 – 4.

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command over common soldiers and non-commissioned officers in a microcosm of the sort of society they felt was both natural and divinely-ordained. Yet in the noble-dominated Polish-Lithuanian Commonwealth, this transformation apparently did not take place. If the Commonwealth’s military system seemed to hold its own down to the middle of the seventeenth century, as Schramm suggests, thereafter it struggled to cope with the series of wars unleashed by the great Cossack revolt of 1648 – 54. It was to experience barely ten years of peace until the end of the Great Northern War in 1721.9 So what happened? Did Poland-Lithuania experience the sort of decline of military culture which Gregory Hanlon has detected in Italy in the course of the seventeenth century?10 For writers of textbook accounts of European history, the answer seems straightforward. It is usually suggested that the Commonwealth’s defensive system was obsolete by 1650, relying, as it supposedly did, upon the pospolite ruszenie, the general levy of the szlachta that had long been inadequate for the demands of modern warfare. While the Commonwealth had recruited professional troops in time of need since the fourteenth century, and while the Kingdom of Poland had from the mid-sixteenth century maintained a small permanent force of 4,000 on its south-eastern frontier, this quarter army, as it was called on account of the way it was paid, was far smaller than the standing armies of its neighbours.11 Moreover, even when professional troops were raised, they were overwhelmingly composed of cavalry. If cavalry was still of use in the steppe warfare conducted against the Tatars in the southeast, it was increasingly ineffective in the modern warfare conducted by the Commonwealth’s enemies. This fact was brutally demonstrated in the Great Northern War, when, between 1700 and 1709, Swedish, Russian and Saxon forces fought with impunity across the Commonwealth, and Polish-Lithuanian forces were reduced to little more than an auxiliary role. Finally, during the war the Commonwealth’s inferior status was institutionalised by the notorious ‘Silent Sejm’, which, although it finally agreed a standing army and the permanent taxation to support it, the army was, at a paper strength of 18,000 for Poland and 6,000 for Lithuania, 9 Though the Commonwealth was not party to the various treaties that ended that conflict between 1719 and 1721; it only formally made peace with Sweden in 1732: Jacek Staszewski, ‘Z listy najcze˛´sciej spotykanych błe˛dnych mnieman´ na temat czasûw saskich’ [From the list of the most frequent erroneous statements concerning the Saxon era], in: Przegla˛d Humanistyczny 1, 1996, p. 159. 10 Gregory Hanlon, The twilight of a military tradition. Italian aristocrats and European conflicts, 1560 – 1800, London 1998. It should be pointed out, however, that, as Hanlon freely admits, his book is more suggestive than conclusive: it deals more with the declining numbers of Italian nobles serving than with the causes and consequences of that phenomenon: see pp. 356 – 8. 11 The term ‘quarter army’ (wojsko kwarciane) was derived from the fact that it was paid from a quarter gross – in reality a fifth net – of the income of royal estates leased out to nobles.

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wholly insignificant in comparison with those of its neighbours and rivals, especially considering that its actual size was nearer 12,000 for Poland and 4,000 for Lithuania. In this paper I shall argue that not all was at it seems, and that despite the undoubted shortcomings of the Polish-Lithuanian military effort after 1648, a strong and viable military culture was kept alive, and that the szlachta did not abandon the military values which seized such a grip upon other European nobilities; indeed, Poland-Lithuania remained in some respects a highly militarised society, though a very different one from Caroline Sweden or Frederician Prussia.

2.

The battle of Piławce: the failure of the Citizen Army

I would like to begin by citing another of Schramm’s observations which is of particular relevance in contemplating the Commonwealth’s military culture: “Es ist in der Tat zu fragen, ob der polnische Adelsstaat nicht auch positivere Entwicklungsmöglichkeiten in sich barg. Er sollte nicht immer nur nach der Elle der Staaten gemessen werden, die schon im 16. Jahrhundert dem Absolutismus zustrebten, sondern nach seinem eigenen Maß.”12

For, if Poland-Lithuania was undoubtedly a state in an institutional sense, it was, for its citizens also, and more importantly, a Res Publica – Rzeczpospolita in Polish – a Commonwealth, to use the contemporary English translation. Its military system was therefore based on different principles, and ought to be judged on its own terms. For all that a succession of Polish monarchs tried to follow general European patterns, drawing on their formal position as commander-in-chief of the Commonwealths armies, in the Rzeczpospolita the monarch, though one of the three estates which constituted the political system, was explicitly subordinate to the citizen body that elected him and could not raise the necessary taxation for war without the consent of the Sejm, the Polish-Lithuanian Diet. In PolandLithuania, as elsewhere, the king issued listy przypowiedne, official letters authorizing the establishment of new military units, but even the regular army was not a royal, or even a state army, but a force of citizens whose primary loyalty was to the community of citizens, the Res Publica. The problems inherent in such a system were demonstrated only too clearly in 1648, on the outbreak of the massive Cossack revolt in the Ukraine led by Bohdan Khmelnytsky, when king Władysław IV died unexpectedly on 20 May, four days after a force of Cossack 12 Schramm, ‘Staatseinheit’, p. 8.

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rebels had destroyed a small Polish force at the battle of Zhovti Vody. Less than a week after the king’s death, the core of the Polish regular army was overwhelmed at Korsun. The two catastrophic defeats were the result of the foolish decision of the incompetent alcoholic grand hetman Mikołaj Potocki and his equally incompetent field hetman, Marcin Kalinowski, to divide the small Crown army, which was already substantially outnumbered by the rebel forces. Their capture at Korsun meant that at its moment of greatest danger Poland was deprived of its supreme commander, the king, its high command, and many of its most experienced soldiers. What happened next is often used to demonstrate the disfunctionality of the Commonwealth’s military system. The interrex was the seventy-year-old archbishop of Gniezno, Maciej Łubien´ski, who was weakened by illness, but managed to convoke the Convocation Sejm to assemble on 16 July,13 with the pre-Sejm sejmiki gathering on 25 June. Yet something had to be done much more quickly. Łubien´ski, following the lead of grand chancellor Jerzy Ossolin´ski, came to Warsaw to meet a hurriedly-assembled convocation of notables consisting of senators and some szlachta representatives, mostly from Mazovia, the province in which Warsaw was situated. This body agreed to Ossolin´ski’s proposal to appoint three temporary commanders (regimentarze) to co-ordinate the military effort while the hetmans were incapacitated: the indolent Władysław Dominik Zasławski, who, according to Ludwik Kubala, was ‘the greatest but the stupidest magnate in the Commonwealth’; Mikołaj Ostrorûg, a learned man and a good politician, but without military experience; and Aleksander Koniecpolski, son of the Stanisław, one of Poland’s greatest commanders, who had fought Gustav Adolf in the 1620s with considerable success; Alexander was a competent enough soldier but at age 28 too inexperienced to command the necessary respect from the army.14 Although many envoys to the Convocation Sejm in July condemned the appointments, the Sejm was finally persuaded to accept them, but to pacify the critics it insisted on appointing no fewer than thirty-two military commissars to accompany them on campaign. This bickering caravanserai moved southeast in August at the head of a considerable force composed of the royal guard, units raised by the sejmiki, the so-called ‘district companies’ (‘chora˛gwie powiatowe’) and substantial contingents of private 13 A Convocation Sejm was the first of the three involved in the cumbersome process of electing a new monarch. The Convocation Sejm, summoned by the primate as Interrex, discussed the forthcoming election, dealt with any matters which required attention, and scrutinised the previous reign for any problems or abuses of power by the monarch which needed to be dealt with through new stipulations in the Pacta Conventa for the new monarch. The Convocation Sejm was followed by an election Sejm, and then a Coronation Sejm in Cracow, at which the king formally took office, after swearing to uphold his Pacta Conventa. 14 Ludwik Kubala, Jerzy Ossolin´ski, 2nd ed., Lwûw 1924, pp. 271 – 2.

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troops, many of them provided by Wis´niowiecki, who finally merged his forces with the main army. It was not long before disaster struck. The inevitable quarrels among the commanders and between the commanders and the commissars were exacerbated by the quarrelsome district companies, whose pay had been set at different levels by the sejmiki. Numerous accounts complained about a complete lack of discipline as the unwieldy army lurched towards the Cossack position at Piławce (Pyliavtsi), where the advance guard encamped in a poor strategic position. After several days of desultory skirmishing, the news that the Crimean Tatar horde had joined the Cossack forces led to gradually mounting panic until, on the night of the 23/24 September NS, amidst rumours that the commanders had left the camp, units began withdrawing en masse; within a few hours, an army of some 30,000 men disintegrated into panic-stricken flight without any serious fighting having taken place. The astonished Cossacks marvelled the next day at the stunning wealth left behind; richly-caparisoned tents were stuffed with gold, jewellery and sumptuous clothing; the Poles had expected to overawe the Cossacks and force a surrender or reach an agreement without any serious fighting.15 The aftermath of the Piławce catastrophe unleashed a bout of nasty recrimination and bitter arguments about who was to blame. Historians have often used the disaster as an example of the Commonwealth’s disorganisation and military incapacity. Nevertheless, while Piławce was undoubtedly embarrassing, in many respects the campaign demonstrates that, despite the vastly unpropitious circumstances, the Commonwealth was capable of responding relatively quickly to a military challenge and could raise a substantial army virtually from scratch. What was lacking at Piławce was the sort of leadership which was usually supplied by the experienced commanders and troops of the quarter army : as Kubala wrily notes, with the appointment of three regimentarze and thirty-two commissioners, thirty-five commanders were created, which was enough to lose not one but thirty-five battles.16 Piławce was therefore in many ways a political rather than a military disaster. Among the commanders and the commissioners were, in fact, several figures with military experience and ability, including Jarema Wis´niowiecki; Stanisław Potocki, a highly experienced soldier later to be raised to the hetmanship; Jerzy Sebastian Lubomirski, later Crown field hetman and a man of considerable military talent who in 1660 was to mastermind the crushing of the Muscovite 15 Ibid, pp. 281 – 300; Mykhailo Hrushevsky, History of Ukraine-Rus’, vol. 8: The Cossack Age, 1626 – 1650. Ed. by Frank E. Sysyn and tr. by Marta Dania Onyk, Edmonton/Toronto 2002, pp. 468 – 76. 16 Kubala, Jerzy Ossolin´ski, p. 298.

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army at Cudnûw; Wincenty Korwin Gosiewski, later Lithuanian field hetman; and Krzysztof Arciszewski, who had served in the Dutch army and whose military skill had led to him being appointed governor of Brazil; he was later to serve the Commonwealth as Crown general of artillery.17 The basic problem was a lack of agreement over the purpose of the military expedition, reflecting the profound divisions among the political elite which, following the death of the king, and the lack of a firm lead from the ailing Łubien´ski, could not be resolved. Jerzy Ossolin´ski, as chancellor, attempted to seize control of the situation, but his powers had technically lapsed on the death of the monarch and he was deeply unpopular among wide sections of the szlachta, which meant he was unable to win over the Sejm. While Wis´niowiecki was the obvious man to lead a purely military expedition, he was the leading landlord in the Ukraine, who had enserfed thousands in the preceding decade, he was the leading advocate of crushing the rebellion by force, and had a significant reputation for cruelty ; if given his head, he might make a peaceful settlement impossible for years to come. Ossolin´ski, supported by the Orthodox magnate Adam Kisiel, one of the thirty-five commissioners, represented a substantial group that favoured negotiations backed by a show of force which was not meant to result in any major military engagement. Thus the leadership of the army that marched to Piławce was fatally divided with regard to the purpose of the expedition, and it is this factor rather than the supposedly cowardly actions of the district companies that was to blame for its shameful dispersal.18 Piławce was thus the result of a peculiarly unfortunate set of circumstances rather than some fatal flaw in the Commonwealth’s military system; there are plenty of examples of similar disasters befalling the professional armies of the post military revolution world. The Commonwealth faced serious problems in 1648, but this was a military system which had, largely successfully, met the military challenges it had faced over the previous century. For, as I have argued elsewhere, the Commonwealth’s decentralised political system proved eminently capable from the second half of the sixteenth century of meeting the challenge of modern warfare. Between 1558 and 1634 it fought continuously for over 50 out of 72 years, and that is not counting various Cossack rebellions, the continuous threat of raids from the Crimean Tatars and some dubious freelance adventures in Moldavia and Wallachia. In this period, Polish armies captured Stockholm (1598) and Moscow (1610), which they held for two years longer than 17 Ibid. 18 In the absence of the Crown Hetmans, it would normally be the Lithuanian hetmans who stepped into the breach, as had happened at Khotyn in 1621 following the death of Stanisław Z˙ûłkiewski at Cecora the year before. In 1648, however, the Lithuanian grand hetman, Janusz Kiszka, was old and incapable of fulfilling his duties, while the field hetman, Janusz Radziwiłł, was a Calvinist whom many among the Polish elites did not trust.

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Napoleon managed; they returned to besiege it again in 1617 – 18. Crushing defeats were inflicted on the Swedes at Kircholm (1605) and on a combined Swedish-Muscovite army at Klushino (1610), while a huge Ottoman army was repulsed at Khotyn in 1621. The Commonwealth’s decentralised, consensual political system proved itself capable of raising considerable sums of money and substantial armies: Stefan Batory mobilised over 50,000 men in the summer of 1579 at the start of his three great campaigns against Ivan the Terrible, which saw the recapture of Połock, the capture of Ushviat and Velizh, and the five-month siege of Pskov in 1581 – 2 that forced Ivan to make a humiliating peace at Iam Zapolskii. Even more men were mobilised for the Khotyn campaign of 1621, especially if up to 40,000 Zaporozhian Cossacks are taken into consideration. Gustav Adolf was beaten off and outmanoeuvred by Stanisław Koniecpolski in Royal Prussia in 1626 – 9; the Muscovites were comprehensively defeated in 1634 outside the walls of Smolensk at the same time that a Turkish invasion was repulsed in the Ukraine. The Sejm agreed the funds to finance it: 12,000,000 złoties between 1626 and 1629 to repel Gustav Adolf, over 1 million pounds sterling at contemporary rates; the Commonwealth’s performance was rather more impressive than that of Stuart Britain, or of anybody else who faced Gustav Adolf in his prime.19 To understand how these feats were achieved, we need to cast aside the assumption that only a centralised Machtstaat backed by a large standing army could be efficient. Much is often made of the relatively small size of the Commonwealth’s armies. If this was certainly a major problem by the early eighteenth century, it was not so apparent a hundred years earlier. While PolandLithuania certainly maintained very few permanent troops – the 3 – 4,000 in the quarter army, including only 1,000 infantry, to patrol the south-eastern borders, a small royal guard and the registered Zaporozhian Cossacks, cut to 6,000 men after 1637 – its military capacity was not limited to these permanent troops. It was crucially dependent on a number of ways of raising additional troops quickly, troops, moreover, who often had considerable military experience. For if the military system remained decentralised, it drew on a considerable reservoir of such men. If the Cossack register was limited in size, to keep the state’s outgoings low, there was a substantial number of unregistered Cossacks (as 1648 was to show) who could fight, and fight well; their experience of both land and naval warfare in the constant campaigns against the Ottoman lands of the late sixteenth and early seventeenth centuries was hard won: there were Cossack forces of up to 40,000 at Khotyn in 1621 and 20,000 in the 1634 Smolensk campaign; most of them were infantry soldiers who, foreign observers agreed, 19 Robert I. Frost, The northern wars. War, state and society in Eastern and Northern Europe, 1558 – 1721, Harlow 2000, p. 150 – 1.

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were peculiarly effective in the rather different conditions of east-European warfare. Although the quarter army was a permanent force, the nucleus of longserving soldiers at its heart was relatively small. The normal pattern was for young noblemen to serve for one or two campaigning seasons as part of their education as citizens before they returned to civilian life. In time of need, however, they could mobilise swiftly and their military experience explains why Polish cavalry units could be raised so rapidly, and why they were so effective once raised: these men had served in a harsh theatre of war : even in time of peace they did not sit in barracks playing dice, but were likely to be chasing Tatars across the Ukrainian steppe, not an occupation for the faint of heart. In time of need, this reservoir of experienced soldiers was drawn on by both local sejmiki and by private recruiters, who were often, but not invariably, great magnates. In general, historians have dismissed the district companies and the so-called private armies as symptoms of the decentralist forces which are taken to have fatally weakened the Commonwealth, and as symbols of the opposition of the szlachta to state-building and central authority. There is, however, another way of looking at both these phenomena. For the szlachta was not opposed to a strong state; it was opposed to a powerful, or at least an absolute monarchy. It was perfectly aware of the need for substantial military forces to defend the Commonwealth; its preference, however, was for decentralised defence, based in the localities, rather than the centre. Dariusz Kupisz’s recent and comprehensive study of district companies in Małopolska and Red Ruthenia (the latter being the area studied by Łozin´ski) has done much to explain and rehabilitate the efforts of local sejmiki to raise military forces. This phenomenon became widespread after Sigismund III’s intervention in Muscovy’s Time of Troubles at the start of the seventeenth century, which was undertaken without the Commonwealth’s formal consent. At one level this resulted in the 1611 Sejm passing a law banning the monarch from declaring war without Sejm agreement; at another, it resulted in many sejmiki expressing a strong preference for raising and paying units directly, with the necessary taxes remaining under the control of the local sejmik rather than being sent to the central treasury in Warsaw. The first substantial recruitment of these local units came in the reign of Stefan Batory, but the movement gathered force after 1611. The 1613 Sejm passed legislation allowing sejmiki to appoint their own rotmistrze (captains), with the monarch only subsequently issuing the necessary listy przypowiedne; in 1619, after fierce resistance from Sigismund III, this principle was altered to allow the monarch to nominate one name from among three provided by the sejmik.20

20 Dariusz Kupisz, Wojska powiatowe samorza˛dûw Małopolski i Rusi Czerwonej w latach

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3.

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The sejmiki and the Army

Historians have tended to take Sigismund’s view of the situation, and to condemn these moves as important steps on the path to decentralisation and the ‘rule of the sejmiki’ which is taken to epitomise Polish anarchy, and to which the decisions of the Silent Sejm in 1717 put an end. Yet the example of the Holy Roman Empire, where the 1635 Peace of Prague successfully restored civilian control to the army by reviving the power of the Kriestage over the military, should give us pause for thought.21 For the concept of local responsibility for raising contingents for the army made a great deal of sense in such a vast state, where, particularly in the southeast which was vulnerable to constant Tatar raids, rapidity of response was often of crucial importance. It also made a great deal of sense to allow local authorities to become the primary focus of military organisation. Historians, captivated by the centralised state as the only model of modernisation, and seduced by the convenience of working in one centralised archive rather than scuttling round the country to visit a series of local archives, have tended to present the Commonwealth’s defensive capacity purely in terms of the centrally-organised army, and to dismiss the local units. Yet Kupisz’s work shows that their military contribution was by no means negligible: between 1648 and 1717, the sejmiki of Sanok and Przemys´l agreed to form – and voted taxes for – district companies on no fewer than 54 and 44 occasions respectively.22 The local szlachta were willing to vote the necessary taxes to pay for these units; indeed they could be generous: in 1634, facing the prospect of a Turkish invasion, the grand chancellor of Lithuania, Albrycht Stanisław Radziwiłł reported that while he was in Volhynia: “So great a zeal for the conservation of liberty arose that […] within six weeks money for […] 400 hussars and 600 light cavalry for half a year was raised. Other districts, fired by fortunate jealousy and rivalry, tried to do the same.”23

To raise such a force required a considerable amount of money, especially since the sejmiki tended to pay higher rates than the Crown army : in 1648, the Lublin sejmik was paying its hussars 80 złoties per quarter, which was just under double what the state paid (41 złoties), while for much of the second half of the seventeenth century, rotmistrze of pancerna cavalry were paid up to an astonishing 1572 – 1717 [The district armies of local authorities in Little Poland and Red Ruthenia in the years 1572 – 1717], Lublin 2008, pp. 88 – 9. 21 Hubert Salm, Armeefinanzierung im Dreissigjährigen Krieg. Der Niederrheinisch-Westfälische Reichskreis 1635 – 1650 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte, 16), Münster 1990, pp. 164 – 76. 22 Kupisz, Wojska powiatowe, p. 86. 23 Albrycht Stanisław Radziwiłł, Memoriale rerum gestarum in Polonia [Memoirs concerning events in Poland]. Ed. by Adam Przybos´ / Roman Z˙elewski, Wrocław 1970, tom II, p. 30.

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ten times more than their equivalents in state service.24 In part this tendency is explained by the competition between sejmiki upon which Radziwiłł comments: in a community of citizens, local bodies would compete with each other to secure the best troops and officers, and to demonstrate the greatest patriotism. The problem was that sejmiki would usually only engage their forces for a single quarter at a time, which was another reason for the higher pay : the state paid less, but would engage soldiers for a longer period, giving them in principle more security, even if its frequent inability to raise the necessary taxation, especially after 1648, meant that they often did not receive the pay they were due. Thus the district companies could and did make a substantial contribution to the Commonwealth’s military effort; indeed, the force raised by the sejmiki in 1648 for the Piławce campaign was 15,860 strong, composed of 11,600 cavalry and 4,260 infantry and dragoons, a substantial force in the circumstances which, nota bene, took some account of the need for infantry and dragoons in modern warfare.25 They, rather than the noble levy, which was called out rarely, ensured that the Commonwealth was capable of raising rather more troops than many estimates, based on central records, usually allow: the district companies are often absent from the figures painstakingly put together by Polish historians. Thus even Jan Wimmer, one of Poland’s most distinguished military historians, simply omitted expenditure on the district companies from his figures for the 1648 – 9 campaign on the grounds that there were too many gaps in the record. Yet, as Kupisz demonstrates, at least up until 1648, the sejmiki gathered funds for the units they raised, and, on the whole, payed them punctually.26 This was more than the central state treasury could usually manage, and while undoubtedly suspicion about the motives of the royal government played an important part in the reluctance of many sejmiki to send their taxes to Warsaw or Vilnius, the efficiency of a system in which money was paid directly to units by the local bodies which collected the taxes was notable; it might not have taken much for the Commonwealth, on this basis, to establish the sort of system that had emerged in Sweden by the end of the seventeenth century, in which provincial regiments were the responsibility of the local authorities, who had to raise and equip them, and fill the gaps in the ranks when they appeared. Thus the district companies were not necessarily the symptoms of rampant decentralisation and chaos as which they are often presented by historians in thrall to the centralised model of state-building. They were just as much a response to the 24 Kupisz, Wojska powiatowe, pp. 149, 164 – 5. See also Urszula Augustyniak, W słuz˙bie hetmana i Rzeczypospolitej. Klientela wojskowa Krzysztofa Radziwiłła (1585 – 1640) [In the service of the hetman and the Commonwealth. Krzysztof Radziwiłł’s military clientele (1585 – 1640)], Warsaw 2004, p. 231. 25 Jan Wimmer, Wojsko polskie w drugiej połowie XVII wieku, Warsaw 1965, p. 49. 26 Ibid, p. 250; Kupisz, Wojska powiatowe, pp. 170, 214.

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military challenges of a new age as the military reforms of Gustav Adolf in Sweden, but they were the response of a political system which took to heart Machiavelli’s urgings concerning the superiority of defence based on the patriotic citizen.

4.

Private Armies?

This could also be said, up to a point, about the so-called ‘private armies’, that have long been seen as conclusive evidence for the selfishness of the szlachta and the failure of the Commonwealth to modernise and face up to the real world. Textbook accounts of Polish history tend to use the existence of allegedly substantial private forces to contrast with what is taken to be the pitifully small ‘standing army’ to demonstrate how the Commonwealth was failing to meet the challenge of the Military Revolution: it is claimed that Jarema Wis´niowiecki had in the 1640s a private army of 6,000 men, nearly twice the size of the quarter army, while according to Wimmer the private army of the Radziwiłł in the 1740s numbered 10,000 and possessed a powerful artillery.27 The term ‘private army’, however, is a misnomer. It is undoubtedly true that a handful of the greatest magnates, rather like clan chiefs in the Scottish Highlands down to 1747, could for specific occasions raise several hundred men, calling on traditional obligations to serve, though only the most powerful could raise more. These forces were deployed as a means of putting down peasant unrest or to confront a rival magnate, as happened in 1600 when Krzystof ‘Piorun´’ Radziwiłł supposedly mobilised several thousand men in a private dispute with the Chodkiewicz over a property and inheritance dispute, though outright conflict was avoided after Sigismund III brokered a settlement. Such forces were, however, in no way comparable to the standing armies built by states during of the seventeenth century. It is, perhaps, better to consider this phenomenon as an integral part of the Commonwealth’s citizen-based military system. While it is true that one or two magnates maintained small forces of infantry to garrison their private towns, the suggestion which is sometimes made that these ‘private armies’ were something like the forces maintained by territorial princes in the Reich – the great magnates of Lithuanian and the Ukraine are frequently referred to as ‘krûlewie˛ta’ (kinglets) – is erroneous. However wealthy these magnates were – and the Radziwiłłs, uniquely protected by the three entails agreed by the Sejm in the 1580s were 27 Jan Wimmer, Wojsko Rzeczypospolitej w dobie Wielkiej Wojny Pûłnocnej 1700 – 1717 [The army of the Commonwealth in the period of the Great Northern War 1700 – 1717], Warsaw 1956, p. 433, n. 4.

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wealthy indeed – there is one crucial difference between them and the territorial princes of the Reich: they lacked the status provided by the concept of Landeshoheit, and therefore lacked the power to tax. This fact seriously limited the extent of the resources, and therefore the forces, they could mobilise, unless they could draw on those of the state. Let us first consider the issue of numbers. Historians have been quick to accept impressionistic estimates of the size of these ‘private armies’ and slow to investigate their basis. Thus, for example, it is claimed on the basis of eyewitness accounts that there were 60,000 private troops at the 1632 election of Władysław IV: including 10,000 with Krzysztof II Radziwiłł, and 6,000 with Stanisław Koniecpolski. Similar numbers are suggested for the 1669 election of Michael Korybut Wis´niowiecki, with Bogusław and Michał Kazimierz Radziwiłł supposedly bringing nearly 8,000 men, with similar figures quoted for Krzysztof and Michał Kazimierz Pac, while Jan Sobieski and Dymitr Wis´niowiecki allegedly brought 4,000 each.28 Such figures are simply not credible. Firstly, it is by no means clear how many of these ‘soldiers’ were actually noblemen attending the election, as was their right, and accepting some assistance from their magnate patron to enable them to do so, the price for which was to appear in the magnate’s retinue. Secondly, in the absence of the muster rolls which give at least some sense of accuracy over figures for the size of state armies from the sixteenth century, it is difficult to accept these estimates. What is certain is that no magnate, however wealthy was capable of maintaining a proper professional, modern army of anything like this size on a permanent basis. Some, such as the Radziwiłłs, could indeed summon substantial numbers of men for particular events such as a royal election, not least because, since the 1560s, they had issued large numbers of leases to poor Lithuanian nobles and boyars on terms which required them to turn out if required for war, suitably armed, or for sessions of the Sejm.29 These men could be raised by magnates; indeed it was one way in which the Commonwealth tried to mobilise quickly for war, but they were primarily tenants, not soldiers. No magnate was in a state to maintain or pay such forces unless they were swiftly placed on the Commonwealth’s payroll. Where muster rolls do exist, it is clear that the actual size of the permanent forces these magnates maintained was far less impressive. Stanisław Lubomirski, as castellan of Cracow the leading lay senator in the Commonwealth in the 1640s, maintained some 600 men which, with uniforms and arms, must have cost him 28 Krzysztof Dembski, ‘Wojska nadworne magnatûw polskich w XVI i XVII wieku’ [The private armies of Polish magnates in the sixteenth and seventeenth centuries], Zeszyty Naukowe Uniwersytetu im. A. Mickiewicza Historia I, 1956, p. 83. 29 Maciej Siekierski, ‘Landed wealth in the Grand Duchy of Lithuania. The economic affairs of Prince Nicholas Christopher Radziwiłł (1549 – 1616)’, in: Acta Baltico-Slavica 20, 1989, pp. 239 – 308; and 21, 1992, pp. 195 – 300; vol. 21, p. 290.

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something like 108,000 złoties per year, a colossal sum.30 Many of the supposedly ‘private’ troops at the royal elections of 1632 and 1669 were in all probability raised through the powers conferred by the state on those who brought them: Krzysztof II Radziwiłł and Stanisław Koniecpolski were respectively grand hetmans of Lithuania and Poland in 1632, while in 1669, Michał Kazimierz Radziwiłł was Lithuanian grand hetman, Mikołaj Kazimierz Pac was Lithuanian field hetman, Jan Sobieski was Polish grand hetman and Dymitr Wis´niowiecki was Polish field hetman. In 1632 the Commonwealth faced a war against Muscovy, while in 1669 it was at war with the Ottoman Empire. Thus the hetmans could raise men with the promise that they would receive their pay when the Sejm had agreed the necessary funds for the army. In 1631, a year before the election to which he is supposed to have brought 10,000 men, Krzysztof II Radziwiłł’s infantry numbered a princely 59 men.31 It is claimed that the size of these ‘private armies’ grew rapidly in the eighteenth century, but wild estimates do not accord with reality.32 Hieronim Florian Radziwiłł, who decided to establish a private army on his return from his Grand Tour in 1735, was estimated to have maintained a force of 6 – 10,000; the documents reveal that at its height, he managed to support 1,854 men, more than half of them irregular Cossacks; after his death in 1760, his ‘private army’ was reduced to 545 men by his heir, Michał Kazimierz Radziwiłł.33 This was not a force to keep the tsar awake at night. It would be more accurate to view these magnates more as military patrons and entrepreneurs; drawing on their wealth and local prestige, on their clientage networks and on surviving remnants of the obligations of the petty Lithuanian or Ukrainian service nobility and Cossacks to raise contingents of troops which could, in the short term, be used for private ends, but could only be sustained for longer if they passed onto the payroll of the state or the local sejmik: the size of the force Jarema Wis´niowiecki could raise was greatly reduced after 1648, when many of his Ukrainian Cossack troops deserted to the rebels. These were not private armies so much as military clienteles and, as Urszula Augustyniak’s close 30 Władysław Czaplin´ski / Jûzef Długosz, Z˙ycie codzienne magnaterii polskiej w XVII wieku [The everyday life of the Polish aristocracy in the seventeenth century], Warsaw 1982, pp. 56 – 7. 31 Henryk Wisner, ‘Wojsko litewskie 1 połowy XVII wieku’ [The Lithuanian army in the first half of the seventeenth century], in: cz. 1 Studia i Materiały do Historii Wojskowos´ci 19, 1973, p. 116. Radziwiłł’s infantry numbered 79 in 1621, 88 in 1625, 59 in 1631 and a mere 31 in 1634 after the end of the Smolensk campaign; his cavalry was about the same size: Augustyniak, W słuz˙bie hetmana, pp. 31, 33. 32 Dembski, ‘Wojska nadworne’, p. 53. 33 Marian J. Lech, ‘Milicje Radziwiłłûw jako ore˛z˙ feudałûw w walce z ruchami chłopskimi na Białorusi i Litwie’ [The Radziwiłł militia as a tool of feudal lords in the struggle against peasant uprisings in Belarus and Lithuania], in: Rocznik Białostocki 3, 1962, p. 35 – 6.

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study of the military clientele of Krzysztof II Radziwiłł makes abundantly clear, the greatest of them belonged to the hetmans, whose position and authority was dependent on the powers invested in them as the commanders of the state army.34 Thus if Radziwiłł was barely able to muster 150 men in his permanent retinue, he estimated that in time of war he could raise 3,000 from his own estates.35 He could only do so, however, if they passed immediately on to the state’s budget; the fact that they could then indeed be used for private ends was well appreciated: at the 1632 Election Sejm, Radziwiłł reacted sharply to a suggestion from Mikołaj Ostrorûg that some of the troops raised for state purpose had been used for private ends. He attempted to head off criticism by offering to add 3,000 men from his own lands to the 2,000 troops under his command, but made it abundantly clear that they could not move from their positions without being paid.36 This exchange is revealing. While the charge levied by so many historians that these great magnates were selfish individuals pursuing their own aims is indeed frequently justified, that is not necessarily how they saw themselves, or even how their clients – rather than a rival like Ostrorûg – saw them. These magnates were indeed great landowners, and in many cases, up to a half – sometimes more – of their landholdings were actually leases on royal estates, which constituted some twenty per cent of the Commonwealth’s land, most of which were held for life. According to decisions made by the 1567 Sejm, as adjusted in 1574, the proceeds from starosties were to be divided up between the leaseholder and the crown. After the payment of a fifth of the income for the quarter army, the royal treasury was meant to receive 50 % of the proceeds, with the remaining 30 % going to the leaseholder. In practice, while the quarter was collected more or less regularly – except in Lithuania, where there was no quarter army – there was no mechanism to ensure that the king received the money to which he was entitled, and in practice it was kept by the noble leaseholders. Thus the lifestyles of wealthy magnates were, in effect, subsidised by the monarchy, though in practice, especially under John Casimer, the king developed various means of securing some, at least, of the proceeds through fees and various types of leasehold agreements. Yet looked at from the point of view of the Commonwealth’s szlachta citizens, and not just the magnates, this system was the way in which the citizen army was to be maintained. Those turning out for war had to equip themselves, as part of the obligation of citizenship. Given the state treasury’s problems over putting up the money to recruit troops, the onus 34 Poland and Lithuania each had a grand hetman and a field hetman. The grand hetman was the superior in status, but field hetmans often resisted the notion that they were subordinate to him. 35 Augustyniak, W słuz˙bie hetmana, p. 33. 36 Radziwiłł, Memoriale rerum gestarum in Polonia, pp. 88 – 9.

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fell in part on individual nobles who joined units of cavalry as towarzysze (comrades-in-arms) bringing anything from one to five retainers as part of their retinue (poczet). The costs, especially for the elite hussar units, were substantial. A warhorse – and a cavalryman would require several during a campaign, not even counting those of his retinue – cost a minimum of 200 złoties; the most expensive cost 1,000 – 1,500.37 The costs for magnates, in particular hetmans like Radziwiłł, could be colossal. In many ways, magnates were like the military entrepreneurs of the age of the Military Revolution, but they acted in full knowledge, especially after 1648, that they would often only be able to recoup a fraction of the substantial investment they had made. This is the reason for Radziwiłł’s pained response in 1632: from his point of view, he had laid out considerable resources – far more than many of his fellow magnates who held starosties but took no interest in military affairs – to serve the Commonwealth as hetman over fifteen years; in return he had received little, as the recently deceased Sigismund III had been overwhelmingly hostile to him, as the Commonwealth’s leading Calvinist: in 1617 – 19, following Gustav Adolf ’s first Livonian campaign, in which Radziwiłł had resisted the Swedes virtually singlehandedly, the king had even refused to pay him the salary to which he was entitled as hetman.38 Thus the role of the great magnates, and of these privately-raised contingents was by no means always negative: in the absence of a powerful bureaucracy, the Commonwealth relied on the ability of large landowners to raise units, especially of cavalry, quickly in time of need. They were important for a military system which was in many ways rather well adapted to the defensive needs of the state which operated it. The Commonwealth on more than one occasion faced simultaneous invasions on two or three fronts thousands of kilometres apart. It is not clear how a standing army, either located centrally, or dispersed across 800,000 km2 would have been useful or effective. The key was the ability to raise troops quickly in time of need in the theatre of war where they were required; up to 1648, on the whole, this was possible. Citizens from great magnates such as Radziwiłł down to more humble towarzysze in cavalry units were ready and willing to invest substantial amounts of their own money in equipping themselves for war and turning out; in part they were fulfilling their duty as citizens, but they did, quite reasonably, expect some sort of recompense, either in the form of wages paid by the state, or, if they joined a district company, by their local sejmik, or in the form of a starosty, from which they could at least recoup over the years some of their outlay : military service was in part an investment,

37 Augustyniak, W słuz˙bie hetmana, p. 259. 38 Ibid, p. 152.

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and military clients could be indignant if their patron failed to deliver that reward.

5.

Resilience

This was a much more effective military system than its dire reputation would suggest. In the 1650s, despite facing disaster on all sides, including the Swedish deluge of 1655, in which many of the Commonwealth’s most important cities were occupied, during which the Cossack rebels controlled most of the Ukraine and their Muscovite allies most of Lithuania, the Commonwealth succeeded in raising, by the second quarter of 1659, the largest regular army it had ever put in the field, comprising six companies of hussars (999 men) – fewer than normal on account of the expense of raising such units – 122 of Cossack cavalry (13,016), 41 of Tatar and Wallachian-style light cavalry (4,387), seven units of western-style reitars (2,246), 12 regiments of German-style infantry (10,737), nine companies of Polish-style foot (1,048) and 21 companies of dragoons (7,872). Together with the Lithuanian army, this represented a paper strength of 60,000; in reality some 36,000 men in Poland and 18,000 in Lithuania. Although it required the construction of an international alliance including the Austrian Habsburgs, Brandenburg and Denmark to force the Swedes out of the Commonwealth, the Muscovites were driven out of much of Lithuania and the Right-Bank Ukraine over the next few years, and commanders of the calibre of Stefan Czarniecki and Jerzy Sebastian Lubomirski won important victories on the battlefield. Given the inability of the central state to raise taxes – the Sejm did not meet between 1655 and 1658 – this could only be achieved by the Commonwealth’s decentralised, citizen-based system. There is no space here to explore the many reasons why this system failed to adapt to new challenges after 1660, or to defend the Commonwealth adequately during the Great Northern War. One major factor was that the citizen army refused to fight beyond the Commonwealth’s borders, although Jan Sobieski was able for short periods to take armies out of the Commonwealth during his long wars against the Ottomans. The curbing of Vasa ambitions for wars against Sweden and Muscovy after the 1620s meant that the Commonwealth denied itself the possibility, so eagerly seized upon by Gustav Adolf, Charles XII and Peter I, of tethering their horse to their enemy’s farmstead, as Gustav Adolf put it so elegantly and persuasively to the Swedish Riksdag in 1630. The Commonwealth’s citizens had to support its armies exclusively from their own resources, but its ability to defend itself suffered drastically once enemy armies began devastating its territory in a prolonged and serious way after 1648. It was hard for citizens to equip themselves for war when their estates and resources had been ruined by

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enemy action or, indeed, by the depredations of the Commonwealth’s own unpaid forces. Both friend and foe, for political reasons, looked in particular to royal estates to furnish their needs for supply and billeting, and as the audits carried out in the seventeenth century demonstrate, royal estates suffered disproportionately. In consequence, they were increasingly unable to support the recruitment of units, or provide the resources to reward those that held them for their service, and Sejm debates were full of recriminations over lands devastated by the army. The fact that the Great Northern War was a civil war, brought on by August II’s invasion of Livonia in 1699, which demonstrated all too publicly his refusal to accept the ban on waging aggressive war meant that it was impossible for the Commonwealth to unite behind its king, as it had, belatedly, under John Casimir from 1656.

6.

Conclusion

In conclusion, it is worth returning to Łozin´ski, and his picture of an anarchic, brutalised society. For all that the Commonwealth’s military system was not as disfunctional as is often claimed, the conscious decision to deny the state a monopoly on the legitimate use of violence undoubtedly had negative consequences. A citizen army meant an armed citizenry, infused with military values and by no means hostile to military culture. This did indeed open up the possibility of the local feuding and rapid recourse to arms in private disputes which Łozin´ski describes in such detail. Yet he was, as the opening quote to this paper suggests, prone to exaggeration and hyperbole, and figures like the notorious Stanisław Stadnicki, the ‘devil of Łan´cut’, who exploited the legal protection provided to nobles by the system to evade punishment for his rapacious behaviour, and to whom Łozin´ski devotes a whole chapter, were the exception rather than the rule. Much of the lawlessness after 1648 was caused by the waves of warfare which engulfed the Commonwealth’s territory after that date, the effects of which were quite as devastating as those of the Thirty Years War in the Holy Roman Empire. Yet for all that the Commonwealth failed to sustain its position as a dominant power in eastern Europe, and for all its failure to create the sort of large standing army acquired after 1648 by all its neighbours and rivals, the rather different military culture of the citizen army survived, and was still capable of causing problems for regular armies, as the Confederation of Bar was to show in 1769, and Tadeusz Kos´ciuszko demonstrated after 1792. The Commonwealth’s neighbours, however, acted swiftly to ensure that the military reforms of the Four Year Sejm (1788 – 92), which envisaged the creation of a 100,000-strong regular army, were not allowed time to take root. The citizen forces led by Kos´ciuszko were crushed, and the third partition finally removed

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the Commonwealth from the map of Europe in 1795, at a point when the American Revolutionaries had just written the right of the citizen to bear arms into their new constitution, and the French Revolution was calling the nation to arms to defend itself against its enemies. Bunker Hill and Valmy had demonstrated that the standing armies of Ancien R¦gime Europe could be comprehensively defeated by a different conception of how war might be waged. It was too late to save the Commonwealth, despite Kos´ciuszko’s valiant efforts, but the day of the citizen army was by no means over.

Andreas Helmedach / Markus Koller

„Haiducken“ – Gewaltgemeinschaften im westlichen Balkanraum im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Werkstattbericht

1.

Stand der Forschung

Im Geschichtsbewusstsein fast aller südosteuropäischer Nationen gilt die osmanische Epoche übereinstimmend als eine Zeit der Fremdherrschaft, der Gewalt, der Rechtlosigkeit der angestammten Bevölkerung gegenüber den Eroberern und, damit eng verbunden, bis heute nachwirkender, unverschuldeter Rückständigkeit. Ohne Zweifel eigneten und eignen sich die Stereotypen von der häufigen und ungesetzlichen Anwendung physischer Gewalt gegen Menschen im Osmanischen Reich hervorragend als eines der Markenzeichen für das „unzivilisierte“ und zu unterwerfende „Andere“ und damit als ein Konstruktionselement für den „kranken Mann am Bosporus“, für „Orientalismus“ (Edward Said)1 und „Balkanismus“ (Maria Todorova).2 In diametralem Gegensatz zu diesem verfestigten Geschichtsbild steht allerdings die Zahl von Untersuchungen – aus der Region oder von außerhalb, von Südosteuropahistorikern oder Osmanisten –, in denen nach der historischen Realität hinter den überlieferten Gewaltnarrationen gefragt wird. Konkrete historische Erscheinungsformen physischer Gewalt – denn um physische Gewalt gegen den menschlichen Körper selbst oder deren massive und glaubwürdige unmittelbare Androhung geht es der modernen historischen Gewaltforschung, wenn von Gewalt die Rede ist – in Südosteuropa sind bisher recht selten zum Gegenstand eigenständiger Forschungsarbeiten geworden, obschon doch historische Gewaltforschung insbesondere in der europäischen Frühneuzeitforschung, in der Kolonialgeschichte und für das „Jahrhundert der Extreme“ (Eric Hobsbawm) als anerkannte Subdisziplin der historischen Wissenschaften gelten kann. Für das osmanische Südosteuropa liegen lediglich einige Aufsätze und eine einzige Monographie vor, die als historische Gewaltforschung im engeren Sinne bezeichnet werden können. Dazu kommt eine – wenngleich kleine – 1 Edward Said, Orientalism, London 1978. 2 Maria Todorova, Imagining the Balkans, New York 1997.

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Anzahl von Schriften, die Gewalt in außereuropäischen Teilen des Osmanischen Reiches – vor allem im arabischen Raum, etwa im Libanon – behandeln. Als einer der wichtigsten Typen südosteuropäischer Gewaltakteure zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert gelten die „Haiducken“ bzw. Briganten. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Wortgeschichte dieses in vielen europäischen Sprachen eingeführten Begriffs: Die Bezeichnung „Haiducke“ stammt aus dem Ungarischen und ist aus dem Substantiv hajtûk (dem Plural von hajtû) hervorgegangen, das „Viehtreiber“ bezeichnet und aus dem Verb hajt „(an-) treiben“ gebildet worden ist.3 Die hajtûk, gleichsam der pastorale Teil der dortigen Landbevölkerung, waren die Stütze des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen ungarischen Viehhandels, bei dem Rinder aus der ungarischen Tiefebene bis nach Süddeutschland und Venedig getrieben wurden – eine schwere und, nicht zuletzt wegen der unvermeidlichen Konflikte mit den Bauern entlang des Weges auch gefährliche Arbeit, der die hajtûk selbstverständlich bewaffnet nachgingen.4 Als um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert der ungarische Viehexport gesetzlich eingeschränkt wurde und zurückging, wandten sich viele „Haiducken“ dem Soldatenberuf zu. Ihre Selbst- und Fremdbezeichnung nahmen sie mit.5 Bald fand man Haiduckenverbände sowohl in den Privatarmeen der ungarischen Großen als auch in den Grenzfestungen gegen die Osmanen, als „freie Haiducken“, die an der Grenze ohne Sold auf Beutejagd gingen, und schließlich auch als Vagabunden und Räuber.6 In der Zeit des sogenannten „Langen Türkenkrieges“ (1593 – 1606) spielten dann Haiduckenverbände nicht nur in Ungarn und Siebenbürgen, sondern auch in der Armee des walachischen Woiwoden Mihai Viteazul (Michael des Tapferen) an der unteren Donau, in der Dobrudscha und im nördlichen Bulgarien eine Rolle. Eine der frühesten Haiduckengestalten der südslawischen Volksepik, Baba Novak, war Haiduckenführer im walachischen Söldnerheer. „In dieser Epoche“, so Fikret Adanır, der Verfasser einer schon klassischen Studie zur Haiduckenproblematik, „scheint der militärische terminus technicus ,Heiducke‘ von Sie3 Dies kann seit der Arbeit von Dusˇan Popovic´, O hajducima [Über die Haiducken], Beograd 1930, als geklärt gelten, wenn auch manche Forscher eine Herkunft des Wortes aus dem Arabischen für möglich hielten. Vgl. dazu Fikret Adanır, Heiduckentum und osmanische Herrschaft. Sozialgeschichtliche Aspekte der Diskussion um das frühneuzeitliche Räuberwesen in Südosteuropa, Südostforschungen 41, 1982, S. 43 – 116, hier S. 58 ff. 4 Ebd., S. 68 ff. 5 Ebd., S. 73. Adanır fasst hier die ungarische Forschung der sozialistischen Ära zum Haiduckenphänomen zusammen. 6 Istv‚n N. Kiss, Gesellschaft und Heer in Ungarn im Zeitalter der Türkenkriege. Das Soldatenbauerntum, in: Othmar Pickl (Hg.), Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Türkenkriege. Die Vorträge des ersten internationalen Grazer Symposions zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Südosteuropas (5. bis 10. Oktober 1970), Graz 1971, S. 276. Vgl. auch Adanır, Heiduckentum, S. 73.

„Haiducken“ – Gewaltgemeinschaften im westlichen Balkanraum

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benbürgen und der Walachei aus Eingang in die Balkansprachen gefunden zu haben. Da einerseits die Heiducken-Söldner, schon ihrem militärischen Auftrag entsprechend, raubten und plünderten, und andererseits die professionellen Räuber sich oft als Söldner anwerben ließen, ist es nicht überraschend, dass man die Briganten auf dem Balkan allmählich ,Heiducken‘ nannte, zumal die Hirtenkrieger im osmanischen Grenzdienst ebenfalls als ,Räuber‘ (harami) bezeichnet wurden.“7 Gerade wegen der osmanischen Militärgrenze (serhad) in Slawonien und Bosnien wird die Entlehnung des Begriffes „Haiducke“ in die südslawischen Sprachen wohl eher auf dem „direkten“ Wege von Ungarn über Kroatien und Slawonien nach Bosnien und weiter ins Balkaninnere verlaufen sein, doch ist der Weg die Donau entlang natürlich ebenfalls möglich. Hier sind noch begriffsgeschichtliche Studien erforderlich. Seit dem 17. Jahrhundert jedenfalls sprach man auch im osmanischen Europa von den „Haiducken“, und zwar offensichtlich bereits mit all den Bedeutungen, die das Wort noch heute in den modernen Sprachen der Region hat, für die hier stellvertretend auf das Kroatische verwiesen sei. Ein angesehenes und verbreitetes kroatisch-deutsches Lexikon erläutert den Terminus hajduk bzw. Haiducke folgendermaßen: Geschichtlich als „von der türkischen Herrschaft abgefallener Kämpfer gegen die türkische Tyrannei“ [sic!], militärisch als „Söldner, bzw. Fußsoldat in der Militärgrenze, gestellt von je 20 Untertanensessionen“, als „Räuber“ bzw. „Bandit“ sowie schließlich für das 18. Jahrhundert in der älteren deutschen Schreibweise „Heiduck“ auch für Bewaffnete im Dienste eines Adligen8 – letzteres eine soziale Gruppe, die in den großen Adelshäusern im ganzen Königreich der Stefanskrone anzutreffen war.9 Außerhalb der südosteuropäischen Nationalhistoriographien prägte in den letzten Jahrzehnten vor allem die von Eric Hobsbawm aufgestellte These das Bild der „Haiducken“. Demnach seien diese typische Sozialbanditen gewesen.10 Diese „Modernisierung“ der mythologisierenden Repräsentationen des historischen Phänomens „Haiducken“ hat in den südosteuropäischen Nationalhistoriographien starken Anklang gefunden. Hobsbawm argumentiert, dass zwar die Handlungen der „Haiducken“ gemäß dem offiziell vertretenen Wertesystem als kriminell eingestuft worden, sie selbst jedoch in den Augen der Bauern Helden gewesen seien. Der Osmanist Fikret Adanır hat viele dieser Geschichtsmythen dekonstru7 Ebd., S. 74. 8 Vgl. Blanka Jasˇic´ / Anton Hurm, Hrvatsko-njemacˇki rjecˇnik. Kroatisch-Deutsches Wörterbuch, 8. Aufl., Zagreb 1999, S. 196. Dort auch weitere von hajduk abgeleitete Wörter. 9 Aus dem Ungarischen und vielleicht auch Kroatischen scheint der Begriff im 18. Jahrhundert als Bezeichnung für die Mitglieder von Leibgarden des Adels über Wien ins Deutsche übergegangen zu sein. 10 Eric Hobsbawm, Bandits, London 1969.

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iert.11 Die „Haiducken“ sind von der älteren südosteuropäischen Forschung – genannt seien die Bulgarin Bistra Cvetkova und der Mazedonier Aleksandar Matkovski, der auch eine bedeutende Quellensammlung zum Haiduckenproblem in seiner weiteren Heimat vorgelegt hat – immer wieder als Freiheitskämpfer gegen die osmanische Unterdrückung der Balkanvölker und damit als Vorläufer der nationalen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts gedeutet worden.12 Cvetkova sprach gar immer wieder von einer „Haiduckenbewegung“.13 Adanır hat dies widerlegt. Ausgehend von den Prämissen, dass einerseits der Balkan bereits vor der osmanischen Eroberung im Vergleich zum übrigen Europa rückständig und die balkanischen Gesellschaften nicht erst unter den Osmanen stark militarisiert gewesen seien, andererseits sich die osmanische Herrschaft durch Förderung der orthodoxen Kirche auch bei den Christen legitimiert sowie Handel, Verstädterung und Geldwirtschaft begünstigt habe, entwickelte er einen anthropologischen Ansatz zur Erklärung des Haiduckenphänomens: Es habe sich bei ihnen um von Statusverlusten bedrohte Wanderhirten gehandelt. Diese im Balkanraum unter dem seinerseits schillernden Begriff der „Vlachen“ bzw. vlasi bekannte soziale Gruppe habe auf die Einbuße militärischer und ökonomischer Entfaltungsmöglichkeiten häufig mit einem Rekurs auf männliche Ehre und Heroentum reagiert, der in der Praxis sehr oft die Form organisierter Kriminalität angenommen habe. Dabei seien Vlachen wie „Haiducken“ jedoch durchaus per bargaining dem Kompromiss mit der osmanischen Herrschaft zugeneigt geblieben: Karriereziel eines durchschnittlichen „Haiducken“ sei demnach die Anstellung als Martolose gewesen, als Angehöriger einer lange Zeit überwiegend aus Christen zusammengesetzten osmanischen Wach- und Polizeitruppe. Dagegen stand der Dienst als Söldner (levend) im Gefolge eines osmanischen Gouverneurs oder anderen Befehlshabers wohl zumeist nur Muslimen offen. So sei es auch kein Zufall, dass sich das Haiduckentum besonders massiv und virulent in einer Zeit gezeigt habe, als die den Christen immer misstrauischer gegenüberstehenden Osmanen fast nur 11 Vgl. den hier schon mehrfach zitierten Aufsatz Fikret Adanır, Heiduckentum, S. 43 – 116. 12 Vgl. Bistra Cvetkova, Chajdutstvoto v bu˘lgarskite zemi prez 15 – 18 vek [Das Haiduckentum in den bulgarischen Ländern vom 15. bis zum 18. Jahrhundert], Sofia 1971; sowie Aleksandar Matkovski (Hg.), Turski izvori za ajdutstvoto i aramistvoto vo Makedonija/Sources turques pour le mouvement des Hadouques en Mac¦doine, 5 Bde., Skopje 1961 – 1980; ders., Otporot vo Makedonija vo vremeto na turskoto vladeenje [Widerstand in Makedonien während der türkischen Herrschaft], Skopje 1983. 13 So in: Bistra Cvetkova, The Bulgarian Haiduk movement in the 15th–18th centuries, in: Gunther E. Rothenberg / Bela Kiraly / Peter Sugar (Hg.), East Central European society and war in the pre-revolutionary eighteenth century (War and Society in East Central Europe, 2), New York/Boulder, CO 1982; und auch schon in der „The Haidouk movement in the Bulgarian lands during the 15th to the 18th centuries“ betitelten englischen Zusammenfassung ihres in der vorigen Fußnote genannten Werkes. Überflüssig, darauf hinzuweisen, dass im 15. Jahrhundert im heutigen Bulgarien sicher niemand von „Haiducken“ gesprochen hat.

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noch Muslime in den Martolosendienst aufnahmen.14 Mit bäuerlichem Protest aber habe dies so wenig zu tun gehabt wie mit nationalem Widerstand. Adanırs Studie, gleichsam „Gewaltforschung vor der Gewaltforschung“, muss nach wie vor als Ausgangspunkt jeder Beschäftigung mit diesem Typus südosteuropäischer Gewaltakteure gelten; dass aber die „Haiducken“ „in ihrem Grundbestand aus den Berghirten stammen“,15 war auch Josef Matl schon selbstverständlich. Wenngleich Adanır vielleicht etwas zu sehr die Bereitschaft der „Haiducken“ zum bargaining mit der osmanischen Herrschaft betont, kann doch seit der Publikation seiner Arbeit die in Südosteuropa nach wie vor verbreitete Ansicht, es habe sich bei ihnen um Vorkämpfer der jeweiligen nationalen Sache gehandelt, als widerlegt gelten. Indes darf aber nicht übersehen werden, dass gerade im osmanisch-venezianischen Grenzraum in den Kriegen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts zahlreiche Mitglieder der sozialen Schicht, die nicht nur Adanır als Basis des Haiduckenphänomens ansieht, nämlich der Vlachen, aus dem Osmanischen Reich in venezianische Dienste wechselten, was für die von den Venezianern Morlaken (morlacchi) genannten Zuwanderer normalerweise ein Weg ohne Widerkehr war.16 Dasselbe gilt natürlich auch für die vielen Serben, die in derselben Epoche auf die habsburgische Seite überwechselten. Widerstand muss nicht national getönt sein, und dass es seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert unter den Christen des Reiches immer wieder widerständiges Verhalten gegen die osmanische Herrschaft gegeben hat, kann keinem Zweifel unterliegen, auch wenn es in der Osmanistik – in durchaus verständlicher Re-

14 Adanır, Heiduckentum, bes. S. 105 ff. Zu den Martolosen siehe Milan Vasic´, Martolosi u jugoslovenskim zemljama pod turskom vladavinom [Die Martolosen in den jugoslawischen Ländern unter türkischer Herrschaft], Sarajevo 1967. Zur Frage des Bekenntnisses der Söldner (levendler) der großen Haushalte und den Unterschieden zwischen Rumelien und Anatolien, die sich daraus für die Räuberproblematik seit dem 17. Jahrhundert ergaben, vgl. Suraiya Faroqhi, Kultur und Alltag im Osmanischen Reich. Vom Mittelalter bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 68 ff. 15 Vgl. Josef Matl, Hirtentum und Stammesverfassung als Kulturfaktor, in: Balduin Saria (Hg.), Völker und Kulturen Südosteuropas. Kulturhistorische Beiträge (Schriften der Südosteuropa-Gesellschaft, 1), München 1959, S. 104 – 123, hier S. 113. 16 So schon Catherine Wendy Bracewell, Uskoks in Venetian Dalmatia before the VenetianOttoman War of 1714 – 1718, in: Gunther E. Rothenberg / Bela Kiraly / Peter Sugar (Hg.), East Central European society and war in the pre-revolutionary eighteenth century (War and Society in East Central Europe, 2), New York/Boulder, CO 1982, S. 431 – 447. Richtigerweise nicht durchgesetzt hat sich allerdings Bracewells in diesem Aufsatz unternommener Versuch, den Schwierigkeiten des Haiduckenbegriffes durch deren Umtaufung in „Uskoken“ zu entgehen, denn der Terminus „Uskoken“ ist historisch anders besetzt, und zwar mit den Piraten, die im 16. Jahrhundert in der kleinen Adriastadt Senj unter habsburgischem Zepter lebten. Diesen hat sie selbst eine große Untersuchung gewidmet: Catherine Wendy Bracewell, The Uskoks of Senj. Piracy, banditry and holy war in the sixteenth-century Adriatic, Ithaca, NY 1992.

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aktion auf nationalistische Übertreibungen – eine Tendenz gibt, diese Tatsache herunterzuspielen.17 Unterstützung findet übrigens in der Forschung weiterhin auch die von Eric Hobsbawm aufgestellte, oben angesprochene These, bei den „Haiducken“ habe es sich um typische Sozialrebellen bzw. Sozialbanditen gehandelt. Außerhalb Südosteuropas hat sich in jüngerer Zeit erneut der Doyen der deutschen Südosteuropaforschung Holm Sundhaussen gegen Adanır für die These vom balkanischen Räuber als „Sozialrebellen“ im Sinne Eric Hobsbawms starkgemacht.18 „Haiducken“ und Klephten (die griechische Variante des Phänomens) seien „Repräsentanten eines urwüchsigen, wilden Protestes, der durch die inneren Zersetzungserscheinungen und die soziale Gärung im Sultansreich ausgelöst wurde, – eines Protestes, der bald eine Eigendynamik annahm und zunehmend auch gewöhnliche Verbrecher in seinen Bann zog“.19 Das Vorhandensein einer durch Privilegienverluste hervorgerufenen „breiten Proteststimmung“ im Bosnien des 18. Jahrhunderts unterstreicht eine neuere Arbeit zu dieser osmanischen Provinz.20 Problematisch bleibt aber der von Sundhaussen postulierte Zusammenhang von „Protest“ und deviantem Verhalten. Für das venezianische Dalmatien hat vor einigen Jahren Sˇime Pericˇic´, ohne auf die Forschung außerhalb des ehemaligen Jugoslawiens einzugehen, behauptet, die hajducˇija unter den dalmatinischen Untertanen der Serenissima sei vor allem eine Folge der Gleichgültigkeit der venezianischen Herrschaft sowie der großen Armut und Unterbeschäftigung der dalmatinischen Bevölkerung gewesen.21 Eine solche zumindest partiell sozioökonomische Sicht auf das Phänomen steht zwar noch sehr in der Tradition des sozialistischen zweiten Jugoslawiens, ist 17 Von dieser Tendenz ist auch Adanır nicht immer ganz freizusprechen. Vgl. z. B. ders., Heiduckentum und osmanische Herrschaft, S. 95 ff., wo er den Morlaken rein materielle Gründe für den Wechsel auf die venezianische Seite unterstellt. Der vielfach belegte große Hass und die Erbitterung zwischen ihnen und den ebenfalls südslawische Dialekte sprechenden bosnischen Muslimen, die sich in großer Grausamkeit und mitunter spektakulären Gewalttaten äußerten, sind damit allein aber wohl nicht zu erklären. Zur Legitimationskrise der osmanischen Herrschaft gerade auch bei den Christen des Reiches jetzt zusammenfassend: Markus Koller, Südosteuropa im Zeichen imperialer Herrschaft. Das Osmanische Reich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Konrad Clewing / Oliver Jens Schmitt (Hg.), Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 2011, S. 214 – 292, hier S. 251 ff. 18 Vgl. Holm Sundhaussen, Geschichte Serbiens. 19.–21. Jahrhundert, Wien u. a. 2007, S. 53 ff., bes. S. 58ff; ders., Dorf, Religion und Nation. Über den Wandel vorgestellter Gemeinschaften im Balkanraum, in: Journal of Modern European History 9, 2011, S. 87 – 116. 19 Sundhaussen, Geschichte Serbiens, S. 60. 20 Markus Koller, Bosnien an der Schwelle zur Neuzeit. Eine Kulturgeschichte der Gewalt (1747 – 1798), München 2004, hier S. 201. 21 Sˇime Pericˇic´, Hajducˇija u mletacˇkoj Dalmaciji XVIII. stoljec´a [Das Haiduckentum im venezianischen Dalmatien des 18. Jahrhunderts], Radovi Zavoda za Povijesne Znanosti Hrvatske Akademije Znanosti i Umjetnosti (HAZU) u Zadru 41, 1999, S. 203 – 212.

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aber doch „anschlussfähig“ an neuere Konzepte anthropologisch-ethnologischer Gewaltforschung, wie etwa das der „Gewaltmärkte“ (Georg Elwert).22 Aus der Sicht der bisher eingesehenen venezianischen Quellen bleibt zu konstatieren, dass in diesen der Begriff „Haiduck“ (als caiducco) ausschließlich für Mitglieder venezianischer irregulärer Truppenverbände gebraucht wird (die in Friedenszeiten allerdings häufig und durchaus gegen den Willen der offiziellen venezianischen Stellen auf eigene Rechnung auf osmanischem Gebiet auf Raubzug gingen). Sicher sind diese Leute mit Adanırs Darstellung von den „Haiducken“ als die Anstellung als martoloz oder Passwächter (derbendci) anstrebende Viehhirten noch einigermaßen in Einklang zu bringen. Aber was ist mit all den „malviventi“ und „ladri“, den Übeltätern und Räubern der Quellen, wie sie etwa im kroatischen Zadar vorliegen? Richteten sich ihre Taten gegen Muslime, werden sie in den Archivbehelfen gern als „hajduci“, ihre Handlungen als „hajducˇija“ bezeichnet – Begriffe, die nichts anderes illustrieren als die Geschichtsbilder jugoslawischer Archivare der Titozeit von antiosmanischem Widerstand. Die Räuber, die ladri der venezianischen, die es¸kiyalar der osmanischen Quellen aber waren, das ist eine begründete Arbeitshypothese des hier vorzustellenden Projektes, jedenfalls in ihrer großen Mehrheit weder nach staatlicher Anstellung strebende Viehhirten und schon gar keine Sozialrebellen, sondern „wirkliche“ Wegelagerer und Banditen. In welchem Umfang aber Widerstand gegen den Staat, sei es der muslimisch-osmanische oder auch der katholisch-venezianische, das Verhalten der „Haiducken“ bestimmte, entzieht sich ebenso wie das „Verhältnis“ von Widerstand und Devianz bisher jeder seriösen Einschätzung. Die geschilderte Debatte zeigt wieder einmal, dass zwischen dem von der modernen Osmanistik gezeichneten und dem in Südosteuropa vorherrschenden Bild des Osmanischen Reiches ein tiefer, scheinbar unüberbrückbarer Graben besteht. Zugespitzt gesagt: Die osmanistische Geschichtserzählung von den „well protected domains“ (Selim Deringil)23 der osmanischen Sultane und die südosteuropäischen Narrationen mit erzählerischen Archetypen wie denen vom freiheitsliebenden, den Armen gebenden, den Reichen nehmenden „Haiduck“ oder vom korrupten, willkürlichen, zu gewalttätigen Übergriffen neigenden „Pascha“ bzw. osmanischen Soldaten und Beamten überhaupt scheinen nach wie vor unvereinbar. Am Abrücken von der Mythologisierung der „Haiducken“ haben zudem all jene kein Interesse, die in den letzten zwei Jahrzehnten den

22 Georg Elwert, Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt. Sonderheft der Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln 1997, S. 86 – 101. 23 Selim Deringil, The well-protected domains. Ideology and the legitimation of power in the Ottoman Empire, London 1998.

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Mythos als politisches Instrument verwendeten.24 Inzwischen gibt es allerdings erste Anzeichen dafür, dass auch die historische Forschung in den Balkanstaaten das überkommene Bild langsam zu revidieren beginnt.25 Eine Überbrückung der Kluft zwischen Osmanistik und südosteuropäischer Geschichtsschreibung wird nur möglich sein, wenn bei der Untersuchung der Geschichte der physischen Gewalt dieser Region in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten der osmanischen Herrschaft konsequent der Fokus auf die historischen Akteure, die Bewohner Südosteuropas gerichtet und deren Handeln in dieser Epoche untersucht wird. An dieser Stelle setzt das hier zur Rede stehende Projekt an.

2.

Ein Blick auf Dalmatien und Bosnien-Herzegowina im 17. und 18. Jahrhundert

Die neuere historische Forschung hat verschiedene Kriterien aufgestellt, um Imperien wie das Osmanische Reich insbesondere von institutionellen Flächenstaaten zu unterscheiden. Ein wesentliches Merkmal besteht in den unterschiedlichen Imperativen und Handlungslogiken, denen beide unterliegen. Dies beginnt bei der Bevölkerungsintegration im Inneren und reicht bis zur Konzeption dessen, was als Grenze angesehen wird.26 Im 17. und 18. Jahrhundert unterlagen das venezianische Dalmatien und die angrenzenden osmanischen Provinzen – Bosnien, die Herzegowina, Albanien – imperialer Herrschaft. Die westbalkanischen osmanischen Provinzen und der venezianische Stato da mar in Dalmatien waren sich darum ähnlicher, als man bei flüchtiger Betrachtung vielleicht annehmen würde, und diese Ähnlichkeit nahm im Laufe des 17. Jahrhunderts sogar noch zu. Das Osmanische Reich hat auf vielfältige Art und Weise versucht, die Bevölkerung in die Strukturen des Imperiums zu integrieren, was im 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts insbesondere in den von Klaus Kreiser definierten „staatsnahen“ Räumen durch ein dichtes Netz an Institutionen weitgehend gelang.27 Im Gegensatz zu diesen Kerngebieten, deren Durchdringung 24 Ivo Zˇanic´, Prevarena povijest. Guslarska Estrada, kult hajduka i rat u Hrvatskoj i Bosni i Hercegovini 1990 – 1995 [Verratene Geschichte. Guslaren-Verehrung, Haiduckenkult und Krieg in Kroatien und Bosnien-Herzegowina], Zagreb 1998. 25 Vgl. dazu die Beiträge in dem Band von Fikret Adanır / Suraiya Faroqhi (Hg.), The Ottomans and the Balkans. A discussion of historiography, Leiden u. a. 2002. 26 Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2007, hier S. 16. 27 Klaus Kreiser, Über den „Kernraum“ des Osmanischen Reiches, in: Klaus-Detlev Grothusen (Hg.), Die Türkei in Europa, Göttingen 1979, S. 53 – 63. Kreisers Begriff der „Staatsferne“ befindet sich ohne Zweifel nicht auf der Höhe der Staatsdiskussion der europäischen

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durch die imperiale Macht jedoch auch regional stark variierte, lassen sich „staatsferne“ Räume ausmachen, in denen der Einfluss der osmanischen Verwaltung als gering anzusehen ist. Das hier vorzustellende Forschungsvorhaben richtet auf osmanischer Seite den Blick vor allem auf die „staatsfernen“ Gebirgsregionen Bosniens, der Herzegowina und Montenegros. Das Osmanische Reich beschränkte sich in den montenegrinischen und herzegowinischen Gebieten weitgehend auf die Kontrolle der Städte und der wichtigsten Handelswege. Eine Herrschaft über die in den Bergen lebenden Stämme, wie sie vereinzelt noch bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts angestrebt worden ist, wurde im Verlauf des 18. Jahrhunderts endgültig aufgegeben. Die Hohe Pforte begnügte sich mit der Zahlung eines als haraÅ bezeichneten Tributs, der als Anerkennung der osmanischen Oberhoheit galt.28 Dagegen sind weite Teile der stark islamisierten Grenzprovinz Bosnien durchaus als staatsnah anzusprechen. Das Land war stark mit Truppen belegt; nicht nur wegen der Venezianer, sondern auch und mehr noch wegen der im „Triplex Confinium“ angrenzenden habsburgischen Militärgrenze. Der größte Teil der in Bosnien stehenden Truppen war einheimischer, muslimisch-südslawischer Herkunft. Dies gilt auch für die Kapetane (kapudanlar) der Grenzbezirke und Grenzfestungen im serhad, der osmanischen Militärgrenze. Dazu kamen Pfortentruppen wie z. B. Janitscharenverbände und schließlich Haushaltstruppen der Gouverneure und Paschas von Bosnien sowie der sancakbeyis bzw. Paschas der Herzegowina und Albaniens und auch der Kapetane und anderen Befehlshaber in den Grenzfestungen selbst.29 Das venezianische Dalmatien trennte als schmaler, in Nord-Süd-Richtung längs der Adria verlaufender Landstreifen Bosnien und die Herzegowina nahezu vollständig vom Meer.30 Venedig hatte sich seit dem hohen Mittelalter um den Besitz Dalmatiens bemüht und seinen Anteil des Landes „endgültig“ zwischen 1409 und 1420 erworben; die Stützpunkte an der Küste (die sich südlich in Frühneuzeitforschung, wird aber den Gegebenheiten des Osmanischen Reiches seit dem 16. Jahrhundert sehr wohl gerecht und hat sich auch eingebürgert. 28 Vgl. dazu Hamid Hadzˇibegic´, Dzˇizija ili haracˇ [Cizye oder haraÅ], in: Prilozi za orijentalnu filologiju i istoriju Jugoslovenskih naroda pod turskom vladavinom II – IV, Sarajevo 1953, S. 55 – 136. Zu Bosnien allgemein in der Frühen Neuzeit Noel Malcolm, Bosnia. A short history, London 1994; zum 18. Jahrhundert besonders Koller, Bosnien. 29 Zum osmanischen Militär in Bosnien: Michael Hickok, Ottoman military administration in eighteenth-century Bosnia, Leiden u. a. 1997, S. 40 ff.; sowie Koller, Bosnien, S. 72 ff. 30 Über Dalmatien in der Zeit der großen Kriege des 17. und frühen 18. Jahrhunderts jetzt vor allem: Tea Mayhew, Dalmatia between Ottoman and Venetian rule. Contado di Zara 1645 – 1718 (Interadria. Culture dell’Adriatico, 6), Roma 2008. Zum 18. Jahrhundert: Filippo Maria Paladini, „Un chaos che spaventa“. Poteri, territori e religioni di frontiera nella Dalmazia della tarda et— veneta, Venezia 2002; Sˇime Pericˇic´, Dalmacija uocˇi pada Mletacˇke Republike [Dalmatien vor dem Fall der Republik Venedig], Zagreb 1980; sowie Larry Wolff, Venice and the Slavs. The discovery of Dalmatia in the Age of Enlightenment, Stanford, CA 2001.

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Albanien und Griechenland fortsetzten) waren für die Republik von größter strategischer Bedeutung, da sie der Sicherung der Schifffahrtswege in die Levante dienten. Doch schon im 15. Jahrhundert gerieten die venezianischen Besitzungen unter großen osmanischen Druck. Nach den venezianisch-osmanischen Kriegen von 1499 – 1502 und 1537 – 1540 war der Serenissima in Dalmatien praktisch nur noch das unmittelbare Vorland der Festungen (vor allem Zara/ Zadar, Sebenico/Sˇibenik, Traffl/Trogir, Spalato/Split, Cattaro/Kotor) geblieben. Die alteingesessene katholische Bevölkerung war durch osmanische Raubzüge dezimiert, viele Menschen flohen nach Italien. Die verbliebene Acker- und Weidefläche war so gering, dass Dalmatien von außen versorgt werden musste. Erst in dem fast ein Vierteljahrhundert dauernden Kretakrieg (1645 – 1669) gelang es den Venezianern, den dalmatinischen Festungen und Städten durch Eroberungen etwas Luft zu verschaffen.31 Viele Vlachen bzw. Morlaken, die Mehrheit von ihnen orthodoxe Christen, gingen damals von osmanischer auf die venezianische Seite über oder stellten sich sogar samt den von ihnen bewohnten Territorien unter den Schutz der Republik. Weitere große Geländegewinne erzielten die Venezianer während des sogenannten „Großen Türkenkrieges“ (1683/84 – 1699) und selbst noch während des ansonsten für die Republik katastrophal verlaufenen Krieges 1714 – 1718, als der Frieden von Passarowitz eine Grenzlinie etablierte, die – abgesehen von unbedeutenden Abweichungen – der heutigen bosnisch- kroatischen entsprach. Die neuerworbenen Gebiete, von der Republik als acquisto nuovo und acquisto nuovissimo bezeichnet, wurden von den Venezianern ab 1675 nach dem Vorbild der osmanischen und habsburgischen Militärgrenze eingerichtet. Die Hauptleute der neugeschaffenen Wehrdörfer trugen Rangbezeichnungen wie die osmanischen Grenzer : harambas¸ı (eigentlich: Räuberhauptmann, Haupt der haramilar, der Räuber) wurde in venezianischem Gebrauch zu carambassa oder harambassa, serdar (Führer) blieb oder wurde serdaro geschrieben. Die Morlaken, obwohl nominell eigentlich nur irreguläre Hilfstruppen, hatten an der Vergrößerung des venezianischen Dalmatiens großen Anteil: „Die venezianische Militärgrenze diente weniger der Verteidigung als dem Angriff“32 (Oliver Schmitt). Für die Zukunft und besonders für das nach 1718 an der bosnisch-dalmatinischen Grenze friedliche 18. Jahrhundert bedeutete dies, dass Dalmatien nun zweigeteilt war in den städtisch geprägten, überwiegend katholischen Küstensaum mit mediterraner Landwirtschaft und in das militarisierte, orthodoxe Hinterland, dessen Bewohner überwiegend von transhumanter Viehzucht lebten und ihren überlieferten 31 Harald Roth / Oliver Jens Schmitt, Im Zeichen imperialer Herrschaft. Das christlich beherrschte Südosteuropa in der Frühen Neuzeit, in: Konrad Clewing / Oliver Jens Schmitt (Hg.), Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 2011, S. 296 – 340, hier S. 308 f. 32 Ebd., S. 311.

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balkanischen Traditionen folgten.33 Die Markusrepublik musste die von ihr „beherrschten“ Teile Dalmatiens und dessen Bewohner, so Larry Wolff, erst „entdecken“.34 Beide Seiten der Grenze waren in Friedenszeiten ökonomisch eng miteinander verbunden sowie durch alte vertragliche Beziehungen miteinander verknüpft. Auf beiden Seiten war der Staat schwach und auf beiden Seiten war eine patriarchale Ethik lebendig, in der die Bereitschaft zum Kampf und zur gewaltsamen Austragung von Konflikten positiv besetzte Werte waren und die eine spezifische Gewaltkultur hervorbrachte. Wenn es nach dem Frieden von Passarowitz zwischen Venedig und den Osmanen auch nicht mehr zum Krieg kam und die örtlichen Befehlshaber beider Mächte sich freundliche Briefe schrieben, kam es doch immer wieder zu Spannungen, weil Untertanen einer Seite die Grenze überschritten und im jeweils anderen Staat auf Beutezug gingen. So beklagte sich der bosnische Gouverneur Silahdar Mehmed Pascha35 1775 bei den Venezianern bitter darüber, dass in den letzten drei, vier Jahren über hundert Menschen in Bosnien von Räubern ermordet worden waren, deren Wohnsitze auf der anderen Seite der Grenze lagen, und dies trotz vieler Schreiben in dieser Sache sowohl von seinem Vorgänger und als auch von ihm selbst.36 Schon zwei Jahrzehnte zuvor hatte ein anderer bosnischer Gouverneur die Venezianer dazu aufgefordert, man möge die Räuber gemeinschaftlich angreifen.37 Zu solchen Aktionen scheint es aber nie gekommen zu sein. Offenbar war das Misstrauen auf venezianischer Seite zu groß. Es fehlte den Venezianern aber nicht nur an wirklichem Interesse, sondern wohl auch an den institutionellen und materiellen Voraussetzungen, ihren Teil des grenzüberschreitenden Räuberproblems anzugehen. Es war die zunehmende Schwäche des Staates auf beiden Seiten der 33 Vgl. ebd. S. 311 f., 332. 34 The discovery of Dalmatia in the Age of Enlightenment lautet der Untertitel von Larry Wolffs auch für die Geschichte der Osteuropaforschung wichtigem Buch Venice and the Slavs. 35 In den venezianischen Dokumenten erscheint dieser bedeutende Gouverneur Bosniens und Schwiegersohn Sultan Mustafa III. als Silichtar Mehmed Passa. Geboren 1710, war er von 1767 – 1770, 1775 – 1777 und ein drittes Mal 1778 – 1779 vali des Landes mit Sitz in Travnik (hielt sich allerdings häufig in Istanbul auf), außerdem Großwesir vom Oktober 1771 bis zum Januar 1772. Vgl. Hickok, Ottoman military administration, S. 136 – 151; sowie Koller, Bosnien, S. 130. 36 Hrvatski Drzˇavni Arhiv Zadar [Kroatisches Staatsarchiv Zadar, im Folgenden HR DAZD], Bestand 2 – Mletacˇki Dragoman [Venezianischer Dragoman – bzw. Übersetzer –, im Folgenden 2-MD], Kutija [Schachtel, im Folgenden Kut.] 9, Filza [Reihe, Faszikel] LXXIV, Pozicija Broj [Laufende Nummer, im Folgenden Poz. Br.] 3/4 – 5. Vgl. dazu Andreas Helmedach, Beute im Alltag des Grenzraums. Dalmatien, Bosnien und die Herzegowina im 17. und 18. Jahrhundert, in: Horst Carl / Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis zur Neuzeit (Krieg in der Geschichte, 72), Paderborn 2011, S. 201 – 222, hier S. 213 f. In diesem Aufsatz werden erste Ergebnisse des hier vorgestellten Forschungsprojektes präsentiert. 37 HD ZAZD, 2-MD, Kut. 19, Filza CXV, Poz. Br. 101; Travnik, 22. März 1755.

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Grenze, die den Briganten einen immer größeren Spielraum verschafft zu haben scheint. Hier sind in den nächsten Jahren weitere Forschungen notwendig.

3.

Ansätze einer Typologie der Räuber

Soweit bisher zu sehen ist, scheinen sich die Räuberbanden dieser Gebiete vor allem nach der Festigkeit ihres sozialen Zusammenhanges kategorisieren zu lassen. Eine erste Gruppe besteht aus Räubern, die in zeitlich befristeten „Lebensgemeinschaften“ (cˇeta) als Gewaltakteure insbesondere im bosnisch-herzegowinischen und montenegrinischen Raum in Erscheinung traten. Es handelte sich um Bünde, die in die heimische Gesellschaft partiell integriert waren und deren ausgeprägte hierarchische Struktur ihnen ein besonderes Gepräge verlieh. In ihnen verband sich die Ausübung von Gewalt mit dem Wertesystem einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung. In der nationalen Geschichtsschreibung der Balkanstaaten, die sich vorwiegend auf die Aussagen der Volksepik stützt, werden diese als „Haiducken“ bezeichneten Räuber, wie schon erwähnt, vor allem als Widerstandskämpfer gegen die osmanische Herrschaft interpretiert. Eine zweite Gruppe besteht aus Räuberbanden, die sich dem System der cˇete nicht zuordnen lassen. Sie scheinen sich ausschließlich zum Zweck der Ausübung physischer Gewalt als Mittel zur Aneignung materieller Ressourcen zusammengeschlossen zu haben. Dementsprechend war bei ihnen die Fluktuation der teilnehmenden Gewaltakteure größer und letztere deutlich heterogener zusammengesetzt als bei den cˇete, nicht zuletzt auch über die Religionsgrenzen hinweg (orthodoxe und katholische Christen, Muslime). Als Beispiel für eine Bande des zweiten Typs kann die des Katholiken und venezianischen Untertans Ivan Busˇic´ aus Imoschi/Imotski gelten, der wegen seiner roten Haare Rosso oder Rozˇa genannt wurde und Überfälle weit im Inneren des osmanischen Territoriums beging. Hinweise zu Größe und Zusammensetzung seiner Bande bei einer seiner Raub- und Mordtaten aus dem Jahr 1775 fanden sich im Zadarer Staatsarchiv in den Akten der venezianischen Dragomane.38 Ivan Rossi capo di malviventi abitante della villa di Badi soggetta alla Fortezza d’Imoski39 hatte im Januar dieses Jahres zusammen mit sieben oder acht Kumpanen die Siedlung Gorda in der Giurisdizione (kadıluk oder kaza) Libusca überfallen, wo sie auf Salih Effendi aus Mostar und dessen Bruder Mehmed trafen. Mehmed wurde von den Räubern erschlagen und beiden Brüdern 108

38 HR DAZD, 2-MD, Kut. 9, Filza LXXIV, Poz. Br. 3/1. 39 HR DAZD, 2-MD, Kut. 9, Filza LXXIV, Poz. Br. 3/2.

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Piaster in Geld sowie weitere Güter geraubt.40 Was die Zahl der Räuber angeht, sind die Quellen leider nicht ganz widerspruchsfrei; sicher ist, dass ein Jussel Oglu, der auch Giusel Oglu Marco, also „Marco, Sohn des Jussel“ genannt wird, ein Elia Grabovaz, ein Toma, ein Petro oder Pietro, ein (anderer) Marco und ein weiterer Ivan oder Iovan beteiligt waren.41 Zwar sind zuverlässige Rückschlüsse auf die Religionszugehörigkeit nicht möglich, aber dennoch ist die Mischung von – nach heutigem Verständnis – serbischen, kroatischen und osmanischtürkischen (oder zumindest türkisierten) Namen bemerkenswert. Die Bande des Ivan Busˇic´ war eine räuberische Zweckgemeinschaft, die nicht dem System der cˇete zuzuordnen ist, sondern von größerer Fluktuation und Heterogenität geprägt war. Busˇic´ und seinen Leuten diente die Ausübung physischer Gewalt ausschließlich als Mittel zur Aneignung materieller Ressourcen. Seine Outlaw-Gruppe unterhielt durchaus enge Beziehungen zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt. Sie besaß nicht nur einen riesigen Einzugsbereich, sondern auch eine bemerkenswert stabile räumliche Basis, einen Rückzugsraum, von dem Bevölkerung und Staat sehr wohl Kenntnis hatten. Schon jetzt kristallisiert sich heraus, dass die Haltung der religiös bzw. konfessionell heterogenen Bevölkerung gegenüber den Gewaltakteuren und ihren Praktiken nicht davon abhing, ob es sich bei den Räubern um „gute“ (Sozialrebellen) oder „schlechte“ (schlichte Wegelagerer) gehandelt hat, wie es die ältere Forschung unter dem Einfluss nationalistischer Paradigmen allzu häufig angenommen hat, sondern davon, ob die Räuber zur selben Religion, Konfession, zur selben Abstammungsgemeinschaft oder zur selben Gemeinde gehörten, wie die, die ihnen Unterstützung boten oder sich ihnen gegenüber mehr oder weniger indifferent verhielten. Insbesondere die Religionszugehörigkeit muss in der segmentären Gesellschaft des Osmanischen Europas offensichtlich als eine Art Legitimationsressource für Duldung oder Akzeptanz des Verhaltens räuberischer Gewaltgemeinschaften angesehen werden.42 Da von der bisherigen Forschung neben der Volksepik vor allem Schriftquellen osmanischer und nur in geringem Maße auch venezianischer Provenienz herangezogen worden sind, in denen beide Gruppen lediglich als Gewaltakteure in Erscheinung treten, sind die Fragen nach der inneren Struktur beider Gewaltgemeinschaften, nach den Bedingungen ihres Entstehens und Vergehens sowie nach deren Einbettung in die gesellschaftliche Ordnung von der historischen Forschung kaum thematisiert worden. Deshalb gilt es zunächst die Frage nach der sozialen Logik von Gewalt aufzugreifen. In den „staatsfernen“ Gebieten 40 Ebd. Eine ausführlichere Darstellung dieses Vorfalles und seiner Konsequenzen bei Helmedach, Beute, S. 213 f. 41 Vgl. ebd., Poz. Br. 3/4 – 5 und Poz. Br. 3/8. 42 Vgl. dazu aus einer anderen Perspektive auch Sundhaussen, Dorf, Religion und Nation.

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sowohl der Osmanen als auch der Venezianer stellte der Einsatz von Gewalt nicht nur ein Mittel zur Aneignung materieller Güter dar, sondern diente auch dazu, bestimmte Wertvorstellungen und Handlungsnormen durchzusetzen. Während für die Räuberbanden aus dem dalmatinischen Raum, die in osmanisches Gebiet einfielen, noch keine Studien vorliegen, zeichnet die historische Forschung für die cˇete ein Bild, in dessen Zentrum der Ehrbegriff einer patriarchalischen Gesellschaft steht. Gerhard Gesemann hat schon vor langer Zeit von der „heroischen Kultur“ der Balkanvölker gesprochen;43 Herfried Münkler hat unter dem Eindruck der „Neuen Kriege“ vor einigen Jahren den Begriff „heroische Gesellschaften“ geprägt, in denen die Würde, die mit Gewalt zu verteidigen sei, und die Ehre, die aus der Bereitschaft zum Selbstopfer erwachse, eine so große Rolle spielten, dass diese Gesellschaften friedensunfähig seien und in ihnen der Krieg – der „neue Krieg“ – endemisch sei.44 Viele der genannten Schriften zum Balkanraum stehen unter begründetem Ideologieverdacht und zeigen damit vor allem die Notwendigkeit, die soziale Logik von Gewalt in dieser Region einer genauen historischen Analyse zu unterziehen. Die pastorale Lebensweise, die vor allem in der Transhumanz ihren Ausdruck fand, verpflichtete den Mann, zum Schutz von Mensch und Tier gegen äußere Feinde zu kämpfen und sich dabei der Bewältigung der Gefahr gewachsen zu zeigen.45 Es gibt Hinweise darauf, dass seit dem 16. Jahrhundert in den westbalkanischen Grenzgebieten zwischen Venedig, der habsburgischen Militärgrenze in Kroatien und dem Osmanischen Reich der Brauch des Mädchenraubes verstärkt wiederauflebte und mancherorts (Josef Matl nennt das Gebiet von Udbina bei Metkovic´, man könnte auch noch das der Venedig untertänigen Krivosˇije an der Grenze zum Territorium Dubrovniks anführen) „die Normalform zur Gewinnung einer Frau“ gewesen sei.46 Es waren diese gesellschaftspsychologischen Hintergründe, vor denen sich der Mann dem Druck ausgesetzt sah, Überfälle zu begehen, um dadurch sein Gesicht wahren zu können. Wenn aber jemand sein Ansehen verlor, wurde er zum Außenseiter und verlor den „weißen“ Ruf.47 Die Kenntnisse des Historikers über das Normensystem, welches für die Ausübung von Gewalt durch Räuberbanden aus diesem Raum im 17. und 18. Jahrhundert mit ursächlich war, beruhen zum einen auf Studien über ver43 Gerhard Gesemann, Heroische Lebensform. Zur Literatur und Wesenskunde der balkanischen Patriarchalität, Berlin 1943. Vgl. auch ders., Der montenegrinische Mensch. Zur Literaturgeschichte und Charakterologie der Patriarchalität, Prag 1934. 44 Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg 2002. 45 Koller, Bosnien, S. 44. 46 Matl, Hirtentum, S. 151 (dort auch das Zitat); sowie Helmedach, Beute, S. 216 ff. mit weiteren Belegen zum Mädchen- und Frauenraub. Vgl. auch Mayhew, Dalmatia, S. 260 ff. 47 Christopher Boehm, Montenegrin social organizations and values, New York 1983, S. 73.

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gleichbare Regionen auf dem Balkan oder im gesamten Mittelmeerraum.48 Zum anderen ist er auf die Aussagen der Volksepik angewiesen, die aber einen objektiven Blick auf die Strukturen und das Agieren der Gewaltgemeinschaften erschweren. Zahlreiche dieser Texte wurden im 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Romantik und des aufkommenden Nationalstaatsgedankens teilweise erheblich verändert. Ihre Interpretation oblag zudem stets ideologischer Beeinflussung. Daher konnte die soziale Logik von Gewalt bei den hier zu untersuchenden Gewaltgemeinschaften von der bisherigen Forschung auf der Grundlage der bis dato herangezogenen Quellen kaum eingehender analysiert werden. Die Verwendung bisher kaum bearbeiteten Quellenmaterials sowohl venezianischer als auch osmanischer Provenienz, das im Archiv des venezianischen Generalproveditors in Zadar überliefert ist, soll diese Lücke schließen. Ein zweiter Problemkomplex betrifft die inneren Strukturen dieser Gewaltgemeinschaften, deren Kenntnis zugleich für das Verständnis des Entstehens und Vergehens dieser Gruppen von elementarer Bedeutung ist. Die bisher untersuchten Verwaltungsdokumente ragusanischer, osmanischer oder venezianischer Provenienz erwähnen meist nur die Größe einer solchen Bande, bestenfalls noch die Herkunftsregion und den Namen des Anführers. Die Epik wiederum zeichnet in Bezug auf die Gewaltgemeinschaften aus dem montenegrinisch-herzegowinischen Raum das Bild einer hierarchisch organisierten Gruppe, die von einem gemeinsamen Wertekanon zusammengehalten wurde. Alle Aussagen der Epik stimmen darin überein, dass die cˇeta nur für eine bestimmte Zeit zusammenblieb. Doch bereits im Hinblick auf die soziale Struktur variieren die Angaben und verweisen darauf, dass Menschen mit dem gleichen Ruf, ganze Familien und Bekannte in eine solche Gewaltgemeinschaft aufgenommen wurden. Ebenso unsicher ist die Rolle der Frau innerhalb der cˇeta und trotz der patriarchalischen Gesellschaftsordnung in dieser Region gibt es auch Volkslieder, die von einer weiblichen Anführerin zu erzählen wissen. Doch bleibt dieser Aspekt ebenso im Dunkeln wie die Entstehung einer solchen Gewaltgemeinschaft, über die keine Informationen vorliegen. Idealisierend berichtet die Epik nur von verschiedenen Aufnahmeriten, in denen die Bedeutung von Heldentum, Ritterlichkeit und Bruderschaft für den Zusammenhalt der Gruppe unterstrichen worden sei.49 Es ist zu vermuten, dass die Mitgliedschaft in einer ˇceta, für die Männer im montenegrinisch-herzegowinischen Raum nicht ungewöhnlich und daher die Räuberei dort ein allgemein akzeptierter Bestandteil des gesell48 John Kennedy Campbell, Honour, family and patronage. A study of institutions and moral values in a Greek mountain community, Oxford 1964. 49 Vgl. Dusˇan Popovic´, O hajducima, S. 148; Gligor Stanojevic´, Istorija Crne Gore [Geschichte Montenegros], Bd. 3, Beograd 1975, S. 60.

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schaftlichen Lebens gewesen ist. Das Ausmaß der Unsicherheit, das in Bezug auf diese Gewaltgemeinschaften in der Forschung besteht, lässt sich an den Angaben über die Größe dieser Gruppen erkennen, die zwischen fünf und über tausend Personen schwanken. Im Bereich der Spekulation bleibt auch die hierarchische Ordnung solcher Gewaltgemeinschaften. Es ist wiederum nur die Epik, die einige Anhaltspunkte liefert. An der Spitze standen demnach ein oder zwei als harambasˇa bezeichnete Anführer, denen in der inneren Ordnung bayraktare (Fahnenträger) folgten – wieder treffen wir also auf die Nomenklatur der osmanischen Militärgrenze, des serhad, und der Martolosenverbände. Diesen Anführern oblag auch die Verantwortung über die neuen Mitglieder einer cˇeta. Auf der nachfolgenden tieferen Stufe standen die kalaus, welche die Gruppe durch das Gelände führen und daher auch Kenntnisse der osmanischen Sprache haben mussten.50 Jedoch ist der historischen Forschung weder bekannt, inwieweit dieses „Idealbild“ einer cˇeta der Wirklichkeit entsprach, noch kann sie die Frage nach regionalen Besonderheiten dieser Gewaltgemeinschaften beantworten. Die fehlenden Informationen über das Entstehen und Vergehen dieser Gewaltgemeinschaften verweisen auf einen dritten Fragenkomplex, den das hier vorgestellte Forschungsvorhaben aufgreifen muss. Es handelt sich dabei um die Verflechtung dieser Gewaltgemeinschaften mit der sie umgebenden sozialen und politischen Ordnung. Im Hinblick auf die dalmatinischen Räubergruppen, die in osmanisches Territorium einfielen, war besonders der sogenannte Candiakrieg um die Insel Kreta (1645 – 1669) ein einschneidendes Ereignis, da er die soziale Ordnung in dieser Region stark erschütterte. Die Soldaten unterschiedlichster regionaler und ethnischer Herkunft in Dalmatien bildeten sowohl während als auch nach den Kampfhandlungen gleichsam ein unerschöpfliches Reservoir für das Räuberwesen.51 Als sich nach dem Krieg die osmanisch-venezianischen Handelsbeziehungen wieder intensivierten, waren die dalmatinischen Häfen Zadar und Split die wichtigsten Tore für den Export von Tieren und anderen Gütern auf die Appeninhalbinsel. Besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich daher auch ein Anstieg der Überfälle auf Karawanen beobachten, die sich auf den Weg zu den Häfen machten.52 Jedoch hat sich die 50 Miodrag Stojanovic´, Hajduci i klefti u narodnom pesnisˇtva [Haiducken und Klephten im Volkslied], Beograd 1984. 51 Vgl. Mayhew, Dalmatia, S. 256 ff.; sowie Bracewell, Uskoks in Venetian Dalmatia, passim. 52 Vgl. Sejid Traljic´, Trgovina Bosne i Hercegovine sa lukama Dalmacije i Dubrovnika u XVII i XVIII stoljec´u [Der Handel Bosniens und der Herzegowina mit den Häfen Dalmatiens und Dubrovniks im 17. und 18. Jahrhundert], in: Pomorski zbornik povodom 20. godisˇnjice Dana mornarice i pomorstva Jugoslavije, Zagreb 1962, S. 343 – 369; Sˇime Pericˇic´, Dalmacija; ders., Gospodarska povijest Dalmacije od 18. do 20. stoljec´a [Wirtschaftsgeschichte Dalmatiens vom 18. bis zum 20. Jahrhundert], Zadar 1998.

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Historiographie noch nicht eingehender der Frage nach der Zusammenarbeit der Briganten mit Amtsträgern der osmanischen und venezianischen Provinzverwaltungen zugewandt. Einige Anhaltspunkte liegen bisher nur für die cˇete im montenegrinisch-herzegowinischen Raum vor. Aus dem Briefverkehr lokaler Notabeln (ayan, kapudan) wird ersichtlich, dass vielfältige Beziehungen zwischen den Banden und der osmanischen Administration bestanden. Anführer der Banden ließen beispielsweise ihre Söhne als Geisel zurück, um ein gutes Verhältnis zu diesen „Provinzfürsten“ zu erhalten. Außerdem stellten sie sich selbst als Geiseln zur Verfügung, wenn es die ökonomischen Umstände erforderlich machten. Als in den montenegrinischen Bergen eine Hungersnot ausbrach, hofften die Menschen auf Getreidelieferungen aus der Stadt Niksˇic´. Gegen die Stellung einer Geisel traf die erbetene Hilfe ein.53 Die Banden scheinen auch eng mit Teilen der lokalen Bevölkerung in den Gebieten verbunden gewesen zu sein, die sie mit ihren Überfällen heimsuchten. Einerseits trieben die Menschen freiwillig Handel mit den cˇete, und andererseits kamen aus ihren Reihen auch die Hehler, die – teilweise unter Androhung von Gewalt – das Diebesgut vertreiben mussten. Jedoch bietet das von der bisherigen Forschung genutzte Quellenmaterial nur vereinzelte Einblicke in derartige Netzwerke und erlaubt keine aussagekräftigen Analysen der Einbettung der Räuberbanden in die sie umgebende politische und soziale Ordnung. Vergleichbares gilt für das venezianische Herrschaftsgebiet des Oltremare, aus dem etwa für das späte 18. Jahrhundert allerdings auch Hinweise vorliegen, dass sich ganze Dorfgemeinschaften unter der Leitung ihrer Vorsteher an Raubzügen beteiligt haben sollen. Im Staatsarchiv des kroatischen, ehemals venezianischen Zadar (italienisch Zara) werden Schriftzeugnisse venezianischer und osmanischer Provenienz aufbewahrt, die einen tieferen Einblick in das Innenleben räuberischer Gewaltgemeinschaften Dalmatiens und Bosniens ermöglichen. Der dort amtierende venezianische Generalprovveditor war für die Beziehungen des schmalen venezianischen Küstenstreifens mit dem osmanischen Hinterland zuständig; seine hauptsächlichen Kommunikationspartner waren dabei der jeweilige Gouverneur (pas¸a, vali) von Bosnien in Travnik sowie verschiedene Grenzkommandeure. Da die als provveditori eingesetzten venezianischen Adligen weder Osmanisch noch Südslawisch verstanden, beschäftigte der venezianische Staat dort Dragomane, welche die Akten übersetzten, so dass ein Großteil der Überlieferung zweisprachig vorliegt. Die hier in beiden Richtungen äußerst durchlässige Grenze zwischen „Orient“ und „Okzident“ und der über sie hinweg verlaufende Handel und Wandel gaben zu einem intensiven Schriftverkehr der staatlichen Stellen beider Seiten Anlass, sei es, dass Gewalttäter in die eine oder andere Richtung über die Grenze entwichen waren, sei es, dass eine Seite 53 Koller, Bosnien, S. 54.

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Übergriffe von Untertanen der jeweils anderen gegen eigene zu beklagen hatte.54 Die Grenzen zwischen den Untertanen beider Seiten verwischen dabei sehr häufig und mehr als einmal gewinnt man den Eindruck, als hätten pas¸a und provveditor den Umtrieben der lokalen Bevölkerung in gleicher Ratlosigkeit einträchtig gegenüber gestanden. In wohl einzigartiger Weise bietet der genannte Quellenkorpus durch zwei Jahrhunderte hindurch beide Perspektiven auf die Gewaltakteure. Sie eignen sich in besonderer Weise für den Blick in die Gewaltgemeinschaften, da nicht nur die venezianischen wie osmanischen Stellen „vor Ort“ häufig recht gut über die familiäre Zugehörigkeit und regionale Herkunft der Briganten informiert waren, sondern auch diese selbst sich mit Schreiben an die staatlichen Stellen wandten.

4.

Ausblick

Hier konnte nur ein Werkstattbericht geliefert werden, in dem einige Themen des begonnenen Forschungsvorhabens „Gewaltgemeinschaften im westlichen Balkanraum“ anzureißen waren. Zu fragen bleibt nach der inneren Struktur beider Typen von räuberischen Gewaltgemeinschaften, nach den Bedingungen ihres Entstehens und Vergehens sowie nach der Einbettung der Banden wie auch ihrer einzelnen Mitglieder in die gesellschaftliche Ordnung, nach so elementaren Themen wie Größe, Zusammensetzung, Gewalt- und Beutepraktiken der Banden sowie den räumlichen und zeitlichen Schwerpunkten ihres Auftretens. Auf dieser Basis könnten dann drei vertiefende Rahmenfragestellungen verfolgt werden: erstens die Kommunikation dieser Gemeinschaften mit ihrer gesellschaftlichen Umwelt, zweitens das Verhältnis von räumlicher Mobilität und Immobilität und schließlich drittens der soziale Wandel bis hin zur Auflösung dieser nur für begrenzte Zeiträume existierenden Formationen. Wie gestaltete sich das Verhältnis der Räubergruppen zu den anderen Gruppen der segmentierten Gesellschaften des westlichen Balkanraumes? Wie bildeten sich situative oder dauerhafte Täter-Opfer-Beziehungen heraus? Welche Rolle spielten die Staaten in diesen Beziehungsgeflechten? Wie war das Verhältnis von Einzugsgebiet, Aktions- und Rückzugsraum und wie waren diese Räume strukturiert? Welche Rolle spielten staatliche Grenzen für räumliche Mobilität und Kommunikationsstrukturen der Gewaltgemeinschaften? Wie wurden neue Mitglieder rekrutiert, wie schieden andere wieder aus? Gab es Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der Gruppen und welche Rolle spielte dafür Verwandtschaft? Hatten die 54 Von den jugoslawischen Forschern hat sich nur der Bosnier Sejid Trajic´ näher mit dem genannten Aktenbeständen beschäftigt. Über die Gründe hierfür soll an dieser Stelle nicht spekuliert werden.

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Gewaltgemeinschaften selbst eine Erinnerungskultur und wie wichtig war diese für ihren inneren Zusammenhalt und für ihre Kommunikation mit der Außenwelt? Wie wurden die Gewaltgemeinschaften nach ihrer Auflösung in die Erinnerungskultur ihrer Ausgangsgesellschaften eingebettet?

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The Culture of Inter-Religious Violence in Anatolian Borderlands in the Late Ottoman Empire

The Ottoman Empire and its successor, the Republic of Turkey, were plagued by unresolved tension between the centre and its periphery.1 Efforts to integrate the periphery, which was semi-autonomous, often led to violence. The harder the central government strove to control the periphery, the more violence was created. The regimes of the Sultan’s court and even the Young Turk rule after their revolution of 1908 ruled the provinces with an underpaid bureaucracy appointed for a short-term and staffed by people who were strangers to the communities they administered. The local society was composed of an undifferentiated mass of agriculturalists with a high stratum of religious and nonreligious patriarchal notables, the ayan. The agents of the central government were usually dependent on the co-operation with local strongmen, which hindered the implementation of national policies. This made the process of centralisation protracted and impatience led to outbreaks of violence. Genocide per definition is a criminal act instigated by a government in order to destroy an ethnic, religious or racial group through mass-murder and other brutal activities. During World War I, Armenians, Assyrians and Greeks were the object of a genocide initiated by the Ottoman regime. They were easy targets, because they differed from the majority Muslim population through language and religion. The cause of the genocide has not been completely researched, but the main factors are presumed to be a mix of newborn nationalistic Turkish ideology in collision with embryonic Armenian and Kurdish nationalism, growing religious friction between popular Muslim extremists and the peoples they termed gavur (infidel), ethnic commercial competition, failed constitutional reforms for granting non-Muslims equal citizenship, coupled with acute material needs for land to settle Muslim refugees from the Caucasus and Balkans. In addition to these reasons, I will add a functional element for the purpose of explaining why the Ottoman genocide of 1915 was completed in the short period 1 S¸erif Mardin, Center-periphery relations. A key to Turkish politics?, in: Daedalus 102/1, 1973, pp. 169 – 90; id., Religion, society, and modernity in Turkey, Syracuse, NY 2006.

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of six months. I will argue here that the extreme genocide perpetrated against the Armenians and Assyrians during World War I can be seen as the culmination of a process of integrating the distant provinces of Anatolia into a state project. Sociologically, the various local militias and death squads created for the purpose of exterminating the Armenians and Assyrians created powerful new links between the state and the local communities. Under the umbrella of a total war, the radical Committee for Union and Progress (CUP) nationalist government instituted a program for the “Turkification” of the country through state-orchestrated violence and large-scale forced dislocation of groups that resisted Turkification.2 These were mostly Christians of various confessions who since the 1878 Treaty of Berlin had Great Power support for their claims to cultural autonomy and freedom from harassment from Kurdish and Circassian tribes. The Ottoman project of replacing Anatolia’s Christian population fitted well into the desires of local non-religious Muslim notables to grasp the wealth of their urban rivals, who were often Christians, and to seize the farm land occupied by the rural Christian villagers. This linked into the desires of local religious notables to decrease the status of the non-Muslim community. In turn the local notables gave voice to national suspicions accusing the Christians as spies for the enemies literally on the verge of rebellion. Immediately after the massacres and deportations, Muslim refugees were resettled into Christian homes while the government confiscated their valuables. For perhaps the first time ever, it proved possible to mobilise the provincial communities for a central state project. The combination of economic and religious motives deepened the link between local forces and the political structure so that their traditional distrust of high officials was temporarily neutralised. This made possible a hitherto unparalleled explosion of genocidal activities that almost totally eradicated the Armenian population from provincial Anatolia and nearly accomplished the same for the Assyrians. After the war, once the genocide project was over, the conflict of interests between centre and periphery resumed in full force, at least in Kurdistan.

1.

A spiralling conflict

There is some difference of opinion as to the level of inter-ethnic warfare in eastern Anatolia at the start of the Twentieth Century. The Anglican Minister W. A. Wigram, who was close to the Assyrian tribes in the Hakkari Mountains, reported a major breakdown in the balance of violence. The Kurdish tribes no 2 Nesim S¸eker, Demographic engineering in the late Ottoman Empire and the Armenians, in: Middle Eastern Studies 43, 2007, pp. 461 – 74.

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longer observed the customary etiquette of tribal war and had become increasingly deadly. The Assyrian tribesmen told him that chronic inter-ethnic and inter-religious fighting had assumed more brutal proportions. Battles between the Muslim and Christian tribesmen were “by no means intolerable a generation ago […]; arms were approximately equal; and the Christians, though outnumbered, had strong positions to defend, and were of good fighting stock, as men of Assyrian blood should be. So, until [Sultan] Abdul Hamid’s day, the parties were fairly matched on the whole; and generations of ‘cross-raiding’ had evolved an understanding in the matter, capable of summary statement as ‘Take all you like, but do not damage what you leave; and do not touch the women.’ Thus livestock were fair lot, and so were carpets and other house-furniture, and arms of course. But the house must not be burnt, and standing crops and irrigating channels not touched, while a gentlemanly brigand would leave the cornstore alone. Women were never molested when a village of ashirets [tribesmen] was raided, until a few years ago. And this was so thoroughly understood that it was not necessary even to guard them. […] Of late things have changed for the worse in this respect. Women are not always respected now; and the free distribution of rifles among the Kurds has done away will all the old equality. This was done, when the late Sultan raised the ‘Hamidiye’ battalions; partly for the defense of his throne, partly perhaps with the idea of keeping the Christians in subjection. Now when to odds in numbers you add the additional handicap implied in the difference between Mauser and flintlock, the position becomes impossible; and the balance has since inclined steadily against the Christian tribes”.3 The British archaeologist and later government advisor on Iraq, Gertrude Bell, passed through Diyarbakir and noted the inter-religious tension. She wrote to her mother about: “the nervous anxiety which is felt by both Christians and Moslems – each believing that the other means to murder him at the first opportunity – is in itself a grave danger and very little in Diyarbakir is needed to set them at each other’s throats. During the three days that I was there tales of outbreaks in different parts of the empire were constantly being circulated in the bazaars. I have no means of knowing whether they were true, but after each new story people went home and fingered their rifles.”4

At about the same time as Wigram and Bell wrote down their observations, the British politician and military officer Mark Sykes drew the exact opposite conclusion. He held that the degree of violence was mild and seldom bloody. He seemed to liken the raids to English fox hunting. Even the possession of more 3 William A. Wigram / Edgar Wigram, The cradle of mankind life in Eastern Kurdistan, London 1914, pp. 167 – 8. 4 Gertrude Bell to her mother June 6, 1909, Gertrude Bell Archive, University of Newcastle.

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deadly modern weapons was not really a problem, since their existence resulted in greater caution in shooting. “In March and April, north, south, east, and west – all Jazirah [synonym for Mesopotamia] – is at war, not because the people are bloodily minded, not because they are rapacious, not because they are savage; but because it is such fun. In the spring of the year, when the grass is rich, the camels sleek, the sheep fat, the horses swift, what better sport is there than a foray into your neighbour’s pastures? – a twenty hours’ ride, a wild swoop on some unguarded herds of camels, and a vainglorious homeward flight, or perhaps a thirty-mile battle over hill and dale, with 500 young bloods aside; yelling, whooping, brandishing lances, firing from the saddle, tumbling over neck and crop in the dust when a horse misses its footing, surrendering or fleeing when the action comes too close? Now and again a man is killed, it is true; but that is a rare event which adds the necessary spice of danger to the glorious pastime of desert battle.”5

Perhaps, the difference in view is explained by the missionary’s religious sympathy for the Assyrians, and the adventurer’s romantic sympathy for nomadic tribes. Among all the foreign observers Sykes is among the few that downplay the level of conflict in the Anatolian borderlands. Those with long experience of the area – missionaries and foreign consuls above all – stressed the debilitating effects of tribal warfare on the Christian communities. Throughout the nineteenth century Diyarbakir province was marked by increasingly brutal violence. Simple small-scale cattle stealing developed into fullblown battles with thousands of tribesmen ranged against large Ottoman armies. The battles aimed at bringing new territory under control and at the same time smashing rival tribes into total defencelessness. Several factors were at play – one was the ambition of certain local Kurdish chiefs to create enlarged emirates by conquering or coercing their neighbours. Another was the systematic attempt by the Ottoman leadership to bring the previously autonomous emirates of Kurdistan under direct government control. The balance of power between the Kurdish emirs and the Ottoman authorities shifted over time, but eventually the government tightened its grip over the region, succeeding in incorporating some of the tribes as Cossack-like cavalry units, the so-called Hamidiye regiments, into government rule. At the time of the genocide, Diyarbakir, as the border between Turkish, Kurdish and Arab territories, was a key province as a major proportion of deportation caravans had to pass through it on the way to the desert. Outright military violence dated back to the revolt of Muhammad Ali Pasha, the self-proclaimed ruler of Egypt. This resulted in the Egyptian army’s invasion of the Levant and the following decade-long occupation of Syria (1831 – 1840). 5 Mark Sykes, The caliph’s last heritage. A short history of the Turkish Empire, London 1915, p. 302.

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The repeated crushing defeats suffered by the Ottoman army exposed the weakness of the Sultan’s government and encouraged Kurdish emirs and derebeys (valley lords) to begin aggrandising their territorial control and one or two strongmen came out in full revolt. The most successful rebel at this early stage was Mohammad Pasha, the emir of Rowanduz on the border to Iran. He conquered several neighbouring principalities as far west as the Tigris River and was able to field very large tribal forces. To meet this challenge, Rashid Pasha, a former Grand Vizier, was sent in with a huge army. His task proved to be the first step of what was to become a long-standing Ottoman policy of suppressing, one by one, all of the autonomous emirates in Kurdistan.6 The previously mentioned Muhammad Pasha of Rowanduz had inherited his emirate in 1814. Ambitious and aggressive, he assassinated his closest rivals, including relatives. Once in stable command, he began to attack the neighbouring tribes. His vision had a religious aspect and his actions resulted in the near extermination of the Yezidis of Shaikhan in 1831 – 32 and a fatwa by a local mufti gave his campaign the spirit of jihad. The Yezidis are an indigenous nonMuslim Kurdish-speaking religious group, widespread in northern Mesopotamia and often termed devil worshipers. Although the Yezidis definitely suffered most, even Christian villages that were in the way were massacred and plundered. From this time great pressure was put on the Yezidis to convert to Islam and many did so. However, the Yezidis and Christians realised that they had a common enemy and developed a certain tradition of mutual aide. Then, Muhammad Pasha moved against the weaker emirate of Bahdinan (situated on the Turkey-Iraq border) with its large Christian minority. The emir appealed for help from the Assyrians of Hakkari, but they declined to join the fight. This caused bad feelings as the emir and the Assyrians had formerly been on quite good terms, and it can be seen as a large step towards a breakdown of MuslimChristian co-operation. His invasion continued west into Tur Abdin with forays as far away as Hasankeyf, Mardin and Nusaybin and he besieged the large Assyrian village of Azakh (now renamed I˙dil). But in 1834 Rashid Pasha arrived leading a much superior Ottoman army and captured the emir and sent him to Constantinople and he disappeared. The results of the campaigns of the emir of Rowanduz were the spreading of the Kurdish-Ottoman conflict from Iraq westwards and northwards, the introduction through a fatwa of a religious aspect in attacking the non-Muslims, and the disproportional high level of destruction employed against the Yezidi villages pushing survivors westwards. The next major confrontation between the central government and an ambitious local prince came after the emir of Bohtan, Badr Khan, had built up a large territorial coalition ruling from his main town Jezire-ibn-Omar (now 6 Wadie Jwaideh, The Kurdish national movement. Its origins and development, Syracuse 2006.

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Cizre), a fortress and market-place on an island in the Tigris River. While the Ottomans were elsewhere occupied with losing battles against the Egyptian army, the previously rather minor figure Badr Khan took advantage of Turkish military weakness to expand his sphere of influence. The crushing of the emirates of Rowanduz and Bahdinan left a vacuum of power that he could easily move into. The neighbouring emirate of Hakkari was shaken by a disputed succession resulting in a breach between the Hakkari Kurds and the Assyrian tribes. Badr Khan quickly rose from insignificance and at the height of his power, his state extended “from the Persian line on the east to far into Mesopotamia on the west, and from the gates of Diyarbekr to those of Mosul”.7 Badr Khan used the problem of the disputed succession to the emirate of Hakkari as a pretext to invade. Up until then it had been said that the so-titled Mar Shimun, as the combined secular and religious head of the Assyrian tribes, was also the second in command to the Muslim emir of Hakkari and ruled in his absence. During a first invasion in 1843 the Assyrian mountaineers were singled out for massacre and an estimated seven to ten thousand were killed in what one missionary termed a “war of extermination.”8 Hundreds were captured and enslaved and the Mar Shimun fled to the British consulate in Mosul. To begin with, Badr Khan had the support of anti-Mar Shimun oppositional Assyrians, but in a second invasion in 1846 even these communities were massacred.9 He appeared to be preparing to form an independent state. He established a rifle and ammunition factory in Jezire, formed a standing army and as a symbol of his new independence, even minted his own coins. An Ottoman army sent in to defeat him had considerable difficulty with several heavy battles in and around Jezire but after some time he surrendered in 1847. His heirs, however, continued to claim influence over much of the surrounding districts.10 After Badr Khan was brought under thumb, other Kurdish chiefs took his place, but they seldom succeeded in ruling for long periods and the area they controlled was usually very limited. The Ottoman armies became strong enough to win over Kurdish forces in a running battle and they introduced modern weapons. Among the claimants for Kurdish leadership was §zdan S¸Þr, who invaded the then predominantly Christian Tur Abdin in 1855, and “savagely killed and enslaved the Syriac people, making them homeless and raped their property, destroyed their houses”. The invaders burned the “green and dry” 7 Account of the visit of Dr. Wright and Mr. Breath to Badr Khan, in: The Missionary Herald, XLI, 11, 1846, p. 381. 8 Letter of Dr. Grant July 5, 1843, in: The Missionary Herald, XXXIX, 11, 1843, p. 434. 9 Hirmis Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans. Intercommunal relations on the periphery of the Ottoman Empire, Amherst, NY 2008, p. 257. 10 Sinan Hakan, Osmanlı Ars¸iv Belgelerinde Kürtler ve Kürt Direnis¸leri (1817 – 1867), I˙stanbul 2007.

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crops, pulled down houses and kidnapped women and children. The Assyrians attempted to defend themselves, but were defeated and the tribes of Bohtan continued to ravage the Tur Abdin for about 30 years.11 In 1877 against the background of the on-going Russo-Turkish War, Badr Khan’s sons attempted to revive the emirate. They rebelled and occupied a vast stretch of territory extending to Mardin, Midyat and Nusaybin which they held for about eight months.12 The government sent in an army under general Shevket Bey and he sought and received the support of Assyrians and Yezidi volunteers. This was the first time non-Muslims supported the policy of the central government against the Kurdish tribes. They supplied warriors, scouts and advisors, which proved essential in tribal warfare. The Ottomans brought in canons and heavy armament. After the defeat of the last influential emirate in Diyarbakir’s vicinity, the leading Christian family of Midyat, the Safars, were rewarded by the Sultan with an honorary pasha title for their role. A young son of the Safar family, Hanne, as one of the few who knew Ottoman Turkish, served as advisor to the Ottoman general. Up until his death in the 1915 genocide he was the leading contact between the Assyrians and the government. A new turn of the screw in the increasing local violence came in the wake of the Turkish-Russian war of 1877 – 78. At that time the government felt that it had sufficient control over Kurdistan that they could trust Kurdish tribesmen to fight at the Caucasus front. If they volunteered they were to be out-fitted with state-ofthe-art Martini-Henry rifles (a breach-loading rifle standard equipment in the British army since 1871). When the war was over they were requested to return the rifles, but this seldom happened. Thus the strongest Kurdish tribes now had effective weapons and experience of war, but Assyrians often had to make do with home-crafted flintlock rifles that were normally used for hunting. By this time the position of the hereditary princely dynasties had been shaken, and in their place the Kurdish sheikhs emerged as new political leaders.13 Since the sheikhs were Muslim religious leaders, often also connected with widely supported Sufi orders, they could use their traditional role to build up a broad following. This had the effect of introducing religious differences into tribal warfare between the Kurds and Christians and making co-operation over religious boundaries more difficult. In the district south and west of Lake Van sheikh Celaleddin continually plundered Armenian villages and even monas-

11 Safar Safar, Sayfo Rabo. MajzarÚt MÚdyat wa Nakabat at¸ T ¸or (Unpublished manuscript in Arabic; cited with the permission of the Safar family), Mesopotamian Collection, Södertörn University ca. 1970 [without page numbers]. 12 Martin Van Bruinessen, Agha, shaikh and state. The social and political structures of Kurdistan, London 1992, p. 181. 13 David McDowall, A modern history of the Kurds, London 1996, pp. 50 – 9.

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teries and seized their land and flocks. Other sheikhs dismantled Armenian churches to use as building materials in their own houses.14 One of the politically most important sheikhs was Ubayd Allah, a leader of the Nakshbandi mystic order, who in 1880 is attributed with starting the first Kurdish nationalist revolt. Ubayd Allah portrayed himself as the protector of local Christians. His army included a contingent of Assyrian mountaineers headed by a Nestorian bishop.15 “Some of the Hakkari Nestorians, but not with the approval of the patriarch, were among his fighting men; he had succeeded in pressing about three hundred of them into his service. In spite of all his good intentions Ubaydullah was not always able to stop his hordes from molesting and plundering the Christian population.”16

Despite his intentions, the Kurdish nationalist operations worsened inter-confessional relations. Not only was long-standing populist friction between Muslims and non-Muslims on the rise, there was also a new political issue over just what population elements should be tolerated in a future independent Kurdistan. One innovation in the Ottoman policy of binding the loyalty of selected Kurdish tribes was the establishment in 1891 of irregular cavalry regiments, modelled on the Russian Cossack regiments. In return for loyalty to the Sultan, these tribes received special privileges. They were termed Hamidiye regiments as they were under the personal protection of Sultan Abdulhamid. Their chief was given a military officer’s grade, and the warriors were supplied with smart uniforms and modern weapons. These regiments proved a greatly disturbing factor for both Muslims and non-Muslims alike. As military regiments they were outside civil authority and courts of justice, and as irregular troops they were outside normal forms of military discipline. Thus they could and did act with impunity inside their home territory. Two powerful Hamidiye forces influenced the condition of the Christians in Diyarbakir. On one side was the Milli confederation, which had three regiments led by Ibrahim Pasha. On the eastern side were the Miran confederation led by Mustapha Pasha, which had two regiments. In addition there were a few smaller tribes with a single regiment such as the Karakechi, the Kiki-Kikan and the Bucak. Although all of them expressed loyalty to the Sultan, this did not hinder them from continual feuds with each other. When tribal wars broke out the brunt of the aggression was directed at burning and plundering the Christian villages

14 Arsen Yarman, Palu-Harput 1878 – C ¸ arsancak, C ¸ emis¸gezek, C ¸ apakÅur, Erzincan, Hizan ve Civar Bölgeler 2, Istanbul 2010, pp. 21 – 237, 318, 320. 15 Jwaideh, Kurdish national movement, pp. 235 – 6. 16 British Parliamentary Papers 100, Cmd. 2851 no. 56, 1881; and Samuel G. Wilson, Persia. Western mission, Philadelphia 1896, pp. 111 – 3.

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that were under the protection of the enemy tribe. A French consul stationed in Diyarbakir attested to the destructive effect of tribal warfare: “It is difficult for me to describe the deplorable situation in which the province’s Christian populations, especially those who live in the countryside, find themselves. Oppressed to no end, stripped of their belongings, they are forced, in order to gain some form of protection from the Kurdish aghas and beys of their region, to work for these people and to accept the harshest conditions of slavery. Despite that, they pay a great deal for their protection and yet are still the most frequent victims of rivalries between Kurdish chieftains, who when wanting to inflict reprisals, find nothing better to do than to kill and pillage each other’s fellahs – meaning Christians – and vice versa.”17

There are indications that non-Muslims fought alongside the Kurds. The consul in Diyarbakir wrote in 1904: “Since the beginning of the present year, the Beshiri and Midyat kazas have been in a desperate situation because of the rivalries among the many Kurdish tribes living there. […] The Christians and Yezidi that live there have been singled out and denounced to the Sublime Porte as disruptive elements who could cause the Government a great deal of embarrassment. I must not allow you to remain unaware that the situation of the Armenians and Jacobites, and of those Yezidi, is very different from that of other Christians scattered among that vilayet’s Kurdish tribes: while the latter are reduced to the most brutal slavery, the ones from Beshiri and Midyat have the privilege of being equal to the Muslims.”18

They were obliged to follow their Kurdish aghas and to take up their causes and even to help them in tribal warfare.19 Prior to the Armenian and Assyrian genocide during World War I, antiChristian feelings had culminated in widespread massacres in eastern Anatolia in 1895 – 96. The epidemic-like spreading of the pogroms and the participation of public officials in the agitation indicates a degree of organisation. It seems reasonable to assume that the government was in some way involved – the ambassadors of foreign countries believed it to be so – but it is hard to prove that the regime took the initiative. Diplomats noted that riots began at a predetermined hour and started with the blast of a trumpet. The Sultan’s government participated in a cover-up and was more than passive in pursuing the perpetrators. The French consul advised that what was called the “Armenian Question” actually included a wider Christian dimension: 17 Diplomatic Dispatch from Diyarbakir, 2, January 9, 1901. Cited in S¦bastien de Courtois, The forgotten genocide. Eastern Christians the last Arameans, Piscataway, NJ 2004, p. 141. 18 French diplomatic dispatch 10 June 3, 1904 cited in de Courtois, The forgotten genocide, pp. 144 – 5. 19 John Joseph, The modern Assyrians of the Middle East. Encounters with Western Christian missions, Archaeologists, and colonial powers, Leiden 2000, p. 111.

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“This state of affairs affects all Christians regardless of race, be they Armenian, Chaldean, Syrian or Greek. It is the result of a religious hatred that is all the more implacable in that it is based on the strength of some and the weakness of others. We might even say that the ‘Armenian issue’ is foreign to this matter, for if the Armenians are indeed the worst treated, it is because they are the most numerous and because it is easy to portray the cruelty with which they are subjected as a form of repression necessary for public safety.”20

In November 1895 deadly ethnic riots erupted in Diyarbakir with the torching of the bazaars. Mobs struck mainly against the large Armenian community with a thousand deaths and two thousand shops destroyed. But 167 Assyrians perished, 89 of their homes were plundered and 308 shops were plundered and burned.21 The German missionary Johannes Lepsius registered that a total of one hundred thousand Anatolian Christians had been killed, 2,500 villages had been reduced to rubble; 645 churches or monasteries had been destroyed; in 559 places entire congregations had converted to Islam under duress; 328 churches had been turned into mosques; and afterwards 546,000 refugees were left destitute.22 A British traveller through Diyarbakir just before World War I overheard conversations giving some evidence of government involvement – at least that was what popular opinion stated: “It is, among the underworld of western Kurdistan and northern Mesopotamia, a common subject of talk in the caf¦s how much the Sultan and the Government paid the ruffians of the town to do their dirty work, and how much [money] the Kurdish aghas presented to the authorities to be allowed to finish unhindered the blood-feuds that existed between themselves and Armenians sheltering in Diyarbakir and the towns of Armenia. A very reign of terror overshadows the apparently peaceful and prosperous town.”23

Christians and Kurds reacted differently to news of the Young Turk revolution of 1908. The Assyrians and Armenians welcomed the secular ideological statements implying the offer of full Ottoman citizenship in the near future. This was part of the promise of the revolution and it opened the door for non-Muslim political rights. But the Kurds, especially those with Hamidiye regiments, now found themselves without the patronage of the Sultan and feared loss of power and influence. The Kurdish sheikhs also rejected the revolution because of its 20 French vice-consul in Diyarbakir report 2, February 9, 1895 cited in de Courtois, The forgotten genocide, p. 101. 21 Gustave Meyrier, Les Massacres de Diarbekir. Correspondance diplomatique du Vice-Consul de France 1894 – 1896, Paris 2000, pp. 134 – 5. 22 Johannes Lepsius, Armenien und Europa. Eine Anklageschrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland, Berlin 1897, pp. 20 – 1. 23 Ely B. Soane, To Mesopotamia and Kurdistan in disguise. With historical notices of the Kurdish tribes and the Chaldeans of Kurdistan, London 1912, pp. 65 – 6.

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secular nature and they combined their customary defence of religion with a new dose of nationalism.24 From 1908 a series of Kurdish nationalistic revolts began and the Assyrians were caught up in these events. The embryonic Assyrian press commented on the increase of violence since 1908. The Mürs¸id-i ffs˜riy˜n (Guide of the Assyrians) published in Harput since 1909 attributed the conflicts to Kurdish chiefs who strove for autonomy under the belief that there had been a Kurdish empire dating to the time before Adam. It printed a letter in which a correspondent in Hasankeyf complained of the sacking of villages and monasteries and that there was “no government”.25

2.

Kurdish protectors of Assyrians

Mark Sykes had a conversation with Ibrahim Pasha, the legendary leader of the Milli confederation. The latter stated that when he took over headship of the tribe, he reinstated the “traditional customs of the tribe” which were: robbing caravans, protecting Christians, plundering the merchants of Diyarbakir. He encouraged Christians to take refuge in his town Virans¸ehir : “While other tribes and chiefs plundered and massacred Armenians, Ibrahim protected and encouraged Christians of all denominations. It is estimated that during the great Armenian massacres he saved some 10,000 Armenians from destruction.”26

Making allies with Kurdish strongmen was a way for Christians to find a certain degree of safety. In Tur Abdin many Assyrians were associated with the two major confederations in the region – the Deks¸uri, which was loyal to the government and the Heverkan, which was in steadfast opposition. It is probable that more Assyrians were aligned with the Deks¸uri than the Heverkan. The head family of Midyat, the Safars, were also leading members of the Deks¸uri. A family chronicle relates that in about 1894 Hanne Safar was selected to be the chief of the entire confederation. There was some religious based opposition to electing a Christian to rule the confederation. On his way to a tribal meeting, Safar was captured by a Kurdish agha. During the short captivity, according to the chronicle, Safar asked the agha why he was opposed. The latter replied that “according to the interpretation of our sheikhs it is not possible for a Christian to take responsibility for our matters and manage our issues and solve our problems”. Then Safar asked if he had any reason other than religion and the agha retorted: “Is there one greater than this?” Whether or not this conversation 24 Jwaideh, Kurdish national movement, pp. 301 – 15. 25 Cited from Benjamin Trigona-Harany, The Ottoman Süry–n„ from 1908 to 1914, Piscataway, NJ 2009, pp. 143 – 5. 26 Sykes, The caliph’s last heritage, pp. 321 – 4.

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actually took place, the chronicle goes on to let Hanne Safar hold a monologue on the unimportance of faith in tribal politics: “I personally do not see a good reason to withdraw my nomination because I am religiously different from you. Why do you mix religion and the affairs of the world? The Deks¸uri party is a clan party, based on the principles of co-operation, solidarity and brotherhood. It is a party which was established to preserve the rights of its clans and keeping borders and limiting influence and preserving pastures and water and protecting their territory from invasion and to help those under attack. So what does religion have to do with this?”27

Quite possibly this argument corresponded with the sentiments of the other Kurdish aghas who pressed for Safar’s candidacy. But it also shows an emerging polarity between two ways of political thought, either the traditional policy of following the most capable leader regardless of faith, or following another dogma rejecting any form of non-Muslim leadership.

3.

Breakdown

The picture of Kurdish-Assyrian relations has up to this point in the text shown a high degree of integration between the Kurds and Assyrians. But this integration was not peaceful, rather it led straight into a world filled with violence, raiding, rape, hostage-taking, cattle-stealing, robbery, plundering, torching villages, and a state of chronic armed revolt. The complicated structures that connected the Assyrians and the Kurds broke down to a great extent during World War I and resulted in a genocide and a near permanent rift between Kurds and Christians. This breakdown can probably be attributed to a new factor in domestic Turkish politics. The radical government policy displaced Christians from their homelands by force and evolved into one of the first examples of a politically motivated genocide.28 Despite the weakened bonds of Kurdish-Assyrian loyalty, the Assyrians had a slightly better chance of survival than the Armenians. Rh¦tor¦ completed his statistical estimates for population loss for the entire Diyarbakir province up to 1916 when he made his computation. He found that the losses for Gregorian Armenians were 97 percent of the original population and for Armenian Catholics 92 percent. Losses for the Syrian Orthodox were slightly less, that is 72 percent. When he investigated the Mardin district he found that the Syrian Orthodox loss of population was 57 27 Safar Safar, Sayfo Rabo. MajzarÚt MÚdyat wa Nakabat at¸ T ¸or, pp. 136 – 46. 28 For more on the genocide see David Gaunt, Massacres, resistance, protectors. MuslimChristian relations in Eastern Anatolia during World War I, Piscataway, NJ 2006.

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percent.29 They indicate that the eradication of the Assyrian population was extreme, but it was not as complete as for the Armenians. To a great extent local Kurdish tribes were caught up in an anti-Christian policy initiated and orchestrated by the government. This made it almost impossible to remain neutral. Death squad militiamen were recruited among urban Muslims in Diyarbakir, Jezire, Mardin and Nusaybin. They were given uniforms and military weapons and an officer led the unit. Often they could handle the massacring of a normal-sized village by themselves. However, if it was a large village, or if they expected resistance, they would call for a collection of warriors from nomadic tribes to assemble on a certain date and at a certain place, before attacking. It was hard to avoid such a summons. The vali of Diyarbakir went out of his way to seek out and recruit outlawed bandits who were given amnesty if they became the governor’s personal assassins.30 When plans for eliminating the Christian population came it was impossible for the government loyal Kurdish confederations to oppose. Thus the Milli, who under Ibrahim Pasha’s leadership had been famous for their protection, participated in the massacres under his son’s chieftaincy.31 The same was true for the Deks¸uri despite the fact that they had Assyrian sub-sections and close relations with the Christians of Midyat. But the Heverkan leaders promised to shield their clients. Thus the sections headed by the families of C ¸ elebi agha, Alike Bate, Sarokhano and Sarohan helped Assyrians by escorting them to defendable villages, or hid them in their own villages. One branch, however, turned on its initial promise of help and that was the one led by Hassan Haco in the district east of Nusaybin. It appears that he was pressured by the authorities to participate or be punished. Other chiefs who protected Assyrians in the Tur Abdin were Haco of the Kurtak clan and Musa Fatme of the Dayran clan.32 Armenians found refuge among the Kurds of Dersim and the Yezidis of Sinjar. After the World War was over, it proved nearly impossible for survivors and refugees to return to their farms. C ¸ elebi agha, who sat out the war in prison, helped Assyrians to return to their lands in the villages of Boqusyono, Mizizah and Zaz. Even a catastrophe such as the genocide of 1915 could not entirely break all of the bonds between Diyarbakir’s Assyrians and Kurds. But they were never again on the same level of equality. 29 Jacques Rh¦tor¦, Les Chr¦tiens aux bÞtes. Souvenirs de la guerre sainte proclam¦e par les Turcs contre les chr¦tiens en 1915, Paris 2005, pp. 136 – 8; see Gaunt, Massacres, resistance, protectors, pp. 301 – 3 for more calculations. 30 Hüseyin Demirer, Haver Delal, Unpublished typed manuscript in Turkish. Mesopotamian collection, Södertörn University. 31 Ishaq Armale, Al Quosara fi nakabat an-Nasara, Beirut 1919, p. 283; Marie-Dominique Berr¦, Massacres de Mardin, in: Haigazian Armenological Journal 17, 1997, p. 93. 32 Gaunt, Massacres, resistance, protectors, pp. 211, 240, 271.

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There was a great difference between the mass murder of 1915 and the previous violence. Before, the anti-Christian attacks were either a side effect of intertribal warfare or a target of local short-term pogroms. However, an elaborate net of organisations which orchestrated the mass killing during World War I saw to it that the killing was systematic with a near complete geographic spread over almost the whole country north of the Arab provinces and mopping-up operations ensured few of the targeted victims survived. The main part of the mass murder with hundreds of thousands of murders took place from May to October 1915. But a second wave of genocide took place in 1916 targeting concentration camps near the desert as well as deporting individuals who had received special permission to remain in their hometowns, and stragglers who had run away from the deportation caravans. About 250,000 Assyrians and more than one million Armenians were dead or missing without a trace at war’s end.33 Refugees were seldom able to return to their homes of origin. The wartime government was dominated by a radical nationalistic clique within the Young Turk movement that was known as the Committee for Union and Progress (CUP). While the government members were known such as Talaat Pasha, the minister of interior, and Enver Pasha, the minister of war, many of the most important members operated secretly and outside the legal system. Bahaeddin S¸akir, trained as a medical doctor and a member of the central committee of the CUP, was appointed political leader of a secret agency known as Tes¸kil–t-i Mahsusa (Special Organisation). His presence assured close contact between the central committee and the activities of the Special Organisation, which received new tasks during the war.34 It was originally set up in 1911 for two purposes: first, in order to assassinate political opponents both outside and inside the Young Turk movement; second, to function as intelligence agents spying in foreign countries. Because of the need to spy inside Tsarist Russia, a large number of operatives were recruited among the many Turkish-speaking refugees from the Russian conquests in the Caucasus, usually described by the collective term Circassians (in Turkish C¸erkes). A notorious hitman was C ¸ erkes Ahmed, who in 1915 murdered two of the most famous Armenian politicians, Krikor Zohrab and Vartkes, who were National assemblymen representing Constantinople. He did this on the road from Aleppo to Diyarbakir acting on

33 General surveys are: Raymond K¦vorkian, Le genocide des arm¦niens, Paris 2006; Gaunt, Massacres, resistance, protectors. 34 Taner AkÅam, A shameful act. The Armenian genocide and the question of Turkish responsibility, New York 2006, p. 96; Philip Hendrick Stoddard, The Ottoman government and the Arabs, 1911 to 1918. A preliminary study of the Tes¸kil–t-i Mahsusa, Ph.D.thesis, Princeton University 1963.

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orders from Talaat Pasha.35 Others liquidated lower ranking civil officials. During the war, the Special Organisation expanded its field of operations and became responsible for co-operating with local authorities in planning massacres, escorting deportation caravans, eliminating any potential administrators who opposed the massacres, as well as recruiting the rank and file of the militias or gangs (the often used term was Åette, Turkish for gang) that formed the death squads. There were two forms of Åette militias. One was mobile and could be sent from place to place as need arose. Volunteers came from Kurdish tribesmen, as well as refugees from the Caucasus or Balkans. Quite often the members were recruited from known criminals who could get a reprieve from banishment or release from prison in return for becoming part of a killing squad. The mobile gangs were under the command of the Third Ottoman Army, as were the spies and gunmen.36 There were several reasons for recruiting prisoners, not least because they could be easily disposed of once their task was over. The governor of Yozgat is reported to have proclaimed when being pressured by CUP politicians to start massacres: “I will never allow the gendarmes to kill the deportees, you had better release all the convicts and allow them for days to murder the Armenians, and after that allow me to catch with my gendarmes all the convicts and have them killed.”37

The other form of Åette was based locally in the administrative capitals. Local CUP party secretaries recruited them from local Muslims to form a kind of Home Guard. They wore special uniforms or had distinct armbands. Weapons were army reserve rifles and the highest commander was usually a military officer, but in some cases it could be a CUP politician. A large city could have many separate units that could be assigned to tasks in and around their home cities. The heads of the various subunits were local residents, for instance a leather merchant in Yozgat, an apothecary in Erzincan, a CUP local club secretary in Sivas, a member of the Muslim ulema priesthood in Marash. As it worked in secrecy, there is no way of knowing how many were members of these informal armed gangs. But interviews by a researcher with one of the highest Special Organisation leaders revealed a figure of thirty thousand persons.38 In several cases it is known that ad hoc committees in the provincial capitals functioned as the orchestrators of the massacres and deportations. They would determine the timing of actions in the various districts and decide in which order 35 F–’iz El-Ghusein, Martyred Armenia, London 1917; Ahmet Refik, Two committees, two massacres, London 2006, pp. 39 – 40. 36 AkÅam, A shameful act, pp. 133 – 5. 37 Vartkes Yeghiayan, British Foreign Office, p. 354. 38 Stoddard, Ottoman government, p. 52; AkÅam, A shameful act, p. 136.

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villages would be attacked. In Diyarbakir this committee was called the Tahkik Heyeti (Committee of Inquiry), in Yozgat it was called the Anjoman (Ottoman for committee) and other places used the term Müdafa-i Milli (National Defence Committee). The death squads were volunteer task forces organised specifically for the massacres and deportations. The rank and file were composed of the “worst elements including released criminals from the local prisons”.39 In the Arabicspeaking town of Mardin the Åette groups were known as the Al-Khamsin (Arabic for fifty) because there were fifty members. One survivor who wrote a contemporary chronicle gives the names of 16 leading personalities in the Mardin Al-Khamsin. Of them five were sheikhs or sons of sheikhs, that is Kurdish religious leaders, two others were titled Hajji and thus had been on pilgrimage to Mecca. This indicates a certain religious element in the organisation. Other figures can be related to Kurdish tribes of Milli, Dashi and Mandalkie.40 Besides the special death squads, several formal elements of the Ottoman state participated at certain times and places in the killing. Chief among them were the gendarmes, which according to some sources were supposed to have been mere bystanders, but were obviously not. The occasional gendarme officer does turn up, for instance a gendarme sergeant led the bloody massacre of several thousand in the market town of Tell-Armen (now renamed Kızıltepe) near the Syrian border. The massive killing of Iranian Assyrians and Armenians during the Turkish occupation of 1915 was done by Van’s gendarmerie. Gendarme commanders were also part of the small provincial planning boards in Erzincan and Diyarbakir. Detachments of the regular army could be used to participate in the bombardment and massacring of larger towns like Van, Siirt, Bitlis and Urfa or rural places that were hard to conquer like the Armenian village of Zeytoun, and the Assyrian villages of Azakh and Aynwardo, and in the mountain valleys of Van province. Particularly culpable were troops commanded by Generals Halil Bey (for massacres in Baskkale, Siirt and Bitlis) and Ali Ihsan Pasha (for massacres in occupied Iran). Regular soldiers also formed the firing squads when the army liquidated Christian officers and soldiers in the spring of 1915. They were also responsible for the execution of Christians placed in the amele taburlari labour battalions of unarmed soldiers that did slave labour (road building, trench digging, carrying supplies) when they were deemed no longer necessary. Furthermore, the irregular cavalry (successors to the Hamidiye regiments) set up by

39 Vartkes Yeghiayan, British Foreign Office, p. 151. 40 Armale, Al Quosara.

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selected loyal Kurdish tribes often acted on their own in distant regions like the Hakkari Mountains, where they were the main actors.

4.

The perpetrators

Very early on during World War I, the Entente powers became aware of the Ottoman army’s killing of Christian civilians in an obscure Iranian border region that it had occupied since New Year 1915. In March, newspapers throughout the world carried stories of the massacre of several hundred unarmed Armenian and Assyrian males who were Iranian subjects and who had been assembled in a crossroads town. The commander of the troops was Jevdet Bey, the governor of Van, who had nicknamed his gendarmes the kassablar taburu (slaughter battalion). There were further atrocities against civilians in the regional capital of Urmia and several market towns. The victims were Christians of all denominations and included bishops, priests, nuns, and refugees who had sought asylum in mission courtyards. The killing of unarmed civilians was clearly a contravention of the international conventions on war crimes. On May 24, 1915, the governments of France, Great Britain and Russia published a statement regarding the Ottoman regime’s “crimes against humanity and civilization”; they would personally hold responsible “all members of the Turkish Government […] together with its agents implicated in the massacres”.41 The thrust of this statement was a novelty. Not only were the actual murderers to be brought to justice, but also the government and administration that had ordered or condoned the massacres. Although the declaration proved unable to halt the genocide, it encouraged the representatives of the victimised groups to assemble dossiers on the instigators and perpetrators of the massacres. The aim was to have available evidence that could be used in trials when the war was over. Documentation of the perpetrators went on throughout the country. Usually lists and evidence were collected in the administrative headquarters of the various churches, since these were sometimes allowed to continue functioning. The Armenian Patriarchate in Constantinople collected the largest number of lists of perpetrators. These lists are now preserved in the archives of the Armenian Patriarchate in Jerusalem.42 Even the Syrian Catholic, Chaldean and Greek Orthodox patriarchates collected lists. The lists are fairly similar. Most identify the organisers and instigators and the heads of the Åettes. Generally the organisers were people high in the pro41 See the full text in the New York Times and the Times (London) May 24, 1915. 42 These are printed for all provinces in K¦vorkian, Le g¦nocide.

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vincial administration such as governors, gendarme commanders, and chiefs of police. Other instigators came from the leadership of the local Committee for Union and Progress political clubs and some of the elected CUP deputies to the National Assembly in Constantinople. Thereafter followed the commanders of the militia that was set up to perpetrate the massacres, escort the deportation caravans and so on. These persons were a mix of the sons of notable urban families and landowners. A few had specified occupations, but most did not. A typical list is the following for Diyarbakir.43 Reshid Bey, the provincial governor [military doctor, founding member of CUP] Yasin Agha-Zade Shevki, head of the militia [rank of major, member local CUP] Jamil Pasha-Zade Mustafa Bey, colonel of the militia [head of all the militia] Hajji Baki Efendi, militia captain [other lists give his rank as lieutenant] Said son of Ali Hayto, militia lieutenant Muselli-Zade Mehmet, sergeant Direkji Tahir Efendi, militia captain Attar-Zade Hakki Efendi, chairman of the local CUP Jarjis-Zade Yusuf, member local CUP Jarjis-Zade Abdul-Rahim Efendi, militia captain, other lists give his name as Abdulkerim Tahir Agha-Zade Aziz Feyzi Bey (real name Hasan Arif), CUP deputy in National Assembly Veli Bey, son of Veli Baba, member local CUP, director of settlement of refugees Rushdi, Circassian leader of the deportation columns [rank of major] Pirinjji-Zade Sidqi Efendi, mayor of Diyarbakir militia captain and relative of Feyzi Memduh Bey, police chief Bedri Bey, assistant vali [Ibrahim Bedreddin, previously postal clerk] Kelle Rajo Sharki-Zade, police commissioner Mehmed, commissarie Emin Agha, owner of Charokhiya (a Chaldean village) Abdul-Latif, assistant commissioner Yahya Efendi, brother of Yasinzade Shevki Rajo, butcher [other sources name him Haco] Sheykho (Rajo’s brother) Hajji Suleyman, butcher [militia captain and butcher in the bazaar] Bakkal Hayo Sairtli Emin Efendi Mardinli, police Sarraj Yusuf Agha

43 Joseph Nayeem, Shall this nation die?, New York 1921, pp. 182 – 3. Slightly different lists can be found in Anonymous, Êpisodes des massacres armÀniens de Diarbekir. Faits et documents, Constantinople 1920; S¸evket Beysanog˘lu, Antıları ve Kit–beleri ile Diyarbakır Tarihi 2, Ankara 1996, pp. 764 – 9; other lists are in Rhetor¦, op. cit.; Armale, Al Quosara.

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Hafiz, police (Sarraj’s son) Zaza Alo Efendi, a notorious brigand

Lists like this were intended to enable the Entente Powers to find and apprehend the perpetrators. They included very little identifying details. Some individuals are only mentioned with a single name, which was customary in a society lacking surnames; this made identification difficult as there could be many with the same name. There could be some identification clues such as place of origin, for example “from Mardin”, “from Siirt”, or an ethnic marker such as “the Circassian”. Here are a few occupational titles: attar denotes a seller of herbs, sarraj means a saddle-maker, bakkal is a grocer, and there are several butchers. A basic source critical problem is that many people created lists and the various lists differed from each other. Although all included the most prominent leaders and the persons most infamous for cruelty, enumeration of the less prominent perpetrators could be quite different. Only in exceptional cases is it possible to determine that a named individual was not an instigator or a perpetrator. This is the case for Zulfi, one of several National Assembly delegates for Diyarbakir, who was wrongly included in some lists.44 There are some other registers that contain more detailed information on the accused war criminals. These are the dossiers collected by the British Foreign Office for a number of prisoners who were taken to Malta in 1920 to await trial. The dossiers for 57 of the 118 prisoners have been published.45 The overwhelming majority of the detainees were classified as “Turks”, of the others eight were classed as Tatars and only one was classed as a Kurd. This is not really a representative sample of the perpetrators as many high politicians fled the country or were protected by Kemal’s nationalist movement or had died during the war or had committed suicide to avoid arrest. But the dossiers do show that the overwhelming number of prisoners were leading members of local CUP clubs, high civil administrators, and military officers. Usually the dossiers do not give data about education and previous career, but a few were military doctors one of whom had studied in Berlin, other titles were school teacher, criminal court clerk, accountant, journalist, engineer, merchant, public prosecutor, dentist, director of customs house. Most have the honorary title for public officials “Bey” after their names and a few even the highest honorary title “Pasha”. The title “Efendi” is merely a term of respect indicating social status. What is also notable is that with one exception, a Hajji and member of the ulema, none of the Malta detainees gave any indication of a deep commitment to religion. In a very few cases the dossiers include the written testimony of victims or survivors which was intended to be part of the accusation. 44 Yeghiayan, British Foreign Office, pp. 151, 156. 45 Ibid.

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The structure of Ottoman society makes it difficult to make a class analysis of the perpetrators. Rather, local communities were dominated by a social stratum called the ayan, usually translated as notables. These were members of patriarchal clan structures which dominated political and social life through timeworn prestige and status, rather than economic resources. Due to polygamy these clan and extended family groups could be rather large and complex. But when adapting to the new realities of Young Turk political life, members of clans joined the new political associations as much from a will to preserve the family’s influence as from an attraction to a certain ideology. In Diyarbakir it is possible to follow the intrigues of the PirinÅÅizade clan both within the CUP and the militia. In Diyarbakir province it is possible to find details that indicate a pattern of extermination. In mid-September 1915 the governor cabled Talaat Pasha that 120,000 Armenians had been sent away from his province and there were none remaining.46 The planning of the genocide was a co-operation of the vali (governor), Dr Reshid Bey, and one of the CUP elected deputies to the National Assembly, Feyzi Bey. Reshid Bey was a Circassian and a stranger and appointed just before the genocide began. When he arrived in his new location he brought with him his personal bodyguard made up of twenty to thirty Circassian Special Organisation operatives.47 He had been educated at the College of Military Medicine and he was a founding member of what gradually grew into the CUP. The Military Academy and the School of Medicine became a hotbed of scientific positivism and this instilled in its graduates an intolerant and impatient stance, and Reshid exemplified this.48 Feyzi was a local notable, the son of Arif, the former mayor of Diyarbakir (the chief motor behind the 1895 massacres). He belonged to a large extended family of notables, the PirinÅÅizade and one of his distant relatives was the Young Turk ideologue Ziya Gökalp. On the planning board were several officials who were outsiders and three of them had a Circassian background: Reshid, the governor, Rushdi, the commander of the gendarmerie, and S¸akir, the governor’s aide de camp. Among the other leaders of the deportations and massacres were a large number of people belonging to the PirinÅÅizade clan: Feyzi himself was a member of the board, his cousin Sidki, who was appointed mayor, his cousin S¸erif, his distant relative S¸evki, who was a militia officer.49 46 Presidential Archive Istanbul, Governor Reshid to Minister of Interior Talaat September 18, 1915, BOA. DH. EUM 2S¸b 68/71. 47 Nejdet Bilgi, Dr. Mehmed Res¸id S¸ahingiray’in hayati ve h–tıraları, Izmir 1997; Hans-Lukas Kieser, “Dr Mehmed Reshid (1873 – 1919). A Political Doctor”, in: id. / Dominik J. Schaller (eds.), Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah, Zürich 2002, pp. 245 – 80. 48 S¸erif Mardin, The just and the unjust, in: Daedalus 120, 1991, pp. 113 – 29. 49 Yeghiayan, British Foreign Office, pp. 150 – 1, 155.

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Reshid was a long-standing member of the Special Organisation. He was handpicked by Feyzi, in March 1915, to the position of governor in Diyarbakir in order to replace a governor who refused to massacre the Christian population. Reshid removed two consecutive district governors (mutasarrifs) of Mardin because they refused to participate in the anti-Christian campaign, and the subdistrict governors (kaymakams) of Lice and Beshire were assassinated by two members of his body guard, a third sub-district governor, from Midyat, disappeared without a trace. They were replaced by individuals willing to implement the governor’s orders for genocide. Rabidly anti-Christian Sidki was appointed mayor to replace a less blood-thirsty official. With the aid of Feyzi, Reshid came into contact with two notorious outlaw bandits, Ömer and Mustapha of the Rama tribe, who had a hideout on a tributary to the Tigris River. They had been responsible for many murders and had been sentenced to death several times. Reshid promised to repeal their banishment if they would carry out his plans for the Armenians. When the first contingent of about six hundred Armenian captives was sent south from Diyarbakir on rafts on the Tigris, Ömer and Mustapha were in command. The captives were told that they were to be taken to Mosul for resettlement. At a place downstream, not far from their hideout, all of the prisoners were murdered and their bodies were seen in Mosul some days later floating in the river. The bandits collected all of the valuables and returned with it to the governor, who split the loot fifty-fifty with the bandits. Telegrams were sent to the families stating that all had arrived safe and sound at their destination and that they were waiting for the others to join them. This procedure was repeated several times. When they were of no use any longer, Ömer and Mustapha were lured into an ambush and murdered. The extreme brutality of the killing in Diyarbakir came to the notice of the CUP leadership in Constantinople. In the southern parts of the province the Armenians were far outnumbered by Assyrian groups as the major non-Muslim population. Local pressure for economic gains resulted in the massacre of Assyrians as well. When this came to the notice of Talaat Pasha he telegraphed Reshid that the annihilation concerned only Armenians, not the other Christians.50 Despite this reprimand, Reshid and his agents resumed murdering Assyrians after a few weeks’ interval. In the autumn of 1915 Reshid was recalled to Constantinople by the CUP to answer for complaints about his behaviour. He was questioned by the CUP general secretary Mithat S¸ükrü Bleda: How could he as a medical doctor explain that he had been responsible for so many deaths? His defence was:

50 Presidential Archives Istanbul, Interior Minister Talaat to Governor Reshid July 12, 1915, BOA. DH. S¸FR 54/406.

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David Gaunt

“If you, like me in Diyarbekir, had had the opportunity to see at close quarters with what kind of secret plans the Armenians let themselves be possessed, in what prosperity they lived, what an awful animosity they felt toward the state, then you would not today be making any admonitions [against me]. The Armenians in the Eastern Provinces were so aggressive against us that in their areas, if they were allowed to remain in place, not a single Turk or Muslim would be left alive. I have studied the personal dossiers of many of them. In house searches, we found ammunition that would have blown up an entire army. They possessed a fantastic organization. We would soon need to use candles to find any Turks in Anatolia, if we allowed this widespread organization to exist in our country. Therefore – it was either them or us! In this situation, I thought to myself: Hey, Doctor Reshid! There are two alternatives. Either the Armenians liquidate the Turks, or the Turks them! Facing this necessity, I did not hesitate. My Turkishness triumphed over my medical identity. Before they did away with us, we should remove them, I said to myself […] But this act neither pleases my personal pride, nor has it enriched me. I saw that the fatherland was on the verge of being lost; therefore with my eyes closed and without looking back I continued in the conviction that I acted for the well-being of the nation […] The Armenian bandits were a bunch of dangerous microbes that infected the body of the fatherland. Is it not the duty of a doctor to kill microbes?”51

Note that Reshid’s defence did not mention the Assyrians, but that is natural since he had ignored the Minister of the Interior Talaat’s order not to target them and he had to keep that a secret if he wanted to stay in good favour. The outcome of this questioning was that he was honoured with a choice appointment, the governorship of Ankara and a higher salary. His appeal echoed nationalist language: the Armenians were a mortal threat to the entire Turkish nation. He needed to strike first, otherwise the Armenians would annihilate all Turks and Muslims. Furthermore, he used a medical version of racial thinking: the Armenians were dangerous microbes that had to be killed off. When he moved on to Ankara, his second in command in Diyarbakir, Bedri Bey, became the new governor and he continued the same genocide policy. Reshid came to Diyarbakir as a relatively poor bureaucrat, but he left as an extremely wealthy man. After the war was over the Turkish government placed Reshid on trial for his crimes, but he committed suicide before he could be sentenced. Feyzi was arrested and sent to Malta to await trial, as were Vice-Governor Ibrahim Bedreddin, director of refugee resettlement Veli Nedjet. None of them, however, were tried and they were released as part of a prisoner exchange between the British and the Kemalist nationalists. Feyzi continued his political career and became a government minister in the Republic of Turkey.52 51 Sal–hattin Güngör, Bır Canli Tarih Konus¸uyor, in: Resimli Tarih Mecmaasi, 1953, p. 2444. 52 Ugur Ümit Üngör, The making of modern Turkey. Nation and state in Eastern Anatolia 1913 – 1950, Oxford 2011.

The Culture of Inter-Religious Violence in Anatolian Borderlands

5.

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Conclusion

The late Ottoman period was characterised by ever increasing Muslim-Christian violence. A triggering factor was the attempt by the central government to gain control over the empire’s periphery, which hitherto had been nearly autonomous and ruled by local power holders. The government policy was manifold: it needed to break the power of the local notables, but if that was impossible they were to be incorporated into the resources of the state. Such was the case when many Kurdish tribes were turned into Cossack regiments in return for their loyalty to the Sultan. In fact they were still not under control and used their new status to terrorise rival tribes and Christian villagers. In cities, the co-operation between centre and periphery was unbalanced and the initiative was in the hands of the local notables, who often did as they wished. The position of the poorly paid provincial officials was seldom strong enough to act independently of the notables; in reality, they often became the pawns of the peripheral strongmen.53 This was definitely the case in Diyarbakir where several clans, through membership in the CUP, could remove and appoint governors at will. During World War I the CUP became a link between the central government in Constantinople and the local notables. A radical Turk-nationalist clique from the CUP dominated the central government and instituted a policy of demographic engineering in order to create a “unified” Turkish population. This clique came to power through a coup and continued to use violence to forward its political aims. The measures included forced resettlement, ethnic cleansing and genocide. These were national political aims motivated by portraying the targeted Armenians and Assyrians as a mortal threat to the existence of the Ottoman state, which had to be eradicated at all cost. All Armenians and Assyrians were suspect, not just political activists. “It was either them or us,” was a widely heard statement. This national policy reinforced long-standing local conflicts between the provincial power-holders (Kurdish aghas or urban notables) and encouraged them to appropriate the property and wealth of their Christian economic rivals. Christian factories, stately homes, farms, vineyards, orchards, cattle and buildings were plundered, stolen or confiscated. The wealth in the form of money or jewels went to the CUP members and their collaborators. This unusual conformity of national and provincial interests contributed to turn Anatolias’s chronic inter-religious violence into the first major genocide of the Twentieth Century.

53 Stephen Duguid, “The Politics of unity. Hamidian policy in Eastern Anatolia”, in: Middle Eastern Studies 9, 1973, pp. 139 – 55.

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Komando und „Bande“. Zwei Formen von Gewaltgemeinschaften im südwestlichen Afrika des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts

„Das nördliche Großnamaqualand liegt ungefähr dreitausend Fuß über dem Kuisibthale und bricht zu diesem fast senkrecht wie eine riesige Terrasse ab. Ochsenwagen kann man nicht mehr benutzen und so sahen wir uns denn gezwungen, den unsrigen an dem erreichten Punkte zurückzulassen. Das aber hatte gerade sein Bedenkliches. In dieser Gegend treten nicht selten bewaffnete Banden von sogenannten Rondloopers (Rundläufern, Vagabunden) auf, Hottentotten, welche sich keinem der zahlreichen Häuptlinge untergeordnet, keinem bestimmten Stamme angeschlossen haben, sondern auf ihren flinken Rossen ziel- und zügellos herumirren. Das sind gefährliche Gesellen, denn sie betreiben den Raub handwerksmäßig“.1

So schreibt Schwarz, ein ,Klippdoktor‘, Erzsucher, im Jahr 1889 über den Beginn seiner Reise in das heutige südliche Namibia. Sie führt ihn durch wilde Gebirgsschluchten, nur mehr mühsam per Pferd zu erklimmen, schließlich nach Hoornkrans, dem Hauptsitz des Kriegsherren Hendrik Witbooi. Der Ort ist strategisch günstig gewählt. Eine Hochebene ist zu passieren, dann zeigt sich von einer Anhöhe das „Wittboysche Feldlager“, nur noch getrennt durch eine Schlucht, die den einzigen Zugang zum Platz freigibt. Schließlich, noch einmal einen weiteren Ritt entfernt, „weit oben“ in räumlich symbolischer Distanz zu den Hütten der Gefolgschaft, erreicht Schwarz die eigentliche „Ansiedlung“ Witboois, von dem er nach längerem Warten schließlich empfangen wird. Im „übelsten Sinne“ hatte Schwarz von Witbooi als „Schrecken des Landes“ reden hören, als einem Mann, der „Viehraub im großen Stile systematisch betreiben und sogar viele Blutthaten auf dem Gewissen haben“2 soll. In Witboois „Kriegslager“ aber ging es zu Schwarz‘ Erstaunen höchst diszipliniert zu: „strenge Manneszucht“,3 kein Alkohol, regelmäßig vom „Unterkapitän“ abgehaltene Gottesdienste, zu dem die stets bewaffneten Männer ihre Hüte mit der weißen Banderole, Identitätsmerkmal und einzige Uniformierung der Krieger 1 Bernhard Schwarz, Im deutschen Goldlande. Reisebilder aus dem südwestafrikanischen Schutzgebiet, Berlin 1889, S. 147. 2 Ebd., S. 153. 3 Ebd., S. 161.

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des Witbooi-komandos, der Witkam-Krieger, vor dem Kircheneingang ablegen; Bildungsangebote, d. h. jeden Nachmittag Unterricht auf Kapholländisch, von Vorteil in der Kriegs- und Friedensdiplomatie, zu der der schriftliche Austausch zwischen den Kapteinen gehörte, und ein Muss für jeden, der Handel mit der Kapkolonie – Vieh- und Jagdbeute gegen Waffen, Munition, Spirituosen und andere Güter – betrieb. Witbooi war Schwarz gegenüber zunächst äußerst unwillig und klärte Schwarz darüber auf, dass er einen Weg eingeschlagen hatte, „den niemand als er [selbst] zu benutzen das Recht habe“.4 Der Weg vom „Kuisibthal“ hinauf in die Hochebene, für den Witbooi das alleinige Wegerecht beanspruchte, war der Weg seiner Ahnen, von ihnen war er „eröffnet“5 worden. Hendrik Witbooi, der Oorlam-Gruppe der /Khowese angehörig, die – wie schon ihr Name belegt6 – als nahezu Besitzlose, als sozial und räumlich Deterritorialisierte, Ende der 1840er Jahre den Oranje überquerten und als Fremde im Land das Oberhaupt der Roten Nation (Gei-//khou), Häuptling Oasib, um einen Platz nachsuchen mussten, hatte wenige Jahrzehnte später über die Narration von der Sinnhaftigkeit einer Wanderung und der Legitimität seiner Raub- und Eroberungszüge durch einen ihm von Gott gewiesenen Migrationsauftrag sich und seine Gefolgschaft in Raum und Zeit verortet. Im Weg nach Hoornkrans materialisierte sich ein Territorialanspruch. Im Weg der Ahnen lag aber auch eine immaterielle Richtungsweisung, welche die militärische Expansion in Hererogebiet rechtfertigen sollte. Es gab ein Ziel, die Nama/Oorlam in das weit im Norden liegende ,gelobte Land‘ der Väter zu führen.7 Hendrik Witbooi sammelte Gefolgschaft und brach mit ihr in den 1880er Jahren zu drei Kriegszügen in den Norden auf.8 Hoornkrans war sein Rückzugslager. Umgeben von Mauern aus weißem Quarzstein glich Hoornkrans einer Festung, die in ihrem Inneren alle Züge eines zivilen Alltagslebens trug: Kirche, Friedhof, Versammlungsplatz, Wasserstelle und Wohnbereich für die Familien der Gefolgschaft. Schwarz, der während seines Aufenthaltes auf Hoornkrans Bekanntschaft mit den Witkam-Kriegern machte, fand am bemerkenswertesten an Witboois Leuten „ihre blinde Unterordnung 4 Ebd., S. 157. 5 Ebd. 6 /Khowese: bedeutet ,Bettler‘. Wilhelm J. G. Möhlig (Hg.) (unter Mitarbeit v. Barbara Faulenbach u. Petra Henn), Die Witbooi in Südwestafrika während des 19. Jahrhunderts. Quellentexte von Johannes Olpp. Hendrik Witbooi jun. und Carl Berger, Köln 2007, S. 19. 7 Ludwig Helbig / Werner Hillebrecht, The Witbooi, Windhoek 1992, S. 12 ff.; Gustav Menzel, „Widerstand und Gottesfurcht“. Hendrik Witbooi – eine Biographie in zeitgenössischen Quellen, Köln 2000, S. 145. 8 Wilhelm J. G. Möhlig (Hg.), Die Witbooi in Südwestafrika, S. 21. Zu den Raub- und Kriegszügen Hendrik Witboois der 1880er Jahre im Kontext der militärpolitischen Situation Zentralnamibias Dag Henrichsen, Herrschaft und Alltag im vorkolonialen Zentralnamibia. Das Herero- und Damaraland im 19. Jahrhundert, Basel/Windhoek 2011, S. 166 ff.

Zwei Formen von Gewaltgemeinschaften im südwestlichen Afrika

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unter den Willen ihres Herrschers. Er ist ihnen nicht nur Anführer, sondern Prophet. Sie glauben an die Visionen, die er zu haben vorgiebt [sic]. […] Unbedenklich stürzen sie sich hinter ihm drein in die Schlacht, denn unter seiner Führung fühlen sie sich als Märtyrer.“9 Schwarz hatte eigentlich vor Jan Jonker Afrikaner zu besuchen. Nur den widrigen Umständen des Weges war es geschuldet, dass er im Kriegslager Hendrik Witboois gelandet war. Gleich auf seiner ersten Reiseetappe machte er so über Gerücht und reale Erfahrung Bekanntschaft mit zwei den frontier-Raum im südlichen Afrika des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts bestimmenden Organisationsformen der Gewalt, der einen in ihrer am geringsten institutionalisierten Form, der ,Bande‘, und der anderen in ihrer komplexesten Erscheinung, der ,charismatischen Gewaltgemeinschaft‘, wie sie sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter Hendrik Witbooi herausgebildet hatte und eine neue Organisationsform des komandos war. Unter ,Gewaltgemeinschaft‘ verstehen wir eine soziale Gruppe, in der Gewalt einen wesentlichen Platz in den Aktivitäten der Gruppe hat und ein Schlüssel für soziale Anerkennung, sozialen Status, vor allem aber für Führerschaft und für Mitgliedschaft in der Gruppe ist. Gewalt bildet hier einen der Kristallisationspunkte der Kultur der Gruppe und stellt darüber hinaus noch jene Verbindung von Nähe, Wir-Bewusstsein und Personalisierung her, die der Gemeinschaft im Unterschied zur Gesellschaft eigen ist. Schließlich ist auch Bewegung in unterschiedlicher Intensität – sowohl im unmittelbaren physischen Sinne als auch im Blick auf die Elemente der sozialen und kulturellen Ordnungen – ein Charakteristikum von Gewaltgemeinschaften. In den nachfolgenden Beobachtungen und Überlegungen untersuchen wir in komando und „Bande“ zwei Typen von Gewaltgemeinschaften, in denen räuberische und kriegerische Macht im südlichen Afrika des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts vergemeinschaftete Ausdruckformen gefunden haben. Wir konzentrieren uns auf die historischen Zusammenhänge der Entstehung der beiden Typen von Gewaltgemeinschaften in der Frühzeit der Kapkolonie. Im Zentrum dieser Entstehungsgeschichte stehen das komando und die Dynamiken von Gewaltgemeinschaften. In diesen Dynamiken zeigt sich ein Muster von Institutionalisierung und Entinstitutionalisierung, Normierung und Entnormierung, das gleichfalls die Entstehung und das Verhältnis von komando und „Bande“ im Namibia des 19. Jahrhunderts geprägt hat. Im Anschluss daran stellen wir das komando als militärische und zivile Ordnungsmacht vor, sein Einsatz für verschiedenartige Zwecke und die Organisationsformen, die es für die Erfüllung der unterschiedlichen Aufgaben angenommen hat. Schließlich nehmen wir noch einmal die Problematik auf, die sich mit den Konfliktdyna9 Schwarz, Im deutschen Goldlande, S. 162.

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miken von komando und „Bande“ und insbesondere mit den Konflikten um den Führungsanspruch des Kapteins stellt. Unsere Beobachtung dabei ist, dass die Konfliktdynamiken um Führung und Gefolgschaft auf den Widerstreit zweier konträrer Prinzipien gesellschaftlicher Organisation, von Hierarchie und Egalität, zurückzuführen sind. In diesem Widerstreit kehrt das Konfliktmuster der frühen Kapkolonie wieder. Es macht im Namibia des 19. Jahrhunderts nicht anders als in der Frühzeit der Kapkolonie die Gewaltgemeinschaft der „Bande“ zu einer wichtigen Alternative zum komando.10

1.

Ordnung und Unordnung, Unterwerfung und Widerstand – das komando und der nördliche frontier-Raum der Kapkolonie

Der Reisende Schwarz benutzt in Zusammenhang mit den von ihm erwähnten „Banden“ den Begriff Rondloopers, mit dem in der Kapkolonie ,Vagabunden‘11 jeglicher Lebensführung bezeichnet wurden. Das ist kein Zufall. Denn das „Banden“- und komando-Wesen im südlichen Namibia des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts ist nicht zu trennen von der Geschichte des nördlichen Grenzraums der Kapkolonie. Die Mobilität der Trekboers, die auf ihrer Suche nach neuen Weide- und Siedlungsgebieten immer tiefer in den Norden expandierten, galt der Kapregierung als legitim, die anderer Bewohner der Kapkolonie, die sich ebenfalls in Richtung nördlicher Grenze aufmachten, hingegen nicht. Der sich stetig gen Norden verschiebende frontier-Raum begann sich zu differenzieren in legal und illegal Umherziehende. Zu denen, die sich legal im Grenzraum bewegten, gehörten die von der Niederländischen Ostindien Kompanie (VOC) aufgestellten komandos zur Befriedung der nördlichen Grenze. Zu den illegal mobilen Gruppen zählten die lokal aufgestellten, ohne Erlaubnis der VOC agierenden komandos und die droster12 gangs. Die droster gangs setzten sich aus entlaufenen Sklaven und anfangs noch aus ,weißen‘ Deserteuren zusammen. Mit Gewehren ausgestattet, wie bereits für das späte 17. Jahrhundert belegt,13 beschafften sie sich durch Raub, was sie zum Leben brauchten. Flüchtige Sklaven erwartete bei misslungener Flucht ein zu Beginn des 18. Jahrhunderts genau festgelegtes und 10 Unsere Ausführungen gründen sich im Wesentlichen auf die Analyse schriftlicher Zeugnisse von Missionaren der Rheinischen Missionsgesellschaft, die ab 1842 nach Süd- und Zentralnamibia gesandt worden sind. 11 Auch landloopers genannt. Nigel Penn, Rogues, rebels and runaways. Eighteenth-century Cape characters, Cape Town 2003, S. 79 f., 88. 12 Entlehnt aus dem Holländischen ,drossen‘, ,flüchten‘, ,dessertieren‘. Ebd., S. 73. 13 Ebd.

Zwei Formen von Gewaltgemeinschaften im südwestlichen Afrika

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gestaffeltes, mit jedem Fluchtversuch sich an Gewalt steigerndes, System der Bestrafung.14 Eingefangene Deserteure wurden ebenfalls hart bestraft. Oft hatten die Mitglieder der droster gangs bereits mehrere Fluchtversuche hinter sich. In ihrer Diversität verband sie ihr Erleben extremer Gewalt. Nicht nur burische Farmer, auch Khoisan fürchteten die droster gangs. Wurden sie deren Mitglieder habhaft, lieferten sie diese in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts noch häufig aus. Mit zunehmendem Widerstand, der die Khoisan in der gemeinsamen Ablehnung kolonialer Dominanz jetzt stärker mit den flüchtigen Sklavengruppen verband, schlossen sich ab den 1840er Jahren immer weniger weiße Deserteure den droster gangs an. Die nördliche Grenzregion war ihnen als Rückzugsort zu unsicher geworden. Dennoch nahm die Zahl der nicht indigenen Grenzbewohner zu. Gesetzesbrecher, desertierte Soldaten und Matrosen, Männer, die sich von vornherein dem Militär- und komando-Dienst entzogen hatten, Verarmte im Dienst der VOC und Trekboers, die ohne die benötigte Lizenz für Farmland und Jagdgebiet im nördlichen frontier-Raum als Illegale umherzogen, versuchten sich im frontierRaum eine neue Existenz aufzubauen. Entlang der nördlichen Grenze operierten außerdem Trupps von Khoisan. Auf der südlichen Seite des Oranje unternahmen sie Überfälle auf die Farmen der burischen Grenzsiedler und die Herden nomadisierender Viehhalter und zogen sich in Zeiten der Bedrängnis am nördlichen Ufer des Oranje zurück. Und noch eine weitere Gruppe, die unter dem Namen Bastaards oder Bastaards Hottentots ab 1740 in den Records Erwähnung fand, gehörte dem Grenzraum an. Als meist uneheliche Nachkommen aus Verbindungen zwischen Sklaven, Khoikhoi und Europäern suchten sie Rechtlosigkeit und repressiven Arbeitsverhältnissen zu entkommen, die ihr niederer Status als ,Mischlinge‘ mit sich brachte. Im nördlichen Grenzraum der Kapkolonie des 18. Jahrhunderts stellten die Bastaards eine fluide Kategorie dar. Aus ihnen und Personen, die aus den anderen genannten Gründen in den Grenzraum geflüchtet waren, bildete sich der Nukleus jener Gruppen, die sich ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert in mehreren Wellen in das südliche Namibia aufmachten.15 Die über den Oranje in das heutige Namibia einwandernden Gruppen waren zu größeren Teilen christianisiert, des Kapholländischen mächtig und mit dem Wertesystem der Kapkolonie vertraut. Sie setzten sich aus Angehörigen verschiedenster Herkunft zusammen, die alle aus ihren traditionalen Formen der Lebensführung herausgelöst worden waren. Ihre soziale Existenz gründete auf fundamentalen Gewalterfahrungen. Führerschaft in der Funktion des Kapteins 14 Ebd., S. 74. 15 Nigel Penn, The forgotten frontier. Colonist and Khoisan on the Cape’s northern frontier in the 18th century, Athens/Cape Town 2005, S. 164 – 169; Penn, Rebels and runaways, S. 73 – 99.

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basierte hier nicht auf Abstammung oder Zugang zu tradierten Positionen, sondern auf der Gewaltkompetenz und den Fertigkeiten zum Überleben. Einzelne Gewaltakteure mit diesen Führungsqualitäten scharten Gefolgschaft um sich und schufen zusammen mit ihren Familien neue umfassende Gemeinschaften, die in einem Prozess der Vereinigung und Trennung („fusion and fission“) unter dem Namen Oorlam bekannt werden sollten.16 Die Kapregierung stand dem Geschehen in der Grenzregion machtlos gegenüber. Mehr noch: Statt Ordnungsmacht zu sein, trug sie zur Unordnung bei. Zum einen entglitt ihr die Kontrolle über das komando, das sie selbst ins Leben gerufen hatte. Verschiedene Khoikhoi-Gruppen, von den hinzuziehenden Baster und burischen Siedlern um ihre Weidegebiete und damit um ihre Existenzgrundlage, die Viehzucht, gebracht, raubten im Verbund mit den San die neuen Ansiedler aus. „Zu Beginn“, schreibt Missionar Heidmann, „sind Berichte darüber ans Gouvernement abgegangen, das aber wenig Notiz davon zu nehmen scheint. Die Kosten, so hört man, um Truppen aus dem Kap hier nach der Grenze zu schicken, würden zu viel[e]“17 werden. Als die „Unruhen“ sich ausbreiten und „gefährlichere Gestalt annehmen“18 und auch europäische Händler überfallen werden, ordnet das Gouvernement schließlich an, ein lokales komando aufzustellen. Andernorts allerdings griffen beraubte oder sich bedroht fühlende Grenzbewohner gleich zur gewalttätigen Selbsthilfe und nahmen das komando in ihre eigene Hand. Angewiesen auf lokale komandos konnte die VOC darüber hinaus nicht verhindern, dass die komando-Führung in die Hände einzelner Grenzsiedler überging. Wem es also gelang, strategisch mit der VOC zu kollaborieren und von ihr Waffen und Munition einzuwerben, konnte enorm an Einfluss und Macht gewinnen.19 Da schließlich die komandos zunehmend zum Ziel hatten, Gefangene zu machen und eigene Arbeitskräfte zu rekrutieren,20 sich also in eine Gruppe von Gewaltakteuren zu verwandeln begannen, verschwamm 16 Zu Einwanderung und Gruppenbildungsprozessen der Oorlam im Zuge der Migration Tilman Dedering, Hate the old and follow the new. Khoekhoe and missionaries in early nineteenth-century Namibia, Stuttgart 1997, S. 52 – 64; Brigitte Lau, Southern and Central Namibia in Jonker Afrikaner’s time, Windhoek 1987, S. 19 ff.; Alvin Kienetz, The key role of the Orlam Migrations in the early Europeanization of South-West Africa (Namibia), in: The International Journal of African Historical Studies, X, 4, 1977, S. 553 – 572. 17 Evangelical Lutheran Church of the Republic of Namibia [im Folgenden ELCRN], VII 28.30, I, F. Heidmann, De Tuin, 3. März 1868, S. 33. 18 ELCRN, VII 28.30, I, F. Heidmann, De Tuin, 27. April 1868, S. 36 f. 19 Exemplarisch hierfür der Aufstieg des burischen Siedlers Petrus Pienaar und seines ihm unterstellten komando-Führers Klaas Afrikaner, dem ersten Kaptein der Oorlam-Afrikaner, der an der Seite seines Dienstherren, den er oder sein Sohn schließlich ermordeten, selbst an Einfluss gewinnt und zu einem machtvollen warlord der nördlichen Grenzregion wird. U. a. von Penn, The forgotten frontier, S. 187 ff. eingehend dokumentiert. 20 Wayne Dooling, Slavery, emancipation and colonial rule in South Africa, Scottsville 2007, S. 27.

Zwei Formen von Gewaltgemeinschaften im südwestlichen Afrika

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die Grenze zwischen komandos im Dienste der VOC und lokalen Formen organisierter Gewalt. Zur lokalen Verselbstständigung des komandos gehört hinzu, dass das komando zum operativen Mittel von „Grenzkriegern“21 wurde, die – direkt oder indirekt aufgerüstet von der VOC – ihre lokalen Konflikte austrugen und die nahe Grenzregion nördlich des Oranjeflusses zu ihrem Rückzug nutzten. Zum anderen wird aus dem komando als einem Mittel zur kolonialen Unterwerfung ein Werkzeug zur Befreiung von der kolonialen Herrschaft der VOC und der burischen Siedler. Hierbei spielt eine Etappe im Transformationsprozess der nördlichen Grenzregion eine wichtige Rolle. Im Jahr 1774 hatte die VOC das erste General Commando aufgestellt. Es war die militärische Antwort der VOC auf den wachsenden Widerstand der Khoisan22 gegen die koloniale Unterwerfungs- und aggressive Siedlerpolitik. Das General Commando tötete Hunderte von Khoisan und transformierte das komando der Grenzfarmer, das bisher eine militärische ,ad-hoc‘ Formation war,23 in ein regierungsgestütztes System kolonialer Herrschaft.24 Das komando-System der Grenzsiedlergesellschaft kannte die Grundsätze der militärischen Hierarchie und des strikten Gehorsams gegenüber der Führungsspitze und war nicht durch lange Entscheidungsprozesse bei der Vorbereitung von Gewaltaktionen behindert. Diesem System waren die Khoisan zunächst unterlegen. Ihre segmentäre Ordnung, ihre Verteidigungsweise, die auf Konsens angewiesen war, ihr Mangel an Gewehren und Pferden hatten anfänglich der gewaltbereiten Siedlergesellschaft wenig entgegenzusetzen. Das alles änderte sich, als die Khoikhoi und Bastaards begannen, sich das komando zunutze zu machen und es in Verbindung mit ihren eigenen militärischen Fertigkeiten gegen die burischen Siedler einzusetzen.25 In den komando-Dienst gepresste Khoisan und Bastaards lernten mit dem Einsatz von Ochsenwagen, Feuerwaffen und Pferden umzugehen und integrierten Elemente der zentralisierten komando-Führung in ihre eigenen guerilla-ähnlichen Strategien und Taktiken des Raubes und Krieges. Das komando war nun keine „rein koloniale Institution“26 mehr, wie einem Militärbericht von 1851 entnommen werden kann. Er spricht von „einigen Dokumenten kurioser Natur“, die Truppen der Kolonialregierung bei der Einnahme eines ,Rebellen-Camps‘ von Khoikhoi aus Theopolis gefunden hatten. Als „kurios“ befand der Be21 Kurt Beck, Das vorläufige Ende Razzien. Nomadisches Grenzkriegertum und staatliche Ordnung im Sudan, in: Orientwissenschaftliche Hefte 12, 2002, S. 127 – 150. 22 Shula Marks, Khoisan resistance to the Dutch in the seventeenth and eighteenth centuries, in: The Journal of African History, XIII,I, 1972, S. 55 – 80. 23 Das erste, noch rein zivile komando ist für 1715 belegt. Dooling, Slavery, emancipation and colonial rule, S. 24. 24 Penn, The forgotten frontier, S. 112 ff. 25 Ebd., S. 111. 26 Ebd.

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richterstatter einen schriftlich verfassten „allgemeinen Befehl“, der „die Ernennung von Feldkommandanten, Kornetts etc. [enthält] und die systematische Aufstellung dieser Männer [zeigt], von denen wir einige ausgebildet hatten in der Hoffnung, sie zu wohlanständigen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen, während [wir] andere bestraft und gefangen hatten, um sie [zwangsweise – Einschub durch die Autoren] zu Soldaten zu machen.“27 Das komando, das die Khoikhoi für ihren kriegerischen Widerstand gegen die koloniale Unterwerfung adaptierten, fand sich zur selben Zeit in der komandoStruktur der Nama/Oorlam im südlichen Namibia wieder. Mit den aus der Kapkolonie migrierenden Oorlam im ausgehenden 18. und den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatte es Eingang in die Gesellschaft des südlichen Namibia gefunden.

2.

Hierarchie und Egalität – das komando

Die Gesellschaftsordnungen im Süd- und Zentralnamibia des 19. Jahrhunderts unterlagen einem tiefgreifenden sozialen, politischen und ökonomischen Transformationsprozess, den das komando-System entscheidend mitbestimmte. Das komando der Oorlam war im ausgehenden 18. Jahrhundert im frontierRaum nördlich und südlich des Oranje zunächst nur eine unter mehreren Erscheinungsformen organisierter Gewalt. Ab 1830, mit Beginn der sich anbahnenden Vormachtstellung der Oorlam-Afrikaner, wurde das komando zur bestimmenden militärischen Organisationsform für Raubzüge und kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Nama, Oorlam und Herero und zugleich zur zentralen gesellschaftlichen Institution der Nama/Oorlam.28 Doch erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts trugen alle fünf Oorlam-Gruppen, wie sie sich ab den 1750er Jahren in mehreren Einwanderungsetappen konstituiert hatten,29 die charakteristischen Züge von „parasitären komando-Gesellschaften“.30 Deren Ökonomie baute im Wesentlichen auf Raub und Handel mit Herero-Vieh, Elfenbein und Straußenfedern und unter Jonker Afrikaner auf einem weitverzweigten Tributsystem auf, in das insbesondere auch die viehlosen und vieh-

27 Western Cape Archives, Cape Town. GH 23/20 No 107, Military, King Williams Town, 14th June 1851. Theopolis war eine Missionsstation, unweit Grahamstown gelegen. [Übersetzung durch die Autoren.] 28 Brigitte Lau, Conflict and power in nineteenth-century Namibia, in: The Journal of African History 27, 1986, S. 29 – 39; Lau, Jonker Afrikaner’s time, S. 41 ff. 29 Afrikaner (//Aicha-//ai); die Boi’schen; Amrals Leute (Gei-/khaua); Goliaths Leute (/Heikhaua); Witboois (/Khowese). 30 Dedering, Hate the old and follow the new, S. 54.

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armen Bevölkerungsgruppen, einzelne Herero-Fraktionen, Damara und San, eingebunden waren.31 Das komando-System, wie es sich im südlichen Namibia etabliert hatte, war das Erzeugnis der Fusionierung von Fertigkeiten und Wissen verschiedener Gewaltakteure. Wie gezeigt, waren die Kriegs-, Razzien- und Plünderungspraktiken der Oorlam, die aus der Kapkolonie nach Südnamibia vorgedrungen und teilweise mit Gewehren, Pferden und Schriftkenntnis ausgestattet waren, bereits schon zum Zeitpunkt der Einwanderung das Produkt der Konfrontation tribaler (Khoisan) mit europäischer Kriegs- und Lebensführung. Nun vermischten sie sich erneut, diesmal mit den politischen Organisationsformen und tradierten Jagd- und Kriegstechniken der Nama, die zu Teilen von den Oorlam unterworfen worden und zu Teilen über Heiratsbeziehungen32 mit ihnen verbunden waren. Das komando veränderte das politische und soziale Gemeinwesen der Nama,33 wie dieses umgekehrt Einfluss auf das komando als politische Einrichtung nahm. In der komando-Struktur der Oorlam und Nama trafen zwei antagonistische Ordnungsformen, Hierarchie und Egalität, aufeinander. Das hierarchische Prinzip ging aus dem komando-Aufbau hervor, der dem kolonialen Militärapparat der VOC und der burischen Siedler entlehnt war. Jetzt gab es die Position eines Kapteins, „Unterkapitäns“, Magistrats34 Kommandanten, Korporals, Hauptfeldkornetts, Feldkornetts.35 Das egalitäre Prinzip kam in der Institution des raads, der gewählt wurde und gerontokratische Züge aufwies, und in dessen Entscheidungsprozessen zum Tragen. Ebenfalls findet es sich in den Beziehungen zwischen Kaptein und raad. Der Kaptein besaß Befehlsmacht und konnte neben den Richtern eigenmächtig Urteile fällen. Dennoch blieb er in seinen politischen Entscheidungen weitgehend an den raad gebunden. RaadsSitzungen, in denen auch die militärpolitischen Entscheidungen getroffen wurden, wie auch Versammlungen, zu denen alle ,Häupter‘ der Werften gerufen waren, konnten sich über Stunden, manchmal Tage hinziehen, weil es um

31 Henrichsen, Herrschaft und Alltag, S. 77 ff. 32 Lau, Jonker Afrikaner’s time, S. 40 f. 33 Hierzu Winifred Hoernl¦. Hg. von Peter Carstens, The social organization of the Nama and other essays, Johannesburg 1985. 34 Der Richter wurde von Kaptein und raad gewählt. 35 Budack geht davon aus, dass das Amt des Kapteins, Unterkapitäns und wahrscheinlich auch des Kommandanten, d. h. eines Mannes mit spezifischen Aufgaben in der Kriegführung, auch zur vorkolonialen Gesellschaftsstruktur der Khoikhoi gehört hatte. Kuno F. R. H. Budack, Die traditionelle politische Struktur der Khoe-Khoen in Südwestafrika. Stamm und Stammesregierung auf historischer Grundlage, Ph.D.thesis, University of Pretoria 1972, S. 276 ff. Mit Budack liegt eine umfassende Studie der politischen Struktur der einzelnen Nama- und Oorlam-Gruppen und aller ihrer Ämter vor.

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Konsensbildung ging. Faktisch war ein Kaptein nicht absetzbar,36 es lag an Persönlichkeit und Auftreten, wie viel Durchsetzungsmacht ihm zukam. Über die Entscheidungsprozesse im raad schrieb Missionar Weber : „Oft beschließen sie eine Sache und verurteilen den Missetäter, ohne dass der alte [Kaptein] etwas davon weiß, oder sie werfen auch umgekehrt die Befehle und Urteile des Alten über den Haufen.“37 Der Kern des dem Kaptein unterstellten komandos und die Mitglieder des raad waren weitgehend identisch. Da der raad ebenfalls alle zivilen Angelegenheiten regelte, war das komando eine politische und soziale Einrichtung und juristische Instanz sowie zugleich ein ausführendes Organ des raad.

3.

Funktionen und Organisationsformen des komandos

Ein komando wurde in ziviler und militärischer Mission eingesetzt. Es formierte sich zu Razzien, Kriegszügen und zur Jagd. In Mikro-Zusammensetzung bildete es die berittenen Spähertrupps. Es eskortierte Reisende und Waffenhändler. Als Strafkomando in kleiner Besatzung ging es gegen Mitglieder der eigenen Gemeinschaft vor, die sich den Regeln der Gemeinschaft widersetzt hatten. Als Strafkomando in großer Formation konnte es gegen Bündnispartner ziehen, die einer Aufforderung zum Kriegszug nicht nachgekommen waren. In ,polizeilicher Funktion‘ ritt ein komando aus, um Personen abzuholen, die vor den raad zur Verhandlung eines Vergehens geladen waren. Bisweilen wurde es geschickt, um Gruppenangehörige, die unter anderen Nama/Oorlam-Gruppen siedelten, zur Rückkehr aufzufordern. Ferner kam ein komando beim Eintreiben von Schulden und Tributabgaben zum Einsatz. Schließlich gab es komandos, deren Absicht sich von Außenstehenden nicht unbedingt erschließen ließ, Trupps, die sich zum Auskundschaften einer Region oft über große Distanzen hinweg in Bewegung setzten.38 Sie konnten der Erkundung von Wasserstellen, Weide- und

36 Ebd., S. 216. 37 National Archives of Namibia (Windhoek) [im Folgenden NAN], H. Vedder, Quellen zur Geschichte Südwestafrikas [im Folgenden V-Q]7B, F. W. Weber, Gobabis, Sept.–Dez. 1861, S. 30. 38 So etwa spricht Galton auf seiner Forschungsreise 1851 mit Jonker Afrikaner über dessen „lange Reisen [die dieser] mit einer grossen Anzahl von Leuten bei jeder Gelegenheit gemacht [hatte].“ Bei einer der Reisen „versuchte er es, die Owampo zu erreichen, war aber nicht im Stande, über OmanbondÀ hinauszukommen, weil die Ochsen in einem Zustand von zu grosser Ermattung waren. […] Dem Gerüchte nach war Jonker mit dem Flusse, der die weitere Gränze [sic!] des Owampolandes bildet, vollkommen genau bekannt.“ Francis Galton, Bericht eines Forschers im tropischen Südafrika, 1853. Hg. von der Gesellschaft für Wissenschaftliche Entwicklung und Museum Swakopmund, Namibia 1980, S. 67 f.

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Jagdgebieten, ebenso aber auch strategischen Zwecken in Vorbereitung eines geplanten Raub- oder Kriegszuges dienen. Razzien und Kriegszüge, die im Idealfall alle wehrhaften Männer erfassen sollten, wie auch die Aufstellung von komandos in allen anderen Funktionen fanden unter der Führung des Kapteins oder unter seiner Order statt und wurden, handelte es sich um größere Unternehmungen, in der Regel im raad beschlossen. Auf Beutezug wurden oft auch Abhängige geschickt, Damara etwa, welche die Beute abzuliefern hatten. Daneben fanden sich Gewaltakteure, vor allem wenn sie fernab der lokalen Zentren siedelten, zu nicht ,autorisierten‘ Razzien zusammen. Manche solcher Beutezüge wurden in Absprache mit anderen Beutekriegern länger vorbereitet. Andere bildeten sich als spontane Überfall-komandos, der Gunst eines bestimmten Moments geschuldet (z. B. vorbeiziehende Händler) oder dem Druck einer existentiellen Notlage. Ein Kriegszug (oorlog) unterschied sich in seiner politischen Dimension von einer Razzia. Darüber hinaus aber gingen beide Aktionsformen der Gewalt ineinander über. Zudem gingen den großen Rauboder Kriegszügen oft kleinere Razzien voraus, um sich die nötige materielle Ausrüstung (Waffen, Munition, Vieh, Zug- und Reittiere) für die geplante Unternehmung zu beschaffen. Die Häufigkeit der unternommenen Raubzüge variierte in den einzelnen Nama/Oorlam-Gruppen. Allerdings gab es Lau zufolge Mitte des 19. Jahrhunderts in einigen Kapteinschaften wie in Berseba oder Bethanien allenfalls noch einzelne Jahre, in denen die komandos nicht zu einer Razzia aufbrachen. Andere Nama/Oorlam-Gruppen wie die Gobabisser (Gei-/khaua), das Rote Volk (Gei-// khou) und die Afrikaner (// Aicha-//ai) gingen hingegen jährlich oder auch mehrfach im Jahr auf Beutezug. Die Raubökonomie war so bestimmend geworden, dass nach 1840 keine Nama/Oorlam-Gruppe mehr länger als fünf Jahre ohne Razzia auskam.39 Ob sich ein komando in friedlicher, räuberischer oder kriegerischer Absicht formierte, bestimmte Organisation und Zusammensetzung der Truppe, sodass sich komando-Typen nach ihren Funktionen unterscheiden lassen. Ein komando, das zu Vermittlungsgesprächen zwischen Konfliktparteien aufbrach, bestand häufig aus nur wenigen berittenen Personen, dem Kaptein, einigen seiner Großleute und einem Übersetzer, wenn sprachlich nötig oder kommunikationsstrategisch wichtig. In der angespannten Situation eines drohenden oder bereits ausgebrochenen Konfliktes wurde jede Bewegung eines sich formierenden komandos aufmerksam verfolgt, nicht zuletzt mit Hilfe von Spähern, häufig Damara, die zu Fuß ausgeschickt wurden. Ein komando im Dienst der Kriegs- und Friedensdiplomatie, aber auch komandos unterwegs in strafrecht39 Lau, Jonker Afrikaner’s time, S. 42 ff.

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lichen Angelegenheiten durften daher nicht zu groß sein, um nicht den Eindruck kriegerischer Absicht zu erwecken und unter Umständen Aufrüstung bis hin zu Angriffen sich bedroht fühlender Nichtverbündeter auszulösen.40 Komandos, die auf Raubzug gingen, bildeten kleinere mit Gewehren bewaffnete Reitertrupps zu Pferd. Die Beutekrieger agierten hier in der Logik des „Kleinen Krieges“ spontan, flexibel, sofort aktionsbereit. Sie machten sich den Moment der Überraschung zunutze, griffen aus dem Hinterhalt an und zogen sich wieder zurück. In ihrem äußeren Erscheinungsbild waren sie kaum von jenen komandos zu unterscheiden, die gerade nicht in raubkriegerischer Absicht, sondern zur Regelung ziviler Angelegenheiten unterwegs waren. Auch sie wurden beritten und bewaffnet ausgeführt. Die größeren komandos, die einige Hundert Beutekrieger umfassen konnten, differenzierten sich aus in Fußvolk, Waffenträger (häufig abhängige Damara und Mittelose) und mit Gewehren bewaffnete Reiter auf Ochsen und zu Pferd. Begleitet wurden sie von einer Anzahl an Ochsenwagen, die Munition und andere notwenige Güter enthielten. Ein komando diesen Typs bewegte sich wesentlich schwerfälliger und war schon von weitem im Gelände zu erkennen. Seine Aufstellung erforderte Vorbereitung. Boten wurden ausgesendet, um die Männer von den Außenstationen zu sammeln, Reit- und Zugtiere aus den weiter entfernten Weidegebieten eingetrieben. Die Männer reparierten ihre Gewehre und gossen Kugeln, mangelte es an gekaufter Munition. Diese Zeit der Vorbereitung war eine Zeit der erhöhten Betriebsamkeit und wurde in den Werften und auf den Stationen von dem nicht wehrhaften Teil anderer Nama oder Oorlam-Gruppen, die im Konflikt mit den Aufrüstenden standen, angstvoll mitverfolgt. Aufgrund der hohen Mobilität unter den Gruppen verbreiteten sich Nachrichten und Gerüchte, die auf einen drohenden Überfall wiesen, außerordentlich rasch. Schließlich gab es komandos, die sich im Bündnis mit mehreren anderen Nama/Oorlam-Gruppen zu Kriegszügen zusammenfanden. Solche Unternehmungen wurden oftmals in schriftlichen Kriegserklärungen angekündigt. Auch ging ihnen unter den Bündnispartnern ein reger Briefwechsel und mündlicher Austausch über Boten voraus.41 Während die in kleinerer Besetzung durchge40 Kaptein Joseph Frederik aus Bethanien kehrte etwa, einer Bemerkung von Missionar J. Bam jun. im September 1881 zufolge, mit einem komando auf halbem Wege wieder um, nachdem ihm von Adam Lambert gesagt worden war, „dass er viel zuviel Leute habe, die Boois müssten ja meinen, es gäbe Krieg.“ NAN, V-Q/3B, J. Bam jun., Bethanien, 17. 9. 1881, S. 157. 41 Solche Zeugnisse finden sich zum einen in der Korrespondenz Mahareros und in den berühmt gewordenen Aufzeichnungen von Hendrik Witbooi wieder, der wie auch andere Kriegsherren Korrespondenz sammelte und archivierte. Brigitte Lau u. a. (Hg.), The Hendrik Witbooi papers, 2. Aufl., Windhoek 1995. Abgeschriebene Briefe verschiedener Nama/ Oorlam-Kapteins oder paraphrasierte Briefinhalte sind vereinzelt auch in den Missionarsberichten wiedergegeben. Missionare hatten oft von den Schriftstücken Kenntnis, da sie verschiedentlich als Übersetzer und Schreiber hinzugezogen wurden.

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führten Razzien nur unmittelbar vor dem Angriff oder beim Warten auf das Morgengrauen, der üblichen Zeit des Überfalls, ein Innehalten geboten, darüber hinaus aber auf Überraschungseffekt, Geschwindigkeit und Plötzlichkeit ausgelegt war, gaben die großen Kriegszüge Momenten der Entschleunigung Raum. Sie dienten der Kriegsdiplomatie, die viel Zeit beanspruchte, und es konnte Wochen, manchmal Monate dauern, bis sich der Kriegszug schließlich in Bewegung setzte. Stationen, auf denen sich die heranziehenden komandos trafen, wurden manchmal regelrecht okkupiert, denn die stationierten Beutekrieger, die in der Regel keine Verpflegung mitnahmen, mussten sich vor Ort beschaffen, was sie benötigten.42 Manche Kriegszüge wurden auf halbem Weg abgebrochen. War die Versorgungslage für Mensch oder Tier zu schlecht, wurde der Erschöpfungszustand der mitgeführten Reit- und Zugtiere bedenklich, hatte man zu lange auf Allianzpartner gewartet, drangen Gerüchte aus den heimatlichen Werften vor, die eine baldige Rückkehr notwendig erscheinen ließen, oder war die Munition knapp und schon auf dem Weg zum anvisierten Ort des Überfalls verbraucht, dann konnte es sein, dass ein komando umkehrte. Wenn nicht ohnehin vom komando-Führer selbst beschlossen, vermochte der razzienmüde Teil der Gefolgschaft sich durchzusetzen. Das komando hatte eine gemeinschaftsbildende Funktion, die immer auch durch ihre rituelle und symbolische Seite charakterisiert war. Zur ,Kultur der Razzia und des Krieges‘ gehörte das Umkreisen von Häusern wichtiger Persönlichkeiten in berittener und bewaffneter Formation unmittelbar vor Aufbruch zum Raubzug. War dieser erfolgreich, so kündigten abgefeuerte Gewehrsalven von weitem schon die Rückkehr an und verstärkten sich um ein Vielfaches beim Einreiten in die Werften und lokalen Zentren. Das Erleben und die Inszenierung von Zusammenhalt und raubkriegerischem Potential, wie dies im Aufmarsch der Beutekrieger und der ostentativen Verschwendung an Munition als einer sonst grundsätzlich knappen und hart umkämpften Ressource zum Ausdruck kam, galten aber nicht nur der Gruppe, sie galten auch dem Gegner. Wurden im Zuge kriegerischer Konflikte Friedensverhandlungen einberufen, so ließ sich schon beim Eintreffen eines komandos tendenziell erkennen, wie der Kriegsherr in die Verhandlungen eintreten würde, ob – sollte die Kriegsdiplomatie scheitern – aus einer Position der Bereitschaft zu weiterer Gewaltausübung, oder aber aus einer der grundsätzlich gewünschten De-Eskalation des Konfliktes. Was es in letzterem Fall unter allen Umständen zu vermeiden galt, wurde in ersterem bewusst hervorgehoben: Drohung und militä42 Aufgrund seiner geopolitischen Lage gehörte hierzu vor allem Rehoboth, das Heidmann im September 1880 als ein „großes Kriegslager“ beschreibt. ELCRN, VII 28.31,II, F. Heidmann, Rehoboth, 27. September 1880, S. 428.

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rische Präsenz, die sich in der Größe des einziehenden komandos visualisierte. Zu den auf Hoachanas zu Beginn des Jahres 1858 abgehaltenen Friedensverhandlungen zwischen den Kapteinen Jonker Afrikaner und //Oasib reiste Kaptein Amraal im Dezember 1857 mit zehn Wagen und 60 Mann, das hieß mit „fast all seinen Leuten“, an.43 Anfang Januar trafen dann weitere Kapteine, unter ihnen Jonker Afrikaner, mit „etwa 27 Wagen und an 100 Pferde[n] und Ochsenreiter[n]“44 auf Hoachanas ein, um unter der Führung zweier von den Kapteinen bestimmten Mittlern vier Tage lang zu verhandeln. Aufgebote an Mensch und Tier von solch einer Größenordnung boten, zumal in heiklen Verhandlungssituationen wie dieser, eine gewisse Sicherheit, wussten doch die Kapteine im Konfliktfall ihre gerüstete Gefolgschaft hinter sich. In diesem Fall nun wurden die Verhandlungen auf Wunsch von Kaptein Oasib im Haus des Missionars abgehalten, in dessen Beisein und auf ,neutralem‘ Boden, „damit nicht etwaige Reibereien zu einem völligen Ausbruch des Krieges führen möchten. Die Häupter trauten sich gegenseitig nicht, im stillen hatte ein jeder seine Leute unter Waffen.“45 Rekrutierte sich das komando aus Mitgliedern der Gemeinschaft, die in und um die Werften von Kaptein und Großleuten siedelten, oder war es mit diesen ohnehin identisch, war es leicht, sich zu formieren und aufzubrechen. Befand sich aber ein Teil des komandos weiter entfernt von den lokalen Zentren oder zog man im Verbund mit anderen Nama/Oorlam-Fraktionen los, dann änderte sich das Raum-/Zeitgefüge der raubkriegerischen Aktion. Um die eigenen Leute zu sammeln, mussten erst einmal Boten oder der für die Rekrutierung verantwortliche „Kommandant“ ausgeschickt werden,46 was je nach Entfernung und Gelände dauern konnte, bis diese ihren Auftrag erfüllt hatten und die aus dem „Außenfeld“ Angeforderten eingetroffen waren. Sehr viel länger noch, bisweilen Monate, konnte es in Anspruch nehmen, bis sich die komandos von verschiedenen Allianzpartnern zu einem Zug formiert hatten. Und auch dann konnte sich die geplante Unternehmung noch verkomplizieren. Waren sich zum Beispiel die komando-Führer, wenn sie mit ihren Trupps an vereinbartem Ort aufeinandertrafen, schon untereinander nicht über das eigentliche Beuteziel und die Strategien des Überfalls einig, konnte es um ein Leichtes geschehen, dass Teile ihrer Gefolgschaft sich wieder auf den Heimweg begaben oder sich selbständig machten, um eigene kleinere Raubüberfälle zu unternehmen. In diesen Schwierigkeiten, ein komando zu organisieren, spiegelt sich die Dynamik des

43 44 45 46

NAN, V-Q/5, F. H. Vollmer, Hoachanas, vom 8. Mai 1857 bis 10. Januar 1858, S. 115. Ebd. Ebd., S. 116. Budack, Traditionelle politische Struktur der Khoe-Khoen, S. 169.

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Gegeneinanders von Hierarchie und Egalität wider, die die Außenbeziehungen und Binnenstruktur des komandos kennzeichnen.

4.

Hierarchie versus Egalität – Konfliktdynamiken des komandos

Innerhalb der eigenen Gruppe war das Zustandekommen eines Raub- oder Kriegszuges in vorgesehener Besatzung keineswegs immer gesichert. Machtkonstellationen innerhalb des komandos und innergemeinschaftliche Konflikte materialisierten sich im Raum. Waren es nicht, wie so oft, ökologische Bedingungen, wie Dürre, Wassermangel, Viehseuchen oder Heuschreckenplagen, die ganze Gemeinschaften oder Teile von ihnen auch außerhalb der üblichen Transhumanz-Perioden zum Aufbruch ins „Außenfeld“, manchmal auch zum Wegzug in andere Kapteinschaften bewegten, so lagen diesem Entschluss häufig gruppeninterne Auseinandersetzungen zugrunde. Ein Kaptein in grundsätzlich schwacher Führungsposition oder auch nur vorübergehender innergemeinschaftlicher Bedrängnis konnte bei der Aufstellung seines komandos nicht unbedingt mit Verstärkung von Gefolgschaft jenseits der unmittelbaren Umgebung seines Zentralortes rechnen.47 Der Kaptein konnte dann versuchen, die Durchsetzung der Gehorsamspflicht per Drohung zu erreichen, wie z. B. von Kaptein //Oasib vom Roten Volk (Gei-//khou) berichtet, als er gemeinsam mit seinem Verbündeten Nanib im Dezember 1864 zu einem Kriegszug gegen Gibeon aufbrach und die Leute auf der Station „auffordern [ließ], ihm ohne Versäumen zu folgen, andernfalls würde er sie bei seiner Rückkehr alle niederschießen lassen.“48 Doch solche Drohgebärden mussten nicht unbedingt den gewünschten Effekt erzielen. Unter den Unwilligen wurde sie nicht selten entweder gänzlich ignoriert oder man folgte dem Befehl zum unverzüglichen Aufbruch mit demonstrativer Verspätung. Mit dem komando und der Differenzierung von Positionen besaß der Kaptein die ersten Ansätze zu einem Erzwingungsstab, mit dem er Anweisungen, das Herbeischaffen von Straftätern etwa oder auch anderen Befehlsverweigerern, durchsetzen konnte. Gleichwohl waren die Herrschaftschancen der Kapteine begrenzt. Zwar vereinten sich zwei Führungsfunktionen, die des politischen 47 So etwa ist in den Missionsberichten im Zusammenhang mit dem beschriebenen Sammeln von Gefolgschaft in Vorbereitung von Kriegszügen verschiedentlich von ,Abtrünnigen‘ oder ,Unwilligen‘ die Rede, in den Worten Missionar Olpps von „Ungehorsamen im Außenfeld, die nicht geneigt waren, dem Ruf des Kapitäns zu folgen.“ Missionsarchiv der Vereinigten Evangelischen Mission, Wuppertal, Rheinische Missionsgesellschaft [im Folgenden RMG] 2.579 C/i 1, J. Olpp sen., Berseba, 25. Juli 1865, S. 68. 48 NAN, V-Q/5, F. H. Vollmer, Hoachanas, 12. 12. 1864, S. 156.

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Oberhauptes und die des Kriegsführers, in manchen Nama/Oorlam-Gruppen zudem noch die des Richters in oberster Instanz in der Position des Kapteins. Doch stand der Zentralisierung von Herrschaft, wie sie in der Verbindung von Justiz, politischer Macht und militärischer Befehlshoheit gegeben schien, die präkoloniale akephale Organisationsform der Khoikhoi entgegen,49 die dem komando-Wesen der Oorlam vorausging. Die grundsätzliche Problematik der Kapteine als Inhaber von Herrschaftsfunktionen war, dass sie Gemeinschaften vorstanden, die eine geringe Bereitschaft institutionalisiert hatten, sich einer zentralisierten Befehlsgewalt unterzuordnen. Das Amt des Kapteins war in der Regel erblich.50 Doch auch in der Funktion des Kapteins und komando-Führers musste politische Autorität stetig neu erworben werden. Die Positionalisierung des Kapteins war prekär. Einem Kaptein, der sich auf den Raub- und Kriegszügen als schlechter komando-Führer erwies oder dem es aufgrund seiner Persönlichkeit nicht gelang, die relativ autonom agierenden Häupter der Werften an sich zu binden, konnte die Gefolgschaft wegbrechen. Beanspruchte er seine Gefolgschaft übermäßig, dann zog sie unter Umständen nicht mehr mit. In kurzen Abständen waren die Männer von Berseba „8 mal mobil gemacht worden, aber es erschienen immer weniger.“ Nur „ein Teil der Männer [konnte] auf die bestimmte Zeit willig gemacht werden.“51 Die Kontrolle des Kapteins über das komando, seine Mitglieder und Praktiken blieb begrenzt. Sie stand im Schatten der Egalitätsansprüche und -praktiken der vormaligen akephalen Gesellschaften. So war auch das Recht des Kapteins auf die Verteilung der Beute von nur relativer Bedeutung, wenn einzelne Beutekrieger mit ihrem erbeuteten Gut noch während des Raubzugs von dannen zogen oder sich zusammentaten und selbst ein komando bildeten. Solche komandos schlossen oft Mitglieder verschiedener Nama/OorlamGruppen ein, das heißt, Gruppen, über die der Kaptein keine Rechte auf Gehorsam geltend machen konnte. Hier bildeten sich ad hoc Führerschaften heraus, die auf persönlichen Kompetenzen und Führungsqualitäten Einzelner beruhten und nur für den Zeitraum der Razzia Bestand hatten. Immer wieder beschäftigten Kaptein und raad nicht autorisierte Beutezüge. Wurde eine Razzia von Kaptein und raad als Diebstahl beurteilt, mussten die Beutekrieger mit einem entsprechenden Strafmaß rechnen. Unter manchen Kapteinen gab es eine Gerichtsbarkeit, die nicht nur Viehdiebstähle einzelner, sondern auch die nicht autorisierten Razzien unter Strafe stellte.52 49 Dedering, Hate the old and follow the new, S. 34 ff. charakterisiert die vorkoloniale Khoikhoi-Gesellschaft als ein fluides soziales System. 50 Budack, Traditionelle politische Struktur der Khoe-Khoen, S. 236. 51 RMG 2.579 C/i 1, J. Olpp sen., Berseba, 5. 4. 1866, S. 74. 52 NAN, V-Q/7 A, F. S. Eggert, Januar–Februar 1857, S. 49.

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Der Hierarchiegrundsatz erfordert die Beschränkung von Mobilität und Kontrolle; die Strafe verwirklicht sie. Die in Eigenregie losgezogenen Beutekrieger sollten sich auf der „Station“, Missionsstation und lokales Machtzentrum, einfinden und sich mittels lokaler Gebundenheit dem Einflussbereich von Kaptein und Missionar unterstellen. Keineswegs wurde jeder Raubzug von komandos, die sich außerhalb oder parallel zur komando-Führung ihres Kapteins gebildet hatten, geahndet. Ob einem Raubzug von den politisch Verantwortlichen Berechtigung zu- oder abgesprochen wurde, hing von einer Reihe von Faktoren ab: zum einen ganz grundsätzlich vom Stellenwert, dem in der Ökonomie der einzelnen Nama/ Oorlam-Gruppen Raub und Handel mit Raubgütern zukam, denn hier gab es doch immer noch Unterschiede; zum zweiten von der Frage, ob der Raubzug im Territorium eines Feindes oder Allianzpartners unternommen worden war. Von Mitgliedern einer Kapteinschaft eigenständig vorgenommene Razzien auf dem Gebiet eines verbündeten Kapteins konnten schwere diplomatische Spannungen auslösen und zu einer langwierigen intertribalen Angelegenheit werden. Auch das innergemeinschaftliche Gefüge kam hier zum Tragen. Die Nähe oder Ferne verwandtschaftlicher Beziehung zu den Beutekriegern konnten den Kaptein davon abhalten oder ihn darin bestärken, dem Raubzug juristisch weiter nachzugehen. Auch spielte die Versorgungslage eine Rolle, für die die Kapteins gewisse Verantwortlichkeiten gegenüber den Mitgliedern ihrer Gemeinschaften gehabt zu haben schienen. Gab es aufgrund von ökologischen Krisen (Dürre, Heuschreckenplage usw.), Viehseuchen oder Überfällen nichts mehr, was die Mitglieder der Gemeinschaft ernähren konnte, war neben den Sammeltätigkeiten im „Außenfeld“ der Viehraub die einzige Chance zum Überleben. Von manchen Nama/Oorlam-Raubzügen wird berichtet, dass die Beutekrieger, dem Verhungern nahe, noch während des Überfalls, während die einen Rückendeckung boten oder den Weg freihielten, erbeutetes Vieh schlachteten und das rohe Fleisch verzehrten.53 Hunger war ein legitimer Grund für einen Raubzug. Die Missionierung und mit ihr die Anwesenheit christlicher Missionare dynamisierte zusätzlich die Konflikte des komandos. Die christliche Ethik stellte die Raubökonomie fundamental in Frage und berührte unmittelbar das Selbstverständnis der Kapteine, die sich dem Christentum zuwandten. So kam es, dass in den christianisierten Kapteinschaften des Südens die Sinnhaftigkeit von Kriegszügen im raad zu debattieren begonnen wurde. Die Beutekrieger sahen sich mit einem Mal im Widerstreit zweier konkurrierender Ethiken und handelten, wenn sie zu einem Raubzug loszogen, also bei ein- und derselben Aktion, im Bewusstsein legitimer als auch illegitimer Gewaltausübung. Zu der historischen Rolle von Hendrik Witbooi gehört, dass er diesem in53 RMG 2.585 C/i 6, W. Eich, Onguheva, 13. 8. 1888, S. 384.

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neren Konflikt eine neue Wendung gab. Er legitimierte die unter seinem Kommando stattfindenden Raub- und Kriegszüge religiös54 und schuf dabei einen neuen Typ von Gewaltgemeinschaft, jene charismatische Gemeinschaft, die der Reisende Schwarz kennenlernte und in der das Charisma seinen ursprünglich religiösen Bezug hat. Hendrik Witbooi verstand sich als Führer in göttlicher Mission und revolutionierte in diesem Zusammenhang die sozialen Grundlagen des komandos. Auch bei Witbooi setzte sich das komando aus den ,eigenen Leuten‘, den Witboois, zusammen. Doch Witboois Konzeption von Gefolgschaft setzte an die Stelle von Zugehörigkeit zu einer der Nama/Oorlam-Gruppen, die Vorstellung des Einzelnen in ,höherem Auftrag‘ oder zumindest für die ,richtige Sache‘ zu kämpfen. Daher konnte jeder, der diese Überzeugung teilte, ein Witkam, das heißt ein Mitglied der Anhängerschaft Witboois, werden. Der Konflikt zwischen Hierarchie und Egalität tritt zurück hinter die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft mit religiöser Mission und die Bindung an den charismatischen Führer dieser Gemeinschaft. Aus einer Gefolgschaft, in der Interessen und überkommene, zugeschriebene Zugehörigkeiten im Mittelpunkt stehen, wird eine charismatische Gefolgschaft. Es ist eine Gefolgschaft im Glauben – mit der paradoxen Konsequenz, dass das komando als zentrale Institution der Nama/ Oorlam des 19. Jahrhunderts, die im Kontext der christlichen Glaubensgrundlagen zweifelhaft geworden war, seine Legitimität in der Tradition einer Kultur der Razzia und des Krieges wieder zurückgewann.

5.

„Banden“ im Rücken der Krieger

Mit dem Aufkommen einer Ordnung der Gewalt, wie sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts in der Institution des komandos entstand, bildete sich eine gegenläufige Tendenz der ,Entordnung‘ heraus. Sie fand in „Banden“ ihren Ausdruck, die im Schatten der regulären komandos nach eigenen Regeln agierten. Auch wenn sich die bereits erwähnten droster gangs in der Kapkolonie des 18. Jahrhunderts von den im südlichen Namibia des 19. Jahrhunderts operierenden „Banden“ unterschieden, eines hatten sie gemeinsam: Sie unterwarfen sich keiner zentralisierten Autorität. Die Entwicklung der „Banden“ steht in unmittelbarem Zusammenhang mit 54 Besonders deutlich in dem bekannten Brief Hendrik Witboois an den von ihm geschätzten Missionar Olpp vom 3. Januar 1890. Witbooi schildert darin sein Erweckungserlebnis und erklärt seine religiös motivierten Kriegszüge. Ein Abdruck des Briefs findet sich in Lau u. a., The Hendrik Witbooi papers, S. 38 ff. Zur zeitgenössischen Einschätzung Witboois siehe u. a. auch die Quellentexte von den Missionaren Olpp und Berger in Möhlig, Die Witbooi und Ludwig Conradt. Hg. von Thomas Keil, Erinnerungen aus zwanzigjährigem Händler- und Farmerleben in Deutsch-Südwestafrika, Windhoek 2006 [1905/06], S. 126 f.

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den Transformationsprozessen des komando-Wesens. Die Organisation räuberischer und kriegerischer Gewalt hatte sich im Lauf des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts im komando institutionalisiert. In den Rechtsnormen einzelner Nama/Oorlam-Gruppen, die manchenorts auch schriftlich fixierten waren,55 wurde festgelegt, welche Formen der Gewaltausübung und des Raubes ethisch vertretbar waren und welche geahndet wurden.56 Soziale Normen, wie sie sich mit der Verstetigung des komandos als einer militärisch-zivilen Einheit herausbildeten, führten aber auch dazu, dass sich Einzelne dem Normdruck zu entziehen begannen und sich in alternativen sozialen Gruppen zusammenfanden. Das war die Stunde der „Bande“. „Banden“ existierten in dem sich zunehmend militarisierenden frontier-Raum nördlich und südlich des Oranje auch schon vor und parallel zum Aufkommen der komandos der Nama/Oorlam, die ja zumal in ihren Anfängen zu Teilen wiederum selbst aus dem Bandentum hervorgegangen waren. Im 19. Jahrhundert aber schienen die „Banden“ im Umfeld der komandos, soweit die Quellenlage hier Verallgemeinerungen zulässt, eine unmittelbare Folge der Verstetigung von Herrschaft in den Kapteinschaften gewesen zu sein. Sie waren das Produkt innergemeinschaftlicher Auseinandersetzung um Führerschaft, Autorität, Gesetzesanerkennung und Gesetzesbruch. „Banden“, die „sich keinem der zahlreichen Häuptlinge unterordne[te]n, keinem bestimmten Stamme angeschlossen“57 hatten, operierten in zwei verschiedenen Aktionsradien. Sie zogen sich als Wegelagerer in unwegsamem Gelände zurück, möglichst weit ab von den Zentren der Herrschaftsbildung im Umfeld der Missionsstationen und anderer Werften von politischer Bedeutung. Bewegten sich die „Banden“ einerseits am äußersten Rand der Einflussbereiche der Kapteine und komando-Führer, so suchten sie andererseits geradezu die Nähe der komandos, und zwar dann, wenn sich diese in größerer Formation auf Raub- oder Kriegszug befanden. So etwa hatten „die Namaquas“ [Nama] nach einem Anfang Dezember 1880 erfolgreich gegen die Herero geführten Gefecht in 55 Eine schriftlich fixierte Gesetzessammlung liegt z. B. mit dem 1847 von missionarischer Hand verfassten und von Kaptein Frederik autorisierten Ryksboek von Bethanien vor. In Abschrift C VII 4.–8., Archives of ELCRN. Siehe auch Budack, Traditionelle politische Struktur der Khoe-Khoen, S. 221 ff. Aufschlussreich ist ebenso die Strafgesetzgebung der Bastards, in ihrer frühesten schriftlichen Form von 1868 verlustgegangen, in Missionar Heidmanns Jahresbericht von 1889 jedoch inhaltlich aufgegriffen. Eine gedruckte Abschrift des als verschollen geltenden Originals des „Gesetzbuch[s] der Rehoboth Baster“ in der schriftlichen Fassung von 1872 und 1874 befindet sich mit einer kurzen Einführung versehen im Anhang von Rudolf G. Britz / Hartmut Lang / Cornelia Limpricht, Kurze Geschichte der Rehobother Baster bis 1990, Windhoek 1999. 56 Siehe C. Wandres, Über das Recht der Naman und Bergdaman, in: Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft 9 (Sonderdruck), 1909, S. 657 – 686, ELCRN, Archives X 15.23. 57 Schwarz, Im deutschen Goldlande, S. 147.

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der Nähe der Station Barmen, Heidmann zufolge, enorm viel Beute gemacht. „Tausende Rinder und Kleinvieh“ waren „aus den Kraalen [des Gegners] befreit und nach den Wagen getrieben“58 worden, nebst allem, was sich an Wertvollem in den Hütten der Herero befunden hatte und ebenfalls mitgenommen wurde. Unter den Siegern, so Heidmann, waren „auch viele zuchtlose Banden“, „über welche die Häupter keine Gewalt hatten und die nur des Raubes wegen mit ihnen waren. In der Nacht waren viele von diesen schon mit Haufen von Rindern und Kleinvieh durchgebrannt.“59 „Banden“ im Schatten der Krieger machten sich den Aktionsraum in anderer Weise als das komando zu Nutze. Sie eroberten ihn nicht, sie verhielten sich parasitär. Indem sie sich den komandos vorübergehend anschlossen, konnten sie ihr Gewaltpotential, das sich im Gegensatz zu dem großer komandos auf eine sehr viel kleinere Anzahl von Personen begrenzte, optimal nutzen und ihren Beuteertrag um ein Mehrfaches erhöhen. Anders als der dem Kapholländischen entlehnte und in die Sprache der Nama/Oorlam eingegangene Terminus komando ist der der „Bande“ kein emischer Begriff. Der im selben Zug mit ,Diebe‘, ,Mörder‘, ,Räuber‘, ,gesetzloses Gesindel‘, ,Rotte‘, ,ruchlose Bagage‘ usw. meist pejorativ gebrauchte und in den Missionsquellen oft wahllos für jede gemeinschaftliche Form kollektiven raubkriegerischen Handelns herangezogene Begriff „Bande“ ist im hier genannten Kontext allein dort beibehalten, wo er eine Erscheinungsform benennt, die in der Tat Charakteristika des sozialen Organisationstyps einer Bande aufweist als einem losen, nicht legitimierten und gering institutionalisierten Zusammenschluss von Akteuren, die ihre politischen oder ökonomischen Interessen gewaltsam durchzusetzen suchen.60 Kennzeichnend für „Banden“ sind die „eingeschränkte Normierungsbereitschaft“61 ihrer Mitglieder und ein in den meisten Fällen nur vage vorhandenes Gefühl von Zusammengehörigkeit.62 Über Identitätsgefüge und soziales Regelwerk im Inneren der „Banden“, wie sie sich im südlichen Namibia des 19. Jahrhunderts formiert hatten, ist nahezu nichts bekannt. Lediglich einige indirekte Hinweise lassen darauf schließen, dass diese Gruppen in flachen Hierarchien operierten und Angehörige von Bevölkerungsgruppen Aufnahme fanden, die sich in einer materiell prekären Situation befanden. Eine Textstelle in Schwarz‘ Ende der 1880er Jahre verfasstem 58 ELCRN, VII 28.31, II, F. Heidmann, Rehoboth, 25. Februar 1881, S. 482. 59 Ebd., S. 485. 60 Vgl. Michael Bollig, Lokale Kriegsherren – Überlegungen zur Entstehung von gewaltoffenen Räumen im präkolonialen und postkolonialen Afrika, in: Winfried Böhm / Martin Lindauer (Hg.), Welt ohne Krieg?, Stuttgart 2002, S. 321 – 334, hier S. 322. 61 Trutz von Trotha, Jugendliche Bandendelinquenz. Über Vergesellschaftungsbedingungen von Jugendlichen in den Elendsvierteln der Großstädte, Stuttgart 1974, S. 90. 62 Ebd., S. 41.

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Reisebericht gibt Aufschluss über das Erscheinungsbild eines „Rundläufers“ (d. h. Mitglieds einer „Bande“), der offenbar in einem regulären komando von Jan Jonker Afrikaners Leuten, „ein[em] ganze[n] Fähnlein bewaffneter und berittener Männer, die im Allgemeinen einen recht guten Eindruck machten“,63 Aufnahme gefunden hatte und von diesen insofern abstach, als er „furchtbare Lumpen auf seinem Leibe“64 trug. Deutlicher belegen die Quellen die Zwecke des Gewalthandelns der „Banden“-Mitglieder. Es ging um Zugang zu ökonomischen Ressourcen, vor allem um Waffen, Munition und Vieh. Die Absichten unterschieden sich damit nur wenig von denen eines komandos, das sich zu einer Razzia aufmachte. Waren die Ziele dieser „Banden“ auch rein wirtschaftlicher und nicht politischer Natur, so war doch ihr Aufkommen insofern eine politische Erscheinung, als es sich bei den „Banden“ um Gewaltakteure handelte, die sich der komando-Führung ihres Kapteins nicht mehr unterordnen wollten oder sich dessen Herrschaftsanspruch bereits dauerhaft entzogen hatten. Darüber hinaus ging es um Personen, die von ihren Gemeinschaften aus dem einen oder anderen Grund ausgeschlossen worden waren. Sie lassen sich mit einer Personengruppe in Verbindung bringen, die sich in den Quellen verschiedentlich unter der Bezeichnung ,Buschleute‘ findet, nicht immer gleichzusetzen mit den von den Europäern ebenfalls ,Buschleute‘ genannten San. Die ,Buschleute‘ stellten in der zeitgenössisch europäischen Wahrnehmung der frontier-Gesellschaft des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts eine fluide Kategorie dar, Ausdruck mangelnder Einsicht in die inneren Strukturen der San,65 aber auch Hinweis auf Identitätenwechsel, soziale Mobilität und Abweichung als Charakteristika des Grenzraums nördlich und südlich des Oranje. Es waren die Abtrünnigen, Gesetzesbrecher und Außenseiter, die sich in „Banden“ zusammenfanden.

6.

Enttraditionalisierung und Kreativität. Ausblick

Die Dynamik von Gewaltgemeinschaften im südwestlichen Afrika des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts ging aus zwei gegenläufigen Bewegungen hervor: eine der Normierung und zunehmenden Institutionalisierung der 63 Schwarz, Im deutschen Goldlande, S. 165. 64 Ebd. 65 Alan Barnard, Hunters and herders of Southern Africa. A comparative ethnography of the Khoisan peoples, Cambridge 1992; Ute Dieckmann, Hai om in the Etosha Region. A history of colonial settlement, ethnicity and nature conservation, Basel 2007; Robert J. Gordon / Stuart Sholto Douglas, The bushman myth. The making of a Namibian underclass, 2. Aufl., Westview 2000, S. 5 f.

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räuberischen und kriegerischen Gewalt in Form des komandos und eine der reduzierten Normierung und Deinstitutionalisierung als Charakteristikum der „Banden“ und sich den regulären komandos entziehenden Beutekriegertrupps. Dieser gegenläufige Prozess war ein Ausdruck des Widerstreits von Egalität, wie sie in unterschiedlicher Weise akephale Gesellschaften sowie frontier-Räume kennzeichnet, und Hierarchie, welche im komando gegenwärtig ist und vor allem den kolonialen Herrschaftsanspruch auszeichnet. Mit dem komando entsteht eine Gewaltgemeinschaft, die nicht nur unterschiedliche kriegerische Zwecke, sondern politische und rechtliche Aufgaben erfüllt und entsprechend dieser Aufgaben eine Vielfalt von Organisationsformen hat. Es gibt nicht ,das‘ komando, sondern eine Vielzahl von Formen des komandos. In dieser Vielfalt wird das komando auch ein soziales Gehäuse, welches das Leben seiner Angehörigen sowohl im Binnen- als auch in ihrem Außenverhältnis in vielfältigster Weise regelt und bestimmt. Das komando wird zur Alltagswelt. Aber die Anziehungskraft des komandos bleibt begrenzt. Das komando steht in Konkurrenz zur „Bande“. Die „Bande“ mag so flüchtig sein wie die Situation des Beutezugs, in der Angehörige eines komandos sich selbständig machen und auf eigene Rechnung losziehen, oder zum sozialen und politischen Ort werden, an dem die Randständigen und Außenseiter der frontier-Gesellschaften gefahrvollen Unterschlupf finden. Vor allem aber enthalten die gegenläufigen institutionellen und normativen Prozesse ein deutliches Element der Enttraditionalisierung. Diese Enttraditionaliserung ist die Grundlage von sozialer, kultureller und politischer Kreativität, die nicht nur das komando und seine Geschichte in der Kapkolonie und im südlichen Namibia seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auszeichnet. Die Enttraditionalisierung, die Kreativität freisetzt, ist auch eine der Grundlagen, auf denen Jonker Afrikaner den Versuch unternimmt, eine zentralisierte Herrschaft vom Typ des „Großhäuptlingtums“66 zu errichten und Hendrik Witbooi eine neue Form der Gewaltgemeinschaft, die charismatische Gewaltgemeinschaft, aufbaut. In ihrer Verbindung zu ihren Gründern blieben beide Innovationen allerdings so vergleichsweise fragil und kurzlebig wie die Gewaltgemeinschaften des komandos und der „Bande“ der frühen Kapkolonie und des südlichen Namibia, in deren Zusammenhang sie entstanden sind.

66 Siehe Trutz von Trotha, Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des ,Schutzgebietes Togo‘, Tübingen 1994, S. 225 – 260.

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Die Ehre der Krieger. Gewaltgemeinschaften im vorkolonialen Ostafrika

Afrikanische Krieger, an erster Stelle die ostafrikanischen Massai, sind allgegenwärtig, und das nicht nur in kenianischen Städten, wo auf Straßen und Märkten, wie dem Massai-Markt in Nairobi, Schilde, Speere und andere kunsthandwerkliche Dinge der Massai, die Reste des Kriegerimages, in kleiner Münze an Touristen verhökert werden. Auch in Europa sind die Massai präsent: In europäischen Reiseführern sind sie unverzichtbar, als Beiwerk, Schmuck und Sinnbild Afrikas.1 Sie tauchen in der Unterhaltungsliteratur auf („Die weiße Massai“),2 stehen für Exotik, Verführung und Erlösung frustrierter Europäerinnen. Selbst wer den Mythos der Massai dekonstruieren will, verzichtet nicht auf die Mythen, die sich um die Massai ranken, die aufrechten Männergestalten, verwachsen in der Natur und im Schatten der Schirmakazien.3 Auch das Spielzimmer haben sie mittlerweile erobert, und zwar in Gestalt einer Serie von Playmobil-Figuren, neben Indianern, Piraten und Römern. Immer wieder werden die Massai oder die ihnen nahen Samburu, wenn auch meist implizit, als Inbegriff Afrikas, der Wildheit, Weite und Freiheit des Kontinents präsentiert. Noch in aktuellen Reiseführern werden die heutigen Massai ausdrücklich als Hirten- und Kriegervolk bezeichnet – was sie beides nicht sind: Erstens führen sie keine Kriege mehr, sie sind keine Söldner und stellen auch keine warlords, und auch bei ihnen gibt es Alte, Kinder und Frauen, zumindest das alles sind keine Krieger. Und zweitens sind sie kein Hirtenvolk, allenfalls ein Volk von Viehzüchtern und Bauern – denn es gibt auch letztere, die sesshaften, ackerbautreibenden Massai, die freilich nicht westlichen Erwartungen entsprechen und deshalb ein Reiseführerschattendasein führen – und auch heute noch in kenianischen Darstellungen der Massai-Kultur bewusst ausgelassen werden. 1 Steffi Kordy, Kenya, Tanzania mit Zanzibar (Dumont Richtig Reisen), 3. Aufl., Köln 2001, S. 138 f. 2 Corinne Hoffmann, Die weiße Massai, München 2000; Christina Hachfeld-Tapukai, Mit der Liebe einer Löwin. Wie ich die Frau eines Samburu-Kriegers wurde, 6. Aufl., München 2012. 3 Siehe z. B. schon den Einband von: Elke Regina Maurer, Fremdes im Blick, am Ort des Eigenen. Eine Rezeptionsanalyse von „Die weiße Massai“, Freiburg 2010.

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Denn auch heute noch – oder wieder – scheint man sich nach Kriegern zu sehnen, nach heroischer Männlichkeit, nach den Indianern Afrikas im Karl Mayschen Sinn: aufrecht, tapfer, ehrenhaft, nur leider dem Untergang geweiht. Die Massai galten in diesem Sinn lange als die „edlen Wilden“ Afrikas.4 Was bleibt aber, wenn man gewissermaßen unter die Decke des Mythos schaut, nach den Kriegern des 19. Jahrhunderts, am Vorabend der Kolonialisierung in den 1880er Jahren? Denn auf Berichte über afrikanische Verhältnisse in den Jahrzehnten vor der Kolonialisierung gehen heutige Vorstellungen vom vorkolonialen Afrika überhaupt oft zurück; über ältere Verhältnisse der schriftlosen ostafrikanischen Kulturen des Landesinneren weiß man dagegen ziemlich wenig. Das ist das Thema dieses Beitrags. Er beschäftigt sich zunächst mit Bildern und Wahrnehmungen der Kriegergruppen im vorkolonialen 19. Jahrhundert Afrikas. Dann soll näher betrachtet werden, was über ostafrikanische Kriegergruppen präzise bekannt ist. Und schließlich wird gefragt, welche Rolle Ehrvorstellungen als soziale Norm und Verhaltenskodex bei ihnen spielten.5 Denn dass Ehre ein zentrales Regulativ in vorkolonialen Gesellschaften Afrikas darstellte, ist bereits wiederholt beobachtet worden.6 Aber auch in Afrika waren Ehrvorstellungen vielfältig und wandelbar. Der Blick auf Ehre im 19. Jahrhundert erhellt insofern den besonderen Charakter einer Übergangsepoche, die von Krieg und Gewalt geprägt war.

1.

Kriegergruppen: Bilder, Nachrichten, Wahrnehmungen

Die europäischen Reiseberichte des 19. und 20. Jahrhunderts, ob vor- oder frühkolonial, sind voll von verstreuten Informationen über die Krieger Afrikas. Auch das Bild der Massai als heroische Krieger stammt aus der Kolonialzeit, doch nicht aus den Anfängen im späten 19. Jahrhundert. Es entstand in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt in kolonialen Reiseführern.7 Diese Reiseführer brauchten die Massai, denn die Massai waren lebende Erinnerungsorte, bündelten die Erinnerung an Gewalt, Eroberung und Hero4 Stephen S. Ole Sankan, The Maassai, Nairobi 1995 [1971], S. VII. 5 Der Beitrag stützt sich auf Material und Befunde, die Sascha Reif und Stephanie Zehnle im Rahmen ihrer Mitarbeit im Ostafrika-Teilprojekt der Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ erarbeitet haben. Vgl. Sascha Reif, Altersklassensysteme im vorkolonialen Ostafrika, Staatsexamensarbeit Gießen 2008 (Ms.); Stephanie Zehnle, Waffen, Beute, Narben. Dinge und Körper der Ruga-Ruga im vorkolonialen Ostafrika, Magisterarbeit Gießen 2010 (Ms.). Zu ostafrikanischen Kriegergruppen im 19. Jahrhundert ist eine Kasseler Dissertation von Sascha Reif zu erwarten. 6 Grundlegend John Iliffe, Honour in African history, Cambridge 2005. 7 Siehe z. B. die Abbildungen von Massai-Kriegern in: Tanganyika Guide, Dar es Salaam 1936, S. 16, 32.

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ismus. „Die Massai wurden niemals bezwungen“, hieß es in einem britischen Reiseführer der 1930er Jahre wörtlich.8 Das war eine erstaunliche Wertung, denn die Massai waren Bewohner der britischen Kolonie Kenia und des Mandatsgebietes Tanganyika, Untertanen des britischen Königshauses. Doch die kriegerischen, heroischen, vermeintlich unbezwingbaren Massai, in denen die Geschichte des vorkolonialen Afrika quasi aufgehoben war, benötigte man, um für die touristische Reise zu werben. Ohne sie war Afrika nicht Afrika, nicht exotisch, gefährlich und rätselhaft genug. Und ohne Gefahr, Exotik und Rätsel wäre kaum ein Tourist nach Afrika gereist. Doch die Gefahr musste für die Touristen, die Nachfolger der Afrika-Reisenden, gebändigt werden. Die Reiseführer priesen seit ca. 1910 nun die Eisenbahnreise als Möglichkeit, den exotischen und gefährlichen Kontinent dennoch sicher und bequem zu durchqueren. So zeigt ein „Tanganyika Guide“ des Jahres 1936 schon auf dem Einband, wie sich die Eisenbahn durch das friedliche Afrika schlängelt, von Daressalam am Indischen Ozean ins Landesinnere, auch durch die Stadt Tabora hindurch, immerhin wenige Jahrzehnte zuvor noch das Zentrum der Kriegergruppen und eines zeitweise mächtigen Kriegerstaats.9 Das wilde Afrika, das die Reiseführer erfanden, bedurfte der wilden Tiere ebenso wie der wilden Krieger, gezähmt durch das Glas des Eisenbahn-Panorama-Wagens, das zwischen sie und den europäischen Beobachter geschoben war. In einem Werbeprospekt der „Deutschen Ost-Afrika-Linie“ hieß es kurz vor dem Ersten Weltkrieg: „Ich lade Sie, geehrter Leser, […] ein, mir auf einer Reise zu folgen, um zu sehen, was dieses neue Land Ihnen bieten kann! Sie brauchen keinerlei Mangel an Komfort zu fürchten! Sie werden ein Land sehen, in welchem das urzeitliche Naturleben der Wilden, mit ungekürztem malerischen Effekt, doch seiner Wollust und Grausamkeit entäußert, neben moderner Kultur einhergeht.“10

Man kann sich unschwer vorstellen, dass die Reisenden dennoch genau wegen dieser Wollust und Grausamkeit kamen und hofften, noch einen Zipfel davon zu erhaschen. Jedenfalls waren die Erwartungen der Reisenden verheißungsvoll gestimmt. So schrieb ein Afrikareisender der Zwischenkriegszeit: „Erwartungsvoll wartet man auf den Augenblick, in dem sich der Zug in Bewegung setzt, sollen sich doch in den nächsten 14 Stunden neue Bilder afrikanischer Landschaften und ihrer schwarzen Bewohner vor unseren Augen entrollen.“11

8 Ebd., S. 13. 9 Ebd. 10 Zitiert nach: Christiane Reichart-Burikukiye, Gari la moshi – Modernität und Mobilität. Das Leben mit der Eisenbahn in Deutsch-Ostafrika, Münster 2005, S. 75 f. 11 Der Forschungsreisende Hans Joachim Schlieben 1941, zitiert nach: ebd., S. 76.

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Und die Reisenden wurden nicht enttäuscht. Der Psychologe Carl G. Jung schrieb in seinen Erinnerungen über eine Ostafrika-Reise der 1920er Jahre: „Als der erste Sonnenstrahl den Beginn des Tages verkündete, wachte ich auf. Gerade wand sich der Zug, in eine rote Staubwolke gehüllt, um einen steilen Abhang aus rotem Felsen – da stand auf einer Felszacke über uns regungslos eine braunschwarze, schlanke Gestalt auf einen langen Speer gestützt und schaute auf den Zug herunter. Neben ihm ragte ein riesiger Kandelaberkaktus.“

Die regungslos emporragende Gestalt war Teil der Natur, verschmolz mit ihr zu einer Einheit. C. G. Jung zog noch weitere Schlussfolgerungen daraus: „Es war mir, als kehrte ich eben in das Land meiner Jugend zurück und als kennte ich jenen dunklen Mann, der seit fünftausend Jahren auf mich wartete […]. Ich ahnte nicht, welche Saite der Anblick des einsamen dunklen Jägers in mir zum Erklingen brachte. Ich wusste nur, dass seine Welt die meine war seit ungezählten Jahrtausenden.“12

Der wilde Krieger wurde hier zum Archetyp des Menschen, zum Medium der Rückkehr zu den Wurzeln der Existenz. Nicht alle europäischen Reisenden gingen so weit und wollten in Afrika, gar im afrikanischen Krieger, ihre eigenen Wurzeln wiedererkennen. Doch viele suchten nach dem wahren Krieger, und sie fanden ihn im heroischen, einsamen Massai. Das war freilich bereits in der Zwischenkriegszeit, in der Hochzeit des Kolonialismus. Nur eine Generation früher hatte sich Afrika noch ganz anders dargestellt. Die Reisenden des späteren 19. Jahrhunderts, in der Übergangszeit zum Kolonialismus, sahen den Kontinent noch unter anderen Prämissen. Auch sie beobachteten Afrikaner als die Wilden, Exotischen, doch zunächst oft ohne jede Romantik. Sie konstatierten vielmehr Grausamkeit und Primitivität, allenfalls Geschäftssinn, aber auch Verfall und Verzweiflung. Auch der Schriftsteller Joseph Conrad, der selbst als Kapitän ein Schiff den Kongo herauf gesteuert hatte, schilderte – wie C. G. Jung – 1902 im „Herz der Finsternis“ zwar die Begegnung mit Afrika als Rückkehr zu verschütteten Wurzeln, aber bei ihm war die Gewalt noch verbunden mit dem Schaudern vor dem Abgrund der menschlichen Seele,13 nicht mit der Erlösung, die Jung für sich beanspruchte. Die Beobachter des späten 19. Jahrhunderts standen fassungslos vor der von ihnen als ungezügelt und amorph wahrgenommenen, vermeintlich gar nicht rational zu entschlüsselnden Gewalt, der viel beschriebenen Grausamkeit afrikanischer Krieger. In denen sahen sie nur beutegierige, jeder Vernunft sich 12 Beide Zitate in: Carl G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken. Aufgezeichnet und hg. von Aniela Jaff¦, Zürich 1962, S. 258. 13 Joseph Conrad, Heart of Darkness, London 1994 [1902]. Vgl. Winfried Speitkamp, Flussfahrt ins Grauen. „Heart of Darkness“ von Joseph Conrad (1902), in: Dirk van Laak (Hg), Literatur, die Geschichte schrieb, Göttingen 2011, S. 118 – 133.

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verweigernde Wilde, die von heroischem Kampf, ja von Ehre überhaupt nichts verstanden. Und gerade die Massai galten ihnen nicht selten als bloß hinterhältige, gewalttätige, verabscheuungswürdige Volksgruppe. Noch 1910 schrieb der Journalist Prosper Müllendorff nach einer Bereisung Ostafrikas, mit den Massai im britischen Gebiet möge man ja romantische Kriegervorstellungen verbinden, die Massai im deutschen Gebiet seien dagegen bloß Hirten, Nomaden, arbeitsscheue Viehdiebe.14 Tatsächlich sind die Berichte des 19. Jahrhunderts voll von Darstellungen der Gewalt in Afrika, der Kriege, Kriegergruppen und warlords. Und tatsächlich schien der ganze Kontinent südlich der Sahara überzogen von Kriegen und Scharmützeln, die überall und immer wieder zu exzessiver Gewalt zu führen schienen. Indizien der Afrika geradezu inhärenten Gewalt und Grausamkeit wurden überall gefunden und mit wohligem Grausen weitererzählt, ob in Bezug auf West-, Süd- oder Ostafrika. In Westafrika ging die Rede von den sagenhaften berittenen Kriegern der Sahelzone, die in bildlichen Darstellungen die Reiseberichte zierten,15 wie es überhaupt die Illustrationen der Reiseberichte waren, die für lange Zeit das Bild der kriegerischen afrikanischen Gruppen in europäischen Köpfen entstehen und bewahren halfen. Gruppen von Sklavenjägern bei ihrem grausamen Geschäft zum Beispiel oder zusammengekettete Sklaven zählten zu den beliebtesten Motiven der Darstellung. Besonders illustrierende Zeichnungen trugen bis in die 1870er und 1880er Jahre dazu bei. Die Fotos, die dann seit den 1880er Jahren verbreitet wurden, wirkten eher ernüchternd – die Krieger erscheinen hier oftmals weder sonderlich bedrohlich noch atavistisch, jedenfalls konnten sie kaum noch als Nachweis des Heldenmuts der Europäer dienen, die sich in den vermeintlich so grausamen Kontinent hineingewagt hatten. Darauf ist zurückzukommen. Bei den Zeichnungen zuvor hatte man dagegen freie Hand. Die Grenzen zwischen Bericht und Erfindung verschwammen dabei einmal mehr, und manchmal war der Reiseroman quasi authentischer als der Bericht, etwa im Fall des Romans von Jules Verne „Fünf Wochen im Ballon“ aus dem Jahr 1863, Jules Vernes erster Fingerübung mit fiktionalen und utopisch angehauchten Texten.16 Jules Verne war Geograph und insofern vom Fach der frühen Afrikareisenden: Der Roman imitierte kongenial die Afrika-Reiseberichte der Zeit – mit größter Authentizitäts-Suggestion, aber der Pointe, dass er eine Ballon-Überquerung Afrikas von Sansibar zum Senegal-Fluss einführte und damit einen Kunstgriff fand, um die Helden immer wieder in schwierige Situation zu bringen, durch 14 Prosper Müllendorff, Ost-Afrika im Aufstieg, Essen 1910, S. 154. 15 Robin Law, The horse in West African history. The role of the horse in the societies of precolonial West Africa, London 1980. 16 Jules Verne, Cinq semaines en ballon, Paris 1863.

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Natur, Unwetter oder durch kriegerische Menschen, und ihnen auch wieder herauszuhelfen – im Zweifel stieg der Ballon im letzten Moment wieder auf und ließ die wütenden Wilden tobend und ratlos zurück. Eine Veranlagung zur Grausamkeit und zum Kannibalismus bei Afrikanern setzte auch Jules Verne voraus, wie in seinem Roman auch durch die Zeichnung eines Schädelbaums vorgeführt wurde; vergleichbare Deutungen und Zeichnungen finden sich in vielen Reiseberichten. Jules Verne baute zu Recht darauf, dass seine Leser dergleichen Sichtweisen gewohnt waren und über alle abweichenden Deutungen nur irritiert gewesen wären. Berichte über Exzesse der Grausamkeit afrikanischer Kriegergruppen las man also besonders gern. Zu den beliebtesten Beispielen zählten die Amazonen von Dahomey, einem westafrikanischen Staat im Gebiet des heutigen Benin, der im 18. und früheren 19. Jahrhundert vor allem vom Sklavenhandel lebte. Der König unterhielt, so hieß es, ein Amazonenkorps, eine Leibgarde von etwa 5.000 Frauen.17 Kaum ein Reisender verzichtete darauf, die besondere Grausamkeit der Amazonen in Wort und Bild anschaulich vorzuführen: Die Amazonen, so las man aus ihren Liedern und so erzählte man sich, leckten das Blut von dem Schwert, mit dem sie soeben einen Gegner geköpft hatten, sie rösteten und verspeisten die Körper der von ihnen exekutierten Gegner, sie brachten deren Gedärme als Siegestrophäen heim. Die Amazonen wurden im Alter von 13 bis 14 Jahren rekrutiert, mussten alles hinter sich lassen, Familie und Heimat, und wurden stattdessen für den Kriegsdienst ausgebildet. Sie galten eben als höchst rücksichtslos und grausam und als unbedingt loyal gegenüber dem Monarchen, mussten sich zu Zölibat und Keuschheit verpflichten und wurden unter Aufsicht von Eunuchen kaserniert. Nur der König hatte Zutritt. Wurde eine Amazone schwanger, hatte sie Folter und Tötung durch ihre Kommilitoninnen zu gewärtigen. Der Amazonendienst wurde sehr gut honoriert, materiell und mit Auszeichnungen, er war prestigeträchtig. Nur das Ende der Amazonen war wenig ehrenhaft: Nach der Eroberung Dahomeys durch Frankreich wurden die Amazonen auf Völkerschauen in Europa ausgestellt, als exotische Mischung aus Erotik, Exotik und Barbarei. Das war aber vermutlich nur noch eine Zirkustruppe, denn das echte Amazonenkorps war von den Franzosen aufgerieben worden; nur wenige Kriegerinnen dürften überlebt haben. In Südafrika war es der Zulu-Führer Chaka, um den sich Legenden von sagenhafter Stärke ebenso wie von furchterregender Grausamkeit rankten.18 Innerhalb weniger Jahre baute er einen mächtigen Militärstaat auf, der mit dem 17 Vgl. Robert B. Edgerton, Warrior women. The Amazons of Dahomey and the nature of war, Boulder 2000. 18 Dan Wylie, Shaka, Auckland Park 2011; ders., Myth of iron. Shaka in history, Scottsville 2006; ders., Savage delight. White myths of Shaka, Pietermaritzburg 2000.

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antiken Sparta verglichen worden ist.19 Dazu schuf er aus Altersklassen eine stehende Armee, die er kasernierte. Mit neuen Nahkampfwaffen wie Kurzspießen und mit neuer Kampftaktik führte Chaka brutale Expansionsfeldzüge. In der Folge der von den Zulu ausgehenden sogenannten „Mfecane“, was soviel wie Verdrängung, Zerquetschung heißt, stürzten andere traditionelle Herrscher, neue warlords stiegen auf wie der Sotho-Führer Moshoeshoe, die ihrerseits wieder Kriegergruppen hinter sich versammelten und ganze Regionen mit Angst und Krieg überzogen – der Name Moshoeshoe, ein nom de guerre, bedeutete „Der Schnitter“.20 Ähnliche Mythen rankten sich nun auch um Kriegsherren in Ostafrika am Vorabend der Kolonialisierung. Die europäischen Berichte waren voll von Nachrichten über warlords und Kriegergruppen, die durchs Land streiften, junge Krieger aus allen Regionen anzogen, Furcht und Schrecken verbreiteten. Als besonders gewalttätig galten beispielsweise die Yao am Malawi-See im südlicheren Ostafrika, die ihre Nachbarn beständig mit Drohungen und Angriffen überzogen. Aber, so hieß es, sie seien ursprünglich friedliebend gewesen und erst durch Küstenhandel, Zugriff auf Feuerwaffen und Teilnahme am Sklavengeschäft kriegerisch geworden.21 Weiter nördlich stieg der NyamweziFührer Mirambo zwischenzeitlich, in den 1870er Jahren, zum wohl mächtigsten Kriegsherrn der Region zwischen Indischem Ozean und Viktoria-See auf.22 Auch der Name Mirambo war ein nom de guerre, er hieß soviel wie „Leichen“, „Kadaver“, „Totenköpfe“ oder auch „Leichenberg“. Dennoch: die Kriegsherren des afrikanischen 19. Jahrhunderts galten den europäischen und afrikanischen Zeitgenossen zwar als besonders gewalttätig und furchterregend, in der afrikanischen Nachwelt allerdings wurden sie zunehmend verehrt, idealisiert, mythisiert – und das bis heute –, von Chaka, der als Urahn der Zulu-Nation gilt und die Zulu-Identität im heutigen Südafrika, immerhin der größten Teilgruppe des Staats, befördert, bis zu Mirambo, dem heute in Daressalam ein Straßenname gewidmet ist.

19 John D. Omer-Cooper, The Zulu aftermath. A nineteenth-century revolution in Bantu Africa [1966], London 1978. 20 Ian Knight, Warrior chiefs of Southern Africa. Shaka of the Zulu, Moshoeshoe of the BaSotho, Mzilikazi of the Matabele, Maqoma of the Xhosa, Poole 1994. 21 Yohanna B. Abdallah, The Yaos. Chiikala Cha Wayao, 2. Aufl., London 1973 [1919], S. 26 – 49, passim; vgl. Reinhard Klein-Arendt, Vielfältige Erinnerung, zwiespältige Erinnerung. Feuerwaffen im vorkolonialen Ostafrika, in: Winfried Speitkamp (Hg.), Kommunikationsräume – Erinnerungsräume. Beiträge zur transkulturellen Begegnung in Afrika, München 2005, S. 37 – 63, hier S. 47 – 50. 22 Norman Robert Bennett, Mirambo of Tanzania 1840?–1884, New York 1971.

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Kriegergruppen in Ostafrika

Mirambo war ein Kriegsherr und ein Staatsgründer ; der Afrikareisende Henry Morton Stanley bezeichnete ihn als Napoleon Afrikas. Seine Residenz lag nahe Tabora, dem Handelsknotenpunkt im Inneren des späteren Deutsch-Ostafrika. Mirambo war nicht der erste und nicht der einzige Kriegsherr der Region, aber er galt als der erfolgreichste und auch als der grausamste. Beides mag in Zusammenhang stehen. Voraussetzungen seines Aufstiegs waren eine ganze Reihe von Veränderungen im östlichen Afrika, deren Gewicht man im Einzelnen schwer bemessen kann.23 Dazu zählten die großen Bevölkerungsbewegungen, die von Süden ausgingen, von Chakas Expansion bis hin zu den Ngoni-Wanderungen an den Viktoria-See, die die Bevölkerung des gesamten ostafrikanischen Raums in Unruhe versetzten. Dazu zählten weiterhin Naturkatastrophen, Hungersnöte und neue Krankheiten. Hinzu kamen die neuen Wege des Sklavenhandels, der sich, nach seiner Bekämpfung im britischen Bereich Westafrikas, nun nach Osten verlagerte und über den Indischen Ozean Auswege suchte. Hier wiederum befanden sich alte Reiche, zum Teil starke Staaten wie Buganda, das über eine differenzierte Verwaltung und ein stehendes Heer verfügte, vor allem über eine Flotte, die auf dem Viktoria-See unterwegs war und bislang die Anrainer und den Handel beherrscht hatte.24 All das war nun im Umbruch. Von den Küsten her wurde die Region neu für den Handel erschlossen. Damit in Verbindung stand die massive Ausweitung des arabischen Handels in Ostafrika. Der Sultan von Oman verlegte 1840 seine Residenz nach Sansibar, dort wiederum entstanden starke Kaufmannshäuser, die fortan neue Handelsrouten ins Landesinnere erschlossen, die Karawanen bis an den Viktoria-See und erstmals darüber hinaus führten. In den Hafenstädten ließen sich Agenten nieder, die Söldner und Träger an die Kaufleute vermittelten. Und die arabischen Kaufleute hatten nicht bloß Geschäfte im Sinn. Sie schufen auf ihren Wegen ins Landesinnere Stationen, die sie wiederum befestigten. Sie siedelten dort ihre Statthalter an und richteten Garnisonen ein. Kurz: Sie errichteten – am Vorabend der europäischen Kolonialisierung – eigene Kolonien. Tippu Tip, der einflussreichste Sansibar-Kaufmann der Zeit, erreichte mit seinen Karawanen, die unter anderem Waffen und Sklaven transportieren, das nördliche Kongo-Gebiet und betrieb dort für einige Jahre einen regelrechten Handelsstaat.25 23 Vgl. zum Hintergrund und zu den Konsequenzen Richard Reid, War in pre-colonial Eastern Africa. The patterns and meanings of state-level conflict in the nineteenth century, Oxford 2007. 24 Vgl. Richard Reid, Political power in pre-colonial Buganda. Economy, society and warfare in the nineteenth century, Oxford 2007. 25 Siehe Autobiographie des Arabers Schech Hamed bin Muhammed el Murjebi, genannt Tippu Tip. Transkribiert und übersetzt von H[einrich] Brode, in: Mitteilungen des Seminars für

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Diese Zeit des Umbruchs war die Stunde der warlords, der sogenannten Watemi (Singular Mtemi), der Männer wie Mirambo. Angeblich Sohn eines Dorfoberhaupts, hatte er sich als Kriegsunternehmer selbständig gemacht, junge Krieger angeworben, das Gebiet um Tabora in seine Gewalt gebracht und eine Niederlassung errichtet. Daraus wurde bald eine regelrechte Residenz mit festen Häusern, für die er arabische Beispiele als Vorbild nahm. Der Ruf der Bedenkenlosigkeit und Grausamkeit eilte seinen Kriegern und ihm voraus, doch selbst grausam handeln sehen hat ihn offenbar keiner. Die europäischen Reisenden jedenfalls, die beständig von kleinen Dorfoberen und deren Kriegern oder von anderen mobilen Kriegergruppen bedroht wurden, schilderten Tippu Tip und Mirambo als ihnen gegenüber anständige und verlässliche Partner, von denen sie immer wieder profitierten. Hermann Wissmann, der deutsche Reisende in Zentral- und Ostafrika, der sich später im Deutschen Reich als Bekämpfer des arabischen Sklavenhandels feiern ließ, machte keinen Hehl daraus, dass er ohne Tippu Tip, den Sklavenhändler, nicht ins Land hinein und vor allem nicht lebend wieder hinaus gekommen wäre. In kritischen Situationen verwies Wissmann bei der Reise sogar auf seine Freundschaft mit Tippu Tip und Mirambo. Er zeigte auch schon einmal eine Narbe am Arm und suggerierte seinem Gegenüber, die stamme von der Blutsbrüderschaft mit Mirambo – die es nie gegeben hat. Einmal traf Wissmann tatsächlich mit Mirambo zusammen. Wissmann schildert Mirambo danach geradezu als Staatsmann: Der trat zur Begrüßung durch das Tor des Palisadenzauns, der seine Residenz umgab, um Wissmann die Hand zu schütteln, und als Willkommensgabe schenkte er dem Deutschen eine junge Kuh und zwei Flaschen Champagner.26 „Mirambo war ein Mann von ca. 50 Jahren, hohen sehnigen Wuchses, mit einem feinen Hüftentuch, sowie einfachem grauen europäischen Rock bekleidet. Das Haupt etwas geneigt und ein freundliches stillvergnügtes Lächeln auf dem mageren Gesicht, das einen leidenden Ausdruck hat, bot er in leisem Tone und langsamer Rede mir ein Willkommen […]. Bescheiden, fast schüchtern war sein Wesen, mild seine Sprache […]. Es hätte kaum jemand in diesem ruhigen Mann den großen Krieger, der Ostafrika erzittern machte, erkennen können.“27

Über die Gewalttätigkeit Mirambos berichtete Wissmann denn auch nur vom Hörensagen:

Orientalische Sprachen 5, 1902, S. 175 – 277; 6, 1903, S. 1 – 55. Vgl. Iris Hahner-Herzog, Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, München 1999. 26 Hermann Wissmann, Unter deutscher Flagge quer durch Afrika von West nach Ost. Von 1880 bis 1883 ausgeführt von Paul Pogge und Hermann Wissmann, 5. Aufl., Berlin 1889, S. 257. 27 Ebd., S. 257 f.

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„Der Ruhm der vielen Siege hatte allmählich Mirambo zum gefürchtetsten und bei den Seinigen zum populärsten Manne gemacht. Mirambo schlafe nie, er könne fliegen, sei unverwundbar, und manche andere Eigenschaften schrieb man ihm zu. Trotz seines scheinbar milden Wesens soll er durch wenige Worte seine Krieger zu wildem Muth entflammt haben. Er focht heute hier und erschien am nächsten Morgen 6 gewöhnliche Tagesreisen weiter entfernt mit seinen sieggewohnten Horden, den Tag über und eine ganze Nacht im Dauerlauf unglaubliche Entfernungen durcheilend. Er war überall.“28

Bemerkenswert ist, wie Wissmann hier versucht, den Mythos der Allgegenwärtigkeit zu rationalisieren, indem er Mirambo nächtliche Marathonläufe unterstellt. Bemerkenswert ist auch, worauf der Mythos Mirambos basierte: nämlich an erster Stelle Angst und Anerkennung, das umgreift die emotionale Scheidung von Feind und Freund, dazu übernatürliche Eigenschaften, Unverwundbarkeit, Rhetorik, Siegesgewissheit, und nicht zuletzt seine „Horden“, die Wissmann nicht als Soldaten bezeichnen will. Als Wissmann dann auf Mirambo traf, fand er aber keinen rasenden Krieger, sondern einen sesshaften Regierungschef: „In einer halbverfallenen Hütte, die inmitten der schönen Gebäude in dem reinlichen Hofe auffällt (man sagt, es sei in derselben Mirambo’s Mutter gestorben), bringt Mirambo den größten Teil des Tages zu in Geschäften der Regierung. Hier empfängt er alle Gesuche und Bitten […].“29

Der große Krieger erschien hier also auch als Mann mit Gefühlen und Familiensinn. Aber Mirambo, so berichtet jedenfalls Wissmann, bewunderte den deutschen Kaiser, weil der „bei so hohem Alter noch solch’ ein gewaltiger Krieger“30 sei. Wie funktionierte aber nun der Staat Mirambos tatsächlich? Er hatte jedenfalls nicht über Mirambos Tod hinaus Bestand, was nicht nur an der folgenden Kolonialherrschaft lag, sondern vor allem daran, dass das Reich ganz an das Charisma Mirambos gebunden war. Mirambo beherrschte einen Raum, aber konnte keinen eigentlichen Territorialstaat errichten. Der Raum, der zu Mirambos Kriegerstaat gezählt wird, ist nur schwer präzise abzugrenzen. Eher handelte es sich um ein Einflussgebiet, das von der Zentrale ausstrahlte. In den Grenz- und Übergangszonen blieb Herrschaft immer strittig. Mirambo war auch nicht der einzige Kriegsherr in der Region, der einen Staat gründete; er beherrschte nicht einmal das größte Territorium. Aber er war derjenige, der den alten Knotenpunkt Tabora und damit die Schlüsselstellung innehatte. Hier unterhielt Mirambo eine kleine Zentralverwaltung mit einem Beraterstab und Werkstätten für den nötigen Bedarf, zum Beispiel Schmieden für Werkzeug und 28 Ebd., S. 259. 29 Ebd., S. 260. 30 Ebd., S. 261.

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die Instandhaltung der Waffen. Basis seiner Herrschaft aber waren seine Kriegergruppen, die von Wissmann so genannten „Horden“. Woraus sich die Gruppen rekrutierten, ist nicht ganz eindeutig. Viele wurden offenbar schon als Kinder und Jugendliche angeworben, manche waren ehemalige Sklaven, manche vielleicht auch ehemalige Kriegsgefangene, weitere Angeworbene kamen hinzu. Sie waren unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Viele rekrutierten sich aus den sogenannten Nyamwezi, die allerdings keine ethnische Einheit darstellten. Der Begriff bezeichnete vielmehr Bevölkerungsgruppen des Landesinneren mit einer gewissen sprachlichen und kulturellen Verwandtschaft. Die Nyamwezi-Bevölkerung, die im Raum der neuen Handelsrouten siedelte, hatte sich früh auf die neuen Handels- und Gewaltbedingungen eingestellt und davon profitiert, indem die jungen Männer ihre Herkunftsgemeinden auf Zeit oder auf Dauer verließen und sich teils als Händler, teils als Söldner verdingten.31 Ihr sozialer und kultureller Wandel symbolisiert den Wandel der Region überhaupt. Ihren sozialen Aufstieg führten sie durch die Aneignung kultureller Symbole wie Waffen und Schirme vor. Vereinzelt nahm Mirambo aber zum Beispiel auch Massai in seine Gefolgschaft auf, die also nicht aus der Gegend stammten. Mirambo fasste die Söldner an seiner Residenz zusammen, richtete Kasernen für sie ein, versorgte sie mit Waffen und bildete sie aus. Doch die meisten der Mirambo zugeordneten Gruppen dürften immer wieder unterwegs gewesen sein. Sie erhielten keinen festen Sold, jedenfalls nur Teile ihres Einkommens als feste Naturalversorgung, im Übrigen waren sie auf Anteil an der Beute angewiesen. Zu beträchtlichen Teilen konnten sie offenbar auch auf eigene Rechnung auf Beutezug gehen. Die Gruppen waren augenscheinlich unterschiedlich groß, für einen anderen warlord der Region hat man von Gruppen gesprochen, die 20 bis 60 Mann oder sogar bis zu 500 Mann umfassen konnten. Mirambo selbst behauptete, insgesamt 10.000 Mann mobilisieren zu können. Uniformiert waren die Krieger nicht, allerdings trugen sie Symbole und Zeichen ihres Kriegertums und ihrer Gemeinschaft. Zur Vorbereitung auf den Kampf gehörten bestimmte Praktiken und Dinge, mit denen die Grenze zwischen Zivilität und Gewalt überschritten wurde, Kriegstänze zum Beispiel, die für die Betrachter befremdlich wirkten, aber nicht nur die Gemeinschaft der Krieger, Körper und Waffen beschworen, einübten und vorführten, sondern auch Körper und Psyche jedes einzelnen in Ekstase, quasi in den Kriegszustand versetzten. Die Markierungen und Abzeichen, welche die Krieger dann gerade im Kampf trugen, 31 Vgl. Stephen J. Rockel, A nation of porters. The Nyamwezi and the labour market in nineteenth-century Tanzania, in: The Journal of African History 41, 2000, 173 – 195; Michael Pesek, Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika. Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880, Frankfurt/Main 2005, S. 53 (Abbildung), 57 f., 90.

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zeugten von ihrer Mannes- und Kampfkraft, nicht zuletzt indem Körperteile und Dinge der besiegten Gegner wieder in die eigene Ausstattung und Kleidung integriert wurden. Auch die Lieder, welche die Krieger sangen, beschworen nicht nur die Gemeinschaft, sondern auch die Kampfkraft der Menschen und Waffen, nicht zuletzt deren Tötungsmacht.32 Die Krieger selbst werden in den Quellen der Europäer meist als Ruga-Ruga bezeichnet, der Begriff ist freilich wie der Askari-Begriff vieldeutig und kann Kriegergruppen ebenso wie Söldner im strengen Sinn und auch Räuberbanden bezeichnen. Das spiegelt, dass auch die Ausrichtung und Zuordnung der Gruppen changierte: Viele verdingten sich je nach Marktlage offenbar sowohl als Träger wie auch als Söldner, und wenn eine Kriegergruppe nicht zur Bewachung von Karawanen angeworben war, so sorgte sie für ihren Lebensunterhalt, indem sie eben Karawanen überfiel und ausraubte.33 In der Nyamwezi-Gegend wurden Krieg und Gewalt zum Alltag und zum Geschäft. Auf den Gewaltmärkten, die sich hier bildeten, konnte jeder einzelne immer beides sein: Krieger und Täter einerseits, Opfer andererseits. Die alltägliche Gewöhnung an Gewalt und gewaltsamen Tod prägte auch das Alltagsleben, das Verhalten, die Mobilität. Die eingangs angesprochenen Massai, später Sinnbild der heroischen Krieger, lebten abseits der neuen großen Handelsrouten weiter nordöstlich im Grenzraum der heutigen Staaten Tansania und Kenia. Sie betätigten sich, wie erwähnt, teilweise als nomadische Viehzüchter, teilweise als sesshafte Ackerbauern. Als besonders gewalttätig werden sie in den Reiseberichten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieben: „Da die Masai und Wakuafi in ausgedehnten, offenen Ebenen wohnen, und genöthigt sind ihre Weideländer, auf denen ihre Nahrung beruht, gegen alle anderen Nationen zu vertheidigen und zu behaupten, so müssen sie in beständiger Bereitschaft für Vertheidigung und Angriff stehen, und also unter ihrer Nation einen kriegerischen Geist unterhalten, welcher den Nachbarvölkern Schrecken und Furcht einflößt […].“34

Jedenfalls waren offenbar sowohl ihre ökonomische Existenz wie ihre regionale Macht bedroht; in Beutezügen kompensierten sie das und erwarben das Image der geborenen Krieger, wie es dann zunehmend stilisiert wurde. Ob Nyamwezi und Ruga-Ruga oder Massai – gemeinsam war allen Nachrichten über Afrika aber der Hinweis auf unvorstellbare Grausamkeiten im Krieg und dabei vor allem auch der Hinweis auf die Kälte gegenüber Grausamkeit und 32 Vgl. zu diesen Befunden und auch zum Folgenden detailliert: Zehnle, Waffen, Beute, Narben. 33 Vgl. auch Stephanie Zehnle, Die Macht der Dinge. Beute in ostafrikanischen Söldnergemeinschaften im 19. Jahrhundert, in: Horst Carl / Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis zur Neuzeit (Krieg in der Geschichte, 72), Paderborn 2011, S. 223 – 254. 34 Johann Ludwig Krapf, Kurze Beschreibung der Masai- und Wakuafi-Stämme im südöstlichen Afrika, in: Ausland 30, 1857, S. 439.

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menschlichem Leid. So formulierte der deutsche Afrika-Reisende Richard Böhm in einem Brief 1881 über die Nyamwezi Ostafrikas: „Zu trauen ist dem Volke gar nicht und es ist merkwürdig, wie bei ihrer scheinbaren Friedfertigkeit und Feigheit Krieg, Mord, Verwüstung als etwas ganz Gewöhnliches und Natürliches gilt. Die in der Umgegend nicht seltenen, von den anwohnenden Räuberfürsten zerstörten Ortsstellen mit ihren melancholischen Trümmerresten einstiger menschlicher Tätigkeit werden mit einem gewissen Behagen, selbst mit Lachen gezeigt.“35

3.

Ehre der Krieger

Diese Bewertung lenkt den Blick auf die Frage der Ehre. Für die europäischen Zeitgenossen war das kein afrikanisches Thema. Dass Afrikaner von Ehre nichts verstünden, war koloniales Gemeingut. Die indigenen Afrikaner galten den Deutschen im späten 19. Jahrhundert als per se unfähig, nach Kategorien der Ehre zu handeln. So konnte man beispielsweise lesen: „[Es] sei darauf hingewiesen, daß der Afrikaner niemals um Ehre oder Kriegsruhm kämpft, sondern nur um Beute. Er fühlt sich als Sieger, sobald es ihm gelungen ist, an die Bagage des Gegners zu kommen und Beute zu machen, auch wenn er unter großen Verlusten das Schlachtfeld hat räumen müssen.“36

Theodor Fontane machte diese Sichtweise 1895 in seinem Roman „Effi Briest“ fast beiläufig deutlich. Nachdem dort Baron Geert von Innstetten seine untreue Frau verstoßen und seinen Nebenbuhler im Duell erschossen hat, wird er seines Lebens nicht mehr froh und geht an seiner Lage schier zugrunde. Deshalb will er nach Afrika fliehen: „Mein Leben ist verpfuscht, und so hab ich mir im Stillen ausgedacht, ich müsste mit all den Strebungen und Eitelkeiten überhaupt nichts mehr zu tun haben […]. Und da hab ich mir denn […] als ein Bestes herausgeklügelt: weg von hier, weg und hin unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen. Diese Glücklichen!“37

Mit den differenzierten Vorstellungen der europäischen Eliten von Standesehre, von Offizierspflichten, Adelskodex und Bürgertugenden, von Satisfaktion und Duell konnte man in Afrika demnach wenig anfangen. Ehre und Duell standen insofern für die moderne Zivilisation, Afrika dagegen stand für das ganz Andere, das Atavistische, für die Barbarei auch im Zweikampf, für eine Art kollektive 35 Richard Böhm, Von Sansibar zum Tanganjika. Briefe aus Ostafrika, Leipzig 1888, S. 61. 36 [G.] Maercker, Kriegsführung in Ostafrika. Vortrag gehalten in der Militärischen Gesellschaft zu Berlin am 15. November 1893, in: Beiheft zum Militärischen Wochenblatt 6, 1894, S. 175. 37 Theodor Fontane, Effi Briest. Roman, Stuttgart 2006 [1895], S. 323.

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Schlägerei – also für das, was in Deutschland gerade den Unterschichten bei Ehrenhändeln vorbehalten war und das man dort im Zuge von Disziplinierungsund Ordnungsversuchen zu beseitigen trachtete. Die warlords und Kriegergruppen erschienen europäischen Beobachtern mithin nicht nur als außerordentlich gewalttätig, vielmehr erschien ihre Gewalt ziellos und von sinnloser Grausamkeit bestimmt, keinen Regeln der Kampfestugend und Soldatenehre zu folgen. Die Betonung sinnloser Grausamkeit, bis hin zur Schändung von Leichnamen und zum Kannibalismus, unterstrich gerade Barbarei und Ehrlosigkeit afrikanischer Krieger. Es war den Europäern keineswegs recht, dass die ersten Fotos von afrikanischen Kriegern in Kampfaufstellung das Image der Barbarei nicht recht deutlich machten.38 Man bevorzugte Abbildungen, die Kriegstänze oder Kampfszenen zeigten und eher für die Wildheit und quasi Tiernähe der afrikanischen Krieger sprachen.39 Tatsächlich aber folgten Gewalt und Grausamkeit afrikanischer Kriegergruppen Regeln, und diese wurden von manchen Beobachtern auch schon früh erkannt. Gewalt war Teil von komplexen Ritualen der Mannbarkeit und Teil des Kampfes um Abgrenzung, Status und eben Ehre. Das betrifft an erster Stelle die Initiationsriten. Die Beschneidung der Jungen im Alter von ca. 14 bis 17 Jahren, eine höchst aufwendige und schmerzhafte Zeremonie, war der entscheidende Schritt zur Männlichkeit und das Eintrittstor zum dereinstigen Ruhm. Wenn es, wie bei den Gisu in Kenia, hieß, der beschnittene Penis sei wie ein angespitzter Speer,40 so bezog sich diese Formulierung auf Männlichkeit und Kampfbereitschaft gleichermaßen. Immer gehörte zum Umgang mit Gewalt und zum Erwerb von Ehre durch Gewalt aber nicht nur die Fähigkeit, Gewalt erfolgreich auszuüben, sondern auch die Fähigkeit, Angst zu überwinden, Gewalt und Schmerz zu ertragen. Manchmal war dies sogar wichtiger als die Kampfbereitschaft. Autobiographien und Biographien aus Ostafrika, die in die vor- oder zumindest frühkoloniale Zeit zurückreichen, weisen in manchmal standardisiert wirkender Form immer wieder darauf hin: Bewähren konnte sich das Kind, der Junge, zunächst in seiner altersspezifischen Rolle als Viehhirte, wenn er, womöglich nachts und im Dunklen, seine Herde gegen wilde Tiere schützen musste. Für einen späteren kenianischen führenden Politiker heißt es, er habe schon als Kind eigenhändig ein Nashorn erlegt, das seine Herde angriff. Bewähren konnte sich der Heranwachsende nach diesen 38 Einschlägige Abbildungen aus zeitgenössischer Reiseliteratur in: Chris Peers, Warrior peoples of East Africa 1840 – 1900, Oxford 2005, S. 7, 36. 39 In dieser Hinsicht aussagekräftig das Gemälde von Friedrich Kallenberg, Auf dem Kriegspfad gegen die Massai, 1892, abgebildet in: Joachim Zeller, Weiße Blicke – Schwarze Körper. Afrikaner im Spiegel westlicher Alltagskultur, Erfurt 2010, S. 67. 40 Suzette Heald, Manhood and morality. Sex, violence and ritual in Gisu society, London 1999, S. 161.

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biographischen Darstellungen dann durch Tapferkeit bei der Beschneidung und durch eine Führungsrolle in seiner Altersklasse, seiner Kriegergruppe, bei gemeinsamen Beutezügen. Mit derartigen autobiographischen Heldensagen suggerieren die Großen der kolonialen und nachkolonialen Zeit, sie hätten schon früh, schon in der Kindheit, ihre Befähigung zu einem künftigen Führungsamt unter Beweis gestellt.41 Die Initiationsriten dienten dazu, aus dem Jungen den Krieger zu machen. Dazu musste er nicht nur die Beschneidung regungslos über sich ergehen lassen, sondern auch zusammen mit den anderen Neubeschnittenen dann durch Raubzüge bei Nachbarclans Mut beweisen, Trophäen und Beute heimbringen, dadurch Ehre erwerben: „Wenn der Sohn eines Wanika-Häuptlings mannbar wird, so wird ein Wagnaro veranstaltet, d. h. die Jünglinge vom gleichen Alter begeben sich in den Wald, verharren dort in einem völlig nackten Zustand, bis sie einen Mann erschlagen haben. […] Der Mkuasi kommt mit dem Stock, der unten sehr dick ist, den die Wakuasi mit großer Genauigkeit weithin werfen und damit die Hirnschale einschlagen. Wenn die Jünglinge einen Menschen erschlagen haben, so gehen sie nach Hause.“42

Gemeinsame Raubzüge, raids, auch Tötungen schweißten die Altersklassen zusammen und demonstrierten Bewährung vor den Älteren. Gleichzeitig wurden die jungen Krieger durch Ältere, manchmal eine Art Mentoren, in die Geschichten und das Wissen der Gruppe eingeführt. Mirambo und andere warlords oder Watemi nutzten derartige Initiationsrituale, deuteten sie aber neu und bezogen sie nicht mehr auf die Herkunftsgemeinschaften, denen die Krieger entstammten, sondern auf die neue Kriegergemeinschaft, auf die die Jungen eingeschworen werden sollten. Sie übernahmen darin selbst die Funktion der älteren Mentoren. Mirambo rekrutierte daher sehr junge Krieger, auch Kinder, und verlangte besonders brutale Initiationsleistungen und Beweise von Gewaltbereitschaft und Treue. Erst dadurch konnte der Junge einen neuen Namen erhalten, der seine Kriegertugenden bezeichnete, und andere Symbole nachgewiesenen Mutes, etwa bestimmte Auszeichnungen und Waffen, in Anspruch nehmen. Der junge Krieger wurde so erst zur sozialen Person in seiner neuen Gruppe. Die „teuren Signale“ mussten die jungen Krieger aber nicht nur aussenden, um in ihrer Gruppe und gegenüber dem Kriegsherrn akzeptiert zu sein, vielmehr war die beständige Demonstration von Gewaltbereitschaft und Grausamkeit erforderlich, um nach außen die Stärke und Effizienz der eigenen 41 Zu Autobiographien im kolonialen und nachkolonialen Ostafrika ist eine Gießener Dissertation von Daniel Stange zu erwarten. 42 Johann Ludwig Krapf, Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837 – 1855, ND Hamburg 1994 [1858], S. 337.

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Gruppe vorzuführen. In diesem Sinn verstanden sich nicht nur neue Staatsgebilde wie die Herrschaft Mirambos, sondern selbst lang etablierte Staaten wie Bunyoro oder Buganda westlich des Viktoria-Sees im 19. Jahrhundert als Kriegerstaaten. Nach ihrem Selbstverständnis waren sie aus Kriegen hervorgegangen, waren sie begründet worden durch die Kampfbereitschaft und Tapferkeit von König und Kriegern. Das Kriegerethos überlagerte im 19. Jahrhundert in Kriegergruppen wie in Kriegerstaaten Ostafrikas das zivile System von Ordnung, Leistung und Honorierung. Der soziale Aufstieg führte in den Kriegervölkern und Kriegerstaaten nun fast nur noch über Kriegerstatus und Kriegerruhm. Auch politische Ämter in den Kriegerstaaten wurden in der Regel an verdiente ehemalige Krieger vergeben. Das tradierte System des Altersvorrangs wurde insofern modernisiert und militarisiert. Früh lernten die Heranwachsenden, dass nur militärischer Erfolg und Kriegsruhm Reichtum, Macht und Prestige verhießen.43 Und noch mehr, wie der deutsche Afrika-Reisende Paul Reichard berichtete: „Männer, welche sich dem edlen Handwerk des Stegreifes widmen und dann Ruga Ruga genannt werden, erfreuen sich, wie in Italien die Briganten bei den Bauern, sogar einer gewissen Popularität, weil immerhin ein gewisser Mut dazu gehört, und vor allem die Weiber schwärmen für die Ruga Ruga, da sie deren Gunst teuer erkaufen mit dem Erlös des Raubes, der in Tauschwaren, Menschen und Vieh besteht.“44

Dahinter stand ein tiefgreifender Mentalitätswechsel, vielleicht sogar ein kultureller Paradigmenwechsel, der auch von Beobachtern konstatiert und in der oralen Tradition weitergegeben worden ist: Der Respekt vor erfolgreichen Jägern wich der Angst vor erfolgreichen Kriegern. In der Ehre des Kriegsherrn bündelte sich schließlich die kollektive Ehre seines Volks. Der Kriegsherr verband Respekt und Furcht. Er musste ein Vorbild an Tapferkeit sein. Mirambo wurde in Preisgesängen und Geschichten immer wegen seiner kriegerischen Leistungen verehrt. Und der Kriegsherr musste im Zweifel einen heroischen Tod sterben – oder einen tragischen, dies dann nämlich, wenn er quasi hinterrücks ermordet oder erschossen wurde. Nur so konnte der im Prinzip unbezwingbare Löwe erlegt werden. Auch dieses Schicksal musste der charismatische Führer mannhaft erwarten, selbst wenn es ihm unehrenhaft erschien.45 Die Leistungen als Politiker, zum Beispiel Mirambos Leistungen als Staatsgründer, spielten in den Preisgesängen eine deutlich geringere Rolle. 43 G. N. Uzoigwe, The warrior and the state in precolonial Africa. Comparative perspectives, in: Journal of Asian and African Studies 12, 1977, Heft 1 – 4, S. 20 – 47, bes. S. 46. 44 Paul Reichard, Die Wanjamuesi, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 24, 1889, S. 307. 45 Reid, War in pre-colonial Eastern Africa, S. 209.

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Die europäischen Beobachter verstanden nicht, dass Mirambo Politik als Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln betrieb, sondern waren lediglich erstaunt, dass man mit dem fürchterlichen warlord ganz vernünftig reden konnte. Wichtig allerdings für den Ruhm der Kriegsherren waren Reichtum – als Sinnbild erfolgreichen Kriegertums und Beutefähigkeit – und rhetorische Fähigkeiten – als Instrument der Emotionalisierung und Mobilisierung, als Ausdruck von Charisma. Wichtig waren ferner Tugenden wie Verlässlichkeit und Berechenbarkeit; der Kriegsherr musste zumindest die Regeln des Gabentausches beherrschen – wie bei Mirambo mit seinem Empfangsgeschenk an Wissmann von zwei Flaschen Champagner vorbildhaft zu sehen –, und er musste neben der Kunst der Beschleunigung – wie sie mit der vermeintlichen Omnipräsenz an verschiedenen Kriegsschauplätzen angedeutet war – auch die Kunst der Entschleunigung, der Verzögerung beherrschen, zum Beispiel durch das Palaver, das scheinbar ziellose und endlose Verhandeln; er musste also, kurz gesagt, über die Fähigkeit verfügen, Zeit für seine Interessen einzusetzen. Vom Kriegsruhm der Watemi und Ruga-Ruga-Krieger kündeten, wie mehrfach erwähnt, Geschichten und Lieder, die mündlich tradiert worden sind und irgendwann aufgezeichnet wurden, also einen je spezifischen Rezeptionsstand einfroren. Sie besangen die kriegerischen Leistungen der Heroen, den Zusammenhalt der Gruppen, die Waffen und die Gewalt. Sie übernahmen dabei auch Funktionen, die heute in derartigen Gewaltmärkten Radio und anderen Medien zukommt. Die Lieder und Geschichten folgten den Kämpfen und eilten den Kämpfern voraus. Sie trugen den Ruhm des mächtigen und erfolgreichen Kriegsführers über Grenzen hinweg, berichteten aber auch von Gewalt und Grausamkeit seiner Krieger. Sie überhöhten die Banalität ebenso wie das Leiden der Kriegszüge. Sie zogen weitere Krieger an und veranlassten ganze Dörfer und Clans zur Flucht. Kurz: Das gesamte System der Kriegergruppen wäre ohne die mündlichen und mobilen Nachrichtenkanäle, die Kommunikationswege der Karawanen, der mobilen Nyamwezi-Gruppen, der geflohenen Dorfbewohner am Rand der Kampfzonen gar nicht denkbar. Das war Teil der Logik der Gewalt; die Macht der warlords oder Watemi basierte wesentlich auf der Vermittlung, der Nachricht, der Drohung, dem Gerücht – nur so konnten Furcht und Panik um sich greifen, schon bevor die Ruga-Ruga die Macht ihrer Waffen vorgeführt hatten. Nicht nur die Krieger mussten allgegenwärtig sein – wichtiger war, dass die Nachrichten über sie allgegenwärtig waren. Kaufleute wie Tippu Tip konnten in dem Spiel nur mitspielen, weil sie sich ihrerseits den Ruf von Gewaltbereitschaft und rigorosem Durchsetzungswillen erwarben. Auch Tippu Tip, der nicht selbst wie Mirambo als Krieger seinen Aufstieg genommen hatte, war bekannt dafür, dass er Söldner einsetzte und mit rigoroser Gewalt und Brutalität Gegner, Abtrünnige, Meuterer, widerspenstige Dörfer, betrügerische Dorfoberhäupter verfolgen und massakrieren ließ. Tippu

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Tip berichtet das in seinen Memoiren in kalter Sachlichkeit.46 So verschmolzen die Grenzen zwischen Kaufleuten, Kriegsherren und Staatsgründern. Die bunt zusammengewürfelten Kriegergruppen wiederum mussten auch über die Initiationsrituale hinaus zu Loyalität angehalten, an den Heerführer gebunden werden, und dies gerade in der konkreten Situation des Kampfes. Die Aussicht auf Beute und Nahrung allein reichte dazu nicht, emotionale und symbolische Elemente kamen hinzu. Viele Kriegerverbände trugen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Masken, Körperfarben, Symbole und Flaggen, die sie zum Teil von Gegnern erbeutet hatten. Mirambos Truppen führten im Kampf oft (blut-)rote Fahnen mit sich, die Einheit, Entschlossenheit, Drohung und Todesbereitschaft signalisierten.47 Mirambo nutzte zudem ein recht differenziertes System von Ehrungen für erfolgreiche Krieger. Auch Chaka honorierte Leistungen im Kampf besonders und individuell. Der Lohn für Tapferkeit konnte in Sklaven, Vieh und Frauen bestehen. Loyalitätsbruch und Feigheit dagegen wurden hart bestraft, manchmal körperlich, nicht selten und vielleicht wirkungsvoller noch durch die öffentliche Schmähung.48 Beispielsweise ist für die Nyamwezi berichtet worden: „Wenn einer im Kriege feige ist, meldet der Oberanführer es dem Häuptling, daß der NN, ein Feigling ist. Dann kocht die Hauptfrau des Häuptlings einen Mehlbrei und mischt unter diesen Hundemist, Milch und Medizin. Dann wirft der Häuptling diesen Brei an die Erde, tritt darauf und gibt ihn dem Feigling. Dieser isst ihn auf. Der Häuptling sagt ihm: ,Wenn du dich noch einmal fürchtest, kommst du nicht wieder ins Dorf, ich werde dich außerhalb ermorden lassen.‘ Dann fürchtet sich der Feigling nicht mehr.“49

Die Kriegergemeinschaft wurde durch solche Ehrrituale und Auszeichnungen einerseits und Ehrenstrafen andererseits immer wieder auf den Kodex der Gemeinschaft verpflichtet, diese wiederum von der umgebenden Gesellschaft abgegrenzt. Denn es war unabdingbar, der Gesellschaft wie der Kriegergruppe beständig vor Augen zu führen, dass die Kriegergruppe kein normales Element der Gesellschaft war, zwar Regeln, aber eben eigenen Regeln folgte, die für die Außenwelt unberechenbar erscheinen mochten. Nur so konnte unbedingte Loyalität garantiert werden. Grausamkeit war dabei auch eine Form der Entscheidung für die Kriegergruppe und der symbolischen Abgrenzung; sie war, ebenso wie die kollektive Emotionalisierung vor dem Kampf, konstitutiv, wichtig für die kollektive Selbstvergewisserung, also zweckrational für die

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Autobiographie Tippu Tip 1903, S. 8 f. Vgl. Reid, War in pre-colonial Eastern Africa, S. 202 – 204. Ebd., S. 211. Wilhelm Blohm, Die Nyamwezi, Hamburg 1931, S. 62.

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Kriegergruppe im Gewaltmarkt. In der gemeinsam begangenen Grausamkeit bündelte sich die kollektive Ehre der Gruppe. Aber die Gewaltausübung folgte Regeln, von den Objekten der Gewalt bis hin zur Verteilung von Trophäen und Beute. Auch der Krieger hatte somit seine Dienstehre. Selbst die Massai hatten den Ruf, Regeln zu befolgen, zum Beispiel bei ihren raids nur die Männer zu töten, Frauen und Kinder aber leben zu lassen. Allerdings waren Frauen damit noch nicht gegen Vergewaltigung, Verschleppung und Versklavung geschützt. Zu den Regeln gehörte, dass jede gewaltsame Attacke Rachefeldzüge der Krieger des ausgeraubten Volkes nach sich ziehen musste. Nicht nur Bewährungskämpfe der jungen Krieger sowie Raubkriege, sondern auch Vergeltung sowie regelrechte Fehden charakterisierten daher den sozialen Raum.50 Die Eigenschaften der Kriegerehre, denen all das unterlag, also Mut, Kampfbereitschaft, Heldentum, Bereitschaft zur Grausamkeit, galten dabei als männlich, selbst da, wo sie Frauen zugeschrieben wurden wie bei den Amazonen von Dahomey, die gewissermaßen und in Liedern sogar ausdrücklich ihr soziales Geschlecht änderten. Die europäischen Beobachter, um an den Anfang des Beitrags zurückzukehren, schwankten, ob sie die scheinbar atavistische Grausamkeit oder das Heroische der Krieger in den Vordergrund stellen sollten – dass beides in Beziehung stand, kam ihnen weniger in den Sinn. Seit dem 20. Jahrhundert konstituierte man gewissermaßen zweierlei Krieger : den afrikanischen Barbar und den edlen Wilden, letzteres eben der nomadische Massai-Krieger. Beide waren in europäischer Sicht dem Untergang geweiht. Hinter diesen Zerrbildern geriet in Vergessenheit, welche zentrale Rolle Ehrvorstellungen in vorkolonialen Kriegergemeinschaften Ostafrikas spielten. Und dahinter konnte auch verborgen werden, wie vertraut – und keineswegs exotisch – viele Elemente von Kriegertugend und Kriegerehre ostafrikanischer Gewaltgemeinschaften auch für Europäer sein mussten.

50 E. N. Mugo, Kikuyu people. A brief outline of their customs and traditions, Nairobi 1982, S. 22.

Sharon Bäcker-Wilke / Florian Grafl / Friedrich Lenger

Gewaltgemeinschaften im städtischen Raum. Barcelona, Berlin und Wien in der Zwischenkriegszeit1

1.

Einleitung

Die Gewalt der europäischen Zwischenkriegszeit ist von der Forschung primär als politische Gewalt wahrgenommen worden. Das ist schon angesichts der blutigen Übergangszeit vom Krieg über häufige Revolutionen in gelegentliche Bürgerkriege wenig überraschend.2 Symptomatisch scheint mit Blick auf das Deutsche Reich, dass der private Besitz von Pistolen von Beginn der Weimarer Republik an als Bedrohung der politischen Ordnung angesehen wurde.3 Eine entsprechende gesetzliche Regelung des Jahres 1928 hat nicht verhindern können, dass gerade die Spätphase der Republik von gewaltsamen Auseinandersetzungen der extremen Rechten und Linken, insbesondere also von SA und Rotfrontkämpferbund geprägt worden ist. Gerade diese Gewaltgemeinschaften haben also durchaus Beachtung gefunden, belegten sie doch die Bereitschaft von NSDAP und KPD, die ihnen verhasste Weimarer Republik gewaltsam zu Fall zu bringen. Ob angesichts dieser ausgeprägten Bereitschaft zu politischer Gewalt von einem Bürgerkrieg gesprochen werden kann oder gar muss, ist umstritten geblieben, zumal recht offensichtlich ist, dass die Übernahme dieser Diagnose geeignet ist, Verständnis für den Ruf nach einer starken Führungspersönlichkeit,

1 Abschnitt 1 stammt von Friedrich Lenger, Abschnitt 2 von Florian Grafl, Abschnitt 3 von Sharon Bäcker-Wilke und Abschnitt 4 wurde von Sharon Bäcker-Wilke und Florian Grafl gemeinsam verfasst. 2 Vgl. zuletzt Martin Conway / Robert Gerwarth, Revolution and counter-revolution, in: Donald Bloxham / Robert Gerwarth (Hg.), Political violence in twentieth-century Europe, Cambridge 2011, S. 140 – 175; und Friedrich Lenger (Hg.), Kollektive Gewalt in der Stadt. Europa 1890 – 1939, München 2013. 3 Vgl. Dagmar Ellerbrock, Gun violence and control in Germany 1880 – 1911. Scandalizing gun violence and changing perceptions as preconditions for firearm control, in: Wilhelm Heitmeyer u. a. (Hg.), Control of violence. Historical and international perspectives on violence in modern societies, New York 2011, S. 185 – 212, hier S. 208.

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die Ordnung schafft, zu wecken.4 Anders gewendet: Die politische Strategie der NSDAP und die historische Interpretation kommen sich hier sehr nahe. Die politische Gewalt der Zwischenkriegszeit ist aber weder ein Spezifikum der deutschen Nationalgeschichte noch der Gegenstand einer national gebundenen Historiographie. Eric Hobsbawm spricht z. B. in seiner eindrucksvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts vom Einunddreißigjährigen Krieg und vermag es so, zugleich die Erinnerung an eine frühere ausgedehnte Gewaltperiode der europäischen Geschichte heraufzubeschwören und mit Hilfe des einunddreißigsten Jahres auf wichtige Differenzen zwischen beiden Epochen hinzuweisen.5 Einige Jahre zuvor hatte Ernst Nolte schon von einem von 1917 bis 1945 währenden Bürgerkrieg gesprochen und mit den Eckdaten deutlich gemacht, aus welcher Perspektive er die Gewaltphänomene dieser Zeit betrachtete. In seiner höchst umstrittenen Sicht war die nationalsozialistische Gewalt vor allem eine Antwort auf die bolschewistische Gewalt, sei es als direkte Antwort, sei es als Reaktion auf die, vom Anspruch einer bolschewistischen Weltrevolution ausgelösten, Ängste.6 Ihrer Einseitigkeit zum Trotz hat diese Interpretation punktuell durchaus anregend gewirkt. So hat Andreas Wirsching in seiner Habilitationsschrift Noltes Ansatz einer stadtgeschichtlichen Überprüfung zugeführt. Konkret hat er anhand eines Vergleiches zwischen Berlin und Paris zu zeigen versucht, inwieweit die in beiden Städten gegebene Gewaltbereitschaft kommunistischer Gruppen als ursächlich für Gewalttaten von rechts betrachtet werden könne.7 Seine durchaus differenzierten Ergebnisse hat kürzlich Sven Reichardt einer eingehenden Kritik unterzogen, die nicht zuletzt aus der italienischen Perspektive entwickelt ist, eines besonders früh faschistischen Landes, für das eine Deutung rechtsextremer Gewalt als reaktiv kaum aufrecht erhalten werden kann.8 Sven Reichardt konnte sich in seiner Kritik auf eine umfangreiche vergleichende Untersuchung zu den italienischen Squadren und der deutschen SA stützen, deren stadtgeschichtliche Kerne sich v. a. auf Berlin und Bologna beziehen. Reichardt hat aber zugleich begonnen, den Blick auf die Gewalt von rechts und links über eine enge politische Deutung hinaus zu öffnen, 4 Vgl. v. a. Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918 – 1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001. 5 Vgl. Eric Hobsbawm, Age of Extremes. The short twentieth century 1914 – 1991, London 1994, S. 52 f. 6 Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917 – 1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt/Main 1987. 7 Vgl. Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918 – 1933/39, München 1999. 8 Vgl. Sven Reichardt, Totalitäre Gewaltpolitik? Überlegungen zum Verhältnis von nationalsozialistischer und kommunistischer Gewalt in der Weimarer Republik, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900 – 1933, München 2007, S. 377 – 402.

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wie sie von Goebbels’ Forderung nach der Eroberung der Straße ebenso nahegelegt wird wie von Lenins Wendung, wer den Klassenkampf bejahe, müsse auch den Bürgerkrieg akzeptieren. Denn Reichardt kann zeigen, dass die Gewaltausübung der italienischen squadristi wie der deutschen SA-Leute keineswegs primär Ausfluss ideologischer Überzeugungen gewesen ist, sondern auch, und häufig vielleicht in erster Linie, Ausdruck eines körperliche Gewalt prämierenden Männlichkeits- und Jugendkults. Anders gewendet: In dem von ihm in Anlehnung an Pierre Bourdieu konstatierten Gewalthabitus junger Männer sind faschistische bzw. nationalsozialistische Überzeugungen lediglich Elemente unter anderen.9 Methodisch berührt sich Reichardts Ansatz mit dem seit bald fünfzehn Jahren in der Gewaltsoziologie dominanten Insistieren, die Gewaltpraxis selbst in den Blick zu nehmen, anstatt sie über der Analyse möglicher Gewaltursachen zu vergessen.10 Daran knüpft dieser Beitrag an, der zudem die nicht nur in Reichardts Untersuchungen unübersehbaren Hinweise darauf ernst nimmt, dass die kollektive innerstädtische Gewalt der Zwischenkriegszeit in kleinräumig definierten Nachbarschaften lokalisiert war. Diese Nachbarschaften oder Kieze, die wir im Berliner Fall aus den Arbeiten von Eve Rosenhaft, Pamela Swett und anderen recht gut kennen, waren aber oft zugleich die Orte der Gewaltausübung durch zwei andere, generell als unpolitisch verstandene Kollektive, nämlich die organisierte Kriminalität und Jugendbanden, wie die „wilden Cliquen“.11 Ob und inwieweit sich diese gewaltbereiten Gruppen junger Männer personell überschnitten, ist eine offene Untersuchungsfrage, und alles deutet darauf hin, dass es hier zwischen den von uns untersuchten Städten erhebliche Unterschiede gab. Gemeinsam ist aber politischen Kampfgruppen oder paramilitärischen Verbänden, Jugendbanden und organisierter Kriminalität, dass ihre Gewaltpraxis territorialen Charakter hatte. Mit anderen Worten: Es geht auch und nicht zuletzt um Grenzziehungen im städtischen Raum, um das Eindringen in Räume des Gegners oder das Abwehren eines solchen Eindringens, unabhängig davon ob es um die Behauptung eines Reviers der Schutzgelderpressung oder um die Verteidigung eines Sturmlokals oder einer kommunistischen Kneipe geht. Diese 9 Vgl. Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002. 10 Grundlegend: Trutz von Trotha, Zur Soziologie der Gewalt, in: ders. (Hg.), Soziologie der Gewalt. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1997, S. 9 – 56. 11 Vgl. nur Eve Rosenhaft, Beating the fascists? The German communists and political violence 1929 – 1933, Cambridge 1983; Pamela Swett, Neighbors and enemies. The culture of radicalism in Berlin, 1929 – 1933, Cambridge 2004; Klaus Weinhauer / Patrick Wagner, Tatarenblut und Immertreu. Wilde Cliquen und Ringvereine um 1930. Ordnungsfaktoren und Krisensymbole in unsicheren Zeiten, in: Martin Dinges / Fritz Sack (Hg.), Unsichere Großstädte. Vom Mittelalter bis zur Postmoderne, Konstanz 2000, S. 265 – 290.

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räumliche Dimension der Gewalt ist im Folgenden zentral, wobei der Begriff der Territorialität der Gewalt in einem weit gefassten Sinne verwendet wird. In einer engeren Auslegung wäre er auf Städte wie Belfast zu beschränken, in denen sich die Gewaltausübung an klar definierten Grenzen konzentriert, die katholische und protestantische Wohnviertel als Territorien trennen, innerhalb derer kaum Gewalt ausgeübt wird.12 Diese grobe Verortung des methodischen Ansatzes in der Entwicklung der neueren Forschung sollte indessen nicht den Eindruck hervorrufen, die politische Seite des Gewaltgeschehens werde ignoriert. Vielmehr geht es darum, deren Stellenwert genauer bestimmen zu wollen, ist sich die neuere Forschung doch darin einig, „that much which might appear political in fact had other causes“.13 Das wird auch durch die Auswahl der Untersuchungsstädte deutlich. Berlin und Wien etwa werden kontrastiert in der Annahme, dass die Spaltung der Arbeiterbewegung für die uns interessierenden Phänomene von großer Bedeutung ist. Konkret haben wir es in Berlin mit einer Spaltung zwischen SPD und KPD in einer Form zu tun, bei der die KPD in zahlreichen proletarischen Vierteln die stärkste Kraft ist. In Wien dagegen ist die sozialdemokratische Hegemonie durch die kommunistische Abspaltung nicht wirklich erschüttert. Das sollte Konsequenzen für die Frontbildung gegenüber der extremen Rechten bis hin zur Altersstruktur der aktiven Kämpfer und ihrer Nähe bzw. Distanz zur organisierten Kriminalität haben. Indirekt stützen auch die Ergebnisse Wirschings diese Vermutung, zeigt doch seine Untersuchung zu Paris, dass die dort sonst eher Berlin ähnelnde Kluft zwischen Sozialisten und Kommunisten schon deshalb eine ganz andere Qualität besaß, weil die Sozialisten nie in bürgerliche Regierungen eintraten und die Kommunisten über die Gewerkschaftsbewegung stärker integriert blieben. Während deshalb die Berliner Kommunisten die Sozialdemokratie als Sozialfaschisten beschimpfen konnten, blieb in Paris die Volksfront eine später ja auch realisierte Option. Gerade wegen des Interesses an unterschiedlichen politischen Konstellationen interessiert schließlich Barcelona als eine Metropole, die in vielerlei Hinsicht das Kontrastmodell zu Berlin, Wien oder Paris darstellt. Denn zum einen weist die katalanische Hauptstadt mit ihrer schon vor dem Ersten Weltkrieg starken anarchistischen Bewegung nicht nur einen ganz anderen Zuschnitt der Arbeiterbewegung, sondern auch eine in Europa vor 1914 wohl einzigartige Gewalthaftigkeit auf. Und zum anderen bildet sie wegen der Nichtbeteiligung Spaniens am Ersten Weltkrieg einen geeigneten Testfall für die in der Forschung anhaltend und kontrovers diskutierte Brutalisierungsthese, welche die Gewalthaftigkeit der europäischen Zwischenkriegszeit 12 Vgl. exemplarisch Alan F. Parkinson, Belfast’s unholy war. The troubles of the 1920s, Dublin 2004. 13 Conway / Gerwarth, Revolution, S. 140.

Gewaltgemeinschaften im städtischen Raum

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maßgeblich auf die Gewalterfahrung von Millionen von Soldaten im Ersten Weltkrieg zurückführt. Dass Barcelona gleichwohl vom Ersten Weltkrieg stark betroffen war, bleibt unbenommen und lässt sich schon Eduardo Mendozas äußerst lesenswertem Roman „Die Stadt der Wunder“ entnehmen.

2.

Die Territorialität der Gewalt in Barcelona

Obwohl insbesondere die aus den sozialen Konflikten zwischen Arbeitern und Arbeitnehmern resultierende Gewalt in Barcelona bereits sehr ausführlich erforscht ist, wurde deren Territorialisierung bislang nur in Ansätzen bearbeitet.14 Deshalb soll dieser Thematik hier größere Beachtung geschenkt werden. Es bietet sich an, sich diesem Aspekt aus drei Perspektiven zu nähern. So erscheint es zunächst angebracht, in Bezug zur geschichtlichen Entwicklung und der Anlehnung an die bestehende Forschung aufzuzeigen, welche Möglichkeitsräume zur Gewaltausübung in Barcelona in der Zwischenkriegszeit bestanden und wie diese von den Gewaltakteuren ausgefüllt wurden. Danach sollen die beschriebenen Gewaltpraktiken im Stadtbild von Barcelona verortet werden, um abschließend beispielhaft darzustellen, wie die hier besonders interessierenden Gewaltgemeinschaften in diesem Umfeld agierten.

14 Vgl. bezüglich der in der Zwischenkriegszeit in Spanien vorherrschenden Konflikte die allgemeinere, aber dennoch sehr ausführliche Darstellung zur politischen Gewalt von Eduardo Gonz‚lez Calleja, El m‚user y el sufragio. Orden pfflblico, subversiûn y violencia pol†tica en la crisis de la Restauraciûn 1917 – 1931, Madrid 1999; sowie ausschließlich Barcelona behandelnd Mar†a Amalia Pradas Baena, L’anarquisme i les lluites socials a Barcelona 1918 – 1923. La repressiû obrera i la violÀncia, Barcelona 2003; Albert Balcells, El pistolerisme. Barcelona (1917 – 1923), Barcelona 2009; sowie zuletzt Francisco Romero Salvadû, ,Si vis pacem para bellum‘. The Catalan Employers’ Dirty War 1919 – 23, in: ders. / Angel Smith (Hg.), The agony of Spanish liberalism. From revolution to dictatorship 1913 – 1923, London 2010, S. 175 – 201. Jeweils mit Schwerpunkt auf den Auseinandersetzungen Anfang der 1920er Jahre beziehungsweise zur Gewalt in Barcelona während der Zweiten Republik: Chris Ealham, Anarchism and the city. Revolution and counter-revolution in Barcelona 1898 – 1937, Oakland 2010. Bezüglich der Territorialisierung der Gewalt siehe Paco Villar, Historia y leyenda del Barrio Chino. Crûnica y documentos de los bajos fondos de Barcelona 1900 – 1992, 3. Aufl., Barcelona 2003; Chris Ealham, An ,Imagined Geography‘. Ideology, urban space and protest in the creation of Barcelona’s ,Chinatown‘ c. 1835 – 1936, in: International Review of Social History 50, 2005, S. 373 – 397; sowie zuletzt Manuel Dom†nguez Lûpez, El pistolerisme a l’Hospitalet, Quaderns d’estudi 25, 2012, S. 87 – 126.

322 2.1

Sharon Bäcker-Wilke / Florian Grafl / Friedrich Lenger

Möglichkeitsräume und Praktiken der Gewalt

Auch wenn Spanien im Ersten Weltkrieg neutral blieb, stellt dieser doch besonders für Barcelona, wie bereits angedeutet, einen besonderen Einschnitt dar, in der sich die Zusammensetzung der Gesellschaft der katalanischen Metropole noch einmal grundlegend veränderte.15 Hinsichtlich der Tatsache, dass auch schon die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, bedingt durch den anarchistischen Terror, als auch die Zeit des Bürgerkrieges in Barcelona von extremer Gewaltsamkeit geprägt waren, stellt sich die Frage, wie sich die Zwischenkriegszeit in diese Kontinuität der Gewalt einreihte.16 Analog zur politischen Entwicklung lassen sich auch hier drei Phasen unterscheiden. Bereits am Anfang des Untersuchungszeitraums findet sich, gemessen an der Zahl von Opfern, mit der auslaufenden Monarchie Alfons XIII. der gewaltträchtigste Zeitabschnitt. Zwar hatten, wie bereits erwähnt, die sozialen und politischen Konflikte schon zu Beginn des Jahrhunderts Anschläge und Attentate hervorgerufen, doch stiegen diese in den letzten Jahren des zweiten Jahrzehnts deutlich an, sodass in der Zeit von 1918 bis 1923 in Barcelona im Zuge der sozialen Unruhen mehrere hundert Menschen gewaltsam ums Leben kamen.17 15 Vgl. dazu die beiden Aufsätze in Angel Smith (Hg.), Red Barcelona. Social protest and labour mobilization in the twentieth century, London 2002; ders., Barcelona through the European mirror. From red and black to claret and blue, S. 1 – 16, bes. S. 9; Pere Gabriel, Red Barcelona in the Europe of war and revolution 1914 – 1930, S. 44 – 65, bes. S. 48 f. Zur Bedeutung des Ersten Weltkrieges für Spanien im Allgemeinen siehe vor allem die Arbeiten von Francisco Romero Salvadû, Spain 1914 – 1918. Between war and revolution, London 1999; ders., The foundations of civil war. Revolution, social conflict and reaction in liberal Spain 1916 – 1923, London 2008. Dass sich die Zwischenkriegszeit als Epoche nicht nur im Bewusstsein der Zeitgenossen, sondern auch in der Forschung etabliert hat, veranschaulichen die Werke des Stadthistorikers Jos¦ Luis Oyûn, Vida obrera en la Barcelona de entreguerras 1918 – 1936, Barcelona 1998; ders., La quiebra de la ciudad popular. Espacio urbano, inmigraciûn y anarquismo en la Barcelona de entreguerras 1914 – 1936, Barcelona 2008. 16 Die anarchistischen Attentate um die Jahrhundertwende sind unter anderem sehr ausführlich dokumentiert bei Temma Kaplan, Red city, blue period. Social movements in Picasso’s Barcelona, Berkeley 1992; sowie zuletzt von Antonio Dalmau, El cas Rull. Viure del terror a la Ciutat de les Bombes (1901 – 1908), Barcelona 2008; und ders., El Proc¦s de Montjuc. Barcelona al final del segle XIX, Barcelona 2010. Zu den gewaltsamen Ausschreitungen während der Semana Tr‚gica sind im Zuge des 100-jährigen Jubiläums 2009 zahlreiche neue Arbeiten erschienen, siehe z. B.: Alexia Dom†nguez õlvarez, La Setmana Tr—gica de Barcelona 1909, Valls 2009; Dolors Marin, La Semana Tr‚gica. Barcelona en llamas, la revuelta popular y la Escuela Moderna, Madrid 2009; David Mart†nez Fiol, La Setmana Tr—gica, Barcelona 2009. Die Ereignisse in Barcelona während des Bürgerkrieges werden resümierend bei Ealham, Anarchism, S. 170 ff. dargestellt, eine detaillierte Studie findet sich bei Ferran Gallego, Barcelona Mayo 1937, Barcelona 2007. Einen persönlichen Eindruck von den Geschehnissen gibt George Orwell, Mein Katalonien, Zürich 1975. 17 Die exakte Zahl lässt sich schwer rekonstruieren, Balcells, Pistolerisme, S. 56, geht allein für das Jahr 1920 von 292 bzw. für 1921 von 311 Opfern von Attentaten aus.

Gewaltgemeinschaften im städtischen Raum

323

Diese als Pistolerismo bekannte Entwicklung stellt im Vergleich zu anderen spanischen Städten ein einzigartiges Phänomen dar, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass Barcelona schon damals das mit Abstand wichtigste Industriezentrum Spaniens war, in dem die Gegensätze zwischen Arm und Reich, insbesondere zwischen Arbeitern und Arbeitgebern, am stärksten aufeinanderprallten und die aufkommenden revolutionären Ideen der Anarchisten deshalb auf fruchtbaren Boden fielen.18 Nachdem sich schon nach kurzer Zeit herausstellte, dass die zunehmende Gewalt durch rechtsstaatliche Mittel alleine nicht einzudämmen war, gingen die in der Federaciûn Patronal vereinten Arbeitgeber ihrerseits dazu über, Auftragsmörder anzuheuern, um die Attentate zu vergelten.19 Als die Confederaciûn Nacional de Trabajo (CNT), die wichtigste dem Anarchismus nahestehende Gewerkschaft, 1921 verboten wurde und den Pistoleros auf Seiten der Arbeiter, die sich bislang offensichtlich auch durch die Mitgliedsbeiträge in den Gewerkschaften mitfinanziert hatten, ein wichtiger Geldgeber fehlte, traten bei den Gewaltpraktiken nun zunehmend stärker die finanziellen Interessen in den Vordergrund, sodass es zu einer Verlagerung der Gewalt von Attentaten auf Überfälle kam.20 Nach dem Ende der Diktatur Primo de Riveras wurde die Praktik der Überfälle in der Übergangsphase von der Diktatur zur Republik wieder aufgegriffen und in den nachfolgenden Jahren professionalisiert. Die Täter stahlen – meist unter Anwendung von Gewalt – ein Taxi, welches sie dann anschließend für ihre Beutezüge benutzten.21 Neben dieser ökonomisch motivierten Gewalt kam es auch wieder zu sozialen Unruhen. Diese äußerten sich aber nun nicht mehr in einer 18 Gonz‚lez Calleja, M‚user, S. 54, führt die Zahlen der Opfer im Zeitraum von 1917 bis 1922 in anderen größeren Städten an: 224 in Bilbao, 92 in Saragossa, 147 in Madrid, 177 in Valencia und 50 in Sevilla. Im Vergleich dazu ergeben sich nach den Zahlen von Balcells, Pistolerisme, S. 56, im gleichen Zeitraum in Barcelona 866 Opfer im Zuge von sozialen Attentaten. 19 Vgl. hierzu Romero Salvadû, Dirty war, S. 176 ff. Hierbei zeigt sich auch die generelle Tendenz der Forschung, die Gewalt von Seiten der Arbeiterbewegung zu relativieren und diese eher als Opfer von Staat und Oberschicht darzustellen. Erst Juli‚n Casanova Ruiz hat jüngst versucht, diese etwas einseitige Darstellung aufzubrechen, vgl. ders., La cara oscura del anarquismo, in: Juli‚ Santos (Hg.), La violencia pol†tica en la EspaÇa del siglo XX, Madrid 2000, S. 67 – 104. 20 Zur katalanischen Arbeiterschaft siehe Klaus-Jürgen Nagel, Arbeiterschaft und nationale Frage in Katalonien zwischen 1898 und 1923, Saarbrücken 1991; sowie zuletzt Katharina Biberauer, Anarchismus mit oder versus Syndikalismus. Die ideologische Entwicklung der CNT (1910 – 1936), in: Friedrich Edelmayer (Hg.), Anarchismus in Spanien. Anarquismo en EspaÇa, München 2008, S. 109 – 161. Bezüglich der Finanzierung der Pistoleros auf Seiten der Arbeitnehmer siehe ebenfalls Nagel, Arbeiterschaft, S. 462, der sich auf die Ausführungen des zeitgenössischen Journalisten Francisco Madrid bezieht. Hinsichtlich der Verlagerung von Attentaten zu Überfällen siehe Balcells, Pistolerisme, S. 78 ff. Der spektakulärste Überfall ereignete sich im September 1922 auf einen Zug, siehe beispielsweise El Noticiero Universal vom 1. 9. 1922 oder El Diluvio vom 2. 9. 1922. 21 Siehe etwa beispielhaft den ausführlichen Bericht in El Diluvio vom 30. 3. 1934.

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stark zunehmenden Zahl von Attentaten, weshalb die Anzahl von Todesopfern in Folge der Auseinandersetzung im Zuge der Zweiten Republik verhältnismäßig gering blieb.22 Stattdessen richtete sich die Gewalt nun verstärkt gegen materielle Dinge, was sich im Anzünden von Straßenbahnen, Demolieren von Geschäften oder im Zünden von Bomben und Sprengsätzen in Fabriken äußerte.23 Damit bleibt die Frage nach den vorherrschenden Gewaltpraktiken während der Diktatur Primo de Riveras. Auch wenn diese in Bezug auf Gewaltträchtigkeit, gemessen an der Zahl der Opfer, den beiden sie begrenzenden Epochen deutlich nachsteht, wäre es dennoch falsch, über diese Zeit bei einer Betrachtung der Gewalt in Barcelona gänzlich hinwegzugehen, wie es die Forschungsliteratur bislang getan hat.24 Schließlich gilt es die Frage zu beantworten, wie die Gewalttäter, die bis 1923 und dann wieder ab 1930 das städtische Leben maßgeblich prägten, in dieser scheinbar gewaltfreien Zeit für ihren Unterhalt sorgten. Auch wenn es noch schwer ist, allgemeingültige Rückschlüsse zu ziehen, lässt sich anhand von einzelnen Täterbiographien zeigen, dass die Gewaltakteure in den Jahren der Diktatur darauf verzichteten, das wieder erstarkte staatliche Gewaltmonopol in so provokanter Weise herauszufordern, wie das noch in der auslaufenden Monarchie Alfons XIII. bzw. später in der Zweiten Republik der Fall war. Dem kriminellen Milieu blieben sie aber auch in dieser Zeit treu und verdienten sich ihren Lebensunterhalt vor allem durch Einbrüche oder Drogenhandel.25 Während die Gewalt bis dahin offen in Form von Attentaten und Überfällen in Erscheinung trat, konnte sie in dieser Zeit offensichtlich nur noch in zur Kriminalität tendierenden Formen und verdeckt ausgeübt werden, so etwa im Schutz der Dunkelheit als Einbruch oder als Drogenhandel in bestimmten Bereichen der Stadt, die sich der staatlichen Kontrolle wohl weitgehend entzogen. Um welche Bereiche es sich hierbei handelte, soll nun im weiteren Verlauf veranschaulicht werden.

22 Auch wenn in der Forschung bisher wenig über die Attentate während der Zweiten Republik in Barcelona geschrieben wurde, heißt das nicht, dass dieses Phänomen völlig verschwunden war. Siehe dazu beispielsweise El Diario de Barcelona, 23. 2. 1933. 23 F ü r ein Beispiel bez ü glich der Brandstiftung in Bussen siehe El Diario de Barcelona, 9. 1. 1934. Über einen von vielen Vorfällen, bei der die Demolierung von Geschäften im Mittelpunkt stand, siehe El Diario de Barcelona, 9. 2. 1933. Ein Beispiel hinsichtlich der Sabotage durch Bombenanschläge ist dagegen El Diario de Barcelona, 5. 9. 1933. 24 Vgl. hierfür etwa beispielsweise Balcells, Pistolerisme, S. 201 ff. 25 So wurde Joaqu†n Caball¦, der 1919 noch für ein anarchistischen Bombenattentat verantwortlich gewesen war, 1928 als Dieb verhaftet (vgl. El Diario de Barcelona vom 4. 2. 1928). Jos¦ Matorell Virgili, den die Zeitungen in der Zweiten Republik wegen zahlreicher Sabotageakte und Raubüberfälle zum „Staatsfeind Nummer 1“ erklärten (siehe z. B. den Prozessbericht in El Diluvio vom 21. 4. 1935), war offenbar schon 1928 wegen Kokainbesitzes verurteilt worden (vgl. die Prozessmeldung vom 21. 2. 1928 in El Noticiero Universal).

Gewaltgemeinschaften im städtischen Raum

2.2

325

Die Verortung der Gewalt in Barcelona

Zuordnung von Straftaten zu Straßen

Wenn man die Verteilung der im Untersuchungszeitraum begangenen Gewaltdelikte in den Straßen Barcelonas zu lokalisieren versucht, ergibt sich das im Diagramm 1 dargestellte Bild.26 Die Tatsache, dass von den hier abgebildeten zehn Straßen, in denen im Untersuchungszeitraum die meisten Verbrechen dokumentiert sind, alleine sieben im 5. Bezirk in unmittelbarer Nachbarschaft gelegen sind, zeigt, dass sich im Falle von Barcelona eindeutig ein Teil des Stadtgebietes definieren lässt, in dem Gewalt weit stärker präsent war als in anderen Vierteln. Dieser befindet sich größtenteils in dem als Barrio Chino bekannten vom Hafen sowie der Prachtstraße Parallel und den Ramblas begrenzten Viertel, welches schon bei den Zeitgenossen wegen seiner besonders hohen Kriminalitätsrate gefürchtet war und auch in der Forschung in Bezug auf 26 Die dargestellten statistischen Erhebungen resultieren mangels exakteren Materials aus den Auswertungen der in den in Barcelona ansässigen Tageszeitungen El Noticiero Universal, El Diario de Barcelona und El Diluvio abgedruckten Polizeimeldungen. Auch wenn mehr als 6.000 Delikte für die Auswertung berücksichtigt wurden, ist es selbstverständlich, dass auf diese Weise nicht jedes in dieser Zeit verübte Verbrechen erfasst werden konnte. Dennoch sollten sich aufgrund der großen Anzahl der analysierten Delikte zumindest entsprechende Tendenzen erkennen und formulieren lassen.

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Gewalt besonders hervorgehoben wurde.27 Zwar ist bei der Interpretation der Ergebnisse zu bedenken, dass das Viertel mit etwa 230.000 Einwohnern um 1930 zu einem der am dichtesten besiedelten Gebiete Europas zählte, dennoch kann die extreme Gewaltsamkeit des Barrio Chino nicht in Abrede gestellt werden.28 Dass die Gewalt in diesem Viertel nicht nur eine höhere Frequenz, sondern auch eine wesentlich stärkere Intensität hatte, wird in Diagramm 2 deutlich. Diese stellt die Arten der verübten Straftaten in der im Barrio Chino gelegenen Calle del Mediod†a, der Calle de Aragûn im oberen Bereich der Stadt, in dem eher die wohlhabenderen Bürger beheimatet waren, sowie am Montjuich, dem im Südwesten gelegenen Hausberg, dar.29

Arten von Straftaten

Wie sich zeigt, machten Überfälle und Körperverletzungen die meisten Delikte in der Calle del Mediod†a aus, was darauf schließen lässt, dass Gewalt hier in offener Form Bestandteil des Alltags war.30 Im Gegensatz dazu stellten in der Calle de Aragûn Einbrüche mit Abstand den häufigsten Straftatbestand dar. Da diese meist nachts durchgeführt wurden, ist davon auszugehen, dass die Stadtbewohner hier im Alltag nicht in so einem hohen Maße mit Gewalt in Berührung kamen. Vergleichbar mit dem Barrio Chino ist dagegen, wie die 27 Am anschaulichsten wird das durch die zeitgenössische Milieustudie Francesco Madrids dargestellt, die zuletzt in katalanischer Sprache neu publiziert worden ist: ders., Sang a les Drassanes, Barcelona 2010. Bezüglich der aktuellen Forschung sei hier lediglich beispielhaft auf die bereits genannten Villar, Barrio Chino und Ealham, Chinatown, hingewiesen. 28 Zur Bevölkerungsdichte und -struktur des Barrio Chino siehe Ealham, Chinatown, S. 378. 29 Für eine ausführliche Stadtgeographie Barcelonas siehe Klaus-Jürgen Nagel, „Multikulturelle Gesellschaft“ und staatliche Interventionspolitik in der Stadt Barcelona zwischen den Weltausstellungen von 1888 und 1929, in: Archiv für Sozialgeschichte 32, 1992, S. 1 – 32, bes. S. 9 ff. 30 Diese Alltäglichkeit der Gewalt beschreibt Jean Genet sehr ausführlich in seinem Tagebuch eines Diebes, Berlin 1989, S. 45.

Gewaltgemeinschaften im städtischen Raum

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Statistik zeigt, interessanterweise das Gebiet um den Montjuich. So war der Berg – vermutlich wegen seiner Unwegsamkeit – offenbar nicht nur ein beliebtes Versteck für Bomben, sondern ermöglichte eben auch Überfälle am helllichten Tag. Wie sich die agierenden Gewaltgemeinschaften in diese heterogene Gewaltlandschaft einfügten, soll im nun folgenden Teil gezeigt werden.

2.3

Gewaltgemeinschaften in Barcelona und ihr Wirkungsbereich

Da die Forschung bisher, wie bereits angedeutet, eher damit beschäftigt war, die anarchistische Gewalt als eine Art Notwehr gegen den Staat darzustellen, sind deren Akteure bislang kaum in den Mittelpunkt der Forschung gerückt. Demzufolge ist im Grunde genommen nur eine einzige Gewaltgemeinschaft näher dokumentiert.31 Hierbei handelt es sich um die nach ihrem Anführer, einem deutschen Spion, der sich als „Baron von König“ ausgab, oder auch als Banda Negra bezeichnete Gruppierung.32 Sie umfasste etwa 40 bis 50 vor allem aus der Unterschicht stammende Mitglieder, die von Arbeitgeberseite bezahlte Aufträge ausführten. Diese reichten von der Bespitzelung bis zur gezielten Ausschaltung von missliebigen Arbeiterführern.33 Die Auswertung der verfügbaren Quellen ergab, dass derart große Gruppierungen wie die Banda Negra in Barcelona im Gegensatz zu Berlin allerdings eher eine Ausnahme darstellten. Denn die überwiegende Zahl der agierenden Gewaltgemeinschaften hatte zum einen selten mehr als zehn Mitglieder, zum anderen war die Zugehörigkeit zu einer Bande eher lose, sodass die Täter ihre Komplizen teilweise überhaupt nicht kannten.34 Demzufolge fällt es schwer, Territorien zu verorten, die von einzelnen Gruppen beherrscht wurden. Stattdessen scheint es zunächst sinnvoller, durch die Zuordnung der Delikte zu den einzelnen Banden zu bestimmen, wie groß deren Aktionsradius war. Dementsprechend soll nun abschließend für jeden der drei hervorgehobenen Zeitabschnitte, die auslaufende Monarchie Alfons XIII. bis 1923, die anschließende Diktatur sowie die Zweite Republik ab 1931, am Beispiel jeweils einer Bande 31 Auf andere Gewaltgemeinschaften wird dagegen sowohl bei Gonz‚lez Callejo, M‚user, S. 118 ff. als auch Pradas Baena, Anarquisme, S. 86 ff. nur in Ansätzen eingegangen. 32 Den äußert komplexen biographischen Hintergrund von Königs versuchte Jorge Ventura Subirats in seinem Aufsatz La verdadera Personalidad del „Baron de König“, in: Cuadernos de Historia Econûmica de CataluÇa, 1971, S. 103 – 118 zu klären. 33 Die wichtigsten Informationen über die Banda Negra sind neben dem Aufsatz von Ventura Subirats den Erinnerungen von Manuel Casal Gûmez zu entnehmen: La Banda Negra. Origen y actuaciûn de los pistoleros en Barcelona (1918 – 1921), Barcelona 1977. 34 Dass dies nicht ausschließlich der Deckung der Mittäter diente, sondern durchaus der Realität entsprach, lässt sich etwa in der erst kürzlich von Miquel Mir veröffentlichten Biographie Diario de un pistolero anarquista, Barcelona 2006, S. 26 ff. nachlesen.

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gezeigt werden, wie frei und mobil diese im Stadtgebiet handeln konnten. Dass es hier deutliche Unterschiede gab, verdeutlicht der Stadtplan von Barcelona um 1930.

Stadtplan von Barcelona um 1930 mit den Aktionsbereichen verschiedener Banden

Die mit einem Dreieck markierten Punkte illustrieren die Verbrechen, die eine im August 1921 gefasste, auf Überfälle spezialisierte Bande begangen haben soll.35 Interessant ist hierbei, dass anscheinend die gesamte, aus neun Mitgliedern zwischen 15 und 20 Jahren alten Männern bestehende Bande nicht alle Verbrechen gemeinsam verübte, sondern dass die einzelnen Straftaten jeweils nur von zwei oder drei Mitgliedern der Gruppe begangen wurden. Wie man sehen kann, erstreckte sich deren Aktionsradius über einen Großteil des Stadtgebietes. Dies änderte sich in der Zeit Primo de Riveras, wie die mit Kreisen symbolisierten Tatorte veranschaulichen, an denen Drogenhändler verhaftet wurden.36 Sie alle befinden sich eben genau in dem Viertel, das schon oben hervorgehoben 35 Vgl. El Noticiero Universal vom 6. 8. 1921. 36 Vgl. hierzu beispielsweise El Noticiero Universal vom 11. 1. 1926, El Diario de Barcelona vom 12. 2. 1927, El Diluvio vom 27. 9. 1927, El Diario de Barcelona vom 10. 4. 1928 sowie El Noticiero Universal vom 17. 3. 1928.

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wurde. Beim Handel mit Kokain traten nun zum ersten Mal auch Frauen, die sich kriminell betätigten, öffentlich in Erscheinung. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Drogenszene eng mit der Prostitution verknüpft war, die ebenfalls im Barrio Chino ihren Mittelpunkt hatte.37 In der Zweiten Republik waren Frauen dann auch in den wesentlich gewaltbereiteren Banden involviert, was den Zeitgenossen damals ausgesprochen ungewöhnlich vorgekommen sein muss, denn die Zeitungen erwähnten ihre Beteiligung an Überfällen meist direkt in der Überschrift.38 Die Gewaltgemeinschaften konnten nun wieder in einem wesentlich größeren Aktionsradius operieren. Ein Beispiel hierfür ist etwa die von Juan Vendrell Iranzo angeführte Gang, die sich auf Sabotageakte (in der Karte durch Vierecke gekennzeichnet) spezialisiert hatte und im Mai 1935 festgenommen wurde.39 Die Bande, die neben dem Anführer und seinem Bruder noch weitere vier Mitglieder umfasste, soll Straßenbahnen in den Stadtteilen Horta, San Andr¦s sowie auf dem Weg in die angrenzenden Nachbargemeinden Santa Coloma de Gramanet, Badalona und Sant Adri— angezündet haben. Auch wenn man hier sicherlich noch argumentieren kann, dass es sich lediglich um administrative Grenzen handelte, die in der Alltagserfahrung bereits damals schon durch das gut ausgebaute Straßenbahnnetz nur noch bedingt wahrgenommen wurden, zeigt sich hier bereits, dass die Banden keineswegs nur im Zentrum Barcelonas agierten.40 Ein noch deutlicheres Beispiel hierfür ist die in Enzensbergers „kurzem Sommer der Anarchie“ dokumentierte Gruppe Los Solidarios um den späteren Anarchistenführer Buenaventura Durruti, deren Attentate und Überfälle weit über die Stadtgrenze Barcelonas hinausreichten.41 Dies zeigt zum einen, dass auch bei der hier agierenden Gruppierung Mobilität eine wichtige Rolle spielte, zum anderen stellt sich aber die Frage, inwieweit man in solchen Fällen wirklich noch von explizit städtischen Gewaltgemeinschaften sprechen kann. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Territorialität der Gewalt hier zunächst einmal nur ansatzweise erfasst werden konnte. Dies liegt daran, dass zum einen die Gewaltgemeinschaften in Barcelona während der Zwischenkriegszeit bisher kaum erforscht sind, zum anderen daran, dass der Zugang zu 37 Vgl. hierzu wiederum Madrid, Sang sowie Villar, Barrio Chino. 38 Beispiele hierfür finden sich in El Diario de Barcelona vom 19. 10. 1933 oder auch in El Diluvio vom 1. 1. 1935. 39 Siehe El Noticiero Universal vom 15. 5. 1935. 40 Einen guten Einblick in die zu dieser Zeit in Barcelona bestehende Infrastruktur gibt Albert Gonz‚lez Masip, Els tramvies de Barcelona, 2 Bde., Barcelona 1997 – 1998; sowie ders., Els autobusos de l’—rea de Barcelona (1905 – 1936), Barcelona 2007. 41 Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Der kurze Sommer der Anarchie, Frankfurt/Main 1977, S. 38 ff.

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ihrem Wirken durch die eher problematische Quellenlage erschwert ist. Doch auch die bisher erfassten Gewaltgemeinschaften lassen erkennen, dass die agierenden Banden in Barcelona nur einen kleinen Personenkreis umfassten und man deshalb vielleicht besser von Aktionsradien als von Territorien sprechen sollte, die – wie gezeigt wurde – sehr stark variierten. Während sich die Verbrecher in der Diktatur Primo de Riveras in ihrem Wirken hauptsächlich auf traditionell sehr gewaltoffene, aber kleine Räume wie das Barrio Chino beschränken mussten, konnten sie anscheinend sowohl in den Jahren vorher, während der auslaufenden Monarchie Alfons XIII., als auch danach, in der Zweiten Republik, wesentlich freier agieren. Da es sich aber bei den hier vorgestellten Beispielen zunächst nur um Einzelfälle handelt, sind weitere Forschungen nötig, um daraus geltende Verallgemeinerungen ableiten zu können.

3.

Die Territorialität der Gewalt in Berlin und Wien

Mit Blick auf die politisch „roten“ Hauptstädte Wien und Berlin werden zum einen die gewalttätigen Auseinandersetzungen politischer Kampfbünde und zum anderen ihre Verbindungen zu den parallel existierenden kriminellen Gruppen verglichen. Der Untersuchungszeitraum konzentriert sich auf die Jahre 1927 bis 1934, weil hier die intensivsten Zusammenstöße zu verzeichnen sind. Von besonderer Bedeutung für die untersuchten Gruppen ist die Territorialität, welche als symbolische Beherrschung eines Reviers und als Form persönlicher Zugehörigkeit zu einem spezifischen Raum verstanden wird. Gezeigt wird im Folgenden, dass sowohl Gewaltmotivation als auch Gewaltpraxis durch die Territorialität geprägt waren. In Berlin liegt der Schwerpunkt auf den umkämpften Zonen der Kampfbünde (vorrangig SA und Rotfrontkämpferbund), die sich auf die Arbeiterviertel Wedding, Neukölln, Kreuzberg und Friedrichshain verteilten. Gewalttätigkeit wurde von links- wie rechtsradikaler Seite als Mittel im Kampf um die politische Hoheit eingesetzt.42 Orte der Gewalt waren hauptsächlich Kneipen, Bahnhöfe und die Straße. Neben dem öffentlichen Charakter der Gewalt zeigt sich bei genauerer Analyse, in welchem kleinräumlichen Gebiet die Kämpfe stattfanden: Die Bergmannstraße in Kreuzberg beherbergte etwa sieben Lokale, welche als Stammkneipen oder Stützpunkte der SA und des Rotfrontkämpferbundes dienten. Beide Kampfbünde konkurrierten durch Besetzung dieser strategischen Orte um die Vorherrschaft auf der Straße. Ein politisch zunächst relativ 42 Vgl. Detlef Schmiechen-Ackermann, Nationalsozialismus und Arbeitermilieus. Der nationalsozialistische Angriff auf die proletarischen Wohnquartiere und die Reaktion in den sozialistischen Vereinen, Bonn 1998.

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homogenes Viertel konnte allein durch die Inbesitznahme von Lokalitäten heftig destabilisiert werden.43 Dies war allen Beteiligten bewusst und führte zu gezielten Offensiven auf das Territorium des Gegners, wie in der kommunistischen Neuköllner Kneipe „Richardsburg“. Diese wurde im Herbst 1931 zum Brennpunkt gewaltsamer Auseinandersetzungen, weil ihr Pächter die Räumlichkeiten nicht mehr linken Kampfgruppen, sondern dem SA-Sturm 21 als Sturmlokal zur Verfügung stellte.44 Die neuen Stammgäste garantierten einen Mindestumsatz – ein Argument, das viele Wirte bewog, das Lager zu wechseln. Daraufhin organisierten die Mieter des angeschlossenen Wohnhauses auf Anraten eines kommunistischen Straßenzellenleiters einen sechswöchigen Mieterstreik, um den Hauseigentümer zu zwingen, den Pachtvertrag mit dem Kneipenwirt zu kündigen. Zudem gründeten die Bewohner eine 60-köpfige Häuserschutzstaffel, um die Mietgemeinschaft vor Übergriffen der nun vermehrt präsenten SA-Leute zu schützen. Am 15. Oktober 1931 kam es im Lokal zum offenen Kampf kommunistischer Formationen mit SA-Männern, bei denen der Wirt im Tumult erschossen wurde. Der Kampf der Linken um das Territorium scheiterte trotz des Einsatzes massiver Gewalt. Im Gegenteil wurden 22 Kommunisten verhaftet und die Kneipe konnte nach dreimonatiger Schließung von den Nationalsozialisten wiedereröffnet werden.45 Somit hatte sich die SA behauptet und konnte sich im Kiez etablieren. Regelmäßig marschierte die SA auf diese Art in die Arbeiterviertel ein und besetzte dort gewaltsam strategisch wichtige Punkte, um ihre Präsenz zu markieren und um von dort aus Kämpfe zu provozieren oder zu koordinieren.46 Die politischen Revierkämpfe beeinträchtigten dabei allerdings ihr gesamtes Umfeld. Sie gefährdeten nicht nur die normalen zivilen Abläufe des Kiezalltags, wie die Sicherheit des Heimwegs, des Einkaufs und des Kneipenbesuchs, sondern sie provozierten auch weitere gewaltbereite Gruppen, die diese Kampfzonen ebenfalls als ihr Revier ansahen, sich dort aufhielten und dort ihre Geschäfte betrieben. Dazu zählten neben den jugendlichen Wilden Cliquen auch die professionell organisierten, kriminellen Ringvereine.47 Der Kampf um Raum 43 Ders., Arbeitermilieus, S. 185 bezieht sich hier auf den kleinen Wedding in Charlottenburg. Dieser Vorgang lässt sich jedoch verallgemeinern. 44 Der Rotfrontkämpferbund wurde am 3. 5. 1929 verboten, bestand jedoch im Untergrund und in Form von Nachfolgeorganisationen weiter. Im Folgenden wird zusammenfassend von linken Kampfgruppen gesprochen. 45 Vgl. Schmiechen-Ackermann, Arbeitermilieus, S. 206 – 208. In der Richardstraße 35 beherbergte der Mietskasernenkomplex fünf Hinterhofhäuser und galt als ausgesprochen linkes „Kommunequartier“. Hier lebten ca. 500 Personen in 144 Wohnungen. Dazu auch Rosenhaft, Beating, S. 119 – 121. 46 Zum Vorgehen der SA vor allem Reichardt, Kampfbünde. 47 Zu Wilden Cliquen: Andreas Mischok, „Wild und frei“. Wilde Cliquen im Berlin der Weimarer Zeit, in: Berliner Geschichtswerkstätten e. V. (Hg.), Vom Lagerfeuer zur Musikbox.

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in den Kiezen polarisierte somit alle Beteiligten und forcierte deren Parteilichkeit. Die Entscheidung, für welche Gruppierung man Partei ergriff, basierte zumeist auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner : der Nachbarschaft.48 So zahlten etwa Jugendliche in Wilden Cliquen, die keiner politischen Richtung angehören wollten, Reviergeld an die kriminellen Ringvereine am Schlesischen Bahnhof. Gleichzeitig stellten sie aber den Saalschutz für Kommunisten und kämpften gegen SA-Leute und Mitglieder der Hitlerjugend, die sich durch ihr Revier wagten.49 Die Lokalisierung der Gewalt zeigt also auf, welche Gruppen sich in personeller wie territorialer Hinsicht überschnitten und zusammenarbeiteten, besonders in Konfliktsituationen. Vor allem die linken Gruppen nutzen territoriale Kooperationsmöglichkeiten der Nachbarschaften, indem sie mit kriminellen Gruppen ein gelegentliches Bündnis eingingen. Dabei waren die kommunistischen Kämpfer vor allem mit den Ringvereinen auf mehreren Ebenen verbunden: Sie teilten gemeinsame Reviere und Wohnviertel wie das Scheunenviertel, den Fischerkiez in Friedrichshain, Kreuzberg oder Neukölln.50 Die gegenseitige territoriale Duldung dieser so unterschiedlichen Gruppen resultierte aus dem Gefühl der gemeinsamen Kiezzugehörigkeit. Die SA drang gewaltsam in das Territorium der dort etablierten Linken, Ringvereine und Wilden Cliquen ein und stieß somit auf eine scheinbar geschlossene proletarische Front. Ein gemeinsames Feindbild führte also zu sporadischen Kooperationen zwischen kriminellen und linkspolitischen Gruppen und die Abstammung aus der gleichen Gegend begünstigte die Herausbildung einer übergreifenden Identität. Ein Mitglied einer Wilden Clique berichtet anschaulich über die wenigen alternativen Identifikationsmöglichkeiten im Kiez und macht deutlich, wie pragmatisch sich Gruppenzugehörigkeiten herausbildeten: „In den Arbeiterbezirken, Wedding und Neukölln, war die Situation ja einfach so, daß man Kommunist sein mußte, weil man keine Arbeit hatte und in Not lebte. Ihnen blieb weiter nichts übrig. Mit den Nazi war’s damals noch nicht so doll, Sozialdemokraten waren wie gutsituierte Bürger, also blieben nur die Kommunisten übrig.“51

Ein weiteres Cliquenmitglied zeigt auf, welche Bedeutung das gemeinsame Revier für verschiedene Gruppen hatte und dass man nicht explizit politisch handelte, sondern vielmehr territorial und feindbildorientiert:

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Jugendkulturen 1900 – 1960, Berlin 1985, S. 47 – 78; Rosenhaft, Beating. Zu Ringvereinen Hsi-Huey Liang, Die Berliner Polizei in der Weimarer Republik, Berlin 1977; sowie Weinhauer / Wagner, Tatarenblut und Immertreu. Zum Alltag im Kiez: Schmiechen-Ackermann, Arbeitermilieus; Swett, Neighbors. Mischok, Cliquen, S. 54, 64, 69 f. Vgl. Rosenhaft, Beating, S. 175; Liang, Berliner Polizei, S. 12. Interview in Mischok, Cliquen, S. 60.

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„Wir waren nicht politisch und doch waren wir wieder politisch, also, wenn wir Nazis gesehen haben. Also hier am Schlesischen Bahnhof gab’s 1930 noch kein SA-Lokal. Da ist einmal ein SA-Zug durchgekommen, da waren an jeder Reihe zwei Schupos, um die zu bewachen. Das brodelte wie ein Kessel. Das war unmöglich 1930, wenn ein SA-Mann da durchkam.“52

Die letzte Aussage zeigt deutlich den territorialen Anspruch der jungen Bandenmitglieder und verdeutlicht, dass es sich bei der Beteiligung der Wilden Cliquen um ausgeprägte Revierkämpfe und nicht um politisch-strategische Agitation handelte. So waren die gemeinsamen Nenner der im Kiez aktiven Gruppen kein Grund für durchgängige Parteilichkeit oder gar aktive Teilnahme. Auch die Ringvereine traten selten bei politischen Aktionen öffentlich in Erscheinung, und auch sie ließen sich nicht in politischen Organisationen formieren.53 Eines der wenigen Beispiele für explizit politische Aktivität war die Entlassung des kommunistischen Idols Max Hölz aus dem Gefängnis im Juli 1928. Vor seinem Auto schritten angeblich die Mitglieder des Ringvereins „Weddingkolonne“ und dahinter die des Vereins „Moabit“. Beide Vereine sollen rote und schwarze Fahnen getragen haben, auf denen der Sowjetstern abgebildet war.54 Die Reviere der KPD und einiger Verbrecherbanden lagen geographisch dicht beieinander und überschnitten sich teilweise; dies „schien die Annahme der Kripo, daß zwar nicht jeder Kommunist ein Verbrecher, aber jeder Verbrecher ein möglicher Kommunist war, noch zu bekräftigen.“55 Veranschaulicht werden soll dies am folgenden Beispiel aus Charlottenburg: 1931 geriet der SA-Sturm Maikowski vor seinem Stammlokal „Zur Altstadt“ in der Hebbelstraße 20 in einen Streit mit dem Ringverein „Treue Freunde“, dessen Lokal „Achilles“ direkt gegenüber lag. Der Streit entfachte sich, weil die Nazis den Ringbrüdern den Zutritt zu ihrem Lokal verweigern wollten, aber gleichzeitig das Angebot machten, sich gegen52 Franz von Schmidt, Vorgeführt erscheint. Erlebte Kriminalistik, Stuttgart 1955, S. 374. Das Zitat stammt aus einem Interview mit einem Mitglied der Wilden Clique „Ostpiraten“ am Schlesischen Bahnhof. Die Wilde Clique entstand Ende der 1920er Jahre. Das Cliquenmitglied war zunächst in kommunistischen Jugendorganisationen, trat 1930 der Clique bei und verließ sie ein Jahr später wieder, um sich in der Antifa zu organisieren. Interview in Mischok, Cliquen, S. 62. 53 Das lag auch an der offiziellen poltischen Haltung der KPD, die deutlichen Abstand zu kriminellen Verbindungen einnahm und in keinem Fall das öffentliche Bild, nach dem die KPD eine Unterschichtenpartei sei, füttern wollte. Zur Organisation der Cliquen Mischok, Cliquen, S. 56. 54 Peter Feraru, Muskel-Adolf & Co. Die Ringvereine und das organisierte Verbrechen in Berlin, Berlin 1995. Der Ringverein „Treue Freunde“ soll die beste Kampftruppe der Charlottenburger KPD gegen die SA gewesen sein, S. 50. Vgl. Patrick Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeption und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Hamburg 1996, S. 160; Liang, Berliner Polizei, S. 156. 55 Liang, Berliner Polizei, S. 156.

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seitig zu tolerieren. Die Ringvereinsmitglieder taten zunächst friedlich, schlossen sich aber mit etwa 30 Kommunisten zusammen und überfielen die Nazis auf dem Heimweg.56 Dieser Vorfall zeigt, dass von Zeit zu Zeit Allianzen geschlossen wurden. Darüber hinaus konnte die nicht kämpfende Gesellschaft im gleichen Revier als verlängerter Arm der Kampfgruppen angesehen werden. Zu einer personellen Erweiterung der Kampfgruppen zählten beispielsweise nicht nur Häuserschutzstaffeln, sondern auch Wirte, die ihre Lokale einer politischen Gruppe zur Verfügung stellten, Jugendgruppen oder die Mütter, die in den Suppenküchen arbeiteten, Flugschriften verteilten oder Waffen versteckten.57 Die Verteidigung eines Reviers vor Eindringlingen wie der SA oder der Polizei beschränkte sich dann nicht mehr nur auf oben genannte Kampfstätten, sondern betraf ein ganzes Viertel. Aus dieser Verwurzelung in den alltäglichen, weder explizit politischen noch explizit kriminellen Lebensbereichen schöpften die beteiligten Kämpfer taktische Optionen wie zum Beispiel die Organisation von Streiks und Boykotten gegen den politischen Gegner. Gleichzeitig wurde auch ein Zwang auf diese erweiterte Gemeinschaft ausgeübt. Die Kampfgemeinschaften in Berlin waren in Bezug auf ihre Motivation keine homogenen Gruppen, sondern schlossen neben den Kerngruppen der Kämpfer auch die vielfältigen Rollen der Betroffenen im Kiez-Umfeld ein, deren Interessen das gesamte Geschehen komplexer gestaltete und die Eskalation des Kampfgeschehens beschleunigte. So denunzierten sich beispielsweise Nachbarn in proletarischen Kiezen gegenseitig, wenn sie politisch nicht konform waren.58 In Berlin lagen die politisch umkämpften Viertel in Form von Sektoren um das Zentrum herum. In Wien dagegen führen die Stadtviertel durch die Ringstraßenarchitektur in konzentrischen Kreisen vom Zentrum weg. Die Oberschicht besetzte das Zentrum der Stadt, darauf folgte eine bürgerlich geprägte Zwischenzone, umringt von der Vorstadt, den Industrieanlagen, also den Arbeitervierteln. Nicht nur die anders gelagerte räumliche Anordnung, sondern auch das Profil der Kämpfer unterschied sich. Die österreichische Sozialdemokratie war bis 1934 eine Massenpartei, in der mehr als 10 % der österreichischen Gesamtbevölkerung organisiert war, womit jeder dritte Wähler Parteimitglied war. Auch die Selbstschutzorganisation der Sozialdemokraten, der Republikanische Schutzbund, hatte in seiner Blütezeit bis zu 96.000 Mitglieder, dessen Anhänger sich zu 60 % aus Wien rekrutierten.59 56 Sturm 33 (Hg.), Hans Maikowski. Geschrieben von Kameraden eines Toten, 3. Aufl., Berlin 1942, S. 32 – 34. 57 Vgl. Schmiechen-Ackermann, Arbeitermilieus, S. 206 – 209, 710. 58 Dazu vor allem die von Swett, Neighbors, S. 214 – 271 aufgearbeiteten Zusammenstöße. 59 Helmut Konrad, Das Werben der NSDAP um die Sozialdemokraten 1933 – 1938, in: Rudolf G. Ardelt / Hans Hautmann (Hg.), Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich. In memoriam Karl R. Stadler, Wien/Zürich 1990, S. 73 – 89, hier S. 74 f.

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In Berlin hingegen buhlten KPD und Sozialdemokraten um Wähler sowie um Kampfbundmitglieder, was zu einer verschärften Konkurrenzsituation führte, sodass man insbesondere auch sozial Deklassierte mit Propaganda und Aktionen ansprach.60 In Wien hingegen spielte die KPÖ keine wesentliche Rolle und ihre Kämpfer gliederten sich im sozialdemokratischen Schutzbund ein, der polemische Kampf um Wählerschaften zwischen den Linksparteien blieb daher aus.61 Im Gegensatz zum gespaltenen Berlin waren die im Kampfbund organisierten Männer in Wien zu einer breiten Front geeint. Mit der Aufstellung des Republikanischen Schutzbundes im April 1923 besaß die österreichische Sozialdemokratie zumindest bis 1927 eine monopolartige Vorrangstellung im Kampf um die Straße. Im Umland Wiens jedoch dominierten die Heimwehrformationen als Hauptgegner im Kampf um die politische Hoheit.62 Erst durch den Brand des Justizpalastes und die damit verbundene Aufwertung der politischen Rechten durch die Heimwehrformationen geriet dieses Monopol unter Druck.63 Die häufigsten und heftigsten Kämpfe fanden nicht nur in den Wiener Arbeitervierteln Favoriten, Ottakring, Hernals statt, sondern auch in den vorgelagerten Gemeinden Klosterneuburg, Vösendorf und Stockerau oder dem steirischen Bergbaugebiet um Voitsberg und Industriestandorten wie dem Mürz- und Murtal.64 Ziel der Heimwehr war es, nicht nur den Marsch auf das rote Wien zu planen – in Anlehnung an Mussolinis Marsch auf Rom –, sondern auch die 60 Dazu Schmiechen-Ackermann, Arbeitermilieus, S. 198: „Während die aktivistisch auftretenden Kommunisten große Organisationserfolge vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen die sozial schlechter gestellt waren hatten, wiesen die organisierten Sozialdemokraten ein vergleichsweise hohes Alter auf und waren häufig in den öffentlichen Betrieben und der Verwaltung beschäftigt.“ 61 Winfried R. Garscha, Die Auseinandersetzung der KPÖ mit dem Nationalsozialismus, in: Rudolf G. Ardelt / Hans Hautmann (Hg.), Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich. In memoriam Karl R. Stadler, Wien/Zürich 1990, S. 129 – 147, hier S. 132 f. 62 Francis L. Carsten, Faschismus in Österreich. Von Schönerer zu Hitler, München 1977, S. 66. Die Ideologie der Heimwehren war vor allem großdeutsch und antimarxistisch, zum Teil auch katholisch und konservativ. Ihre große Schwäche war jedoch, dass sie keine gemeinsame Ideologie besaßen. Zu den Mitgliedern der Heimwehr nach Konrad, Werben, S. 80 hatte die Heimwehr bis 1933 eine Stärke von ca. 100.000 Mann. Für Wien zitiert Carsten einen Polizeibericht, laut dem es in Wien 1929 den Verein „Wiener Heimwehr“ unter Major Fey mit etwa 2.000 Aktiven und 6.000 unterstützenden Mitgliedern gab, S. 123. 63 Otto Naderer, Der Republikanische Schutzbund und die militärische Vorbereitung auf den Bürgerkrieg, in: ÖVZ, Österreichische Militärische Zeitschrift 4, 2004. Online Ausgabe, http://www.bmlv.gv.at/omz/ausgaben/artikel.php?id=219 [3. 8. 2011]. Der Republikanische Schutzbund übertraf damit die österreichische Armee mit ihren 30.000 Soldaten um mehr als das Dreifache. 64 Gerhard Botz, Gewalt in der Politik, München 1983, S. 334. Bei der Erstellung einer Karte zur Geografie der politischen Gewalttaten, stellt Botz heraus, dass mit dem Erstarken der Heimwehrbewegung die blutigen Zusammenstöße immer näher an „rote“ Hochburgen heranreichten. So zieht sich eine Strecke der politischen Gewalt entlang der Linie MödlingVösendorf-Liesing-Favoriten-Simmering.

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umliegenden „roten“ Industriestandorte mit ihren dichten proletarischen und sozialen Netzwerken zu bestürmen.65 Das Kampfgebiet erstreckte sich demnach nicht nur auf einzelne Stadtteile, sondern über die Stadtgrenzen hinaus. Neben vereinzelten Wirtshausschlägereien zwischen Schutzbündlern und Heimwehrmännern finden sich meist Zusammenstöße der folgenden Art:66 Im Oktober 1928 kündigte die Heimwehrführung unter Richard Steidle einen Massenaufmarsch an, der in die etwa 15 Kilometer von Wien entfernt liegende Industriestadt Wiener Neustadt führen sollte. Dieser Marsch war Teil einer Putschvorbereitung der Heimwehr, die durch Waffensendungen aus Italien unterstützt wurde. Die österreichische Regierung war teilweise in die Planung des Putsches eingeweiht und tolerierte diese stillschweigend. Die Sozialdemokraten kündigten als Gegendemonstration einen „Arbeitertag“ an. Um die Situation dennoch nicht eskalieren zu lassen, bot nun die Regierung mit immensem Kostenaufwand einen Großteil ihrer bewaffneten Macht aus ganz Österreich auf: 2.500 Polizisten und mehrere tausend Militärs besetzten die Wiener Neustadt und Umgebung. Am Vormittag marschierten dann 18.500 Heimwehrmänner, die hauptsächlich aus der Steiermark angereist waren, durch die Stadt. Am Nachmittag zogen 14.800 Schutzbündler und 21.000 Arbeiter auf den Marktplatz.67 Durch die Präsenz der Gegenseite verlief diese Kraftprobe wenig erfolgreich für die Heimwehr, sie zeigt aber die Massenhaftigkeit einer für Wien typischen Auseinandersetzung – im Kontrast zu den Berliner Kampfszenen, bei denen neben großen Aufmärschen auch die kleinräumlichen Eroberungen von Straßenzügen mit vergleichsweise wenigen Beteiligten eine bedeutende Rolle spielten. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Wien und Berlin war vorerst also das Fehlen des direkten Kiez- und Häuserkampfes. Ähnlich wie die Heimwehr etablierte sich die SA zunächst auf dem Land, bevor sie in Wien Fuß fassen konnte, und hatte bis 1932 in Wien nicht mehr als 2.000 aktive Mitglieder.68 Da Mussolini nach dem gescheiterten Heimwehrputsch 1931 seine finanzielle Hilfe zurückfuhr, verlor die Heimwehr an politischer Rückendeckung.69 Die SA wurde daraufhin ein echter Konkurrent und 65 Dazu Garscha, KPÖ, S. 132: „Das erklärte Ziel der Heimwehrbewegung während der gesamten 1. Republik war es, Mussolinis Marsch auf Rom durch einen Marsch auf Wien zu kopieren.“ Dazu auch Botz, Gewalt, S. 179 – 182. 66 Beispielsweise listet Botz eine Chronik politischer Gewalttaten auf: ders., Gewalt, S. 345 – 378. 67 Ebd., S. 164 – 166. 68 Barry McLoughlin, „Das intensive Gefühl, sich das nicht gefallen lassen zu dürfen“. Arbeiterschaft und die Gewaltpraxis der NSDAP, 1932 – 1933, in: Rudolf G. Ardelt / Hans Hautmann (Hg.), Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich. In memoriam Karl R. Stadler, Wien/Zürich 1990, S. 49 – 72, hier S. 57. 69 Zum Pfrimer-Putsch am 13. 9. 1931: Ein Problem war, dass die Heimwehr Verbindungen zu Italien und Ungarn hatte, die österreichische NSDAP jedoch zu Deutschland. Die NSDAP

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große Teile der Heimwehrmitglieder liefen zur SA über. Die Heimwehr zerfiel hingegen in unbedeutende Splittergruppen.70 Dieses Eindringen von Heimwehr und SA von außen in die Stadt, die vom sozialdemokratischen Republikanischem Schutzbund dominierte war, steht im Kontrast zur Situation in Berlin, wo die Kämpfe um Wohnhäuser und Lokale von innen heraus entstanden und Einmärschen gleichende Bewegungen allenfalls zwischen den Vierteln zu beobachten sind.71 Einer sukzessiven Eroberung Wiens vom Lande her steht also ein permanenter Territorialkampf unter Ansässigen in Berlin gegenüber. Für die Gewaltpraxis der Gruppen waren demnach Mobilität beziehungsweise Immobilität entscheidende Faktoren. Sowohl Heimwehr als auch Schutzbund mussten längere Strecken zurücklegen, um sich im Wiener Umland zu begegnen. In Berlin entschied zur gleichen Zeit die nächste Straße oder die Kneipe gegenüber über die territoriale Hoheit. Mit dem Erstarken der SA ab 1932 änderte sich nicht nur die Form der Gewalt, sie konzentrierte sich nun verstärkt auf das Wiener Stadtgebiet.72 Der Vorfall vom 30. Juni 1932, bei dem 30 SA-Männer das Edelrestaurant „Country Club“ in Wien-Lainz überfielen und die Gäste verprügelten, zeigt die besondere Aggressivität der SA auf: „Mit Stöcken, Stuhlbeinen und Totschlägern gingen sie wahllos auf die Besucher und Besucherinnen los“.73 Führte also die Heimwehr bis dahin noch Aufmärsche auf der Ringstraße und Exerzierübungen auf dem freien Feld durch, so übte die SA eine viel unmittelbarere Gewalt in Form von Bombenanschlägen und Überfällen aus, besonders wenn sie SA-Stützpunkte in Arbeiterbezirken errichtete.74 Beispielsweise löste eine solche Eröffnungsfeier in Hernals 1932, gegen welche die KPÖ zu einer Kundgebung aufrief, Straßen-

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schließt sich dem Pfrimer-Putsch nicht an und konkurriert zunehmend mit der Heimwehr. Dazu: Botz, Gewalt, S. 184 – 186. McLoughlin, Gewaltpraxis, S. 55; Carsten, Faschismus, S. 62 f., 173 – 179. Die SA hatte ihren Ursprung im Berliner Westen, vor allem in Charlottenburg, Spandau und Steglitz und drang von dort aus nach Osten vor. Vgl. Thomas Balistier, Gewalt und Ordnung. Kalkül und Faszination der SA, Münster 1989, S. 129 – 131. Die Störung von sozialdemokratischen Veranstaltungen führte 1932 im 3. Bezirk (Landstraße) zweimal zu schweren Zusammenstößen zwischen Schutzbündlern und Jungsozialisten auf der einen Seite und der Polizei auf der anderen Seite, in: Arbeiterzeitung vom 2. Juni und 13. Juli 1932. Zitat aus Neue Freie Presse vom 1. 7. 1932, vgl. Reichspost vom 1. 7. 1932. Botz spricht hingegen von 120 Nazis, in: ders., Gewalt, S. 189. Ebd., S. 113 – 138, 219, 224, 277. Zur Gewaltpraxis der SA in Österreich siehe McLoughlin, Gewaltpraxis. Bezüglich der Beteiligung der faschistischen Wehrformationen an allen gewalttätigen Auseinandersetzungen mit „Marxisten“ (Zeitraum 1932/33) können nach McLoughlin folgende Aussagen gemacht werden: Heimwehrangehörige waren bis 1929/30 mit 67 % Beteiligung führend im Straßenkampf, ab 1932/33 überflügelten die Nazis sie mit 65 %, S. 49. Zu Veranstaltungsorten der NSDAP in Wien, S. 51 f.

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krawalle aus und forderte zahlreiche Verletzte.75 Auch der Zusammenstoß in Simmering war geprägt durch das Profil der SA: Die Nationalsozialisten veranstalteten am 16. Oktober 1932 um 9 Uhr einen Bezirksumzug durch Simmering, bei dem mehrere hundert bewaffnete Nationalsozialisten marschierten. In der Dreischützgasse vor dem Parteiheim der Sozialdemokraten kam es nach vorangegangenen Beleidigungen und Steinwürfen zu einer Schießerei, die drei Todesopfer sowie zahlreiche Verletzte zur Folge hatte.76 Die SAwies in Österreich in ihrem Vorgehen also ähnliche Züge wie im Berliner Straßenkampf auf: Sie konzentrierte sich in den Arbeiterkiezen darauf, in physischen Konflikt mit den Gegnern zu kommen und deren Hochburgen zu besetzen. Mit der Etablierung der österreichischen SA ab 1932 veränderten sich in Wien schließlich nicht nur die Geografie der Gewalt, sondern auch die Art der Gewalt und das Kräfteverhältnis der Kampfbünde.77 Hauptgrund war, dass sich das Profil der SA von dem der Heimwehr unterschied. Das Personal der SA war durchschnittlich jünger und rekrutierte sich vorwiegend aus bürgerlichen Schichten.78 Das Aggressionspotential und das Desinteresse an politisch inhaltlicher Auseinandersetzung stiegen also, je jünger die beteiligten Kämpfer waren.79 In Wien änderte sich mit dem Erstarken der SA somit nicht nur die Art, sondern auch die Territorialität der Gewalt. Der Kontrast zwischen beiden Städten, mit besonderem Fokus auf der Aktivität der SA, zeigt sich in folgender Auflistung: Für das Jahr 1930 stellte der christsoziale Politiker Friedrich Hennes für Deutschland 300 Todesopfer politischer Gewalt fest, die Republik Österreich 75 Neue Freie Presse vom 14. 3. 1932 und Rote Fahne vom 15. 3. 1932. Zu Attentaten Botz, Gewalt, S. 215, 224. 76 Vgl. zum Simmeringer Zusammenstoß vom 16. 10. 1932 zwischen Nationalsozialisten und Republikanischem Schutzbund: Reichspost, Kleines Blatt und Neue Freie Presse vom 17. 10. 1932; und Botz, Gewalt, S. 202. 77 Botz, Gewalt, S. 187. Zwischen Februar und Ende 1932 war die SA bereits an 34 von insgesamt 39 politisch gewalttätigen Zusammenstößen beteiligt. Zur Gewalt der SA vor allem Balistier, Gewalt, S. 146. 78 Gerhard Botz, Arbeiterschaft und österreichische NSDAP-Mitglieder (1926 – 1945), in: Rudolf G. Ardelt / Hans Hautmann (Hg.), Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich. In memoriam Karl R. Stadler, Wien/Zürich 1990, S. 29 – 48, hier S. 37 – 39. Die Wehrformationen der Nazis hatten einen Arbeiteranteil von 36 %, die Heimwehren 56 % und der Schutzbund einen Anteil von 82 %. Am deutlichsten waren die Studenten und die Angestellten bei den Nazis überrepräsentiert. Vgl. Konrad, Werben, S. 80. 79 Die Wiener Kämpfer sind durchschnittlich älter als die Berliner; so lag der Altersdurchschnitt in Schutzbund und Heimwehr bei 27 und der Wiener SA bei 23 Jahren. Vgl. ebd., S. 80. In Berlin waren die Kämpfer des Rotfrontkämpferbundes und der SA im Durchschnitt zwischen 18 und 20 Jahren alt. Vgl. zum Rotfrontkämpferbundes Kurt G. P. Schuster, Der rote Frontkämpferbund 1924 – 1929. Beiträge zur Geschichte und Organisationsstruktur eines politischen Kampfbundes, Düsseldorf 1975, S. 14; zur SA Irmtraut Götz von Olenhusen, Vom Jungstahlhelm zur SA. Die junge Nachkriegsgeneration in den paramilitärischen Verbänden der Weimarer Republik, in: Wolfgang Krabbe, Politische Jugend in der Weimarer Republik, Bochum 1993, S. 146 – 182, hier S. 178.

Gewaltgemeinschaften im städtischen Raum

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zählte im gleichen Jahr insgesamt zwei Todesopfer politischer Gewalt und 38 Verletzte.80 Hieran zeigt sich, dass vor dem Eintritt der SA in die Wiener Kampfarena das Niveau der Kämpfe zwischen den paramilitärischen Verbänden wesentlich weniger brutal war. Eine Kooperation oder personelle Überschneidungen unterschiedlicher Gewaltgemeinschaften wie im Falle Berlins finden sich in Wien bisher nicht. Damit scheint erstens die Annahme bestätigt, dass das Niveau der kriminellen Strukturen nicht so professionell war wie das der Berliner. Zweitens wohnten die organisierten Kriminellen, sogenannte Plattenbrüder und Strizzis, zwar analog zur Situation in Berlin auch in Arbeitervierteln (Ottakring, Hernals, Favoriten und Simmering), doch die Reviere, in denen sie Prostitution, Betrug, Hehlerei und Glückspiel nachgingen, lagen in der Innenstadt und am Prater, der Vergnügungsmeile Wiens.81 Da sich bei den Wiener Kriminellen Wohnort und Betätigungsort unterschieden, kam es auch nicht zur Identifizierung mit den proletarischen Vierteln wie in Berlin, wo kriminelle Vereine sich an ihren jeweiligen Wohnorten betätigten. Da die Kriminellen in Wien für ihre Tätigkeit in die Innenstadt pendelten, der Republikanische Schutzbund hingegen in den äußeren Arbeiterbezirken Präsenz zeigen musste und im Umland Wiens kämpfte, berührten sich die kriminellen Reviere kaum mit den politischen. Eine Frage, die noch weitere Untersuchung erfordert, ist die nach der Homogenität der politischen Neigungen unter den organisierten Kriminellen innerhalb linksorientierter Nachbarschaften. Jedenfalls bedurfte es zumindest bis 1932 in einem homogen linksorientierten Wien im Vergleich zu Berlin weniger der Allianzen gegen ansässige oder ansässig werdende politische Gegner. Ob die zunehmende Präsenz der SA in Wien proletarische Allianzen aus Sozialisten, Kommunisten und Kriminellen förderte, steht ebenfalls zur Untersuchung an. Die Gewaltmotivation in beiden Städten unterscheidet sich also in folgender Hinsicht: In Berlin wurde das Bewusstsein einer territorialen Zugehörigkeit zum Viertel zu einer wesentlichen Ursache für Gewalttätigkeit. Die in Berlin so starke, weil räumlich dicht wahrgenommene, Provokation durch die Präsenz des Gegners spielte in Wien erst mit dem Erstarken der SA eine wichtige Rolle. Auch quantitativ unterschieden sich die Feindseligkeiten in Wien und Berlin. Erst die räumliche Invasion der SA veränderte die Intensität der Betroffenheit und der 80 Zu Berlin: Reichspost vom 17. 3. 1931; zu Wien: Botz, Gewalt: für den Zeitraum 1918 bis 1933 zählt er 215 Todesopfer politischer Gewalt in Österreich, für das Jahr 1933 15 Tote, 54 Verletzte, S. 304 f. 81 Illustriertes Wiener Extrablatt, 18. 7. 1905; und Peter Csendes / Ferdinand Oppl, Wien. Geschichte einer Stadt, Bd. 3, Wien 2006, S. 180 ff.; dazu auch Wolfgang Maderthaner / Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt/Main 2000, S. 55, 69, 98 und 151; zu den Orten: Illustriertes Wiener Extrablatt vom 14. 6. 1905, 15. 6. 1905 und 19. 7. 1905.

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gewalttätigen Gegenreaktionen. Die Gewaltorte lassen sich in beiden analysierten Städten auf die Arbeiterbezirke begrenzen. Doch zeigen die Städte unterschiedliche Ausprägungen der Gewalt auf. In Berlin überschneiden sich in diesen Vierteln politische mit kriminellen Revieren. Politisch agierende wie kriminell aktive Anwohner hatten die Gemeinsamkeit der Kiezzugehörigkeit und verbündeten sich vor diesem gemeinsamen Hintergrund partiell zu einer Front. In Wien findet sich keine derartige Verbindung, was einerseits an der Entzerrung der politischen und kriminellen Reviere lag und andererseits daran, dass die Sozialdemokratie bereits das Sammelbecken für eine geschlossene Arbeiterschaft bot. Die Vielschichtigkeit der an den Kämpfen direkt und indirekt Beteiligten brachte in Berlin eine komplexere Interessenlage und vielfältige subtile Abhängigkeiten mit sich, führte aber im Kampf gegen den gemeinsamen Feind auch zu Synergien. Unpolitische, nach eigener Auskunft aber tendenziell linksorientierte Ringvereinsmitglieder verteidigten in Berlin nicht nur das gemeinsame Revier mit den Linken, sie verteidigen vielmehr ihre eigenen Aufenthaltsorte, ihre Lebensräume, vor allem ihren Geschäftsraum. Für Wien hingegen scheint es, dass in sich geschlossene politische und soziale Gemeinschaften sowohl räumlich als auch personell weniger durchlässig waren und deshalb homogenere Kampfgemeinschaften eindimensionalere Ziele verfolgten.

4.

Zusammenfassung

In allen drei untersuchten Städten wurde nach einer Überschneidung oder Vernetzung mit anderen Gruppen gesucht, aufgrund der territorialen Verteilung und der beanspruchten Gebiete. Die Gewaltakteure bewegten sich in Berlin dabei nicht nur in unterschiedlichen sozialen Räumen (Milieus), sondern wie auch in Wien in unterschiedlichen Kampfgebieten. In Barcelona hingegen wechselte das politische Kampfpersonal in das kriminelle Milieu über und breitete sich dadurch auch in anderen städtischen Räumen aus. Aus vergleichender Perspektive manifestierte sich also die Gewalt ähnlicher Gruppen in sehr unterschiedlichen Formen, was sich auch auf die Territorialisierung der Gewalt stark auswirkte. In dieser Hinsicht lässt sich die Andersartigkeit der Gewalt in der katalanischen Metropole zum einen darauf zurückführen, dass die Gewaltgemeinschaften in der Zwischenkriegszeit im Vergleich zu Wien und Berlin wesentlich kleiner waren und demzufolge nur begrenzt städtische Räume für sich beanspruchen konnten. Zum anderen liegt dies auch in den, sich von denjenigen in Berlin und Wien stark unterscheidenden, Formen der Gewalt begründet. So war besonders die politische Gewalt in Barcelona wesentlich punktueller und bestand vor allem in gezielten Anschlägen und Attentaten. In Wien und Berlin hingegen war der physische Kampf das Charakteristikum der

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politischen Auseinandersetzung. Nicht nur die räumliche Präsenz, sondern auch die unmittelbare körperliche Konfrontation prägten in Wien und Berlin die Orte der Gewalt und zugleich auch mögliche Bündnisse der Gruppen. An der Verortung der Gruppen und der Lokalisierung der Gewalt zeigt sich auch die Geschlossenheit der Gruppen, welche sich aus vergleichender Perspektive erheblich unterscheidet: In Barcelona waren der lose Zusammenhalt in den Gruppen und ihr rascher Zerfall hervorstechend, während in Wien der sozialdemokratische Schutzbund wie auch die Heimwehr oder die SA formell und ideologisch über die Dauer der Ersten Republik geschlossene Einheiten bildeten. Auch das Verbot des Berliner Rotfrontkämpferbundes bzw. die vorübergehenden Verbote der SA konnten nicht bewirken, dass sich die Gemeinschaften auflösten. Stattdessen formierten sie sich im Untergrund unkontrolliert weiter und blieben in ihren sozialen Netzwerken verankert. Die Gewaltakteure in Barcelona hingegen verlagerten ihre Aktivitäten unter der Diktatur auf andere kriminelle Bereiche wie zum Beispiel den Drogenhandel. So gab es auch in Barcelona beständige Orte der Gewalt wie das Barrio Chino oder auch den Stadtberg Montjuich, an denen die Gewalt zum Alltag gehörte, woran auch die wechselnden politischen Systeme nichts zu ändern vermochten.

Peter Haslinger / Vytautas Petronis

Erster Weltkrieg, Systemkonsolidierung und kollektive Gewalt in Ostmitteleuropa. Litauen und der „Eiserne Wolf“

Der Erste Weltkrieg gilt gemeinhin als der erste totale Krieg der Menschheitsgeschichte. Konkret betrifft dies nicht nur den mechanisierten Stellungskrieg, das anonymisierte Massensterben und die ersten systematischen Bombardierungen aus der Luft, sondern auch die Kontrolle und Indienstnahme ziviler Einrichtungen und die Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche.1 Was die Wirkungsgeschichte dieser neuen Qualität einer umfassenden Kriegsführung angeht, fokussiert die Forschung auf die Langzeitfolgen der kollektiven Mobilisierung, Traumatisierung, Erschöpfung und Verwahrlosung,2 die auch in der schwierigen Konsolidierungsphase, die dem Krieg folgte, ihre tiefen politischen, ökonomisch-sozialen und (erinnerungs-)kulturellen Spuren hinterließ. Die Formeln, um diese Langzeitwirkung aus heutiger Perspektiven abzubilden, 1 Horst Bauerkämper / Elise Julien, Einleitung. Durchhalten! Kriegskulturen und Handlungspraktiken im Ersten Weltkrieg, in: dies. (Hg.), Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914 – 1918, Göttingen 2010, S. 7 – 28, hier S. 7. Eine gegenteilige Ansicht vertritt hier – in Hinblick auf den Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg – Hew Strachan: „World War I’s static nature was a major factor in preventing it from becoming a total war. The trenches, at least in northwestern Europe, acted as a geopolitical brake on what modern military analysts would call high-intensity conflict. This was less true elsewhere, in East Prussia, Poland, Galicia, Eastern Anatolia, and in almost all extra-European theatres, the more mobile the operations the greater the suffering of the civilian population. […] If Europe had experienced total warfare, it did so between 1941 and 1945.“ Hew Strachan, War and society in the 1920s and 1930s, in: Roger Chickering / Stig Förster (Hg.), The shadows of total war. Europe, East Asia, and the United States, 1919 – 1939, Cambridge/New York 2003, S. 35 – 54, hier S. 35 und 54. 2 Vgl. hierzu unter vielen Arbeiten Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hg.), „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch …“. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Frankfurt/Main 1996; oder die Einzelbeiträge im Journal of Contemporary History 35, 2000, die sich den sozialen Folgen von Kriegsneurosen im europäischen Vergleich widmen. Andrew Donson hat zudem in einer Studie zu Deutschland herausgearbeitet, dass ab 1914 entsprechende Tendenzen und eine deutlich steigende Kriminalität unter Jugendlichen festzustellen waren, die auch in den ersten Nachkriegsjahren auf einem zunächst vergleichsweise hohen Niveau verblieb. Andrew Donson, Youth in the fatherless land. War pedagogy, nationalism, and authority in Germany, 1914 – 1918, Cambridge/London 2010, S. 154 und 164.

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reichen von Formulierungen wie der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“3 über „humanity uprooted“4 bis hin zum Zivilisationsbruch, der „eine außerordentliche Periode einer großen Zivilisation zu einem schrecklichen Ende brachte“5 und in der Folge alles verändert habe.6 Im Rückblick, so Jürgen Angelow, erscheinen „der Erste Weltkrieg und die von ihm ausgehende Gewalterfahrung als negative Langzeitbelastung der an ihm beteiligten europäischen Gesellschaften.“7 Gerade dieser letzte Befund erscheint stimmig, da er multikausal und ergebnisoffen weitergedacht werden kann. Demgegenüber verbindet sich mit der Brutalisierungsthese8 und vor allem mit der Formel vom „Zweiten Dreißigjährigen Krieg“9 eine enger geführte Interpretationslinie. Ihr liegt die Behauptung unmittelbarer Wirkungs- und Strukturkontinuitäten der Gewaltgeschichte beider Weltkriege zugrunde. Entsprechend suggeriert dieser Ansatz, dass auch die extremen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges in den Fronterfahrungen sowie Totalisierungstendenzen des Ersten Weltkrieges im Kern bereits angelegt waren. Verweisbeispiele, auf deren Grundlagen diese These überprüft worden ist, bildeten die Besatzungspolitik des Deutschen Kaiserreichs vor allem in Belgien und Nordfrankreich,10 der 3 Ernst Schulin, Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, in: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung – Wahrnehmung – Analyse, München 1994, S. 3 – 27. 4 Frank C. Zagare, The games of July. Explaining the Great War, Ann Arbor 2011, S. 171. 5 Donald Kagan, On the origins of war and the preservation of peace, New York 1995, S. 81. 6 David Andelman, A shattered peace. Versailles 1919 and the price we pay today, Hoboken 2008, S. 3. 7 Jürgen Angelow, Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Neue Fragestellungen und Erklärungen, in: Horst Bauerkämper / Elise Julien (Hg.), Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914 – 1918, Göttingen 2010, S. 178 – 194, hier S. 178. 8 George Mosse, Fallen soldiers. Reshaping the memory of World Wars, Oxford 1990, v. a. S. 163. 9 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der ,Deutschen Doppelrevolution‘ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849 – 1914, München 1995, S. 1168; ders., Der zweite Dreißigjährige Krieg, in: Stefan Burgdorff / Klaus Wiegrefe (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, München 2008, S. 23 – 35. Vgl. Jörg Echternkamp, 1914 – 1945. Ein Dreißigjähriger Krieg? Vom Nutzen und Nachteil eines Deutungsmusters der Zeitgeschichte, in: Sven Oliver Müller / Cornelius Torp, Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 265 – 280; Michael Geyer, Urkatastrophe, Europäischer Bürgerkrieg, Menschenschlachthaus – Wie Historiker dem Epochenbruch des Ersten Weltkrieges Sinn geben, in: Rainer Rother (Hg.), Der Weltkrieg 1914 – 1918, Berlin 2004, S. 24 – 33. 10 In Belgien und Nordostfrankreich kam es immer wieder zu Bestrafungsaktionen in Form von Niederbrennen von Gebäuden, zu Vergewaltigungen sowie zu Geiselnahmen, Deportationen und kollektiven Exekutionen. Gezählt wurden insgesamt 130 Vorfälle mit über 5.000 Toten und 13.500 bewusst zerstörten Gebäuden. John Horne / Alan Kramer, War between soldiers and enemy civilians, 1914 – 1915, in: Roger Chickering / Stig Förster (Hg.), Great War, total war. Combat and mobilization on the Western front, Cambridge 2000, S. 153 – 168, hier S. 157. Vgl. auch Bruno Benvindo / Beno„t Majerus, Belgien zwischen 1914 und 1918. Ein Labor für den totalen Krieg, in: Horst Bauerkämper / Elise Julien (Hg.), Durchhalten! Krieg

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Einsatz von Zwangsarbeitern11 und eine in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg feststellbare psychische Desorientierung.12 Als weiteres Indiz wird auch die Kriegsprognostik gesehen, die vor allem in Deutschland mit der Tendenz einherging, eine Neuauflage des eben verlorenen Krieges als unvermeidbar anzusehen.13

1.

Gewalterfahrungen – Gewaltkontinuitäten – Gewaltkarrieren

Gunther Mai hat festgehalten, dass die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen „von einer verwirrenden Kumulation Gewalt begünstigender Konstellationen

und Gesellschaft im Vergleich 1914 – 1918, Göttingen 2010, S. 127 – 148. Auf die propagandistischen Wirkungen dieser Politik gehen insbesondere ein: John Horne / Alan Kramer, German atrocities 1914. A history of denial, New Haven/London 2001. 11 Ulrich Herbert hat in einem viel beachteten Beitrag festgehalten, dass die deutsche Arbeitskraftpolitik während des Ersten Weltkrieges auch insofern als Probelauf für die während des Zweiten Weltkrieges praktizierten Maßnahmen aufgefasst werden könne, da sie als Fehlschlag interpretiert worden sei. Ulrich Herbert, Zwangsarbeit als Lernprozess. Zur Beschäftigung ausländischer Arbeiter in der westdeutschen Indrustrie im Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte 24, 1984, S. 285 – 304. 12 „The net result of all this flexibility and adaptability was the loss of millions of men, the expenditure of millions of shells, and the consumption of millions of tons of resources for nothing remotely resembling proportionate achievements.“ Dennis E. Showalter, Mass warfare and the impact of technology, in: Roger Chickering / Stig Förster (Hg.), Great War, total war. Combat and mobilization on the Western front, Cambridge 2000, S. 73 – 93, hier S. 82. Gerade neuere Forschungen verweisen hier auch auf die medizinisch-psychologischen Folgen und zeitgenössischen Forschungen zum Massenkrieg modernen Zuschnitts bzw. eine umfassende Diskussion über die sogenannten „Kriegsneurosen“. Hans-Georg Hofer / KaiRüdiger Prüll, Reassessing war, trauma, and medicine in Germany and Central Europe (1914 – 1939), in: dies. / Wolfgang U. Eckart (Hg.), War, trauma, and medicine in Germany and Central Europe (1914 – 1939), Freiburg 2011, S. 7 – 29; Babette Quinkert / Philipp Rauh / Ulrike Winkler (Hg.), Krieg und Psychiatrie, 1914 – 1950, Göttingen 2010; Brigitte Biwald, Von Helden und Krüppeln. Das österreichisch-ungarische Militärsanitätswesen im Ersten Weltkrieg, 2 Bde., Wien 2002. 13 Markus Pöhlmann, Von Versailles nach Armageddon. Totalisierungserfahrungen und Kriegserwartung in deutschen Militärzeitschriften, in: Stig Förster (Hg.), An der Schwelle zum Totalen Krieg. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1919 – 1939, Paderborn 2002, S. 323 – 391, hier S. 351. Gegenstand sind jedoch auch jene pazifistischen oder Veteranenverbände, die zur Erkenntnis gelangt waren, dass durch die technologischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts eine neue Qualität an Zerstörungspotenzial erreicht worden war, und entsprechenden Eindämmungstendenzen – wie in den Washingtoner Schiffsverträgen von 1922 oder dem Verbot von Giftgas. Gerhard L. Weinberg, Politics of war and peace in the 1920s and 1930s, in: Roger Chickering / Stig Förster (Hg.), The shadows of total war. Europe, East Asia, and the United States, 1919 – 1939, Cambridge/New York 2003, S. 23 – 34, hier S. 33.

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geprägt war.“14 Vor diesem Hintergrund stellt sich naturgemäß die Frage nach Gewaltkarrieren und der generationenspezifischen Verarbeitung von Gewalterfahrungen während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. In dieser immer noch kontrovers diskutierten Frage kann man zunächst Bruno Thoß mühelos folgen, wenn dieser festhält, dass für die Generationen der vor 1900 Geborenen „der epochenprägende Zusammenhang der beiden Weltkriege das eigentliche Signum erfahrener Zeit“15 gewesen sei. Entsprechend hätten die Jahre zwischen 1914 und 1918 bewirkt, so folgert auch Joachim Tauber, dass die „traumatischen Erfahrungen des Grabenkrieges […] die Kriegsgeneration [prägten], und […] (zumindest in Italien und Deutschland) eine militarisierte Gesellschaft [schufen], für die Gewaltanwendung nicht sanktioniert war.“ Viele Männer wollten und konnten auf Grund der Gewalterfahrungen „nicht mehr in eine zivile Gesellschaft zurückkehren“.16 So plausibel all diese Befunde auf den ersten Blick erscheinen, so liegt – folgt man Christian Westerhoff – noch keine Studie vor, „die umfassend untersucht, inwiefern die Verantwortlichen des Zweiten Weltkriegs Lehren aus dem Ersten Weltkrieg zogen.“17 14 Gunther Mai, Europa 1918 – 1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart 2001, S. 13. 15 Bruno Thoß, Die Zeit der Weltkriege – Epochen als Erfahrungseinheit?, in: ders. / HansErich Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn u. a. 2002, S. 7 – 30, hier S. 7. In Hinblick auf Erfahrungsperspektive und erinnerungskulturelle Verarbeitung ließe sich, so Bruno Thoß, „der zu Analysezwecken zwischen den Eckdaten 1914 und 1945 angesiedelte Wirkungszusammenhang beider Weltkriege und der dazwischenliegenden Zeit […] nicht mehr statisch zwischen diese beiden scheinbar feststehenden ,Epochengrenzen‘ zwängen.“ Ebd., S. 9. 16 Joachim Tauber, Editorial, in: ders. (Hg.), Über den Weltkrieg hinaus. Kriegserfahrungen in Ostmitteleuropa 1914 – 1921, Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte, Neue Folge 17/2008, 2009, S. 7 – 12, hier S. 7. Vgl. auch die Beiträge in Holm Sundhaussen / HansJoachim Torke (Hg.), 1917 – 1918 als Epochengrenze?, Wiesbaden 2000; Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hg.), Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Frankfurt/ Main 1996. Einige Autoren setzen den Ursprung des gewalthaften 20. Jahrhunderts noch früher an, ein Beispiel bietet Hans Maier, Potentials for violence in the nineteenth century. Technology of war, colonialism, ,the People in Arms‘, in: Totalitarian Movements and Political Religions 2/1, 2001, S. 1 – 27. 17 Christian Westerhoff, Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914 – 1918, Paderborn u. a. 2012, S. 320. Gestützt wird eine differenzierte Einschätzung auch durch Benjamin Ziemann, der nach der Auswertung von Feldpostbriefen festhält: „mit dem im Verlauf ihres Fronteinsatzes und insbesondere dem 1918 gesammelten Vorrat an Wissen über den Krieg und die Kriegsgesellschaft traten die Frontsoldaten in die Nachkriegsordnung ein. Dies hatte Auswirkungen auf ihre politische und paramilitärische Mobilisierbarkeit in der Nachkriegszeit, wie sich etwa an den Versuchen zur Freiwilligenwerbung durch die Freikorps […] zeigen lässt. […] Insgesamt führten also nicht ein gebündelter Protest oder eine revolutionäre Politisierung, sondern in erster Linie die enttäuschte Erwartung und die kollektive Erschöpfung im Herbst 1918 zum Zusammenbruch des Herrschaftssystems in der deutschen Armee an der Westfront. Die

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Gerade in Hinblick auf das östliche Europa ist der direkte Rückschluss vom Ersten Weltkrieg auf die systematische Brutalisierung, nicht nur der deutschen Wehrmacht, im Zweiten Weltkrieg daher immer wieder in Frage gestellt und eine stärkere Differenzierung angemahnt worden. Ein Anknüpfungspunkt war hier zunächst der Unterschied der Kriegsführung im Westen und im Osten.18 Einer „Kultur der Kompetenz“, der Einhegung des Krieges durch vergleichsweise stabile, wenn auch zu enormen Menschenverlusten führenden Fronten und der planerischen Bürokratisierung im Westen19 stand an den östlichen Schauplätzen des Ersten Weltkriegs eine für die neue totalisierte Kriegsführung unzureichende Infrastruktur gegenüber.20 Als Konsequenz war der Krieg zwar traditioneller und beweglicher, gleichzeitig über weite Strecken ebenfalls verlustMassenbewegung der Frontsoldaten war […] in erster Linie eine ,Friedensbewegung‘. Ihre innere ,Konsistenz‘ war mit dem Augenblick des Waffenstillstandes, der als Zielvorstellung den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Strömungen und Stimmungen innerhalb des Feldheeres bildete, bereits wieder in Frage gestellt.“ Benjamin Ziemann, Enttäuschte Erwartung und kollektive Erschöpfung. Die deutschen Soldaten an der Westfront 1918 auf dem Weg zur Revolution, in: Jörg Duppler / Gerhard P. Groß (Hg.), Kriegsende 1918. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, München 1999, S. 165 – 182, hier S. 165 f. und 181. 18 Tatsächlich ist mehrfach behauptet worden, dass gegenüber dem Stellungskrieg an den westlichen Kriegsschauplätzen die Kriegsführung im Osten weniger dem Charakter eines totalen Krieges entsprochen hätte. Siehe z. B. Andreas R. Hofmann, Reweaving the urban fabric. Multiethnicity and occupation in Łûdz´, 1914 – 1918, in: Marcus Funck / Roger Chickering (Hg.), Endangered cities. Military power and urban societies in the era of the World Wars, Boston/Leiden 2004, S. 81 – 94, hier S. 81. Die Destabilisierung der administrativen und herrschaftslegitimistischen Systeme auf dem östlichen Kriegsschauplatz sei dennoch früher und durchgreifender gewesen als im Westen, was vor allem auf die Defizite bei der „Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft, ihre unzureichende Organisation für den Krieg, vor allem aber die politische Legitimationskrise des Regimes und die politischen Polarisierungen in der Gesellschaft“ zurückzuführen gewesen sei. „Der fehlende Konsens machte das alte Regime und die Bevölkerung weniger belastbar als Gesellschaften, in denen wie in Frankreich, Großbritannien oder sogar in Deutschland ein größerer politischer Konsens und klare Feindvorstellungen herrschten. […] Die Belastungen des Krieges vertieften den soziokulturellen Gegensatz zwischen der Zensusgesellschaft und der Masse der Bevölkerung.“ Dietrich Beyrau / Pavel P. Shcherbinin, Alles für die Front. Russland im Krieg 1914 – 1922, in: Horst Bauerkämper / Elise Julien (Hg.), Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914 – 1918, Göttingen 2010, S. 151 – 177, hier S. 175. 19 Showalter, Mass warfare, S. 81. 20 Besonders anschaulich ist hier die Studie von Graydon Tunstall zum Winterkrieg 1914/15 in den Karpaten, der auf allen beteiligten Seiten etwa eine Million Tote forderte: „The Carpathian theatre lacked the railways, raods, communication lines, and other important resources necessary for maneuvering mass armies. […] Mountain warfare as characterized by the Carpathian winter offensives produced a combat experience vastly different from the trench warfare of the west. Heavy rainfall and blinding snowstorms left little time for rest or relaxation. […] Combat-induced stress causes the nervous system to alter its inner survival instinct. […] That the soldiers could not escape their fate or overcome the violence over fighting periods pushed them into states of profound emotional and physical exhaustion.“ Graydon A. Tunstall, Blood on the snow. The Carpathian Winter War of 1915, Lawrence 2010, S. 1 und 4 f.

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reich. Des Weiteren wird immer wieder auf die sprachlich und konfessionell weit heterogenere und durch (spät-)feudal-dynastische Patriotismen zusammengehaltene Bevölkerungen hingewiesen – dazu kam im Russländischen Reich noch ein systemimmanenter autoritärer Charakter politischer Herrschaft.21 Dietrich Beyrau und Pavel Shcherbinin bringen entsprechend die Folgewirkungen dieser West-Ost-Differenz in der Kriegsführung wie folgt auf den Punkt: „Im Unterschied zur Westfront war der Krieg im Osten nicht ein solcher zwischen Nationalstaaten, sondern er tobte in einem ethnisch gemischten Raum, in dem angesichts der Zerstörungen und politischen Verwerfungen Sieger und Verlierer nicht eindeutig auszumachen waren. Daher beendeten hier die Pariser Friedensverträge keineswegs die kriegerischen Auseinandersetzungen. In Gestalt von Staatsgründungs-, Grenz- und Bürgerkriegen wurden die militärischen Auseinandersetzungen mit großer Erbitterung fortgesetzt, wenn waffentechnisch auch auf einem niedrigeren Niveau als im Weltkrieg. Im nationalen Gedächtnis der betroffenen Völker – von Finnland über Russland und Polen bis zur Türkei – hinterließen diese Kämpfe tiefere Spuren als der Weltkrieg, der im Osten Europas gemeinhin als der ,vergessene Krieg‘ gilt.“22

Gewalterfahrungen reichten auch in Ostmitteleuropa in einer auslaufenden Form in die frühe Friedensordnung hinein, sie transformierten sich zudem unter den gegebenen Rahmenbedingungen in neue Formen. Alan Kramer spricht hier von einer „extensiven und entgrenzten Gewalt“, welche die neuen Staaten gekennzeichnet habe und die in manchen Regionen bis 1922 andauerte.23 Grundlegend für diese Entwicklung war die Vielzahl von Handlungsoptionen,24 die sich während des Krieges herausgebildet hatte und die in der spezifischen Situation Ostmitteleuropas in den Nachkriegsjahren in eine Vielzahl von widersprüchlichen Gewaltdispositionen mündete – was schon deshalb keinen direkten Kontinuitätsbefund zum Zweiten Weltkrieg zulässt. Die Kriegserfahrung allein, so hält etwa Julia Eichenberg zu Polen fest, könne die politische Bandbreite des individuellen und gruppenbezogenen Nachkriegsverhaltens nicht erklären: Zum einen müssten Vorkriegsprägungen sozialer und politischer Art mitberücksichtigt werden, zum anderen habe die Erfahrung des Krieges bei den meisten ehemaligen Kriegsteilnehmern einen starken Hand21 Alan Kramer, Dynamic of destruction. Culture and mass killing in the First World War, Oxford 2007, S. 278. 22 Beyrau / Shcherbinin, Alles für die Front, S. 151. 23 Kramer, Dynamic of destruction, S. 279. 24 „Gehorchen, Kämpfen und Töten gehören ebenso zum Repertoire soldatischen Verhaltens wie passive Resistenz, freiwillige Gefangennahme, Panik, unerlaubte Entfernung von der Truppe bis hin zur offenen und gewalttätigen Meuterei.“ Das besonders breite Spektrum dieser Verhaltensweisen habe in Russland nicht nur mit den Bedingungen des Stellungs- und Bewegungskriegs zu tun gehabt, sondern auch „mit den militärischen und politischen Turbulenzen“, die den Krieg an der Ostfront zunehmend kennzeichneten. Beyrau / Shcherbinin, Alles für die Front, S. 151.

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lungsantrieb freigesetzt, welcher seinen Niederschlag sowohl in Form einer kollektiven Radikalisierung als auch in der Tendenz zur grenzüberschreitenden Kooperation unter Veteranenverbänden zur Vermeidung künftiger Kriege finden konnte.25 Auch Vejas Liulevicˇius, der mit seinem Werk „Kriegsland im Osten“26 einen wesentlichen Initialbeitrag zu dieser Debatte geliefert hat, hält in Hinblick auf die deutsche Besatzungspolitik in den während der beiden Weltkriege im Osten eroberten Gebiete fest, „dass die deutsche Besatzungspolitik im Ersten Weltkrieg auf Manipulation ausgerichtet war und daher in scharfen Kontrast zu dem mörderischen Vernichtungsfeldzug des Zweiten Weltkrieges im Osten steht. Dennoch bestehen wichtige geschichtliche Verkettungen zwischen den beiden historischen Vorgängen.“27 Gerade aus dieser Perspektive wird deutlich, wie sehr die Erklärungsmuster, die am deutschen Beispiel orientiert strukturelle Gewaltkontinuitäten zwischen beiden Weltkriegen betonen, die komplexe Zwischenphase der frühen Nachkriegsgesellschaften in Ostmitteleuropa überblenden. Daher soll in diesem Beitrag davon ausgegangen werden, dass gerade die Vielzahl von Konfliktsituationen und neuartigen Feindperzeptionen, die in Ostmitteleuropa erst in den Jahren nach Kriegsende kultiviert und dynamisiert wurden, jene destabilisie25 Julia Eichenberg, Kämpfen für Frieden und Fürsorge. Polnische Veteranen des Ersten Weltkriegs und ihre internationalen Kontakte, 1918 – 1939, München 2011, S. 223. Aus den grenzüberschreitenden Kontakten zwischen Weltkriegsveteranen sei in Orientierung an französischen Beispielen ein Netzwerk entstanden, das in den 1920er Jahren ausgebaut wurde. „Auf der Grundlage der gemeinsamen Kriegserfahrung beruhte das gegenseitige Vertrauen, miteinander […] für gemeinsame Interessen zu kämpfen. Auf diese Weise führte gerade der Erste Weltkrieg nicht zu einem Bruch der internationalen Beziehungen, sondern zu ihrer Intensivierung und schließlich zur Entwicklung einer länderübergreifenden Veteranenelite.“ Ebd. 26 Vejas Gabriel Liulevicˇius, War land on the Eastern front. Culture, national identity and German occupation in World War I, Cambridge 2000. 27 Liulevicˇius unterscheidet am Beispiel der deutschen Besatzungszone im Baltikum und in Belarus drei Radikalisierungsprozesse voneinander, die langfristige Wirkungen zeigten: Erstens hätte die Praxis der Besetzung „neue Erwartungshorizonte und Handlungsmöglichkeiten“ eröffnet, da bisher völlig unbekannte Gebiete und Bevölkerungen als Objekt moderner Bevölkerungspolitik mit neuen Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten verstanden wurden. Zweitens führten der militärische Zusammenbruch und die chaotischen Umstände in den anschließenden Monaten zu einer bleibenden Radikalisierung der deutschen Negativwahrnehmung des Ostens – die Gesamtzuschreibung aller Bevölkerungsgruppen als schmutzig, ungesund und gefährlich wurde zu einer weithin geteilten Auffassung. Es war jedoch erst die dritte Phase der Radikalisierung unter den Nationalsozialisten, in der sich dieses Bild mit einem fanatischen Antisemitismus und einem biologischen Rassismus verknüpfte und, so Liulevicˇius, die „mörderische Entschlossenheit“ begründete, Osteuropa umzugestalten. Ders., Von „Ober Ost“ nach „Ostland“?, in: Gerhard P. Groß, Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, Paderborn u. a. 2006, S. 295 – 310, hier S. 295. Vgl. auch die Grundargumentation in: Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011.

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renden Impulse und Gewaltoptionen schuf, auf denen die Radikalisierungsschübe der 1930er Jahre wesentlich aufbauen konnten.28 Obwohl für viele Fälle konkrete prosopografische Untersuchungen noch immer ausstehen, kann hier die Hypothese formuliert werden, dass es höchst fraglich ist eine Gruppenidentität zwischen Weltkriegsteilnehmern und Kombattanten, die in den Kampfverbänden der Nachkriegsjahre aktiv waren, zwingend vorauszusetzen. Die Genese von paramilitärischen Gewaltgemeinschaften wurde daher durch den Ausgang des Ersten Weltkrieges zwar ermöglicht, erhielt jedoch vor dem Hintergrund der geopolitischen Neuordnung Europas vom Balkan bis Finnland, durch den umfassenden politischen Systemwechsel, über die durch Demokratisierung geweckten Erwartungen und durch die ökonomische Destabilisierung ihre eigentliche Dynamik. Insgesamt stellt sich, so Robert Gerwarth und John Horne, die Frage, „how military violence became subsumed into politics following the First World War, before being re-established into the supercharged military violence of the Second. The processes concerned were anything but linear.“29 Hier wird ein Verweis auf James Diehl zentral, der ebenfalls festhält, dass die Militarisierung politischer Mentalitäten erst unter den neuen Artikulations- und Mobilisierungsmöglichkeiten ihre eigentliche Bedeutung erhielt: „The massive mobilization of societies for the First World War brought previously passive or marginalized groups into the national economy and political arena. Postwar empowerment of previously disenfranchised groups made mass politics a reality. Wartime sacrifice combined with postwar economic difficulties created widespread disillusionment. As postwar economic difficulties mounted, the wartime practice of dividing the world into friends and foes and demonizing enemies was carried over into peacetime and furthered by the increasingly ideological nature of politics. […] Social and political opponents were seen as an existential threat and delegitimized. Com-

28 Obwohl die Tendenz zu einer Radikalisierung in Ost- und Zentraleuropa besonders deutlich zu verzeichnen ist, ist es wichtig, die gesamteuropäische Dimension dieser Prozesse zu berücksichtigen – dies kann jedoch in diesem Beitrag nicht geleistet werden. Anknüpfungspunkte hierzu bieten: Andres Kasekamp, The radical right in interwar Estonia, London 2000; Thomas Lorman, First World War soldiers in the inter-war Hungarian parliament, in: Totalitarian Movements and Political Religions 11/1, 2010, S. 89 – 101; Claudia Globisch / Agnieszka Pufelska / Volker Weiß (Hg.), Die Dynamik der europäischen Rechten. Geschichte, Kontinuitäten und Wandel, Wiesbaden 2011; Robert Gerwarth, The Central European counter-revolution. Paramilitary violence in Germany, Austria and Hungary after the Great War, in: Past and Present 200, 2008, S. 175 – 209; Julia Eichenberg, The dark side of independence. Paramilitary violence in Ireland and Poland after the First World War, in: Contemporary European History 19, 2010, S. 231 – 248. 29 Robert Gerwarth / John Horne, The Great War and paramilitarism in Europe, 1917 – 23, in: Contemporary European History 19, 2010, S. 267 – 273, hier S. 269.

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promise was ruled out. Total destruction of one’s enemies was sought. Domestic politics became infused with the attitudes and tactics associated with total war.“30

2.

Frontiers of violence und das Dilemma von Systemstabilisierung in Ostmitteleuropa bei Ende des Ersten Weltkriegs

Dieser Befund besitzt gerade für Regionen, die über längere Zeit einen der Kriegsschauplätze an der Ostfront bildeten, besondere Relevanz. Laut Mark Hatlie war der Erste Weltkrieg in Osteuropa insofern ein „ambivalentes Ereignis“, da er „kein klares Ende“ gehabt habe.31 Tatsächlich beendete der Waffenstillstand vom 11. November 1918 die kriegerischen Handlungen in der Region keineswegs, sondern ließ die Desintegration der imperialen Systeme fließend in eine allgemeine Auflösung von Ordnungs- und Legitimitätsvorstellungen übergehen. Die zum Teil existenziellen wirtschaftlichen Probleme, die in den ersten Nachkriegswintern zu erheblichen Versorgungsengpässen führten, verschärften Gruppenkonkurrenzen und beförderten geostrategisch-expansives Raumdenken ebenso wie entsprechende Gewaltaktionen.32 Insbesondere die von den Zeitgenossen so bezeichneten ,kleinen Kriege‘ um die zwischenstaatlichen Grenzziehungen bilden hier eine Einheit mit Konstellationen, die sich aus den sozialrevolutionären Stimmungen bei Kriegsende ergaben und z. B. zu den Bürgerkriegen in Finnland und im Baltikum, zum polnisch-sowjetischen Krieg und zur Auseinandersetzungen der Ungarischen Räterepublik mit seinen Nachbarn führten. Schon die weitsichtigeren Zeitgenossen sahen die Nachteile der Friedensordnung von Versailles, die sich nicht als geeignet erwies, auf der Grundlage der neu gefundenen geopolitischen Konstellation die europäische Stabilität dauer30 James M. Diehl, No more peace. The militarization of politics, in: Roger Chickering / Stig Förster (Hg.), The shadows of total war. Europe, East Asia, and the United States, 1919 – 1939, Cambridge/New York 2003, S. 97 – 112, hier S. 98. 31 Mark R. Hatlie, Riga und der Erste Weltkrieg. Eine Exkursion, in: Joachim Tauber (Hg.), Über den Weltkrieg hinaus. Kriegserfahrungen in Ostmitteleuropa 1914 – 1921, NordostArchiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte, Neue Folge 17/2008, 2009, S. 13 – 33, hier S. 13. 32 Die Agrarproduktion in Österreich erreichte 1918 nur noch die Hälfte des Vorkriegsniveaus, der Kohlebedarf konnte 1919 und 1920 nur zu einem Viertel gedeckt werden. In Ungarn erreichte die Produktion von Konsumgütern nach dem Ende der Räterepublik im Herbst 1919 nur noch 15 – 20 %, die gesamte polnische Industrieproduktion stand nur bei einem Viertel des Wertes von 1913. Vor allem Polen war bis 1924 von einer Hyperinflation betroffen. Ivan T. Berend, Decades of crisis. Central and Eastern Europe before World War II, Berkeley/ Los Angeles/London 1998, S. 224 – 226.

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haft zu sichern.33 Unter den Skeptikern befand sich auch der britische Journalist Ralph Butler, der in seinem 1919 erschienenen Buch „The New Eastern Europe“ einem breiteren englischsprachigen Publikum die neue Staatenwelt von Finnland, Estland, Lettland, Litauen über Polen bis in die Ukraine vorstellte. Er fasste seine eigenen Beobachtungen und eine Reihe von Fremdwahrnehmungen in folgendem Fazit zusammen: „Two main factors dominate the situation in all these countries. The first is Nationalism, a political movement drawing its inspiration from ideas, which were more current in the last century than this, but are by no means yet exhausted. The second is Socialism, an economic movement, in its East European development a movement of the twentieth century, first awakening to consciousness in the Russian Revolution of 1905. […] Sometimes, as in Finland, the two are in open conflict. Sometimes, as in Poland, the political dominates the economic movement. Sometimes, as in the Ukraine, the economic movement dominates the political. But more often the two are found working in combination under the influence of a common hostility to Russia.“34

Diese unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges entstandene Interpretation der politischen Lage hob bereits die beiden Ideologien hervor, die für die Entwicklung in Ostmitteleuropa die gesamte Zwischenkriegszeit hindurch (und darüber hinaus) bestimmend bleiben sollten. Dabei ist festzuhalten, dass die nationalen Ideologien zum Zeitpunkt der Staatsgründung oft einen überwiegend programmatisch-publizistischen Charakter aufwiesen und daher auf einen sehr unterschiedlichen Grad an sozialer Akzeptanz innerhalb der jeweiligen Zielgesellschaft trafen. In diesem Umfeld nahm die nationale Ideologie soziale Elemente auf, die gegen die Idee der Weltrevolution gerichtet und meist auf die agrarischen Grundlagen der jeweiligen Titularnationen zugeschnitten waren. Sie reicherten sich aber auch mit einer Reihe negativer Botschaften an, die auf die Abgrenzung zu früher dominanten Gruppen oder politischen Systemen abhoben. Verkompliziert wurde die Lage noch dadurch, dass das Kriegsende und die Auflösung der imperialen Ordnungen im Überschneidungsbereich der Vorkriegsmächte Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn mit einem Vakuum an Sicherheit und Staatlichkeit einhergingen. In vielen Fällen handelte es sich um Regionen, in denen 1918/19 das staatliche Gewaltmonopol noch nicht geklärt war bzw. in dem verschiedene Regelungskonzepte und Durchdrin33 1921 äußerte selbst der italienische Ministerpräsident Francesco S. Nitti seine skeptische Einschätzung gegenüber der neuen europäischen Ordnung: „The recent treaties which regulate, or are supposed to regulate, the relations among peoples are, as a matter of fact, nothing but a terrible regress, the denial of all those principles which had been regarded as an unalienable conquest of public right. President Wilson, by his League of Nations, has been the most responsible factor in setting up barriers between nations.“ Francesco S. Nitti, Peaceless Europe, London u. a. 1922, S. vii. 34 Ralph Butler, The new Eastern Europe, London 1919, S. 2.

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gungsstrategien miteinander konkurrierten und zur dynamischen Verquickung, Transformation und Perpetuierung von Bedrohungsszenarien und Feindmustern führten. Dies schuf aus lokaler Perspektive qualitativ neue Bedrohungsszenarien, die vormals stabile ethnische, religiöse und soziale Hierarchien nachhaltig zur Disposition stellten. Gewaltbedingte Migrationsprozesse trugen das ihre zur Zerrüttung der Beziehungen zwischen einzelnen gesellschaftlichen Gruppen in lokalen Kontexten bei. Die Übergabe der administrativen Verantwortung von den imperial-staatlichen Behörden an nationale Räte und lokale Bürgerwehren überführte daher die bisher mit politischen und publizistischen Mitteln ausgetragenen Interessengegensätze in gewalthafte Gruppenkonflikte, die vielfach eine regionale Gewaltspirale in Gang setzten. Aus ethnischen Kontaktzonen wurden dadurch gewaltoffene Räume, in denen sich Konstellationen des offenen oder latenten Bürgerkriegs entwickelten. Insbesondere spätere Grenzregionen, wie z. B. Oberschlesien, Ostgalizien, Südkärnten, das Burgenland oder das gesamte Baltikum, verwandelten sich für einige Zeit zu „frontiers of violence“,35 d. h. zu Räumen von Gewaltkulturen, die auf einer Eskalationsspirale aufbauten und in denen einzelnen Gewaltgemeinschaften eine oft auch ereignisbestimmende Funktion zukam.36 Für die Jahre des Übergangs lässt sich daher von der enthemmenden Wirkung wechselseitig kommunizierter Kriegs- und Nachkriegserfahrung ebenso ausgehen wie von der Wechselwirkung zwischen individueller Gewaltdisposition und Dynamiken kollektiver Gewaltausübung. Eine „reguläre“ Gewalterfahrung im Krieg verband sich mit einem exzessiven Vorgehen, das auch auf der Antizipierung von möglicher gegnerischer Gewalt aufbaute. Die Motive waren hier vielfältig: Sie reichten vom Selbstschutz in einer unübersichtlichen und innenwie außenpolitisch ergebnisoffenen Situation über die Disziplinierung bzw. Drangsalierung politischer Gegner und exponierter Bevölkerungsgruppen bis hin zum forcierten Vorantreiben expansiver Strategien und ideologischer 35 Vgl. K. T. Wilson, Frontiers of violence. Conflict and identity in Ulster and Upper Silesia, 1918 – 1922, Oxford 2010; Annemarie H. Sammartino, The impossible border. Germany and the East, 1914 – 1922, Ithaca/London 2010. So wechselte im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen der deutschen, ukrainisch-nationalen, polnischen und der Roten Armee Kiew zwischen 1918 und 1920 ganze 16 Mal den militärischen Besitzer. Kramer, Dynamic of destruction, S. 292. 36 Hierfür lässt sich Rudolf Höß, den späteren Lagerkommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz, anführen, der diese Gewaltdynamik mit folgenden Worten beschrieb: „Die Kämpfe im Baltikum waren von einer Wildheit und Verbissenheit, wie ich sie weder vorher noch nachher in all den Freikorpskämpfen erlebt hatte. Eine eigentliche Front gab es kaum, der Feind war überall. Und wo es zum Zusammenstoß kam, wurde es eine Metzelei bis zur restlosen Vernichtung. […] Ich glaubte damals, dass es eine Steigerung menschlichen Vernichtungswahns nicht mehr geben kann.“ Zitiert nach Liulevicˇius, Von „Ober Ost“ nach „Ostland“?, S. 306.

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Konzepte. Ausdrucksformen waren präventive Gewalt gegen Sachen, Personen und Gruppen, die Gewaltmarkierung des öffentlichen Raumes zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung oder die Selbstlegitimation von Kriegsheimkehrern, den im Besatzungsgebiet verbliebenen Soldaten oder neu zusammengesetzten Verbänden mit dem Ziel, an Stelle der untergegangenen Ordnung ein neues politisches System zu repräsentieren. Es fehlt in Ostmitteleuropa nicht an lokalen Beispielen aus den Jahren zwischen 1917 und 1922, in denen dieser Mechanismus deutlich zum Tragen kommt. So zeigt Christoph Mick am Beispiel von Lemberg (Lwûw/L’viv) die komplexe Dreiecksbeziehung, in der die abtretenden österreichisch-kaiserlichen Autoritäten und die miteinander in nationaler Konkurrenz stehenden polnischen und ukrainischen Bewegungen standen: Fragen der zukünftigen Staatlichkeit und der nationalen Prägung staatlicher Strukturen vermischten sich mit der Sicherstellung von Recht und Ordnung in der zu erwartenden Übergangszeit. In der Grauzone zwischen legaler und faktischer Machtübernahme waren es nicht nur hier die jüdischen Gemeinden vor Ort, die von allen Seiten Anfeindungen bis hin zu Pogromen erdulden mussten.37 Auch allgemein waren die Prosperitäts- und Partizipationsversprechen mit Gewalterfahrungen verknüpft, die bereits deutlich außerhalb der zeitlichen Reichweite des Ersten Weltkriegs zu liegen kamen und mit der Vorstellung des Neubeginns verknüpft waren. So gaben sich die meisten neuen Staaten Ostmitteleuropas, so Erwin Oberländer, in Abgrenzung zu den imperialen politischen Systemen „ausgesprochen liberale, ja antiautoritäre Verfassungen […], in denen die dominierende Rolle der Parlamente gegenüber den Regierungen festgeschrieben war.“ Mit Polen als teilweiser Ausnahme hätten diese Staatsverfassungen den aktuellen Gesellschaftsstrukturen jedoch kaum entsprochen, „d. h. die Parlamente konnten der ihnen zugewiesenen Führungsrolle aufgrund fehlender politisch-kultureller Traditionen, vielfältiger sozialer und nationaler Gegensätze, mangelhaft entwickelter Trägerschichten der Titularnationen sowie äußerst zersplitterter Parteiensysteme und entsprechend häufig wechselnder Regierungen nicht gerecht werden.“38 Dieter Segert sieht wiederum drei Gründe für die politische Instabilität der 37 „Jüdische Politiker und Honoratioren mussten in diesen Wochen und Monaten nicht nur um ein Ende der Übergriffe und Diskriminierungen kämpfen. Sie rieben sich auch im Kampf gegen Schuldzuweisungen auf. Der Pogrom erschütterte auch das Selbstverständnis der jüdischen Polen. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass es im zivilisierten Lemberg mit seiner langen Tradition friedlicher Konfliktaustragung zu solchen antisemitischen Gewaltexzessen kommen würde.“ Christoph Mick, Kriegserfahrung in einer multiethnischen Stadt. Lemberg, 1914 – 1947, Wiesbaden 2010, S. 247. 38 Erwin Oberländer, Die Präsidialdiktaturen in Ostmitteleuropa – ,Gelenkte Demokratie‘?, in: ders. (Hg.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919 – 1944, Paderborn u. a. 2001, S. 3 – 17, hier S. 5.

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Staaten Ostmittel- und Südosteuropas in der Zwischenkriegszeit:39 Als erstes nennt er die Labilität staatlicher Institutionen. Die rasche Einführung des allgemeinen Wahlrechts habe die Partizipationsmöglichkeiten schneller anwachsen lassen, so Segert, als die Fähigkeit der Regierungsinstitutionen, die gesellschaftlichen Widersprüche zu integrieren. Dies führte dauerhaft zu unsicheren parlamentarischen Mehrheiten und einer systemischen Instabilität der Regierungsfähigkeit, da die schnelle Aufeinanderfolge von Koalitionsregierungen die Exekutive schwächte.40 Potenziert wurde dies, zweitens, durch die Schwäche staatlicher Akteure und das in den meisten Ländern eingeführte uneingeschränkte Verhältniswahlrecht, das die Bildung stabiler Mehrheiten deutlich erschwerte.41 Als dritten Grund führt Segert den Mangel an sozialer Integration innerhalb der jungen Nationalstaaten an. Zu Buche schlugen hier auch die Regionen, aus denen die meisten der neuen Staaten zusammengesetzt waren und die weder rechtlich, ökonomisch, infrastrukturell noch identitätspolitisch eine Einheit darstellten. Die unter diesen Bedingungen staatlicherseits forcierte Modernisierung schuf daher fast zwangsläufig scharfe soziale Konflikte. All dies bedingte, dass die Unterstützung der Akteure für das neue demokratische System nachließ, sobald sich in ihrer Wahrnehmung sein Nutzen für die Verwirklichung eigener Interessen verringerte. Die antidemokratischen Eliten hatten nur Erfolg, so bilanziert Segert, „weil es weite Teile der Bevölkerung gab, die mit der Leistungsfähigkeit der demokratischen Ordnung unzufrieden waren.“42 39 Dieter Segert, Die Grenzen Osteuropas. 1918, 1945, 1989 – drei Versuche im Westen anzukommen, Frankfurt/Main/New York 2002, S. 45 – 48. 40 So hält Inesis Feldmanis am Beispiel Lettlands fest, dass viele Normen und Prinzipien der politischen Gesellschaftsordnung „mechanisch aus Verfassungen westlicher Staaten entlehnt“ worden waren: Die lettische Verfassung vom 15. Februar 1922 wies nach dem schweizerischer Modell viele Aspekte der direkten Demokratie auf und war im Vergleich zum Vorgängerregime entsprechend radikaldemokratisch ausgestaltet. Die infolgedessen ins Parlament gewählten „Miniparteien“ funktionierten vor allem als partikulare Interessengruppen mit einem oder zwei Abgeordneten und hätten demzufolge im Saeima, dem lettischen Parlament, eine überwiegend destruktive Rolle gespielt. Der nachlassende Respekt vor der demokratischen Ordnung sowie die wachsenden Aktivitäten verschiedener extremistischer Kreise fanden eine Entsprechung darin, dass viele Politiker Lettlands nach wie vor in autoritären oder linksradikalen Kategorien dachten. Daher hätten, so Feldmanis, die politischen Ambitionen der Parteien und ihre Kurzsichtigkeit insgesamt dazu geführt, dass sich in Gestalt der Schutzkorps eine starke militärische Formation herausbildete, „die sich faktisch in den Händen einer Partei – des Bauernbundes – befand.“ Inesis Feldmanis, Umgestaltungsprozesse im Rahmen des Ulmanis-Regimes in Lettland 1934 – 1940, in: Erwin Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südeuropa, Paderborn u. a. 2001, S. 218. 41 So gab es beispielsweise in Lettland von April 1920 bis Mai 1934 ganze 15 Regierungen, in Estland regierten zwischen 1919 und 1923 sogar 21 Kabinette. Ebd., S. 215, 217; Oberländer, Präsidialdiktaturen in Ostmitteleuropa, S. 12. 42 Segert, Grenzen Osteuropas, S. 46. Vgl. auch Roger Griffin, Modernism and fascism. A sense of a beginning under Mussolini and Hitler, Basingstoke 2007.

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Dadurch wurde auch außerhalb Russlands, in dem die bolschewistische Linke nur durch exzessiven Gewalteinsatz aus dem Bürgerkrieg als Sieger hervorging, ein wesentliches Funktionsprinzip partizipativer Demokratie – die Dialog- und Kompromissfähigkeit einer nach politischen Parteien organisierten Vertretung der Interessen der Bevölkerung – immer wieder in Frage gestellt. Entsprechend kam es in Ost- und Südosteuropa seit Mitte der 1920er Jahre schließlich zu Staatsstreichen mit dem Ziel der Errichtung einer Diktatur zur Rettung und Erneuerung von Nation und Staat. Legitimiert wurde dies meist mit der angeblich akuten Bedrohung durch linke oder rechte Extremisten, mit der mangelnden wirtschaftlichen Stabilität oder mit der Bedrohung der Unabhängigkeit von außen.43 Dies war der Rahmen, in dem Strategien zur Überwindung einer prekären politischen Situation den Einsatz von Gewaltgemeinschaften zur Stabilisierung des politischen Systems naheliegend erscheinen ließen. In diesem Sinne ist auch Stanley G. Payne zu verstehen, der zu den faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit festhält: „fascist movements and regimes (with some minor exceptions) placed a high positive evaluation on violence, emphasizing its necessary creative role as intrinsic to their doctrine of a ,new man‘, and usually proclaimed national war at the highest commitment and test of a nation.“44

3.

Komplexe Systemkonsolidierung in Litauen und die paramilitärische Organisation „Eiserner Wolf“

All dies traf auch auf Litauen zu, das sich nach den politisch komplizierten und gewalthaften Nachkriegsjahren als posttraumatische Gesellschaft charakterisieren lässt, was sich durch eine politisch-legitimatorische, ökonomische und kulturelle Destabilisierung äußerte. Die sich im öffentlichen wie im privaten Bereich manifestierende Gewalt war entsprechend ein Hauptkatalysator des dramatischen Wandels.45 Hinzu tritt der Umstand, dass die litauische Gesell43 Oberländer, Präsidialdiktaturen in Ostmitteleuropa, S. 5. Der britische Historiker Roger Griffin argumentiert, dass unter anderem der Anspruch auf politische Erneuerung („renewal“) und Neuerweckung („regeneration“) – nach Griffin auch „palingenesis“ dazu führte, dass innerhalb der nationalen und ethnisch-sprachlichen Gruppen nach dem Ersten Weltkrieg faschistische Bewegungen überall in Europa in einem rasanten Aufschwung begriffen waren. Roger Griffin, The nature of fascism, London 1991; Matthew Feldman (Hg.), A fascist century. Essays by Roger Griffin, Basingstoke 2008. 44 Stanley G. Payne, A history of fascism, 1914 – 1945, Madison 1995, S. 355. 45 Vgl. hierzu u. a. George L. Mosse, Shell-shock as a social disease, in: Journal of Contemporary History 35, 2000, S. 101 – 108; Ginta Bru¯mane-Gromula, Violence as political agitation. The example of political posters in Latvia, 1920 – 1934, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 60, 2011, S. 539 – 570; Emily R. Gioielli, The enemy at the door. Revolutionary

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schaft in den frühen 1920er Jahren durch eine scharfe Polarisierung des politischen Spektrums gekennzeichnet war. Auf dem äußersten linken Rand war die aus dem Untergrund heraus agierende Kommunistische Partei einzuordnen, dann folgten die Sozialdemokraten und die Litauische Agrarische Volksunion (Lietuvos Valstiecˇiu˛ Liaudininku˛ Sa˛junga). Im rechten Lager dominierten zunächst zwei Gruppen: die Nationale Fortschrittspartei (Tautos Pazˇangos Partija), die 1924 zur Litauischen Tautininkai Union (Lietuvos Tautininku˛ Sa˛junga) umgeformt wurde, und der Christdemokratische Block, der sich seinerseits ¯ kiwiederum aus Christdemokraten, der Litauischen Bauernunion (Lietuvos U ninku˛ Sa˛junga) und dem Litauischen Arbeitsbund (Lietuvos Darbo Federacija, ab 1934 Lietuvos kriksˇcˇioniu˛ darbininku˛ sa˛junga – Litauische Christliche Arbeiterunion) zusammensetzte. Beide Lager verfolgten ein entgegengesetztes Konzept der Nation: Die Rechte betrachteten diese vor allem als eine ethnische Einheit und hoben auf die Förderung gleichsam objektiver Eigenschaften ab. Die Linke wiederum ging von der Gesamtbevölkerung des Staates aus, die mit Hilfe sozialistischer Reformen, wenn nötig auch unter Anwendung von Gewalt, umgestaltet werden sollte.46 Zu dieser polarisierten innenpolitischen Lage traten noch erschwerend die fortbestehende Staatsferne vor allem der ländlichen Bevölkerung und die Vielzahl von regionalen und sozialen Räumen defizitärer Staatlichkeit. Schließlich beeinträchtigte auch die außenpolitische Lage den Konsolidierungserfolg. Galten die baltischen Staaten insgesamt als geopolitisch exponierte Kleinstaaten, die aus eigener Kraft kaum überlebensfähig sein würden,47 verkomplizierte der Verlust der deklarierten Hauptstadt Vilnius (Wilna/Wilno) die Lage Litauens noch zusätzlich. Die Stadt war nach wechselvoller Besatzung durch Deutsche, Litauer, die Rote Armee und Polen nach dem Beschluss der alliierten Botschafterkonferenz am 15. März 1923 entgegen ursprünglichen Absprachen bei Polen verblieben. Obwohl es angesichts der ungleichen Kräfteverhältnisse gegenüber Polen keinen Versuch zu einer militärischen Eroberung gab, wurde die gesamte Zwischenkriegszeit hindurch das Schlagwort von der Wiedergewinnung von Vilnius („Wir werden ohne Vilnius keine Ruhe geben“, Mes be Vilniaus nenurimsim) in Massenmedien, politischen Reden und öffentlichen Verlautbarungen präsent gehalten.48 struggle in the Hungarian domestic sphere, 1919 – 1926, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 60, 2011, S. 519 – 538. 46 Raimundas Lopata, Die Entstehung des autoritären Regimes in Litauen 1926. Voraussetzungen, Legitimierung. Konzeption, in: Erwin Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südeuropa, Paderborn u. a. 2001, S. 103 – 104. 47 Vgl. hierzu die Beiträge im Sammelband John Hiden / Alexander Loit (Hg.), The Baltic in international relations between the two World Wars, Stockholm 1988. 48 Zur Vilniusfrage und zu den Beziehungen zwischen Polen und Litauen in der Zwischen-

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Angesichts dieser Integrationsprobleme erreichten die politischen Animositäten und die allgemeine Aggressivität im Vorfeld der Parlamentswahlen von 1922 in Litauen ihren ersten Höhepunkt.49 Bereits in diesem Umfeld kam es auch zur Organisation von rechtsradikalen Gruppenstrukturen, die nach Februar 1923 Vandalenakte in Kaunas und anderen litauischen Städten initiierten. Diese betrafen vor allem die litauischen Juden, die bis zum Ersten Weltkrieg Polnisch und Russisch als Umgangssprachen benutzten, was ihnen nun als emotionale Distanz zum Staat und als Schmähung oder Illoyalität dem jungen Nationalstaat gegenüber ausgelegt wurde.50 In Vilnius hatten im Januar 1919 nach Ankunft der polnischen Armee in der Stadt dreitägige Pogrome bereits über 60 und in der Kleinstadt Lida bei Vilnius allein 37 Todesopfer gefordert.51 1923 richteten sich nun antisemitische Ausschreitungen in der Hauptstadt Kaunas vorgeblich gegen die fehlende Beschriftung jüdischer Läden in litauischer Sprache.52 Begleitet wurde dies durch aggressive Flugblätter, die sowohl gegen Juden als auch gegen das linke Lager gerichtet waren. Diese waren zwar von einem „Litauischen Obersten Faschistischen Komitee“ unterzeichnet, ihre Kernforderungen wurden aber auch von der christdemokratischen Presse unterstützt, die Akte des exzessiven Patriotismus als „Bubenstreiche“ bezeichnete.53 Obwohl eine bewusst herbeigeführte Aufstachelung ethnischer Gegensätze seit März 1923 unter Androhung von Gefängnisstrafen offiziell verboten war, setzten die sogenannten

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kriegszeit siehe: Alfred Erich Senn, The Great Powers, Lithuania and the Vilna question, 1920 – 1928, Leiden 1966; Regina Zˇepkaite˙, Diplomatija imperializmo tarnyboje. Lietuvos ir Lenkijos santykiai 1919 – 1939 [Diplomatie im Dienste des Imperialismus. Polnisch-litauische Beziehungen 1919 – 1939], Vilnius 1980. Ähnliche Taktiken einer aggressiven politischen Rhetorik wurden, wenn auch in kleinerem Rahmen, vor allem von den litauischen Christdemokraten bereits während der allerersten Parlamentswahlen 1920 angewandt. V. Sirutavicˇius, Lithuanian administration and participation of Jews in the elections to the constituent Seimas, in: ders. / D. Staliu¯nas (Hg.), A pragmatic alliance. Jewish-Lithuanian political cooperation at the beginning of 20th century, Budapest/New York 2011, S. 196 – 197. Vgl. Sˇarunas Liekis, A state within a state? Jewish autonomy in Lithuania 1918 – 1925, Vilnius 2003. Leo Cooper, In the shadow of the Polish eagle. The Poles, the Holocaust and beyond, Basingstoke/New York 2000, S. 44. Joachim Tauber, Antisemitismus in den baltischen Staaten in der Zwischenkriegszeit am Beispiel Litauens, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 54, 2005, S. 25 – 35, hier S. 28 – 30. Im Hintergrund standen neue Formen der ökonomischen Konkurrenz, da das unter staatlicher Förderung entstehende litauische Unternehmertum auf eine alteingesessene Schicht jüdischer Kaufleute traf. Das Organ des Verbands der litauischen Geschäftsleute, Industriellen und Handwerker „Verslas“ arbeitete mit den üblichen antijüdischen Stereotypen des verschlagenen Juden, der die litauische Kundschaft ausbeute, sowie mit der These, dass jüdische Geschäftsleute die Modernisierung des Landes verhindern und die internationale Konkurrenzfähigkeit des Landes unterbinden würden. Ebd. Lietuvos valstybe˙s lietuvisˇkumas [Der litauische Charakter des litauischen Staates], in: Liasve˙ [Freiheit] 36, 13. 2. 1923.

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„Christlich-Faschistischen“ ohne größere Unterbrechungen ihre Aktivitäten fort.54 Nach dem Wahlsieg der Christdemokraten bei den zweiten Parlamentswahlen im Mai 1923 schien es zunächst, als ob der radikalaktivistische Flügel wieder in den Hintergrund treten würde, nicht zuletzt da sein vorrangiges Ziel, auf die Wahlberechtigten im Sinne des Christdemokratischen Blocks Druck und Terror auszuüben, den gewünschten Effekt erzielt hatte. Im Gegenzug setzten die Christdemokraten nun die Forderungen der radikalen Rechten Zug um Zug um: Die Kulturautonomie der Minderheiten erfuhr nach nur zwei Jahren erhebliche Einschränkungen, und eine ganze Reihe von Gesetzen verfügte Maßnahmen zur sprachlichen Lithuanisierung des öffentlichen Raums. Dennoch erwies es sich in langfristiger Perspektive als zu schwierig, die radikal-patriotische und nationalistische Jugend dauerhaft unter Kontrolle zu halten. Dies zeigte sich vor allem in eigenständigen Vandalismusaktionen, zum Beispiel dem fortgesetzten Überschwärzen von Aufschriften in nichtlitauischer Sprache im öffentlichen Raum noch vor dem Inkraftsetzen der entsprechenden gesetzlichen Verfügung im Jahr 1924.55 Die wenigen Gewalttäter, die überhaupt verhaftet worden waren, setzten sich aus Priestern oder Personen zusammen, die in einem Naheverhältnis zum Militär oder zu den Christdemokraten standen – keiner von ihnen wurde auf der Grundlage der vorgelegten Beweise rechtskräftig verurteilt.56 Durch den unerwarteten Wahlsieg einer Koalition zwischen der politischen Linken und einigen Minderheitenparteien bei den dritten litauischen Wahlen im Mai 1926 sahen sich die Christdemokraten offensichtlich gezwungen, ihren rechtsradikalen Untergrund erneut zu aktivieren. Unterstützt wurden diese Aktivitäten auch durch einige prominente Vertreter der litauischen Intelligenz und des Militärs. Initiativen der neuen Regierung zur Stärkung der bürgerlichen Grundrechte und zur Säkularisierung des Staatswesens trafen auf die starke Opposition der früheren Machteliten, so dass der Christdemokratische Block allein zwischen Juni und Dezember 1926 insgesamt 13 Misstrauensanträge gegen 54 Lietuva [Litauen] (1923) ,Kauno Miesto ir Apskrities Virsˇininko skelbimas‘ [Verlautbarung des Kommandanten der Stadt und Region Kaunas], 10. 3. 1923. 55 Lietuva [Litauen] (1924) ,Kauno kronika. Isˇkabu˛ uzˇtepimas‘ [Eine Chronik von Kaunas. Das Beschmieren von Schildern], 16. 10. 1924. 56 Vgl. Alfonsas Eidintas, Politiniu˛ partiju˛ pozˇiu¯ris ˛i ultraradikalu˛ atsiradima˛ Lietuvoje 1923 – 1927 m. [Die Einstellung politischer Parteien gegenüber dem Auftauchen der Ultraradikalen in Litauen 1923 – 1927], in: Lituanistica 3, 1993, S. 26 – 37; V. Sirutavicˇius, ,Kova uz lietuviu kalbos teisis‘, arba dar karta˛ apie „murzintoju˛“ byla˛ (antisemitizmas ir jo raisˇka Lietuvos viesˇajame gyvenime 1922 – 1924 m.) [,Der Kampf für die Rechte der litauischen Sprache‘, oder noch einmal über den ,Schmierer‘-Prozess (Der Antisemitismus und sein Auftreten in der litauischen Öffentlichkeit 1922 – 1924)], in: Lietuvos Istorijos Metrasˇtis 2010/2, 2011, S. 51 – 76; Vytautas Petronis, The emergence of Lithuanian radical right (1922 – 1927), in: Journal of Baltic Studies [2013, im Erscheinen].

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die neue Regierung im Parlament einbrachte.57 Gleichzeitig stärkte die neue Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit auch die extremen Nationalisten. Die erste pro-faschistische Wochenzeitung „Der Wille des Volkes“ (Tautos valia), die seit November 1926 erschien, war offen antidemokratisch, antiparlamentaristisch, antisemitisch und xenophob eingestellt und rief offen zum Ungehorsam gegen die Regierung auf.58 Studentendemonstrationen wurden wiederum unter exzessiver Anwendung von Gewalt aufgelöst, was die Regierung unter ihren Anhängern in Misskredit brachte. Pläne zu einem Putsch führten schließlich zu einem gemeinsamen Vorgehen zwischen den Christdemokraten und dem politischen Lager der Tautininkai. Die Putschpläne der Rechten waren der Polizei und dem Sicherheitsdient zwar bekannt, Präsident Kazys Grinius und die Regierung schenkten diesen Nachrichten jedoch keinen Glauben.59 Am 17. Dezember 1926 setzte eine Gruppe von Militärs spätabends die Regierung und den Präsidenten ab und proklamierte die Diktatur. Die Macht übergab sie jedoch nicht an die Christdemokraten, sondern an die Tautininkai – mit Antanas Smetona als Präsident und Augustinas Voldemaras als Ministerpräsident.60 Das Denken der Tautininkai war von Beginn an von einem „Unbehagen an der Moderne“ gekennzeichnet gewesen, und jede Art von sozialem oder politischem Konflikt erfuhr gerade von Seiten Smetonas eine ausgesprochen negative Bewertung.61 Der autoritäre Charakter des neuen Regimes und entsprechend die 57 Liudas Truska, Antanas Smetona ir jo laikai [Antanas Smetona und seine Zeit], Vilnius 1996, S. 158 f. Offensichtlich wurden zwei unterschiedliche Putschvorhaben vorbereitet, eines durch die zivilen und militärischen Unterstützer der Christdemokraten und ein zweites durch eine Gruppe von Armeeangehörigen mit engen Verbindungen zu Smetonas and Voldemaras’ Tautiniankai. Die Initiatoren beider Initiativen einigten sich Anfang Oktober auf ein Zusammenführen. Petronis, The emergence. 58 Diese Zeitung wurde fast vollständig von den Christdemokraten und ihren Unterstützern finanziert, eine Reihe prominenter Politiker und Intellektueller trugen anonym oder unter Pseudonym wöchentlich zum Inhalt bei. So waren in der Nummer 6 der Tautos Valia u. a. vertreten: Der Abgeordnete MP und frühere Außenminister Antanas Endziulaitis (1895 – 1942) (unter dem Pseudonym Grigas), als Chefredakteur Major Tomkus, die Schriftstellerin und Publizistin Ona Pleiryte˙-Puidiene˙ (1882 – 1936) und der Student Povilas Sˇtuopis (1907 – 1936). Bericht eines Informanten, Lietuvos Centrinis Valstybe˙s Archyvas [Litauisches Zentrales Staatsarchiv ; im Folgenden LCVA] 378 – 5 – 1040, S. 34 – 35. 59 Kazys Grinius, Apie 1926 metu˛ gruodzˇio 17-tos dienos perversma˛ [Über den Staatsstreich vom 17. Dezember 1926], in: Alfonsas Eidintas, Kazys Grinius. Ministras pirmininkas ir prezidentas [Der Ministerpräsident und der Präsident], Vilnius 1993 [Wiederabdruck von Literatu¯ra, Chicago 1954, S. 205 – 285], S. 175. 60 Der Putsch wurde von einer Geheimorganisation, bekannt unter dem Namen „Geheimbund der Offiziere“ (Slapta Karininku˛ Sa˛junga – S.K.S.) unter der Führung von Colonel Vladas Skorupskis (1895 – 1959) durchgeführt. Interessante Rückschlüsse erlauben die Erinnerungen: Colonel [V.] Skorupskis, La R¦surrection d’un Peuple 1918 – 1927. Souvenirs d’un t¦moin des ¦v¦nements militaires en Lithuanie, Paris 1930. 61 Volker Blomeier, Litauen in der Zwischenkriegszeit. Skizze eines Modernisierungskonflikts, Münster 1998, S. 45.

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Sistierung der demokratischen Systemgrundlagen wurden in Litauen jedoch erst schrittweise deutlich. Nach Dezember 1926 war das Regime zunächst noch darum bemüht, die „Fiktion der Verfassungsmäßigkeit“ zu wahren. Erst am 12. April 1927 wurde der Bruch offensichtlich, da nun das Parlament aufgelöst und keine Neuwahlen mehr ausgeschrieben wurden, am 15. Mai 1928 war er schließlich mit der neuen autoritären Verfassung endgültig vollzogen.62 In ihrer Regierungserklärung vom 25. Februar 1927 ließ das neue Regime gemäß seiner außenpolitischen Leitlinie auch verlauten, dass „Litauen ohne Wilna keinen einheitlichen und vollständigen Organismus darstellt“.63 Wie Regina Zˇepkaite festhält, wurde spätestens jetzt das Wilnaproblem „als Propagandamittel für die Einheit der Nation verwendet, in der Presse wurde der Gedanke hervorgehoben, dass Zersplitterung […] sowie Angriffe gegen die Regierung der Befreiung von Wilna größten Schaden zufügen würden.“64 Da der politische Rückhalt der Tautininkai in der litauischen Bevölkerung vergleichsweise gering war, diskutierten Präsident Smetona und Ministerpräsident Voldemaras mit weiteren Anhängern zu Jahresbeginn 1927 insgeheim die Möglichkeiten der Gründung einer paramilitärischen Geheimorganisation mit dem Ziel, die Situation nach dem Putsch zu stabilisieren und das neue Regime vor weiteren Umsturzversuchen zu bewahren. Grundlage für entsprechende Überlegungen und Legitimationsstrategien waren dabei die schon angesprochenen Funktionsprobleme des parlamentarisch-demokratischen Systems in Litauen, vor allem die unter den Putschisten weit verbreitete Ansicht, dass sich die Parteien noch nicht als reif für das politische System erwiesen hätten. Stattdessen solle das politische System auf dem Prinzip der „beschränkten Demokratie“ (apibre˙zˇta demokratija) basieren, von der aus die neue Ordnung aufzubauen sei.65 Als Vorbild diente zu einem gewissen Grad das italienische Regierungsmodell: Der Führer der Nation (Tautos Vadas), Präsident Smetona, sollte in Anlehnung an Victor Emmanuel III. eher symbolische Funktionen ausfüllen, und ein Großteil der Regierungsverantwortung lag in den Händen von Premierminister Voldemaras, einem großen Bewunderer Mussolinis, der als Minister phasenweise zwei oder drei Ressorts gleichzeitig vorstand. Voldemaras war auch die treibende Kraft bei der Gründung einer Organisation mit der Kurzbezeichnung „Eiserner Wolf“, die als persönliche Armee des Ministerpräsidenten gedacht war. Die gesetzlichen Vorbereitungen dafür waren Mitte 1929 bereits in vollem Gange, und parallel dazu zirkulierte eine Über62 Lopata, Entstehung des autoritären Regimes, S. 101 f. 63 Zitiert nach: Regina Zˇepkaite˙, Die fehlende Hauptstadt. Litauens Politik im Zeichen der Wilnafrage, in: Nordost-Archiv 2/2, 1993, S. 299 – 316, hier S. 305. 64 Ebd., S. 306. 65 Jonas Pyragius, Kovosiu kol gyvas. Atsiminimai [Ich werde kämpfen so lange ich lebe. Memoiren], Kaunas 1993, S. 58 – 59.

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setzung des Programms der italienischen Faschisten im Generalstab und unter den lokalen Führern des Eisernen Wolfes, was darauf schließen lässt, dass es intensive Diskussionen um die Frage einer Übertragung von Doktrin- und Systemkomponenten des italienischen Faschismus nach Litauen gegeben haben muss.66 Über Mitglieder, die in Italien studiert hatten, kommunizierte der Eiserne Wolf auch mit den italienischen Faschisten. Der Umstand, dass die meisten Mitglieder des Eisernen Wolfes einer radikal rechten Gesinnung anhingen, erleichterte jedoch auch die Kommunikation mit paramilitärischen Verbänden in jenen ostmitteleuropäischen Ländern, mit denen Litauen keine territorialen Konflikte austrug.67 Auch lassen sich einzelne Versuche feststellen, mit Veteranengruppen und paramilitärischen Kreisen in der Weimarer Republik in Kontakt zu treten – konkretere Hinweise gibt es auf eine Zusammenarbeit höherrangiger Vertreter des radikalen Flügels mit dem Stahlhelm, etwa in Hinblick auf die Produktion und den Schmuggel von illegal hergestellten Waffen.68 Der Name des Verbandes ist eng mit dem Mythos der Gründung von Vilnius verknüpft, da an der Stelle, an der später die Burg entstand, dem litauischen König Gediminas ein solches Tier aus Eisen erschienen sein soll.69 Laut Statuten

66 Tautos Apsaugos ,Gelezˇinis Vilkas‘ ˛Istatymas [Die Nationalverteidigung ,Eiserner Wolf‘. Gesetz], LCVA, 563 – 1 – 4, S. 173. Fasˇistu˛ Partijos Statutas [Die Statuten der Faschistischen Partei], LCVA 507 – 3 – 113, S. 62 – 63. 67 Belegen lassen sich Kontakte zu entsprechenden Formationen vor allem in Estland, Lettland und Finnland. Enge Verbindungen bestanden nach Lettland zum Lettischen Nationalistischen Club (Latvju Nacionalais Klubs) und zu den paramilitärischen Organisationen der Feuerkreuzler (Ugunskrusts). 68 Valentinas Gustainis, Nuo Grisˇkabu¯dzˇio iki Paryzˇiaus. Atsiminimai apie Lietuvos spauda˛, jos darbuotojus (1915 – 1940) ir Lietuvos rasˇytojus (1924 – 1966) [Von Grisˇkabu¯dis bis Paris. Memoiren über die litauische Presse, ihre Arbeiter (1915 – 1940) und die litauischen Schriftsteller (1924 – 1966)], Kaunas 1991, S. 104 – 107. 69 Die alten und neuen Statuten finden sich in: Lietuvos Tautine˙s Apsaugos ,Gelezˇinio Vilko‘ statutas [Die Statuten der Nationalverteidigung Litauens ,Eiserner Wolf‘], LCVA, 563 – 2 – 40; Lietuvos Tautine˙s Apsaugos „Gelezˇinis Vilkas“ statutas [Die Statuten der Nationalverteidigung Litauens „Eiserner Wolf“], LCVA, 563 – 1 – 2, S. 1. Ergänzt werden muss an dieser Stelle, dass eine Organisation gleichen Namens nach der Besetzung Litauens durch die Wehrmacht 1941 neu gegründet wurde und die führenden Mitglieder auch aus dem Einzugsbereich des Eisernen Wolfes der 1920er Jahre stammten. Dennoch bestand eine direkte personelle Kontinuität zwischen beiden Organisationen nur in sehr bedingter Form, da die ehemalige Führungsriege des ursprünglichen Eisernen Wolfes 1940 – soweit sie sich nicht ins Exil abgesetzt hatte – weitgehend verhaftet und gefangen gesetzt worden war. So starb Voldemaras 1942 in einem sowjetischen Gefängnis. Der Chef des Generalstabs des Eisernen Wolfes, Algirdas Sliesoraitis, wurde nach Sibirien deportiert, wo er 1975 starb. Jedoch auch die ideologische Grundlage der Nachfolgeorganisation war deutlich anders. Während sich der Eiserne Wolf der 1920er Jahre am italienischen Faschismus orientierte und zum Ziel setzte alle litauischen Bürger sprachenübergreifend in das neue System zu integrieren, operierte seine Nachfolgeorganisation strikt nach den ideologischen Leitlinien des deutschen Nationalsozialismus. V. Brandisˇauskas, Siekiai atkurti Lietuvos valstybinguma˛ (1940

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sollte die Organisation vor allem dazu dienen, das neue Regime vor seinen Feinden zu verteidigen.70 Der Höhepunkt ihrer Tätigkeit fiel in die Zeit zwischen 1927 und 1930, die selbstgesteckten Ziele der Bewegung waren die Integration der sehr heterogenen litauischen Gesellschaft mit Mitteln der Gewalt. Entsprechend bildete auch die Bereitschaft zur Gewaltausübung die Basis des Selbstverständnisses und dominierte auch dessen Wahrnehmung von außen. Für die eigene Gewaltprogrammatik kennzeichnend blieb die Einordnung der eigenen Gewaltmotivation in Zielvorstellungen für eine litauische Gesamtgesellschaft, innerhalb derer sich die Gewaltgemeinschaft gleichsam als Avantgarde begriff, die sich durch ihre Gewaltbereitschaft über den Durchschnitt der Bevölkerung erhob. Die Legitimation als Gewaltelite erschlossen die Mitglieder des Eisernen Wolfes aus der Verbindung zwischen außen- und innenpolitischen Bedrohungswahrnehmungen, die eine forcierte Konsolidierung der litauischen Republik im Sinne eines national-autoritären und militarisierten Staats- und Gesellschaftsmodells unvermeidbar erscheinen ließ. Dies traf sich mit dem unbedingten Willen zur Beseitigung von Traditionen, die sie aus der imperial-russländischen Vergangenheit Litauens herleiteten, und zumindest mit einem gewissen Grad an kulturellem Antipolonismus, ökonomisch begründetem Antisemitismus und politisch motiviertem Anti-Bolschewismus. Das Motto der Organisation „Ehre der Nation – Wohlstand dem Staat“ (Tautos garbe˙ – valstybe˙s gerove˙) stand sowohl für eine moralisch-ethische Aufladung des Nationalismus als auch für die Gleichsetzung des Nationalstaats mit einer perfekt laufenden Maschinerie. Zusammengeführt und im Alltagsleben in einer konzertierten Weise zum Ausdruck gebracht wurde all dies in der Doktrin von der Wiedergeburt Litauens. Der Leitsatz „Unterstütze alles Litauische“ findet sich auch in einer handgeschriebenen Skizze mit dem Titel „Was Wölfe wissen sollten“ aus dem Frühjahr 1929, die in fünfzehn Grundsätzen ideologische und praktische Leitlinien vorgab.71 Zu Beginn der Phase seiner intensivsten Tätigkeit fungierte der Eiserne Wolf als eine straff hierarchisch gegliederte paramilitärische Organisation. Während die Exekutive nominell an das Gesetz gebunden war, kann die Vorgangsweise des Eisernen Wolfes als intentional außergesetzlich und auf der Anwendung oder 06 – 1941 09) [Die Versuche zur Wiedererrichtung der litauischen Staatlichkeit (Juni 1940 bis September 1941], Vilnius 1996, v. a. S. 125 – 136. 70 Der Eiserne Wolf ist in vielen Aspekten immer noch nicht umfassend erforscht. Zu den bisherigen Arbeiten zählen: B. Baranauskas (Hg.), Gelezˇinis Vilkas [Der Eiserne Wolf], Vilnius 1965; Romuald J. Misiunas, Fascist tendencies in Lithuania, in: The Slavonic and East European Review 48, 1970, S. 88 – 109; G. Rudis, Augustinas Voldemaras ir voldemarininkai [Augustinas Voldemaras und die Voldemaristen], in: A. Voldemaras, Pastabos saule˙lydzˇio valanda˛ [Bemerkungen zur Dämmerstunde], Vilnius 1992, S. 5 – 29. 71 Ka˛ kiekvienas vilkas privalo zˇinoti [Was jeder ,Wolf‘ wissen muss], LCVA, 378 – 13 – 118, S. 1.

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Androhung von Gewalt (wie Einschüchterungen oder Gesinnungsterror) basierend charakterisiert werden. Daher koexistierte der Eiserne Wolf nicht nur mit staatlichen Strukturen, sondern übernahm auch Funktionen, die außerhalb des staatlichen Handlungsrahmens lagen. Obwohl die Zahl nach wie vor nicht endgültig geklärt ist, sind für Juni 1929 bereits 4.164 Vollmitglieder zu nennen,72 die sich selbst „Wölfe“ nannten – die Zahl der Anwärter lag demgegenüber in etwa bei 1.000. Auch sind mehrere der Rekrutierung und militärischen Ausbildung dienende Strukturen belegbar : Die Anwerbung von Mitgliedern fand im Umkreis von Jugendgruppen, vor allem innerhalb von legal operierenden Sportklubs statt. Vollmitglieder mussten zwischen 17 und 50 Jahren alt sein (die meisten Aktivisten waren zwischen 20 und 40 Jahre) und durften keine kriminelle Vergangenheit aufweisen. Sie rekrutierten sich überwiegend aus dem unteren Mittelstand, den niederen Staatsangestellten wie Lehrern, Polizisten oder Verwaltungsbeamten sowie aus Soldaten, Handwerkern, Oberschülern, Studenten und einigen Landwirten. Einige Mitglieder der Organisation waren allerdings auch Veteranen des Ersten Weltkrieges bzw. Kämpfer im Umfeld der Unabhängigkeitskriege zwischen 1918 und 1920. Eine Aktivität von Frauen im Umfeld des Eisernen Wolfes konnte nicht festgestellt werden, auch spielten Gewaltausübungen oder Drohungen gegenüber Frauen keine spezifische Rolle im Aktivitätsspektrum der Gewaltgemeinschaft. Der Eiserne Wolf verfügte über eine Gliederung, die dem territorial-administrativen Aufbau Litauens entsprach, wobei ein Hauptquartier in Kaunas an der Spitze der Struktur stand.73 Das Netz an Ortsgruppen wurde deshalb seit Dezember 1926 zügig ausgebaut, so dass Mitte 1929 die Sektionen des Eisernen Wolfes bereits in jeder kleineren Stadt und in den meisten Landgemeinden Litauens in der einen oder anderen Form präsent waren. Die Organisation war zwar formell dem Innenministerium zugeordnet, erhielt jedoch ihre Befehle meist direkt von einem eigenen Generalstab, der innerhalb der Regierung nur mit Ministerpräsident Voldemaras in direkter Verbindung stand.74 Die Kommunikationskanäle und Netzwerkstrukturen jedoch, die einigen wenigen Mitgliedern des Eisernen Wolfes in die Exekutive und das Militär zusätzlich zur Verfügung standen, konnten dazu genutzt werden, den Eindruck der Omnipräsenz und von außen schwer kalkulierbaren momentanen Handlungsfähigkeit des Eisernen Wolfes zu unterstützen. Das vorrangige Ziel der Aktivitäten des Eisernen Wolfes war das Fußfassen der überwiegend aus dem städtischen Milieu stammenden Aktivisten in der 72 „L.T.A. ,Gelezˇinis Vilkas‘ sude˙ties zˇinios 1929 m. birzˇelio me˙n. 1 d.“ [Mitgliederstatuten der Nationalverteidigung ,Eiserner Wolf‘, 1. Juni 1929], LCVA, 378 – 7 – 486, S. 35. 73 Instrukcija Nr. 2 [Instruktion Nr. 2], LCVA, 563 – 1 – 2, S. 3. 74 Gustainis, Nuo Grisˇkabu¯dzˇio iki Paryzˇiaus, S. 104 – 107.

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ländlichen Gesellschaft über das Format der Gewaltgemeinschaft. Dies wurde vor allem über Gewaltausübung und Einschüchterung bewerkstelligt. Angesichts der Passivität der staatlichen Organe genügten zur Disziplinierung der lokalen Gesellschaft jedoch in den meisten Fällen das Ausstreuen von Gerüchten und die punktuelle Ausübung von Gewalt (v. a. durch das Statuieren von Exempeln) zur Durchsetzung eines Definitions- und Regelungsanspruchs. Entsprechende Mittel waren z. B. nächtliche Patrouillen oder das demonstrative Zeigen von Waffen. Konkrete Gewalt- und Drohaktionen richteten sich vor allem gegen Lehrer und Staatsbeamte, die entweder ihr ,Polnischsein‘ propagierten oder die als dem Regime gegenüber illoyal eingestuft wurden (etwa weil sie als Sympathisanten früherer Regierungen galten). Die gleiche Methode wurde auch gegen korrupte Staatsbedienstete und wirtschaftliche Konkurrenten angewendet. Dadurch wurde es den Mitgliedern des Eisernen Wolfes auch möglich, persönlich Rache zu üben oder interethnische Konflikte für individuelle Zwecke zu instrumentalisieren. Den Aktivitäten lag daher oft auch eine eigene Verteilungslogik zugrunde, da die Vergabe von Posten und lukrativen Aufträgen in vielen Gemeinden an die Mitgliedschaft in der Gewaltgemeinschaft geknüpft war. Ein zentrales Tätigkeitsgebiet der Mitglieder war schließlich noch das „Ausspionieren der Feinde des Staates“, über welche die örtlichen Mitglieder des Eisernen Wolfes sogar zu Gericht saßen. Die Namen von Personen, die offen ihre Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen zum Ausdruck brachten, wurden vom Eisernen Wolf auf Listen festgehalten und die Betroffenen von den Mitgliedern vor Ort offen bedroht. Der Eiserne Wolf war von seiner Gründung an eine Geheimorganisation, und ihre Mitglieder wurden verpflichtet, keine Details über deren Strukturen und Mitglieder preiszugeben, wobei ein Eidesbruch mit dem Tode bestraft werden sollte. Obwohl bislang keine Belege über entsprechende Exekutionen vorliegen, wird aus den vorliegenden Indizien auch deutlich, dass diese Vorgaben wohl eingehalten wurden. Zunächst wurden alle Mitglieder aufgefordert, sämtliche oppositionellen Organisationen und Parteien, ja sogar lokale kirchliche Gruppen zu verlassen und den ideologisch nahen Organisationen der Schützen (Sˇauliai), der „Junglitauer“ (Jaunalietuviai) oder den Pfadfindern beizutreten. Dies wurde wenig später dahingehend revidiert, als es nun galt, die oppositionellen Gruppierungen zu infiltrieren und Berichte über deren Aktivitäten bzw. sogar private Unterhaltungen zu liefern. Manchmal führten die Mitglieder des Eisernen Wolfes den Zerfall oppositioneller Verbünde herbei, indem sie die Mitglieder gegeneinander ausspielten – dies betraf vor allem katholische Kreise.75 Es gab jedoch auch einige Fälle, in denen Einzelne überredet wurden den Eisernen Wolf zu verlassen und sich anderen Gruppen anzuschließen.76 75 ˛Isakymas [Befehl] Nr. 1, 5. Januar 1928, LCVA, 563 – 1 – 2, S. 6; Vyriausiasis Sˇtabas grupiu˛

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Da der Eiserne Wolf als Geheimorganisation keine offenen Massenversammlungen abhielt, sondern sich auf Geheimtreffen von Funktionsgruppen und lokalen Gesinnungszirkeln beschränkte, stellte die Organisation keine faceto-face-Gemeinschaft dar. Der kommunikativ-programmatische Zusammenhalt wurde gruppenübergreifend auf zweifache Weise sichergestellt: zum einen über ein internes Regelwerk, das auf einer strikten Hierarchie mit entsprechenden Befehlsgewalten aufbaute, zum anderen über gruppeninterne Gewaltrituale zur Herstellung und Festigung des Gemeinschaftsgefühls sowie über mediale Inszenierungen. Diese kamen nicht zuletzt auch in der Zeitschrift „Der Weg der Nation“ (Tautos Kelias), die inzwischen als inoffizielles Organ des Eisernen Wolfes fungierte, immer wieder zum Ausdruck. Ausgehend von ihrem Namen entwickelte die Gewaltgemeinschaft schließlich auch eine eigene materielle Kultur in Verbindung mit Ritualen (etwa das Küssen eines eigens für die Mitglieder des Eisernen Wolfes hergestellten rituellen Dolches). So konnte auch das Selbstbild einer Gewaltgemeinschaft perpetuiert werden, ohne dass tagtäglich größere Konflikte oder Blutvergießen notwendig waren. So entstand landesweit binnen weniger Monate ein generelles Klima der Angst und Einschüchterung, in dem bereits Gewaltandrohung und punktuell ausgeführte Gewaltaktionen genügten, um als Organisation die lokale Gesellschaft strukturell zu durchdringen. Durch Eigenmächtigkeiten ergaben sich auch immer wieder Konflikte und Gewaltausbrüche im Überschneidungsbereich zur offiziellen Exekutive. Verwiesen werden kann auf einen Vorfall in einem öffentlichen Park in Kaunas am 20. August 1929. Ein dort patrollierendes Mitglied des Eisernen Wolfes bemerkte eine Gruppe, die polnische Lieder sang. Daraufhin eröffneten die „Wölfe“ einen Angriff, wobei auch einige Unbeteiligte physisch zu Schaden kamen. Bei der Vernehmung durch die Polizei drückten sie zwar ihr Bedauern darüber aus, rechtfertigten sich jedoch damit, dass es „unsere Pflicht“ gewesen sei, das Singen polnischer Lieder in Litauen wenn nötig mit Gewalt zu beenden.77 Um den Jahreswechsel 1929/30 erwog die politische Führung, den Eisernen Wolf nach drei Jahren seines Bestehens als legale Organisation weiterzuführen. Der persönliche Konflikt zwischen Präsident Smetona und Ministerpräsident vadams [Vom Generalstab zu den Gruppenkommandierenden], 22. October 1928, LCVA, 563 – 1 – 2, S. 75. 76 Vyriausiojo Sˇtabo benrieji susirasˇinejimai su grupe˙mis [Die allgemeine Korrespondenz zwischen dem Generalstab und den Gruppen], LCVA, 563 – 1 – 7, S. 65; Vyriausiojo Sˇtabo gauti apskricˇiu˛ grupiu˛ nariu˛ raportai ir charakteristikos [Berichte von Mitgliedern der Provinzgruppen und deren Charakteristika, empfangen durch den Generalstab], LCVA, 563 – 1 – 8, S. 139. 77 Vyriausiojo Sˇtabo gauti apskricˇiu˛ grupiu˛ nariu˛ raportai ir charakteristikos [Berichte von Mitgliedern der Provinzgruppen und deren Charakteristika, empfangen durch den Generalstab], LCVA, 563 – 1 – 10, S. 10 – 11.

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Voldemaras führte jedoch zu einer Spaltung der Organisation. Voldemaras wurde von allen politischen Ämtern entfernt und politisch isoliert und der Eiserne Wolf im Mai 1930 offiziell aufgelöst. Die aktivsten Mitglieder unterstützten weiterhin Voldemaras und seine radikalen Ideen und versuchten sich durch die Neugründung einer Litauischen Nationalistischen Partei (Lietuviu˛ nacionalistu˛ partija) 1934 eine politische Plattform aufzubauen. Vereinzelt griffen sie jedoch auf Untergrundaktivitäten zurück, die sich nun konsequenterweise auch gegen den Staat selbst richteten, etwa in Form von Attentaten oder Sabotageakten, d. h. durch Gewalthandeln gegen Repräsentanten der staatlichen Macht und gegen die systemerhaltende Infrastruktur Litauens. Die Präsidialdiktatur litauischer Prägung behielt hingegen in den 1930er Jahren ihren im Vergleich zu anderen Ländern konservativen Charakter.

4.

Fazit – Systemkonsolidierung und Gewalt im Ostmitteleuropa der Zwischenkriegszeit

Natürlich wäre es abwegig zu behaupten, in Ostmitteleuropa stünden die Folgen des Ersten Weltkrieges und die Gewaltexzesse, die im Zweiten Weltkrieg teils mit Unterstützung lokaler Akteure stattfanden, unvermittelt und zusammenhangslos nebeneinander. Die Folgewirkungen und Prozesszusammenhänge waren jedoch komplex. So legen die Ergebnisse dieses Beitrages den Schluss nahe, dass die Idee von einem direkten Transfer von Gewaltdispositionen und -praktiken aus dem Ersten in den Zweiten Weltkrieg kaum tragfähig ist. Gerade in den neu entstandenen Staaten sollten die Systemphasen der Zwischenkriegszeit deutlicher als bisher in die entsprechenden Erklärungsmodelle integriert werden. In Ostmitteleuropa waren es die Jahre der in manchen Regionen kaum reglementierten Nachkriegsgewalt und einer tief ausgeprägten ideologisch-kulturellen und sozio-ökonomischen Segmentierung und Polarisierung, die die Grundlagen neuer Formen eines gewaltbasierten Gesellschaftsverständnisses legten. Die Gewaltbereitschaft des Eisernen Wolfes erschloss sich nicht einfach und ausschließlich daraus, dass die Gewalt in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg nur schwer zu ihrem Ende fand und mit ihrem Ausgleiten in die Friedenszeit auch viele soziale Sphären durchdrang, die bislang von direkten Kriegshandlungen kaum betroffen worden waren. Wesentlich für die spätere Entwicklung wurde vielmehr der Umstand, dass die Traditions- und Systembrüche sowie die Konkurrenz der politischen Eliten um die Gestaltungshoheit im neu konstituierten Staat die Gewaltdispositionen der Nachkriegsjahre in die Konsolidierungssituation hinein nicht nur perpetuierten, sondern auch weiter transformierten.

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Entsprechend entkoppelten sich auch die sozio-ökonomische Konsolidierung, die in Ostmitteleuropa seit Mitte der 1920er Jahre zu verzeichnen war, und die Systemakzeptanz durch die politischen Eliten.78 Es dominierte vielmehr die zunehmende Enttäuschung über die Stabilität der neuen politischen Systeme und die eingeschränkten Gestaltungsspielräume für die Umsetzung eigener politischer, mitunter auch radikal nationalutopischer Vorstellungen. Der westliche Parlamentarismus erschien immer häufiger als unbedachter Fremdimport, der den eigentlichen Bedürfnissen der eigenen Gesellschaft nicht angemessen war. Die Stabilisierung der auf Gewalterfahrungen gegründeten demokratischen Systeme Ostmitteleuropas blieb auf dieser Grundlage prekär und wurde letzten Endes umkehrbar. Hinzu kommt, dass der Übergang von den composite monarchies zu sprachnational konzipierten unabhängigen Staaten durch die Verhakung von zwischennationalen Konfliktlagen und innerstaatlichen Integrationsproblemen deutlich verkompliziert worden war. Im Vakuum nach dem Zerfall alter Ordnungen und Systemgewissheiten erhielten daher zukunftsgerichtete Vergemeinschaftsideologien ein besonderes Mobilisierungspotenzial und damit hohe Zentralität in den politischen Diskursen: Aufgrund der Offenheit der Situation schienen die Aktivisten sofort, und sei es unter Einsatz von Gewalt, in neue Realitäten überführbar.79 Die entbehrungs- und verlustreichen Jahre des Ersten Weltkrieges schufen so den sozialen und politischen Nährboden für neue Feindbilder, die direkte Gewalterfahrungen aus dem eben erst beendeten Krieg mit weiteren nationalen und ideologischen Elementen anreicherten. Entsprechende Überzeugungshaltungen verfestigten sich im Systemdiskurs vor allem jener Länder, in denen wie in Litauen die politischen Lager eine nach außen gerichtete Enttäuschungsaggression kultivierten – weitere Beispiele bilden hier für die Zwischenkriegszeit Deutschland, Ungarn, Bulgarien oder Italien. Die entsprechende Fortschreibung bzw. Radikalisierung kriegsbedingter Verfeindungsstrukturen erschwerten zusätzlich eine Stabilisierung der 1919/20 gefundenen Ordnung. Wenn wir nun abschließend das Beispiel des Eisernen Wolfes in diesen Befund einordnen, dann wird rasch deutlich, warum seine Hochphase in den zeitlichen Übergangsbereich zwischen (früh-)autoritären Strukturen, die einem demokratisch-parlamentarischen System noch in Restbeständen verhaftet waren, und der Etablierung einer Präsidialdiktatur fielen. Denn dem Eisernen Wolf kam in dieser Übergangsphase eine spezifische Funktion zu: Als Misch78 Ein gewisses Gegenbeispiel stellt hier in Ostmitteleuropa vor allem die Erste Tschechoslowakische Republik dar. Vgl. Joachim von Puttkamer, Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, München 2010, S. 66 – 88. 79 Berend, Decades of crisis, S. 115 f.

Erster Weltkrieg, Systemkonsolidierung und kollektive Gewalt

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struktur zwischen paramilitärischem Verband und funktionaler Exekutive war er sowohl Geheimorganisation als auch funktionaler Bestandteil des neuen Regierungssystems. Er agierte zwar unter quasistaatlicher Lenkung, war aber in einer für Litauen neuartigen Form in der Fläche und damit auch in den ländlichen Regionen präsent und unterstützte dort unter Einsatz gesetzlich nicht gedeckter Mittel die Durchsetzung von Staatlichkeit. Seine Mitglieder kultivierten ein elitäres und interventionalistisches Gewaltverständnis, gleichzeitig zielten sie auf die Transformation der von ihnen infiltrierten und teils auch terrorisierten Gesellschaft. Die Konkurrenz zwischen den beiden führenden Exponenten an der Spitze des Staates, Smetona und Voldemaras, um die Macht führte in Litauen zur endgültigen Implementierung autoritärer, wenn auch im ostmitteleuropäischen Vergleich gemäßigt radikaler Strukturen. Der Eiserne Wolf wurde durch seine Nähe zum Unterlegenen dieser Auseinandersetzung zunächst zu einer Bedrohung dieses neuen Kurses. Als Bindeglied zwischen Staat und Regime und als Instrument zur Pazifikation der litauischen Gesellschaft war der Eiserne Wolf nun wiederum verzichtbar geworden, auch da die Präsidialdiktatur bei der Konsolidierung ihrer neuen Machtstellung auf den Vorarbeiten dieser Gewaltgemeinschaft direkt aufbauen konnte. Mit der Auflösung und Teilinkorporierung des drei Jahre zuvor geschaffenen Netzwerks in das autoritäre System endete jedoch nicht nur die kalkulierte Ferne der Verbände zu staatlichen Strukturen, sondern auch ihre dynamische Selbstradikalisierung nach dem Vorbild des italienischen Faschismus.

Autorinnen und Autoren

Sharon Bäcker-Wilke M.A., Justus-Liebig-Universität Gießen, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der DFG-Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ (2009 – 2012) Patricia Bobak M.A., Justus-Liebig-Universität Gießen, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der DFG-Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ (2010 – 2013) Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg, Justus-Liebig-Universität Gießen, Teilprojektleiter der DFG-Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ Prof. i. R. Dr. Horst Brunner, Julius-Maximilians-Universität Würzburg Prof. Dr. Horst Carl, Justus-Liebig-Universität Gießen, Teilprojektleiter der DFG-Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ Prof. Dr. Cora Dietl, Justus-Liebig-Universität Gießen, Teilprojektleiterin der DFG-Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ Prof. Dr. Robert I. Frost, University of Aberdeen Prof. i. R. Dr. David Gaunt, Södertörn University Stockholm Florian Grafl M.A., Justus-Liebig-Universität Gießen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG-Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ (2009 – 2012) Dr. Christine Hardung, Universität Siegen, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der DFG-Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ Prof. Dr. Peter Haslinger, Herder-Institut Marburg / Justus-Liebig-Universität Gießen, Teilprojektleiter der DFG-Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“

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Autorinnen und Autoren

Dr. Andreas Helmedach, Ruhr-Universität Bochum, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG-Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ Dr. Peter Hesse, Justus-Liebig-Universität Gießen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG-Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ (2010 – 2011) Prof. Dr. Martin Kintzinger, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Prof. Dr. Markus Koller, Ruhr-Universität Bochum, Teilprojektleiter der DFGForschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ Prof. Dr. Friedrich Lenger, Justus-Liebig-Universität Gießen, Teilprojektleiter der DFG-Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ Dr. Vytautas Petronis, Herder-Institut Marburg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG-Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ (2010 – 2013) Prof. Dr. Ralf Pröve, Universität Potsdam Prof. Dr. Christine Reinle, Justus-Liebig-Universität Gießen, Teilprojektleiterin der DFG-Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ Prof. Dr. Winfried Speitkamp, Universität Kassel, Sprecher sowie Teilprojektleiter der DFG-Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ Prof. i. R. Dr. Trutz von Trotha, Universität Siegen, Teilprojektleiter der DFGForschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ Prof. Dr. Hans-Ulrich Wiemer, Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, Teilprojektleiter der DFG-Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“