Gewalt in der Familie: Beiträge zur Sozialarbeitsforschung 9783205792499, 9783205794660

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Gewalt in der Familie: Beiträge zur Sozialarbeitsforschung
 9783205792499, 9783205794660

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Gewaltforschung Band 1 Herausgegeben von Rainer Loidl



Rainer Loidl (Hg.)

Gewalt in der Familie Beiträge zur Sozialarbeitsforschung

2013 Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gedruckt mit der Unterstützung durch das Amt der steiermärkischen Landesregierung Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H., Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat  : Antonia Barboric Satz  : Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung  : General Nyomda kft., H-6728 Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-205-79466-0

Inhalt

Vorwort des Landeshauptmannstellvertreters.. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort der Bundesministerin für Inneres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort des Herausgebers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 Rainer Loidl Familiäre Gewalt als Forschungsfeld in Österreich. Eine Diskursanalyse zur Beforschung familiärer und häuslicher Gewalt in Österreich in Soziologie und Sozialarbeit.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  15 Wilfried Nutz I steh’ zu dir, bei Licht und Schåttn … Das Prinzip der Parteilichkeit in der Sozialarbeit am Beispiel der Opferhilfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  73 Andrea Schober Systemische Sozialarbeit bei familiärer Gewalt – Pro und Contra. Eine qualitativ-explorative Studie zu Handlungsmaximen in der Fachpraxis.. .  97 Corinna Stark Wie ein »Fall« zum »Fall« wird. Zur Bedeutung individueller Konstruktionsleistungen von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen in der Jugendwohlfahrt bei Fällen indirekter Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Regina Kaufmann »Die vergessenen Opfer«. Eine Einzelfallstudie über miterlebte Gewalt von Kindern im familiären Kontext.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Anna Mokoru Der Ohnmacht entfliehen. Fallstudie zur Betrachtung der Handlungsmuster von Partnergewalt betroffener Frauen anhand des Habituskonzepts von Pierre Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

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Vorwort des Herausgebers Inhalt

Sabine Hötzl Nutzung und Handhabung des Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrtsbehörden. Gegenstandsbezogene Thesenbildung im Forschungsfeld familialer Gewalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Marianne Trinkl Gefährdete Kinder – Schutz durch Kooperation. Eine qualitative Studie zur Kooperation von Kindergarten und Jugendamt im Feld der Kindeswohlgefährdung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Marina Sorgo Gewaltschutzarbeit als eine organisationsübergreifende Aufgabe. Eine qualitative Studie zur Rolle interorganisatorischer Kooperation staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen im Rahmen des Opferschutzes bei häuslicher Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . 267 Autorinnen und Autoren.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

Vorwort des Landeshauptmannstellvertreters

Als Soziallandesrat bin ich froh über alle Initiativen, die uns dabei helfen, gemeinsam gegen Gewalt in der Familie vorzugehen und somit das soziale Netz in unserem Land zu stärken. Denn die soziale Sicherheit, die wir in Österreich haben, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Errungenschaft, die weiter gepflegt und bewahrt werden muss. Denn ein Gebäude, in das nicht immer wieder Arbeit investiert wird, verfällt irgendwann einmal. Bei Gewalt im eigenen Zuhause braucht es verlässliche und verständnisvolle Ansprechpartner, Menschen, die hinschauen, anstatt wegzuschauen. Diese Tätigkeiten müssen durch Respekt gegenüber dem Mitmenschen, durch Menschenwürde und auch Menschennähe gekennzeichnet sein und sind vor allem in unserer heutigen Zeit eine Leistung von unschätzbarem Wert. Deshalb unterstütze ich diese nun vorliegenden Studien zur Gewalt in der Familie. Ich bedanke mich auf diesem Wege herzlich bei allen Autorinnen und Autoren, allen voran Herrn FH-Prof. Dr. Rainer Loidl, für ihr Engagement und ihre Leistungen.

 

Landeshauptmannstellvertreter Landesregierung Steiermark Siegfried Schrittwieser

Vorwort der Bundesministerin für Inneres

Opfer von Gewalt  – seien es Männer, Frauen oder Kinder  – brauchen Schutz. Wer ein Opfer häuslicher Gewalt wird, braucht besonderen Schutz. Denn wer in der Familie oder Partnerschaft geschlagen und gedemütigt wird, empfindet seine Situation oftmals als ausweglos. Zudem kommt für Außenstehende die Schwierigkeit hinzu, Gewalt in sozialen Nahverhältnissen zu erkennen, da sich Täter und Opfer in einem vermeintlich geschützten Bereich befinden. In solchen Fällen Schutz zu gewährleisten ist Aufgabe einer modernen Politik. Eines steht fest  : Es gibt keine Rechtfertigung für Gewalt. Weder für körperliche noch für psychische. Gleichzeitig gibt es leider aber auch kein einziges Allheilmittel gegen Gewalt. Gegen Gewalt kann nur gemeinsam vorgegangen werden. Dabei spielen das Innenressort und die Polizei eine wichtige Rolle, aber nicht die einzige. Das Innenministerium hat die Bekämpfung von Gewalt zu einem Arbeitsschwerpunkt gemacht und zahlreiche Initiativen gestartet. Zukünftig brauchen wir aber einen ganzheitlichen Zugang, müssen vernetzt denken und alle Akteure in ein Boot holen. Denn Nachhaltigkeit kann uns nur dann gelingen, wenn alle entscheidenden Aspekte – die polizeilichen, politisch-gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Perspektiven – berücksichtigt und in unsere Lösungsansätze mit einbezogen werden. Menschliches Verhalten ist immer komplex und nie anhand einer Ursache zu erklären. Daher ist es auch wichtig, ein Phänomen wie Gewalt von möglichst vielen Blickwinkeln zu betrachten und daraus resultierende maßgeschneiderte Präventionsmaßnahmen zu setzen. Wir müssen deshalb all unsere Ressourcen noch intensiver bündeln, Frühwarnsysteme entwickeln und uns enger vernetzen. Und dabei spielt auch die Wissenschaft eine entscheidende Rolle. Als Innenministerin begrüße ich daher fundierte Forschungsprojekte zu dem Themenkomplex Gewalt, die uns Analysen und somit eine Ausgangsbasis für unsere Arbeit geben. Ich danke daher dem Herausgeber dieser Buchreihe, dem es mit diesem ersten Band gelungen ist, dieses Thema umfassend zu durchleuchten, und freue mich bereits auf die Fortsetzung. Bundesministerin für Inneres Mag.a Johanna Mikl-Leitner

Vorwort des Herausgebers

In Europa leben wir auf einem Kontinent und in Österreich in einem Land mit vergleichsweise hoher sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit sowie mit einem hohen Maße an persönlichem Schutz und sozialem Frieden. Doch sind trotz dieser gesellschaftlichen und politischen Errungenschaften nach wie vor immer noch zu viele Menschen von Gewalt betroffen, gerade auch im häuslichen und familiären Umfeld. Den Befunden der Prävalenzforschung hinsichtlich Gewaltbetroffenheit zufolge erfahren in Europa nicht nur Millionen von Menschen persönlich Gewalt. Den Zahlen nach müsste augenscheinlich nahezu jede bzw. jeder zumindest jemanden kennen, dem Gewalt widerfahren ist oder widerfährt. Gewalt freilich ist – für Betroffene selbst wie für Außenstehende – einmal deutlich und klar benennbar, einmal subtil und kaum als solche erkennbar. Persönliche Sicherheit und Schutz vor Gefährdungen können nicht von einer gesellschaftspolitischen oder institutionellen »To-do-Liste« abgehakt werden  ; sie stehen fortwährend auf der sozialpolitischen Agenda und bleiben Gegenstand juristischer, sozialarbeiterischer, pädagogischer, therapeutischer u. a. Interven­ tionen. Für die Integrität und Sicherheit von von Gewalt betroffenen Menschen sind weitere Fortschritte und konkrete Möglichkeiten für Opfer in gesetzlicher, politischer und fachlicher Hinsicht essenziell. Unterstützung für Betroffene fördert Sicherheit. Im Zusammenhang mit Gewaltphänomenen und Gewaltschutz bzw. entsprechenden Maßnahmen stellen sich vieler Erfolge zum Trotz immer noch etliche noch besser aufzuklärende Fragen. Die Problematik familiärer Gewalt ist eines der am weitesten verbreiteten biografischen Risiken, das Spektrum der Gewaltformen und ihrer Schweregrade ist groß. Familiäre Gewalt führt zu psychischen Fragmentierungen und sozia­ ler Desintegration. Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen zerrütten Sicherheits- und Geborgenheitsgefühle. Folgebeschwerden und -kosten – individuelle wie kollektive – heften sich an Gewalterfahrungen. Sie beeinträchtigen Gesundheit, selbstbestimmte Lebensführung und Berufsausübung. Die variantenreichen Gewaltphänomene, ihre Folgen, effektive und präventive Interventionen, Fragen um institutionelle Versorgung, Kooperationen im Schnittfeld von Polizei, Gericht und Medizin sowie Professionalisierung im Opfer- und Gewaltschutz als Handlungsfeld Sozialer Arbeit sind längst nicht ausreichend untersucht und verlangen nach weiterer Aufklärung. Ergebnisse der Gewaltforschung sollen politischen und fachlichen EntscheidungsträgerInnen vermehrt verfügbar gemacht werden.

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Vorwort des Herausgebers

Menschen leben in Beziehungen, sind in Geschehnisse verwickelt und geraten in Situationen, in denen sie Gewalt erfahren. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Es sammelt Studien zur familiären und häuslichen Gewalt aus dem Feld der ambitionierten Sozial­ arbeitsforschung, die aus Interesse, Engagement und einem Mangel heraus entstanden. Das Buch eröffnet als Band 1 eine Buchreihe zur Gewaltforschung und möchte zum Dialog von Fachpraxis, Wissenschaft und Fachausbildung beitragen. Mich als Herausgeber freut es besonders, in diesem Band sozialarbeitswissenschaftliche Studien zur Gewaltschutzarbeit vorstellen zu können. Der Eingangsbeitrag von Rainer Loidl geht dem Diskurs in Soziologie und Sozialarbeit im Forschungsfeld »familiäre und häusliche Gewalt« in Österreich nach und skizziert dessen Themenschwerpunkte, Trends, Institutionalisierung und Methodengrundlagen. Er identifiziert zentrale Studien, Fragestellungen, Problematiken und Aufgaben in der Untersuchung familiärer und häuslicher Gewalt. Die beiden nächsten Beiträge greifen Fragen der Positionierung und Handlungspraxis in der Sozialarbeit in der Opferhilfe bzw. bei familiärer Gewalt auf. Wilfried Nutz führt das Prinzip der Parteilichkeit ein und begründet dessen Bedeutung in einer wirksamen Opferschutzarbeit. Andrea Schober behandelt die Handlungsmaximen und »Pro und Kontra« der Fachpraxis systemischer Sozialarbeit bei familiärer Gewalt. Ein sowohl in der Gewaltforschung als auch Fachpraxis bis zuletzt eher randständiges wie gleichsam »brennendes« Phänomen thematisieren die nächsten beiden Beiträge  : indirekte Gewalt bzw. von Kindern miterlebte Gewalt. Corinna Stark zeigt auf, wie es in der Sozialarbeit in der Jugendwohlfahrt zur Konstruktion von »Fällen« indirekter Gewalt kommt. Regina Kaufmann untersucht in einer Einzelfallstudie die Effekte miterlebter Gewalt bei Kindern vor dem Hintergrund der Bindungstheorie. Eine in der Fachpraxis häufig beobachtbare Dynamik greift Anna Mokoru in ihrem Beitrag auf, in dem sie anhand von Fallstudien und vor dem Hintergrund des Habituskonzepts von Pierre Bourdieu jene Handlungsmuster von Partnergewalt betroffener Frauen beleuchtet, die für den Verbleib in oder das Verlassen von Gewaltbeziehungen ausschlaggebend sind. Sabine Hötzl nimmt eine gegenstandsbezogene Thesenbildung zur Nutzung und Handhabung des Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrtsbehörde vor, um herauszuarbeiten, weshalb verfügbare gesetzliche Instrumente in beobachtbar geringem Maße genutzt werden. Um eine zentrale Frage für das Gelingen eines institutionenübergreifenden Gewaltschutzes geht es in den zwei nächsten Beiträgen  : um Kooperation. Der Beitrag von Marianne Trinkl ist im Handlungsfeld Kinderschutz angesiedelt und fragt nach den Kooperationszusammenhängen von Kindergarten und Jugendamt und den kooperationsförderlichen bzw. -hemmenden Dimensionen. Marina Sorgo entwirft die Gewaltschutzarbeit als organisationsübergreifende Agenda und betont die Bedeutung interorganisatorischer Kooperation für eine effektive Gewaltschutzarbeit.

Vorwort des Herausgebers

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Das Buch blickt auf eine über zweijährige Entstehung und davor liegende Arbeiten zurück. Es entstand in mehreren Etappen und Absprachen. Als Herausgeber danke ich den Autorinnen und Autoren für ihr Engagement und mehrfaches Überarbeiten ihrer Texte sowie für ihre Geduld. Nach Monaten des Austausches und intensiven Überarbeitens, in denen mir das Buch zum alltäglichen Begleiter wurde, freue ich mich, die Beiträge vorstellen zu können. Und mit ihnen die Stimmen, Erfahrungen und Perspektiven von Betroffenen einzubringen. Graz, Januar 2013

Rainer Loidl

Familiäre Gewalt als Forschungsfeld in Österreich Eine Diskursanalyse zur Beforschung familiärer und häuslicher Gewalt in Österreich in Soziologie und Sozialarbeit

Der disziplinäre und fachliche Diskurs in Soziologie und Sozialarbeit lässt auf Themen, Trends, Institutionalisierung und Methoden im Forschungsfeld »familiäre Gewalt« in Österreich schließen. Auf der Basis von Literatur- und Verbundsrecherchen, die die letzten 20 Jahre umfassen, identifiziert die Diskursanalyse zentrale Studien, Fragestellungen, Problematiken und anstehende Aufgaben in der Beforschung fami­ liärer oder häuslicher Gewalt. Familiäre Gewalt ist weit verbreitet, und mit ihr Belastungen, Beeinträchtigungen und Folgerisiken für die Betroffenen als auch gesellschaftspolitische Interventionsfragen und gesellschaftliche Folgekosten. In der professionellen Opferhilfe und in der Fachpraxis von Gewaltschutz und Opferschutz spielt die Soziale Arbeit eine inzwischen wesentliche Rolle (Hartmann, 2010). Für Gewaltprävention, zum Schutz der Betroffenen und zum Herstellen von Sicherheit sind frühzeitige Information, Unterstützung und nachhaltige Intervention zentral, um zu verhindern, dass sich häusliche Gewalt, familiäre Gewalt und Gewalt in Partnerschaften oder gegen Kinder »als Mittel der Auseinandersetzung etabliert bzw. Gewalt- und Unterdrückungsverhältnisse sich chronifizieren« (Kavemann, 2007). Forschung und Aufklärung sowohl von Gewaltphänomenen als auch der Wirkweisen der intervenierenden Fachpraxis kommt hierfür hohe Relevanz zu. Wie beforschen nun Soziologie, Sozialarbeitswissenschaft und Sozialarbeit das Feld »familiäre Gewalt« in Österreich  ? Familiäre Gewalt kann als soziales Phänomen und als etwas der Gesellschaft Inhärentes verstanden werden, für deren Untersuchung etliche Disziplinen aufgerufen sind  : Gesellschaftliche und individuelle, strukturelle und kulturelle, infrastrukturelle und leistungs- und maßnahmenbezogene Aspekte sollen untersucht werden  ; politische, geschlechterspezifische, juristische, gerichtliche, kriminologische, polizeiliche, medizinische, psychische, pädagogische, sozialarbeiterische und andere Problemlagen und Handlungsbedarfe wären zu eruieren. Um das sozialwissenschaftliche Forschungsgeschehen zur familiären und häuslichen Gewalt in Österreich abzubilden, es in seinem Verhältnis zur Fachpraxis zu beschreiben und in den Kontext der internationalen deutschsprachigen Gewaltforschung einzubet-

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ten, berichtet diese Bestandsaufnahme über inhaltliche Schwerpunkte, Personen und Institutionen und, sollten empirische Studien gemacht werden, über Methoden und Ziele der Forschung zur familiären bzw. häuslichen Gewalt. Der Beitrag führt damit die kurze Skizze von Kellem (2009) weiter. In empirischer Hinsicht handelt es sich um eine deskriptive, kompilierende Vorgehensweise. Diskursanalytische Recherchen in nationalen und internationalen Literatur-, Forschungs- und Bibliotheksverbundsdatenbanken sowie in den Zeitschriften der Soziologie, Sozialarbeitswissenschaft und Sozialarbeit schaffen die Grundlagen für das verwendete Material. 1. Fausthieb ins Gesicht – oder  : Die schwierige begriffliche Bestimmung von »Gewalt« in Soziologie & Sozialarbeit Ein Fausthieb ins Gesicht. Ist ein Fausthieb ins Gesicht Gewalt  ? Das Anbrüllen eines anderen Menschen  ? Die »gesunde Watschn«  ? Ein das Kind bestrafendes Ausschließen vom familiären Abendessen  ? Was ist Gewalt, was eine gewaltsame Handlung, was sind gewaltaffine Umstände oder Einstellungen  ? Eine Unterscheidung wie jene nach den Merkmalen von Gewalthandlungen (Lenz, 2003  : S. 132) alleine danach, dass Gewalt eine kulturell gestattete oder geforderte, also legitime, Handlung sein oder dass Gewalt geltenden kulturellen Normen zuwiderlaufen kann, dann eine illegitime Gewalthandlung sein kann, ist wesentlich – etwa im Hinblick auf soziale oder/und gesetzliche Sanktionen –, doch einer eindeutigeren Definition trägt sie wenig zu. Woran würde ein gewaltsamer Akt festzumachen und im sozialwissenschaftlichen Verständnis kategorisch und exakter zuordenbar sein  ? An einer Handlung alleine oder auch an der die Handlung ausdeutenden Sinngebung oder den sozialen Normen, die eine solches Handlungsverständnis konkretisieren  ? Gewalt ist alles andere als »leicht zuordenbar«. Für eine Antwort der Soziologie würden wir nachfragen und spezifizieren wollen  : in welcher Situation, in welchem Handlungskontext, in welcher Interaktion, mit welchen Motiven, Absichten und Interessen, wer ist beteiligt  ? Ein Fausthieb ins Gesicht des Gegners während eines Boxkampfes oder in jenes des Partners in einem andauernden familiären Konflikt oder in jenes des Freundes in einem heftigen Streit unter Jugendlichen  ? Gewalt wird greifbar  : als in gesellschaftlichen Strukturen verankerte Benachteiligung von Menschen oder bestimmten Menschengruppen, als politische Machtausübung, als ökonomischer Zwang, als institutionelle Kontrolle, als Ausdruck menschlicher Überzeugungen, als so abscheuliche wie inakzeptable Gewalttat eines einzelnen Menschen. An die sichtbare Oberfläche gelangt allerdings sprichwörtlich nur die Spitze des Eisberges. Gewalt hat vielfältige Gesichter, und im Haus »innerhalb der eigenen Wände« und »in der Familie« ist sie weit schwieriger einzusehen.

Familiäre Gewalt als Forschungsfeld in Österreich

Eine begriffliche Bestimmung von »Gewalt« fällt relativ aus, so wie im Gefolge dieser Schwierigkeit eine soziologisch motivierte Bestandsaufnahme zur Beforschung von Gewalt und hierin in der Familie bzw. im häuslichen Bereich in Österreich begrenzt bleibt. Wie bislang und den vorfindbaren Definitionen von »Gewalt« zu entnehmen ist, wenn dieselben als »schwierig« bis »unmöglich« oder auch »künftig nicht zu erwarten« seiend bezeichnet werden  : Es bleibt schwierig. Gewalt ist soziale Realität und soziales Konstrukt, beide drücken soziale Verhältnisse wie soziale Normen aus. Vielleicht spiegelt die Problematik einer begrifflichen Bestimmung von »Gewalt« den Umstand wider, dass Gewalt omnipräsent ist, zu allgegenwärtig, dem individuellen Alltag so inhärent wie den gesellschaftlichen Strukturen. Gewalt geht unter die Haut. Gewalt macht sprachlos. Eine begriffliche Bestimmung von Gewalt zerrinnt also bereits eingangs wie Sandgemenge im Sieb  : Feine Partikel sickern durch, größere bleiben hängen, je nachdem, wie weit- oder engmaschig das Sieb ist. Wenn das Forschungsgeschehen zur »Familiären Gewalt« eruiert werden soll, so wird das ohne ein Minimalmaß an begrifflicher Bestimmung von »Gewalt« und »Familiärer Gewalt« nicht gehen – noch ausführlichere Auseinandersetzungen sind andernorts nachzuschlagen. 1.1 Zum Begriff der »Gewalt« in der Soziologie

Theorie und Praxis, akademische Analyse und fachgerechte Anwendung stellen unterschiedliche Ansprüche an begriffliche Formulierungen. Durchstöbern wir Literatur zum Thema »Gewalt«, dann finden wir rechtliche, sozialwissenschaftliche, fachliche u. a. Formulierungen und Definitionen vor. Die gröberen Partikel finden sich, jedenfalls in Österreich und Ländern moderner Gesellschaften, im Strafgesetzbuch, wenn es um leichte und schwere Körperverletzung geht – für Österreich in den §83 StGB und §84 StGB. Mittlere und feinere Partikel finden sich im sozialwissenschaftlichen – z.B. Konflikt- und Gewaltforschung, Soziologie, Sozialarbeit, Kriminologie  – und fachlichen – z.B. Gewaltschutzarbeit, Opferhilfe, Täterarbeit, Polizeiarbeit – Diskurs über Gewalthandlungen und -verhältnisse und die Betreuung, Beratung und Unterstützung von Betroffenen. Die Verbindung körperlicher Verletzung mit dem Begriff »Gewalt« scheint sich Kapella & Cizek (2001a  : S. 17) zufolge auch in der Soziologie durchzusetzen, womit strukturelle und psychische Gewalt in der Soziologie im Hintergrund blieben und sie die »gröberen Partikel« filtern würde. Eine Erforschung und genauere Bestimmung des Forschungsgegenstandes ist schwierig. Folgen wir den handlungstheoretischen Überlegungen von Sutterlüty (2004  : S. 101 ff.), so ist Gewaltausübung viel weniger rational als meist angenommen, und intrinsisch motivierte Gewaltelemente ebenso wie situative Geschehensmomente

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in der Gewaltausübung sind stärker zu beachten. Emotionalität greift stärker als Mittel-Zweck-Kalküle oder rationale Intentionen. Das wird gerade bei häuslicher Gewalt, im sozialen Nahbereich, im Haushalt und in der Familie so sein. Gelles (2002) führt aus, dass die emotionsbehaftete Natur der Forschung und Praxis im Bereich familiärer und häuslicher Gewalt ein »überragender Faktor« ist, »der die Untersuchung und Betrachtung von Gewalt unter Partnern und in Familien beeinflusst (…). Kaum ein anderes Untersuchungsfeld im Bereich des Strafrechts ruft solch starke Gefühle und Reaktionen hervor wie die Kindesmisshandlung, der sexuelle Missbrauch von Kindern, Gewaltakte gegen Frauen, die Misshandlung älterer Menschen und Gewalt in vorehelichen Beziehungen.« Und weiter  : »Die Tatsache, dass die Erforschung von Gewalt in Familien und intimen Beziehungen erst relativ spät begonnen wurde und dass das erste Jahrzehnt dieser Forschungsarbeiten von einem psychopathologischen Ursachenmodell dominiert war, ist der Grund dafür, dass die theoretische Entwicklung auf diesem Gebiet bislang begrenzt ist. Darüber hinaus entstanden infolge der emotionsgeladenen Natur des Themas tiefe und heftige Kontroversen über die Bewertung des Gewaltausmaßes, die Risiko- und Schutzfaktoren und mögliche Ursachenmodelle« (Gelles, 2002  : S. 1072). Gewalt zeigt sich in vielerlei Facetten. Ob die vergegenständlichte Facette die Form von »realer« Gewalt annimmt, hängt davon ab, wer sie in welchem Kontext betrachtet und als solche »konstruiert«. Denn Gewalt begrifflich zu fassen setzt moralische Urteile voraus und eine Position, aus der heraus Gewalt zu definieren und verstehen versucht wird. Gesellschaftliche Wertvorstellungen, der Kontext sowie die Interessen der Definierenden prägen den Gewaltbegriff (vgl. Brückner, M. a. a. O.: 21, zit. nach Winkelbauer, 2003  : S. 82). Begriffsbestimmend erschwerend kommt hinzu, dass »Gewalt« in ihrer realen als auch sozial konstruierten Ausformung sowohl kulturspezifische als auch kulturübergreifende sowie historisch überdauernde und zeitgeschichtlich temporäre Prägungen kennt. Die Erkenntnis freilich, dass der Begriff »Gewalt« keine Gewalthandlung »objektiv« im Sinne eines allgemein und dauerhaft gültigen Maßstabes zu umfassen mag, bleibt eine akademische. Für die Handlungspraxis hinterließe dies zu unkonkrete Lücken. In ihrer Abstraktheit sind es strukturell angelegte Formen, die in einer Gesellschaft mehr oder weniger ausgeprägt sein können. Sie setzen ein Verständnis auf moralischer Ebene über »Gewünschtes« und »Unerwünschtes«, referierend auf soziale Normen voraus. Gewalt als soziales Phänomen zu untersuchen bedeutet Eingrenzungen vorzunehmen und zu ordnen. Die Auseinandersetzung mit einer Definition des Begriffes Gewalt zieht sich durch die Fachliteratur und findet bisher noch keine zufriedenstellende Lösung. Wie weit ist die soziologische Begriffsbestimmung seit Megargees Aussage aus dem Jahre 1969 gekommen  ? »No definition of violence has ever proved comple-

Familiäre Gewalt als Forschungsfeld in Österreich

tely successful. Although everyone ›knows what violence is‹ no one has ever been able to define it adequately so that every possible instance of violent behavior is included within the definition while all the excluded behavior is clearly non-violent« (Megargee, 1969  : 1038, zit. nach Godenzi, 1996  : S. 34). Godenzi (1996) stellt den wissenschaftlichen Diskurs zur Definition des Begriffes Gewalt ausführlich dar und kommt zu dem Schluss, dass die Suche nach einem klaren und brauchbaren Gewaltbegriff nicht abgeschlossen ist und vielleicht auch nie sein wird. Er weist darauf hin, dass Theorien und empirische Daten auf die Gewaltdefinition befragt werden müssen, die ihnen zugrunde liegt, um Vergleiche der Forschungsergebnisse überhaupt zuzulassen und zu überprüfen, ob »die jeweiligen Konstrukte ›Gewalt‹ reale Bezugspunkte haben« (Godenzi, 1996  : S.  38). Die begrifflichen Zwischenbilanzen ernüchtern  : Wissenschaftliche Strömungen sind sich in der Definition des Begriffes Gewalt nicht einig, verschiedene Publikationen verweisen auf unterschiedliche Zugänge zu dem Begriff. So beschreibt Giddens (1999) Gewalt als »Androhung oder Anwendung physischen Zwanges seitens eines Individuums oder einer Gruppe gegen andere« (ebd.: S. 630). Die Psychologie setzt den Begriff Gewalt mit sozialer Aggression gleich, sie unterscheidet instrumentelle und impulsive Aggression. Als instrumentelle Aggression wird schädigendes Verhalten bezeichnet, welches auf ein Ziel, nämlich die Bereicherung des Aggressors, ausgerichtet ist. Die impulsive Aggression hingegen wird durch »Ärger und Frustration ausgelöst« (Lamnek et al., 2006  : S. 19). Folgen wir den Grundbegriffen der Soziologie (Peuckert, 1995  : S.  101 ff.), so ist Gewalt »psychische Verletzung, physischer Zwang oder die Androhung von Verletzung oder Zwang. Ein umfassender Gewaltbegriff schließt auch das große (schwer definierbare und meßbare) [sic  !] Spektrum psychisch verletzenden Verhaltens sowie die strukturelle Gewalt mit ein« (ebd.: S.  101). In Folge wird Gewalt als Element aller Macht- und Herrschaftsverhältnisse betrachtet, mit dem Staat als gewaltbündelnde Instanz. Problembereiche von Gewaltformen, -ursachen und -konsequenzen sind Krieg, Massenvernichtung, politisch motivierte Gewalt, mediale Gewalt, Gewalt in persönlichen Beziehungen, Gewalt von und zwischen Jugendlichen bzw. in/unter Gruppen (vgl. ebd.). »Gewalt« bezeichnet in der Soziologie, in anderen Quellen (Rammstedt, 1978  : S. 281 f.) 1. einen einmaligen physischen Akt, für den Vorgang, dass ein Mensch einem anderen Menschen Schaden mittels physischer Stärke zufügt  ; 2. die Form des Einflusses, die permanent gekoppelt ist an das Eingreifen in sittliche Verhältnisse, deren Sphäre durch Recht und Gerechtigkeit abgesteckt wird  ; 3. die dahin gehende Beeinflussung von Menschen, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potenzielle Verwirklichung.

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Eine bedeutsam gewordene Gewalttypologie ist jene des norwegischen Wissenschaftlers und Politologen Johan Galtung in personale und strukturelle Gewalt. Strukturelle oder indirekte Gewalt bedeutet in dieser Auslegung jenen Typ von Gewalt, bei dem die Beeinflussung nicht von einem handelnden Subjekt ausgeht  – wie dies bei der personalen oder direkten Gewalt der Fall ist –, sondern im gesellschaftlichen System eingebaut ist. Dies äußert sich in ungleichen Macht- und Besitzverhältnissen und davon abhängig in ungleichen Lebenschancen. In letzterem Verständnis liegt Gewalt z.B. dann vor, wenn das Analphabetentum verbreiteter ist als nötig (Rammstedt, 1978  : S. 281 f.). Gewalt mit »verbreiteter als nötig« oder »geringer als ihre potenzielle Verwirklichung« zu bestimmen zu versuchen dauert selbstredend als eine vage und sowohl moralisch-referenzielle als auch empirisch schwer festmachbare Aussage fort. Des Weiteren werden Subformen von Gewalt unterschieden. Die dichotome Typologie in personale Gewalt und strukturelle Gewalt jedenfalls setzte sich vielfach im sozialwissenschaftlichen Diskurs durch und ist für Betrachtungen, Untersuchungen, Politiken als auch für die Fachpraxis in der Handhabung von Gewaltphänomenen, insbesondere im Feld häuslicher Gewalt, inzwischen zentral. »Während strukturelle Gewalt durch das gesellschaftliche System und durch ungleiche Machtstrukturen und Besitzverhältnisse bedingt ist, bezieht sich personelle Gewalt auf die direkte individuelle Handlung einer Person gegenüber einer anderen, die mit der Intention ausgeführt wird, eine Schädigung oder Verletzung zu bewirken und damit seinen Willen durchzusetzen oder Vergeltung zu üben« (Nave-Herz, 2004  : S. 158). Imbusch (2005  : S.  533 ff.) kommt in seiner umfassenden Analyse zum Resümee, dass Gewalt nicht Gegenteil, sondern Bestandteil der Kultur und Moderne ist – auch und gerade in ihren ins Äußerste gesteigerten Formen. Er zitiert unter anderem Marcuse  : »Normalität ist ein durchaus unsicherer Zustand.« und Safranski  : »Man muss nicht den Teufel bemühen, um das Böse zu verstehen. Das Böse gehört zum Drama der menschlichen Freiheit. Es ist der Preis der Freiheit« (zit. in Imbusch, 2005  : S. 533). Gewaltereignisse im kollektiven Ausmaß als »Makrogewalt« seien nicht rational verstehbar, sie entzögen sich in ein »Niemandsland des Verstehens« (ebd.). Gewalt, im Verständnis von Sigmund Freud, könne als mögliche Ausdrucksform menschlicher Aggressivität und Kulturentwicklung als höchst zweischneidige Angelegenheit verstanden werden, die keineswegs automatisch zur Gewaltfreiheit führt (ebd.: S. 534). Imbusch (2005  : S.  535 f.) setzt nach  : Die moderne Soziologie beschäftigte sich mit »Makrogewalt« in der Nachkriegszeit, seit den 1950er-Jahren dann nur noch höchst rudimentär. Sie habe sich kaum mehr ernsthaft mit den von den Phänomenen ausgehenden Beunruhigungen für das eigene Selbstverständnis und die eigenen wissenschaftlichen Prämissen auseinandergesetzt. Gewalt könne nicht als der Moderne unliebsam gewordenes und sie befreiendes atavistisches Relikt behandelt werden – als

Familiäre Gewalt als Forschungsfeld in Österreich

würde sie nicht mehr zur Moderne gehören oder zu ihr passen (Imbusch, 2005  : S. 536). Er argumentiert dagegen, dass Makrogewalt-Ereignisse als »Gewaltentfesselungen« genuine Prinzipien der Moderne verkörpern. »Gewalt war darin nicht das Fremde der Moderne, sondern das Eigene, sie war nicht das Ferne, was höchstens an den Rändern der Moderne überhaupt sichtbar wird, sondern das Nahe, und sie war nicht das Frühere, längst überwunden geglaubte Relikt, sondern das Aktuelle« (ebd.). Gewalt komme nicht von außen in die Moderne, sie gehöre konstitutiv zu ihr. Regimes auf rationaler Ordnung und Erkenntnis würden erst ein Modell der Gewaltordnung begründen – für dieses Argument verweist Imbusch auf die bürokratische Verwaltung des Holocaust, auf die arbeitsteilige Rationalität der Vernichtung. Dieses dramatische Exempel markiere eine Verschiebung von Grenzen und damit verbundene innere Landnahme, die umfassende Disziplinierung der Menschen und die zwangsweise Homogenisierung der Gesellschaft. Die Moderne mit verschiedenen Sphären mit je eigenen Funktionsprinzipien und beträchtlicher Eigenlogik habe sich ausdifferenziert und eigentlich dadurch Makroverbrechen und -ereignisse ermöglicht, sodass es in den Worten von Zygmunt Baumann in der Moderne zu ihrer Durchführung gar keiner grausamen, bösen Menschen mehr bedürfe (Baumann, 1993b  : S.  45 f., in Imbusch, 2005  : S. 537). Gewalt widerfährt uns als Machtausübung, als ein Gefügigmachen, als eine Bestrafung bei Ungehorsam, zur Einschüchterung, zum Angstmachen, zur Unterdrückung, als Erzwingung, als Nötigung. Zweifach  : strukturell und persönlich. In manchen Arbeiten ist die begriffliche Differenz und Ausdifferenzierung von »Gewalt« und »Konflikt« oder »Gewalt« und »Streit« oder »Gewalt« und »Aggression« rudimentär und ungenau. Und manches Mal wird schlicht jedes »Verwehren« von persönlicher Entfaltung zum gewaltsamen Akt. Eine begriffliche Fassung von Gewalt beinhaltet immer eine moralische Ebene über »Erwünschtes« und »Unerwünschtes«, über »Angestrebtes« und zu »Vermeidendes«. Sie kann nicht losgelöst werden von einer gesellschaftlichen Norm und dem von ihr Abweichenden. Gewalt theoretisch und empirisch zu fassen bleibt deshalb schwierig, entzieht sich doch bereits der Untersuchungsgegenstand einer präzisen, einheitlichen Eingrenzung. Gewalt ist nicht weniger als ein allgemeiner Umstand des menschlichen Seins. Mir prägte sich die Aussage des Soziologen und Gewaltforschers Heitmeyer in einem Interview ein  : Eine gewaltfreie Gesellschaft hat es nie gegeben und wird es nie geben, allerdings gestaltbar ist, ob wir in einer gewaltarmen oder gewaltreichen Gesellschaft leben. Eine offene Gesellschaft, so wie Popper sie versteht, wird wohl auch heißen, dass Platz für Verhaltensweisen und Äußerungen des Menschen ist, die gewaltig und gefährdend sind, für sich selbst, andere, den Einzelnen, die Gesellschaft.

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22 1.2 Zum Begriff der »Familiären Gewalt« in der Soziologie und Sozialarbeit

Das Phänomen »familiale« oder »häusliche« Gewalt wurde in den Sozialwissenschaften bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts »entdeckt«. Zuerst in den Niederlanden, in Großbritannien und vor allem in den USA ist es als öffentliches Thema in den 1960er-Jahren durchgedrungen. In Deutschland ist es erst ab den 1980er-Jahren bedeutsam, wo – im Unterschied zu anderen Ländern – die öffentliche Aufmerksamkeit für Phänomene familialer Gewalt damals sehr selektiv war. Bestimmte Aspekte, z.B. Gewalt gegen alte Leute in ihren Familien, wurden erst ab Ende der 1990er-Jahre zu einem öffentlichen Thema. Entsprechende Forschungen und Hilfsprogramme entwickelten sich seit Ende der 1960er-Jahre intensiv und differenziert (Honig, 1992  : S. 289). Wie kann »familiäre Gewalt« verstanden werden  ? »Familiäre Gewalt« fungiert als Begriff für alle Arten von psychischen, physischen und sexualisierten Übergriffen inner­halb von Familienverbänden durch andere Familienmitglieder. Gewalt hat auch hierin sowohl eine Handlungs- als auch eine Strukturkomponente (Imbusch, 2002  : 37). Begriffsaffin finden wir die Bezeichnung »Gewalt in der Familie«, die typischerweise als Oberbegriff für jegliche Gewalthandlungen innerhalb der Familie, somit auch Gewalt gegen alte Menschen oder Gewalt von Kindern gegen Erwachsene, ­verwendet wird. Oft firmiert »familiäre« begriffsgleich als »häusliche« Gewalt. Lamnek et al. (2006  : S.  102 f.) unterscheiden folgende Ausrichtungen von »häus­ licher Gewalt«  : 1. Partnergewalt  : Gewalt zwischen den Ehepartnern bzw. den Partnern einer nicht­ ehelichen Lebensgemeinschaft  ; 2. Eltern-Kind-Gewalt  : Gewalt der (Groß-/Stief-/Pflege-)Eltern gegenüber ­Kindern  ; 3. Geschwistergewalt  ; 4. Kind-Eltern-Gewalt  : Gewalt der Kinder an (Groß-/Stief-/Pflege-)Eltern. Gewalt hat Gewicht  : »Gewalt in der Familie« ist die verbreiteteste Form von Gewalt. Hierzulande ereignen sich mehr als 80 Prozent aller aktenkundigen Gewalttaten innerhalb der Familie (Schrul & Euhus, o.J.: S. 11). Gewalt in der Familie werde meist einseitig als Gewaltverhalten von Eltern gegen ihre Kinder thematisiert (Lamnek & Ottermann, 2004  : S. 125  ; Lamnek, Luedtke, Ottermann, 2006). In der begrifflichen Bestimmung von häuslicher bzw. »verhäuslichter« Gewalt (Honig, 1986  ; 1992) und von familiären Gewalthandlungen sind vier Diskurse zu entdecken und zu unterscheiden (Lamnek, Ottermann, 2004)  :

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1. der sozial-administrative Diskurs, der häusliche bzw. familiäre Gewalt als »Tatbestand« und Missbrauch des elterlichen Züchtigungsrechtes auslegt und in Justiz, Polizei, Medizin und öffentlicher Sozialarbeit vorrangig ist  ; 2. der Diskurs der Helfer  : Häusliche Gewalt wird zur Beziehungs- und Kommunika­ tionsstörung und in Therapie, Kinderschutz, psychosozialen Diensten und Familien­ therapie behandelt  ; 3. als politisierender Diskurs, in dem es um Aufklärung und Enttabuisierung von strukturellen Lebenszusammenhängen in sowohl der feministischen als auch neuen Kinderschutzbewegung geht  ; und 4. als neuerer Diskurs der Männerbewegung mit noch wenig Resonanz, der sich um emanzipatorische Sensibilisierung gegenüber männlichen Gewaltopfern bemüht. Dieser Aufruf zur Mitbetrachtung männlicher Betroffener ist verständlich  : Bis in die 1990er-Jahre hinein war häusliche Gewalt durchgehend Gewalt gegen Frauen – diese Gleichsetzung wird im Diskurs zwar schwächer, sie ist aber nach wie vor präsent. Für die Diskussion über Gewalt in Familien bis in die 1990er-Jahre galt, dass sie faktisch eine über Gewalt von Eltern an Kindern und Gewalt gegen Frauen war. »Was an empirischen Untersuchungen vorliegt, wurde überwiegend staatlich in Auftrag gegeben und soll dazu beitragen, Hilfen für misshandelte Frauen und Kinder zu entwickeln (…). Der charakteristische Beitrag der empirischen Frauenforschung besteht in autobiographischen Berichten und Selbstaussagen von Betroffenen (…).« Honig (1992  : S. 293). Honig (1986  ; 1992) legt überhaupt eine ausführliche und fundierte Analyse »verhäuslichter Gewalt« vor, die auf die soziale Konstruktion von Gewalt verweist. »Gewalt« an sich sei nicht vorfindlich, sondern trete als soziale Wirklichkeitskonstruktion im Kontext eines gesellschaftlichen Konflikts um die Legitimität privater Gewalt auf. Sie bleibt aber gebunden an den fundamentalen Sachverhalt physischen Zwangs und ist verknüpft mit einem Konflikt um den Rechtsstatus von Menschen – hier Frauen und Kindern – und um das Verhältnis privater und staatlicher Gewalt. Wer ist wie an diesem Konflikt beteiligt  ? Der Staat ist beteiligt, indem er den Konflikt und das »Gewaltgeschehen« verrechtlicht (Verrechtlichung)  ; die öffentliche und private Fürsorge (Hilfe)  ; und soziale Bewegungen greifen in die Auseinandersetzung und Aushandlung ein (Politisierung eines »sozialen Problems«). »Auch die Sozialwissenschaft ist an diesem Konflikt beteiligt  ; sie treibt die ›Entdeckung‹ voran, sie nimmt gutachterlich teil, sie macht Lösungsvorschläge. Ihre Untersuchungen dokumentieren, wie sehr sie in diese Auseinandersetzung involviert ist  : Mal übernehmen sie die Perspektive der Opfer von Gewalt, mal die Perspektive des Staates und machen professionell-pragma-

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tische Vorschläge zur Institutionalisierung und Evaluierung von Interventionen  ; andere wiederum betonen die Differenz zwischen der Entdeckung des Themas und den Verfahren seiner Untersuchung« (Honig, 1992  : S. 48). Honig vertritt folgende These  : Erst die Selbstreflexion der Sozialwissenschaft auf ihre Involviertheit in den Prozess der »Entdeckung« familialer Gewalt erschließt ihr das Thema als gesellschaftlichen Sachverhalt. Eine wissenschaftliche Thematisierung kommt am Prozess der Herstellung des Problems nicht vorbei. Das Interesse richtet sich darauf  : »Die theoretische Reflexion muß den Prozeß der Ausgrenzung rückgängig machen, den die Diskurse über Hilfe, Schutz und Kontrolle betreiben, und Gewalt als integrales Element der Familienstruktur und nicht als eine Störung oder einen Fremdkörper untersuchen. Die empirische Aufmerksamkeit gilt der sozialen Praxis von Familienmitgliedern und der Rolle, die Gewalt bei der alltäglichen Herstellung von Familie spielt. Der Normalität von Gewalt in Familien gilt das Interesse, das heißt auch  : ihrer Trivialität und ihrer Diffusität« (Honig, 1992  : S. 49). Phänomen und Diskurs um häusliche Gewalt umschließen den Prozess der Vergesellschaftung privater Gewaltanwendung, sich dis­ tanzierend von der Gewalt in Familien definiert als »private Gewalt« (Honig, 1992  : S. 117). Sowohl einen solchen Prozess aktiv vorantreibend als auch in diesen eingebettet entwickeln sich spezifische Gewaltschutzeinrichtungen. In einem Grundlagenpapier jener Facheinrichtungen in Österreich, die sich mit Gewaltschutz im Haus, im sozialen Nahraum, in der Familie, gegen Familienangehörige, unter Erwachsenen und Partnern, gegenüber Frauen, Kindern, Jugendlichen, älteren Menschen, gegen Eltern von deren Kindern, Migrantinnen und Migranten, Pflege- und Betreuungsbedürftige und Stalkingopfer beschäftigen, wird ein Zugang von Godenzi (1996) aufgegriffen. So wird inzwischen der vormalige Begriff »Häusliche Gewalt« durch jenen aktuelleren »Gewalt im sozialen Nahraum« ersetzt bzw. erweitert. Diese Art Gewalt umfasst jede »Form von Gewalt (psychische, physische oder sexualisierte Gewalt), unabhängig davon, ob diese strafrechtliche Konsequenzen hat oder nicht. Sie wird im sozialen Umfeld ausgeübt oder angedroht und ist hinsichtlich der beteiligten Personen durch Intimität, Verhäuslichung, Autoritätsbeziehungen oder andere Abhängigkeitsverhältnisse gekennzeichnet. Die Definition impliziert, dass weder die Angehörigeneigenschaft noch der gemeinsame Wohnsitz begriffsrelevant ist. Einbezogen sind also auch z.B. Übergriffe von Ex-Lebenspartnern an Ex-Lebenspartnerinnen oder Gewalt in Alters- oder Pflegeheimen, ausgeübt von Mitbewohnerinnen/Mitbewohnern oder Betreuerinnen/Betreuern. ›Die Begriffssetzung ist deskriptiv und folgt einem lokalen Kriterium (Nahraum) und nicht einer sozialen Organisationsform (z.B. Familie). Dadurch ist kein Vorentscheid über allfällige Ursachen oder Einflussvariablen der Gewalt gefällt (Godenzi, 1996  : S. 27)‹« (Gewaltschutzzentren Österreich, 2011  :

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o. S.). Godenzi (1996) versteht unter »sozialem Nahraum« Wohn- und Hausgemeinschaften sowie gleichgeschlechtliche Beziehungen. Im Begriff »Gewalt im sozialen Nahraum«, der sich also durch Intimität und Verhäuslichung charakterisiert, sei weder Blutsverwandtschaft noch Zivilstand begriffsrelevant. Der Begriff wird an einem lokalen Kriterium ausgerichtet, nicht nach einer sozialen Organisationsform. Häusliche bzw. familiale Gewalt könnte dann als »Subform« von »Gewalt im sozialen Nahraum« katalogisiert werden. Allerdings bleiben Grenzziehungen problematisch, etwa im Beispiel »Schulinternat«. In der Literatur finden wir also drei bedeutungsähnliche Begriffe vor  : »häusliche Gewalt«, »Gewalt in der Familie« und »Gewalt im sozialen Nahraum«. Trennscharf sind diese Begriffe allerdings nicht. Anstelle des Begriffes »Gewalt in der Familie« wird häufig »Gewalt im sozialen Nahraum« verwendet. »Häusliche Gewalt« sei, so andere Begriffsverständnisse, eine Unterkategorie von Gewalt in der Familie und nicht mit diesem Gewaltbegriff gleichzusetzen. »Häusliche Gewalt« wird andererseits, ebenso häufig, für jede Form von Gewalt im familiären Kontext verwendet. Da es bis heute fast ausschließlich Studien darüber gibt, dass es sich um eine geschlechtsbezogene Gewalttat von Männern gegenüber Frauen handelt, wird in der Literatur häusliche Gewalt mit Gewalt gegen Frauen gleichgesetzt. »Häusliche Gewalt« meint in Soziologie und Sozialarbeit also vorerst  : die Gewalt in Familien und ähnlichen Formen des Zusammenlebens  ; Gewaltakte von Partnern und Partnerinnen, von Eltern und Kindern, von Geschwistern  ; in der privaten Lebenssphäre. Bezugspunkte sind die Personen und ihre Beziehungen, die Interaktionen, das »Lokale« sowie die »Privatheit«. Häusliche Gewalt versteht sich meist als Gewalt zwischen erwachsenen Menschen, die in einer Partnerschaft leben, sowie als indirekter Übergriff partnerschaftlicher Gewalt auf die Kinder. Direkte Gewalt gegen Kinder und Geschwistergewalt werden eher seltener miteinbezogen. Im Zeitverlauf scheinen immer seltener »Makro-Gewalt«-Ereignisse gemeint, sondern jene in ihrer Konkretheit  : personale, direkte Handlungen. 2. Diskurse in Soziologie und Sozialarbeit zur Gewaltforschung zur »Familiären Gewalt« in Österreich Gewalt, Gewalt in Familien und häusliche Gewalt, ihre Ursachen, ihre Ausformungen und ihre Konsequenzen sind ein Forschungsfeld. Wo liegen die Schwerpunkte  ? Gibt es thematische Entwicklungen  ? Wie können wir den Diskurs zur Gewaltforschung in Soziologie, Sozialarbeitswissenschaft und Sozialarbeit in Österreich skizzieren  ? Disziplinäre oder fachliche Diskurse bilden sich in ihren entsprechenden Journalen ab, die ich danach recherchierte, wie präsent die Themen Gewalt und insbesondere häusliche

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Gewalt sind. Für diesen Teil der Bestandsaufnahme ziehe ich folgende Zeitschriften heran  : International Journal of Conflict and Violence, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Österreichische Zeitschrift für Soziologie, soziales_kapital, SiÖ  – Sozialarbeit in Österreich sowie kontraste  – Presse- und Informationsdienst für Sozialpolitik. Diese werden vorgebracht, um die Thematisierung von Gewalt in Familien und häuslicher Gewalt zu verorten. Ein Ausgangspunkt sind Fragen danach, ob es so etwas wie Spezialisierung in Soziologie und Sozialarbeit sowie Sozialarbeitswissenschaft für die Befassung mit Gewalt respektive häuslicher Gewalt, d. h. eine »Gewaltsoziologie« oder eine spezielle Sozialarbeit, gibt. Während in der Sozialarbeit Gewaltschutz und Opferhilfe ein klassisches Handlungs- und Berufsfeld darstellen, ist das in der Soziologie undeutlicher. Die Soziologie bezieht sich in der Befassung mit »Gewalt« auf Klassiker wie Dahrendorf, Simmel und Popitz. Popitz (1986  : S. 73) beispielsweise legt Gewalt als Machtaktion aus, »die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt« (zit. in Hüttermann, 2000  : S. 56). Die Soziologie versteht »Gewalt« im Kontext sozialer Kontrolle (Bellebaum, 1994  : S. 99) sowie als Devianz und als Arten abweichenden Verhaltens (ebd.: S. 120 f.). Wenngleich sich inzwischen zwar einige sozialwissenschaftliche Einrichtungen bzw. Organisationseinheiten zur Gewaltforschung entwickelten  : Eine »Gewaltsoziologie« als spezielle und »Bindestrich«-Soziologie bildete sich lange nicht aus (siehe beispielsweise die Zusammenstellung in Kerber & Schmieder, 1994). Devianz und soziale Kontrolle freilich, als die die Gewalt rahmenden soziologischen Kategorien, finden sich in den meisten Werken zu soziologischen Problemfeldern und Begriffen. Gewalt lediglich als Devianz zu verstehen wäre der Fachpraxis in der Sozial­ arbeit  – traditionell eine mit emanzipatorischem Engagement und EmpowermentAnsprüchen – jedoch mitnichten zu gering, birgt denn Gewalt Machtungleichheiten und asymmetrische Herrschaftsverhältnisse, die keinesfalls nur als »Abweichungen« verstanden werden dürften, da sie diese sonst verschleiern würden. Verständnis und Richtungen in der Befassung mit Gewalt ändern sich. Wenn die soziologische Erforschung von Gewalt im deutschsprachigen Raum fünf Jahrzehnte zurückblickt, so standen in den 1970er- und 1980er-Jahren Konflikte zwischen den bildungsbürgerlichen neuen sozialen Bewegungen und dem Staat im Vordergrund. Mit der Herauskristallisierung einer rechten, fremdenfeindlichen Gewaltbereitschaft und der dieser entgegengesetzten Mobilisierung einer linken, antifaschistischen Gewaltbereitschaft änderte sich der Schwerpunkt der Gewaltforschung in den 1990erJahren. Eine sich etablierende Gewaltforschung, so eine solche skizziert werden kann, versteht sich als interdisziplinäre.

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2.1 »Gewalt« und »Familiäre Gewalt« als Themen der Gewaltforschung in Österreich und Deutschland

Zur Institution in der Konflikt- und Gewaltforschung im deutschsprachigen und europäischen Raum entwickelte sich das Journal für Konflikt- und Gewaltforschung, ab 2007 als International Journal of Conflict and Violence benannt, des Institute for Interdisciplinary Research on Conflict and Violence an der Universität Bielefeld. Die 68 Beiträge des Journals in den sieben Jahren von 1999 bis 2005 umfassen ein weites Spektrum einer Konflikt- und Gewaltforschung. »Familiäre Gewalt« taucht als Thema direkt nicht auf, indirekt allerdings in drei Beiträgen  ; als Aspekt der Gewalt gegen Frauen, im Rahmen der Viktimologie oder im Zusammenhang mit Evaluation von Anti-Gewalt-Trainings. In den fünf Jahren des International Journal of Conflict and Violence von 2007 bis 2011 finden sich 83 Beiträge  ; darunter keiner zur Thematik »Familiäre Gewalt«. Ein eigenes Journal zur Gewaltforschung in Österreich existiert bislang nicht. In einer Studie für Österreich betrachtet Brandstetter (2009  : S.  25 ff.) häusliche Gewalt sowie die zugehörige Theoriebildung als auch Erforschung als attraktives Forschungsfeld mit geringem theoretischem Entwicklungsstand. Ab den 1970er-Jahren in den USA stand dieser Forschungszweig unter dem Paradigma einer standardisierten quantitativen Erfassung von Phänomenen häuslicher Gewalt. Der deutschsprachige Raum biete bislang nur wenig Forschung über Ausmaß und Wahrnehmung häuslicher Gewalt. In der deutschsprachigen Soziologie dominiere das Arbeiten mit offiziellen Kriminalstatistiken. Überrepräsentiert wären darin frauenzentrierte Viktimisierungsstudien. Weder eine umfassende Dunkelfeldforschung noch Langzeitstudien existierten. Die Beforschung von Gewalt wäre vor allem aufgrund des politischen Diskurses über Gewalt schwierig  : Das ganze Gewaltvokabular könne als semantisches Schlachtfeld bezeichnet werden (Krasmann/Scheerer, 1997  : S. 9, in Brandstetter, 2009  : S. 47). Gewaltverstehen und Gewaltforschung pendelten in einer Diskrepanz zwischen Idealisierung, Moralisierung, Politisierung und Interessenmobilisierung zum einen, kritischer Distanz, Analyse und Theoriebildung zum anderen sowie einer effektiven Problemerkundung und dem Ergreifen wirksamer Maßnahmen. 2.2 »Gewalt« und »Familiäre Gewalt« als Themen in der deutschsprachigen Soziologie am Beispiel der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie

Die Suche nach der Thematisierung von Gewalt, Gewalt in Familien bzw. häuslicher Gewalt im soziologischen Diskurs im deutschsprachigen Raum schürft ein Schwerpunktheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie heraus. Be-

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eindruckend belegen die darin enthaltenen 17 Beiträge im Themenschwerpunktheft Soziologie der Gewalt im Jahr 1997 den Stand der soziologischen Befassung mit und Beforschung von Gewalt. Familiäre Gewalt allerdings ist kein explizites Thema, sie wird nur marginal und mittelbar diskutiert. Die Beiträge stellen im Überblick und einleitend fest  : Die Gewalt ist in ihren sozialen Erscheinungsformen vielgestaltig. Die soziologische Forschung über Gewalt wäre bis dorthin eine Soziologie der Ursachen, aber keine Soziologie der Gewalt. Ihre Themen sind ökonomische Unterprivilegierung, Arbeitslosigkeit, Erziehungsdefizite oder soziale Pathologien. Die Soziologie der Ursachen der Gewalt ist ein Diskurs über die Unordentlichkeit von Gesellschaften und Kulturen. Die Gewalt selbst bleibt eine weitgehend unbekannte und unerforschte Wirklichkeit. Trotha (1997) beschreibt den Stand der Gewaltforschung trotz einer Fülle sozialwissenschaftlicher Literatur als ungenügend. Gewalt würde in der allgemeinen soziologischen Theorie eine untergeordnete Rolle spielen. Die Soziologie der Gewalt wäre eine Soziologie der Ursachen, aber keine Soziologie der Gewalt. Im Mittelpunkt stehen methodologische Fragen und das Konzept der dichten Beschreibung der Gewalt und inhaltlich-theoretisch die Modalitäten der Gewalt, allen voran ihre Körperlichkeit. Nedelmann (1997) unterscheidet zwei Richtungen der Gewaltforschung bis in die 1990er-Jahre, die Mainstream-Gewaltforschung und die neuere Gewaltforschung. Elwert (1997) arbeitet heraus, dass Gewalt mit Irrationalität und Emotionen assoziiert wird. Um die Bedeutung von Zweckrationalität beim Einsatz von Gewalt aufzuzeigen, untersucht der Autor extreme Beispiele scheinbar irrationaler Gewalt, insbesondere von Bürgerkriegen. Der Aufsatz untersucht wesentliche Strukturelemente, die Stabilisierung und die Gewinne dieser Gewaltmärkte. Der Aufsatz von Sofsky (1997) untersucht, in welchen zeitlichen Strukturen Gewalt abläuft, ausgeübt und erlitten wird. Krasmann (1997) hat eruiert, dass sich Formen der Gewaltausübung nur vor bestimmten historischen, politischen und kulturellen Verhältnissen begreifen lassen. Dubet (1997) konstatiert dies schärfend, dass der Gewaltbegriff analytisch nicht sehr brauchbar sei, insofern die soziale Definition von Gewalt entsprechend der Kontexte und Akteure variiere und die Bedeutungen und die Mechanismen der Herausbildung von Gewalttätigkeiten verschieden seien. Hinsichtlich der Schwierigkeit einer definitorisch eindeutigen Begrifflichkeit von »Gewalt« nimmt Inhetveen (1997) die Position ein, dass der soziologische Blick auf Gewalt in vielen Fällen durch Alltagsmoral eingeschränkt sei. Dies führe auch in der Wissenschaft zur Vorverurteilung von Gewalthandlung als schlechthin negativ. Inhetveens auf qualitativen Daten beruhende Interaktionsanalyse von Hardcore-Konzerten zeigt jedoch, dass Gewalt unter bestimmten Rahmenbedingungen als normierte, rituelle Inszenierung sozial produktiv sein kann. Gewalt kann subkulturelle Zusammengehörigkeit stärken.

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Harvey (1997) zufolge neigen die westlichen Kulturen dazu, Gewalt mit Männlichkeit und einer spezialisierten Erotik von Herrschaft zu verbinden. Wenn man Gewaltkultur vergleichend untersucht, sei es deshalb besonders wichtig, über Vorgänge der Vergeschlechtlichung nachzudenken und dabei über die Kategorie des sozialen Geschlechts hinauszugehen. Wenn wir die Identitäten verstehen wollen, die durch gewalttätige Interaktionen hervorgebracht werden – dies mögen vergeschlechtlichte oder andere Formen der Identität sein –, dann müssten wir zuerst zu beobachten lernen, was es bedeutet, dass Personen bestimmte Merkmale mit anderen teilen. Sobald wir Gewalt als Transformationskraft, als konstitutiv für bestimmte Formen der Vergesellschaftung verstehen, würde es leichter, die Art und Weise zu begreifen, mit der Gewalt eingesetzt wird, um Unterschiede zwischen Personen, zum Beispiel zwischen Männern und Frauen, zu markieren. Der Beitrag von Harvey versucht, diese theoretischen Gesichtspunkte durch eine vergleichende Analyse von Fällen »häuslicher Gewalt« und in einer Untersuchung die Formen zu verdeutlichen, in denen gewalttätige Praktiken innerhalb des Bereichs der Verwandtschaft durch den Staat definiert oder reformuliert werden. Gewalt in Kolumbien wird im Aufsatz von Waldmann (1997) als Alltagsphänomen in den Städten und in ihrer zentralen Rolle für organisierte Verbände dargelegt. Er unterstreicht die fehlende moralische Ächtung sowie politische und rechtliche Sanktionierung von Mord und Totschlag. Rösel (1997) thematisiert ethnische Gewaltakte, Gewaltkreisläufe und schließlich Bürgerkriege und deren wachsende Gefährdung für die Stabilität und Legitimität multiethnischer Staaten. Sie führten zu militanten ethnischen Konflikten und setzen zumindest eine Politisierung – also die politische Artikulation und Verschärfung ökonomischer und sozialer Forderungen ethnischer Gruppen und die Entstehung ethnischer Ideologien, Unternehmer und Parteien – voraus. Entscheidend für den Ausdruck und die wechselseitige Steigerung ethnischer Gewaltkreisläufe ist aber die Entstehung einer über lange Zeit unbewussten Gewaltbereitschaft, die die einzelnen Mitglieder der ethnischen Gruppe zu einer in ihren Augen zu Unrecht attackierten und beständig bedrohten Schicksals- und Opfergemeinschaft zusammenschließt und ihnen am Ende kompensatorische Vergeltungsschläge gegen lokale, aber friedliche Mitglieder der Gegengruppe nahelegt. Scheffler (1997) thematisiert die mythische Tötung von Gottkönigen. Shearing (1997) untersucht, wie sich der Wandel in der Art und Weise, wie Sicherheit und Recht gedacht und organisiert werden, auf den Ort und die Rolle staatlicher Gewalt bei der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung auswirkt. Seine These ist, dass das Aufkommen einer Logik des Risikos und die Kritik an dem etablierten Vergeltungsund Sühnerechts auf der Grundlage eines aufarbeitenden Rechts dazu führen werde, dass Gewalt weniger unter dem Gesichtspunkt betrachtet wird, Schmerz zuzufügen.

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In einer gewissen Weise verliere Gewalt damit einen privilegierten Status. Vielmehr wird sie als eine Ressource unter anderen betrachtet, um Sicherheit herzustellen und Gefahren zu mindern. Nach Simon (1997) spiegelt der langfristige Niedergang der Todesstrafe in modernisierenden Gesellschaften teilweise die wachsende Fähigkeit des Staates wider, für Sicherheit und Legitimität mittels staatlicher Regelungen und Wohlfahrt zu sorgen. Die neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik in den Vereinigten Staaten habe in den vergangenen Jahren große Unsicherheiten, Ängste, Frustrationen und Ressentiments erzeugt. Im Rahmen des Konzepts »Regieren mittels Verbrechen« zeigt der Autor, dass das Strafrecht und insbesondere die Todesstrafe zu wesentlichen Instrumenten geworden sind, um politische Zustimmung von Bevölkerungsteilen zu erreichen, die von der neoliberalen Risikogesellschaft bedroht und verunsichert sind. Die Todesstrafe spielt eine symbolische Schlüsselrolle, um eine politische Kultur durchzusetzen und zu festigen, in der Gewalt und Rache die Losungen der politischen Mobilisierung sind. Schwab-Trapp (1997) untersucht in seinem Beitrag die Beziehungen, die zwischen dem Diskurs über den Krieg in Jugoslawien und dem Wandel der deutschen politischen Kultur des Krieges bestehen. Friedrichs (1997) befasst sich mit sozialen Bewegungen, die sich zahlreich darauf richten würden, spezifische Werte und auf ihnen beruhende gesetzliche Normen durchzusetzen. Dabei wird Gewalt ein mögliches Mittel, diese Ziele zu erreichen. Die Wirkungen gewaltsamer Aktionen werden hier am Beispiel der Veganer bzw. Tierbefreier untersucht. Die theoretische Basis bilden Hypothesen der Theorie zur Erstellung von Kollektivgütern und zu sozialen Bewegungen. Der Aufsatz richtet sich zunächst auf die theoretischen Grundlagen der Bewegung, sodann auf ihre Strategien und die Aktionen der radikalen Aktivisten. Ein Ergebnis ist, dass den Massenmedien eine entscheidende Bedeutung dafür zukommt, ob und in welcher Form die Ziele der Bewegung einzelne Bevölkerungsteile erreichen. Die wichtigste Folgerung ist, dass gewaltsame Aktionen nicht helfen, die zentralen Ziele, hier die Gleichstellung von Tier und Mensch, zu erreichen, sondern nur die abgeleiteten Ziele, hier Proteste gegen Tierversuche und Massentierhaltung. Die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung sozialer Normen sei daher für eine soziale Bewegung kontraproduktiv. Bodemann (1997) trägt zur historischen Untersuchung des Verschweigens und Erinnerns an die Verbrechen von Auschwitz bei. Keppler (1997) richtet ihr Augenmerk auf Aspekte der Beziehung zwischen Gewalt und ihrer Wahrnehmung. Gewalt sei demnach mindestens ein zweistelliges Verhältnis (zwischen Täter und Opfer), nicht selten aber ein dreistelliges Verhältnis (zwischen Täter, Opfer und Zuschauer), das einen jeweils anderen Charakter gewinnt, je nachdem, ob es sich um reale oder fiktive, spontane oder inszenierte Gewalt handelt. Gegen die pauschale These, es bestünde heute eine weitgehende Kontinuität zwischen der Wahrnehmung

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realer und fiktiver Gewaltszenen im Fernsehen, wird in exemplarischen Produktanalysen nachgewiesen, dass für die unterschiedlichen Gattungen der Gewaltdarstellung in Fernsehen und Film ein hohes Maß an Diskontinuität kennzeichnend ist. Dies ließe auf die Unterschiedlichkeit auch des Zuschauerinteresses an der Wahrnehmung medialer Gewalt schließen. Eine weiteres gewaltthemenaffines Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie ist die Ausgabe 43 »Soziologie der Kriminalität« (Oberwittler, Karstedt, 2003). Es enthält 19 Beiträge zu theoretischen Perspektiven, Sozialstruktur und Anomie, Lebenslauf und Passagen, Migration, Gelegenheiten und Entscheidungen, Märkten sowie zur Strafjustiz und Kriminalpolitik. Keiner davon widmet sich explizit Gewaltakten im Haus, kriminologisch relevanten Phänomenen zur Gewalt in Familien oder strafrechtlichen Fragen in Partnerschaften oder zwischen Eltern und Kindern. 2.3 »Gewalt« und »Familiäre Gewalt« als Themen in der Soziologie in Österreich anhand der ÖZS

Die Österreichische Zeitschrift für Soziologie (ÖZS) ist das mediale Organ der Soziologie in Österreich. Blicken wir in der Recherche vier Jahrzehnte zurück, so lesen wir seit dem Beginn der ÖZS im Jahr 1976 im Zeitverlauf einzelne Beiträge zur Thematik »Gewalt«  : zur Gewalt im Alltag der Psychiatrie (Forster, Pelikan, 1978)  ; zum verwaltungsbehördlichen Freiheitsentzug als besonderem »Gewaltverhältnis« (Matzka, 1981)  ; zum Strafvollzug aus Sicht der Kriminalpolitik (Pilgram, 1981)  ; zum staatlichen Gewaltmonopol und deren Missständen sowie den erforderlichen bürgerlichen Gegenreaktionen (Rehak, 1981)  ; zu neuen Formen struktureller Gewalt am Beispiel und im Feld der Krankenhäuser (Müller, 1981)  ; zu Gewalt in der Auslegung von Überwachung als eine sozial integrierende kollektive Gewalt (Gstettner et al., 1984)  ; zu Gewalt und Religion (Holl, 1986)  ; oder zu Funktionen und Erscheinungsformen von Gewalt und deren Transformation hin zu gesellschaftlicher Macht (Krüger, 1989). Wie ein Beitrag im spezifischeren Themenfeld »häuslicher Gewalt« aus den 1980erJahren belegt, wurde Gewalt in Familien damals in Gewalt gegen Frauen übersetzt und Sozialarbeit im Feld familiärer Gewalt als Frauenhausarbeit definiert. Die Autorin weist in ihrem Kurzbericht aus einer Studie auf Basis einer Befragung von Ärztinnen und Ärzten sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern hinsichtlich deren fachlicher Erfahrungen mit Gewaltopfern gesellschaftskritisch darauf hin, dass »all diese Opfer Anklage erheben gegen die Gewalt in der Familie, die vielfach noch gesellschaftlich toleriert wird, um durch physische und psychische Unterdrückung angepaßtes Untertanenverhalten produzieren zu können« (Schurz, 1983  : D. 177). Ge-

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schlechterverhältnis und Eltern-Kind-Verhältnis in der Familie waren geformt vom Familienoberhaupt und Haushaltsvorstand und von Ausläufern des Züchtigungsrechtes sowie körperlichen Strafen – abgeschafft in Österreich in Schritten erst zwischen 1975 und 1989. In den 176 Beiträgen der 32 Ausgaben der Jahre 2001 bis 2010 blieb Gewalt ein Randthema. Im Jahr 2005 war das Juni-Heft (Heft 2) dem Schwerpunktthema »Die Zukunft des Gewaltmonopols  ?« mit fünf Beiträgen gewidmet. Das Gewaltmonopol wird als wichtigstes Merkmal des europäischen Staatsbildungsprozesses aufgegriffen, und es wird dem Umstand Rechnung getragen, dass monopolisierte legitime Gewaltausübung auch bedeutet, dass die meisten Bürger diese Monopolisierung als rechtens und legitim akzeptieren. Der Grad der Akzeptanz kann dabei so weit reichen, dass Funktionsweise, Reproduktion und Entscheidungsgrundlagen des Gewaltmonopols ein unhinterfragtes Selbstverständnis für den Großteil der Bevölkerung darstellen (Reicher, 2005  : S. 3). Das Themenheft der ÖZS sammelt zur Reflexion des Gewaltmonopols Studien zum Sicherheits- und Gerichtswesen. Hirtenlehner (2005) befasst sich mit der Entlassungspraxis der österreichischen Vollzugsgerichte und den Hintergründen der Entlassungen. Kravagna (2005) analysiert Urteile in Suchtmittelverfahren am Straflandesgericht Wien nach signifikanten Strafdifferenzen zwischen weißen und schwarzen Angeklagten. Wurtzbacher (2005) thematisiert die Auswirkungen bürgerschaftlicher Tätigkeiten im Rahmen von sogenannten Bürgerwachten und kommunalen Hilfsdiensten auf die soziale Kontrolle von Nachbarschaften. Und Stummvoll (2005) diskutiert in seiner geografischen Kriminalstrukturanalyse das Forschungsfeld an der Schnittstelle zwischen Stadtsoziologie und Kriminologie und lotet das sozialwissenschaftliche Potenzial einer regionalen Analyse der Kriminalstatistiken aus. In der Ausgabe 2/2001 der ÖZS bespricht Katharina Inhetveen das Buch Dynamics of violence. Processes of escalation and de-escalation in violent group conflicts der Herausgeber Elwert, Feuchtwang und Neubert (1999). Zu den Bezügen zwischen Gewalt und Kultur und zur Diskussion des Merkmals »Kulturalität« von Gewalt trägt die Autorin Inhetveen (2005) insofern bei, als sowohl Gewaltinteraktionen als auch Gewaltvorstellungen/-fantasien mit kulturspezifischen Deutungsmustern zusammenhängen und eine bestimmte Gewalthandlung – der Faustschlag ins Gesicht – kulturspezifisch interpretiert werden kann. Zugleich generieren Kulturen spezifische Formen von Gewalt. Inhetveen markiert einen wichtigen Unterschied  : jenen der Kulturalität von Gewalt gegenüber der Möglichkeit der gezielten Kulturalisierung von Gewalt. Wenn Gewalthandeln deutungsoffen ist, dann würde nach dem Machthandeln zu fragen sein, wer Gewalt als solche definiert. Diese zwei Eigenschaften – Kulturalität und Kulturalisierung – prädestinieren »Gewalt« als Gegenstand von Definitionskämpfen. Während bestimmte Deutungen von Gewalt propagiert und politisch genutzt werden

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können und damit das weitere Gewalt-»geschehen« beeinflussen können, können andere über entsprechende Machtpositionen ausgedünnt und aufgelöst werden. Dellwing (2008, 2009) formuliert in zwei Beiträgen eine Sanktionssoziologie. Hierin greift er das eine Mal kritisch die Frage nach der soziologischen Thematisierung der Sanktion als Werkzeug auf. Sanktion als Werkzeug würde angewandt, um Normen Geltung zu verschaffen und Verhalten zu ändern. Dieses »Werkzeug-Konzept« würde in der Soziologie des abweichenden Verhaltens lange infrage gestellt und ginge seinen Ausführungen nach davon aus, dass die Sanktion als »Ausdruck« auf die Norm als »Ausdruck« »in der Welt« verweise – sich diese Idee der die Sanktion verankernden Norm also der Bedeutung von Sanktion als Zeichen hinwende. Sanktion als Zeichen würde dann nur auf andere Zeichen verweisen können. Dellwing (2008) thematisiert diese Abkehr in Rekurs auf Derrida, Stanley Fish und Foucault und schlägt eine Soziologie der Sanktion vor, in der diese Sanktion als »schwebendes Zeichen« gedacht wird, das Zugehörigkeitsunterstellungen aufnimmt und (re)produziert. Das andere Mal führt Dellwing (2009) seine Überlegungen zum Normvokabular einer Sanktions­soziologie weiter. Der Beitrag stellt die Diversität des Sanktions­ begriffs dar und schlägt eine Ordnung der Verwendungen bezüglich ihrer Verbindung zur Norm vor. Während klassische Sanktionssoziologien die Sanktion in der Norm verankert und jene in dieser dadurch abgebildet und legitimiert sehen würden, lockern neoklassische Sanktionssoziologien diese Verbindung von Sanktion und Norm auf. Der Normbruch wird dann nicht mehr als hinreichende, dennoch als notwendige Bedingung zur Verankerung der Sanktion gesehen. Diese verankernde Sanktion ist in der neoklassischen Sanktionssoziologie nicht mehr legitimierend. Postklassische Sanktionssoziologien lösen die Kausalverbindung von der Norm zur Sanktion hingegen völlig. Hier ist die Sanktion nicht mehr in der Norm verankert, dafür führt sie jedoch die Legitimierung durch die Norm wieder mit voller Macht ein, die nun als Sprachspiel gedacht werde. Trotz deutlich unterschiedlicher Thematisierung könnte die Sanktionssoziologie dadurch am Ende wieder genau dort stehen, wo sie angefangen hat – meint Dellwing (2009). 2.4 »Gewalt« und »Familiäre Gewalt« in der Sozialarbeitswissenschaft und Sozialarbeit in Österreich

Als sozialarbeitswissenschaftliche Zeitschrift etablierte sich in Österreich das Onlinejournal soziales_kapital, welches seit 2008 besteht. Bis 2011 wurden sieben Ausgaben mit 46 Beiträgen publiziert. Geradeheraus zeigt die themenspezifische Bilanz  : Kein Artikel der Sozialarbeitswissenschaft in Österreich griff in diesem Beobachtungszeitraum Gewalt, familiäre bzw. häusliche Gewalt oder Gewaltforschung auf.

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In Ermangelung einer Thematisierung von Gewalt im sozialarbeitswissenschaftlichen Diskurs fragen wir uns  : Was diskutiert die Sozialarbeit in ihrer Fachpraxis zur familiären Gewalt  ? Der Diskurs zur Sozialarbeit bzw. Sozialarbeitspraxis wird in Österreich in der Zeitschrift für Soziale Arbeit, Bildung und Politik »SiÖ – Sozialarbeit in Österreich« geführt. In den zehn Jahren von 2001 bis 2010 finden wir 43 Ausgaben mit insgesamt 346 Artikeln. Der Sozialarbeit und Gewalt widmet sich die zweite Ausgabe im Jahr 2004 mit neun Beiträgen aus der Fachpraxis. Diese berichteten aus der Sozialarbeitspraxis zur Gewaltprävention bei Jugendlichen, zur Gewalt als Alltagsphänomen in den sozialarbeiterischen Praxisfeldern, zur Bewährungshilfe und deren Wirkungen, zur Gewalt an gehörlosen Frauen, zum Sklavenhandel und Sexmärkten, zu Jugendkonzentrationslagern, zu Männergewalt an Frauen und zur Statistik der Autonomen Frauenhäuser. Ein Artikel legte Gedanken und Erfahrungen zum Thema familiäre Gewalt dar (Mittelbach, 2004  : S. 22 ff.). Als originär weder soziologisch noch sozialarbeiterisch ist die gesellschaftspolitische Zeitschrift kontraste – Presse- und Informationsdienst für Sozialpolitik einzuordnen, doch wird sie in der Recherche relevant. Sie widmete die September-Ausgabe im Jahr 2009 dem Themenschwerpunkt »Gewaltprävention« mit sechs Beiträgen zur häuslichen Gewalt in Österreich (Kellem, 2009), zum Opferschutz aus rechtlicher Sicht ( Jauk, 2009), zur Einrichtungslandschaft (Schwarz-Schlöglmann, 2009), zu Sozialisierungsfragen der Gewaltbereitschaft und -neigung (Kellem, Hödl, 2009), zur Gewaltprävention und Jugendwohlfahrt (Hötzl, 2009) sowie zu Qualität und Evaluation in der Gewaltprävention (Sorgo, 2009). Vor dem Hintergrund der Professionalisierung und Akademisierung der Sozialarbeit in Österreich lässt sich die Forschungslandschaft innerhalb der Ausbildung zur Sozialarbeit – Ausbildung wird vielfach als »vorwissenschaftliche« Stufe bezeichnet – beobachten und darin das Themenfeld »Gewalt« verorten. Wie eine eigene Recherche aus dem Jahr 2011 zeigt, wurden in Österreich in dem Zeitraum zwischen 2005 bis 2010 an acht Standorten 2875 Abschlussarbeiten an den Fachhochschulen für Soziale Arbeit erstellt.1 Das Themenfeld »Gewalt« ist in 3,8 % der Diplomarbei1 Wir recherchierten hierzu ausführlich in einer Lehrveranstaltung, die Ergebnisse sind in der Seminararbeit von Irmina-Anna Gerlich, Robert Kern, Elisabeth Rosenberger und Caroline Schrotta (2011) dargestellt. Für die Erhebung der Themengebiete sowie der methodischen Herangehensweise der Abschlussarbeiten respektive der Diplomarbeiten wurde eine repräsentative Stichprobe in einem Clusterauswahlverfahren gezogen. Die vier Cluster waren die Standorte der Studiengänge Wien, Graz, Feldkirchen (Kärnten) und Feldkirch (Vorarlberg), pro Cluster bzw. Studiengang wurden 60 Diplomarbeiten der vier Jahrgänge 2006–2009 in einem einfachen systematischen Stichprobenverfahren ausgewählt. Auf diese Weise wurden 240 Diplomarbeiten erhoben und auf die darin aufgegriffenen Themenfelder hin untersucht.

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ten (2006–2009) als Hauptthema gewählt, in weiteren 2,4 % ist es mit bzw. in einem anderen thematischen Kontext relevant. Die Analyse zeigt beispielsweise, dass das Thema »Gewalt« in Diplomarbeiten der Sozialarbeitsausbildung in Österreich durchaus standortspezifisch häufiger bzw. seltener und von Frauen (anteilig) relativ häufiger als von Männern gewählt wird. Zwei Drittel der Diplomarbeiten zum Themenfeld »Gewalt« sind das untersuchte Phänomen erklärend angelegt, v.a. in (Einzel-)Fallstudien, deutlich seltener sind sie begriffsbestimmend (analytisch) – keine Diplomarbeit im gezogenen Sample untersuchte »Gewalt« hypothesengeleitet (deduktiv-prüfend).2 3. Literatur und Forschung zur »Familiären Gewalt« in Österreich In Ermangelung einer eigenen Literatur- und Forschungsdatenbank zur Thematik »Gewaltforschung in Österreich« verbleiben zwei Strategien zur Bestandsaufnahme  : zum einen eine Suche in Verbundsdatenbanken, zum anderen eine Aufstellung einzelner Studien zur Beforschung häuslicher Gewalt. Wir haben es selbstredend lediglich mit einem Ausschnitt an Literatur zu tun, der hier systematisch vorliegt und dadurch einigermaßen thematisch repräsentativ sein, doch weitreichend keine Vollständigkeit für sich beanspruchen kann. Laut Recherche3 im österreichischen Bibliothekenverbund mit über 7,5 Millionen Titeln befinden sich im Jahr 2010 in der Schlagwortkombination »Gewalt« und »Familie« und »Österreich« (alle im Schlagwort) 75 Titel. Diese Bestandsaufnahme legt offen  : In 33 dieser Titel, das sind 44 Prozent, geht es um das Gewaltschutzgesetz. Die Abfrage zu der Kombination der Stichworte »Häusliche Gewalt« und »Österreich« liefert 17 Treffer, von denen sich acht mit jenen aus der vorhergehenden decken. Die Recherche zu den Schlagworten »Gewaltforschung« und »Familie« und »Österreich« bleibt ohne Treffer und deckt einen zweiten Befund 2 Weitere Analysen zeigen beispielsweise vergleichsweise hohe Anteile an einem Standort, v.a. Fachhochschule Kärnten (46,7 % beobachtet vs. 26,7 % erwartet zum Thema) bzw. geringe Anteile an der Fachhochschule Wien (3,4 vs. 24,2 %). Nach dem Geschlecht der DiplomandInnen ausgewertet zeigt sich, dass »Gewalt« nach wie vor ein Thema ist, das Frauen in ihren Abschlussarbeiten anteilig mehr beschäftigt als Männer (Frauen 86,7 % beobachtet vs. 77,9 % erwartet  ; Männer 13,3 % vs. 22,1 %). Hinsichtlich des theoretischen Zugangs zeigt sich, dass Diplomarbeiten zum Themenfeld Gewalt relativ häufiger Phänomene erklärend sind (66,7 vs. 42,3 %) als begriffsbestimmend (33,3 vs. 42,3 %) oder hypothesenleitend (0,0 % vs. 15,5 %). Hinsichtlich der Empirie, so die Diplomarbeiten empirische Teile beinhalten, beobachten wir doppelt so häufig wie erwartet Diplomarbeiten zum Thema Gewalt ohne empirischen Teil (ohne 46,7 beobachtet vs. 27,9 % erwartet) – Letzteres ist allerdings vorerst als Effekt des Standortes zu werten, da an der FH Kärnten Diplomarbeiten ohne empirische Teile angelegt sind. Die dann vorzufindende Forschungsstrategie ist hauptsächlich qualitativ (87,5 % beobachtet vs. 85,0 % erwartet). 3 Abfrage August 2010.

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auf  : »Gewaltforschung« zur Familie existiert in Österreich zumindest als eigene und explizite sozialwissenschaftliche Begrifflichkeit nicht. In den recherchierten Werken finden wir vereinzelt umfangreichere Bestandsaufnahmen einerseits zur Forschung zu Gewalt, allen voran den Gewaltbericht 2001 (BMSG, 2001) und jenen zum Erziehungsverhalten und zu gewaltaffinen Sanktionsformen von 2009 (BMWFJ, 2009). Andererseits fordert die Recherche Werke zur Intervention gegen Gewalt zutage  ; das sind beispielsweise Berichte und Dokumentationen der Interventionsstellen und entsprechenden Fachveranstaltungen (Almer & Logar 2006  ; Interventionsstelle 2000). »Gewaltforschung« interessiert besonders, es ist jedoch als Stichwort nicht auffindbar. Die Abfrage der Literatur- und Verbundsdatenbanken führt in keiner Kombination zu einem Treffer, auch nicht als Schlagwort. Die Suche nach »Gewaltforschung« in »alle Felder« ergibt 45 Werke  ; im »Titel« bilanziert die Abfrage mit 18 Treffern – in Kombination mit »Österreich« allerdings mit keinem Treffer. Gewaltforschung im häuslichen Kontext taucht nicht auf. Jedenfalls macht das Rechercheergebnis die Bedeutung des »Internationalen Handbuchs zur Gewaltforschung« von Heitmeyer und Hagan (2002a) evident, wenn einige der identifizierten Werke in diesem Handbuch zu finden sind. Bei den Beiträgen handelt es sich um jene von Böttger und Strobl (2002), Dollasse und Ulbrich-Hermann (2002) sowie Eckert und Willems (2002). Die weiteren Werke befassen sich mit Konflikt- und Gewaltforschung am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld (Hüpping, 2006), mit Fremdenfeindlichkeit aus Sicht der politischen Psychologie (Dollasse, 1999), mit Desintegrationsprozessen in einer urbanen Gesellschaft (Heitmeyer, 2000), mit der Gewaltforschung selbst (Imbusch, 2004), mit jugendlichen Gewalttätern (Sitzer, 2008) oder mit – hier nicht zitierten – Themen im weiteren Umfeld zu kulturellen und ethnischen Konflikten, zu Migration, Rechtsextremismus oder zu Schulamoklauf. In den Suchergebnissen zur »Gewaltforschung« spüren wir zu bzw. für Österreich drei Werke auf, das sind ein Tagungsbericht zum Jugendschutz mit Ansätzen zur Gewaltforschung (Vitouch, 1995), ein Beitrag zur Aggressions- und Gewaltforschung zu einer christlichen Sündenlehre (Trawöger, 1997) und einer zur Gewalt und Aggression an Schulen (Kügele, 2001). Fragen wir nach einer etwaigen Institutionalisierung von Gewaltforschung in Österreich, insbesondere im häuslichen Kontext, so können zwei Institute ausfindig gemacht werden, denen ein Teil der Studien zuzuordnen ist  ; das sind das Institut für Konfliktforschung4 und das Österreichische Institut für Familienforschung5, beide in 4 http://www.ikf.ac.at 5 http://www.oif.ac.at

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Wien angesiedelt. Das Wiener Institut für Konfliktforschung, ein 1976 gegründetes außeruniversitäres Forschungsinstitut, widmet sich der Erforschung politischer und gesellschaftlicher Konflikte sowie der Entwicklung entsprechender Lösungsmöglichkeiten. Demokratieforschung, Spaltungserscheinungen in Politik und Gesellschaft, Sicherheitsforschung, Vorurteilsforschung sowie historische Sozialforschung bilden die fünf Forschungsschwerpunkte des Instituts. Jüngere Publikationen beschäftigen sich mit Feindbildern in Europa (Sir Peter Ustinov Institut, 2008), mit Rassismus (Amesberger & Halbmayr, 2008) oder mit affirmativer Aktionspolitik für Migrantinnen und Migranten (Kaloianov, 2008) – eine Buchveröffentlichung zum Kernthema häusliche Gewalt findet sich in der Studienreihe Konfliktforschung zurückreichend bis 1995 nicht. Im Institut bildet die Gewaltforschung eines von vier thematischen Feldern im Forschungsschwerpunkt Sicherheitsforschung. »Während in den 1990er Jahren neben Untersuchungen zu familiärer Gewalt bzw. zum österreichischen Gewaltschutzgesetz auch Studien im Bereich der Exekutive durchgeführt wurden, befassen sich die am Institut durchgeführten Projekte derzeit fast ausschließlich mit (Partner-) Gewalt gegen Frauen.«6 Das Institut erstellte im Familienbericht 2009 des Bundesministeriums für Wirtschaft, Familie und Jugend das Kapitel über »Gewalt in der Familie«. In den Jahren 2009 und 2010 liefen im Untersuchungsbereich häusliche Gewalt zwei Forschungsprojekte, das eine zur Partnergewalt gegen ältere Frauen, das andere zur Frage der Standardisierung der EU-Gesetzgebung betreffend Gewalt gegen Frauen und Kinder (Länderbericht Österreich). Das Österreichische Institut für Familienforschung (ÖIF) an der Universität Wien, gegründet als Verein im Jahr 1994, führt als unabhängiges wissenschaftliches Institut anwendungsorientierte Studien und Grundlagenforschung zur Struktur und Dynamik von Familien, Generationen, Geschlechtern und Partnerschaften durch.7 Einzelne der durchgeführten Studien befassen sich mit häuslicher Gewalt. 3.1 Umfangreichere Studien zur »Gewaltforschung« und »Häuslichen Gewalt« in Österreich

Wenn Österreich über eine kurze und spärliche Tradition zur Gewaltforschung im Feld »Häusliche Gewalt« verfügt, dann wird sie in inzwischen vier umfangreicheren Studien bzw. Berichten gebündelt. In chronologischer Folge finden wir die Studie von Haller et al. (1998), den Gewaltbericht des BMSG Bundesministeriums für soziale Sicherheit und Generationen (2001), jenen des BMWFJ Bundesministerium für Wirt6 http://www.ikf.ac.at/Gewaltforschung.htm 7 http://www.oif.ac.at/institut/organisation/

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schaft, Familie und Jugend (2009) zu Erziehungsverhalten und gewaltaffinen Sanktionsformen sowie die in Abschluss befindliche Gewaltprävalenzstudie 2010–2011 des vom BMWFJ beauftragten Österreichischen Instituts für Familienforschung. Letztere schließt eine Lücke der Gewaltforschung in Österreich. Eine weitere Studie legen Haller und Dawid (2006) zu den Kosten »Häuslicher Gewalt« in Österreich vor. 3.1.1 Die soziologische Studie von Max Haller u. a. (1998) zu »Familialer Gewalt«

Haller u. a. (1998) tragen zur soziologischen Untersuchung von »Häuslicher Gewalt« in Österreich am Beispiel des Bundeslandes Steiermark und für einen exemplarischen Beobachtungszeitraum bei. Untersucht werden Arbeitsweisen und Kooperationsfelder sowie die mediale Berichtserstattung, um auf dieser Basis gesetzliche, sozialpolitische und präventive Maßnahmen vorzuschlagen. Der Forschungsgegenstand wird mit familialer Gewalt oder »family violence« bzw. »Häuslicher Gewalt« oder »domestic violence« unter Verweis darauf genannt, dass der Forschungsstand zu »Gewalt in der Familie« uneinheitlich und inkonsistent sei. Begriffliche wie fachpraktische Konzepte seien vielfach diffus, teilweise ambivalent. Die Studie führt diesen Umstand darauf zurück, dass zum einen die Gewaltdefinition ein soziales Konstrukt ist und dass hier zum anderen Gewalthandlungen innerhalb familiärer Wirklichkeiten thematisiert werden. Die Autoren weisen auf einen komplexen und folgereichen Umstand in der Untersuchung von Gewalt hin, berge denn gerade eine unreflektierte Konstruktion des Begriffes das Risiko, Artefakte zu produzieren (Haller u. a., 1998  : S. 11). Sie plädieren deshalb für Differenzierungen abseits eines ausschließlich verhaltenstheoretischen Verständnisses, um nicht einem politisch-moralischen Apriori zu verfallen. Die Konzepte führen zu unterschiedlichen Verständnissen und unterschiedlichen Ideen über »zweckmäßige« Interventionen zur Situationsverbesserung. Ist schon das Ziehen begrifflicher Grenzen schwierig, so ist der Gegenstand »Häusliche Gewalt« in der Forschungspraxis als auch Fachpraxis nicht wirklich abgrenzbar. Wenn analytische Raster geschaffen werden, werden abstrakte Artefakte mitgeneriert, die dann die realen Umstände in ihren Zusammenhängen nicht mehr adäquat wiedergeben. Insbesondere wären eine klarere Gewaltdefinition im wissenschaftlichen Diskurs und ein verantwortungsvollerer Umgang mit Dunkelfeldschätzungen einzufordern, um mit der heiklen Thematik besser umgehen zu können und einen Weg zwischen den Ideologien zu finden. Die Studie kombiniert vier empirische Teile. Erstens werden in einer quantitativen Erhebung die Gewaltfälle in der Steiermark in einem zweimonatigen Beobachtungszeitraum (Februar und März 1997) mittels standardisiertem Erhebungsbogen erfasst. Es liegen 563 Fragebögen zu Gewaltvorfällen vor, davon 296 für Februar bis März 1997 und 267 für eine retrospektive Erhebung aus dem Jahr 1996. Erfasst wurden

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jene Vorfälle, die bei folgenden Quellen bekannt wurden  : Polizei/Gendarmerie, SozialarbeiterInnen der Jugendämter sowie Grazer Spezialinstitutionen (Kinderschutzzentrum, Interventionsstelle, Frauenhaus Graz, Kinderschutzgruppe, Landesnervenkrankenhaus  ; gereiht nach Häufigkeit in der Erhebung). Im zweiten empirischen Teil wurden 23 Expertinnen und Experten themenzentriert interviewt. Drittens wurden Gerichtsakten analysiert, das waren die Anzeigen der Staatsanwaltschaft Graz im Verlauf von drei Monaten (Oktober bis Dezember 1995) und jene der Bezirksanwaltschaft Graz im Zeitraum eines Monats (Oktober 1995), und zwar im Hinblick auf Gewaltdelikte in Familien. Viertens komplettierte eine Inhaltsanalyse von Tageszeitungen des Jahrgangs 1996 der Medien Kleine Zeitung und Kronen Zeitung Steiermark sowie von Berichten in Die Presse, Der Standard, Profil und News von Mitte 1996 bis Mitte 1997 die Studie. Die Autoren (Haller u. a., 1998) diskutieren theoretische Ansätze und empirische Studien zum Thema private Gewalt in der deutschsprachigen Sozialforschung im Hinblick auf die »Normalität von Alltagsgewalt«, auf die Frage der Familienformen in der modernen Gesellschaft, auf geschlechtsspezifische Benachteiligungen und die sozioökonomische Abhängigkeit der Frau, auf gesellschaftsstrukturelle Benachteiligungen als Aspekt patriarchalischer Familien- und Gesellschaftsstrukturen sowie auf Gewalt und Geschlechtsrollenidentität. Haller u. a. greifen auch auf Studien zum Thema Gewalt gegen Kinder zurück. Sie verweisen hierzu darauf, dass im allgemeinen Verständnis Gewalt gegen Kinder elterliche Überforderung ausdrücke, dass der traditionell-patriarchalische Erziehungsstil als Legitimation verwendet und dass in der Regel sexuelle Gewaltanwendung an Kindern untersucht würde. Die empirischen Belege für Formen von familialer Gewalt deuteten an, dass es hierbei vorrangig um Gewalt zwischen (Ehe-)Partnern und Gewalt von Eltern bzw. Ersatzeltern gegen ihre Kinder sowie um Gewalt von Männern gegen Partnerinnen ginge. Gegen zahlreiche empirische Belege dieser Art kann kritisch eingewendet werden, dass unter Annahme geschlechtsspezifischer Unterschiede im Bekanntwerden, im Hilfesuchen und in der Inanspruchnahme diese Datenlage nicht herangezogen werden kann. Etwa wenn das Selbst- und Fremdbild von Männern es ihnen noch schwerer macht, Gewalterfahrungen am eigenen Leib einzugestehen und Hilfe aufzusuchen, dann reichen die von Institutionen gesammelten Anfragen weder aus, die Betroffenheit von Männern und Frauen generell, noch vor allem in einem geschlechtsspezifischen Vergleich zu belegen. Haller u. a. (1998  : S. 30 ff.) verstehen Gewalt in der Familie als solche soziale Tatbestände, bei denen einem Familienmitglied tatsächlich ein schwerwiegender körperlicher und/oder psychischer Schaden zugefügt wurde bzw. dies hoch wahrscheinlich zu vermuten ist. Sie subsumieren darunter  : Körperverletzung oder körperliche Miss-

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handlung, gefährliche Drohung, sexuelle Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern, Vernachlässigung von Kindern. Bezüglich der Ursachen und sozialen Kontexte familiärer Gewalt bündeln Haller u. a. (1998  : S. 32 ff.) folgende zehn Hypothesen in vier Dimensionen  : Erstens nennen sie individuelle Erfahrungen und Dispositionen, die 1. Kindheitsprägungen oder 2. persönlichkeitsbezogene physische und psychische Defizite, Identitätsprobleme, Sozialängste und Suchtverhalten enthalten. Die zweite Dimension ist die »familiäre Situation« mit 3. der Kleingruppensituation der Familie, 4. Ehe- bzw. Partnerschaftskrisen oder 5. Kindern in Familien mit nichtleiblichen Ersatzeltern. Die dritte Dimension umfasst sozioökonomische Verhältnisse, das können 6. sozioökonomisch depravierte familiäre Verhältnisse oder 7. Arbeitslosigkeit sein. Viertens umfasst die Dimension der gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen die Ursachen für familiäre Gewalt   8. als Folge patriarchalischer Familienstrukturen,   9. als Folge von Verhaltensunsicherheiten aufgrund des Rollenwandels von patriarchalen zu partnerschaftlich-egalitären Beziehungsmustern oder 10. als Folge medialer Darstellung und öffentlicher Diskussion.

3.1.2 Der Österreichische Gewaltbericht 2001 als »Meilenstein« und die Gewaltprävalenzstudie 2011

Der Gewaltbericht 2001, der vom Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen herausgegeben wurde (BMSG, 2001), darf wohl als Meilenstein in der Gewaltforschung in Österreich bezeichnet werden. Die Liste der beitragenden Autoren und Autorinnen ist umfangreich, die beauftragten Institute waren das ÖIF – Öster­reichische Institut für Familienforschung, der Verein Autonome Österreichisches Frauenhäuser und das Kinderschutzzentrum Wien. Die Fachpraxis der Frauenhäuser und des Kinderschutzes ist damit in dieser Studie sehr präsent. In den Beiträgen des Gewaltberichts (BMSG, 2001) werden die unterschiedlichen Gewalt-

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formen – gegen Kinder, gegen Männer, gegen alte Menschen, gegen Menschen mit Behinderung, gegen Frauen und ihre Kinder – dargestellt. Wird auf Daten verwiesen, so sind dies meist Häufigkeitsauszählungen in Akten bzw. Dokumenten (v.a. Anzeigen). (Kellem, 2009). Im Teil des Gewaltberichts zu den Problemstellungen der Forschung zur Gewalt in der Familie bzw. zur häuslichen Gewalt resümieren Pflegerl und Cizek (2001), dass sich Forschungsarbeiten gerade in dieser Thematik schwierigen methodologischen und methodischen Grundproblemen gegenübersehen. Zum einen wäre dies damals an der immer noch starken Tabuisierung gelegen. »So ist etwa davon auszugehen, dass es je nach befragten Personen große Unterschiede in der Wahrnehmung und Darstellung von Gewalthandlungen gibt. Dazu kommt, dass die von Gewalttaten betroffenen Personen oftmals weiterhin mit den Tätern bzw. Täterinnen zusammenleben müssen, wodurch die Aussagebereitschaft der Betroffenen beeinträchtigt wird« (ebd.: S. 68). Werden sensible, intime Lebensbereiche der Menschen berührt, ist des Weiteren mit Antwortverweigerungen zu rechnen, wodurch eine noch intensivere und kritischere Reflexion der Forschenden zu den Forschungsdesigns und -methoden und deren Einsatz erforderlich ist. Pflegerl und Cizek (2001  : S. 68) beschreiben einen Wandel in den Erhebungstechniken dahin gehend, dass in den 1970er-Jahren generell offene und explorative Interviews bevorzugt wurden, wogegen in den 1980er-Jahren verstärkt standardisierte Befragungstechniken eingesetzt wurden. Die Autoren bzw. Autorinnen begründen diesen Wandel damit, dass »bei einer bloßen Konzentration auf Selbstzeugnisse Verzerrungen befürchtet wurden« (ebd.). Dieses Argument aber ist methodologisch nicht korrekt  : Sowohl Interviews (offen, qualitativ) als auch Befragungen (standardisiert, quantitativ) beruhen auf Selbstauskünften. Zum anderen liegt den AutorInnen zufolge ein methodologisches Grundproblem in der Problematik, die Gesamtzahl der »tatsächlich« verübten Delikte bei Weitem nicht erfassen zu können. Dies würde nicht nur, wie die AutorInnen ausführen, daran liegen, »dass Anzeigen oftmals erst dann erfolgen, wenn es zu besonders schwer wiegenden Fällen physischer und sexueller Gewalt kommt oder wenn es sich bei den TäterInnen [sic  !] um unbekannte Personen handelt« (ebd.), sondern vor allem daran, dass eine Gewalterfahrung immer eine individuelle ist und sich ein individuelles Gewaltverständnis nicht bedingungslos einem kategorialen beugen wird müssen. Wir treffen wiederholt die schwierige begriffliche Fassung an  : Welche Handlung bzw. »ab wann« ist eine Handlung oder eine Beziehung eine gewalttätige  ? Begriffliche Probleme begründen sich also in Mehrdeutigkeiten von Situationen, Handlungen und Beziehungen und darin, dass Menschen diese variierend interpretieren. Pflegerl und Cizek (2001  : 68) zufolge jedenfalls lagen 2001 in Österreich keine größeren Dunkelfelduntersuchungen zur »Gewalt in der Familie« vor, die durch Hochrechnungen zu einzelnen Gewaltformen die Dunkelfeldziffern erschließen. Angaben zu Dunkelfeldziffern seien

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jedenfalls mit größter Vorsicht zu lesen, da sie auf Schätzungen beruhen, und nähere Angaben über deren Zustandekommen in der Regel fehlen. Das Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend förderte die im Jahr 2011 vorgelegte Studie »Gewalt in der Familie und im nahen sozialen Umfeld« (Österreichisches Institut für Familienforschung an der Universität Wien, 2011), die eine groß angelegte – bislang die umfangreichste – quantitative und repräsentative Untersuchung in Österreich darstellt. Sie beleuchtet die in Österreich von Männern wie von Frauen erfahrenen und ausgeübten Übergriffe und möchte zur Versachlichung der Gewaltforschung und zur Objektivierung der öffentlichen Diskussion beitragen – so entnehmen wir dies der Zusammenfassung des Berichts. Methodisch verknüpft die Untersuchung, in der mehr als 2300 Personen im Alter von sechzehn bis sechzig Jahren befragt wurden, eine Online- und eine Face-to-face Befragung. Erhoben wurden die erfahrenen Gewalthandlungen, deren Schweregrade, Gewalthandlungen und TäterInnen, Gewalthandlungsfolgen, Gewaltbereitschaften, Handlungskontexte und Reaktionen auf Gewalthandlungen ebenso wie Gewalt in der Kindheit, Lebensbedingungen und eigene Täterschaft. 3.1.3 »Häusliche Gewalt« als Gewalt gegen Kinder – Der Gewaltbericht 2009 zum Erziehungsverhalten und zu gewalttätigen Sanktionen

Mit dem vom Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend herausgegebenen Gewaltbericht 2009 liegt eine umfangreiche Bestandsaufnahme zur Frage des Erziehungsverhaltens und der Häufigkeit und Ursachen von gewalttätigen Sanktionen für Österreich vor (BMWFJ, 2009). Im ersten Teil – durchgeführt von einer Gruppe in Deutschland und gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft – untersucht eine europäische Vergleichsstudie die familialen Auswirkungen gesetzlicher Körperstrafenverbote und kommt zum Schluss, dass Körperstrafenverbote Gewalt senken. Beobachtbar wäre dies in eher körperstraffreien Sanktionen im Erziehungsverhalten in Ländern mit entsprechenden Verboten. Im Teil für Österreich wurden 1054 zwölfbis 18-jährige Kinder und Jugendliche als auch 1049 Eltern ohne und 614 Eltern mit Migrationshintergrund repräsentativ für Österreich zu den Themenbereichen Gewalt in der Erziehung, zum Gewaltverhalten von Jugendlichen außerhalb der Familie, zu den Einstellungen zur Erziehung, zum Rechtsbewusstsein und zum Verständnis von Gewalt und Misshandlung, zur Kommunikation in der Familie über Körperstrafen und zur informellen soziale Kontrolle befragt. Hinsichtlich der zentralen Untersuchungsfrage der Ursachen von Körperstrafen in der Erziehung resümiert der Bericht drei Aspekte als ursächlich für ein häufigeres Auftreten körperlicher und psychischer Gewalt in der Erziehung, welche sind  :

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1. Rechtsbewusstsein, Wahrnehmung der rechtlichen Grenzen psychischer und körperlicher Gewaltformen  ; 2. Erfahrungen von (schwerer) körperlicher beziehungsweise psychischer Gewalt in der eigenen Kindheit  ; 3. Gewalt in der Partnerschaft (BMWFJ, 2009  : S. 127). Im zweiten Teil – durchgeführt vom Österreichischen Institut für Familienforschung im Auftrag des BMWFJ – wurden in einer Onlinebefragung 2166 Expertinnen und Experten in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu ihrem Gewaltverständnis, zur Kenntnis der gesetzlichen Lage in Österreich, zur Umsetzung der Kinderrechte in Österreich und anderen Themen mit einem Onlinefragebogen befragt. Auf der Basis der Ergebnisse wurden folgende Aktionsfelder betrachtet und vorgeschlagen  : Unterschiede zwischen den beratenden und pädagogischen Berufsgruppen herausarbeiten  ; berufsspezifische und konkret anwendbare Handlungsempfehlungen entwickeln  ; die vorherrschende Akzeptanz gewisser Gewaltformen als erlaubte Erziehungssanktionen analysieren  ; das ambivalente Verhältnis zu einer verpflichtenden Anzeigepflicht von spezifischen Berufsgruppen analysieren  ; gemeinsam mit Expertinnen und Experten in der Kinder- und Jugendarbeit konkrete Vorschläge und Schritte zur verstärkten praktischen Umsetzung der Kinderrechte in Österreich erarbeiten. Hierfür soll eine Plattform eingerichtet werden, um die unterschiedlichen Hilfseinrichtungen sowie Professionen zu vernetzen. Der Bericht kam neben dem Hinweis auf die grundsätzlich positiven Effekte von Gesetzen gegen Gewalt in der Erziehung zu einer recht allgemeinen Feststellung  : »Wichtig ist dabei möglichst die Vielfältigkeit der unterschiedlichen Professionen abzudecken (z.B. Lehrer/innen, Ärzt/innen, Sozialarbeiter/innen, Berater/innen). Ziel sollte einerseits die Sensibilisierung der unterschiedlichen Berufsgruppen, Eltern und Kinder für unterschiedliche Formen der Gewalt sein. Andererseits sollte es auch um das Erarbeiten spezifischer Konzepte, Strategien und Handlungsempfehlungen für die unterschiedlichen Expert/innen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gehen. Oder auch, um im Detail mögliche gesetzliche Änderungen zu diskutieren und zu spezifizieren« (BMWFJ, 2009  : S. 280). Trotz des Umfangs der Befragung bleibt kritisch zu bemerken, dass sie nicht repräsentativ war, die Auswahl der Betroffenen interessengeleitet erfolgte, die Generalisierung der Befunde sehr eingeschränkt war. Auf diese Grundproblematik, die diesem Teil der Studie letztlich die empirische Grundlage entziehen würde, weisen die Autoren bzw. Autorinnen durchaus hin (BMWFJ, 2009  : S. 141). Die Auslegung von häuslicher Gewalt als Gewalt gegen Kinder reicht in Österreich zumindest zwei Jahrzehnte zurück, zu einer kritischen Bestandsaufnahme zum Forschungsstand in Österreich zur Thematik »Familiäre Gewalt gegen Kinder« gelangt

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Fechter (2006). Eich (1992) befasste sich vor zwanzig Jahren mit sexueller Gewalt gegen Kinder und sexuell missbrauchende Männer. Haller (2002) bemerkt zur Thematik der Erziehungsformen und der Gewalt als Erziehungsmittel, dass die erste österreichische umfassende empirische Studie zu Gewalt gegen Kinder von Beate Wimmer-Puchinger u. a. (1991) stammt. Diese basiert auf einer Fragebogenerhebung bei Müttern und Vätern von Kindern im Kindergartenalter in vier Bundesländern (N=380), auf Interviews mit ExpertInnen sowie der Auswertung von Kindernotrufprotokollen (Haller, 2002  : S. 149). »In Österreich wurde in den letzten Jahren vornehmlich über sexuellen Missbrauch von Mädchen und Buben geforscht, die Befassung mit der Anwendung von physischer und psychischer Gewalt von Vätern oder Müttern gegen Kinder geriet demgegenüber ins Hintertreffen« (ebd.: S. 150). Ein weiteres wichtiges Forschungsthema war Gewalt von Kindern bzw. Jugendlichen untereinander, wobei dieses Phänomen aber nicht mit dem »Erziehungsverhalten« der Eltern in Bezug gesetzt wurde (siehe z.B. Gasteiger-Klicpera/Klicpera 1999). Die Gewaltbetroffenheit von Kindern kann, so die Idee, potenziell aus den Tätigkeitsberichten der IST Interventionsstellen und Frauenhäuser eruiert werden. Haller (2002  : S.  151 ff.) findet allerdings wenige und nur rudimentäre Informationen über Beteiligung bzw. Betroffenheit von Kindern in Gewaltvorfällen vor. Die Autorin wertet in ihrer Studie die Statistiken der IST anhand der Aufzeichnungen über Gewalt gegen Kinder ab 2000 bzw. teilweise ab 1999 gesondert aus. Die Aktenführung selbst geht nicht in Tätigkeitsberichte ein und wird in den IST der Bundesländer unterschiedlich geführt, was eine uneinheitliche Datenlage zur Folge hat. Empirische Basis bildeten wiederum Interviews (22 mit Müttern, sechs Expertinnen)  ; repräsentative Daten zur Gewaltbetroffenheit von Kindern lagen nicht vor (Haller, 2002  : S. 165, S. 173). 3.1.4 Studie zu den Kosten häuslicher Gewalt in Österreich

Kosten-Nutzen-Analysen von häuslicher Gewalt sind nur sporadisch zu finden, am ehesten in den USA, in Australien und in Kanada, selten in Europa mit einzelnen Beispielen aus Großbritannien, der Schweiz, Deutschland und Österreich. Großteils handelt es sich um Schätzungen. Zur Ermittlung der Kosten häuslicher Gewalt in Österreich werden diese in der Studie von Haller und Dawid (2006) einer wissenschaftlichen Schätzung unterzogen  ; »eine Schätzung deshalb, weil in Österreich wenig Daten zu diesem Themenbereich vorliegen« (ebd.: S. 2). Und weiter wird eingangs argumentiert, dass »ein großes methodisches Problem hinsichtlich der Erhebung der Kosten häuslicher Gewalt in Österreich (…) schon im Vorfeld darin [besteht], dass in Österreich bislang keine repräsentativen Erhebungen zur Gewaltbetroffenheit im familiären Kontext weder für Erwachsene noch für Kinder und Jugendliche durchgeführt wurden.

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Um Größenordnungen der Gewaltbetroffenheit abzuschätzen, mussten Erhebungen aus Deutschland herangezogen werden« (Haller & Dawid, 2006  : S.  2). Die Forderung aus Sicht der Forschenden an die politisch verantwortlichen Stellen liegen auf der Hand  : mehr, präzisere und fundiertere Primärerhebungen und -materialien. »Will man familiäre Gewalt und deren Auswirkungen genauer erfassen, sind statistische Erhebungen in diesem Themenfeld unabdingbar. Das betrifft zum einen eine in Österreich immer noch ausstehende repräsentative Erhebung zur Gewaltbetroffenheit von Frauen und Kindern, zum anderen das gesonderte Ausweisen von Unterstützungsleistungen an Frauen und Kindern, die wegen familiärer Gewalt notwendig werden. Das betrifft insbesondere die Jugendwohlfahrt, die bei ihren Tätigkeiten die Befassung mit (Folgen von) familiärer Gewalt nicht gesondert ausweist. Die spezifische In-BlickNahme von Gewalt und ihren Folgen wäre aber ein wichtiger Schritt, um die Sensibilität für dieses Thema stärker zu erhöhen« (Haller & Dawid, 2006  : S. 39). Die Kostenaufstellung von Haller & Dawid (2006) weist für das Jahr 2005 Gesamtkosten häuslicher Gewalt von 78,4 Millionen Euro aus. Für das Jahr 2010 rechne ich auf der Basis 2005 unter den Annahmen von Haller & Dawid Gesamtkosten von knapp 100 Millionen Euro hoch. Den größten Anteil daran hat der Studie zufolge der Cluster »Gewaltbetroffene Kinder« mit knapp 33 Prozent, in den Haller & Dawid die Kosten für Beratungs- und Betreuungseinrichtungen, für die Kinder- und Jugendanwaltschaft sowie die Kosten der Jugendwohlfahrt rechnen. Fast ebenso hoch sind die Kosten im Cluster »Gewaltbetroffene Frauen« mit 27,5 Prozent – hierin fallen die Kosten für die Frauenhäuser (18,2 %), jene für Beratungseinrichtungen und Notrufe (4,3 %), für Interventionsstellen (4,2 %), der Notwohnungen (0,5 %) sowie der Männerberatung (0,25 %). Es folgen der Cluster »Gesundheit« mit knapp 18 Prozent – hierin sind die Krankenhausaufenthalte mit 12,3 % am höchsten –, der Cluster »Arbeit« mit knapp 16 Prozent, »Sozialhilfe«, »Justiz« und »Polizei/Sicherheitswache«. Meiner – zu einem späteren Zeitpunkt zu fundierenden – Einschätzung nach handelt es sich bei der Zusammenstellung von Kostendimensionen und deren Größenordnung um konservative Schätzungen, sodass die realen Kosten über den ausgewiesenen liegen würden. Als Anhaltspunkt für diese Annahme könnte die Kostenanalyse von Godenzi & Yodanis (1998) dienen, in der sie darauf hinweisen, dass nur ein geringer Teil der realen, überwiegend nicht quantifizierbaren Kosten in eine quantitative Kostenaufstellung aufgenommen werden kann. In ihr Modell ziehen sie Effekte häuslicher Gewalt an Frauen auf folgende Dimensionen mit ein  : Bewegungsfreiheit, Lebensqualität, Leistungsbereitschaften und -vermögen, Effekte auf weitere Generationen, Bereitschaft zur eigenen sozialen Inklusion und Courage, Engagement und Integrationswille gegenüber anderen. Sie schätzen die Kosten häuslicher Gewalt an Frauen in der Schweiz

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für das Jahr 1997 auf 400 Millionen Franken bzw. 315,2 Millionen Euro. Für das Jahr 2010 rechne ich die ausgewiesenen Kosten für die Schweiz auf 566 Millionen Euro hoch – die kostenintensivsten Dimensionen sind vor anderen die Polizei, die ärztliche Versorgung, die Gerichte sowie die Sozialhilfe. Präventive als auch direkte Gewaltschutzarbeit sind Positionen mit vergleichsweise geringen Kostenanteilen. 3.2 Häusliche Gewalt und gesetzesaffine Fragestellungen

Einen Schwerpunkt mit einem Großteil der aufgespürten Arbeiten zur häuslichen Gewalt bilden gesetzesaffine Fragestellungen, allen voran Dearing (2000  ; 2005) oder auch Rangger (2001)  ; ein Teil dieser Arbeiten enthält Gesetzeserklärungen, z.B. Bauer (2009). Vielfach geht es um Effekte von Gesetzen respektive der Gewaltschutzgesetzgebung in Österreich. Oder es werden zivilrechtliche Aspekte von Kindesmisshandlung in juristischer Perspektive aufgegriffen (Neuwirth, 2008). Mit dem Schutz vor Gewalt in der Familie als juristischem Thema befasst sich die Österreichische Juristenkommission (1997), mit neueren Perspektiven zur Weiterentwicklung des Gewaltschutzgesetzes Maxa (2009). In einigen Arbeiten geht es um die Handhabung von Gesetzen, etwa zur Wegweisung und zum Betretungsverbot (Ettenauer, 2005  ; Gmeiner, 2009)  ; oder durch die Jugendwohlfahrtsbehörden (Hötzl, 2008)  ; oder zur Rolle und zum Umgang mit Gewaltvorfällen durch die Exekutive (Einzinger, 2001  ; Musil, 2000)  ; oder um die einstweilige Verfügung zum Schutz vor Gewalt in der Familie (Gurka, 2001  ; Punzer, 1999). In anderen Arbeiten geht es um das Rechtsschutzinstrumentarium vor dem Gewaltschutzgesetz 1997 (Deimel, 2007)  ; häusliche Gewalt und Stalking und die Reaktionsmöglichkeiten des österreichischen und deutschen Rechtssystems ( Jurtela, 2006)  ; Opfer häuslicher Gewalt und deren Schutz und Schonung im Strafverfahren unter besonderer Berücksichtigung der Prozessgrundsätze (Hadziefendic, 2010)  ; sicherheitspolizeiliche Wegweisungsbefugnis bei Gewalt in Wohnungen unter Einbeziehung grund- und familienrechtlicher Aspekte (Hepperger, 2007)  ; strafrechtliche Antworten auf familiale Gewalt und deren kriminalpolitische Bewertung sowie opfergerechteren Sanktionsalternativen basierend auf einem viktimotheoretischen Strafansatz ( Jobst-Hausleithner, 2008)  ; oder um Intimbeziehungen und deren kriminalpolitische Analyse (Pusca, 2007). Im November 2007 veranstalteten das Bundeskanzleramt und das Bundesministerium für Frauen und öffentlichen Dienst eine internationale Tagung zum Thema »10 Jahre österreichische Gewaltschutzgesetze« (Bundeskanzleramt, 2008). Die Tagung thematisierte folgende Aspekte  :

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•• Maßnahmen und Strategien gegen Gewalt in der Familie, gleichgesetzt mit Gewalt an Frauen •• die Aufgaben der Polizei als auch das Potenzial des Gesundheitswesens im Rahmen der Prävention familiärer Gewalt an Frauen und Kindern •• den Gewaltschutz für Migrantinnen in Österreich •• die Unterstützungsangebote für Frauen und ihre Kinder und die Angebotsentwicklungen Modelle multi-institutioneller Zusammenarbeit zur Gewaltprävention •• Gewaltgesetzgebung und effektive Implementierung rechtlicher Maßnahmen •• die Aufgaben des Strafrechtssystems in der Gewaltprävention •• die Arbeit mit Tätern •• Bewusstseinsbildung und deren Relevanz für Gewaltprävention Das Programm legt den Eindruck nahe, dass Gewaltschutz in Gewaltschutzgesetzgebung und in Gewaltprävention übersetzt wird. Der Thematik »Gewaltforschung« widmete sich keiner der 41 Tagungsbeiträge. Jauk (2009  : S. 11 f.) resümiert die Situation in Österreich dahin gehend, dass sowohl die grundsätzliche Ausrichtung als auch das öffentliche Interesse an einer legislativen Ausgestaltung von Opferrechten gegeben wären und die Basis für deren Weiterentwicklung bildeten. Die Gewaltschutzgesetzgebung in Österreich blicke auf gesetzgeberische Initiativen zum Schutz von Gewaltopfern seit 1995 zurück, die das Anliegen verfolgen, Strukturen zu schaffen, um gewaltbetroffenen Menschen die Wahrnehmung ihrer Rechte zu erleichtern. Die Ausstattung mit weitergehenden Rechten und mit der Verpflichtung von Behörden, Opfer von Gewalt in verschiedenen Rechtsbereichen als die tatsächlich Geschädigten und Schützenswerten anzusehen, bedeutete einen Paradigmenwechsel. Offen bleibt die Gewaltschutzgesetzgebung hinsichtlich des Vollzugs durch die staatlichen Behörden. Die Umsetzung auf exekutiver Ebene befinde sich zwischen großflächiger Abwehr und der Erkenntnis und Internalisierung der Mündigkeit von Opfern bis hin zum Informations- und Erfahrungstransfer in den Polizei- und Gerichtsalltag. Die Studie von Pelikan (2003) erhebt den Stand zur Forschung und Gesetzgebung zum Thema Psychoterror bzw. Stalking. Empirisch ist sie dreiteilig angelegt. Die Autorin sammelt Materialien wie z.B. Fachliteratur, Forschungsberichte, Tagungsberichte usw., und sie führt Telefoninterviews und Gespräche mit ausländischen Fachexpertinnen und Fachexperten, teils kurz und teils ausführlich, und persönliche Interviews mit österreichischen Fachexpertinnen und Fachexperten. Der Personenkreis ist hier in Zusammenarbeit mit der Auftraggeberin ausgewählt – Auswahl und Anzahl der interviewten Personen sind nicht ersichtlich.

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Die Beforschung der Gewaltschutzgesetzgebung in Österreich, die in der Gewaltschutzarbeit als Wendepunkt gesehen wird, geht bis Ende der 1990er-Jahre zurück. Hintergrund ist die Ausdifferenzierung des Strafrechts für den Schutz des sogenannten »Privatraums Familie« von 1989 bis 2006 (Brandstetter, 2009  : S.  31ff.). Legistische Bestimmungen standen im Vordergrund  : Diese wandelten sich so, dass die Frage nach den Effekten derselben naheliegt. Haller (2005  : S. 271) verweist auf zwei Evaluationen des österreichischen Gewaltschutzgesetzes, von denen sich die erste und im Jahr 1999 abgeschlossene mit der Gesetzesanwendung befasste und die Effektivität der neu eingeführten Maßnahmen bei jenen Institutionen bewertete, die in den Gewaltschutz eingebunden sind. Diese erste Studie (Haller, 1999) beruhte empirisch auf den Statistiken des BMI Bundesministeriums für Inneres. Festgestellt wurde, dass die Statistik von Polizei und Gendarmarie uneinheitlich geführt worden war. Das BMI und das BMJ Bundeministeriums für Justiz führen diese Statistiken im Zusammenhang mit dem Bundesgesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie. Das BMI dokumentiere in den Statistiken die Arten und Anzahlen der Maßnahmen, und zwar der Wegweisungen, der verhängten Rückkehrverbote, der Aufhebungen von Rückkehrverboten, der Strafanzeigen sowie der Verständigungen über einstweilige Verfügungen, über Assistenz und über Ersuchen in der Exekutionsordnung. Dies führe teilweise zu Mehrfachnennungen bzw. -zählungen, Ungenauigkeiten wären nur teilweise nachgehend erklärbar. Streitschlichtungen werden teilweise erhoben, die v.a. auch Streitschlichtungen außerhalb der Familie, v.a. zwischen Nachbarn, betreffen. Das BMJ verfügt über Statistiken über einstweilige Verfügungen im Zusammenhang mit dem Gewaltschutzgesetz. Die zweite Studie (Haller, 2002) fokussierte jene Bereiche, die bei der ersten Studie als problematisch identifiziert worden waren und einer weiteren Analyse unterzogen werden sollten. Gewaltforschung zielt hierin auf die Gestaltung gesetzlicher Rahmenbedingungen und meint die Untersuchung der Gesetzespraxis sowie der Relevanz gesetzlicher Regelungen auf das Handeln der Exekutive, auf die Erfahrungen von Gewaltopfern und auf die Reaktionen der Strafjustiz auf familiäre Gewalt. Insbesondere ging es um die Frage nach längerfristigen Effekten der Polizeiinterventionen bei Gewaltvorfällen, den Umgang der Strafjustiz mit Gewalt in der Familie, um Täterarbeit, um die Situation von Migrantinnen und Migranten, um Gewalt gegen Kinder. Als empirische Basis wurden Polizei- und Gendarmerieakte, 22 Interviews mit weiblichen Gewaltopfern, vier Interviews mit gewalttätigen Männern, »mehrere« Interviews mit StrafjuristInnen und Staatsanwältinnen bzw. -anwälten (ebd.: S. 23) sowie mit ExpertInnen zum Außergerichtlichen Tatausgleich und schließlich 221 bzw. 87 Tagebücher von zwei Staatsanwaltschaften (Wien und Salzburg) mit 303 bzw. 115 Anzeigen im Zusammenhang mit Gewalt in der Familie herangezogen. Für die Situation von Mig­ rantinnen und Migranten war eine Aktenanalyse der damaligen Interventionsstellen

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geplant, was allerdings aufgrund der unzureichenden Aktenführung bzw. Dokumentation nicht realisiert werden konnte. Für den Bereich der Gewalt gegen Kinder wurden im Rahmen der Ersterhebung rund 1000 Einschreitungsprotokolle von Exekutivbeamtinnen und -beamten über Wegweisungen/Betretungsverbote als auch über Streitschlichtungen ausgewertet und ergänzende Interviews geführt (ebd.: S. 145 ff.). Haller (2002) hält schließlich fest, dass es keine repräsentativen Daten über die Häufigkeit von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gibt, auch keine Dunkelfelduntersuchungen. Sind empirische Untersuchungen verfügbar – das sei international ähnlich –, dann muss im Hinblick auf die Repräsentativität meist von einem verzerrten Sample ausgegangen werden (ebd.: S. 147). Eine andere Studie (Haller & Hofinger, 2007), beauftragt vom Bundesministerium für Justiz und durchgeführt vom Institut für Konfliktforschung und vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, untersuchte die Prozessbegleitung in Österreich. Hintergrund zur Studie waren gesetzliche Novellierungen der Strafprozessordnung, die rechtliche Ansprüche der Betroffenen im Zuge eines Strafverfahrens – Prozessbegleitung als Angebot für Gewaltopfer – formulieren. Empirische Basis zur Erhebung des Status quo der Prozessbegleitung waren eine Fragebogenerhebung mit 50 Fragebögen und daran anschließende 79 qualitative Interviews mit 66 Akteuren im Bereich der Prozessbegleitung als auch mit 13 Opfern. Eine neuere Arbeit (Brandstetter, 2009) befasste sich mit Gewalt im sozialen Nah­ raum respektive »family violence« und nahm Bezug auf kommunale Kriminalprävention. Die Arbeit beabsichtigte, »sich mit den Fragen der kriminalpolitischen Nutzbarkeit zivilgesellschaftlicher Vorsorge im Phänomenbereich häuslicher Gewalt für ländliche Sozialräume auseinanderzusetzen« (Brandstetter, 2009  : S. 11). Die Autorin arbeitete lokalspezifische Strukturen von Tatbeständen und Versorgung in einer kriminalgeografischen Analyse heraus. Empirisch wurde exemplarisch das Bundesland Niederösterreich herangezogen, um häusliche Gewalt im ländlichen Raum bzw. Gewalt im sozialen Nahraum anhand der niederösterreichischen Bezirke und Gemeinden zu untersuchen. Die Studie stützte sich auf eine Sekundäranalyse deskriptiv erfasster raumstruktureller Frequenzen von Anzeigen- und Opferstatistiken im Untersuchungszeitraum 2001 bis 2005. Analysiert wurden alle angezeigten Delikte gegen Leib und Leben, gegen die Familie, gegen die Freiheit, gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung. Die herangezogene Anzeigenstatistik für 2001 bis 2005 setzte sich aus drei voneinander unabhängig erhobenen Datensätzen zusammen (Brandstetter, 2009  : S. 142)  : die Polizeiliche Anzeigenstatistik Österreichs (und Niederösterreichs) erhebt die Variablen Tatort, Tatzeit und Tatbestände  ; die Polizeiliche Anzeigenstatistik nach der Täter-Opfer-Beziehung erhebt neben oben genannten Variablen die Variable der Täter-Opfer-Beziehung zum Tatzeitpunkt  ; die Polizeiliche Anzeigenstatistik in Form

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der Opferstatistik gibt durch die Variablen Alter und Nationalität der Opfer Aufschluss über die Zahl der registrierten Opfer zum Anzeigenzeitpunkt. Für die Studie wurden zudem Personen aus den drei Untersuchungsfeldern Sicherheit/Polizei, Politik/Öffentliche Verwaltung, Opferschutz sowie Betroffenenkreis leitfadengestützt interviewt, und zwar zu den drei Themenbereichen i) Voraussetzungen von Konflikt­eskalation und präventive Maßnahmen  ; ii) Interpretation lokalspezifischer Tatanzeigen  ; iii) Identifikation relevanter/wichtiger Interventionsfelder für Maßnahmenprojekte. 3.3 Häusliche Gewalt als Gewalt an und gegen Frauen

Ein zweiter Themenkreis sozialwissenschaftlicher Schriften zur familialen Gewalt in Österreich wird in Arbeiten zum Geschlechterverhältnis abgesteckt. Eine Studie, die etwas weiter zurück datiert und in der es um Ursachen und Folgen von Gewaltanwendungen gegen Kinder und Frauen geht, ist die von Fröschl und Löw (1992). Methodisch handelt es sich um eine Expertinnen- und Expertenbefragung anhand von 49 Erhebungsbögen sowie einen qualitativen Teil mit 83 Falldarstellungen aus insgesamt 132 Interviews. Die Sozialstrukturen der Betroffenen werden statistisch dargestellt. Kritisch ist anzumerken, dass aufgrund der fehlenden Repräsentativität der ausgewählten Stichprobe die »Daten« nichts über das Sample hinaus aussagen und jede Darstellung, Zusammenfassung bzw. Schlussfolgerung auf eine etwaige Grundgesamtheit von Kindern oder Frauen auf der Basis der quantitativen Auszählung unerheblich ist. In den weiteren vorgefundenen Arbeiten geht es um familiale Gewalt im Geschlechterverhältnis an sich (Sematon, 2005)  ; um familiale Gewalt aus einer feministischen Perspektive (Gartlehner, 2003) bzw. häusliche Gewalt gegen Frauen (Klanfar, 2006) im Zusammenhang mit der Gewaltschutzgesetzgebung in Österreich und Deutschland. Oder die Arbeiten greifen juristische Fragen auf, etwa in einer frauenrechtlichen Pers­ pektive (Fitz, 2005)  ; oder Fragen des Sexualstrafrechts (Bruckbauer, 2009)  ; oder zur Vergewaltigung (Deixler, 2006  ; Brezina, 2004)  ; oder zum Tatbestand der fortgesetzten Gewaltausübung § 107b StGB (Lang, 2009)  ; oder zur Gewalt des Partners gegenüber seiner Partnerin unter besonderer Berücksichtigung strafrechtlicher Aspekte (Eckelhart, 2007). Weitere Werke erhärten den schon zitierten Befund  : Familiale Gewalt wird häufig ausgelegt als Gewalt an und gegen Frauen, so finden wir Gewalt gegen Frauen thematisiert (Böhmdorfer 2001  ; Egger, 1995)  ; Gewalt gegen Frauen im sozia­ len Nahraum (Schiefermair 2006)  ; die Frauenhausbewegung bzw. Frauenbewegung (Fenyösy, 2010)  ; oder Gewalt an Frauen kombiniert mit Aspekten der Migration (Bolyos, 2006  ; Binder, 2007) sowie frauenspezifische Aspekte im Flüchtlingsrecht (Wildt, 2009). Um männliche Gewaltopfer geht es in einem Werk (Rubik, 2006).

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Gewalt in der Familie – das heißt in dessen Thematisierung zumeist gleichlautend Gewalt an und gegen Frauen. Zwar häufig, aber vergleichsweise weitaus seltener als Fragen zum Geschlechterverhältnis und zur Gewalt an Frauen werden Fragen der elterlichen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche aufgeworfen. Einem quasi thematischen Gleichlauf von »Familialer Gewalt«, »Verhäuslichter Gewalt« und »Gewalt an und gegen Frauen« ist empirisch kaum beizukommen  : Der faktisch schier überwältigende Anteil ist erdrückend, die bei Weitem meisten Fälle familialer Gewalt bezeugen Gewaltakte gegen Frauen. Die Positionierung von Frauen als »Opfer« alleine entmachtet diese freilich in einem gewissen Sinne. Hierzu bringt Thürmer-Rohr bereits in den 1980er-Jahren die These der Mittäterschaft von Frauen ein (Thürmer-Rohr, 2004  : 85 ff.). Sie markiert die Mitbeteiligung von Frauen an der institutionalisierten Herrschaft des Patriarchats mit seiner historisch verankerten und technologisch hoch entwickelten Zerstörungskraft. »Mittäterschaft geht von der These aus, dass Frauen in der patriarchalen Kultur Werkzeuge entwickeln und sich zu Werkzeugen machen lassen, mit denen sie das System stützen und zu dessen unentbehrlichen Bestandteil werden können« (Thürmer-Rohr, 2004  : S.  85). Natürlich konterkariert diese Sichtweise von Kollaboration und Komplizenschaft, von der Verantwortlichkeit der Frauen jene, die Frauen alleine als Opfer versteht. Strukturen, das bleibt in ihrer Ausführung klar, sind nicht gleichberechtigend, nicht gleich wirksam. Es sei lediglich wichtig, die Verhältnisse als »Ensemble von Männern und Frauen« (Schwarz, 1997  : S.  7, zit. in Thürmer-Rohr, 2004  : S. 88) zu entwerfen. Diese Perspektive der »Komplizenschaft« würde aus »leisen Akteurinnen« Subjekte machen, sie diene der gemeinsamen Aktion, sie destruiere »die Frau als Opfer« und wäre für die Gesamtstruktur und ihr Funktionieren wesentlich. Mit der Verantwortung ist die Handlungsfähigkeit definiert – und damit eine höhere Chance zur Veränderung. 3.4 Berichte aus der Interventionspraxis zur häuslichen Gewalt

Es wäre vermessen zu meinen, die Berichte der Interventionspraxis zur häuslichen Gewalt auch nur annähernd hier wiedergeben zu können, zu vielgestaltig und zahlreich liegen sie vor, es bedürfte schlicht einer eigenen Analyse. Wenn wir die Beforschung häuslicher Gewalt aufzeigen möchten, so können wir jedoch einigermaßen plausibel davon ausgehen, dass die Interventionspraxis über eben für die Fachpraxis relevante Anliegen berichten wird und nur spärlich als »Forschung« wird ausgelegt werden können. Stellen wir – in dieser Weise exemplarisch – Arbeiten zur Interventionspraxis zusammen, so taucht Gewalt in der Familie und im sozialen Nahraum explizit in einer Tagungsdokumentation im Jahr 2000 auf (Interventionsstelle, 2000). Dabei handelt

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es sich ausnahmslos um Berichte aus der Fachpraxis, die, wiewohl sie sich teils auf – häufig leider einseitig wiedergebende  – Studien beziehen, selbst keine Forschungsbeiträge darstellen. Forschung, so sie nicht den Überzeugungen und Interessen der Praxis entspricht, hat immer einen schweren Stand. In Tagungsberichten bleibt Gewaltforschung ein untergeordnetes Thema  : Im Bericht zur Tagung »30 Jahre Frauenhäuser Wien« (2008) findet sich kein Forschungsbeitrag. Mit Interventionsprojekten gegen häusliche Gewalt beschäftigt sich Ortner (2004), mit der Arbeit der Interventionsstellen Danielczy (2008). Die hierzu gefundenen Titel rangieren fast gänzlich im Reigen von Abschluss- und Diplomarbeiten sowie vereinzelt von Dissertationen. Das Handlungsfeld Gewalt in der Familie für die Sozialarbeit thematisieren Sechser & Pritz (1999), und Katzianer (2005) spürt der Kooperation von Exekutive und Interven­tionsstellen nach. Ortner (2004) bezieht sich zum »Tatort Wohnung« auf Interventionsprojekte und deren Rolle. Als ein Bericht am Schnittpunkt von Praxis und Forschung kommt jene Studie von Karlsson (1993) infrage, die mit der für die damalige Zeit und feministische Kreise offenbar üblichen Sichtweise in das Kapitel »Warum sind Männer gewalttätig  ?« einsteigt und im nächsten die »Männergewalt im Alltag« beschreibt. Der Bericht trägt einige Erfahrungen und Einschätzungen von Mitarbeiterinnen von österreichischen Frauenhäusern und Notwohnungen zur Organisation, Geschichte, den Hilfsangeboten, der Infrastruktur, Personal, Finanzierung u. a. zusammen – 18 Einrichtungen wurden mit einem Erhebungsbogen angeschrieben, 15 Bögen kamen retour (ebd.: S. 43 ff.; S. 51 ff.). So engagiert der Bericht daherkommt – im Sinne der medizinischen Versorgung, der Zusammenarbeit der von Frauenhäusern und Krankenhäusern, der polizeilichen Interventionen und der Kooperation, der Bedeutung der Prävention und Öffentlichkeitsarbeit u. a. –, so ideologisierend ist er  : Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. In einem Buch (Logar, Rösemann & Zürcher, 2002) mit Aufsätzen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zu einem pädagogisch orientierten Kursangebot für Gewalttäter  – soziale Trainingsprogramme  – tragen die Schweizerinnen Gloor und Meier (2002) zum Stand der Evaluation sozialer Trainingsprogramme vor, in dem sie auf zwei Studien in den USA und in Schottland verweisen. Für den deutschsprachigen Raum lägen demnach keine Forschungen zur Frage vor, inwieweit soziale Trainingsprogramme funktionieren bzw. wie deren Erfolge bzw. Misserfolge bilanzieren. In der Interventionsforschung angesiedelt ist eine zweite Studie (Haller, 2004), die die Situation der Außenstellen der Interventionsstellen von Oberösterreich und Niederösterreich in zwei Gebieten exploriert. Diese fragt, ob das Angebot und die Regionalisierung weitergeführt werden sollen, um regionale Benachteiligungen auszugleichen. Hierfür wurden sieben Gespräche mit von Gewalt betroffenen Frauen geführt (ebd.: S. 2 ff.). Diese Interviews wurden durch die jeweiligen Interventionsstel-

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len vermittelt und dienten als Basis für die dargestellten Fallgeschichten. Ergänzend wurden vier Einzelgespräche und ein Gruppengespräch mit sechs Gendarmeriebeamten durchgeführt sowie ein Gespräch mit zwei Mitarbeiterinnen von den Interventionsstellen. Statistische Daten zur Anzahl der betreuten Personen wurden von den Interventionsstellen übernommen. Der Befund (ebd.: S.  23), dass Regionalisierung Zugänge zum Hilfsangebot der Interventionsstellen schaffe und die Präsenz die Sensibilisierung der Gendarmarie erhöhe, ist indes so offensichtlich wie allgemein. 4. Conclusio zum Forschungsstand im Feld »Familiäre Gewalt« in Österreich Einen Stand zur Forschung zusammenzutragen kann dreierlei bedeuten  : erstens Zugänge, Modelle und Theorien in der Forschung aufzuzeigen  ; zweitens Ergebnisse zum Forschungsgegenstand zu resümieren  ; oder drittens die Forschung selbst zum Untersuchungsgegenstand zu machen. Mein Beitrag macht Letzteres und sammelt Unterlagen, um sowohl einen themenzentrierten Fundus zu generieren als auch die Themen und Strömungen innerhalb des Forschungsfeldes »Häusliche Gewalt« in Österreich zu skizzieren. Wie sieht das Sediment der Gewaltforschung zur »Häuslichen Gewalt« in Österreich in einem 20-jährigen Rückblick aus  ? Welche Themen, Trends, Institutionalisierungen und Methodenfragen zeichnen sich in der Forschung in Soziologie und Sozialarbeit zur »Familiären Gewalt« in Österreich ab  ? Vor 15 Jahren resümierte Trotha (1997), dass der Stand der österreichischen wie auch deutschsprachigen Gewaltforschung im Feld »Häuslicher«, »Familialer Gewalt« und von »Gewalt im sozialen Nahraum« eines mit Sicherheit ist  : unzureichend. Das gilt auch heute noch. Insbesondere im Hinblick auf eine disziplinenübergreifende Forschung nach Ursachen und vorbeugenden Strategien ist man  – für den angloamerikanischen wie deutschsprachigen Raum zusammengefasst ausgedrückt – nach wie vor »weit davon entfernt, einheitliche Theorien, Konzepte und Methoden anzuwenden« (Godenzi, 1996  : S. 21). Das Thema »Häusliche« bzw. »Familiäre Gewalt« ist seit seiner Wiederentdeckung in den frühen 1960er-Jahren als Gewalt gegen Frauen und Kinder und seit den 1980er-Jahrenn als »sexueller Kindesmissbrauch« in Medien und Öffentlichkeit überrepräsentiert, in den Wissenschaften hingegen »untererforscht« (Honig, 1992  : S. 22). Auch Cizek und Buchner (2001  : S.  20 ff.) referieren im Gewaltbericht 2001 für Österreich über den ungenügenden Stand der internationalen Gewaltforschung zur Gewalt in der Familie. Die Forschungsliteratur sei uneinheitlich, die Ergebnisse divergierten, und die Erklärungskonzepte von familiärem Gewalthandeln blieben inkon-

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sistent, lückenhaft, diffus und ambivalent. Methodische Artefakte würden produziert, Trennschärfen und Präzisierungen blieben mangelhaft. Die Autorinnen schließen, dass Interessen und Ideologien von Forschenden unterschiedlich wären, in deren Gefolge sich unterschiedliche Gewaltdiskurse entwickeln, wodurch ein heterogenes Bild der Gewaltforschung entstehe. »Insofern wird […] gefordert, in der Erforschung familialer Gewalt künftig mit klaren Begriffsdefinitionen und genauen, der Problematik angepassten, Erhebungsinstrumenten zu arbeiten. Damit könnte der wissenschaftliche Beitrag zum Verständnis familialer Gewalt verbessert werden« (Cizek und Buchner, 2001  : S. 34 f.). Diese Anregung zur Forschungsprogrammatik liegt bald zehn Jahre zurück, eingelöst ist sie nach wie vor nur ansatzweise. Bereits die miteinzubeziehende Forschung ist also mangels begrifflicher Genauigkeit des Untersuchungsgegenstandes »Familiäre Gewalt« schwierig zu benennen. »Familiäre« geht häufig in »Häusliche« und in »Gewalt im sozialen Nahraum« über. Präziser wird die Begriffsbestimmung dadurch nicht, sie verschiebt sich bloß. In den Diskursen von Soziologie, Sozialarbeitswissenschaft und Sozialarbeit sind »Gewalt« und »Familiäre Gewalt« jedenfalls selten thematisiert. Gewaltforschung weist in Österreich einen schwachen Institutionalisierungsgrad auf. Die Diskursanalyse schürft zum einen einzelne Studien wie jene von Haller et al. (1998), den Gewaltbericht (BMSG, 2001) und jenen zu Erziehungsformen und gewaltaffinen Sanktionsformen (2009) sowie die Gewaltprävalenzstudie (2011) hervor. Sie zeigt im Überblick der Literatur zum anderen, dass ein großer erster Themenbereich von gesetzesaffinen Fragestellungen (v.a. Dearing, 2000  ; 2005) eingenommen wird, insbesondere werden Gesetzesfolgen abgeschätzt (Haller, 1999  ; 2002  ; 2005  ; Haller, Hofinger, 2007). Ein zweiter Themenbereich betrifft Gewalt an und gegen Frauen. Bereits in den 1980er- und 1990er-Jahren wurde »Häusliche Gewalt« in der Regel in »Gewalt gegen Frauen in der Familie« oder in »Familiäre Gewalt« übersetzt, häufig mit der Konnotation »sexuelle Gewalt« und/oder strukturelle Benachteiligungen von Frauen gegenüber Männern. Gewaltforschung bedeutete damals Erforschung von Gewalt gegen Frauen und Kinder. Heute gilt dies noch zum Teil, allerdings erweitern sich die Auslegung von »Familiärer Gewalt« und damit der zu erforschende Untersuchungsgegenstand. Ein dritter Themenbereich im soziologischen und sozialarbeiterischen Diskurs lässt sich mit Berichten aus der Interventionspraxis markieren. Zum einen belegen die fachpraktischen Konzepte Fortschritte dahin gehend, dass sie inzwischen weniger diffus oder ambivalent sind als noch vor 15 Jahren, ausgewiesen damals von Haller et al. (1998). Der fachliche Diskurs signalisiert zum anderen, wenn auch noch leise, inhaltliche Schwerpunktverschiebungen in der Agenda der Forschungs- und Fachpraxis zur häuslichen Gewalt – hauptsächlich bezüglich der Zielgruppen und deren unterschiedlicher Betroffenheit.

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Wenden wir mit Lamnek et al. (2006) die Unterscheidung verschiedener Formen von familialer Gewalt an  – bezüglich der Konstellation der Betroffenen, also der Opfer und Täter –, so wandelt sich die Auslegung des Begriffs »Häusliche Gewalt« von vormals vorrangig Partnergewalt  – dann überwiegend des männlichen Partners gegenüber seiner Frau bzw. Lebensgefährtin  – hin zu einem umfassenderen Begriff, dessen inhaltliche Auslegung sich noch bewegt. Jedenfalls sind nicht mehr ausschließlich partnerschaftliche Gewaltakte gemeint, sondern erstens dieselben tendenziell geschlechtsunspezifischer als Akt einer Person gegen eine andere – nicht mehr alleine nur »Manngewalt gegen Frauen« – und zweitens zunehmend auch solche gegenüber Kindern, als direkt oder mittelbar betroffene, oder von Kindern gegenüber Eltern. Potenziell kommen damit mehrere Personengruppen bzw. für die Fachpraxis Zielgruppen in Betracht. Hinzu kommt, dass der Begriff »Gewalt im sozialen Nahraum« gegenwärtig jenen der »Familialen Gewalt« und den darin umfassten der »Häuslichen Gewalt« abzulösen scheint. Das Lokale steht ebenso im Vordergrund wie Intimität, Autorität, Abhängigkeitsverhältnisse und gemeinsame Lebensvollzüge. Die soziale Organisa­ tionsform »Familie« oder »Haus«, gleichbedeutend mit den eigenen vier Wänden, tritt in den Hintergrund. Hier sind sowohl begriffliche als auch Verständnisschwierigkeiten abzusehen, wenn »Gewalt im sozialen Nahraum« auch Gewaltakte von Schülerinnen und Schülern in einem Schulheim mit einschließt, oder von Bewohnerinnen/ Bewohnern oder Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern eines Pflegeheimes. Mit Brandstetter (2009) stellen wir fest  : Was sich durch den »Gewaltdiskurs« (Albrecht, 2001  : S. 10) in seiner medialen Aufbereitung verändert hat, ist die rechts- sowie wohlfahrtsstaatliche Betrachtung und Behandlung des Problems. Die Einführung des Gewaltschutzgesetzes, die Veränderung strafrechtlicher Bestimmungen und anderer legistischer Maßnahmen (aus der Exekutionsordnung, aus dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch, dem Sicherheitspolizeigesetz u. a.) der 1990er-Jahre haben insbesondere in Österreich eine gezielte Einflussnahme in Fällen »Familiärer Gewalt« ermöglicht und das Thema enttabuisiert. »Gewalt im sozialen Nahraum« verbleibt damit nicht länger in der »familiären Privatheit«. Wenn Privates zusehends öffentlich wird, dann spräche dies für die These des Vergesellschaftungsprozesses privater Gewaltanwendung (Honig, 1992  ; Godenzi, 1996). Gewalt wird zusehends als Frage von persönlicher Sicherheit und Schutz formuliert und als Verletzung persönlicher Integrität verstanden. Unterscheiden wir mit Honig (1986, 1992) und Lamnek und Ottermann (2004) die vier Diskurse zu familiären Gewalthandlungen, dann tritt der sozial-administrative Diskurs etwas in den Hintergrund, wenngleich aus administrativer und maßnahmenorientierter Perspektive neuerdings und verstärkt Kosten der häuslichen Gewalt sowie Nutzen bzw. Wirkungen von Interventionen zur Sprache gebracht werden. Ins-

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besondere der fachliche Diskurs der Gewaltschutzarbeit legt an Durchsetzungskraft zu. Der politisierende Diskurs dürfte mit seiner aufklärenden Intention jedenfalls teils zu einer Sensibilisierung und Enttabuisierung verhäuslichter Gewalt gelangt sein und seine Agenda inhaltlich ändern. Staat, Öffentlichkeit und Bevölkerung werden zwar langsam, doch stetig und angereichert sensibilisiert gegenüber häuslicher Gewalt. Vorsichtig formuliert schwächt sich der politische Diskurs ab, vor allem ihm käme die Bedeutung der weiterführenden Frage nach der Definitionsmacht und nach den strukturellen Bedingungen zu  – von einer Repolitisierung würde zu erwarten sein, einer administrativ-technokratischen Dominanz im Gewaltdiskurs gegenwirken zu können. Der vierte Diskurs, jener der Männerbewegung um emanzipatorische Sensibilisierung, ist bis auf kleine Beitragssplitter nicht auffindbar. Verfachlichung und Politisierung tragen Ihres dazu bei, dass es bei »Familiärer« oder »Häuslicher Gewalt« weniger um eine bestimmte Täter- bzw. Täterinnengruppe geht, sondern um einen Akt, eine spezifische Handlung. Benötigte die Gewaltdefinition zuvor stärker eine Position gegen einen Gewalttäter bzw. eine »Gruppe von Gewaltausübenden« – das waren bei »Gewalt in der Familie« und »Häuslicher Gewalt« in der Regel Männer –, so bedarf es nun einer Positionierung gegenüber einer Gewalttat  – soziales Verhalten, unabhängig von wem, soll »geächtet« werden. Aus fachpraktischer Sicht sind Verrechtlichung und Aufklärung wesentlich, damit betroffene Menschen  – Opfer wie Täter  – über ihre Rechte und Ansprüche informiert werden. Es geht nicht mehr hauptsächlich um körperliche Gewalt, sondern mehr und mehr um Gewaltakte gegen die psychische und emotionale Verfassung des Menschen. Mit dieser begrifflichen Erweiterung gehen wiederum beträchtliche Undefiniertheiten einher. Für eine Professionalisierung der Fachpraxis in Opferschutz und Opferhilfe, verstanden als interdisziplinäres Handlungsfeld Sozialer Arbeit, gilt es, dessen gesellschaftliche Bedeutung stärker ins Bewusstsein zu holen »und im weiten Feld von und zwischen Wissenschaft und Praxis die im Feld der Opferhilfe notwendigen fachbezogenen Grundlagen und Handlungskompetenzen vertiefend zu erörtern« (Hartmann, 2010  : S.  33). Die Entwicklung und Weiterentwicklung in der wissenschaftlichen Erforschung – hierin an erster Stelle in den Sozialwissenschaften – von Opfern beeinflussen die Fachpraxis und deren Fortschritt jedenfalls wesentlich mit. »Denn die vielzitierte Renaissance des Opfers (A. Eser, 1989) geht ganz wesentlich auf die Entwicklung und Ausdifferenzierung der Viktimologie als eigenständigem Forschungszweig innerhalb der Kriminologie zurück (..). Sie erforscht die Opfer systematisch und prägt damit das wissenschaftliche Bild vom Opfer ganz wesentlich« (Kilchling, 2010  : S. 43). Wir können mehrere Transformationen im Diskurs »Familiäre« und »Häusliche Gewalt« beobachten. Die Gewaltauslegungen scheinen sich vom Abstrakten zum

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Konkreten, vom Sozialwissenschaftlichen zum Sozialpraktischen, vom Allgemeinen zum Einzelnen zu verschieben. Der gesellschaftliche Sachverhalt tritt durch eine Subjektivierung in den Hintergrund. Staatliche, gesetzgebende Gewalt wird akzeptiert, das Eindringen staatlicher Gewalt in die Privatsphäre bzw. in den sozialen Nahraum wird reguliert, diese Regulierungen gelten zusehends als legitim. Würde man früher von einer unbehaglichen Toleranz gegenüber einem nicht ausreichend ausdefinierten Sachverhalt gesprochen haben können, so tritt an dessen Stelle nun die Frage nach der Akzeptanz gegenüber dem Eindringen staatlicher Gewalt in den privaten Lebensbereich. Wenn sich hierin ein Staatsbildungsprozess und der Umstand äußern, dass Gewalt Gegenstand von Definitionskämpfen ist (Inhetveen, 2005), dann ist zugleich eindringlich die Frage nach der Definitionsmacht und Legitimität aufgeworfen. Der Diskurs löst sich von den Ursachen von Gewalt und wendet sich Fragen der gesellschaftlich akzeptierten bzw. geforderten Handhabung zu. Dies mag mitunter darauf zurückzuführen sein, dass Gewalt, als konstitutives Merkmal einer postmodernen Gesellschaft, zusehends als Normalität anerkannt ist. Was tragen die Sozialforschung und Gewaltforschung zur Diskussion selbst bei, welche Rolle haben sie  ? Gelles (2002) spricht in seinem Beitrag zur »Gewalt in der Familie« als Überbegriff für »Häusliche Gewalt« im Standardwerk zur Gewaltforschung von Heitmeyer und Hagan (2002a) davon, dass die Erforschung von Gewalt in Familien und intimen Beziehungen vergleichsweise spät begann und zunächst Ursachenmodelle im Vordergrund standen. Die Diskursanalyse zeigt auf, dass die Gewaltforschung in Österreich in den letzten zwei Jahrzehnten die Frage nach den Gewaltursachen auf jene nach der Gewaltschutzgesetzgebung als Ursache für Auftreten und Behandlung häuslicher Gewalt eingrenzte bzw. verschob. Diese – eher der Politikwissenschaft zuordenbare – Strömung kann auch derart als Interventionsforschung ausgelegt werden, als es dabei um die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang und entsprechenden Gewaltschutzmaßnahmen geht – dass Politiken und Interventionen nach deren Effekten untersucht werden. Dies mag den Umstand widerspiegeln, dass häusliche Gewalt als Normalität anerkannt wird – als keine wünschenswerte, aber als eine reale. Die Gewaltforschung richtet dabei ihr Interesse weniger auf das »unverständliche Niemandsland« der Makrogewalt (Imbusch, 2005), sondern zusehends auf häusliche Gewalt als Mikrogewalt bzw. als Gewaltereignisse, -prozesse, -dynamiken und -verhältnisse. Staatliche und strukturelle Aspekte nehmen im ohnehin spärlichen Forschungsdiskurs zur familiären und häuslichen Gewalt ab. Komplementär zu existierenden Studien und gegenwärtigen Strömungen gefragt wären insbesondere alltagssoziologische, rechtssoziologische sowie (neo)institutionalistische Ansätze. Unzweifelhaft tragen die Sozialwissenschaften zur Aufklärung familiärer Gewalt bei. Allerdings scheint die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung zusehends vom

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administrativen und vom fachpraktischen Diskurs vereinnahmt zu werden. Würde dies eintreten, würde sie an Eigenständigkeit und die für die Sozialwissenschaft charakteristische Position verlieren. Unter administrativer, fachpraktischer oder auch politischer Dominanz würde sie riskieren, deren Interessen willfährig zu folgen. Zu einer eigenständigen Position sollte die Gewaltforschung auch im Bereich der Evaluations- und Wirkungsforschung kommen. Zwar werden wirkungsorientierte Studien angestrebt, doch bleiben diese im Format von Akzeptanz- und Befindlichkeitserhebungen (Kellem, 2009). Eine Evaluations- und Wirkungsforschung sollte nicht nur als Gesetzesfolgenabschätzung die Auswirkungen der Gewaltschutzgesetzgebung untersuchen, sondern sich auf die Gewaltschutzarbeit und Prävention richten, hierzu eine differenzierte Aufstellung in Sorgo (2009). Maßnahmen und Strategien zum Gewaltschutz, die lediglich auf Gesetzgebung vertrauen, werden ebenso zu kurz greifen wie Forschungen, die sich lediglich mit Folgen von Gesetzesnovellierungen befassen – zu sehr würden Letztere mit alleine erwünschten Legitimierungen staatlichgesetzgebenden und exekutierenden Handelns assoziiert werden können. Viel eher bedürfte es einer Beforschung familiärer und häuslicher Gewalt, die neue theoretische Modelle einführt und emotionale Momente von Gewalt in der Familie integriert, die Gewaltformen und Betroffenheiten stärker trennt, die verfügbare Archiv-, Akten- und Primärdaten (z.B. in den Gewaltschutzzentren) intensiveren statistischen Analysen zuführt und die wirkungsorientierte Studien mit adäquateren Forschungsdesigns untersucht. Mit Haller und Dawid (2006) können wir gewiss reichlichere, präzisere und fundiertere Primärerhebungen fordern. Die Erforschung familiärer und häuslicher Gewalt tappt aber nach wie vor im Dunkeln. Es ist nicht mehr pechschwarz, aber doch noch so dunkel, dass viele Aspekte häuslicher Gewalt immer noch nicht zu erkennen sind. Wachsende gesellschaftliche und kulturelle Diversität und Integration werfen neue Fragen ins Feld. Die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung weist in ihrer Empirie etliche Schwächen auf und ist in ihrem Methodenrepertoire in mehrfacher Hinsicht gefordert. Überwiegend sind Studien in empirischer Hinsicht qualitativ angelegt, sie beinhalten Interviews, erzählen von Fällen  ; sie beruhen letzten Endes auf Selbstzeugnissen und Selbstaussagen. Wird familiäre häusliche Gewalt in ihrem Auftreten quantitativ untersucht, so handelt es sich zumeist lediglich um nichtrepräsentative Befragungen Betroffener. Statistiken von öffentlichen bzw. fachlichen Stellen sind entweder nicht verfügbar oder so uneinheitlich, dass ein fundierter Status oder Vergleiche schwierig bzw. unmöglich sind. Die Datenlage ist vielerorts lückenhaft. Repräsentative Erhebungen sind jedenfalls Mangelware, und Ergebnisse von Fallstudien oder qualitativen Interviews bzw. nichtrepräsentativen Erhebungen – so wichtig ihr Beitrag ist – werden in ihrer Generalisierbarkeit grob überstrapaziert. Folgende empirizistische oder ideologische Färbungen

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verwässern dann empirische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse. Die fehlende Repräsentativität ist ein großes Defizit, verallgemeinerbare Aussagen fehlen. Für Österreich ist hier die Prävalenzstudie 2011 auszunehmen, sie nimmt einen Sonderstatus ein und bringt neue Erkenntnisse. Der Stand zur Erforschung häuslicher Gewalt in Österreich ist dünn, selbst in Anerkennung der Fortschritte während der letzten zwei Jahrzehnte. Daran ändern auch einige rudimentäre Informationen aus dem jährlichen Sicherheits-Kriminalstatistikbericht des Bundesministeriums für Inneres und des Bundesministeriums für Justiz wenig. Nach wie vor, und vielleicht mehr als zuvor, sind sozialwissenschaftliche Präzisierungen und Abgrenzungen, sowohl begrifflicher, programmtheoretischer, methodologischer als auch methodischer Art, notwendig. Hinzu kommt die Rolle der Forschung und der Forschenden. Wenn der soziale gewaltige Tatbestand im häuslichen, familiären und sozialen Nahfeld und in intimen Beziehungen schwer wiegt, sind Untersuchungen so gefragt wie komplex. Geht es um Gewalt, so verlangt deren Erforschung ein hohes Maß an Selbstreflexion der Forschenden und an Reflexion der Involviertheit der Sozialforschung in der Konstruktion und Rekonstruktion des untersuchten Phänomens (Honig, 1992). 5. Literatur Albrecht, Günter (2002)  : Soziologische Erklärungsansätze individueller Gewalt und ihre empirische Bewährung. In  : Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Herausgegeben von Wilhelm Heitmeyer und John Hagan. Wiesbaden  : Westdeutscher Verlag. S.763–818. Almer, Daniela  ; Logar, Rosa (2006)  : Partnerschaft gegen Gewalt. Wien  : Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser  ; Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie. Amesberger, Helga  ; Halbmayr, Brigitte (2008)  : Das Privileg der Unsichtbarkeit. Rassismus unter dem Blickwinkel von Weißsein und Dominanzkultur. Studienreihe Konfliktforschung, Band 22. Wien  : Braumüller Verlag. Bauer, Thomas (Hg.) (2009)  : Gewaltschutzgesetz  : Recht & Praxis. Linz  : ProLibris. [1. Aufl. 2007]. Becker, Ruth  ; Kortendiek, Beate (Hg.) (2004)  : Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden  : VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bellebaum, Alfred (1994)  : Soziologische Grundbegriffe. Eine Einführung für soziale Berufe. 10. Aufl. Stuttgart u. a.: Kohlhammer.

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Wilfried Nutz

I steh’ zu dir, bei Licht und Schåttn … Das Prinzip der Parteilichkeit in der Sozialarbeit am Beispiel der Opferhilfe

Parteilichkeit wird seit einiger Zeit gerne in Leitbilder sozialer Einrichtungen verschiedenster Handlungsfelder als Grundsatz in der KlientInnenarbeit aufgenommen. Gerade im Bereich der Opferhilfe ist parteiliches Handeln weitverbreitet. Die Bedeutung und der Umfang dieses Prinzips bleiben den handelnden Personen jedoch vielfach verschlossen, zu ungenau sind die Auseinandersetzung mit dem Thema bzw. die Beschreibung der durch Parteilichkeit gekennzeichneten Arbeitsweise. Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema ist daher notwendig und Ziel dieses Beitrages, der auf der Arbeit von Nutz (2008) basiert. Das Design zur empirischen Untersuchung beinhaltet Tiefeninterviews mit ExpertInnen, die in ihrer professionellen Arbeit mit Opfern zu tun haben. Den Intervieweinstieg in die komplexe Thematik erleichtert ein Stimulus in Form einer Filmsequenz. Die Auswertung der Daten erfolgt mittels Methoden-Triangulation aus der objektiven Hermeneutik und der qualitativen Inhaltsanalyse. Als Ergebnis der empirischen Untersuchung lassen sich Gründe für die fehlende, allgemeingültige Definition von Parteilichkeit im Rahmen der Sozialarbeit, die Wirkungsweise parteilichen Handelns in sozialarbeiterischen Arbeitsweisen und Methoden sowie der spezielle – teilweise unbewusste – Zugang von ProfessionalistInnen der Opferhilfe zur Parteilichkeit anführen. 1. Das Prinzip der Parteilichkeit Parteilichkeit hat ihre Wurzeln in der marxistisch-leninistischen Philosophie und bezeichnet dort die »Klassengebundenheit von Denken und Handeln« (Brockhaus, 2006  : S. 54). Ziel dieses Ansatzes ist es, Ungleichheiten zu bemerken und zu benennen, aufzuzeigen, öffentlich zu machen und das Bestreben, sie gemeinsam im Interesse des Proletariats abzubauen. Für Kavemann hat Parteilichkeit in diesem Sinn ihre »politische Geschichte« (1997  : S. 182), die sich in einem gesellschaftlichen Auftrag widerspiegelt. Entscheidend für den Zusammenhang parteilichen Handelns mit Sozialarbeit sind die sozialen Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre. Parteilichkeit macht auf die gesellschaftlich randständigen, von Exklusion bedrohten oder bereits betrof-

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fenen Menschen aufmerksam und unterstützt sie im Widerstand und in der Durchsetzung ihrer Interessen, anstatt von ihnen die Anpassung an das gegebene System zu verlangen. Einen besonderen Aspekt bringt die Frauenbewegung in die Entwicklung des Parteilichkeitsprinzips ein, nämlich die Unterscheidung zwischen gesellschaftspolitischer Bewusstmachung bzw. sozialkritischer Arbeit und der Unterstützung für eine einzelne Frau als Opfer der Ungleichheit in einer patriarchalischen Gesellschaft (vgl. Kavemann, 1997  : S. 186 f.). In der heutigen Zeit wird Parteilichkeit längst nicht nur mehr von feministisch geprägten Einrichtungen der Sozialarbeit verwendet, viele andere Tätigkeitsfelder arbeiten parteilich. Merchel sieht darin die Gefahr der Bildung eines »popularisierten Begriffs«, welcher »lediglich Assoziationen in eine bestimmte Richtung auszulösen vermag, ohne daß jedoch die Bedeutung des Begriffs präziser umrissen werden könnte« (2000  : S.  52). Eine einheitliche, alleingültige Definition existiert nicht. In der Brockhaus Enzyklopädie ist die politisch-philosophische Dimension des Wortes Parteilichkeit enthalten, nicht aber die Bedeutung für sozialarbeiterisches Handeln. Alice Salomon (1872–1948), eine der großen Klassikerinnen der Sozialen Arbeit, schrieb 1930  : »Soziale Arbeit beruht auf dem Grundsatz, daß die Gesamtheit für die schwachen Glieder Verantwortung übernehmen muß« (Salomon, 1930, zit. nach Kuhlmann, 2000  : S. 17). Für Salomon gelten zwar die strikte Trennung und Differenz zwischen Politik und Sozialarbeit, es liegt für sie aber dennoch im Verantwortungsbereich von SozialarbeiterInnen, anwaltliche Funktion für die Klientel auszuüben und gesellschaftliche Machtverhältnisse sowie die Rolle der Sozialarbeit innerhalb dieser gegebenen Strukturen zu analysieren, um weitgehende soziale Gerechtigkeit erreichen zu können (vgl. Kuhlmann, 2000  : S.  20 f.). Roth sieht die »Kenntnis und Analyse der bestehenden Machtungleichheit zwischen den Geschlechtern« (1997  : S. 92) als Basis für parteiliches Handeln im feministischen Sinne. Frauen werden in ihrer Eigenwahrnehmung positiv bestärkt und bekommen uneingeschränkte Unterstützung und Schutz, falls sie von Gewalt betroffen sind. Mit der Demaskierung und Bekämpfung sämtlicher gesellschaftlicher Unterdrückung soll das übergeordnete feministische Ziel der Schaffung einer geschlechtshierarchiefreien und gewaltlosen Gesellschaft möglich werden (vgl. Roth, 1997  : S. 93 f.). Für Roth gibt es parteiliche Arbeitsprinzipien jedoch nicht nur in der feministischen Sozialarbeit, vielmehr versteht sie darunter eine »gesellschaftspolitische Grundhaltung, […] [die] weit über die uneingeschränkte Parteinahme für einzelne Betroffene hinaus[geht]« (1997  : S.  108). Bei der näheren Auseinandersetzung mit dem Fachbegriff kommt Merchel zur These, dass Parteilichkeit womöglich »eine schillernde, in ihrem Bedeutungsgehalt kaum faßbare Vokabel [ist], deren Sinn in erster Linie darin zu liegen scheint, in den Widersprüchen der Sozialen Arbeit eine Orientierung und damit eine Entlastung der Ungewißheit zu

I steh’ zu dir, bei Licht und Schåttn …

vermitteln« (2000  : S. 49). Die Ambivalenz möglicher Definitionsansätze bringt Ohl folgendermaßen auf den Punkt  : Bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema kommt es kaum zu einem Vergleich unterschiedlicher Erklärungsansätze, Interventionsstrategien und Praxismodelle. Vielmehr konkurrieren VertreterInnen verschiedener Arbeits- und Wissensbereiche um eine problemangemessene Definition, um Objektivitätskriterien, Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalt des Phänomens und unterstellen wechselseitig ideologiegeleitete Interessen und ökonomischen Eigennutz (1997  : S. 118). Unabhängig von unterschiedlichen Zugängen zur Begriffsbeschreibung zeigt sich Parteilichkeit in zwei Dimensionen. Zum einen sind die gesellschaftspolitische Vertretung der Anliegen der Klientel und die Bewusstmachung von Problemen Aufgabe parteilichen Handelns. Zum anderen zeigt sich Parteilichkeit in der direkten Beziehung zu den KlientInnen, ist also einzelfallbezogen. Für Pantuček hat Sozialarbeit die »Bearbeitung und Lösung von sozialen Problemen, die Bewältigung schwieriger Lebenslagen zum Gegenstand« (1998  : S. 67). Die Beziehungsarbeit zu den KlientInnen steht im Vordergrund, die Aufmerksamkeit und Verantwortung orientiert sich am Individuum, Parteilichkeit wird an einem einzelnen Menschen manifest. Für Hardegger zeigt sich parteiliche Orientierung an einer Betrachtung der Klientel »weder als defizitär noch als selbstverschuldetes Opfer […], sondern als Subjekte, die ihr Leben eigenständig und eigenverantwortlich gestalten wollen und können« (1996  : S.  236). In der Individualhilfe wird oft von einem Fall gesprochen, dabei handelt es sich um eine »Person in der Situation« bzw. um eine »Person in ihrer Umwelt« (Pantuček, 1998  : S. 68). Diese Formulierung zeigt eindeutig den Zusammenhang von einzelfallorientierter Sozialarbeit mit einer größeren Dimension, nämlich der des sozialen Nahraums und der Gesellschaft. Parteilichkeit in der politischen Dimension verlangt Öffentlichkeitsarbeit und Sensibilisierung der Gesellschaft für die Probleme von Personen, die von Exklusion betroffen oder gefährdet sind. Roth beschreibt diese gesellschaftliche Dimension der Parteilichkeit und die Mitverantwortung jeder/jedes Einzelnen sehr treffend  : »Vorausgesetzt wird hierbei die Tatsache, daß sich keine Person außerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse stellen kann und somit persönlich mitverantwortlich ist, denn menschliches Handeln ist das Ergebnis der Wechselwirkung zwischen individueller Handlungsfähigkeit und gesellschaftlichen Strukturen« (1997  : S.  11). Ein grundsätzliches Interesse an gesellschaftlichen und sozialpolitischen Themen ist generell eine Voraussetzung für professionelle Sozialarbeit.

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76 2. Das spezielle Anwendungsfeld – die Opferhilfe

Ein Opfer ist eine »Person, die von der Gewalt eines anderen verletzt worden ist« (Dearing, 2005  : S. 101). Diese Tatsache und die erlebte Verletzung bedeuten eine bestimmte Art von Exklusion für den betroffenen Menschen, da der Opferstatus und die damit verbundenen Erfahrungen in unserer Gesellschaft nicht verbreitet auftreten und somit die Gefahr der Ausgrenzung darstellen. Hagemann-White schreibt über die Verpflichtung des Staates der Exklusionsvermeidung wie folgt  : »Eine humane Gesellschaft muß daher sowohl öffentlich und eindeutig die Tat und den Täter sanktionieren, wie auch dem Opfer Beratung, Schutz, Hilfe zur Heilung der Verletzungen und die materielle Chance für einen Neuanfang bereitstellen« (1997  : S.  29). Prinzipien des Empowerment und der versuchten Rückgewinnung der Handlungsfähigkeit und Selbstständigkeit beim Opfer sind entscheidende Arbeitsschritte, die von der allgemeinen Sozialarbeit an die speziellen Erfordernisse der Opferhilfe adaptiert werden. Seinen vorläufigen Höhepunkt findet der Kampf gegen Gewalt in der Familie in Österreich mit dem Inkrafttreten des Gewaltschutzgesetzes im Jahre 1997 (vgl. Strasser, 2001  : S.  28 ff.). Die Gesetzgebung hat einen multi-institutionellen Ansatz zur Ächtung der Gewalt, die Vorrangigkeit der Sicherheit des Opfers und eine eindeutige Zuschreibung der Verantwortung der Tat an den Gewalttäter zum Ziel (vgl. Dearing, 2005  : S. 75 und 103). Gewalt im sozialen Nahraum ist für Dearing das »Sicherheitsproblem Nummer eins« und stellt gleichzeitig die »häufigste schwere Menschenrechtsverletzung« (2005  : S.  17) dar. Betroffene von Gewalt im sozialen Nahraum befinden sich oft in einer sogenannten »Gewaltbeziehung« (ebd.: S. 34). Es handelt sich um »Gewalt unter Personen, die intim oder eng verwandt sind und ständig oder zyklisch zusammen wohn(t) en« (Lamnek & Luedtke & Ottermann, 2006  : S. 102). Ein mögliches Ausstiegsszenario beschreibt Dearing folgendermaßen  : »Ziel ist nicht die Auflösung der Beziehung, sondern die Beendigung der Gewalt  ; diese ist aber ohne eine tief greifende Veränderung der Beziehung nicht zu haben« (2005  : S. 38). Bei einer solchen Veränderung liegt es an beiden Seiten, Täter und Opfer, mitzuarbeiten und die vorhandenen Unterstützungs- und Beratungsangebote der jeweiligen sozialarbeiterischen Einrichtungen anzunehmen. Die bewusste Konzentration auf die Aufarbeitung der Tat und Stärkung des Opfers hat das Ziel, »jeglicher Verschiebung von Verantwortlichkeiten durch eine eindeutige Parteinahme und Zuweisung von Verantwortung entgegenzutreten und auf diese Weise die Betroffenen von ihren Schuld- und Schamgefühlen zu entlasten und ihnen damit Orientierung und Halt zu geben« (Roth, 1997  : S. 101). Parteilichkeit als Arbeitsprinzip in der Opferhilfe kann dies leisten und sowohl für Professionelle als auch für KlientInnen Orientierung und Stärkung bedeuten. Eine genauere Auseinandersetzung erfolgt in den nächsten Kapiteln.

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3. Empirische Methode und Untersuchungsdesign Die empirische Untersuchung dieser Arbeit soll Erfahrungen aus der Praxis des Handlungsfeldes der Opferhilfe sammeln, um die Ergebnisse mit den vorhandenen theoretischen Erkenntnissen und wissenschaftlichen Studien über Parteilichkeit in Verbindung setzen und aufzeigen zu können, wie sich das Prinzip in der alltäglichen Beratungsarbeit äußert. Das Forschungsdesign beinhaltet acht Tiefeninterviews mit ExpertInnen aus der Steiermark und Wien, die in ihrer professionellen Arbeit mit Opfern zu tun haben. An Berufsgruppen gibt es eine Mischung aus Sozialarbeit (drei Interviews), Psychotherapie (vier Interviews) und Polizei (ein Interview). Anzumerken ist, dass nicht die Polizei als Berufsgruppe Ziel des Interviews ist, sondern die Vertretung einer Opferhilfeeinrichtung bei der Polizei arbeitet. Den Einstieg in die komplexe Thematik erleichtert ein Stimulus in Form einer Filmsequenz, darauf aufbauend folgen die Fragen. Bei der gewählten Szene handelt es sich um einen kurzen Ausschnitt aus dem spanischen Film »Te doy mis ojos«1. Dieser Ausschnitt beginnt bereits bei Minute 20  :08, dauert bis zur Minute 21  :40 und zeigt ein Streitgespräch zwischen dem Opfer, ihrer Mutter und Schwester. Thema sind die subjektive Wahrnehmung, das Verschweigen und die Reaktion auf das Bewusstwerden von häuslicher Gewalt. Der Auswertung der empirischen Daten ist eine Methoden-Triangulation zugrunde gelegt  : •• Auffällige Aussagen zur Filmsequenz werden anhand der objektiven Hermeneutik analysiert und für die Integration in die vorliegende Arbeit aufbereitet. Bei dieser von Oevermann begründeten Methode der Sozialforschung geht es um die »re­ konst­ruktive Explikation von Struktureigenschaften« (Lamnek, 2005  : S. 211). Jeder Mensch nimmt in seiner Sozialisation und über diverse Erfahrungen verschiedene Haltungen und Eigenschaften an, die sich unbewusst in seinem praktischen Handeln und dem Verhalten dritten Personen gegenüber zeigen. In den Interviews wird versucht, über die Filmsequenz als Stimulus die GesprächspartnerInnen auf das Thema einzustimmen und die unbewussten inneren Vorstellungen über einfache, spontane Fragen zur Szene an die Oberfläche zu transportieren bzw. eine Basis für die Analyse der vorliegenden Arbeit zu gewinnen. »Gegenstand der objektiven Hermeneutik ist […] nicht das konkrete Verhalten von Individuen, sondern die latenten Sinnstrukturen als Bedeutungsmöglichkeiten von Interaktionstexten sollen herausgearbeitet werden« (ebd.: S.  212). Im Falle der empirischen Untersuchung 1 Offizieller deutscher Titel  : »Öffne meine Augen«

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zum Thema Parteilichkeit beschränkt sich die objektiv-hermeneutische Analyse auf einzelne Aussagen zur gezeigten Filmsequenz. •• Der große Teil der Daten aus den Tiefeninterviews wird mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring über Kategorienbildung ausgewertet und in die jeweiligen Kapitel integriert. Die geführten Tiefeninterviews orientieren sich an alltagsähnlicher Kommunikation. Nach diesem Modell erfolgt auch die Auswertung der gesammelten Daten, denn die »qualitative Inhaltsanalyse muß anknüpfen an alltäglichen Prozessen des Verstehens und Interpretierens sprachlichen Materials« (Mayring, 2003  : S. 34). Für das empirische Design bedeutet dies, dass vor Durchführung der Interviews diverse Fachliteratur über die verschiedenen Aspekte und Ausprägungen von Parteilichkeit gelesen wird, um sicherzustellen, dass keine wichtigen Details bei den Leitfragen übersehen werden und – falls nicht direkt von den Gesprächspartner/innen selbst angesprochen – sämtliche entscheidende Punkte im Interview beinhaltet sind. Bei der Analyse der aufgezeichneten Daten muss jedoch von diesem persönlichen Vorverständnis des zu behandelnden Themas wieder Abstand genommen werden, um nicht den eigenen Vorstellungen Vorrang vor denen der InterviewpartnerInnen zu geben (vgl. Mayring, 2003  : S. 34). Die Resultate aus den Analysen finden direkt in Kombination mit den Zitaten aus der Fachliteratur ihre Verwendung. Dabei wird integrativ vorgegangen, da dies für die vorliegende Arbeit am passendsten erscheint. Mayring beschreibt mit seiner Technik der Kontextanalyse den Zusammenhang zwischen Theorie und Untersuchungsergebnis so  : »Zu einzelnen interpretationsbedürftigen Textstellen wird zusätzliches Material herangetragen, um die Textstelle zu erklären, verständlich zu machen, zu erläutern, zu explizieren« (2003  : S. 77). Im übertragenen Sinn ist diese Art der Inhaltsanalyse für die deduktive, theoriegeleitete Arbeitsweise im Rahmen der Forschungsarbeit anwendbar, da ein unmittelbarer Zusammenhang besteht und die gleichwertige Verwendung von empirischen Ergebnissen und theoretischen Wissensbeständen möglich ist. Die Integration von empirischen Ergebnissen in die vorliegende Arbeit erfolgt mit dem Zitationshinweis IV für Interview und einer fortlaufenden Nummerierung von 1 bis 8 für die acht transkribierten Gesprächsprotokolle sowie der jeweiligen Seitenund Zeilennummer des Transkripts. Das hier beschriebene Untersuchungsdesign mit den verschiedenen Interview- und Analysemethoden sowie der Filmsequenz und dem Ablauf der Interviews veranschaulicht, wie differenziert an die empirische Forschung herangegangen werden muss, um zu entsprechenden Ergebnissen zu kommen, die einen Einblick in die praktische Umsetzung des Prinzips der Parteilichkeit in der Opferhilfe gewährleisten.

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4. Sozialarbeiterischer Zugang zur Parteilichkeit Nachstehend werden sozialarbeiterische Spezifika, die in der Person der Handelnden, aber auch in ihrem Verhältnis zur Klientel liegen, mit dem Prinzip der Parteilichkeit in Verbindung gebracht. Im Fokus steht dabei die Opferhilfe. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten  : Parteiliches Handeln erfordert eine bestimmte moralische Haltung, die eigenen Erwartungen und Ansprüche der BeraterInnen müssen mit ihrer Rolle in der Beziehungsarbeit übereinstimmen und sich innerhalb bestimmter Interessenkonflikte bewegen können. Über Abgrenzung erreichtes und für KlientInnen und OpferhelferInnen annehmbares Nähe-DistanzVerhältnis sowie die Fähigkeit der Selbstreflexion sollte es den SozialarbeiterInnen gelingen, die subjektiven Wahrnehmungen der Klientel in eine objektive Falleinschätzung umwandeln zu können, um mit diversen Arbeitsweisen und Grundsätzen erfolgreich parteilich tätig zu sein.

4.1 Ethik und Moral in der Sozialarbeit

Mührel macht sich zum Ethikbegriff folgende Gedanken  : Die Ethik, als Teilgebiet der praktischen Philosophie, stellt unsere Haltung gegenüber der Welt und damit auch gegenüber dem Mitmensch und uns selbst infrage, wenn sie, in einem allgemeinen Verständnis, nach wohlbegründeten Werten und Normen sowie Zielen und Zwecken menschlichen Handelns sucht (2003a  : S. 8). Von besonderer Bedeutung sind diese moralischen Vorstellungen in Arbeitsfeldern, die sich über zwischenmenschliche Kontakte definieren, also auch in der Sozialarbeit, denn »die Grundhaltung ist das Um und Auf, wenn man in dem Bereich arbeitet. Also wie man Menschen begegnet« (IV-04, S. 6, Z. 171 ff.). Interessant ist ein Ergebnis der empirischen Untersuchung  : Sämtliche InterviewpartnerInnen geben an, neben ihrer beruflichen Verpflichtung, Opfern zu helfen, auch privat ein moralisches Gebot sehen, für die Geschädigten da zu sein. In diesem Zusammenhang kann durchaus von einer aus ethischen Gründen einforderbaren Parteilichkeit aller BürgerInnen gesprochen werden. Eine eindeutige Bestätigung der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung findet sich in folgendem Interviewausschnitt wieder  : »Wenn ich weiß, da passiert etwas, dann liegt es an mir und in meiner Verantwortung, sensibel einmal nachzufragen und schauen, was ist da. Das heißt, das geht uns alle an« (IV-07, S. 6, Z. 188 ff.). Auffällig ist, dass es zwischen den Berufsgruppen, also zwischen Sozialarbeit und Psychotherapie, keine Unterschiede in der ethischen und moralischen Haltung bzw. der Wertvorstellung dem Thema Gewalt gegenüber gibt. Eine parteiliche Haltung gegen Gewalt

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kann in allen Interviews festgestellt werden, wie diese Aussage zeigt  : »Also, für mich ist Gewalt nie normal« (IV-04, S. 27, Z. 889). 4.2 Professionalisierung und professionelles Handeln

Soziale Arbeit als berufliche Arbeit ist dadurch charakterisiert, dass sie erstens in Handlungsregeln und Methoden agiert, die im Horizont von Wissenschaft begründet und praktiziert werden, dass sie zweitens im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit für jedermann und ohne Vorbedingungen erreichbar ist und drittens – gleichsam im Gegenzug  – darin immer auch zu den Lebensverhältnissen der AdressatInnen jene Distanz wahren kann, die die Chance für eine von allen Vorbedingungen unvoreingenommene Parteilichkeit ebenso bietet wie für Optionen (Thiersch, 2001  : S. 1255). All diese Punkte zeichnen professionelles Handeln in der Sozialarbeit und somit auch in der Opferhilfe aus. Dass in dieser Beschreibung sogar das Wort Parteilichkeit vorkommt, zeigt die Wichtigkeit dieses Prinzips für eine erfolgreiche Arbeit mit der Klientel, wobei Thiersch andere Handlungsoptionen gleichzeitig offenlässt. Wichtig für professionelle BeraterInnen ist, sich immer wieder neu auf den jeweiligen Einzelfall einzustellen und dabei auf ein fundiertes Erfahrungswissen zurückgreifen zu können, wie aus einem weiteren Interview hervorgeht  : »Ich glaube, dass ich hilfreicher bin, wenn ich so wirklich einen guten Überblick habe, über die Arbeit, über die Dynamiken, und jedes Mal mich ganz individuell wieder auf eine Familie einlassen kann, in welcher Position ich als Helfer dann auch bin« (IV-04, S. 16, Z. 535 ff.). Ein Wesenszug, der sicherlich nicht unterstützend für die KlientInnen ist, dennoch möglicherweise mit parteilichem Handeln  – vor allem auch in schweren Fällen von Gewalterfahrung und einer möglicherweise vorliegenden Traumatisierung – verbunden werden kann, sind Gefühle von Mitleid. Diese sind eine recht menschliche Reaktion, die allerdings im professionellberuflichen Kontext nicht auftreten dürfen, wie eine Interviewpartnerin bemerkt. Ich glaube, ich glaube, erstens, das ist nicht sehr professionell, Mitleid mit den KlientInnen zu haben, das würden sie spüren, und sie würden sich noch mehr entmachtet fühlen, also, ich würde sie ja zu Kindern degradieren, das eine, und das andere, jetzt für mich selber, nachdem ich mir selber am nächsten stehe, wenn ich mit jedem Mitleid haben täte, täte ich wahrscheinlich meine Arbeit nicht so lange machen (IV-01, S. 12, Z. 362 ff.). 4.3 Rollenverständnis und persönliche Voraussetzungen für Parteilichkeit

Die meisten InterviewpartnerInnen sind bezüglich der wichtigsten Voraussetzung für die Arbeit im Kontext der häuslichen Gewalt und deren Opfer einer Meinung, für

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sie ist Selbsterfahrung essenziell. »Selbsterfahrung […], das ist für mich das Um und Auf, um gut beraten, gut begleiten und gut unterstützen zu können« (IV-07, S.  13, Z. 437 ff.). Zu wissen, wo die eigenen Grenzen sind, bietet Schutz vor Übertragung und Projektion und erleichtert die Abgrenzung vom Thema und dem jeweiligen Fall. Gerade der Gewaltbereich ist in der Sozialarbeit ein Arbeitsfeld, welches viel von den Professionellen abverlangt, wie Roth bestätigt  : »Das Ausmaß an Belastungen und deren Bewältigung ist dabei u. a. eng mit dem entsprechenden Berufsbild bzw. der Institution verknüpft und hängt wesentlich von der Kompetenz und Berufserfahrung der Professionellen im Hinblick auf die Thematik ab« (Roth, 1997  : S. 249). Parteilichkeit kann dabei als Prinzip den SozialarbeiterInnen Erleichterung und Orientierung bieten, denn die persönliche Haltung gegen Gewalt schreibt ihnen eine eindeutige Rolle in der Beratungsbeziehung zu und ermöglicht es, andere Bereiche im Bezugssystem der KlientInnen teilweise unberücksichtigt zu lassen, wie aus einem Interview hervorgeht  : Parteilich gegen Gewalt, das heißt, dann ist das meine Haltung gegen die Gewalt, parteilich zu sein. Ah – kann natürlich auch sein, dass jetzt diese Person alle anderen möglichen Hintergründe hat, die man dann nicht beurteilt, wenn man parteilich hinter dem Thema steht, was vor allem, wie ich glaube, in der Opferschutzarbeit sehr, sehr wichtig ist (IV-01, S. 1, Z. 18 ff.). Aus der empirischen Untersuchung geht hervor, dass etwa das Wissen um die Vernetzungsmöglichkeiten sowie die Kenntnis der in dem Bereich tätigen Institutionen und der rechtlichen Rahmenbedingungen ebenso entscheidend sind (vgl. IV-07, S. 14). Wichtig für die von Gewalt betroffenen Opfer ist, dass die BeraterInnen ihnen das Gefühl einer klaren Zuständigkeit für sie entgegenbringen und ein Vertrauensverhältnis aufbauen können, in dem ohne Vorwürfe und Angriffe die erlebte Gewalt besprochen werden kann. Es gilt, eine Gratwanderung zwischen »beste/r Freund/in« und Professio­ nalist/in zu bestehen, oder mit den Worten von Brückner  : »Nicht professionell genug und zugleich besser als alle traditionellen ExpertInnen« (1998  : S. 112) zu sein. 4.4 Nähe-Distanz-Verhältnis und Abgrenzung

Für mich ist das, die, das Handwerk und die Kunst, die wir lernen in der Sozialarbeit, diese, dieses, diese Balance zwischen Engagement und Distanz immer zu wahren, also, ohne, ohne Engagement können wir den Menschen nicht helfen, und ohne die nötige Distanz werden wir da in einen Strudel hineingezogen, also, für mich gehört das einfach zu professioneller Beratungsarbeit und Sozialarbeit und ist das, was ich sowieso dauernd lernen muss und wo ich mithilfe von Supervision das verbessere (IV-05, S. 31, Z. 1024 ff.).

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Im Zusammenhang mit Parteilichkeit in der Arbeit könnte der Gedanke aufkommen, dass ein Nähe-Distanz-Verhältnis nicht vonnöten sei, da die OpferhelferInnen, wie aus den meisten Interviews hervorgeht, auf der Seite der KlientInnen stehen. Kavemann entkräftet diese Idee und schreibt  : »Ein wichtiger Bestandteil von Parteilichkeit, der oft außer Acht gelassen wird, ist Distanz im Unterschied zu Identifikation. Parteilichkeit stellt sich nicht in der Identifikation mit dem konkreten Gegenüber unter Beweis« (1997  : S. 194). Gerade für Opfer häuslicher Gewalt stellt ein Zuviel an Nähe manchmal ein Problem dar  : »Nähe ist manchmal gefährlich, ja. Die brauchen oft weniger Nähe, mehr Distanz als andere« (IV-02, S. 13, Z. 430­–431). Möglicher Erklärungsansatz dafür ist die Erinnerung des Opfers an Erfahrungen in der Gewaltbeziehung. Dort gibt es viel Nähe, der Täter überschreitet Grenzen, für das Opfer wird es eng und gefährlich. Passiert in der Beratung Ähnliches, ohne die spezielle Gewalttat an sich, kann beim Opfer das Phänomen der sekundären Viktimisation2 auftreten, und die parteiliche Opferhilfe hat ihre Ziele vollkommen verfehlt. Viel wichtiger in der Betreuungsarbeit sind »Sicherheit und Schutz und Vertrauen« (IV-02, S. 13, Z. 439). Gerade das sind Merkmale, die Geschädigte in ihrer Beziehung vermissen und somit dringend brauchen. Abgrenzung zum Fall des/der jeweiligen Klienten/in ist essenziell, um erfolgreiche, parteiliche Opferarbeit leisten zu können. »Man versucht natürlich auch zum Eigenschutz, der ja eigentlich auch da ist, nur nicht zu viel wissen, dann, dann betrifft es mich nicht, aber im Prinzip betrifft es unsere ganze Gesellschaft« (IV-03, S. 2, Z. 57 ff.). Die Aussage dieses Gesprächspartners lässt darauf schließen, dass professionelle HelferInnen Schilderungen von Opfern über schlimme Erfahrungen aushalten müssen oder sich entsprechend abzugrenzen haben, dabei nicht überfordert sein dürfen, sondern darüber hinaus versuchen sollen, öffentliches Bewusstsein für Gewalt in der Familie zu fördern. 4.5 Selbstreflexionsfähigkeit

Neben Selbsterfahrung ist die Fähigkeit der Selbstreflexion wichtige Voraussetzung in der Sozialarbeit und im Besonderen in der parteilichen Opferhilfe. Bestätigt wird dies von Völkl-Maciejczyk, die meint  : »In Gewaltbeziehungen geht es immer auch um Grenzverwischungen. Besonders wichtig sind daher für professionelle Helferinnen  : Wahrnehmen, Einfühlen, Abgrenzen. Dies erfordert gleichermaßen, sich grundlegend theoretisch auseinanderzusetzen und eine vertiefte und kontinuierliche Selbstreflexion« (1996  : S. 145). Eine Interviewpartnerin verstärkt dieses Zitat mit ihrer praktischen Erfahrung  : 2 »Sekundäre Viktimisationen sind Schäden, die durch das reagierende Umfeld (Nahraum und Fernraum) entstehen« (Kirchhoff, 1997  : S. 150).

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Ich denke mir, das ist auch so etwas, was auf der Helferebene oft beobachtet wird, dass dann die Dynamik aus diesen Gewaltzyklen sich auf der Helferebene widerspiegelt bzw. Personen Schritte setzen, einfach weil sie, ah, getrieben durch ihre eigenen Gefühle, die nicht reflektiert sind. Das sind eben so Dinge dann wie Wut, Ohnmacht, aber auch Angst. Also, das sind Dinge, die wir bei uns selber wahrnehmen (IV-04, S. 6, Z. 196 ff.). Grundvoraussetzung ist, dass sich professionelle OpferhelferInnen ihrer eigenen Wahrnehmungslücken bewusst sind und die subjektiven Selbst- und Fremdbilder, Wertmaßstäbe und Handlungsweisen kennen (vgl. Kavemann, 1997  : S.  198 f., und Miller, 1996  : S.  54). Sind diese Bedingungen erfüllt, fördert die Selbstreflexion die »Möglichkeit der Empathie« (Kavemann, 1997  : S.  199), da durch die intensive Beschäftigung mit sich selbst, seinen Aggressionen, Macht- und Ohnmachtsgefühlen sowie regressiven Tendenzen gelernt wird, in sich hineinzufühlen. Im Unterstützungsprozess muss darauf geachtet werden, dass es nicht zu einer Reviktimisierung des Opfers kommt, indem die professionelle Hilfe die persönlichen Grenzen der KlientInnen ungewollt überschreitet. 4.6 Subjektive und objektive Falleinschätzung

Nur selbstreflektierte, abgegrenzte und professionelle OpferhelferInnen können eine den parteilichen Grundsätzen entsprechende Leistung für die Klientel anbieten. Dabei ist folgendes Zitat über feministische Parteilichkeit interessant, welches ebenso für sämtliche andere Anwendungsfälle der parteilichen Opferhilfe gilt  : »Parteilichkeit bewegt sich in der Ambivalenz von Objektivität und Subjektivität, d. h. in der Frage der Wertschätzung subjektiver Erfahrungen von Frauen, die durch die Bezugnahme auf eine feministische Gesellschaftsanalyse gleichzeitig verobjektiviert werden« (Hartwig & Weber, 2000  : S. 46). In der Praxis lässt sich diese Aussage mittels folgender Frage umsetzen  : »Wie geht es dir denn jetzt  ?« (IV-02, S. 6, Z. 191 f.). Mithilfe ihres Erfahrungswissens und persönlicher sowie fachlicher Kompetenzen sind Fachkräfte in der Lage, die Eigenwahrnehmung der Klientel von sich selbst in eine objektive Betrachtung umzuwandeln, die für den Betreuungsprozess eine entscheidende Grundlage darstellt, weil sie einer »realitätsangemessenen Einschätzung der Situation« (Kavemann, 1997  : S. 197) des Opfers nahekommt. Beachten müssen die OpferhelferInnen dabei, dass »eine objektive Definition von Gewalt nicht möglich ist« (Thiersch, 1995  : S.  152)  ; das heißt, die Tat und die damit verbundenen Folgen werden vom Opfer immer aus seiner subjektiven Sicht geschildert, und diesem Bericht soll parteilich vertraut werden. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Sozialarbeit von den Angeboten der Psychotherapie, was sich auch an den Aussagen der InterviewpartnerInnen zeigt.

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So meint eine Therapeutin, die als parteiliche Opferhelferin in einer auf Frauen spezia­ lisierten Einrichtung tätig ist  : »Ich als Therapeutin nehme die subjektive Realität der Patientin oder der Klientin wahr« (IV-02, S. 16, Z. 517 f.). Eine Sozialarbeiterin würde zwar ebenso subjektive Meinungen respektieren, aber diese gleichzeitig als Ausgangspunkt für ihren Versuch der Fallobjektivierung sehen. 5. Parteilichkeit in Arbeitsweisen und Methoden Die allgemeine Fragestellung des Auftretens parteilichen Handelns in der Opferhilfe als Handlungsfeld der Sozialarbeit und des Zusammenhangs mit verschiedenen Einflussfaktoren wird nun auf spezielle Wesenszüge der Parteilichkeit in der Methodenanwendung konkretisiert. Dabei wird erläutert, wie das Prinzip der Parteilichkeit in den unterschiedlichen Arbeitsweisen verankert ist, und der Konnex von parteilichem Handeln als persönlicher Zugang und prädeterminierten institutionellen Konzepten wird herausgearbeitet. Zudem wird behandelt, was es bedeutet, Bewusstseinsarbeit zu betreiben und sich als Sozialarbeiter/in für andere zu engagieren, und inwieweit solidarische Gedanken dabei eine Rolle spielen bzw. eine Selbstbetroffenheit aufseiten der Professionellen Impulse für die Arbeit geben kann oder der ausschlaggebende Punkt für parteiliches Handeln ist. In diesem Zusammenhang ist die Definition von Sozialarbeit als Menschenrechtsprofession zu nennen bzw. wird die Anwaltsfunktion für die KlientInnen in der Opferhilfe beschrieben. Das in allen Handlungsfeldern vorkommende Grundprinzip des Empowerment, die ambivalente Verankerung der Sozialarbeit zwischen Hilfe und Kontrolle sowie das doppelte Mandat vervollständigen die Themen dieses Kapitels. Im Zuge der empirischen Untersuchung zeigt sich die Relevanz der Arbeit mit TäterInnen in Zusammenhang mit Opferhilfe. Das Phänomen der Allparteilichkeit beendet dieses Kapitel. 5.1 Individuum und Institution

Zur Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist wichtig zu behandeln, ob parteilich handelnde SozialarbeiterInnen dies aus persönlicher Überzeugung und moralischer Grundhaltung tun oder ob sie sich einer konzeptionell parteilich orientierten Institution eingliedern und deshalb parteiliche Arbeitsweisen den KlientInnen gegenüber anwenden. Für Gimmler sind Institutionen »Ordnungsstrukturen, die Regeln und Organisationsstrukturen für Handlungen vorgeben. Andererseits aber werden Institutionen über das Handeln von Individuen reproduziert, verändert oder auch neu geschaffen« (1998  : S. 31). Das bedeutet, SozialarbeiterInnen haben sich zwar an den Regeln

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und Arbeitsweisen bzw. Konzepten ihrer Einrichtung zu orientieren, gleichzeitig sind sie es aber selbst als Gesamtheit, die die Institution verkörpern und in einem gewissen Rahmen umgestalten und an neue Herausforderungen anpassen können. Eine interviewte Sozialarbeiterin beschreibt die gewünschte Harmonie zwischen Individuum und Institution mit folgenden Worten  : »Wenn die Einrichtung von mir etwas verlangt, was ich nicht machen kann, dann muss ich da aufhören« (IV-02, S. 18, Z. 578 f.). Institutionalisierte Parteilichkeit schützt vor Vermutungen und Unterstellungen zwischen den Fachkräften über eine »subtil versteckte, persönliche Parteilichkeit« (Biermann, 2000  : S.  88) und verhilft der allgemeinen Parteilichkeit für die Klientel zu ihrem Recht. Besonders bedeutend erscheint die Tatsache, dass institutionell gelebte Parteilichkeit vom gesamten Team verlangt wird. Den KlientInnen bietet dies die Chance, in der Betreuung keine Unterschiede in Bezug auf parteiliches Handeln zu erfahren. Die Frage, ob Parteilichkeit von einem Individuum oder von der Institution ausgeht, lässt sich damit beantworten, dass sich in der Sozialarbeit beide gegenseitig brauchen. 5.2 Bewusstseinsarbeit und Kooperation

Eine entscheidende Aufgabe von Parteilichkeit sind die Vertretung der jeweils Betroffenen und die Thematisierung sozialarbeiterischer Handlungsfelder und deren spezieller Problematik in der Gesellschaft. Diese Aufklärungsarbeit erfolgt über Bewusstmachung sozialer Missstände sowie durch Kooperation mit anderen Einrichtungen des Berufsfeldes oder mit dem Thema betroffener Institutionen, im Bereich der häuslichen Gewalt etwa Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser etc. Wichtig ist diese Arbeit vor allem deshalb, weil große Teile der Gesellschaft nicht wahrhaben wollen, dass es Opfer familiärer Gewalt gibt, denn »gemeinsam scheint diesen Vorkommnissen zu sein, daß sie im Alltag als Privatangelegenheit wahrgenommen werden, als würden sie aufgrund der Besonderheiten von Personen oder von deren Beziehung zueinander auftreten« (Hagemann-White, 1997a  : S.  16). Viele Beratungseinrichtungen der Opferhilfe sehen Bewusstseinsarbeit als ihre Aufgabe, wie eine Gesprächspartnerin erklärt  : »Also wir versuchen, soweit es uns unsere Ressourcen zulassen, Öffentlichkeitsarbeit zu machen und sozusagen mitzuwirken am gesellschaftlichen Diskurs um Veränderung von Haltungen und Einstellungen« (IV-05, S.  36, Z. 1190 f.). Erst wenn Strategien zur Bewusstseinsänderung in der Bevölkerung ebenso fest verwurzelt sind, wie häusliche Gewalt zu einer Alltäglichkeit geworden ist, kann Umdenken bei BürgerInnen einsetzen (vgl. Hagemann-White, 1997a  : S. 97). Ziel der Bewusstseinsarbeit ist daher, die Gesellschaft zu sensibilisieren und es Betroffenen zu erleichtern, diverse Beratungsangebote in Anspruch zu nehmen  : »Das ist uns ein großes Anliegen, dass da so ein, eine Sensibilisierung stattfindet und dass man es nicht beschwichtigt, ja« (IV-07, S. 10,

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Z.  317 f.). Zudem ist die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen unerlässlich, wie sich auch in den Interviews zeigt  : »Die Vernetzung ist, beim Thema Gewalt denke ich mir, ist Vernetzung, ah, ja, unbedingt notwendig, da geht es gar nicht anders« (IV04, S. 5, Z. 141 f.). 5.3 Engagement für andere

Schlagworte wie Individualisierung und Pluralisierung der Lebensweisen prägen unsere Gesellschaft. Alte Traditionen der Mitmenschlichkeit brechen weg, das Leben wird anonymer und für viele Menschen einsamer. Es braucht also eine Instanz, die für exkludierte bzw. gefährdete MitbürgerInnen Unterstützung bieten kann, eine »Ins­ titution, in der Engagement und Botschaften der Menschlichkeit eine professionelle Form finden« (Mührel, 2003b  : S. 73) – gemeint ist dabei Sozialarbeit. Opfer häuslicher Gewalt, und dabei vor allem Frauen, haben zu einem großen Teil »ein erhebliches Verlangen nach Fürsorge (d. h. sich klein und bedürftig zu zeigen). Denn fast alle Frauen wünschen sich, einmal gut versorgt zu werden, ohne dafür etwas geben zu müssen, d. h. das zu bekommen, was sonst immer von ihnen erwartet wird« (Brückner, 1998  : S.  109). In einem Interview wird dies vom Gesprächspartner so beschrieben  : »Das ist Händchenhalten, Zuhörenkönnen, das gehört dazu, zu unserem täglichen Job […] als Opferschutzeinrichtung« (IV-03, S. 54, Z. 1797 f.). Für BeraterInnen bedeutet das also, Engagement zu zeigen und gleichzeitig aufzupassen, nicht zu viel zu geben und die Prinzipien des Empowerment nicht zu vergessen. Ansonsten werden die Opfer weiterhin in ihrer Rolle bleiben und nicht versuchen, ihren eigenen Lebensweg selbstständig, ohne professionelle Unterstützung zu bestreiten. Folgender Satz muss für Professionelle Leitgedanke sein  : »Das [Gewalt] nicht tolerieren wollen« (IV-02, S.  4, Z. 108). Sie schreiben sich selbst durch ihr Engagement für andere einen bestimmten Grad an Verantwortung zu. 5.4 Solidarität

Solidarität und Parteilichkeit hängen stark zusammen, sind jedoch nicht synonym verwendbar. Vielmehr ist Solidarität eine Art »Bestandteil einer moralisch-politisch definierten Parteilichkeit. Sie verleiht Unterstützungsarbeit oft den Charakter des Parteiergreifens im Sinne einer bewußten Entscheidung für Mädchen/Frauen als Benachteiligte und Unterdrückte auf dem Hintergrund des Wissens über die eigene tatsächliche bzw. potentielle Betroffenheit durch Männergewalt« (Kavemann, 1997  : S. 190). Wiederum ist der starke Bezug auf weibliche Opfer zu sehen, der Ursprung von solidarischen und parteilichen Arbeitsmethoden in der Frauenbewegung wird be-

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stätigt. Der Großteil der InterviewpartnerInnen verbindet Solidarität mit einer moralischen Haltung und einem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, vor allem weibliche SozialarbeiterInnen, die in Frauenopferhilfeeinrichtungen tätig sind. Eine Interviewpartnerin bevorzugt für diese Arbeit den Begriff des parteilichen Handelns, sie meint  : »Ich glaube, mit solidarisch, das ist ein bisschen weiter gefächert, und ich müsste alles gut heißen. Und das muss ich bei Parteilichkeit nicht« (IV01, S. 8, Z. 235 f.). Für die parteiliche Opferhilfe hat Solidarität dennoch eine große Bedeutung, das Ziel des Abbaus individueller und struktureller Benachteiligung und Gewalt erfordert sozusagen solidarisches Handeln, oder wie Klug schreibt  : »So ist ein sozialer Friede nur möglich, wenn es ein Mindestmaß an Gerechtigkeit gibt, die wiederum ist nur durch Akte der Solidarität erreichbar« (2000  : S. 197). 5.5 Anwaltsfunktion oder Sozialarbeit als Menschenrechtsprofession

Staub-Bernasconi beschreibt die Aufgabe einer an den Menschenrechten orientierten Sozialarbeit mit folgenden Worten  : Dazu gehören auch Methoden der Aneignung von Definitionsmacht, der Ermächtigung und Einmischung, der Arbeit als soziale AnwältInnen für soziale Gerechtigkeit. Soziale Arbeit soll zu einer Profession werden, die sich lokal, national wie international für individuelles Wohlbefinden, soziale Gerechtigkeit als Weiterentwicklung von Menschen- und Sozialrechten einsetzt und auf diese Weise zu gesellschaftlichem Wandel beiträgt (1995  : S. 417). Bestätigungen findet diese Definition in der empirischen Untersuchung durch alle InterviewpartnerInnen, als Beispiel etwa die Bemerkung einer Sozialarbeiterin  : »Wir haben sozusagen die Aufgabe, auch mit unseren Klienten für ihre Rechte einzutreten« (IV-05, S. 38, Z. 1266 f.). Opfer habenden Anspruch auf Gerechtigkeit und den Anspruch auf Hilfe zu einem Leben, das diese Gewalt überwunden hat. Eine humane Gesellschaft muß daher sowohl öffentlich und eindeutig die Tat und den Täter sanktionieren, wie auch dem Opfer Beratung, Schutz, Hilfe zur Heilung der Verletzungen und die materielle Chance für einen Neuanfang bereitstellen (Hagemann-White, 1997a  : S. 29). Wichtig im Beratungsprozess ist dabei, Information zu geben, dass man als ProfessionalistIn eindeutig auf der Seite des Opfers steht und es bei seinem Bestreben nach Gerechtigkeit unterstützt, wie folgender Ausschnitt aus einem Interview zeigt  : »Und sagen, schauen Sie, ich stehe auf Ihrer Seite, und Sie brauchen keine Angst haben, und ich tu jetzt auch nicht vermitteln, sondern ich stehe an Ihrer Seite, also eher so wie eine anwaltliche Funktion, ja, weil, das versteht sich für die Klienten und Klientinnen auch nicht von selber, nicht« (IV-05, S.  38, Z. 1277 f.). Professionelle HelferInnen

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können oder müssen den Opfern in der Beratung Ratschläge erteilen, da sie die Situa­ tion anders beurteilen können, sie haben den Blick von außen, sind nicht selbst Teil des Systems. Insgesamt kann gesagt werden, dass es ein Ziel parteilicher Arbeit sein sollte, »ein politisch-moralisches Bewusstsein für Opferrechte als Menschenrechte herzustellen« (Hartmann, 2007  : S. 653), womit sich der Kreis zu Staub-Bernasconis Forderung der Sozialarbeit als Menschenrechtsprofession schließt. 5.6 Empowerment

Parteilichkeit und Empowerment haben eine ähnliche Entstehungsgeschichte und sind somit von Beginn an eng miteinander verbundene Methoden bzw. Prinzipien in der Sozialarbeit. Durch die »radikale Absage an den Defizit-Blickwinkel« (Herriger, 2002  : S. 34) wird eine Orientierung an Stärken und Fähigkeiten möglich (vgl. ebd.: S. 19 ff.). Empowerment als Methode einer »ressourcenorientierten Sozialen Arbeit« (ebd.: S. 9) ist Grundbestandteil in Ausbildung, Literatur und Arbeitskonzepten, so auch in der Opferhilfe. Empowerment korrespondiert sehr stark mit parteilichen Merkmalen, die ungleiche Verteilung von Möglichkeiten der Einflussnahme auf gesellschaftliche und politische Belange wird kritisiert, angestrebt werden gleiche Rechte für alle. Die individuelle Arbeit mit der Klientel orientiert sich an den Ressourcen, die aktiviert zu einem gelingenden Alltag verhelfen können und selbst in Krisen in jeder Person vorhanden sind. Aufgabe der Sozialarbeit ist, »dass wir aber den Menschen sozusagen dabei helfen müssen, das zu entwickeln« (IV-05, S. 42, Z. 1399 f.). Beginnen kann institutionalisierte Unterstützung immer dann, wenn alle eigenen Versuche der KlientInnen gescheitert sind und sie sich immer wieder mit Ohnmacht und Hilflosigkeit konfrontiert sehen. Kern jeder Art von Unterstützung soll der Glaube an die »Fähigkeiten des Individuums, in eigener Kraft ein Mehr an Autonomie, Selbstverwirklichung und Lebenssouveränität zu erstreiten« (Herriger, 2002  : S. 71) sein, denn nur durch »Ermutigung und Anerkennung […] [kommt man] zu einem neuen Selbstvertrauen […], zur zumindest zeitweiligen Eröffnung neuer Dimensionen des Handelns und Tätigwerdens« (Brückner, 1998  : S. 65). 5.7 Das doppelte Mandat

Eine dem Empowerment gegensätzliche Arbeitsweise ist die des doppelten Mandats der Sozialarbeit. Sie behandelt das Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle und hat damit auch im Bereich der Opferhilfe ihre Bedeutung. Von Spiegel definiert das doppelte Mandat wie folgt  : »Dieses (von vielen Fachkräften als Dilemma empfundene) Berufsschicksal erwächst aus dem Umstand, dass das berufliche Handeln in

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einen institutionell-organisatorischen Handlungsrahmen eingebunden ist und sich gleichzeitig auf die Lebenswelt der Adressaten beziehen muss« (2004  : S.  37). Mit diesem Phänomen muss sich vor allem die behördliche Sozialarbeit, also etwa die Jugendwohlfahrtsbehörde auseinandersetzen. Sonstige Opferberatungseinrichtungen als freie Träger sind damit weniger konfrontiert, aber auch sie haben bestimmte ins­ titutionelle und rechtliche Vorgaben, derer sich die handelnden SozialarbeiterInnen unterwerfen müssen. Eine Interviewpartnerin beschreibt diesen Konflikt am Beispiel der psychosozialen Prozessbegleitung im Rahmen eines Gerichtsverfahrens gegen einen Gewalttäter  : Nein, und man versucht auch natürlich diesen Spagat, dass man das vereinbaren kann, das hab ich auch eben, ganz am Anfang mit der Prozessbegleitung angesprochen, wo ich gemeint habe, mein gesetzlicher Auftrag, der vom Staat an die Institution gegeben wurde, von der Institution an mich ist zum Beispiel diese Gerichtsbegleitung. Für ein Kind, das ich begleite, und wo ich ganz klar parteilich bin, ist das die Hölle. Das ist nicht lustig, auf das Gericht zu gehen, gegen jemanden auszusagen, den ich gern habe, zu dem ich eine Beziehung habe, was auch immer. Das ist natürlich, das ist die volle, das volle doppelte Mandat. Aber damit müssen wir leben. Plus  : Du hast noch die ganzen Erwartungshaltungen von allen anderen (IV-01, S. 19, Z. 582 ff.). Im Verhältnis zu Parteilichkeit sieht diese Sozialarbeiterin trotzdem keinen Widerspruch, sie führt nämlich weiter aus  : »Wir zwingen aber keine einzige Klientin dazu, auszusagen, sie sollte von ihrem Entschlagungsrecht Gebrauch machen, wenn es ihr besser damit geht, deswegen begleite ich sie trotzdem« (IV-01, S. 19, Z. 598 ff.). In dieser Hinsicht ist also das parteiliche Handeln trotzdem gewährleistet, die KlientInnen bekommen das Gefühl vermittelt, sie liegen mit ihrer Entscheidung richtig, die ProfessionalistInnen stehen trotzdem hinter ihnen. Dies bedeutet die größte Gefahr des doppelten Mandats bei freien Trägern, nämlich eine Vernachlässigung der Tatsache, »dass […] alleine die Adressaten der eigentliche Handlungsanlass sind, an dem Beratung, Betreuung und Hilfe anknüpfen«, und sie »rührt u. a. daher, dass sich die Soziale Arbeit in starkem Maße an ihren Finanziers ausgerichtet hat, von denen sie existenziell abhängig ist« (Grohall, 2000  : S. 228). Besonders in Verbindung mit dem Prinzip der Parteilichkeit trifft dieses Faktum die Sozialarbeit heftig. Einerseits sind die Einrichtungen abhängig von GeldgeberInnen, andererseits haben sie den Auftrag, sozialpolitisch, gesellschaftlich und strukturell für ihre Klientel einzustehen. Inwieweit sich diese Ambivalenz bisher auf die soziale Arbeit niederschlägt, kann in dieser Arbeit nicht erforscht werden  ; welche Auswirkungen sie auf die Zukunft hat, bleibt fraglich.

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90 5.8 Zusammenhang mit Täterarbeit

Im Zuge der empirischen Untersuchung zeigt sich immer klarer, dass die Beschäftigung mit dem Thema Opferarbeit die Verursacher der Gewalt, also die Täter, nicht ausklammern darf. In sämtlichen Interviews sind auch sie Thema, egal, ob auf sie bewusst Bezug genommen wird oder sich während des Gesprächs eine Verbindung mehr oder weniger zufällig ergibt. Alle befragten Opferhelfer/innen sind sich einig, dass, um erfolgreich für die Klientel tätig sein zu können, von den Professionalist/innen eindeutig Parteilichkeit gegen Gewalt vorliegen muss. Wie jedoch die Täter in die Arbeit mit einbezogen werden müssen/können/sollen, differiert stark zwischen einzelnen Einrichtungen, das Bild des Täters, der hauptsächlich männlich ist (weshalb hier auf die weibliche Form verzichtet wird), ist großteils dasselbe. Entscheidend in der Opferarbeit ist dabei, nicht die Person zu verurteilen, sondern die Tat, die begangen wurde  : »Das, was da passiert ist an Gewalt, das ist abzulehnen, und ich akzeptiere, dass dieser Mensch trotzdem für sie [das Opfer] auch eine wichtige Person ist und dass es da auch etwas Positives gibt, also, komplett ablehnen kann dazu führen, dass die [die Betroffene] hinausgeht« (IV-02, S. 15, Z. 495 f.). Ziel in der Arbeit mit Geschädigten muss nicht automatisch das Ende der Beziehung sein, sondern das Ende der Gewalt wird angestrebt, wie sich in folgendem Interviewausschnitt zeigt  : »Das Opfer hat ein Recht auf ein gewaltfreies Leben, auch wenn es in der Beziehung bleibt« (IV-05, S. 16, Z. 514 f.). Um das erreichen zu können, ist möglicherweise eine Einbindung des Täters in die Opferarbeit vonnöten. Das liefert einerseits einen Beitrag zur Entschärfung der Situation und bietet mehr Sicherheit für das Opfer, es muss aber andererseits eine freiwillige Entscheidung der geschädigten Person bleiben, ob sie zu solchen »täterbezogenen Interventionen« (IV-05, S. 19, Z. 623) die Zustimmung gibt. Es handelt sich dabei um einen parteilich-systemischen Ansatz  : »Also, man arbeitet sozusagen parteilich für das Opfer und gegen Gewalt, aber trotzdem sozusagen natürlich mit denen, die daran beteiligt sind« (IV-05, S. 39, Z. 1305 f.). Für parteiliches Handeln bedeutet eine Verknüpfung von Opfer und Täter eine besondere Herausforderung, nämlich ein Überdenken von Parteilichsein für eine Person. BeraterInnen müssen eindeutig Parteilichkeit gegen Gewalt zeigen und auf der Seite der Geschädigten stehen, um mit ihnen gemeinsam arbeiten zu können. 5.9 Allparteilichkeit

Biermann beschäftigt sich näher mit der Vokabel ›Parteilichkeit‹ und kommt dabei zum Schluss, dass im Wort etwas Problematisches inkludiert ist  : »Es ist der Aspekt der gegnerischen Position, gegen die sich parteiliches Handeln notwendigerweise

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ebenso richtet, wie es für die eigene Seite eintritt« (2000  : S. 76). Er bringt ein Beispiel für die parteiliche Opferhilfe, indem er meint  : »Parteinahme für die Opfer von Gewalt wird glaubwürdig erst durch Bekämpfung, nicht durch verstehende Einbeziehung der Täter. Parteilichkeit zwingt also, wenn sie nicht ein leeres Bekenntnis bleiben soll, zu erklärter und spezifischer Gegnerschaft« (ebd.: S. 76). In Bezug auf das vorige Kapitel über den Zusammenhang zwischen Opfer- und Täterarbeit würde also nach seiner Definition parteiliches Handeln nicht möglich sein. Klare Parteilichkeit kann im Gewaltkontext möglicherweise nur ein Frauenhaus bieten, welches ausschließlich Frauen die Möglichkeit eines Aufenthalts bietet. In der empirischen Untersuchung zur vorliegenden Fragestellung nimmt eine Interviewpartnerin Bezug auf Allparteilichkeit, die sie in Mediationsverfahren sieht. Die Sozialarbeiterin beschreibt die Merkmale wie folgt  : Eher dann dahin gehend, dass es halt nicht so ist wie bei uns, wo man hinter einem bestimmten Thema steht, sondern versuchen soll, darüber zu stehen. Und nicht zu sehr die eigene Haltung, Meinung, tatata einfließen zu lassen, was das Thema betrifft, sondern nur die Strukturen und Rahmenbedingungen (IV-01, S. 14-15, Z. 441 ff.). Für Roth bedeutet Allparteilichkeit den Versuch, »allen Beteiligten helfen zu wollen« und dabei die »Interessen des Kindes [des Opfers] gegenüber den Erwachsenen [Tätern] erneut in den Hintergrund zu drängen und die Verantwortlichkeit diffus auf alle Familienmitglieder zu verteilen« (1997  : S. 353). Ein anderer Ansatz wird von verschiedenen Opferhilfeeinrichtungen als parteilich-systemisch bezeichnet. 5.10 Grenzen von Parteilichkeit

»Wir sind keine Robin Hoods« (IV-01, S. 18, Z. 547), so bezeichnet eine Sozialarbeiterin die Grenzen, die sowohl allgemein für die Sozialarbeit als auch für parteiliche Opferhilfe gelten. Vor illegalen Interventionen, paternalistischen Handlungen und der Gefahr, zu viel für die Opfer zu wollen und sie damit wieder zurück in die Gewaltbeziehung zu treiben, warnen die meisten InterviewpartnerInnen und zeigen somit Einschränkungen im parteilichen Handeln auf. Merchel sieht in der Parteilichkeit in diesem Zusammenhang einen »Versuch, den Irritationen und der belastenden Situation des Handelns in Ungewißheit, die die sozialpädagogischen Handlungsvollzüge prägen, zumindest teilweise zu entkommen« (2000  : S. 62). Obwohl für ihn parteiliches Handeln also eine Einschränkung und Orientierung im positiven Sinne darstellen kann, definiert ein Interviewpartner das Prinzip wie folgt  : »Parteilichkeit würde heißen, sozialarbeiterische Parteilichkeit heißt ausufernd, heißt, da weiß ich nicht, wo ist Anfang, wo ist Ende, und würde sozusagen alle Lebensbereiche ah, ah, ah, ah, miteinbeziehen und auch Lebensbereiche, wo wir sicher nicht zuständig sind« (IV-06,

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S. 28, Z. 932 ff.). Genau in dieser Ausuferung und dem problematischen Verhältnis zu so wichtigen sozialarbeiterischen Kontexten wie dem Nähe-Distanz-Verhältnis, dem doppelten Mandat und der Professionalität stellt Merchel die größte Gefahr von parteilichem Handeln fest. Er vermutet durch die unbestimmte Begriffsdefinition eine »gewisse Nähe des Begriffs zu propagandistischen Zwecken« und plädiert daher auf Folgendes  : »Im Sinne einer Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung von Professionalität in der Sozialen Arbeit ist es daher angebracht, vom Begriff der Parteilichkeit als einem bisweilen erwogenen Leitbegriff Abstand zu nehmen« (Merchel, 2000  : S. 65). 6. Conclusio Parteilichkeit ist ein sozialarbeiterisches Prinzip und somit in vielen Berufsfeldern vertreten, auch wenn sich die Auffassungen der Fachkräfte über parteiliches Handeln durchaus unterscheiden. Teilweise wird von »Selbstverständlichkeit« (Biermann, 2000  : S.  69) gesprochen, wenn Konzepte für Einrichtungen formuliert werden und Parteilichkeit dort als Grundhaltung verankert ist. Der im vorigen Kapitel beschriebenen Forderung Merchels nach einer Abkehr von Parteilichkeit als Leitbegriff in Arbeitskonzepten professioneller Beratungseinrichtungen kann nach dem Diskurs parteilichen Handelns nicht zugestimmt werden. Vielmehr bedeutet Professionalität, sich auf Prinzipien einzulassen, eine Orientierung an der Klientel und ständige Reflexion der gesetzten Handlungen. Parteilichkeit stellt nur einen möglichen Ansatz in der professionellen Sozialarbeit dar, und solange keine radikalen Ausprägungen davon praktiziert werden, hat dieser Ansatz durchaus seine Berechtigung auf Umsetzung. Als Ergebnis lassen sich folgende Gründe für die fehlende, allgemeingültige Definition von Parteilichkeit im Rahmen der Sozialarbeit anführen  : die vielschichtige Bedeutung des Begriffs, die Ausprägungsformen und vor allem die subjektiven Vorstellungen, die jede/r parteilich agierende SozialarbeiterIn mit dem Prinzip verbindet. Solange damit professionell gearbeitet und Handlungen im Austausch mit KollegInnen reflektiert werden, sollte allerdings eine fehlende Definition parteilicher Haltungen für erfolgreiche Beratungstätigkeit kein Hindernis darstellen. 7. Literatur Biermann, Benno (2000)  : Parteilichkeit in sozialen Berufen. In  : Luise Hartwig & Joachim Merchel (Hg.), Parteilichkeit in der Sozialen Arbeit (S. 69–92). Münster  : Waxmann.

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Systemische Sozialarbeit bei familiärer Gewalt – Pro und Contra Eine qualitativ-explorative Studie zu Handlungsmaximen in der Fachpraxis Die Studie fragt danach, was ExpertInnen unter »systemisch« verstehen und welchen Nutzen bzw. welche Risiken sie in der systemischen Sozialarbeit bei familiärer Gewalt sehen (Schober, 2008). Da es sich um spezielle Arbeitsweisen handelt, wird sozialarbeiterisches und therapeutisches Personal aus der Täter- und Opferarbeit, der behördlichen Sozialarbeit und der Psychotherapie interviewt. Dies soll die Vielschichtigkeit der betroffenen Fachpraxis abbilden. Mit acht ExpertInnen werden einzeln themenzentrierte Interviews geführt (vgl. Gläser & Laudel, 2004  : S. 107 ff.; Lamnek, 2005  : S.  83 ff.). Ausgewertet werden diese Interviews mittels der »Qualitativen Inhaltsanalyse« nach Mayring (2002  : S. 98 ff. ,und 2008  : S. 42 ff.). Sie besteht aus drei Teilen – der Zusammenfassung, der Explikation und der Kontextanalyse –, die jeweils in eigenen Arbeitsschritten abgehandelt werden, um einzelne Aussagen zu explizieren und zueinander in Beziehung zu setzen. Die Ergebnisse spiegeln eine Kontroverse wider. Obwohl systemische Sozialarbeit als erfolgreich betrieben betrachtet wird, gibt es zugleich Widerstände gegen sie. Einerseits werden viele Vorteile und Chancen in systemischen Arbeitsweisen gesehen (IV_02_W, §§86, S.  92)  : »Ich glaube, was bei dem Ansatz wirklich auch so positiv ist, ist nicht zu sagen, jetzt liegt das Problem nur in der Person, so quasi ›Sie sind unfähig‹, sondern auch den Fokus zu erweitern auf Beziehungen, auf Einladungen von Beziehungen, wo man einsteigt oder auch nicht einsteigt.« Andererseits werden Befürchtungen geäußert, systemische Sozialarbeit würde Gewalt mit deren schädigenden Auswirkungen verschleiern und somit die Sicherheit der KlientInnen gefährden (IV_06_W §94)  : »Also, ich habe es erlebt, dass vor allem in Paarberatungen oder im familientherapeutischen Komplex sehr wohl systemisch diskutiert wird oder gearbeitet wird. Wo meine Kritik daran ist, dass die Verantwortung der Gewaltausübung den Opfern übergeben wird.« 1. Einführung Die Systemtheorie ist ein interdisziplinäres Konzept, das mit einer besonderen erkenntnistheoretischen Perspektive Erscheinungen aller Art als Ergebnis und Prozess

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ihrer wechselseitigen und stabilen Beziehung zueinander beschreibt (vgl. Hennen, 2002  : S.  587). Systemische Arbeitsansätze liegen in der Sozialarbeit in den letzten Jahrzehnten stark im Trend (vgl. Schlippe & Schweitzer, 2007  : S. 49 ff.). Im Bezug auf familiäre Gewalt sind systemische Arbeitsansätze in der Literatur aber nur selten zu finden. Es scheint gar Unsicherheiten in der Fachpraxis zu geben, was der Begriff »systemisch« überhaupt bedeutet (vgl. Ludewig, 2005  : S. 7 ff.). Die vorliegende Untersuchung fragt nach dem Nutzen systemischer Arbeitsweisen bei familiärer Gewalt aus Sicht von ExpertInnen. Hierzu werden sechs SozialarbeiterInnen und zwei PsychotherapeutInnen mit sozialarbeiterischer Grundausbildung interviewt, die in ihrer Tätigkeit mit Gewaltopfern und/oder Gewalt ausübenden Personen zu tun haben. Darüber hinaus ergeben sich Fragen wie z.B., warum sich manche Organisationen, die sich dem Gewaltschutz verschreiben, systemischer Arbeitsweisen bedienen, während andere diese ablehnen  ; welche Grenzen und Potenziale in der Systemtheorie erkannt werden  ; oder ob es spezielle systemische Instrumente bzw. Arbeitsmethoden gibt, die bei familiärer Gewalt eingesetzt werden können. Möglichkeiten und Grenzen systemischer Ansätze in bestehenden Arbeitskonzepten werden herausgearbeitet. Formen und Ursachen familiärer Gewalt sind übliche Bezugspunkte in der Gewaltforschung. Diese Studie interessiert insbesondere der in der Fachpraxis bekannte Umstand, dass Opfer familiärer Gewalt häufig das Anliegen äußern, zwar die Gewalt nicht länger erleiden zu müssen, aber nicht die Beziehung zum gewalttätigen Menschen beenden zu wollen. Sie fordern, der Täter/die Täterin möge sich einer Therapie oder Behandlung unterziehen, um das gewalttätige Verhalten zu ändern. Auch die TäterInnen selbst unterstützen diesen Wunsch. Doch haben TäterInnen überhaupt eine Chance  ? In Gewaltschutzeinrichtungen wird die Hoffnung der Opfer, der Täter/die Täterin möge ihr Verhalten ändern, eher skeptisch beurteilt. Es wird von einer Spirale der Gewalt ausgegangen, in der sich die Gewalt mit zunehmender Dauer verstärkt und in immer kürzeren Abständen auftritt (vgl. IV_06_W § 34 ff.; IV_07_W § 153 ff.; Fröschl & Löw, 1995, S. 15 ff.). 2. Familiäre Gewalt aus systemtheoretischer Perspektive Der begriffliche Bezugsrahmen wird anhand von zwei Achsen dargestellt  : Das soziale Phänomen der familiären Gewalt bildet eine Achse, die systemtheoretische Perspektive und deren Anwendung im Handlungsfeld familiärer Gewalt bilden die andere. Zur familiären Gewalt existiert eine umfangreiche Forschungshistorie. Gewalt kann allgemein als ein zentrales Phänomen in unserer Gesellschaft aufgefasst werden,

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welches beim Zusammentreffen von Menschen potenziell auftritt. Gewalt ist ein alltägliches und kein historisch episodenhaftes Phänomen, was ein Interview illustriert  : (IV_07_W § 404)  : »Seit Menschen Gedenken, seit Kain und Abel, ist es [Anm. die Gewalt] im Menschen irgendwie da. Wir können daran arbeiten, dass es weniger wird, natürlich.« Gerade weil Gewalt ein dem menschlichen Sein inhärentes Element ist, wird sie auch als ein wichtiger Forschungsbereich der Sozialwissenschaften zu denken sein. Die Theorieansätze zur Beschreibung und Erklärung familiärer Gewalt divergieren teilweise stark  ; schon die begrifflichen Definitionen scheiden die Verständnisse. Haller et al. (1998, S. 11 ff.) unterscheiden zwischen zweierlei Zugängen zur Gewaltdefinition in und von Berufsgruppen. Der eine Zugang definiert Gewalt eng, er wird eher in der Justiz und der Medizin verwendet. Unter diesen fallen deutlich sichtbare und diagnostizierbare Formen von Gewalt. Diese Definition löst zwar das Problem der Unschärfe des Gewaltbegriffes, sie orientiert sich aber nur an den Auswirkungen der Gewalt. Sie lässt den Bereich der psychischen und sozialen Gewalt außer Acht, sie schließt auch körperliche Gewalt aus, solange keine diagnostizierbaren körperlichen Verletzungen vorhanden sind. Der zweite Zugang ist eher bei Angehörigen psychosozialer Berufe vertreten, in dem die Gewaltdefinition weitaus breiter angelegt ist. Unter diesen Gewaltbegriff fallen dann jegliche Abweichungen von friedfertigem Verhalten, doch geht die Trennung zwischen leichteren und schwereren Gewaltformen mit dieser Definition verloren. Das Verständnis von Gewalt bestimmt, worin die Ursache von Gewalt gesehen und in welche Bezüge Gewalt gebracht wird. Unterschieden werden personenzentrierte, soziokulturelle, soziostrukturelle und sozialpsychologische Herangehensweisen (vgl. Kaselitz & Lercher, 2002, S.  9 ff.). Unter die personenzentrierten Ansätze fällt die Psychoanalyse, zu den sozialpsychologischen Ansätzen zählen die Lerntheorien. Soziostrukturelle und soziokulturelle Theorien sehen Gewalt in Verbindung mit sozialen Normen und Werten. Auch systemische Ansätze sind diesen Theorien zuzurechnen. Für diese Studie wird die Gewaltdefinition von Böhnisch (2005, S.  382 ff.) gewählt, die an Max Webers begriffliche Bestimmung in »Soziologische Grundbegriffe« (1952, zit. nach Böhnisch, 2005, S. 382 ff.) angelehnt ist. Gewalt wird darin als Phänomen begriffen, in dem einem Menschen gegen seinen Willen ein Verhalten aufgezwungen wird, wobei das Aufzwingen von Beschimpfungen über physische Gewaltanwendungen bis hin zum Tod reichen kann. Diese Definition ist deshalb für die vorliegende Forschungsarbeit adäquat, da sie den interaktionellen Charakter von Gewalt hervorhebt und die Unterscheidung zwischen Gewalt und Aggression nahelegt (Godenzi, 1996, S.  27 ff.). Diese Definition bietet Anknüpfungspotenzial für systemische Ansätze, denn die Systemtheorie geht von Interaktionen und Pertubationen zwischen Elementen aus, die kulturell geprägt und sozial genormt sind. Erst die Beobachtung

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dieser Interaktionen und deren Benennung als Gewalt lässt Gewalt real existieren. Aggression ist im systemischen Verständnis keine Interaktion, sondern ein Vorkommen innerhalb eines psychischen Systems. Beim gesellschaftlichen Phänomen der Gewalt nimmt die Familie eine Schlüsselposition ein. Denn Familien übernehmen gesellschaftliche Funktionen wie die Reproduktions- und Sozialisationsfunktion. In Familien gibt es eine Generationsdifferenzierung und ein spezifisches »Kooperations- und Solidaritätsverhältnis« zwischen ihren Mitgliedern (vgl. Nave-Herz, 2005  : S.  270 ff.). In ihr treffen sich zwei Abhängigkeitsverhältnisse, die Generationenhierarchie und die Geschlechterhierarchie. Diese beiden Hierarchien stellen zwei mögliche Dimensionen von Machtausübung, Machtmissbrauch und Übergriffen dar (vgl. Hagemann-White, 2005  : S. 385 ff.). Willke (2000  : S.  11) bezeichnet die moderne Systemtheorie als das am meisten expandierende Paradigma in den Sozialwissenschaften, weil sie Konzepte und Erklärungen für unsere hochkomplexe Gesellschaft bietet. Nach Hennen (2002  : S.  587) ist die Systemtheorie ein interdisziplinäres Theorieprogramm, das Erscheinungen aller Art als Ergebnis oder Prozess wechselseitiger Verbundenheit beschreibt. In der Systemtheorie werden Aussagen über abstrakte Eigenschaften durch logische Operationen angestrebt, fernab von unmittelbar empirischem Bezug und außerhalb von Objektkategorien und Wissenschaftsrichtungen. Systeme stellen in dieser Sichtweise komplexe Objekte dar, deren Komponenten untereinander verbunden sind und in einer Art aneinander gekoppelt sind, dass ihr Ganzes emergente Komponenten aufweist. Als emergent werden jene Komponenten bezeichnet, die erst durch die Kopplung und das Aufeinanderwirken der einzelnen Elemente entstehen, die also die Einzelkomponenten zuvor noch nicht hatten. Einzelne Objekte und ihre Eigenschaften werden als Elemente bezeichnet, ihre Beziehungen untereinander als Relationen (vgl. Willke, 1993 zit. nach Kriz, 2007  : S.  210 ff.). Hall und Faden (1965 zit. nach Schlippe & Schweitzer, 2007, S.  54 ff.) bemerken, dass Systeme erst durch ihre Unterscheidung von der Umwelt erkennbar werden. Folglich sind die Rolle des Beobachters/der Beobachterin und dessen/deren Fragestellung bzw. Hintergrund zentral. Jedoch ist der Systembegriff nicht ohne Kritik. Kriz (1985, zit. ebenda, S. 54) beispielsweise wendet ein, dass es bei der Systemtheorie nicht um die Merkmale von Elementen und deren Relationen gehen könne, wenn es doch diese Merkmale seien, die die Beziehungen repräsentieren. Des Weiteren sind Systeme operativ geschlossen, sie sind nicht von der Umwelt abhängig, sondern gehen mit ihr eine strukturelle Kopplung ein. Diese Bedingungen stellen miteinander die Voraussetzung für die Autopoiese, die Selbsterzeugung der Systeme, nach Maturana und Varela dar (vgl. ebenda, S. 587 f.; Luhmann, 1984, S. 60 ff.; Kriz, 2007, S. 210 ff.). Das Konzept der Autopoiese ermöglicht einen Perspektivenwechsel von einer konstruktivistischen Ebene zu lebenden Systemen und

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zur Selbstreferenz von Systemen. Die Autopoiese besagt, dass in Zellen organisiertes Leben wiederum Leben hervorbringt. In dieser Metapher erzeugt Leben in sozialen Beziehungen neue Gesellschaftsformen. Allerdings muss angemerkt werden, dass der Vergleich von lebenden und sozialen Systemen nicht ohne Kritik ist, da eine Verbindung zwischen sozialen und biologischen Systemen hergestellt wird (vgl. Schlippe & Schweitzer, 2007  : S. 587 f.; Willke 2000  : S. 57 ff.). Selbstreferenz von Systemen greift Talcott Parsons in seiner allgemeinen Handlungstheorie auf (vgl. Parsons 1984, übersetzt von Jensen, 1976, S. 275 ff.), die in einem Schema von vier Funktionen Handeln abbildet. Diese vier Funktionen werden anhand der Buchstaben A-G-I-L abgebildet  : Verhaltensorganismus (A), Persönlichkeitssystem (G), Sozialsystem (I) und Kultursystem (L). Mit Energie ausgestattet, ermöglicht der Verhaltensorganismus Persönlichkeitsentwicklung. Personen wiederum bilden soziale Systeme, aus deren Interaktionen sich Kulturen entwickeln. In umgekehrter Reihenfolge beschreibt das Schema, wie Kultur unser Verhalten prägt  : Kulturelle Muster ermöglichen Interaktion, aufgrund derer das Selbst sozial konstruiert wird. Das Persönlichkeitssystem bringt den Verhaltensorganismus dazu, Leistungen zu vollbringen (vgl. Parsons & Platt, 1990, S. 20 ff., zit. nach Hennen, 2002, S. 588 f.). Zusammenfassend drückt Parsons mit seinem Werk aus  : »Action is system – Handlung ist System« (Baecker, 2004, S. 18 f.). Er zeigt, dass Handeln und System keine unvereinbaren Paradigmen sind. Niklas Luhmann entwickelte eine funktionell-strukturelle soziologische Systemtheorie (vgl. Messelken, 2002, S. 622 ff.). Der Autor bezeichnet sein Theorieprogramm als »allgemeine Theorie sozialer Systeme« und greift darin unter anderem die Konzepte von Parsons sowie Maturana und Varela auf (vgl. Luhmann, 1984, S. 30 ff.). Das Theorieprogramm besagt, dass die moderne Gesellschaft aus verschiedenen, eigenständigen und gleichrangigen Funktionssystemen besteht. Diese gesellschaftlichen Funktionssysteme stellen Subsysteme dar, die weder eine zentrale Steuerung noch eine gemeinsame Perspektive zulassen. Es wird angenommen, dass die Gesellschaft intransparent ist. Die Vorstellung von Handeln und Subjekten wird als überholt angesehen (vgl. Hennen, 2002, S.  590 f.). Selbstreferenz und Selbstbeobachtungsfähigkeit der Systeme sind die Voraussetzung für deren Evolution (vgl. Luhmann, 1984, S.  63 ff.). Jedes dieser Teilsysteme führt anhand einer Leitdifferenz eine besondere Funktion für die gesamte Gesellschaft aus, z.B. das Rechtssystem die Regulierung von Recht und Unrecht. Diese Leitdifferenzen dienen der Komplexitätsreduktion. Durch sie ist eine Spezialisierung erst möglich. Die Differenzierung dient auch zur internen Strukturierung (vgl. ebenda, S.  623 ff.). Laut Luhmann (ebenda, S.  623 ff.; Merten, 2005, S. 952 ff.) nehmen Personen an verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssystemen in ihren jeweils dafür relevanten Lebensabschnitten teil. Diese Inklusion wird

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durch Programme und Organisationen geregelt. Programme manifestieren sich in den Strukturen des Systems und regeln die Teilnahme am Funktionssystem anhand eines binären Modus. Organisationen regeln die Nichtteilnahme, also die Ausschließung bestimmter Mitglieder. Systemtheoretische Strömungen in der Therapie und Beratung gehen von selbstorganisierten Systemen aus, wie sie in der Natur oder den Humanwissenschaften vorkommen. Paar- und Familiensysteme haben zwar rechtliche und somatische Grenzen, diese stellen für sie jedoch nur Umwelten dar. Was sie ausmacht, sind die Dynamik und die Relationen der Personen oder Elemente untereinander. Das systemische Denken steht im Gegensatz zur analytischen Denktradition und zielt auf eine Vereinfachung komplexer Gegenstände ab (vgl. Kriz, 2007  : S. 224 ff.; Sydow et. al., 2007  : S. 14 f.). Verschiedene Schulen der systemischen Therapie haben die systemische Sozialarbeit in ihrer Entwicklung beeinflusst (vgl. Schlippe & Schweitzer, 2007  : S. 49 ff., S. 138 ff.). Sie bieten die Möglichkeit, einzelne Methoden und Instrumente für die Soziale Arbeit zu entlehnen, z.B. zirkuläres Fragen. 3. Empirische Vorgehensweise Die empirische Grundlage für diese Forschungsarbeit ist eine qualitativ-deskriptive Studie. Die Forschungsfrage lautet  : Welchen Nutzen sehen ExpertInnen der Sozial­ arbeit in der systemischen Arbeitsweise bei Gewaltbeziehungen bzw. bei familiärer Gewalt  ? Beispiele von systemischen Arbeitsmethoden werden bearbeitet. Die Handlungsmaximen der ExpertInnen werden im Bezug auf systemische Aspekte hinterfragt. Anhand von acht Experteninterviews wird erörtert, inwiefern systemische Sozialarbeit familiäre Gewalt erfasst und, was dafür oder dagegen spricht, systemische Ansätze und Methoden zu verwenden. Es stellt sich die Frage, warum bzw. wie systemische Sozialarbeit in der Täterarbeit angewandt wird und ob diese auch für die Gewaltschutzarbeit vorstellbar ist. Des Weiteren geht es darum, gezielt systemische Instrumente festzumachen, die für die Sozialarbeit bei familiärer Gewalt entlehnbar sind. Es werden Codierungs- und Differenzierungsprozesse der einzelnen Organisationssysteme im Hinblick auf die Anwendung systemischer Arbeitsmethoden bei familiärer Gewalt untersucht. Als empirische Beispiele werden im Bereich häuslicher Gewalt tätige Organisationen und Personen in Graz herangezogen. Dazu zählen Organisationen, die mit Opfern und/oder mit TäterInnen arbeiten. Zum einen sind das Organisationen wie das Gewaltschutzzentrum Steiermark, das Kinderschutzzentrum und das Frauenhaus Graz. Zum anderen arbeitet die Männerberatung Graz mit Tätern, und der Verein Neustart ist im Tatausgleich mit beiden Gruppen befasst. Zwei Therapeutinnen bringen sowohl

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die Perspektive der Psychotherapie als auch jene der Sozialarbeit ein, d. h. die beiden Interviewten haben als Grundprofession die Sozialarbeit. In der zweiten Erhebungsstufe wird eine Sozialarbeiterin der Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung interviewt. Darin werden Aussagen aus den ersten Interviews aufgegriffen und weiterverfolgt. Die Experteninterviews basieren auf der Methode des theoriegenerierenden Experteninterviews von Meuser und Nagel (vgl. Bogner & Menz, 2002, S.  14 ff.). ExpertInnen sollten demzufolge nicht mehr lediglich zur Informationsgewinnung interviewt werden. Es soll vielmehr darum gehen, subjektive Handlungsorientierungen und implizite Entscheidungsmaximen der Interviewten aus einer bestimmten fachlichen Perspektive zu betrachten. In dieser Studie werden sie auf die Anwendung systemischer Methoden hin interviewt. Der erste Teil der Interviewleitfäden behandelt die Beschreibung der Organisation, danach wird das Organisationskonzept erörtert. Im Anschluss wird nach bestehenden systemischen Arbeitsansätzen gefragt bzw. wird über mögliche Ansätze, die aus systemischen Arbeitsweisen entlehnt werden könnten, gesprochen. In weiteren Fragen werden Chancen und Grenzen bzw. Risiken von systemischem Arbeiten behandelt. Die induktiv angelegte Studie zielt darauf ab, aus einzelnen Interviews allgemeine Regelmäßigkeiten zu erkennen. Zu jedem Interview gibt es wörtliche Transkripte und Gedankenprotokolle. Zur Interpretation der Interviews wird die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring herangezogen (vgl. Mayring, 2008  : S. 9 ff.; Mayring, 2002  : S.  89 ff.; Lamnek, 2005  : S.  505 ff.). Ihre Zuschneidung auf leitfadengestützte Interviews ermöglicht auf drei Ebenen eine ausgiebige Analyse  : Zusammenfassung, Explikation und Strukturierung. In der Studie werden die Explikation und Zusammenfassung genutzt, die es ermöglichen, Einzelaussagen strukturiert zusammenzufassen, um daraus Schlussfolgerungen ziehen zu können. Zunächst wird in sieben Arbeitsschritten das festgelegte Forschungsmaterial zusammengefasst. Aufgrund der eingangs bestimmten Analyseeinheiten werden einzelne Aussagen paraphrasiert, auf einem vorher festgelegten Abstraktionsniveau wird dann generalisiert. In zwei weiteren Schritten wird reduziert, bedeutungsgleiche Paraphrasen werden gestrichen, gebündelt oder integriert. Danach werden anhand eines Kategoriensystems neue Aussagen getroffen. Schließlich erfolgt die Rücküberprüfung der neu getätigten Aussagen. Das daran anschließende Kapitel illustriert die Ergebnisse. 4. Systemische Sozialarbeit bei familiärer Gewalt Das Wort »systemisch« ist im psychosozialen Bereich »in aller Munde« (vgl. Ludewig, 2005  : S.  12  ; Klein & Kannicht, 2009  : S.  7). Dennoch bleibt unklar, was der

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Begriff »systemisch« bedeutet. Schlippe und Schweitzer (2007  : S. 49) schreiben, zwei Menschen, die einander treffen, würden unter »systemisch« kaum dasselbe verstehen. Zu einem ähnlichen Befund gelangen auch die Interviews  : Definitionen von »systemisch« sind schwer zu finden oder werden gar verweigert. Unter systemischem Arbeiten wird das eine Mal das Einbeziehen der Familiendynamik (vgl. IV_05_W § 51 ff.) verstanden  ; das andere Mal geht es darum, Gesellschaftsbereiche einzubringen (vgl. IV_02_W §26 ff.). Für wiederum andere geht es um die Berücksichtigung verschiedener sozialer Bezüge (vgl. ebenda § 10) oder als Arbeitsmethode spezifisch um Case Management (vgl. IV_04_W § 72). Als Ausgangspunkt wird angenommen, dass systemisches Denken einen Rahmen vorgibt, in dem zwischenmenschliche Prob­ leme betrachtet und verstanden werden können. Dadurch soll die Möglichkeit entstehen, diese zu überwinden. Systemische Praxis wird von Ludewig (2005  : S. 16) als die Nutzung systemischen Denkens im professionellen Umgang mit Menschen bei der Linderung, Bewältigung und Klärung ihrer persönlichen, interpersonellen oder organisatorischen Probleme beschrieben. In der Fachpraxis erweist sich die begriffliche Bestimmung von »Gewalt« gleichermaßen schwierig wie jene von »systemisch«. Im Jugendamt werden nur körperliche Attacken als Gewalt definiert (vgl. IV_08_W § 4 ff.). Vernachlässigung fällt nicht unter diese Definition, obwohl sie ebenfalls zu körperlichen Auswirkungen führt, aber kein Zutun bzw. keine Handlung einer anderen Person benötigt. Im Gewaltschutzbereich und der Therapie wird jede Schädigung eines anderen auf physischer oder psychischer Ebene als Gewalt angesehen (IV_07_W § 48 ff.; vgl. IV_02_W §44  ; IV_03_W § 27 ff.)  : »[…] Wobei Gewalt in unserem Sinne nicht nur physische Gewalt ist. Es gibt ja auch psychische oder strukturelle [Anm. Gewalt]. […] Und das Einengen des anderen, indem man Nötigungen macht […]. Auf jeden Fall schauen wir ganz genau hin, welche Formen von Gewalt auftreten. Also es ist nicht nur das Schlagen oder Hauen […]. Sondern es gibt ganz viel mehr.« Diese Beispiele belegen, was bereits Haller und Kollegen (1998  : S. 11 ff.) festhielten  : unterschiedliche begriffliche als auch realisierte Zugänge innerhalb des Handlungsfeldes der Opferschutz-, Gewaltschutz- und Täterarbeit. Während Haller et al. dies für verschiedene Berufsgruppen feststellten, überrascht in dieser explorativen Untersuchung der Umstand, dass unterschiedliche Gewaltdefinitionen und -verständnisse selbst innerhalb einer Berufsgruppe – hier jene der Sozialarbeit  – angetroffen werden. Dies weist darauf hin, dass in verschiedenen Handlungsfeldern bzw. Organisationen – innerhalb der gleichen Berufsgruppe – verschiedene Definitionen und Codierungen von Gewalt verbreitet sind. Die Organisa­ tionen der interviewten Personen legitimieren ihr Eingreifen anhand der Leitdifferenz »Gewalt vs. Nichtgewalt«. Dahin gehend ist es besonders interessant, dass jedes Organisationssystem unterschiedliche Handlungen als Gewalt codiert und daraus eine

Systemische Sozialarbeit bei familiärer Gewalt – Pro und Contra

eigene, wenngleich innerhalb der Profession kollektiv nicht einheitlich geteilte Leitdifferenz entwickelt. 4.1 Konflikte

Ein Begriff, der in den Interviews immer wieder vorkommt, ist jener des Konfliktes. Im Lexikon der Sozialwissenschaft (Poehlsen-Wagner, 2008, S. 585 ff.) wird ein sozialer Konflikt als Interaktion zwischen Aktoren bezeichnet, wobei zumindest ein Aktor Unvereinbarkeit mit seinem Denken, seinen Wahrnehmungen oder seinem Fühlen und Wollen empfindet. Diese Definition geht auf Glasl (1994) zurück und über ältere Definitionen hinaus, da sie einen Konflikt als Interaktion bezeichnet und somit aufeinander bezogenes Verhalten impliziert. Des Weiteren müssen Konflikte nicht zwingend destruktiv sein, sie beinhalten ein wichtiges Veränderungsmoment. Bezieht man familiäre Gewalt auf die Definition von Glasl, so kann diese als Sonderform eines sozialen Konfliktes bezeichnet werden. Familiärer Gewalt gehen meist lange Gewaltdynamiken in der Familienbeziehung voraus, durch die die Opfer durch Drohungen, Beleidigungen und/oder Erniedrigungen stark verängstigt sind (vgl. IV_06_W § 76ff, § 114 ff.). Die sozialarbeiterische Fachpraxis geht in der Differenzierung von Konflikten und Gewalt davon aus, dass Beteiligte von Konflikten gleichberechtigt sind und auf derselben Ebene stehen, während es in Gewaltbeziehungen ein Machtgefälle gibt. (vgl. IV_06_W § 78  ; Hagemann-White, 2005, S. 385 ff.; Bäcker, 2005  : S. 548 f.). Im Verein Neustart beschäftigt sich eine Abteilung mit dem »Außergerichtlichen Tatausgleich«, einer diversionellen Maßnahme, die vom Gericht oder von der Staatsanwaltschaft auferlegt wird. Wenn die beschuldigte Person die Verantwortung für die Tat übernimmt, kann sie auf diese Weise einer Verurteilung entgehen (vgl. §§ 190, 192, 198 ff. StPO). Beim Tatausgleich wird nicht nur mit den Beschuldigten, sondern auch mit den Opfern oder Geschädigten gearbeitet. Der Konflikt wird mittels eines systemischen Ansatzes bearbeitet oder geregelt. Es werden Strategien entwickelt, um Konflikte zukünftig zu vermeiden (vgl. IV_07_W §§ 12 ff., 26, 64). In den Interviews wird es als sinnvoll erachtet, Konflikte systemisch zu bearbeiten (vgl. IV_06_W § 81 f.; IV_07_W §§ 16 ff., 54). Besonders hervorgehoben wird die Klärung, was sich die PartnerInnen von einer Beziehung erwarten und wie kommuniziert werden kann, dass erst gar keine Konflikte entstehen. Durch Bewusstseinsbildung bei TäterIn und Opfer soll sozialer Friede hergestellt werden. Erkenntnisprozesse über den Vorfall, die Themen der Beziehung sowie eigene Anteile am Konflikt sollen dadurch gefördert werden (vgl. IV_06_W § 81 f.; IV_07_W § 196 ff.). Dagegen wird der Tatausgleich von anderen im Fachbereich tätigen Personen deshalb als problematisch bezeichnet, weil die Opfer dabei in die Pflicht

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geholt werden, an der Lösung mitzuarbeiten (vgl. IV_06_W § 223). Aus systemischer Perspektive liegt nahe, dass die Organisationen aneinander strukturell gekoppelt sind und die Möglichkeit zur gegenseitigen Beobachtung haben. Der Tatausgleich wird eindeutig als systemische Arbeitsweise codiert. Ob diese als sinnvoll erachtet wird oder nicht, wird anhand der Leitdifferenz »Konflikt« oder »Gewalt« entschieden. Ein Ziel des Tatausgleichs betrifft die Entschädigung der Opfer (vgl. IV_07_W § 32). Zu diesem Ausgleich zählt stets eine Entschuldigung. Angemerkt wird, dass diese Entschuldigung »wenn es irgendwie geht, ehrlich über die Bühne gehen sollte« (IV_07_W § 32). Diese Aussage wirft die Frage der Wertschätzung für Personen, die Gewalt erlebt haben, auf. Eine Geringschätzung von Gewalterfahrungen kann destruktive Auswirkungen für die Betroffenen haben, z.B. Ängste verstärken oder dazu führen, dass der Glaube an das Rechtssystem verloren geht usw. Hinsichtlich der Ehrlichkeit oder Unehrlichkeit einer solchen Entschuldigung ist natürlich einzuwenden, dass es sich bei den Gewalt ausübenden Personen im Tatausgleich um keine verurteilten Personen handelt und manchen von ihnen möglicherweise ein Freispruch zusteht (vgl. IV_07_W § 103). Hier wird der Einflussbereich des gesellschaftlichen Funktionssystems »Recht« sichtbar. Eine weitere Frage, die eine unehrliche Entschuldigung aufwirft, ist jene, ob der/die Beschuldigte, wie gesetzlich vorgeschrieben (vgl. § 204 StPO), tatsächlich die Verantwortung für die Tat übernommen hat. Um diese Verstrickungen gibt es bereits eine rege Diskussion zwischen Rechtsexperten, die bislang zu keiner Lösung führte (vgl. Kienapfel & Höpfl, 2003, S. 293 f.; Schwaighofer, 2003, S. 29 ff.). Die Männerberatung bearbeitet Konflikte in einem anderen Kontext. Dort werden Beziehungs- und Trennungskonflikte von Klienten, die freiwillig eine Therapie in Anspruch nehmen, systemisch konzipiert und aufgearbeitet. Sobald körperliche Gewalt als Problembereich hinzukommt, werden Setting und methodischer Zugang allerdings gewechselt, und es wird mit psychodynamischer Therapie oder Verhaltenstherapie vorgegangen (vgl. IV_04_W § 84). Hierbei wird eine genauere Leitdifferenz erkennbar. Wird das Verhalten des Klienten als »konfliktreich« angesehen, so wird systemisch gearbeitet, gibt es definitiv »körperliche Gewaltausübung«, wird zum Setting der Therapie gewechselt. 4.2 Lösungsorientierung

Der Außergerichtliche Tatausgleich soll Konflikte systemisch anhand einer ProblemRessourcen-Lösungs-Orientierung aufarbeiten, wofür die MitarbeiterInnen speziell geschult werden (vgl. IV_07_W § 82 ff.). Ursprünglich reichen die Konzepte von Ressourcen- und Lösungsorientierung auf die Forschungsgruppe rund um de Shazer zurück. Die forschende Therapeutengruppe geht davon aus, dass jedem Problemsys-

Systemische Sozialarbeit bei familiärer Gewalt – Pro und Contra

tem seine Lösung immanent ist. So verfügt jedes System über die Ressourcen, die es zur Lösung seiner Probleme braucht, nützt diese im Moment aber nicht (vgl. de Shazer, 2008, S.  22 ff.; Schlippe/Schweitzer, 2007, S.  124 f.). Probleme, Ressourcen und Lösungen werden in der Konfliktregelung von »Neustart« als eigene Systeme betrachtet. Dieses Modell ermöglicht es, den Fokus auf aktuelle Probleme und Auslöser zu legen und nicht in der Aufarbeitung vergangener Handlungen zu verbleiben (vgl. IV_07_W § 84 ff.). Es wird darauf hingewiesen, dass Lösungen nicht überbewertet und nicht vorgegeben werden dürfen. Lösungen sollen von den Betroffenen selbst, Schritt für Schritt, mit der Unterstützung der Konfliktregelung erarbeitet werden. Nur so sei eine intrinsische Motivation für die Umsetzung der Problembehebung möglich, die für die dauerhafte Umsetzung der Lösungsstrategie notwendig ist (vgl. ebenda § 138). Als Grenze für einen erfolgreichen Einsatz dieses Modells werden lange andauernde personelle Konflikte genannt. Denn dabei geht es um lange bestehende und gegenseitige verfestigte negative Zuschreibungen. Diese Leitdifferenz stellt eine der Bedingungen dar, ob Konfliktregelung eingesetzt wird (vgl. ebenda § 72ff, IV_07_W § 70 ff.). Die gesammelten empirischen Materialien deuten an, dass Lösungsorientierung als gefährlich betrachtet wird. Die größte geäußerte Angst besteht vor unerwünschten Auswirkungen und Nebeneffekten, wenn zu schnell vorgegangen wird. Die interviewten Fachkräfte sollten darauf achten, Lösungsorientierung als Ansatz nur sehr vorsichtig einzusetzen, da die Probleme und Problemlagen sonst leicht aus der Aufmerksamkeit geraten (vgl. IV_02_W § 22). Weiters kritisiert die Fachpraxis an einer allzu simplen Lösungsorientierung, dass sie nicht der psychischen Verfassung von KlientInnen entspräche (IV_04_W § 60)  : »[…] Der systemische Blick im Bereich der Gewaltarbeit führt zu einer Vernebelung und Verwischung der Verantwortlichkeiten, was sowohl für die Opfer […] fatal ist, als auch für die, die als Täter auftreten. […]« Die sozialarbeiterische Fachpraxis tritt eher dafür ein, den Fokus bei familiärer Gewalt auf das gewalttätige Verhalten selbst zu legen sowie auf den Schmerz und die Demütigung, die beim Opfer dadurch ausgelöst werden. Erst wenn das Problem reflektiert wurde, sei eine lösungsorientierte Vorgehensweise ratsam (vgl. IV_02_W § 22 ff.). Zugleich wird der Lösungsorientierung durch ihre positive und zukunftsorientierte Ausrichtung großer Nutzen zugeschrieben (vgl. IV_02_W § 22, IV_07_W §§ 82 ff., 138). Im Frauenhaus beispielsweise nehmen Zukunftsorientierung und Planung einen wichtigen Platz ein. Denn, so die Begründung, die Frauen müssen sich nach ihrem Leben im Frauenhaus meist eine neue Existenz aufbauen (vgl. IV_05_ Teil2_G § 9).

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108 4.3 Macht

Systemischen Ansätzen wird vorgeworfen, sie würden Macht und somit einen bedeutenden Faktor familiärer Gewalt negieren (vgl. Kriz, 2007  : S. 242  ; IV_06_W §§ 32 ff., 94 ff.). Zwar greifen neuere systemische Werke das Phänomen Gewalt auf, doch besteht dennoch das Risiko, dass diese missverstanden werden. Kriz (vgl. ebenda  : S. 242) führt aus, was auch die Interviewten so beschreiben, dass die Negierung eines Phänomens nicht an der Systemtheorie an sich läge. Jede Theorie unterscheidet sich durch ihre Fokussierung von anderen. Themen abseits des Fokus würden automatisch in den Hintergrund geraten. Eine kritische Aussage betrifft konkret den Schutzaspekt (IV_06_W § 96)  : »[…] Wenn Opfer sich sowieso mitschuldig fühlen, wie die meisten, die wir betreuen, und aus dieser Mitschuld heraus oft auch nicht handlungsfähig sind, setzen sie keine Schritte, um sich weiterhin zu schützen. Und mit einem systemischen Zugang verstärkt man das noch.« Cromwell und Olson (1975, zit. nach Godenzi, 1996  : S.  105) beschreiben Definition und Messung von Macht in Familien als eine der schwierigsten Aufgaben in der Familiensoziologie. Bestehende Definitionen gehen mehrheitlich auf die klassische Definition Max Webers zurück, der Macht als Fähigkeit beschreibt, den eigenen Willen gegen den Willen anderer durchzusetzen. Das Nutzen dieser Macht wird Beeinflussung genannt, und bei erfolgreicher Beeinflussung spricht man von Kontrolle (vgl. Cartwright, 1959, zit. nach Godenzi, 1996  : S. 106). Schneider (1977, zit. nach Godenzi, 1996  : S. 106) legt eine systemische Definition von Macht vor. Macht wird darin als intervenierende Variable bezeichnet. Potenzielle Machtanteile werden bei allen Personen verortet, die miteinander agieren. Die Machtposition einer Person hängt allerdings in realen Situationen nicht nur von ihren Ressourcen ab, sondern auch von den Zuschreibungen anderer Interaktionsteilnehmer. Kriz (2007  : S.  242) weist da­ rauf hin, dass systemische Theoriekonzepte Gefahr laufen, das Phänomen der Macht zu vereinfachen bzw. das Bild zu verfälschen. Er schreibt, die Anfälligkeit systemischer Ansätze, Gewalt zu verharmlosen, liege in ihrem interpersonellen Fokus. Deshalb bezeichnet er die Begriffe »Symptomträger« und »Indexpatient« für Krankheiten als sinnvoll, nicht aber für Macht. Dies würde zur Fehlannahme verführen, dass ein Machtgleichgewicht bestehe. Aus dem empirischen Material geht hervor, dass auch ExpertInnen im systemischen Arbeiten die Gefahr verorten, dass Opfern die Gesamtoder zumindest Teilverantwortung für die widerfahrene Gewalt aufgebürdet wird (vgl. IV_04_W § 6 ff.; IV_06_W § 96 ff.). Abhängigkeitsverhältnisse stellen die Manifestation von Macht dar. Lüssi (2008, S. 416 f.) führt zwei besondere Abhängigkeitsverhältnisse auf  : Obhutsverhältnisse und Gewaltbeziehungen. In Obhutsverhältnissen hat die Obhutsperson eine Machtposi-

Systemische Sozialarbeit bei familiärer Gewalt – Pro und Contra

tion gegenüber dem in Obhut stehenden Menschen, in Familien ist es üblicherweise ein Elternteil gegenüber dem Kind. In dysfunktionalen Obhutsverhältnissen können Personen sogar zur Hilflosigkeit erzogen werden (»Erlernte Hilflosigkeit« nach Selinger, 1975 und 1979). Dysfunktionalität liegt vor, wenn Systeme nicht mehr ihren Zweck erfüllen. Dysfunktionale Systeme sind zwar stabil, aber ständig mit Metakommunikation bzw. mit sich selbst beschäftigt. Interviewte Personen bezeichnen dysfunktionale Obhutsverhältnisse als subtile Formen von Gewalt (vgl. IV_02_W § 44  ; vgl. dazu IV_03_W §§ 27, 39). Als weitere Abhängigkeitsverhältnisse, die Misshandlungen, Ausbeutungen und Freiheitsentzug ermöglichen, nennt Lüssi (2008  : S. 417) Paarbeziehungen. Interviewte Fachkräfte bezeichnen Abhängigkeit als Charakteristikum für Gewaltbeziehungen (vgl. IV_02_W § 52  ; IV_06_W §§ 34 ff., 102). Im Gegenzug dazu wird ein gesellschaftlicher Wandel beschrieben, der zu einem selbstbestimmteren Leben von Frauen geführt hat (vgl. IV_07_W § 172 ff.). 4.4 General Systems Theory Approach

Das Modell von Straus (1973, zit. nach Godenzi, 1997, S. 130 ff.) verknüpft bestehende theoretische Denkansätze mit Forschungsergebnissen. Dazu wird die Systemtheorie als Konzept benutzt, um eine eigene Theorie zu konstruieren. Darin wird familiäre Gewalt als Systemprodukt aufgefasst. Die Entwicklung von Gewalt ist demzufolge davon abhängig, wie auf gewaltvolles Handeln reagiert wird. Während eine positive Rückkoppelung zu weiteren Gewalthandlungen führt, kann negative Rückkoppelung zur Stabilisierung des gewalttätigen Verhaltens oder zur Verminderung von Gewalt führen. Straus weist darauf hin, dass eine Etikettierung von gewalttätigen Personen das Risiko weiterer Gewalttaten erhöht, da die betroffenen Personen gewalttätige Handlungsmuster dann auch von sich selbst erwarten. Eine Systemanalyse soll alternative Handlungen erkennbar machen. In einem Flussdiagramm wird aufgezeigt, dass Gewalt stets nur eine mögliche Option ist. Diese Vorstellung von Gewalt als Systemprodukt wird auch in den Interviews geäußert (IV_07_W §§269 ff.)  : »Durch die Ausweglosigkeit einer Lebenssituation, oft Alkohol oder manchmal auch Sucht, Stress, Frust und Frustrationen, […] dann kommt es oft zu Gewalt[…].« Bersani und Chen (1988, zit. nach Godenzi, 1997  : S. 131 f.) kritisieren am General Systems Theory Approach die fehlende empirische Überprüfung, Dobash und Dobash (1979, zit. ebenda S. 131) schreiben, das Modell würde noch mehr Verwirrung in die Gewaltdiskussion bringen. Die interviewten Personen weisen besonders auf die Gefahr von Verschleierung der Verantwortung hin. Wenn das ganze System für gewaltvolles Handeln verantwortlich gemacht wird, wird der Druck vom Täter/von der Täterin genommen, die Verant-

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wortung für seine/ihre eigene Tat zu übernehmen, was wiederum die Schuldgefühle der Opfer verstärkt (vgl. IV_06_W § 94ff  ; IV_07_W § 296 ff.). Um das empirische Manko des Theorieansatzes zu beseitigen, wendet Giles-Sims (1983, zit. nach Godenzi, 1997, S.  132 f.) den General Systems Theory Approach in einer Studie über körperliche Gewalt gegen Frauen an. Giles-Sims bildet im Modell sechs Phasen des Familienlebens ab. Diese reichen von der Etablierung des Familiensystems bis zur letzten Phase, in der sich entscheidet, ob gewaltfreie Interaktionen aufgebaut werden können. Besonders hervorzuheben ist dabei die vierte Phase, der »choice point«, an dem die Frau die Gewalt nicht mehr erträgt und zu handeln beginnt. Dieser Punkt wird auch in den Interviews als besonders wichtiger, als entscheidender Moment bezeichnet (vgl. IV_06_W § 36ff, IV_07_W § 150). Ist eine Person, die Gewalt erlebt hat, noch nicht an diesem Punkt angelangt, hat es offensichtlich keinen Sinn, mit ihr an einer Strategie zur Beendigung der Gewalt zu arbeiten (IV_06_W §34 ff.)  : »Es passiert insofern eine Reflexion, indem man schaut, in welcher Trennungsphase befindet sich die Frau. […] Von dem her ist es schon relevant, in welcher Beziehung steht sie, hat sie sich bereits gelöst oder ist sie noch immer emotional verbunden  ? Weil man ja ganz andere Hilfsangebote setzen kann.« 4.5 Biopsychosoziales Modell

Menschliches Handeln umfasst (Lüssi, 2008  : S.  66) neben dem Sozialsystem noch drei weitere Systeme, durch die der Mensch beeinflusst wird  : den Organismus als biochemisches System  ; die Persönlichkeit als psychisches System  ; und die Kultur als System, das durch Ideen und Werte bestimmt wird. Lüssi geht davon aus, dass es in der Sozialarbeit notwendig sei, Menschen als biopsychosoziale Systeme zu begreifen. Das biologische System und das psychische System stellen für das soziale System Umwelten dar, stehen aber im wechselseitigen Austausch. Dieses Modell ist für die gesamte Sozialarbeit prägend. Sydow et al. (2007, S.  19, 44 ff.) schreiben, dass das gesamte Ätiologieverständnis der systemischen Therapie auf diesem Ansatz fuße. Kriz (1999  : S. 171) stimmt mit Lüssi hierin weitgehend überein, obwohl er in einem weitaus medizinischeren Kontext forscht. Ihm zufolge seien systemtheoretische Aspekte bei vielen biomedizinisch-somatischen Prozessen von Bedeutung. Er weist darauf hin, dass Untersuchungen einzelner Prozesse deshalb nicht vernachlässigt werden dürfen, da diese als einzelne Teile dennoch wichtig seien, um »das Ganze erfassen zu können« (Kriz, 1999, S.  171). In der sozialarbeiterischen Fachpraxis im Handlungsfeld Gewaltschutz und Täterarbeit scheint das biopsychosoziale Modell eine hohe Relevanz zu haben. Die interviewten Fachkräfte treten für ein solches umfassendes Modell und Verständnis ein (vgl. IV_01_G §§ 16, 25  ; IV_02_W §§ 42 ff., 92 ff.; IV_03_W §§

Systemische Sozialarbeit bei familiärer Gewalt – Pro und Contra

35, 245  ; IV_05_Teil1_W §§ 69, 123 ff.), dass Soziale Arbeit bei familiärer Gewalt weder die Familien- und Beziehungskomponenten noch psychische oder biologische Aspekte außer Acht lassen dürfe. Denn familiäre Gewalt wirke auf alle drei Systembereiche. 4.6 Case Management und Netzwerkarbeit

Die Arbeit mit Familien ist historisch und professionsbezogen ein wichtiges Element der Sozialarbeit, weil Familien und familienähnliche Lebensformen die primären Beziehungssysteme sind, in denen Menschen leben. Da Familienberatung und Fami­ lientherapie auch von anderen Berufsgruppen und von verschiedenen Organisationen im Sozialbereich angewandt werden, kommt es vor, dass verschiedene HelferInnen sich mit einer Familie beschäftigen. Deshalb ist eine transparente, beständige und interdisziplinäre Kooperation von großer Bedeutung, sowohl in der Theorie (vgl. Burnham, 2009  : S. 19) als auch der Fachpraxis (IV_02_W §§ 6, 110 ff.; IV_05_Teil1_W § 327  ; IV_06_W § 148 ff.). Anders ausgedrückt  : Die Organisationssysteme im Bereich der Sozialarbeit bei häuslicher Gewalt sind operativ geschlossen, stehen aber im Austausch mit ihren Umwelten. Im Methodenrepertoire der Sozialarbeit ist Case Management der entsprechende Ansatz, der seine solcherart begriffliche Geburtsstunde in den 1970er-Jahren in den USA hatte. Es ist ein Arbeitsmodell, das die Koordination verschiedener sozialer Dienste im Hinblick auf den individuellen Bedarf eines Klienten/einer Klientin in den Fokus nimmt und ermöglicht (vgl. Galuske, 2005  : S. 202). Das Besondere am Case Management ist sein zweifaches Ziel  : Einerseits geht es um die optimale Versorgung und Ausstattung der Betroffenen, andererseits soll der Kosteneinsatz von Hilfsangeboten optimiert werden. Eine transparente und beständige Kooperation wird von der Sozialarbeit in den Interviews als wichtig bezeichnet (vgl. IV_01_G § 12 ff.; IV_02_W § 106 ff.; IV_03_W §§ 153, 171 ff.; IV_08_W § 37 ff.). Lediglich die Täterarbeit beschreibt sich selbst als eigener, abgegrenzter Bereich, der keinem Case Management bedürfe (vgl. IV_04_W § 64). Für die interviewten Fachkräfte ist die Bedürfnisorientierung des Case Management essenziell für die Soziale Arbeit bei familiärer Gewalt (vgl. IV_03_W § 69  ; IV_05_Teil1_W §§ 81, 92, 146  ; IV_06_W § 44). In den Interviews fällt besonders auf, dass in den Arbeitsweisen eine enge Verbindung zwischen Case Management, Vernetzungsarbeit und systemischen Arbeitsweisen konstruiert wird. Der Austausch mit der Umwelt werde demnach bewusst betrieben, um eigene Operationen zu verbessern.

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112 4.7 Systemische Interventionen und Werkzeuge

Den in den Interviews vorzufindenden Einschätzungen nach sind ausgewählte systemische Interventionen und Werkzeuge besonders wirksam für den Einsatz in der Sozialarbeit bei familiärer Gewalt. Eine Intervention kann verbale oder nonverbale Kommunikation sein  ; wichtig ist ihr Potenzial, Veränderungen im Problemsystem hervorzurufen. Interventionen müssen stets an die Systeme der KlientInnen angepasst werden. Es ist von vielen Faktoren abhängig, ob eine spezielle Intervention in einem bestimmten Fall sinnvoll ist oder nicht (vgl. IV_03_W § 135). Sozialarbeiterische Interventionen können das System nur pertubieren, da ein Sozialarbeiter/eine Sozialarbeiterin von außen nie das gesamte System erfassen kann (vgl. Burnham, 2009, S. 185 ff.). Durch eine ausführliche soziale Diagnose wird versucht, Verarbeitungsoperationen des Systems zu erkennen, um jene Interventionen bestimmen zu können, die positive Operationen erzeugen. Interventionen haben laut Burnham (2009, S. 189 ff.) in der Regel drei Grundbestandteile  : Zuallererst sind die Anerkennung des Schmerzes der Betroffenen und die Beglückwünschung für die Anstrengung, die die Person durch die Beratung erfahren hat, wichtig. Den zweiten Bestandteil von Interventionen bildet die Umdeutung des Problems, danach erfolgt die Erarbeitung einer Handlungsweise. Die interviewten Personen weisen darauf hin, dass das Erstgespräch bei sozialer Arbeit mit Gewaltopfern essenziell sei. In diesem Gespräch werden die Grundsteine für den Beziehungsaufbau gelegt (vgl. IV_02_W § 22ff  ; IV_06_W § 26). Für systemisches Arbeiten als zentral wird weiter die Transparenz im Vorgehen erwähnt (vgl. IV_02_W § 6ff ). Als Recht des Klienten/der Klientin gilt zu erfahren, was SozialarbeiterInnen oder TherapeutInnen über sie und ihre Situation denken. Durch diese Transparenz können Skepsis und andere Gedanken von HelferInnen auf eine Art und Weise kommuniziert werden, die KlientInnen für gewöhnlich gut annehmen können. Gesprächsführungswerkzeuge wie aktives Zuhören und Paraphrasieren werden benutzt, um Gespräche so zu leiten, dass sie auf die Gefühle der KlientInnen fokussieren (vgl. Erler 2003, S. 38 ff. IV_01_G § 38 ff.; IV_02_W §§ 10, 22, 26, 94  ; IV_03_W §§ 131, 236  ; IV_05_ Teil1_W §§ 92, 134, 146, 205  ; IV_06_W §§ 22, 74  ; IV_07_W § 214). In den Interviews wird auf verschiedene systemische Interventionsmöglichkeiten verwiesen. Eine typisch systemische Intervention stellt das systemische Interview dar (vgl. Burnham, 2009, S. 147 ff.; Sydow et. al., 2007, S. 24). Diese Methode ermöglicht durch den Einsatz zirkulärer Fragen, Informationen über das System zu sammeln, Hypothesen zu überprüfen und KlientInnen die systemische Arbeitsweise näherzubringen. In einer triadischen Form werden Fragen an Einzelne über Beziehungen anderer im System gestellt. Das Interview stellt im Gegensatz zur lösungsorientierten Ar-

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beitsweise eine Möglichkeit zur Problemfokussierung dar, was gerade für TäterInnen zur Verhaltenssensibilisierung genutzt werden kann (vgl. IV_02_ § 30). Besonders für Opfer verspricht man sich eine Entlastung durch das Interview, da es einen geschützten Rahmen für Erzählungen bietet (IV_02_W § 26  ; vgl. ebenda § 94). »Ich denke mir, die Leute haben etwas erlebt, was sie sonst nicht kommunizieren oder nicht leicht kommunizieren. […] In vielen Fällen habe ich auch erlebt, dass es entweder so verharmlost wird oder entschuldigt wird […] Dahingehend versuche ich auch die Situation so genau wie möglich zu interviewen […].« Systemische Modelle werden in den Experteninterviews besonders für die s­ oziale Diagnose von Gewalt als sinnvoll bezeichnet und auch von Personen angewandt, die systemische Arbeitsweisen sonst eher ablehnen (IV_05_Teil1_W §§ 97 ff., vgl. IV_01_G §§ 10, 16  ; IV_02_W §§ 66, 152  ; IV_06_W §116 f.). »Wenn ich sehe, die Frau ist mit ihren Kindern da, dann kann ich nicht so tun, als ob sie keine Kinder hätte. Dann hat das natürlich Auswirkungen auf die Frau und auf die Kinder, und wenn es da einen Vater gibt, der schlägt, hat das Auswirkungen. […] Ich kann durchaus systemisch arbeiten, ohne dass ich diese Ausbildung habe.[…] Wenn ich mitberücksichtige, was ist da  ? Was zeigt sich mir  ? Dann habe ich das ganze System im Blick.« Dem Genogramm wird ein großer Nutzen für die Sozialarbeit bei familiärer Gewalt zugeschrieben, weil es nicht nur aktuelle Beziehungen verbildlicht, sondern die Möglichkeit bietet, mehrgenerationale Schemata abzubilden und zu hinterfragen (vgl. IV_02_W § 70). Im Jugendamt werden systemische Methoden zur Dokumentation geplant (IV_08_W § 75)  : »In der Jugendamtsarbeit mache ich keine Einzelfallarbeit, ich habe immer Familienarbeit, und Familie ist immer ein System. […] Das Genogramm ist sogar vorgesehen in der neuen […] Dokumentation.« Die empirischen Belege zeichnen ein Bild davon, dass es gar nicht möglich sei, eine soziale Diagnose zu erarbeiten, ohne das System, in dem sich der Klient/die Klientin befindet, miteinzubeziehen. Die strukturelle Kopplung ermöglicht es, KlientInnen, anhand der Leitdifferenz »Fall«/»kein Fall«, in die Betreuung aufzunehmen oder weiterzuverweisen. 5. Schlussfolgerungen Systemische soziale Arbeit mit bzw. bei gewalttätigen Personen wird zwar prinzipiell als möglich erachtet, zugleich werden jedoch kritische Einwände eingebracht. Eine detaillierte und systemisch orientierte Analyse der Gewaltsituation und der Bedingungen, die zur Gewalttat geführt haben, werden als zentral erachtet (vgl. IV_01_G § 10, 16 ff.; IV_02_W § 14  ; IV_03_W § 51  ; IV_07_W §§ 106, 196). In den Aus-

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sagen werden immer wieder Ängste vor negativen Auswirkungen und die Sorge um die bedürfnisadäquate Anwendung systemischer Methoden ausgedrückt. Aus makrosystemischer Perspektive ist das Handlungsfeld familiäre Gewalt ein Teil des Funktionssystems Sozialarbeit. Andere Funktionssysteme pertubieren die Soziale Arbeit folgendermaßen  : Die Finanzierung (Funktionssystem Wirtschaft) ist abhängig von Entscheidungsoperationen im System Politik. Auch das Funktionssystem Justiz beeinflusst die Soziale Arbeit bei familiärer Gewalt erheblich. So liegt es in der Entscheidung des Gerichts, ob diversionelle Maßnahmen angeordnet werden, TäterInnen verurteilt werden oder Opfer als ZeugInnen aussagen müssen. Einen Teil ihrer Arbeit begründen die betroffenen Einrichtungen im Gewaltschutz und in der Täterarbeit mit ihrer gesetzlichen Legitimation bzw. Pflicht einzuschreiten (vgl. IV_03_W § 21  ; IV_06_§ 204-206  ; IV_07_W §§ 26, 98, 106 ff.). Das Einschreiten des Gewaltschutzzentrums als Interventionsstelle ist an einen Polizeieinsatz gekoppelt. Definiert die Polizei die Situation in der Familie als akut gefährlich, wird die Gewalt ausübende Person aus der Wohnung verwiesen (Betretungsverbot nach § 38 a SPG). Die weggewiesene Person erhält die Information, an welche Organisationen sie sich wenden kann, z.B. an die Männerberatung. Die betroffene Person wird vom Gewaltschutzzentrum Steiermark kontaktiert, das Beratung und Unterstützung anbietet. Aus mikrosystemischer Sicht besteht die Soziale Arbeit im Handlungsfeld aus der Beziehung zwischen Täter/Täterin oder Opfer und Sozialarbeiter/Sozialarbeiterin (vgl. Bürgi & Eberhart, 2006, S. 47 ff.). Beziehungsarbeit wird in der Täterarbeit als besonders wichtig angesehen, um den Klienten/die Klientin bei der Aufarbeitung der Tat im Prozess zu halten (vgl. IV_02_W §§ 6, 10, 42, 99 ff.; IV_05_Teil1_W §§ 90 ff., 114, 156 ff.; IV_06_W § 38 ff.). Sogar innerhalb eines Zwangskontextes wird es als möglich erachtet, systemisch zu arbeiten, und gerade in diesem Kontext sei es möglich, problem- und lösungsorientiert vorzugehen, da keine Zeit für vorsichtiges Herantasten an das Problemsystem eingeplant werden müsse (vgl. IV_02_W §§ 30 ff., IV_07_W § 232). Systemisches Arbeiten mit gewalttätigen Menschen wird von den interviewten Fachkräften unterschiedlich konstruiert. Einerseits wird es als prinzipiell möglich erachtet, wenn auf die spezielle Situation der KlientInnen eingegangen wird (vgl. IV_03_W § 57, IV_07_W § 275 ff.). Andererseits wird es strikt abgelehnt, ohne sich offenbar eingehend damit auseinanderzusetzen (vgl. IV_04_W §§ 58, 92). Als heikel wird die systemische Vorgehensweise bei Menschen mit großen psychischen Defiziten betrachtet (vgl. IV_03_W § 221), da hier die Arbeit am psychischen System der Person im Vordergrund steht und nicht die Arbeit am sozialen System. Die parteiliche Haltung der Organisationssysteme im Gewaltschutzbereich scheint mit ein Grund zu sein, warum eine systemische Arbeitsweise abgelehnt wird. Durch den Schutzcharakter der Organisationen liegt es auf der Hand, dass die TäterInnen

Systemische Sozialarbeit bei familiärer Gewalt – Pro und Contra

nicht real einbezogen werden. Dennoch werden diese im Kommunizieren über die Gefühle der Opfer einbezogen, die Familiensituation wird in der Beratung thematisiert (vgl. IV_05_Teil1_W § 148  ; IV_03_W § 65  ; IV_06_W § 102  ; IV_01_G §§ 10, 16  ; IV_02_W § 14). Dieser systemische Anteil wird von den ExpertInnen selbst großteils gar nicht als solcher deklariert. Das Kinderschutzzentrum nimmt hier eine Sonderposition ein. Die interviewte Person beschreibt systemische Methoden als zent­ral für die Auseinandersetzung mit der Gewalttat, unabhängig von der realen Einbeziehung der TäterInnen in den Prozess. Es wird darauf hingewiesen, dass TäterInnen einbezogen werden müssen, da sie ein Teil des Sozialsystems Familie bleiben, auch wenn sie physisch nicht mehr anwesend sind (vgl. IV_02_W § 66). Eine weitere Kontroverse stellt das Besprechen von Täter- und Opferanteilen dar (vgl. IV_06_W §§ 218, 280  ; IV_03_W § 59ff  ; IV_06_W § 280). Einerseits wird es strikt abgelehnt, mit Opfern über deren Täteranteile zu sprechen, laut Fachpraxis käme das einer Verschleierung der Verantwortung gleich. Sogar eine etwaige Ausei­ nandersetzung mit der Bindungsgeschichte von Opfern wird aus ressourcentechnischen Gründen auf externe Therapiesitzungen verlagert. Andererseits wird angemerkt, dass gerade in der Täterarbeit und der Konfliktregelung die Analyse von Täter- und Opferteilen als sinnvoll erachtet wird und dazu beiträgt, Opfer wie TäterInnen handlungsfähig zu machen (vgl. IV_08_W §§ 99–101  ; IV_02_W § 50). Die behördliche Sozialarbeit im Jugendamt wird von allen Organisationssystemen als systemisch konzipiert bezeichnet  : »Ich denke mir, in der Jugendamtsarbeit mache ich ja keine Einzelfallarbeit, habe ich immer Familienarbeit, und Familie ist immer ein System« (IV_08_W § 23). Diese Aussage bringt das systemische Denken auf den Punkt  : Die Auseinandersetzung mit der Gewalttat ist für das gesamte Familiensystem notwendig. Freilich muss klargestellt werden, dass jede Intervention auch zu unerwünschten Auswirkungen führen kann. Denn es kann nie vorhergesagt werden, was eine Pertubation von außen konkret im System bewirkt (vgl. IV_08_W § 55  ; Schlippe & Schweitzer, 2007, S. 51 f.). In der Praxis im Bereich der Sozialen Arbeit mit Gewaltopfern und TäterInnen besteht eine große Skepsis gegenüber systemischen Arbeitsweisen, auch wenn diese nicht konkret festgemacht werden können. Teilweise können die Gründe für die Ablehnung von systemischen Arbeitsweisen entkräftet werden, wie z.B. die Sorge vor Verschleierung von Verantwortung oder das Argument, dass Parteilichkeit nicht mit systemischer Arbeit zu vereinbaren sei. Klar ist, dass bei realen Gefahrensituationen eine systemische Arbeits- und Sichtweise im Hinblick auf die Sicherheit abgelehnt wird. Besonders in der Diagnose scheinen systemische Methoden bereits genutzt zu werden. Auch das Einbeziehen der Familie von Betroffenen wird im Beratungsprozess über verschiedene Methoden vollzogen.

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116 6. Literatur

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Corinna Stark

Wie ein »Fall« zum »Fall« wird Zur Bedeutung individueller Konstruktionsleistungen von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen in der Jugendwohlfahrt bei Fällen indirekter Gewalt

Gewalt in der Partnerschaft wird gemeinhin auf der Ebene der Paarbeziehung thematisiert, wenngleich sie sich ganz offensichtlich nicht ausschließlich auf dieser auswirkt. Kinder als Teil des Familiensystems erleben Gewalthandlungen gegen ihre Eltern – den geschlechtsspezifischen Gewaltstrukturen nach ist dies vorwiegend die Mutter – mit. AutorInnen wie Kavemann (2006  ; 2000) oder Strasser (2001) betonen die Wichtigkeit, Kinder als Opfer und nicht nur als passive ZeugInnen indirekter Gewalt wahrzunehmen. Der Beitrag zeigt auf Grundlage der Arbeit von Stark (2009) auf, wie Fälle indirekter Gewalt von SozialarbeiterInnen in der Jugendwohlfahrt konst­ ruiert werden – wie ein »Fall« zu einem »Fall« wird. Unter Heranziehung des sozial­ konstruktivistischen Ansatzes soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass Fälle Konstrukte von SozialarbeiterInnen sind und subjektive – z.B. Biografie, Berufserfahrung – sowie wie objektive Dimensionen – v.a. gesetzliche und institutionelle Grundlagen – entscheidenden Einfluss auf deren Fallkonstruktionen nehmen. Die Empirie stützt sich auf acht Interviews, die qualitativ auf drei Ebenen analysiert werden. Auf der ersten Ebene geht es um die konkrete Fallkonstruktion, hierin werden Fälle entlang zweier Hauptkategorien entweder als »akut versus nicht akut« oder »chronifiziert versus nichtchronifiziert« konstruiert. Auf der zweiten Ebene wird veranschaulicht, wie Probleme im Dialog mit der Familie konstruiert werden und welche Interventionen aus dieser Konstruktion erfolgen. Die Analyse auf der dritten Ebene verdeutlicht, dass den subjektiven und objektiven Konstruktionselementen eine unterschiedliche Gewichtung in der Fall- und Problemkonstruktion zukommt. Bei Fällen indirekter Gewalt wird von den SozialarbeiterInnen vor allem auf subjektive Konstruktionselemente zurückgegriffen. 1. Zur Thematisierung indirekten Erlebens häuslicher Gewalt bei Kindern Familiäre Gewaltformen rückten in Österreich in den 1970er-Jahren zunehmend in den öffentlichen und gesellschaftspolitischen Fokus. Einen wesentlichen Beitrag zu

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diesem Diskurs leistete die Frauen- und Kinderschutzbewegung. Aus ihrer Praxis he­ raus entwickelte sich ihr Wissen über die spezifischen Problemlagen von misshandelten Frauen und Kindern. Die Frauenschutzbewegung thematisierte Gewalt als »männliche Gewalt«, ausgehend von Männern gegenüber ihren Ehefrauen oder Partnerinnen, und wurde in diesem Feld tätig. Die Kinderschutzbewegung sah ihre Zuständigkeit im Schutz der Kinder vor direkten Gewalthandlungen. Die beiden Bewegungen trugen in entscheidendem Maße dazu bei, dass diese Formen häuslicher Gewalt als gesamtgesellschaftliches Problem und »öffentliche« Angelegenheit und nicht mehr als Privatangelegenheit verstanden wurden. Die Frauen- und Kinderschutzbewegung führten einen Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und grenzten sich ideologisch stark voneinander ab (vgl. Kavemann, 2000, zit. nach Seith, 2006  : 106). Dabei blieb ein wesentlicher Umstand in der Auseinandersetzung um häusliche Gewalt von beiden Richtungen weitgehend ausgeklammert  : der Zusammenhang zwischen Partnerschaftsgewalt und den damit verbundenen Auswirkungen auf die in der Familie lebenden Kinder, d. h. das Miterleben von Gewalt bzw. »indirekte« Gewalterfahrungen. Der öffentliche Diskurs über indirekte Gewalt findet erst seit Anfang der 1990erJahre statt. Kelly (1994) beklagt bereits Anfang der 1990er-Jahre in ihrem Beitrag »The interconnectedness of domestic violence and child abuse«, dass institutionelle Interventionen nicht den gewünschten Erfolg versprechen. Professionisten und Professionistinnen würden »verkennen, dass der Schutz der Mütter vor weiterer Gewalt von Seiten des Partners oder Expartners die entscheidende Voraussetzung zur Sicherung des Kindeswohls ist« (Seith, 2006  : 105). Erst ab den 2000er-Jahren wurden die ersten indirekte Gewalterfahrungen thematisierenden deutschsprachigen Übersichtsarbeiten, wie beispielsweise von Heynen (2001), Kindler (2002) oder Kavemann (2000  ; 2006), publiziert. Seit einem Jahrzehnt nun nehmen sich Öffentlichkeit und Einrichtungen im Kinder- und Gewaltschutzbereich, die nach Prinzipien des Frauen- und Kinderschutzes arbeiten, zunehmend der Bedeutsamkeit von indirekter Gewalt an Kindern an. Trotz dieser Entwicklungen werden auch heute noch Kinder als Opfer indirekter Gewalt in ihrer Betroffenheit nicht gleichbedeutend mit Opfern direkter Gewalt in Gesellschaft und Fachpraxis wahrgenommen. Deutlich erkennbar ist dies zum Beispiel im Gewaltschutzgesetz. Das »Bundesgesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie« legte hier einen Grundstein und trat am 1. Jänner 1997 in Kraft. Unter dem Motto »Wer schlägt, der geht« wurden die Opferrechte verstärkt. Ziel der polizeilichen Intervention bzw. des Gewaltschutzgesetzes ist die Beendigung der Gewaltbeziehung. Der Täter soll durch die Auseinandersetzung mit der Tat und deren Folgen Verantwortung übernehmen. Auf der anderen Seite haben die Opfer verstärkten Anspruch auf Sicherheit und Unterstützung. Ziel des Gewaltschutzgesetzes ist es, alle

Wie ein »Fall« zum »Fall« wird

Personen, die im familiären Bereich Gewalt erfahren müssen, zu schützen. VertreterInnen des Kinderschutzbereiches weisen indes auf die Benachteiligung der Kinder in Bezug auf das Gesetz hin. Die Initiative zur Veränderung der Gesetzeslage ging von der Frauenschutzbewegung aus. Der Kinderschutz wurde bei der Entwicklung des Gesetzes so gut wie nicht involviert. Ausschließlich die Kinderschutzzentren konnten mit Stellungnahmen am Gewaltschutzgesetz »mitarbeiten«. Die Jugendwohlfahrtsbehörden wurden in den Entwicklungsprozess nicht einbezogen (vgl. Hötzl, 2008  : 62). Dennoch ist seit der Verabschiedung des Gesetzes eine Entwicklung im fachlichen Umgang im Bereich (mit)erlebter Gewalt zu verzeichnen. Jede Wegweisung, bei der Kinder während der Gewalttat anwesend waren, wird an die Jugendwohlfahrtsbehörden übermittelt. Deren Aufgabe ist es folglich zu überprüfen, ob das Wohl des Kindes vor allem nach dem zehntägigen Betretungsverbot sichergestellt ist. Wissenschaftlich belegte Zahlen, die die Betroffenheit indirekter Gewalt an Kindern dokumentieren, bewegen sich im Dunkelfeld und resultieren bisher nur aus Prävalenzstudien. Das deutsche Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend führte 2008 eine Prävalenzstudie mit dem Titel »Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland« durch. In dieser Untersuchung wurden 10 000 Frauen zu ihren persönlichen Gewalterlebnissen mit ihren Partnern befragt. Besonders deutlich wird dabei, dass 50 Prozent der Frauen mit Gewalterfahrungen zum Zeitpunkt der psychischen, physischen und/oder sexuellen Übergriffe Kinder hatten, die diese Übergriffe (mit)erlebt haben. 57 Prozent dieser Kinder haben die Auseinandersetzungen mitangehört und 50 Prozent beobachtet. 21 Prozent wurden in den Konflikt direkt einbezogen, rund ein Viertel stellte sich aktiv zwischen die Eltern. Gewalthandlungen gegen einen Elternteil, v.a. gegen die Mutter, werden von Kindern nicht nur als sogenannte »ZeugInnen« miterlebt, sondern auf allen Sinnes­ ebenen erlebt. Sie hören, wie der Vater die Mutter als Hure beschimpft, mit dem Tod bedroht, wie die Mutter weint, fleht, schreit oder sie plötzlich keinen Laut mehr von sich gibt. Sie spüren die innerfamiliären Spannungen, die Angst und Ohnmacht der Mutter sowie die eigene Angst und Hilflosigkeit. Kinder denken, sie sind schuld an der Eskalation, sie sind nichts mehr wert oder müssten sich zwischen die Eltern stellen, aus Angst, der Vater könnte die Mutter töten (vgl. Kavemann, 2000). Aber nicht nur die unmittelbaren Gewalterlebnisse, sondern auch die damit verbundenen und für die Kinder völlig überfordernden Handlungsentscheidungen lösen Reaktionsmuster und Symptome, wie übermäßig aggressives Verhalten, Distanzlosigkeit, Depressionen, geringe Frustrationstoleranz, Minderwertigkeitsgefühle, aus. Je nach Intensität und Häufigkeit indirekter Gewalterlebnisse verfestigen sich diese Internalisierungs- und Externalisierungsdimensionen und wirken schädigend auf eine positive Entwicklung der Kinder. Kinder, die indirekte Gewalthandlungen erleben, sind in dieser Betrach-

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tung einem gleich hohen Stressfaktor ausgesetzt wie Kinder mit direkten Misshandlungsspuren (vgl. Appelt, Höllriegel & Logar, 2001  : 415). Im Kinderschutz kommt der Jugendwohlfahrt bei indirekter Gewalt eine entscheidende Rolle zu. Sie orientiert sich in ihrer Arbeit an den Prinzipien des Kinderschutzes und hat als soziale, familienrechtliche Einrichtung einen entscheidenden Einfluss auf die positive Mitgestaltung der Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern (vgl. Pantucek, 1997  : 16). Die Jugendwohlfahrt, wie allgemein die soziale Arbeit, verfügt über kein standardisiertes Hilfsangebot. In der sozialarbeiterischen Praxis können keine kausalen Zusammenhänge in der Art »Wenn ›das‹ passiert, muss ›diese oder jene‹ Intervention erfolgen« hergestellt werden. SozialarbeiterInnen müssen sich auf den Modus der Einzelfallarbeit einlassen. Klare inhaltliche Kriterien, was einen Fall kennzeichnet, fehlen. Nach Müller (2008  : 35) sind Fälle »Ereignisse oder Personen, die von dafür zuständig gehaltenen Personen/Instanzen/Berufsgruppen zu Fällen gemacht werden. Genau genommen sind deshalb nicht das Ereignis/die Person selbst […] Fall zu nennen, sondern ihre Thematisierung durch diejenigen, die den ›Fall‹ bearbeiten.« Eine solche Fallerzeugung, wie Fälle indirekter Gewalt von SozialarbeiterInnen in der Jugendwohlfahrt konstruiert werden, rückt damit ins Untersuchungsinteresse. Zur anschließenden Auseinandersetzung damit wird zunächst als theoretischer Rahmen der sozialkonstruktivistische Ansatz kurz erläutert. 2. Der Sozialkonstruktivismus – Theoretischer Rahmen der Studie Das vermeintlich Gefundene ist ein Erfundenes, dessen Erfinder sich des Aktes seiner Erfindung nicht bewusst ist, sondern sie als etwas von ihm Unabhängiges zu entdecken vermeint und zur Grundlage seines ›Wissens‹ und daher auch seines Handelns macht (Watzlawick, 2007). Naturwissenschaftliche Disziplinen erheben den Anspruch zu »beweisen«, wie die Welt »wirklich« ist. Durch Beobachtung von Phänomenen sind wir der Meinung, diese exakt beschreiben zu können. Werden dieselben Schlüsse dieser Beobachtung auch von anderen getroffen, halten wir diese Schlussfolgerungen für »wahr« und sprechen von einem »objektiven Wissen« über die Welt. Persönliche Meinungen, historische und kulturelle Kontexte werden an diesem Punkt nicht mehr miteinbezogen. Der Konstruktivismus hingegen geht davon aus, dass uns sogenannte »wahre Aussagen über die Welt« nicht zeigen, wie sie »wirklich« ist, sondern Wahrheitsansprüche immer auf dem Wissen der individuellen Person beruhen, die gerade beobachtet, Hypothesen aufstellt und diese an der Realität überprüft. An diesem Punkt findet der Sozialkonstruktivismus seinen Ursprung. Die objektiv geglaubte Wirklichkeit wird

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in konstruktivistischen Ansätzen als etwas von Menschen Konstruiertes verstanden. Der Sozialkonstruktivismus betont die gesellschaftlichen Diskurse, im Gegensatz zum Konstruktivismus, welcher seinen Ausgangspunkt im individuellen Diskurs findet. »Wirklichkeit« resultiert nach dem sozialkonstruktivistischen Ansatz aus sozialen Beziehungen und nicht aus individuellen Prozessen (vgl. Hasenclever, 2006  : 1). Der theoretische Bezugsrahmen des Sozialkonstruktivismus ist nicht bloß für die Fragestellung in einer Untersuchung relevant. Bereits die Auswahl der Methodik, der Interviewform, Stimuli, Begriffsdefinitionen und Ergebnisse wird mitkonstruiert. Konst­rukte des Forschers/der Forscherin werden von dessen/deren Erfahrungen, Einstellungen und gesellschaftlichen Kontexten geprägt. Begriffserklärungen, wie beispielsweise häusliche oder indirekte Gewalt, werden je nach Person oder InteressenvertreterInnen, wie Frauenund Kinderschutzbewegung, unterschiedlich konstruiert. Berger und Luckmann (1966) als bedeutende Vertreter des Sozialkonstruktivismus fragen danach, wie individuelle und subjektive Einflüsse Wirklichkeit konstruieren, sodass sie als objektiviert gelten. Wissen über die »objektive Welt« entsteht nach Berger und Luckmann durch sogenannte Internalisierungs- und Legitimationsprozesse. Diese beiden Phasen bilden den Übergang vom individuellen Wissen zu einem kollektiv objektiven. In der Internalisierungsphase werden von Menschen in ähnlichen Situationen dieselben Erfahrungen gesammelt und habitualisiert. Handlungsroutinen müssen nicht laufend neu entwickelt werden und ermöglichen so ein sicheres Verhalten. Institutio­ nalisierung bezeichnet schließlich den Prozess, in dem habitualisierte Handlungen von Menschen typisiert wurden. Institutionen sind auf Dauer gestellte Wissensvorräte, in denen all das Erworbene und Gelernte, wie die Sprache, der Gebrauch von Gegenständen usw., gespeichert sind (vgl. Brock, Junge, Diefenbach, Keller & Villányi, 2009  : 89). Typisierungen haben die Funktion, die Alltagswelt übersichtlicher und eindeutiger zu gestalten. Damit Institutionen letztendlich als selbstverständlich akzeptiert und »wirklich« erlebt werden, müssen sie in einem historischen Kontext gesehen werden. Durch Historizität wird die Sprache als etwas Naturgegebenes und nicht als Resultat einer gesellschaftlichen Übereinkunft verstanden. »Der gesamte gesellschaftliche Wissensvorrat aktualisiert sich für jedes individuelle Leben. Jedermann ist alles und weiß alles« (Berger & Luckmann, 2004  : 87). In der zweiten Phase im Legitimierungsprozess gewinnt der »Wissensvorrat« an Stabilität, wonach die »Wirklichkeit« von den Menschen selbstverständlich und ohne hinterfragt zu werden reproduziert wird. Institutionalisierte Objektivationen werden nicht mehr als Leistung subjektiver Einflüsse wahrgenommen. Gesellschaftliche Strukturen formen subjektive Identitäten, wobei wiederum subjektive Identitäten gesellschaftliche Strukturen bedingen. In dieser Phase erfolgt die subjektive Aneignung von Wirklichkeiten von Sozialisationsagenturen in sie vermittelnde Sozialisations-

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prozesse (vgl. Harmsen, 2004  : 135). Die Primärsozialisation wird von Menschen aus dem unmittelbaren Umfeld, wie beispielsweise den Eltern, vermittelt, ohne hinterfragt zu werden. Identität wird durch die Internalisierung der Rollen und Einstellungen der »Primärsozialisationsagenten« erlangt. In der sekundären Sozialisation löst sich das Kind aus dem familiären Umfeld und entdeckt Menschen mit anderer Identität und anderen Handlungsroutinen. Je nach Rollenübernahme werden unterschiedliche Wirklichkeiten konstruiert. Übertragen auf die sozialarbeiterische Praxis bedeutet dies, dass Sozialarbeiterinnen in der Rolle als Frauenhausmitarbeiterin ein und denselben »Fall« schon aufgrund des institutionellen Auftrages anders konstruieren als SozialarbeiterInnen in der Jugendwohlfahrt. Die Jugendwohlfahrt arbeitet nach gesellschaftlichen Werten und Normen, wie dem Recht auf entwicklungsfördernde Lebensbedingungen sowie dem Recht auf Schutz vor Gewaltübergriffen und Vernachlässigung. Der zentrale Auftrag der öffentlichen Jugendwohlfahrt ist, »die Familie bei der Erfüllung ihrer Aufgaben in der Pflege und Erziehung Minderjähriger zu beraten und zu unterstützen« (§ 2 Abs. 1 JWG und § 1 Abs. 2 StJWG). Dieser Auftrag ist eine von Institutionen und Professionen erzeugte Realität. Der jeweilige Auftrag der staatlichen und privaten Unterstützungseinrichtungen wird von öffentlichen, sozialpolitischen und gesellschaftlichen Diskursen konstruiert. In einer sozialkonstruktivistischen Auslegung entsteht demnach der Auftrag nicht aufgrund eines Problems, das es zu »lösen« gilt, sondern aufgrund eines für sich konstruierten Problems, für das sich bestimmte Professionen, Bewegungen, Einrichtungen usw. zuständig fühlen. Der Auftrag der Frauenhäuser unterscheidet sich durch den starken Einfluss des feministischen Ansatzes der Frauenbewegung deutlich vom Auftrag der Jugendwohlfahrtsbehörden. Gewalt gegen Frauen und Mädchen im familiären Kontext wird nicht als individuelles Problem, sondern als Ausdruck einer patriarchalen Gesellschaftsstruktur verstanden. Zuschreibungen von Opfer und Täter werden anders konstruiert und somit auch die Fälle. Nach den Prinzipien des Frauenschutzes werden Täter als männlich und Opfer als weiblich konstruiert. Im Jugendamt versucht man dagegen nach dem Prinzip des Kindesschutzes Männern nicht die Täterrolle zuzuschreiben, sondern sie als »Familienmitglied« in den Prozess zu integrieren. Das Credo lautet  : »Die Prinzipien des Kinderschutzes werde ich als Mitarbeiter/in der Jugendwohlfahrt nicht hinterfragen. Es ist klar, dass es zu meinem Auftrag zählt, Väter nicht zu verurteilen, sondern sie in den Prozess zu integrieren.« Aus diesen institutionsbedingt unterschiedlichen sozialen Konstruktionen entsteht ein anderer Auftrag und somit ein anderes Interventionsangebot. Berger und Luckmann meinen jedoch nicht, dass die Welt ausschließlich aus sozialen Konstrukten besteht. Sie machen lediglich auf die soziale Konstruktion von Wirklichkeit aufmerksam und rechtfertigen ihr Interesse an der Auseinandersetzung

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des Problems von »Wirklichkeit« und »Wissen« mit der gesellschaftlichen Relativität. Was für den einen in einer Gesellschaft, Kultur wirklich ist, ist es nicht gleichlaufend für den anderen. 3. Methodik zur Erhebung subjektiver und objektiver Konstruktionsleistungen und deren Einfluss auf die Fall- und Problemkonstruktion Als Forschungsmethode werden Tiefeninterviews durchgeführt, bei denen  – im Gegensatz zu anderen qualitativen Interviewformen – nicht die interviewten Personen selbst und deren Bedeutungszuweisung zum Erzählten im Vordergrund stehen. Aussagen der Interviewpersonen werden vielmehr auf eine theoretische Vorstellung hin untersucht, in diesem Fall den sozialkonstruktivistischen Ansatz (vgl. Lamnek, 2005  : 14). Unbewusste Bedeutungsstrukturen der interviewten Fachkräfte sollen nachvollzogen werden. Verdeckte und schwer verbalisierbare Motivationen, Zusammenhänge und Haltungen der SozialarbeiterInnen sollen aufgezeigt werden. Charakterisiert durch einen nichtstrukturierten Ablauf gleicht die Interviewsituation einer Alltagskommunikation und ermöglicht so den Zugang zum Erleben des/der Interviewten. Um für die SozialarbeiterInnen den Einstieg ins Interview und die sensible Thematik zu erleichtern sowie die ersten Gedanken der Interviewpersonen zu erfahren und auf ein einheitliches Schema hin zu fokussieren, werden vier Fälle als Stimuli konzipiert. Dazu werden Kategorien gebildet, um herauszufinden, ob sich Unterschiede in den Fallkonstruktionen und in den Interventionsansätzen erkennen lassen. Die Vorgabe von Stimuli hat nicht zur Folge, dass Ergebnisse »objektiver« werden. Auch ein Stimulus ist ein Konstrukt, das von InterviewerInnen subjektiv durch Fragestellungen, persönliche Wertehaltungen und bisherige Erfahrungen in Bezug auf den Forschungsgegenstand beeinflusst wird. Die für die Interviews verwendeten Stimuli lassen sich hinsichtlich der direkten und indirekten Gewalthandlungen gegenüber Kindern unterschieden. Die Fachkräfte werden gebeten, zwei der vier Fälle vor dem Interview durchzulesen, wobei immer ein Fall direkter Gewalt und ein Fall indirekter Gewalt gewählt werden. Stimulus 1 – direkte Gewalt/Fremdmeldung Nach einer lautstarken, wiederholten Auseinandersetzung in der Familie W. ruft die Nachbarin am nächsten Tag den Bereitschaftsdienst des Jugendamtes an. Sie befürchtet, dass bei den Auseinandersetzungen der Eltern nicht nur die Mutter misshandelt worden sei. Nachdem sich die Mutter aufgrund ständiger Streitigkeiten von ihrem Mann getrennt hatte und vor einigen Monaten wieder zurückgegangen war, gab es bisher keinen bekannten Vorfall mehr. Auch zuvor hatte es nie einen Verdacht gegeben, dass Herr W. sein Kind schlage.

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Marcel B. verständigt die Polizei, weil er Angst hat, sein Vater könnte der Mutter etwas antun. Als die Polizei eintrifft, sind nicht nur bei Frau B. deutlich blaue Flecken sichtbar, sondern auch bei Marcel. Er erzählt, dass er sich vor lauter Angst, dass der Papa die Mama umbringe, dazwischengestellt habe. Der Vater habe ihn daraufhin geschlagen und gewürgt. Herr B. ist bereits aus der Wohnung verschwunden. Die Polizei verhängt eine Wegweisung. Frau B. erzählt, dass es ungefähr einmal im Monat zu derartigen Streitigkeiten kommt. Marcel berichtet, dass er sich zum ersten Mal dazwischengestellt habe, weil er um das Leben seiner Mutter Angst gehabt habe. Er sei davor noch nie von seinem Vater geschlagen worden.

Stimulus 3 – indirekte Gewalt/Fremdmeldung Die Nachbarn melden sich bei Ihnen, weil sie sich um Sarah T. Sorgen machen. Sie hören öfters, wie Herr T. seine Frau beschimpft und ihr droht. Dies tut er auch öffentlich, etwa im Hof und im Supermarkt. Er sagt zum Beispiel zu ihr  : »Wenn du einen anderen Mann hast, dann weißt du, was passiert.« Die Nachbarin könne nicht ausschließen, dass es nicht zu körperlicher Gewalt gegen Frau T. komme.

Stimulus 4 – indirekte Gewalt/polizeiliche Wegweisung und Meldung Sie betreuen Familie S. seit mehreren Jahren. Immer wieder kommt es zu polizeilichen Wegweisungen, da der Mann seine Frau »verprügelt«. Letzte Nacht kam es zu erneuten Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten. In der polizeilichen Wegweisung steht, dass Herr S. alkoholisiert nach Hause gekommen sei und einen Streit mit seiner Frau angefangen habe. Diese sei aus Angst vor ihm ins Kinderzimmer zu ihrem Sohn geflüchtet. Herr S. sei ihr gefolgt und habe das Kinderzimmer zertrümmert. Er habe es sogar geschafft, das Hochbett aus der Wand zu reißen. Die Polizei fand die Mutter völlig aufgelöst, verweint und ängstlich in der Wohnung vor. Das Kind befand sich ebenso im selben psychischen Zustand. Der Mann lag noch wach im Ehebett, als die Polizei eintraf.

Insgesamt werden acht Interviews mit neun SozialarbeiterInnen (davon ein Interview mit zwei Personen) in den Jugendwohlfahrtsbehörden Graz und Graz-Umgebung durchgeführt. Bei der Auswahl der Fachkräfte werden insbesondere zwei Dimensionen relevant, das Geschlecht und die Dauer der Berufserfahrung in der Jugendwohlfahrt. So sind sowohl Frauen als auch Männer und sowohl Fachkräfte mit längerer als auch solche mit kürzerer Berufserfahrung in der Jugendwohlfahrt in den Interviews vertreten. Die Interviews werden anhand des inhaltsanalytischen Modells von Mayring (2008) analysiert. Das Kategoriensystem dient als zentrales Instrument, bei dem Kategorien konstruiert und begründet und folglich Ergebnisse vergleichbarer gemacht werden. Einerseits entstehen Kategorien aufgrund des theoretischen Hintergrunds und der Anlage der Interviews als Tiefeninterviews und unter Einbezug der genannten vier Stimuli bereits deduktiv. Andererseits werden für die Studie Kategorien induktiv aus den geführten Interviews gebildet und stützen sich somit nicht auf Theoriekonzepte, sondern auf das gesammelte Textmaterial. Die Analyse der geführten Interviews erfolgt auf drei Ebenen. Auf der ersten Ebene spielt die Fallkonstruktion der SozialarbeiterInnen die zentrale Rolle, dabei gilt es he-

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rauszufinden, wie Fälle von SozialarbeiterInnen in der Jugendwohlfahrt im Hinblick auf indirekte Gewalt konstruiert werden. Auf der zweiten Ebene rückt die Problemkonstruktion im Dialog mit der Familie und den daraus folgenden Interventionen in den Fokus der Fragestellung. In Anlehnung an Harmsen (2004) werden auf der dritten Ebene mithilfe von Dimensionen Rückschlüsse auf Einflüsse ausgehend von der eigenen Person  – subjektive Konstruktionsleistungen  – beziehungsweise von außen einwirkenden Faktoren – objektive Konstruktionsleistungen – gezogen. Diese Konst­ ruktionsleistungen auf zwei Ebenen beeinflussen die Fall- und Problemkonstruktion. Zu den »subjektiven« Konstruktionsleistungen/Dimensionen zählen Biografie, Persönlichkeit, berufliche Erfahrung, persönliche Wertehaltungen und Arbeitsbeziehungen. Als »objektiv« gelten Konstruktionsleistungen/Dimensionen wie institutionelle Wertehaltung, Ausbildung, institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen. Der sozialkonstruktivistische Ansatz zeigt, dass auch objektive Dimensionen erst durch soziale Konstruktion objektiviert werden und somit kollektive Gültigkeit gewinnen. Institutionelle Rahmenbedingungen entstehen aufgrund gesetzlicher Aufträge wie denen des Kinderschutzes. Als »objektiv« gelten sie, da mehrere Personen darunter dasselbe verstehen und persönliche Meinungen sowie kulturelle und gesellschaftliche Kontexte unberücksichtigt bleiben. Das Vieraugenprinzip fällt beispielsweise in diese Dimension. Die Entscheidung einer Kindeswohlgefährdung wird »objektiver« wahrgenommen, da das Urteil nicht alleine auf der »persönlichen Einschätzung«, sondern auf der Entscheidung eines professionellen Teams beruht und einem klaren Ablauf und gesetzlichen Grundlagen unterliegt. SozialarbeiterInnen schreiben in der Fallund Problemkonstruktion den subjektiven und objektiven Konstruktionsleistungen dieselbe Wichtigkeit zu. Sie betonen unter anderem sowohl den gesetzlichen und institutionellen Auftrag (objektive Dimension) in ihrer Arbeit als auch den Einfluss von Biografie oder persönliche Alltagskompetenz (subjektive Dimensionen) und stellen beide Dimensionen in deutlichen Zusammenhang mit Professionalität. »Also, es bringt jeder sein Handwerkzeug und seine Erfahrungen in unterschiedlicher Art mit. […] die dann die Arbeit sicherlich beeinflussen. Das ist, denke ich, in der Jugendwohlfahrt oder in den Jugendämtern wahrscheinlich noch stärker als in anderen Bereichen« (vgl. INT_5w1, A 61–65). 4. Biografie und Erfahrungen der Fachkräfte als konstruktionsleitende Dimensionen Biografie, persönliche Erfahrungen und Persönlichkeit stellen in der Sozialen Arbeit eine zentrale Dimension in der Entstehung einer professionellen Identität dar (vgl.

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Harmsen, 2004  : S. 323). Lebenserfahrung und Persönlichkeit werden in Zusammenhang mit Professionalität und daher als wichtige »Handlungskompetenz« verstanden. Diese subjektive Konstruktionsleistung nimmt in der Fall- und Problemkonstruktion einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert ein. »Und sonst auch, der persönliche Bereich spielt eine große Rolle. Wie du an etwas herangehst. Aber du hast trotzdem immer deine fachliche Ausbildung im Hintergrund. Dass du sagst  : ›Ok, das sind die Punkte – auf das muss ich achten.‹ Und du passt dann deinen Stil, das, was du persönlich mitbringst oder wo du weißt, da bin ich besonders gut in diese Richtung zu arbeiten, an. Das bringst du dann in das Gespräch ein« (vgl. INT_3m1, A 66). Persönliche Stärken, wie Empathie oder ruhiges Wesen, werden von den SozialarbeiterInnen als wichtige Dimension vor allem auf der zweiten Ebene der Problemkonstruktion und Intervention angesehen. Es ist ihnen wichtig, die Problemlagen der Familien nicht nur zu erkennen, sondern vielmehr sie zu verstehen. Nach Harmsen (2004  : 210 ff.) kommt der Herkunftsfamilie in dieser Dimension eine entscheidende Bedeutung zu. Das in der Sozialisation Erlernte, wie Konfliktlösung oder Rollenmodelle, fließt bewusst oder unbewusst in die Konstruktion mit ein. Auch eine positive familiäre Biografie soll in ihren Auswirkungen auf die Persönlichkeit und individuelle Werthaltungen nicht unberücksichtigt bleiben. »… das Wissen um eigene familiäre Hintergründe, Verstrickungen, Übertragungen [ist] ein wesentlicher Bestandteil der Professionalität« (Harmsen, 2004  : 212). So nehmen zum Beispiel aktuelle Lebensereignisse, wie die eigene neue Elternschaft und deren Effekte in der persönlichen Lebensführung, Einfluss auf die Fall- und Problemkonstruktion der ProfessionistInnen. Persönlich wichtige Erfahrungen werden als Schärfung in der Arbeit wahrgenommen. Fragen wie »Was tut dem eigenen Kind gut  ? Was mutet man seinem eigenen Kind zu, und wo sind hier die Grenzen  ?« (INT_4m3, A87) lassen auftauchende Fragen und Problemstellungen unter einem anderen Gesichtspunkt erscheinen und fließen in die Konstruktion mit ein. Den interviewten SozialarbeiterInnen ist der Einfluss des persönlichen und familiären Hintergrunds bezogen auf die Fall- und Problemkonstruktion bewusst. Durch Methoden der Reflexion – zum Beispiel Fallbesprechungen im Team – oder Supervision sollen SozialarbeiterInnen viel Potenzial subjektiver Dimensionen in der Fall- und Problemkonstruktion erkennen und diese gut integrieren können. »Man muss ja gewisse Zeit und gewisse Erfahrungen durchleben, dass man Spreu von Weizen trennt. Beziehungsweise das Wichtige vom Unwichtigen trennt. Aber anfangs war mir alles ganz wichtig, und wenn nicht gleich, dann jetzt, und wenn nicht jetzt, dann gestern schon« (vgl. INT_1w2, A63). Fälle werden in der Zeit des beruflichen Einstieges oftmals als besonders dringlich empfunden. Berufliche Erfahrungen ermöglichen es den SozialarbeiterInnen im Laufe

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der Zeit zu erkennen, dass nicht jede Meldung auf einen akuten Fall hindeutet. Prioritäten können mit Zunahme beruflicher Erfahrungen leichter gesetzt werden. Die Dimension der beruflichen Erfahrung steht für die erfahrenen SozialarbeiterInnen in der Konstruktion über erlerntem Wissen und Methoden in der Ausbildung. Bei Gefahr in Verzug nehmen objektive Dimensionen, wie die gesetzlichen und institutionellen Rahmenbedingungen, einen höheren Stellenwert ein. Die Dimension der beruflichen Erfahrung kommt natürlich auch bei der Konstruktion eines akuten Falles mit sofortigem Interventionsbedarf zum Tragen. Die Zunahme an beruflichen Erfahrungen geht für die SozialarbeiterInnen mit verstärkter Sicherheit im eigenen Handeln und für die zu treffenden bzw. getroffenen Entscheidungen einher. Fälle werden als »professioneller« konstruiert, je mehr berufliche Erfahrungen in einem Bereich – zum Beispiel der Krisenintervention – gesammelt wurden. »Professioneller« meint dabei unter anderem, sich nicht in die augenblickliche Dynamik hineinziehen zu lassen. 5. Organisatorische, institutionelle und gesetzliche Bezüge sowie der öffentliche Diskurs als Dimensionen in der Fallkonstruktion Soziale Bewegungen, wie die Frauen- bzw. Kinderschutzbewegung, beeinflussen die gesellschaftliche Konstruktion sozialer Probleme mit. Dies hat zur Folge, dass über die öffentliche Wahrnehmung und ein gesellschaftspolitisches Umdenken Leitbilder der öffentlichen und privaten Institutionen entstehen und/oder verändert werden. Die Frauenhauseinrichtungen beispielsweise bezogen Kinder von betroffenen Frauen recht spät in ihre Zuständigkeit mit ein. Die Jugendwohlfahrt verstand ihren Auftrag ausschließlich in der Intervention bei Fällen, in denen Kindern direkt von häuslicher Gewalt betroffen waren (vgl. Lamnek, 2006  : 45 f.). Die Leitbilder dieser Einrichtungen orientieren sich an den »aktuellen« Konstruktionen von Problemlagen und Opfertypen in einer Gesellschaft. Wie Fälle von den SozialarbeiterInnen konstruiert werden, ist stark von den institutionellen Aufträgen und Werten einer Einrichtung abhängig. Zu betonen ist hierbei, dass institutionelle Grundhaltungen für die SozialarbeiterInnen mit den persönlichen Werten nicht in Widerspruch stehen dürfen, und oftmals sind diese identisch. Kindeswohlsicherung als institutioneller Wert in der Jugendwohlfahrt wird auch als persönlich wichtiger Wert verstanden. Nicht erst in der direkten beruflichen Tätigkeit spielen persönliche Wertehaltungen eine Rolle, sondern bereits bei der Berufsauswahl bzw. bei der Schwerpunktsetzung der Ausbildung. Die wertbezogenen individuellen Konstruktionsleistungen resultieren häufig aus der Biografie. Der persönlich wichtige Wert der »Kinderrechte« zum Beispiel wird von SozialarbeiterInnen aufgrund ihrer Erziehung bereits in den Anfängen der Kinderschutzbewegung

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als wichtiger Wert erachtet, auch wenn zur damaligen Zeit die Handlungsmöglichkeiten eingeschränkter waren. Mit der Enttabuisierung häuslicher Gewalt und der geänderten Gesetzeslage (»Züchtigungsverbot«) Ende der 1970er-Jahre dienten die eigenen Werte als Argumentationsbasis und standen nicht mehr im Widerspruch mit dem gesetzlichen Auftrag. SozialarbeiterInnen wissen um die Bedeutung persönlicher Wertehaltungen und deren Einfluss auf die Fallkonstruktion. »Natürlich, jeder von uns […] hat eine Wertehaltung, und die nimmt er mit in den Beruf« (INT_2w3, A 137). Betont wird jedoch, dass persönliche Werte nicht starr sind, sondern bei Bedarf auch infrage gestellt oder revidiert werden können. »[…] dass du dann sehr schnell im Kontakt mit Menschen deine Wertevorstellungen auch veränderst auch nach deren Lebenswelt. […] Je nachdem vom deinem persönlichen Standpunkt« (vgl. INT_3m1, A 76). Fachwissen aus den unterschiedlichen Disziplinen, wie Rechtswissenschaften, Medizin oder Psychologie, beeinflusst die Fallkonstruktion und wird von den Fachkräften in den Interviews als wichtige objektive Konstruktionsleistung wahrgenommen. Das Wissen um das Jugendwohlfahrtsgesetz, über Krankheitsbilder oder Religionen und Traditionen wird als Notwendigkeit in der Fall- und Problemkonstruktion erachtet. »[…] Religion sozusagen in der Familie eine Rolle spielt, dann ist es wichtig [da­ rüber etwas] zu wissen, weil sonst kann ich es nicht verstehen. […] Verstehen heißt ja nicht, dass ich das jetzt toleriere, aber ich muss es verstehen, sodass es für mich nachvollziehbar ist. Und da muss ich auch gewisse Kenntnisse der Religion dann haben, wenn das eine Rolle spielt« (vgl. INT_4m3, A 95). Das für die Fall- und Problemkonstruktion verfügbare Wissen resultiert für berufserfahrene SozialarbeiterInnen vor allem aus ihrer beruflichen Tätigkeit und wird nur selten in Zusammenhang mit ihrer Ausbildung erwähnt. BerufsanfängerInnen hingegen führen Wissen, aber auch Kompetenzen – wie Gesprächsführung – direkt auf ihre Ausbildung zurück. SozialarbeiterInnen sind gefordert, Beziehungen und Kommunikationen mit KlientInnen zu gestalten. Im Mittelpunkt der Problemkonstruktion steht für die SozialarbeiterInnen eine gut funktionierende Arbeitsbeziehung, die über den Aufbau eines Vertrauens- und Beziehungsverhältnisses erreicht werden soll. Die Qualität der Arbeitsbeziehung beeinflusst die Fall- und Problemkonstruktion. Inwieweit gibt es bereits ein Vertrauensverhältnis  ? Können Probleme schon gemeinsam im Dialog mit der Familie konstruiert werden  ? Diese Dimension wird in den Interviews nicht direkt angesprochen. Sie kommt im Hinblick auf die Kooperation und Schaffung eines Problembewusstseins bei den Eltern zum Tragen. Je mehr Vertrauen die Familie zu den SozialarbeiterInnen hat, desto besser können aktuelle Probleme thematisiert werden.

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Die objektive Dimension institutionelle und gesetzliche Rahmenbedingungen wird vor allem von BerufsanfängerInnen als »Sicherheitsnetz« wahrgenommen. Als »Sicherheitsnetz« werden unter anderem Maßnahmen, wie Sozialbetreuung, Erziehungshilfe oder sozialpädagogische Familienbetreuung, verstanden. Sie dienen nicht nur als Hilfestellung für die Familie, sondern gleichzeitig als »Ausgleich« fehlender beruflicher Erfahrungen. Durch institutionelle Rahmenbedingungen, wie das Vieraugenprinzip und das Abklärungsteam (Fachteam), soll eine gewisse »Objektivität« in der Fallkonstruktion geschaffen und zugleich die Einflussnahme subjektiver Konstruktionsleistungen minimiert werden. Die entlastende, weil »objektivierende« Erfahrung mit dem Arbeitsprinzip, das von BerufsanfängerInnen als Entlastung erlebt wird, dürfte sich mit der Berufserfahrung offenbar ändern. So äußert sich eine berufserfahrenere Sozialarbeiterin kritisch  : »Ja, aber ich bin im Sattel oben nicht sicherer, wenn ich zu zweit sitze« (INT_8w3, A 35). Mit der Berufserfahrung wächst die Betonung des Austausches mit KollegInnen als Reflexionsmöglichkeit. Für sie ist das Fachteam der Ort, an dem Beschlüsse gefasst werden. Institutionelle und gesetzliche Grundlagen, wie das Jugendwohlfahrtsgesetz, stellen für sie einen Rahmen dar, in dem jede/r Einzelne »sein eigenes Süppchen kocht und jeder so seine eigene Methode hat, wie er mit gewissen Dingen umgeht« (INT_1w2, A 77). Ein solcher Rahmen wird in allen Interviews als essenziell in der Fallkonstruktion verstanden. In diesen Rahmen fallen für die Fachkräfte auch Fort- und Weiterbildungen. Sie werden zu persönlichen Erfahrungen gezählt, die zur Erweiterung objektiver Konstruktionsleistungen in der Fall- und Problemkonstruktion führen. Öffentliche Diskurse prägen die Entstehung und Gestaltung öffentlicher und privater Hilfseinrichtungen in einer Gesellschaft. Institutioneller Auftrag und Leitbilder werden von Veränderungen des öffentlichen, gesellschaftlichen und politischen Bewusstseins geprägt. Der aktuelle öffentliche Diskurs wirkt nicht nur auf die Entstehung und Gestaltung der Hilfseinrichtungen, sondern beeinflusst resultierend daraus auch die Fall- und Problemkonstruktion der SozialarbeiterInnen. In den letzten Jahren sieht sich die Jugendwohlfahrt zunehmend mit medialer Kritik konfrontiert. Von SozialarbeiterInnen wird diese mediale Auseinandersetzung als erhöhter Druck wahrgenommen. Objektive Konstruktionsleistungen gewinnen so zur »Absicherung« für einige SozialarbeiterInnen in der Fall- und Problemkonstruktion an Bedeutung. 6. Fall- und Problemkonstruktion in der Jugendwohlfahrt Welchen Einfluss nehmen die beschriebenen subjektiven und objektiven Dimensionen auf die Fall- und Problemkonstruktion nun im Konkreten  ? Zur Erhebung und

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Diskussion dieser Frage werden Kategorien der Fall- und Problemkonstruktion induktiv aus den geführten Interviews wie auch deduktiv unter Einbezug des theoretischen Hintergrundes und der Stimuli gebildet. Die Abbildung 1 fasst das entwickelte Raster zur Kategorisierung der Fallkonstruktionen zusammen.

 

In der Analyse zieht sich eine zweidimensionale Kategorisierung mit je zwei Ausformungen durch. Fälle werden von den SozialarbeiterInnen auf die Beurteilung von Kindeswohlgefährdung hin als akute versus nichtakute bzw. chronifizierte versus nichtchronifizierte Fälle konstruiert. Hinzu kommen drei Dimensionen, die für diesen Typ der Fallkategorisierung entscheidend sind, die jede für sich wiederum in zwei Ausformungen dichotomisiert werden kann. Bei der Beurteilung des Kindeswohles müssen nach § 178a ABGB die »Persönlichkeit des Kindes und seine Bedürfnisse, besonders seine Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten, sowie die Lebensverhältnisse der Eltern« berücksichtigt werden. Kindeswohl ist der Dreh- und Angelpunkt von Entscheidungen und Interventionen der SozialarbeiterInnen in der Jugendwohlfahrt. Dieser Begriff ist jedoch stark interpretationsabhängig – ist doch Kindeswohl ebenso eine normabhängige Konstruktion. 6.1 Akute oder nichtakute Fälle, chronifizierte oder nichtchronifizierte Fälle

Am deutlichsten wird Kindeswohlgefährdung über direkte schädigende Handlungen mit sichtbaren Spuren in akuten Krisen definiert. SozialarbeiterInnen deklarieren auch andere Umstände als Kindeswohlgefährdung, jedoch gelten körperliche und sichtbare

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Verletzungen als klar definiertes Kriterium einer Gefährdung des Kindes. Akute Fälle werden von den SozialarbeiterInnen als Gefahr in Verzug beschrieben, die eine sofortige Intervention zum Schutze des Kindes erforderlich machen und bei denen gesetzliche Rahmenbedingungen eindeutig anwendbar sind. Im Stimulus 2 verständigt der Sohn der Familie die Polizei, aus Angst, der Vater könnte die Mutter töten. Beim Dazwischengehen wird der Vater auch gegenüber dem Buben gewalttätig, schlägt und würgt ihn. Dieser Fall in Stimulus 2 wird von den SozialarbeiterInnen als akuter Fall konstruiert. Diese Konstruktion resultiert aus den Anzeichen direkter Schläge des Vaters gegenüber dem Kind und nicht aus den Körperverletzungen und Bedrohungen des Vaters gegenüber der Mutter. Fälle momentaner schwieriger Lebensumstände der Familie und schwerer Vernachlässigung werden von den SozialarbeiterInnen ebenfalls als akut konstruiert. »Wenn sie nichts mehr zum Essen haben, nichts mehr zum Heizen haben […], ich mein, wann Gefahr in Verzug ist, ist ziemlich klar. Es ist auch klar, wenn ein Kind kommt und sagt, es will nicht mehr heim. Ich mein, das ist ganz klar. Es gibt Situationen, wo einfach nichts mehr geht. Ja, aber das ist, wenn Eltern in Haft gehen […], dann sind Kinder unterzubringen« (INT_8w3, A 21). Für SozialarbeiterInnen trägt nicht nur der »Vorfall« der körperlichen Misshandlung oder schweren Vernachlässigung zur Konstruktion eines akuten Falles bei. Da­ raus resultierende Konsequenzen einerseits – wie die Wegweisung des Mannes aus der gemeinsamen Wohnung oder die Trennung der Frau von ihrem Mann – wirken sich auf die Fallkonstruktion aus. Andererseits wird der Fokus auf den bisherigen Fallverlauf gerichtet. Wird die Familie bereits längere Zeit betreut, und kommt es zu einer neuerlichen Meldung, wird diese im Gegensatz zu einer erstmaligen Meldung schneller als akut eingeschätzt. In akuten Fällen mit eindeutigen und sichtbaren Misshandlungsspuren müssen bei der Fallkonstruktion klare Kriterien zur Einschätzung des Kindeswohls erfüllt sein. Aus diesem Grunde rücken subjektive Dimensionen – wie die berufliche Erfahrung – stärker in den Hintergrund und objektive Dimensionen in den Fokus der Fallkonstruktion. Bei der Konstruktion eines akuten Falles werden die gesetzlichen Bestimmungen als Rahmen, in dem Entscheidungen über Kindeswohlgefährdung getroffen werden, herangezogen. In ihrer Fachpraxis sind SozialarbeiterInnen jedoch selten mit sichtbaren und eindeutigen Misshandlungsspuren konfrontiert. Dies erschwert die Konstruktion eines Falles als akuten Fall, der Fall wird mit Unsicherheiten und Ambiguitäten belegt, da auf die objektiven Dimension, etwa die gesetzlichen Bestimmungen, kaum zurückgegriffen werden kann. Die SozialarbeiterInnen konstruieren Fälle mehrfach als chronifiziert. Begründet ist dies darin, dass Kinder und Jugendliche selten eindeutige Misshandlungs- bzw. Vernachlässigungsspuren aufweisen, die es ermöglichen, den Fall als akute Kindeswohlgefährdung zu konstruieren. Kennzeichnend für chronifizierte Fälle sind für die

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interviewten Fachkräfte vorrangig der erschwerte Vertrauens- und Beziehungsaufbau zur Familie und langjährige Veränderungsprozesse mit mäßigem Interventionsbedarf. Auch sind Verhaltensmuster und Lösungsstrategien bereits so verfestigt, dass nach Einschätzung der Fachkräfte Problemeinsicht und Veränderungsbereitschaft vonseiten der Familie mehr Zeit benötigten. Bei chronifizierten Fällen wird die Kooperationsbereitschaft der Familien in den Vordergrund gestellt. Familien, in denen es zu indirekten Gewalthandlungen kommt, weisen vielfach diese Merkmale auf. SozialarbeiterInnen sehen sich in ihrer Arbeit damit konfrontiert, dass sie in der Regel spät auf die familiäre Situation aufmerksam (gemacht) werden. Vor allem indirekte Gewalthandlungen werden vom familiären und nachbarlichen Umfeld sehr selten gemeldet. Ein Grund hierfür könnte sein, dass die Familie nach wie vor als privater und unantastbarer Ort verstanden wird und diese Privatheit vorrangig gegenüber dem Schutzbedarf ist. Das Problem der Chronifizierung macht sich für die InterviewpartnerInnen gerade bei Stimuli 4 deutlich bemerkbar. »Da ist sozusagen die Chronizität der Problematik, dass das offensichtlich jahrelang die Auseinandersetzungen gibt. […], dass das Kind relativ stark einbezogen ist in die Partnerschaftsgewalt. […], dass also die Mutter ins Kinderzimmer geht und er [der Vater] sozusagen dort weitermacht und hier nicht haltmacht. Ja, dass beide, ja, relativ wenig Rücksicht nehmen auf das Kind« (INT_4m3, A 55). Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei chronifizierten Fällen nicht nur Eltern in der familiären Dynamik stärker gefangen sind als bei akuten Fällen, sondern auch die Kinder. Aus Sicht der SozialarbeiterInnen erschweren Loyalitätskonflikte der Kinder gegenüber ihren Eltern, Rollenumkehr und Tabuisierung sofortige Handlungsmöglichkeiten seitens der Jugendwohlfahrt. Bei der Konstruktion eines chronifizierten Falles der Kindeswohlgefährdung wird von den SozialarbeiterInnen der subjektiven Konstruktionsleistung  – Berufserfahrung  – ein hoher Stellenwert eingeräumt. Für langjährig berufstätige SozialarbeiterInnen ist Berufserfahrung ein ausschlaggebender Faktor für die unterschiedliche Definition und Sichtweise von Kindeswohlgefährdung im Laufe der Zeit. »Ich sehe es bei den Vernachlässigungsproblematiken deshalb deutlicher, weil man da einfach die Erfahrung hat. Bei den Vernachlässigungsfamilien oder bei den Vernachlässigungssymptomen, wenn du wenig Berufserfahrung hast, dann siehst du den Augenblick. Du deutest auch relativ leicht die Art der Beziehung, die da ist, als positive Beziehung. Oder man glaubt, weil eine Beziehung da ist oder weil das Kind eine Beziehung zu seinen Eltern hat, dann ist das was Positives. Aber sozusagen die Dauer und die Chronizität, wie irreversibel die Sachen sind, sieht man erst über einen längeren Zeitraum […] Das hat schon eher durch Berufserfahrung den Blick geschärft« (vgl. INT_4m3, A 81).

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Erkennbar wird hier, dass subjektive Dimensionen die Fallkonstruktion gerade bei chronifizierten Fällen offenbar stärker beeinflussen. BerufsanfängerInnen können sich der Dimension  – berufliche Erfahrung  – noch nicht bedienen. Sie greifen deshalb auch bei chronifizierten Fällen auf objektive Konstruktionsleistungen – wie die Prozessstandards des Landes Steiermark und die Ausbildung – zurück. Abklärungsteams – institutionelle Rahmenbedingungen – werden von ihnen in den Interviews in Zusammenhang mit Stimuli 3 und 4 erwähnt. 6.2 Direkte oder indirekte Gewalthandlungen

SozialarbeiterInnen konstruieren direkte Gewalthandlungen vorrangig als Fälle körperlicher Gewalt mit sichtbaren Misshandlungsspuren und demnach als akut. Bei direkten Gewalthandlungen greifen SozialarbeiterInnen auf objektive Konstruktionsleistungen zurück und begründen darin die sofortige Setzung einer Interventionsmaßnahme, im Notfall auch ohne Einwilligung der Eltern. Stimuli 1 und 2 beschreiben direkte Gewalthandlungen gegen Kinder. Diese werden mehrheitlich als akute Fälle konstruiert, vor allem, wenn Misshandlungsspuren sichtbar und nachweisbar sind. Fälle indirekter Gewalt werden häufig als chronifiziert konstruiert, da die Kooperations- und Veränderungsbereitschaft der Eltern im Mittelpunkt der Interventionen steht. Einerseits erfordert dies von den Eltern, Unterstützungsmöglichkeiten für ihr Kind zuzulassen. Andererseits kann dies nur erfolgversprechend sein, wenn sie auch selbst an ihren Beziehungsproblemen arbeiten. Dies bedeutet nicht, dass bei direkten Gewalthandlungen und sichtbaren Misshandlungsspuren die Veränderungsbereitschaft nicht notwendig wäre. Jedoch sehen SozialarbeiterInnen in diesen Fällen die Möglichkeit, Interventionen außerhalb der Familie zu setzen, im Notfall auch ohne Einwilligung der Eltern. Sind bei Kindern im Zusammenhang mit indirekten Gewalterlebnissen bereits Verhaltensauffälligkeiten auf der Externalisierungsebene zu erkennen, werden die dem Verhalten vorausgegangenen Gewaltvorfälle als akut rekonstruiert. Bei indirekter Gewalt steht neben der Kooperationsbereitschaft der Eltern auch die Symptomatik der Kinder im Mittelpunkt der Einschätzung von Kindeswohlgefährdung. »Wenn wir wissen, dass es dort so viel Gewalt gibt, dass der 14-Jährige […] schon ein Messer einsteckt, um sich und seine Mutter zu schützen« (vgl. INT_2w3, A 22). Es muss bereits eine negative Entwicklung zu erkennen sein, um aufgrund des gesetzlichen Auftrages mit dem Kinderschutz argumentieren und eingreifen zu können. Bei indirekter Gewalt rücken die Auswirkungen auf die gesunde Entwicklung des Kindes mehr in den Mittelpunkt der Fallkonstruktion als bei direkten Gewalthandlungen.

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»Also, wenn wir sehen, das Kind entwickelt sich nicht gut. Im Zusammenhang mit Meldungen, dass dort ein Mann ist, der die Frau unter Druck setzt. […] wenn sich das Kind parallel dazu nicht gut entwickelt, wenn man das sehen würde und wenn das Kind in einem Kindergarten ist und man dort sieht, das Kind entwickelt sich nicht gut. Dann muss man mit der Familie darüber reden – über die Fakten« (INT_2w3, A 69). Bei direkter Gewalt reicht oft die Tatsache der Gewalttat aus. Symptomatik der Kinder für die Konstruktion eines akuten Falles ist erst als zweiter Gesichtspunkt von Bedeutung. Stimulus 3 beschreibt ausschließlich einen Fall indirekter Gewalt, wird jedoch von den SozialarbeiterInnen unterschiedlich konstruiert. Auf der einen Seite geschieht dies als akuter Fall und unter Heranziehung einer objektiven Dimension, in Form des Vieraugenprinzips – organisatorische Rahmenbedingungen. Auf der anderen Seite wird nicht von Gefahr in Verzug gesprochen und versucht, den Zugang zur Familie langsamer zu gestalten. Dabei wird stärker auf subjektive Dimensionen – wie persönliche Wertehaltungen und Berufserfahrung  – zurückgegriffen. Auch hier wird von den berufserfahrenen SozialarbeiterInnen wieder die fehlende berufliche Erfahrung besonders in den Anfängen der Jugendwohlfahrtstätigkeit als Grund für die unterschiedliche Herangehensweise in der Fallkonstruktion als entscheidendes Kriterium genannt. Die Fachkräfte nehmen bei direkten Gewaltvorfällen verstärkt Bezug auf objektive Dimensionen – gesetzliche und institutionelle Grundlagen –, da diese für sie eindeutig anwendbar sind. Der objektiven Dimension – institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen – kommt bei indirekten Gewalthandlungen eine geringe Bedeutung in der Fallkonstruktion zu, da klare Kriterien wie sichtbare Misshandlungsspuren für einen Gerichtsantrag fehlen. »Wie gesagt, so lang […] das Wohl des Kindes nicht akut gefährdet ist, […] kann ich ja nicht mit der Polizei oder mit Gerichtsantrag [kommen]. Da hab ich ja viel zu wenig Argumente für einen Gerichtsantrag, nicht« (INT_1w2, A 38)  ? Bei indirekter Gewalt wird die persönliche Sensibilität – persönliche Dimension – für die Situation der Familie betont, da eine Basis für eine Problemkonstruktion im Dialog mit der Familie geschaffen werden muss. Der Hauptausgangspunkt liegt auf der Gestaltung von Arbeitsbeziehungen, damit Eltern sich auf eine Kooperation mit der Jugendwohlfahrt einlassen können. Zudem wird in der Fallkonstruktion die gesellschaftliche und politische Konstruktion sozialer Probleme als wichtige Dimension gezählt. Die gesellschaftliche Konstruktion eines Problems beeinflusst die Bewusstseinsbildung und das Problemverständnis der Bevölkerung. Die öffentliche Thematisierung sozialer Probleme wirkt sich wiederum auf die rechtlichen Rahmenbedingungen und so auch auf die Fallkonstruktion und den Zugang zur Familie aus.

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»Und da hat sich sicher auch die Einstellung der Bevölkerung geändert, weil früher hat jeder gesagt  : ›Was wollen Sie, was regen Sie sich wegen einer Watschn auf  ?‹ Das traut sich heute keiner mehr sagen. Also, da hat sich wirklich etwas getan« (vgl. INT_7w3, A 45). »Ich habe sicher früher weniger Handlungsmöglichkeiten gehabt. Aber da konnte ich dann nur an die Einsicht appellieren. Heute kann ich das natürlich aufgrund gesetzlicher Vorlage noch viel klarer auf den Tisch bringen. Aber diskutiert habe ich das auch schon, als ich jung war, immer« (vgl. INT_7w3, A 45). Diese Zitate spiegeln die Situation in den 1970er-Jahren wider. Direkte Gewalt gegen Kinder wurde als legitimes Erziehungsmittel in der Gesellschaft geduldet, und die rechtlichen Grundlagen für eine Intervention waren noch nicht gegeben. Für Berger und Luckmann spielt die Historizität in der Konstruktion »objektiver Wirklichkeit« eine Rolle. Aus diesem Grunde lässt sich ein Unterschied zwischen BerufsanfängerInnen und berufserfahrenen SozialarbeiterInnen festmachen. Für jüngere Personen wird das Züchtigungsverbot als etwas »Naturgegebenes« verstanden. Sie haben den wichtigen institutionalisierten Wert bereits verinnerlicht und in Folge als selbstverständlich und »wirklich« verstanden. Im Gegensatz dazu waren die SozialarbeiterInnen mit mehr als 30-jähriger Berufserfahrung Teil der Bewusstseinsbildung in den 1970erJahren. Heutzutage wird versucht, indirekte Gewalt nicht als bloßes Miterleben partnerschaftlicher Gewalt zu verstehen, sondern ein Problembewusstsein in der Bevölkerung zu schaffen. SozialarbeiterInnen wissen aufgrund zahlreicher Untersuchungen, dass eine gesunde Entwicklung der Kinder gefährdet ist, wenn sie Streitigkeiten und Gewalttätigkeiten der Eltern (mit)erleben müssen. »Wenn die Gewalt nur, unter Anführungszeichen, zwischen den Partnern ist und das Kind einfach immer zuschauen muss, ist das eine indirekte Misshandlung, weil man einfach aus der Forschung weiß, dass es ungeheuer traumatisierend ist, wenn Kinder das mit anschauen müssen. Und man muss sich dazu etwas überlegen. Aber das heißt nicht, dass wir dort gleich hineinfahren und die Kinder unterbringen, was wir bei körperlicher Gewalt sofort schützen müssen und bei indirekter Gewalt einfach sehr zäh ist, und, wie wir alle wissen, es lange braucht und ein mühsamer Prozess ist, bis wir da helfen können, aber was nicht heißt, dass wir Kinder sofort unterbringen« (INT_2w3, A 122). Eindeutige »Beweise«, wie sichtbare körperliche Misshandlungsspuren, fehlen für die Begründung einer Fremdunterbringung. Hier stehen SozialarbeiterInnen mit dem Wissen um die Auswirkungen und den gesetzlichen und institutionellen Rahmenbedingungen in starker Ambivalenz. Eindeutige Fallkonstruktionen sind erschwert.

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138 6.3 Die »Qualität« einer Meldung – Fremdmeldung oder polizeiliche Meldung

Die Konstruktion eines Falles beginnt nicht erst bei den SozialarbeiterInnen, sondern bereits im Vorfeld. Meldungen werden grundsätzlich unterschieden zwischen FremdmelderInnen und polizeilichen Meldungen (Wegweisungen) und von den SozialarbeiterInnen als »Brücke« zur Kontaktaufnahme mit den Familien beschrieben. Familien wird der Zugang unter anderem aufgrund des hochschwelligen Zuganges zu den Jugendwohlfahrtsbehörden erschwert, sodass sie nur selten aktiv Hilfe ihrerseits aufsuchen. Aus diesem Grund ist die Zusammenarbeit mit den MelderInnen für die Sozialarbeit von enormer Bedeutung, steht am Anfang jedes Prozesses und nimmt Einfluss auf die weitere Vorgehensweise. Fremdmeldungen und Meldungen seitens der Polizei fließen auf unterschiedliche Weise in die Fallkonstruktion ein. Als FremdmelderInnen werden Personen aus dem Umfeld der Familien, wie Verwandte, NachbarInnen oder LehrerInnen bezeichnet. Ihre Meldung wird zunächst auf ihre Qualität geprüft. Im Gegensatz zu einer polizeilichen Meldung kommt bei Fremdmeldungen der Klärung im Vorfeld eine besondere Bedeutung zu. Die interviewten SozialarbeiterInnen stellen sich zuerst die Frage nach der Motivation der MelderInnen. Einerseits muss geklärt werden, ob die gemeldete Gewalthandlung tatsächlich geschehen ist oder sich die MelderInnen nur »belästigt fühlen«. Andererseits wird auf das Verhältnis der meldenden Person und der gemeldeten Familie geachtet. Auch in weiterer Folge nehmen FremdmelderInnen einen wichtigen Stellenwert ein. Sie werden, wenn möglich, von den SozialarbeiterInnen in den Prozess mit einbezogen. Oftmals hilft es den betroffenen Frauen, Unterstützung anzunehmen, wenn sie sehen, dass sich eine dritte Person um sie sorgt und bereit ist, sie im Hilfeprozess zu begleiten und zu unterstützen. Die Konstruktion eines Falles als akut oder nicht akut basiert nicht auf der alleinigen Tatsache der Fremdmeldung. Die Fremdmeldung wird vielmehr als Brücke zur Familie und zur weiteren Fall- und Problemkonstruktion genutzt. Ganz anders verhält es sich mit der polizeilichen Meldung im Hinblick auf die Fallkonstruktion. Informationen über Wegweisungen des Vaters aus der gemeinsamen Wohnung erfolgen seitens der Polizei immer an das zuständige Jugendamt. Auf der einen Seite besteht für die SozialarbeiterInnen aufgrund der Wegweisung des Vaters aus der gemeinsamen Wohnung keine akute Gefährdung mehr für das Kind. Die Wegweisung erfolgt – so die Aussagen  : lediglich – für zehn Tage und gibt den SozialarbeiterInnen nur wenig Zeit, die familiäre Situation genau abzuklären bzw. einzuschätzen und Interventionen gemeinsam mit der Familie zu setzen. In der Fallkonstruktion werden im Gegensatz zu Fremdmeldungen polizeiliche Meldungen aufgrund ihrer behördlichen und somit »professionellen« Dokumentation als »ernste Geschichte« und folglich »objektiver« wahrgenommen. Polizeiliche Meldungen beschreiben, zu

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welchen Vorfällen es »wirklich« in der Familie gekommen ist. Unberücksichtigt bleibt hier, dass auch polizeiliche Meldungen lediglich Konstrukte sind, die auf die Einschätzung der einschreitenden PolizistInnen und aus den Erzählungen der betroffenen Frauen und Kindern sowie den gewalttätigen Männern gründet. Deshalb dürfte auch hierbei gelten  : Aufgrund von Scham- und Schuldgefühlen der Gewaltopfer werden Gewalthandlungen oftmals abgeschwächt oder verleugnet. Bei Fremdmeldungen stehen subjektive Dimensionen im Mittelpunkt der Fall­ konst­ruktion. Hier wird von den befragten Personen das »Gespür« in den Vordergrund gerückt. Die Dimension der beruflichen Erfahrung in der Einschätzung der Qualität der Meldung wird in diesem Fall als sehr nützlich verstanden. Dieser Nutzen entsteht durch zahlreiche Erfahrungen mit FremdmelderInnen, wodurch sie wissen, worauf bei den die Informationen übermittelnden FremdmeldernInnen zu achten ist, um Hinweise zur Meldungsqualität zu erhalten, und wie sie zu wichtigen Informationen für die weitere Vorgehensweise kommen. Bei einer polizeilichen Wegweisung kommen biografische Einflüsse und gesellschaftliche Diskurse zum Tragen. Behörden werden in westlichen Gesellschaften als wichtige Instanzen verstanden und aufgrund ihrer Bürokratie und ihres Dokumentationswesens nicht als Konstrukteure, das heißt als »äußere« bzw. außerhalb der für eine Fallkonstruktion relevanten Elemente und damit als »objektivierte« Verhältnisse, gesehen. Polizeiliche Wegweisungen und die darauffolgenden Berichte von SozialarbeiterInnen nehmen den Status als »objektive Beschreibung der Tat« ein, die Gewalthandlung wird schneller als akuter Fall konstruiert. Das erlernte Wissen über Instanzen trägt entscheidend zur Fallkonstruktion bei. 6.4 Kind oder Jugendliche/r

Eine weitere Ausprägung in der Fallkonstruktion stellt für die SozialarbeiterInnen aufgrund des Schutzaspektes das Alter des/der Minderjährigen dar. Jugendliche können eher auf Kontakte und Netze außerhalb der Familie, zum Beispiel auf Peergroups, zurückgreifen, haben dadurch mehr soziale Ressourcen und damit die Möglichkeit, aus dem »Feld« gehen zu können. Zudem sehen SozialarbeiterInnen bei älteren Kindern und Jugendlichen den Vorteil, deren persönliche Sichtweisen und Leidensdruck von den Jugendlichen selbst explizierter in die Fallkonstruktion mit einfließen zu lassen. Gewaltvorfälle bei älteren Kindern und Jugendlichen seien behördlicherseits gleichermaßen ernst zu nehmen wie bei jüngeren, es werden allerdings Schutzbedürftigkeit und Handlungsressourcen anders konstruiert. Betroffenheit von jüngeren Kindern führt in der behördlichen Sozialarbeit im Jugendamt rascher zu einer Konstruktion als akuter Fall, als wenn ältere Kinder oder Jugendliche betroffen sind. Hat diese altersspezifische Begründung in der Regel ihre Berechtigung, führt eine vorrangig al-

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tersbezogene Rekonstruktion in gar nicht so wenigen Fällen, etwa bei Jugendlichen ohne soziale Netzwerkressourcen o.Ä., zu erheblichen Mankos in der Fallkonstruktion. Dennoch, die Möglichkeit, sich selbst zu schützen bzw. sich Schutzfaktoren außerhalb der Familie zu suchen, haben jüngere Kinder sicherlich in der Regel in geringerem Maße. Sind die Misshandlungsspuren eindeutig, so spielt das Alter eine untergeordnete Rolle, unabhängig vom Alter kommt es zu einer sofortigen Gefährdungsabklärung. Ein solcher Fall ist als Fallkonstruktion eindeutig. Der Stellenwert, den Kinder in einer Gesellschaft einnehmen, beeinflusst – selbstredend – die persönliche Wertehaltung. Wie uns die Familiensoziologie und andere Disziplinen vor Augen führen, kommen der Kindheit erst in der modernen westlichen Gesellschaft ein eigener Status und eine eigenständige Phase zu, ihre Bedeutung nimmt stetig zu. Vor diesem Hintergrund mag es wenig verwundern, dass der »Wert« von Kindern ebenfalls zunimmt und demzufolge auch deren Schutz an Bedeutung gewinnt. Das Konstrukt ändert sich. Von einer Möglichkeit und dem bloßen Ansinnen wird das Schutzbedürfnis mehr und mehr zur gesellschaftlichen Pflicht, Voraussetzung und gesetzlichen Norm, Kinder in besonderer Weise zu beschützen, sodass deren gesundes Heranwachsen ermöglicht bzw. abgesichert wird. Für die Fallkonstruktion bedeutet dies  : Je jünger das Kind ist, desto größer ist dessen Schutzbedürftigkeit und desto »akuter« ist der Fall. 7. Problemkonstruktion und Intervention Auf einer zweiten Analyseebene soll herausgefunden werden, inwieweit Probleme im Dialog mit der Familie konstruiert und welche Interventionen bei indirekter Gewalt gesetzt werden. Den Sozialarbeiterinnen zufolge hat die Thematik indirekter Gewalt nicht erst durch das Gewaltschutzgesetz Einzug in die Jugendwohlfahrtsbehörden gefunden. Die Problemlage wird als solche definiert, ihr Ausmaß gilt als bekannt. Interventionen werden vorrangig zusammen mit der Familie zu setzen gesucht. Die polizeiliche Wegweisung im Rahmen des Gewaltschutzgesetzes bildet einen sicheren Hintergrund, damit die SozialarbeiterInnen nicht nur den Hinweis auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung bekommen, sondern zugleich die Möglichkeit, mit der Familie Kontakt aufzunehmen und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, welche Auswirkungen die Gewaltvorfälle auf das Kind nehmen. Wichtige Faktoren auf der Ebene der Problemkonstruktion und Intervention sind für die SozialarbeiterInnen Wertschätzung, Transparenz und Empathie. Im Mittelpunkt steht gerade bei indirekten Gewaltvorfällen der Aufbau einer tragfähigen Beziehung zu den Eltern, da Gewalthandlungen innerhalb einer Familie zumeist Ausdruck langjähriger Bezie-

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hungsstörungen und -defizite ist (vgl. Magistrat Graz – Amt für Jugend und Familie, 2000, PPQ 8.10). Kooperation durch Problembewusstsein SozialarbeiterInnen fokussieren in der Arbeit darauf, ein Problembewusstsein bei den Eltern in einem gemeinsamen Dialog zu schaffen. Hierfür greifen sie sowohl auf objektive Konstruktionsleistungen – wie auf erlerntes Wissen (Ausbildung) – als auch subjektive Konstruktionsleistungen  – berufliche Erfahrung, Persönlichkeit (persönliches Einfühlungsvermögen)  – zurück. Eltern sollen erkennen, dass sie selbst Unterstützung benötigen und die Auswirkungen indirekter Gewalt verstehen. Eltern sollen des Weiteren überzeugt werden, dass auch ihr Kind professionelle Hilfe benötigt. Im Dialog mit der Familie soll eine gemeinsame Problemdefinition gefunden werden. Je stärker die Eltern in ihrer Beziehungsdynamik involviert sind, desto schwieriger ist es für sie, eine Problemeinsicht zu gewinnen. Eine gemeinsame Problemkonstruktion im Dialog ist deshalb von zentraler Bedeutung, da sie Voraussetzung für nachfolgende Interventionen und deren Gelingen ist. Offenbar spielt der zeitliche Verlauf des Dialogs und des Setzens von Interventionen hierbei eine entscheidende Rolle, wenn Sozial­arbeiterInnen darauf achten, dass Interventionen nicht zu schnell erfolgen. Hier ist von den SozialarbeiterInnen gut abzuschätzen, was die Situation erfordert und womit die Familie im Moment umgehen kann. Wird versucht, Interventionen zu setzen, bevor eine gemeinsame Problemkongruenz gefunden wurde, kann dies zur Verweigerung der Familie, Hilfe anzunehmen, führen. Eine Kooperation kann sich in Folge schwierig gestalten. Die Anwendung sozialarbeiterischer Methoden  – wie Anamnesearbeit, Genogramm, Gesprächsführung o.a. – soll gewährleisten, dass es zur Problemkonstruktion im Dialog mit der Familie kommt. Die Anwendung der Methoden wird von den BerufsanfängerInnen in Zusammenhang mit der Ausbildung – objektive Konstruktionsleistung – gebracht. Berufserfahrene SozialarbeiterInnen zählen Methoden der Sozialen Arbeit einerseits zu den objektiven Konstruktionsleistungen (Ausbildung) wie auch andererseits zu den subjektiven Konstruktionsleistungen (persönliche Stärke). Inwieweit SozialarbeiterInnen mit den erlernten Methoden arbeiten, hängt von der Einschätzung deren Wirkung in der Arbeit ab – und diese Wirkungseinschätzung wird unterschiedlich konstruiert. MelderInnen als Brücke zu KlientInnen Auf Ebene der Interventionen spielt die Art der Meldung eine entscheidende Rolle. Bei polizeilichen Meldungen sind die Familien über eine Kontaktaufnahme seitens des Jugendamtes informiert. Dies kann für SozialarbeiterInnen den Zugang zu den Familien erleichtern. Bei Fremdmeldungen reagieren Familien auch in der Regel mit

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einer Abwehrhaltung. Die Aufgabe für die SozialarbeiterInnen hierbei ist es, den Betroffenen zu erklären, dass es sich um keine Strafverfolgung handelt, sondern dass sich nahe Verwandte, Nachbarn oder andere Personen aus ihrem Lebensumfeld um sie sorgen. Bei Fremdmeldungen gestaltet sich der Zugang schwieriger. FremdmelderInnen können jedoch bei indirekten Gewaltvorfällen als Ressource genutzt werden. Viele misshandelte Frauen verfügen nur über ein geringes soziales Netz. NachbarInnen und Verwandte stützen viele Frauen in einer aktuell schwierigen Situation. Intervention Der erste Schritt in der praktischen Fallkonstruktion ist für SozialarbeiterInnen die Überprüfung, ob das Kindeswohl akut gefährdet ist oder nicht. Kontaktaufnahme und Intervention, unabhängig von Art der Meldung, erfolgen bei direkten Gewalthandlungen, die mit der Konstruktion eines akuten Falles einhergehen, schneller. Bei indirekter Gewalt kommt vor allem die Problemeinsicht der Eltern zum Tragen. Ist diese in keiner Weise gegeben, werden Fälle indirekter Gewalt als akut eingeschätzt und erfolgen Interventionen auch ohne Zustimmung der Eltern. Die Schwierigkeit auf der Interventionsebene bei indirekter Gewalt ist die eingeschränkte Handlungsmöglichkeit. Erst wenn die familiäre Situation ein dermaßen großes Gefahrenpotenzial für eines der Familienmitglieder bedeutet, wie zum Beispiel im Fall eines Buben (vgl. INT_2w3), in dem dieser zum Schutz der Mutter ein Messer in die Hosentasche steckt, wird unter der Argumentation einer Kindeswohlgefährdung auf gesetzliche Grundlagen zurückgegriffen. Aber auch wenn SozialarbeiterInnen nicht sofort mit den Eltern in einen Dialog treten können, müssen konkrete Interventionen auch ohne den gemeinsamen Dialog gesetzt werden. Bei akuten Fällen kommt es unter Einbezug des Abklärungsteams und des Vieraugenprinzips unverzüglich zu Interventionen. Bei Vorfällen, die von den Sozialarbeiter/innen nicht als akut konstruiert werden, wird die Unterstützung als freiwilliges Angebot an die Eltern gerichtet und hängt in weiterer Folge von deren Kooperationsbereitschaft ab. Interventionen zu setzen ist nicht möglich, wenn Eltern nicht bereit sind, die Hilfe auch anzunehmen. Hier sehen SozialarbeiterInnen oftmals eine Diskrepanz. Denn je früher Interventionen bei Gewalt innerhalb der Familie erfolgen, desto weniger Auswirkungen hat dies auf die Entwicklung der Kinder, unabhängig davon, ob es sich um direkte oder indirekte Gewalt handelt. Auf der Ebene der Problemkonstruktion kommt aus diesem Grunde der Anamnesearbeit eine wichtige Funktion zu. Mithilfe dieser Methode wird nicht nur versucht, die Problemeinsicht der Eltern zu gewinnen, sondern auch Muster, wie generationsübergreifende Alkoholsucht oder Gewalt, aufzuzeigen und bearbeitbar zu machen. Die SozialarbeiterInnen verstehen die familiendynamischen Auswirkungen von direkten wie auch indirekten Gewaltvorfällen und setzen Interventionen niemals

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nur bei einem Familienmitglied an. Sie versuchen bewusst Kontakt zu allen Familienmitgliedern, die direkt oder indirekt der Gewalt ausgesetzt sind, aufzunehmen und in den Hilfeprozess zu integrieren. Zur Intervention mit Müttern Mütter tragen oftmals eine große Last der Verantwortung. Von ihnen wird erwartet, dass sie sich von ihrem gewalttätigen Partner trennen und sich um die positive Entwicklung des Kindes kümmern, obwohl sie selbst überfordert und aus diesem Grunde handlungs- und entscheidungseingeschränkt sein können. Diese zusätzliche Verantwortung, die aus dem Lebensumfeld der betroffenen Frauen resultiert, belastet. Intervention zu setzen gestaltet sich bei misshandelten Frauen häufig schwierig. Frauen, die bereits in einer gewaltgeprägten familiären Atmosphäre aufgewachsen sind, tendieren dazu, in späteren Beziehungen die in ihrer frühen Kindheit erlernten Beziehungsmuster aufrechtzuerhalten. Verhaltensänderungen, wie sie für ein Heraustreten aus einer Gewaltbeziehung erforderlich sind, bedeuten in der Lebenspraxis nichts anderes, als eben solche erlernten Handlungsmuster zu durchbrechen. Hier versuchen SozialarbeiterInnen anzusetzen und Hilfe durch Beratungs- und Therapieeinrichtungen anzubieten. Die Thematisierung des Leidensdrucks der Frauen, bisherige Erfahrungen mit Gewalt in der Herkunftsfamilie und die Bearbeitung des eigentlichen Problems stehen im Mittelpunkt der Intervention mit den Müttern. Die SozialarbeiterInnen distanzieren sich davon, ihre Aufgabe in der Überzeugung einer Trennung seitens der Frauen von ihrem Partner zu sehen. Sie betonen, dass Trennung nicht immer das Ende einer Gewaltbeziehung und daher die Lösung des Problems bedeuten muss. Vielmehr sollen ein Sicherheitsnetz erarbeitet und Handlungsmöglichkeiten bei erneuten Gewaltvorfällen aufgezeigt und erweitert werden. Zudem sollen sie mit der Zeit wieder in ihrer Mutterrolle gestärkt werden und so eine tragfähige Beziehung zu ihrem Kind aufbauen. Zur Intervention mit Vätern Zu den Vätern wird bewusst Kontakt aufgenommen, und es wird versucht, sie in die familiäre Verantwortung miteinzubeziehen. Mütter sollen durch die geteilte Verantwortung der familiären Schwierigkeiten und des Wohles ihres Kindes entlastet werden. Zugleich kann unter Einbeziehung aller im Prozess Beteiligten eher eine Veränderung der familiären Muster herbeigeführt werden. SozialarbeiterInnen betonen auf dieser Ebene das Prinzip des Kinderschutzes »Helfen statt Strafen«. Den Vätern gilt es zu vermitteln, dass es einen Vorfall gegeben hat, der thematisiert werden soll, ohne dass sie als Person verurteilt werden. Väter sollen als Kooperationspartner gewonnen werden, damit sie zu einer Veränderung der Konfliktpotenziale mit professioneller Unterstützung ermächtigt werden. Dies wird durch die Vermittlung eines Zusammenhanges

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zwischen der Gewalttat und den Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes zu erreichen versucht. SozialarbeiterInnen sehen sich oftmals mit der Problematik konfrontiert, dass es an passgenauen Hilfen und Einrichtungen fehlt. Männerberatungsstellen werden ausschließlich als Tätereinrichtungen wahrgenommen, und demzufolge wird die Hemmschwelle, Hilfe anzunehmen, erhöht. Bei der Intervention der Väter werden persönliche und institutionelle Wertehaltungen in Zusammenhang gebracht. Die Vermittlung der institutionellen Wertehaltung »Helfen statt Strafen« gelingt auf der Interventionsebene, wenn man dieses Kinderschutzprinzip persönlich vertreten kann. Dimensionen wie Ausbildung und berufliche Erfahrungen kommen wieder zum Tragen. Für eine gelingende Zusammenarbeit wird auf das Wissen um die Gründe der Verhaltensweisen von gewalttätigen Männern zurückgegriffen. Aus diesem Grund gestaltet sich die Arbeitsbeziehung in der Jugendwohlfahrt zu den Männern in einer anderen Weise als in Einrichtungen des Frauenschutzes, in denen keine Problemkonst­ ruktion aufgrund des institutionellen Auftrages mit den Vätern stattfindet. Zur Intervention mit Kindern Kinder nehmen eine zunehmende Rolle in Zusammenhang mit indirekter Gewalt ein. Es wird erkannt, dass sie ebenfalls von Partnerschaftsgewalt betroffen sind und Unterstützung bei der Verarbeitung ihrer Erlebnisse benötigen. SozialarbeiterInnen sehen sich mit den eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten bei indirekten Gewalthandlungen und chronifizierten Fällen konfrontiert. Für Kinder ist es von essenzieller Bedeutung, sich und ihre Mutter bzw. das Gewaltopfer in Sicherheit zu wissen, weshalb eine Wegweisung oder eine einstweilige Verfügung gegen den Vater bzw. den Gewalttäter entlastend für die aktuelle familiäre Situation wirken kann. Der Polizeieinsatz ist häufig die erste Interventionsmaßnahme, die Kinder im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt kennenlernen. Kavemann (2003  : 7) macht darauf aufmerksam, dass auf Kinder und deren Ängsten während des Polizeieinsatzes zu wenig eingegangen wird. Grund dafür ist, dass die PolizistInnen in diesem Zusammenhang kaum geschult und Unterstützungsangebote für Kinder nicht im Auftrag der Polizei enthalten sind. Die Trennung der Eltern durch eine Wegweisung des Vaters bringt jedoch nur eine vorübergehende Entlastung der familiären Situation mit sich. Gerade bei chronifizierten Fällen ist es wichtig, dass die Kinder so weit begleitet werden, dass sie in ihrer Entwicklung so wenig wie möglich gefährdet werden. Ziel ist es einerseits, das Verantwortungsbewusstsein wieder zu minimieren. »Chronifizierte Geschichte, […] schaut, dass man das Kind gut therapeutisch begleitet […] ich würde da stark eine psychologische Behandlung zum Beispiel befürworten […]. Da wär das Ziel, die Mutter so zu stärken, also, in der Interaktion mit dem Kind, dass der Bub sich ein bisschen aus der Verantwortung genommen fühlt.

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Dass er sich wieder auf sich konzentrieren kann, dass er das Gefühl hat, die Mutter wird gut unterstützt […]« (INT_7w3, A 15). Andererseits können Kinder, die Gewalt als Konfliktlösungsstrategie erfahren haben, auf sie zukommende Probleme nicht konstruktiv lösen. Um neue Konfliktlösungsmuster zu erlernen, bedarf es meist der Hilfe von außen, da die Eltern selbst erst neue Strategien erarbeiten müssen. Bei der Intervention von Kindern bei indirekten Gewaltvorfällen kommt es im gleichen Maße auf die Gestaltung einer tragfähigen Arbeitsbeziehung an wie bei den Eltern. Es wird versucht, eine Beziehung zu gestalten, sodass Themen wie z.B. Verantwortungsübernahme und Loyalitätskonflikte bearbeitbar gemacht werden können. Hierbei wird verstärkt auf subjektive Konstruktionsleistungen – Einfühlungsvermögen, Berufserfahrung – zurückgegriffen. Einstweilige Verfügung als Interventionsmöglichkeit Die polizeiliche Wegweisung wird einerseits von den SozialarbeiterInnen als Möglichkeit zur Entlastung in der Familie verstanden. Andererseits beantragen sie – zum Leidwesen vieler Frauenschutzeinrichtungen – nur in seltenen Fällen eine einstweilige Verfügung. SozialarbeiterInnen stehen dieser Interventionsmöglichkeit eher kritisch gegenüber, auch wenn es eine gute Handlungsmöglichkeit auf gesetzlicher und institutioneller Ebene zu geben scheint. »… und gegen den Willen der Frau eine einstweilige Verfügung zu machen, dass der Mann nicht mehr zurückkommt, nicht  ? Das ist etwas, das man sich fachlich gut überlegen muss, was das für einen Sinn macht. Weil man dann eventuell bewirkt, dass sie gemeinsam gegen uns kämpfen, weil sie zusammenbleiben wollen. Und das Kind wieder in der Mitte ist. Das muss man sich gut überlegen, und das ist ein heikles Thema. Weil ich von Gewaltschutzeinrichtungen weiß, dass sie das gern öfter hätten, dass wir das machen« (vgl. INT_2w3, A 104). Zudem bewirken negative Erfahrungen, wie eine gerichtliche Abweisung einer Beantragung, dass Maßnahmen nicht mehr gesetzt werden. Vielmehr versuchen die SozialarbeiterInnen gemeinsam mit der Mutter, eine Beantragung einer einstweiligen Verfügung zu beschließen. Im Gegensatz dazu wird von BerufsanfängerInnen oftmals die einstweilige Verfügung als Unterstützung in der Arbeit erlebt. Hier lassen sich die persönliche Wertehaltung zu dieser Thematik wie auch die Schwerpunktsetzung der Ausbildung erkennen. Zur Bedeutung subjektiver und objektiver Konstruktionsleistungen auf der Ebene der Problemkonstruktion Auf der Ebene der Interventionen betonen BerufsanfängerInnen die Implementierung von Hilfe in Familien schneller, wogegen berufserfahrene SozialarbeiterInnen

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auf den Diskurs mit der Familie und den FremdmelderInnen setzen. Berufsanfänger/ innen können nicht auf die für die langjährig tätigen SozialarbeiterInnen wichtige Dimension der beruflichen Erfahrung zurückgreifen. Berufserfahrene sprechen den Hilfebedarf spät an. Sie legen aufgrund ihrer Erfahrungen, dass nicht alle Fälle »akut« sind, den Fokus verstärkt auf eine gute Arbeitsbeziehung und nicht auf die Implementierung von sofortigen Hilfen. »Und vor allem ist immer die Gefahr, dass wir schon Hilfen, Hilfen, Hilfen einsetzen und die Eltern sich immer mehr zurücklehnen. Also sagen, das machen eh die anderen, und die Verantwortung abgeben, und das soll auch nicht sein. Hilfe zur Selbsthilfe heißt es so schön« (vgl. INT_6w2, A 71). Dies bedeutet nicht, dass berufsunerfahrene SozialarbeiterInnen die Bedeutung der Beziehungsarbeit verkennen, sondern dass sie lediglich aufgrund der schnelleren Konstruktion eines akuten Falles auf ein »Sicherheitsnetz« zurückgreifen. Das Vier­ augenprinzip und das Fachteam, bei denen weitere Vorgehensweisen, auftretende Schwierigkeiten und Entscheidungen immer gemeinsam besprochen und getroffen werden, werden als Entlastung für BerufsanfängerInnen empfunden. Sie gelten als »objektive« Dimensionen, da sie durch das Team die Konstruktion eines Falles als »objektiver« wahrnehmen. Durch eine zweite Meinung erscheint der Eindruck, dass ein Fall »wirklich« akut sein muss und aus diesem Grunde die Interventionen gesetzt werden müssen. 8. Conclusio Zur Fragestellung, wie SozialarbeiterInnen in der Jugendwohlfahrt Fälle mit erlebter Gewalt konstruieren, zeigt der sozialkonstruktivistische Ansatz auf, dass Fälle niemals »objektiv« und »wirklich« sind, sondern Konstrukte von den SozialarbeiterInnen, die im Rahmen von gesellschaftlichen und institutionellen Werten handeln. SozialarbeiterInnen greifen in der Fall- und Problemkonstruktion in unterschiedlichem Ausmaß auf subjektive und objektive Konstruktionsleistungen zurück. Persönliche Kompetenzen, Erfahrungen und Einstellungen werden als individuelles Erleben gewertet, nehmen jedoch einen essenziellen Bestandteil in der Fallkonstruktion und so in der professionellen Tätigkeit ein. Besonders bei indirekten Gewalthandlungen und bei der Konstruktion chronifizierter Fälle haben subjektive Konstruktionsleistungen einen entscheidenden Einfluss, da sich die SozialarbeiterInnen nicht auf gesetzliche oder institutionelle Grundlagen beziehen können. Diese für die Fall- und Problemkonstruktion so wichtigen subjektiven Dimensionen dürfen in ihrer Bedeutung nicht vernachlässigt bzw. ignoriert werden. Ein sozialkonstruktivistischer Ansatz, wie der hier verfolgte, betont die Bedeutung der persönlichen Konstruktionsleistungen innerhalb

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des Werdens und der Entwicklung von Fällen bis hin zu dadurch ermöglichten oder aber ausgeschlossenen fachlichen Interventionen in der Sozialarbeit der Jugendwohlfahrt bei Fällen indirekter Gewalt. Dieses Konstruieren eines Falles zum Fall gilt es bewusst zu machen, beispielsweise im Rahmen einer Supervision, um die Relativität und Bezugnahmen in der Fallkonstruktion und meist nur vermeintlich objektive Gegebenheiten besser zu erkennen. 9. Literatur Appelt, Birgit  ; Höllriegel, Angelika & Logar, Rosa (2001)  : Gewalt gegen Frauen und ihre Kinder – Von der Enttabuisierung zur Professionalisierung. In  : Gewaltbericht 2001. Herausgegeben von Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen (Hg.). Wien  : Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen, Abt. V/7. S. 377–502. Berger, Peter L. & Luckmann, Thomas (2004)  : Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie zur Wissenssoziologie (20. Aufl.) (M. Plessner, Übers.). Frankfurt am Main  : Fischer-Taschenbuch-Verlag. (Original erschienen 1966  : The Social Construction of reality) Brock, Ditmar  ; Junge, Matthias  ; Diefenbach, Heike  ; Keller, Reiner & Villanyi, Dirk (2009)  : Soziologische Paradigmen nach Talcott Parsons. Eine Einführung. Wiesbaden  : VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bundeskanzleramt Österreich. Rechtsinformationssystem (ris) (2009)  : Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB). . 23.03.2009. Bundeskanzleramt Österreich Rechtsinformationssystem (ris) (2009)  : Jugendwohlfahrtsgesetz 1989. 23.03.2009. Bundeskanzleramt Österreich Rechtsinformationssystem (ris) (2009)  : Steiermärkisches Jugendwohlfahrtsgesetz 1991. 23. 03. 2009. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.). (2008)  : Gemeinsam gegen häusliche Gewalt  : Kooperation, Intervention, Begleitforschung (2. Aufl.). Baden-Baden  : Koelbin-Fortuna-Druck. Harmsen, Thomas (2004)  : Die Konstruktion professioneller Identität in der Sozialen Arbeit. Theoretische Grundlagen und empirische Befunde. Heidelberg  : Carl-AuerVerlag. Hasenclever, Jürgen (2006)  : Vier Grundannahmen des Sozialkonstruktivismus. . 12.04.2009.

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Wie ein »Fall« zum »Fall« wird

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Regina Kaufmann

»Die vergessenen Opfer« Eine Einzelfallstudie über miterlebte Gewalt von Kindern im familiären Kontext

Dieser Artikel basiert auf einer Arbeit von Kaufmann (2009) und thematisiert miterlebte Gewalt von Kindern im sozialen Nahraum mit dem Ziel, anhand einer Einzelfallstudie aufzuzeigen, wie Kinder häusliche Gewalt miterleben. Der theoretische Teil umfasst die Einführung in das Thema »Miterlebte Gewalt an Kindern« und die Auseinandersetzung mit der Bindungstheorie von John Bowlby (2006). Der empirische Teil basiert auf qualitativen Interviews. Mit Expertinnen wurden problemzentrierte Interviews geführt, welche nach dem Verhalten des Kindes und seinen Bedürfnissen fragen. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass sich miterlebte Gewalt bei Kindern auf unterschiedlichen Ebenen auswirkt. Die Ergebnisse geben Einblick in die Maßnahmen, Kinder vor miterlebter Gewalt zu schützen und psychosoziale Schutzfaktoren zu fördern und zu stärken. Ein wesentlicher Schutzfaktor liegt dabei in der sicheren Bindung zu einer Bezugsperson. 1. Gewalt in der Familie und im sozialen Nahraum Eine thematische Skizzierung des Miterlebens von Gewalt macht es notwendig, Partnergewalt mitzubeachten und zu diskutieren. Kinder werden im Kontext der Diskussion um Gewalt in der Partnerschaft der Eltern oftmals als Querschnittsthema dargestellt. Es gibt kaum eine systematische oder einheitliche Dokumentation der Anwesenheit von Kindern und Jugendlichen im Kontext der Gewalt mit den dann folgenden Unterstützungsangeboten. Die Erforschung familiärer Gewalt und deren Ausmaßes in Österreich ist schwierig, weshalb über die Häufigkeit von Gewalt in Familien nur vage etwas ausgesagt werden kann. Offizielle Statistiken, wie zum Beispiel die Kriminalstatistik, erfassen nur jene Fälle – und damit nur einen kleineren »sichtbareren« Anteil der realen Gewaltvorfälle –, die tatsächlich zur Anzeige kommen und/ oder zu polizeilichen Interventionen führen. Neuere Ergebnisse aus einer im Jahr 2010 begonnenen »Gewaltprävalenzstudie« für Österreich stehen noch aus bzw. unmittelbar bevor. Kindler & Werner (2005  : S. 104 f.) verfassen einen Forschungsbericht über die Auswirkungen von Partnerschaftsgewalt auf Kinder, demzufolge es in Deutsch-

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land sowie auch in Österreich eine generell unzureichende Datenlage gibt, sodass nur Schätzungen gemacht werden können. Dennoch kann festgestellt werden, dass von Partnerschaftsgewalt betroffene Kinder eine bedeutende Gruppe darstellen. In der Fachliteratur der 1950er- und 1960er-Jahre zur familiären Sozialisation von Kindern wird Gewalt zwischen den Eltern eines Kindes weder angesprochen noch als möglicher Belastungsfaktor für die Entwicklung des Kindes ins Auge gefasst. Im deutschsprachigen Raum wurde in den letzten Jahren mit Übersichtsarbeiten von Kavemann (2001) oder Beiträgen von Opferschutzeinrichtungen auf dieses Thema hingewiesen und an diesem geforscht (vgl. Kindler & Werner, 2005  : S. 107). Gewalt im sozialen Nahraum umfasst Verletzungen der körperlichen oder seelischen Integrität einer Person, die unter der Ausnutzung eines Machtverhältnisses durch eine strukturell stärkere Person zugefügt wird. Häusliche Gewalt umfasst Verhaltensweisen der physischen, psychischen, sexuellen, sozialen oder ökonomischen Gewalt (vgl. Gloor & Meier, 2007  : S.  16 f.). Ein kennzeichnendes Element bei familiärer Gewalt ist der stark emotionale und intime Charakter der familiären bzw. häuslichen Beziehungen. Familien und Partnerschaften sind relativ geschlossene soziale Systeme, die kaum noch äußeren sozialen Kontrollen formeller und informeller Art unterworfen sind. Gewalt spielt sich zu einem wesentlichen Teil in der Familie ab. Von niemandem sonst sind Frauen, Männer und Kinder derartigen gewalttätigen Handlungen ausgesetzt wie von ihren nächsten Angehörigen, PartnerInnen oder ExpartnerInnen (vgl. Lamnek & Luedtke & Ottermann, 2006  : S. 8 f.). Die unterschiedlichen Gewaltformen treten meist nicht isoliert, sondern kombiniert auf. Sie beginnen niederschwellig, oftmals mit Drohungen oder verbalen Demütigungen, und steigern sich in der Häufigkeit und Intensität – die Gewaltspirale entsteht. Dieser Beitrag skizziert nicht nur miterlebte Gewalt gegen Kinder, sondern fordert einen differenzierten Blickwinkel auf die Thematik der Gewalt im sozialen Nahraum. Werden Kinder ZeugInnen von Gewalt gegen einen Elternteil durch den anderen, werden diese selbst Opfer der Gewalt. In diesem Argument stellt häusliche Gewalt gegen Frauen eine Form psychischer Gewalt auch gegen Kinder dar. Es trifft hier eine Person, die sich noch in psychischer, körperlicher und emotionaler Entwicklung befindet. Wie bei Erwachsenen sind die Folgen traumatischer Ereignisse, wie das Miterleben von Gewalt eines ist, abhängig von den jeweiligen Umständen, dem Alter und dem Stand der Entwicklung des Kindes. Kinder erleben dadurch oftmals einen Wegfall von Schutz und Geborgenheit.

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2. Die Fallstudie als Forschungsdesign Die Besonderheit der hier vorgenommenen Einzelfallstudie (Kaufmann 2009) als Untersuchungsdesign und Forschungsansatz besteht darin, dass sie zu einem guten Teil auf Daten aufbaut, die – wie in anderen Handlungsfeldern der Sozialarbeit auch  – bereits erhoben und dokumentiert sind. Zudem können weitere Daten, die für Problemlösungen und Problemdefinitionen in diesem Handlungsfeld relevant sind, vergleichsweise einfach erhoben werden. Eine Fallstudie liefert genaues Wissen über einen Fall und gewinnt dabei an Tiefe und Dichte des Verstehens, da sie auf Verallgemeinerungen verzichtet – Generalisierungen sind in diesem Forschungsfeld ohnehin nur begrenzt möglich. Bei Einzelfallstudien werden besonders interessante Fälle hinsichtlich möglichst vieler Dimensionen und meistens auch über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet, beschrieben und analysiert. Der Bereich der Untersuchung wird für die Einzelfallstudie nicht erst erzeugt, sondern basiert auf einem realen und alltagsweltlichen Bereich der Gesellschaft. Dieser Forschungsansatz versucht eine wissenschaftliche Rekonstruktion von Handlungsmustern, aus dem der Forschende eine Forschungsfrage bildet (vgl. Lamnek, 2005  : S. 299 f.). Die Forschungsperspektive im Rahmen dieser Studie ist auf das Kind als Fokusperson einer Familie gelegt, welches von miterlebter Gewalt betroffen ist. Themenzugang und Recherche nach Betroffenen, die zu einem Interview bereit sind, sind einigermaßen schwierig, sodass sich von Beginn an die Frage stellte  : Wer würde zu einem solchen Interview bereit sein  ? Aufmerksam auf die Familie und das Kind wurde ich im Rahmen einer Berufsfeldexploration im Rahmen meines Studiums zur Sozialarbeit. Im Mittelpunkt der Interventionen und Hilfemaßnahmen stand die Mutter des Kindes. Die krisengeschüttelte und doch sehr stark und offen wirkende Frau erzählte wiederholt von ihren Kindern. Ihr war es in der Situation der Trennung von ihrem Ehegatten sehr wichtig, dass ihre Kinder in Sicherheit waren. Aufgrund der langjährigen Gewalthandlungen in der Beziehung wurde das Kind, welches häusliche Gewalt miterlebt hatte, für diese Einzelfallstudie ausgewählt. In der qualitativen Einzelfall- bzw. Fallstudie geht es besonders darum, ein ganzheitliches und damit realitätsnahes Bild der sozialen Welt zu zeichnen, bei dem alle relevanten Dimensionen in die Analyse miteinbezogen werden (vgl. Lamnek, 2005  : S. 299). Wichtiges Ziel im vorliegenden Forschungsprozess ist es, die Perspektive des Kindes einzunehmen. Prinzipiell ist die Einzelfallstudie für alle Methoden und Techniken der empirischen Sozialforschung offen. Die Charakterisierung qualitativer Interviews besteht darin, dass es sich um nichtstandardisierte Interviews handelt. Durch die situativen Anpassungserfordernisse ist es nicht ratsam, vorformulierte Fragen und deren Reihenfolge vorzugeben. Charakteristisch ist hingegen, dass offene Fragen gestellt werden. Aufgrund

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von intimen und persönlichen Themen versteht es sich, dass qualitative Interviews als Einzelbefragungen durchgeführt werden (vgl. Lamnek, 2005  : S. 346). Mayring (2002) führt aus, dass unter dem Begriff des problemzentrierten Interviews alle Formen der offenen und halbstrukturierten Befragung zusammengefasst werden. Die befragte Person kann somit frei zu Wort kommen. Bestimmte Aspekte werden vom Interviewer bereits analysiert und in einem Interviewleitfaden zusammengestellt, die dann im Gesprächsverlauf angesprochen werden. Witzel, der den Begriff des prob­ lemzentrierten Interviews geprägt hat, spricht von drei vorrangigen Prinzipien  : Prob­ lemzentrierung, Gegenstandsorientierung und Prozessorientierung. Problemzentrierung meint, dass an gesellschaftlichen Problemstellungen angesetzt wird, die vor der Interviewphase erarbeitet werden. Gegenstandsorientierung beschreibt, dass die konkrete Gestaltung auf den spezifischen Gegenstand bezogen sein muss. Bei der Prozessorientierung geht es um die schrittweise Gewinnung und Prüfung von Daten. Wichtig für die Durchführung der Interviews ist das Merkmal der Offenheit (vgl. Mayring, 2002  : S. 67 ff.). In dieser Form des Interviews ist die forschende Person schon vor dem Interview »[…] mit einem theoretischen Konzept ausgestattet. Diese theoretischen Vorstellungen werden durch das Interview mit der sozialen Realität konfrontiert, plausibilisiert und modifiziert« (Lamnek, 2005  : S. 382). Das theoretische Konzept dieser Arbeit basiert auf der Bindungstheorie von John Bowlby und Erkenntnissen aus der Gewaltforschung. Bowlby setzte sich mit der Frage auseinander, welchen Charakter die Bindung von Eltern und Kind hat und wie diese sich auswirkt (vgl. Holmes, 2006  : S. 82). Bei der gewählten Form des Interviews sollen zum einen die subjektiven Aussagen über einen bestimmten Lebensbereich eingefangen werden, und zum anderen sollen in diesen Aussagen auch allgemein gesellschaftliche Verhaltensmuster entdeckt werden (vgl. Schmidt-Grunert, 1999  : S. 41). Vor diesem Hintergrund werden zur empirischen Konstruktion des Einzelfalles – die Fokusperson ist das Kind mit seinen familiären Beziehungen  – vier qualitative Interviews leitfadengestützt durchgeführt. Aus dem professionellen Umfeld des Kindes sind dies die Psychologin und die Volksschullehrerin sowie die Sozialarbeiterin auf dem Jugendamt. Ebenso wird ein Interview mit der Mutter des Kindes geführt. Die Interview­ partnerinnen, in diesem Fall eben alle Frauen, werden für die vorliegende Untersuchung danach ausgewählt, ob sie Auskunft zu den oben erläuterten Fragestellungen und Themenbereichen würden geben können. Der Interviewleitfaden lässt sich in vier Teile gliedern. Nach einer Einstiegs- und Aufwärmphase werden Fragen zum Verhalten des Kindes und seinen Bedürfnissen gestellt. Der dritte Teil orientiert sich am Thema der Beziehung und Bindungen. Gefragt wird nach den Beziehungen von Vater und Mutter sowie auch zu Gleichaltrigen und anderen Personen im sozialen Netzwerk des Kindes. Der letzte Teil handelt von den Unterstützungsmöglichkeiten durch HelferInnen.

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Die wörtliche Transkription der Interviews bietet die Basis für eine ausführliche, interpretative Auswertung des erhobenen Materials (vgl. Mayring, 2002  : S. 89). Da bei der Datenerhebung die inhaltliche Ebene im Vordergrund steht, wird das Gesprochene ins übliche Schriftdeutsch übertragen. Markante Passagen wie längere Pausen, Lachen, Weinen oder ein stockender Gesprächsfluss werden gekennzeichnet, persönliche Daten anonymisiert und Namen geändert. Die Qualität der Forschungsauswertung hängt von einer möglichst genauen inhaltlichen Erfassung der subjektiven Äußerungen der Interviewpartnerinnen ab. Dafür ist es notwendig, genaue Kenntnisse über die Interviews zu haben und die Transkripte in thematische Bereiche zu strukturieren und zu ordnen. Danach ist eine Satz-für-SatzAnalyse notwendig, in der es um die Klärung der inhaltlichen Aussagen der interviewten Person geht. Dann folgt die Sequenzanalyse, in der einzelne Gesprächspassagen als Sequenzen erkennbar gemacht werden. Anschließend wird das Datenmaterial strukturiert und interpretiert, welches kritisch auf das theoretische Vorverständnis und Vorwissen rückbezogen wird. Zum Abschluss folgt die Bildung von Auswertungskategorien auf dem Hintergrund des Materials, das nach Themen und Aspekten sortiert wird (vgl. Schmidt-Grunert, 1999  : S. 50 ff.). In der Bearbeitung der Interviews und der Zusammenführung der empirischen Teile mit den theoretischen Überlegungen werden fünf Analyseebenen gebildet. Daraus werden Aspekte herausgefiltert, die diesen Bereichen zugeordnet werden können und die Aussagen über das Verhalten Mutter–Kind, Vater–Kind, Kind–Gleichaltrige, Kind–eigene Person und Kind–Umwelt beinhalten. Im Zentrum dieser Darstellung steht das Kind mit seiner Gewalterfahrung. Die Verknüpfungen zwischen Theorie und Empirie sollen die Aussagen über miterlebte Gewalt von Kindern verifizieren und fundieren. 3. Miterlebte Gewalt von Kindern Formen von Gewalt gegen Kinder können in direkte Formen wie physische, psychische und sexuelle Gewalt sowie in die indirekte Form der miterlebten Gewalt gegen Kinder eingeteilt werden (vgl. Kapella & Cizek, 2001b  : S. 82). Die Gewaltausübung gegen einen Elternteil in der Familie ist eine Form von Gewalt gegen das Kind, denn sie erzeugt Angst und Isolation beim Kind und führt zu einer Verletzung des Kinderrechtes auf Sicherheit. Miterlebte Gewaltformen werden in der Literatur selten als eigene Form beschrieben und finden als eigene Gewaltform wenig Beachtung, weshalb es an Systematik von Gewaltformen des »Miterlebens« mangelt. In den weiteren Ausführungen dieses Beitrages wird der Fokus auf das Kind gelegt und nicht auf die Gewalt zwischen Mann und Frau. Es wird von den Eltern gesprochen, die die Be-

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zugspersonen zum Kind sind. Durch die Gewalt, die einem Elternteil zugefügt wird, erleidet das Kind Verletzungen des Selbstwertgefühls, da es existenziell von der betroffenen Person, zumeist der Mutter, abhängig ist. Aus der Perspektive der Kinder als Töchter und Söhne ihrer Eltern ergeben sich vier Formen der Gewalt, die sich nicht direkt gegen die Kinder selbst, sondern gegen einen Elternteil, zumeist die Mutter, richtet. Diese werden eingeteilt in die Zeugung durch Vergewaltigung, Misshandlungen während der Schwangerschaft, Gewalterfahrungen als Mitgeschlagene und Aufwachsen in einer Atmosphäre der Gewalt und Demütigung. Für einige Kinder beginnt die Gewalt mit ihrer Zeugung durch die Vergewaltigung der Mutter durch den Vater, was für die Frauen eine sexuelle Traumatisierung sowie ein unlösbares moralisches Dilemma zur Folge hat und sich auf die Mutter-Kind-Beziehung auswirkt. Misshandlungen während der Schwangerschaft durch Treten und Schlagen in den Bauch können zu Komplikationen während der Schwangerschaft bis hin zu Fehlgeburt führen. Ein Teil der Kinder wird in die Gewalterfahrungen gegen die Mutter direkt miteinbezogen. Das Aufwachsen in einer Atmosphäre der Gewalt und Demütigung beschreibt die Gewalt gegen Eltern als Gewalt gegen Kinder. Dieses lässt sich durch Miterleben von Gewalt, Vernachlässigung, Überforderung, Erpressung, existenzielle Bedrohung, Gewalt nach der Trennung sowie Armut und soziale Benachteiligung beschreiben (vgl. Heynen, 2003  : S. 4 ff.). Heynen (vgl. 2003  : S. 6 ff.) skizziert, dass Söhne und Töchter zu 80–90 % die Gewalt gegen die Mutter miterleben. Sie sind anwesend, wenn der Vater die Mutter beschimpft, Gegenstände nach ihr wirft, sie zusammenschlägt, vergewaltigt oder sie mit dem Umbringen bedroht. Die Sicherheit der Kinder ist aufgrund der Überforderung der Mutter oftmals in Gefahr, und die Kinder versuchen ihre Mutter zu unterstützen. Mütter suchen auch von sich aus Trost beim Kind, sodass Söhne Ersatzmänner werden. 3.1 Kinder als Zeugen von Gewalt

Kinder sind häufig direkte Zeuginnen und Zeugen von Misshandlungen an einem Elternteil oder erleben die Auswirkungen dieser mit. Sie sehen und hören Gewalt mit an oder sehen die Verletzungen. Oft sind sie keineswegs nur passive ZuseherInnen, sondern versuchen die Gewalt gegen den betroffenen Elternteil aktiv zu beenden (vgl. Appelt & Höllriegl & Logar, 2001  : S. 414). Gewalt gegen einen Elternteil in der Familie trifft Kinder auf unterschiedlichen Ebenen. Durch eine anhaltende Atmosphäre, in der Gewalt droht, und durch das Miterleben der Misshandlungen und ihrer Folgen werden Ängste bei den Kindern erzeugt. Die Bedürfnisse der Kinder werden dabei missachtet und vernachlässigt. So übt zum Beispiel ein Vater, der ein durchaus positives Verhältnis zu seinen Kindern hat, zugleich aber gewalttätig gegenüber seiner Frau

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ist, psychische Gewalt auf seine Kinder aus (vgl. Strasser, 2001  : S. 91). Die interviewte Mutter beschreibt das direkte Miterleben der Gewalt der Kinder (V1  : S. 5) und in der beschriebenen Situation die Gewalthandlung des Vaters gegenüber der Mutter im Beisein der zwei jüngeren Söhne, die Zeugen der Gewalthandlung wurden. Die Situation ängstigt und verunsichert die Beteiligten, sie weinen und zittern am ganzen Körper. 3.2 Miterlebte Gewalt als kritisches Lebensereignis

Studien zur Situation von Kindern, die gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Bezugspersonen miterleben müssen, werden Kindler & Werner (2005) zufolge erst Ende der 1990er-Jahre veröffentlicht. Direkten als auch indirekten Gewalterlebnissen folgende Belastungen für Kinder sind vielfältig und hängen von der Art der Gewalt und eigenen Involvierung ab (vgl. Heynen, 2003  : S. 10). Wenn Kinder von miterlebter Gewalt betroffen sind, schildern sie Angst, Mitleid, Erstarrung und Hilflosigkeit. Entwicklungskrisen, wie zum Beispiel der Übergang von der Familie in den Kindergarten und vom Kindergarten in die Schule, sind im Leben von Kindern normal. Tritt jedoch eine untypische, nicht einkalkulierbare Situation ein, kann es zu kritischen Lebensereignissen kommen, und zwar so solchen, in denen eine eigenständige Bewältigung der Kinder in der Krisensituation nicht mehr möglich ist und in der vielleicht sogar das soziale Bezugssystem versagt (vgl. Klees, 2001  : S. 50). Die traumatisierenden Auswirkungen einer sich stetig verschärfenden Gefahr behindern eine gesunde Entfaltung und können zu zahlreichen Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen führen. Bei Belastungen steigt der Problemdruck, die Kinder signalisieren ihn durch Verhaltensauffälligkeiten oder psychosomatische Symptome. Im Fall des Kindes können Verhaltensauffälligkeiten im Bereich des Schlafverhaltens genannt werden, indem es im Bett der Mutter schläft, Geräusche hört, Angst äußert und das Gefühl hat, seine Mama beschützen zu müssen. Kinder leiden unter physischen Belastungen, indem die Eltern nicht in der Lage sind, ihnen Trost, Halt und Verständnis entgegenzubringen, und der betroffene Elternteil oftmals erschöpft und traumatisiert ist. Daneben sind es vor allem auch psychische Belastungen, die auf die Entwicklung des Kindes einwirken und das Wohlbefinden behindern. Kinder haben in Gewaltsituationen existenzielle Angst um das Opfer – häufig die Mutter –, um sich und um die Zukunft und empfinden dem Gewalttäter gegenüber Hass. Können Kinder dies nicht bewältigen, und sind sie von ihren Gefühlen überflutet, kommt es zu einem psychischen Trauma. In einer Studie kommt zum Ausdruck, dass Kinder auf eine wahrgenommene Bedrohung ihrer Bindungspersonen häufiger stärker reagieren, als wenn Bedrohungen gegen sie selbst gerichtet sind (vgl. Heynen, 2003  : S. 10 f.). Im Fall von Kindern, die den Gewalttätig-

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keiten des Vaters oder einer Vaterfigur gegen die Mutter ausgesetzt waren, konzentrieren sich Untersuchungen auf die posttraumatische Belastungsstörung. Eine solche Diagnose ist dann gerechtfertigt, wenn Kinder nach belastenden Erfahrungen einer tatsächlichen oder auch angedrohten Verletzung der eigenen Person oder auch ihnen nahestehender Personen durch eine längere Zeit hinweg in ihrem Verhalten eine hohe psychische Belastung zum Ausdruck bringen, die eine dem Alter entsprechende übliche Bewältigung behindert. Anzeichen einer anhaltenden psychischen Belastung können das ungewollte innere Wiedererleben der belastenden Erfahrungen oder auch eine Vermeidungshaltung gegenüber der Person, gegenüber Dingen oder Situationen sein, die Erinnerungen auslösen (vgl. Kindler & Werner, 2005  : S. 112). Auswirkungen auf die kognitive und soziale Entwicklung beschreiben, dass Belastungen in der kindlichen Entwicklung nicht auf Verhaltensauffälligkeiten oder andere Störungen reduziert werden können. Zu betrachten wären vielmehr auch jene Einschränkungen, die die Entwicklung längerfristig beeinträchtigen. Bei Gewalttätigkeiten zwischen den Bezugspersonen werden zwei Risikopfade zur Diskussion gestellt. Zum einen geht es bei wiederholtem Miterleben von Partnerschaftsgewalt darum, dass Lernbereitschaft bzw. Konzentrationsfähigkeit untergraben werden und somit Rückstände in der kognitiven Entwicklung entstehen. Zum anderen wird vermutet, dass in späteren Liebesund Partnerschaftsbeziehungen der Kinder ein konstruktiver Umgang mit Konflikten fehlt (vgl. Kindler & Werner, 2005  : S. 114 f.). Partnergewalt zeigt auch Auswirkungen auf die Entwicklung der eigenen Identität und ebenso auf den geschlechtsbezogenen Selbstwert einer Person. Kinder übernehmen die beobachtbaren Verhaltensweisen und setzen ihre Interessen ebenso mit Gewalt durch. In der Einzelfallstudie wird ersichtlich, dass das Kind aggressives Verhalten in Form von Schreien, Um-sich-Schlagen, übersteigerter Wildheit und wilden Fantasien dem Vater gegenüber gezeigt hat. Als unmittelbare emotionale Reaktion auf das Miterleben von Gewalt werden Erstarrung, Angst, Hilflosigkeit und Mitleiden mit der Mutter beschrieben. Im mittelfristigen Erleben schildern die Kinder die Sorge um die eigene Sicherheit und jene der Mutter und Geschwister sowie den Verlust des Gefühls der emotionalen Geborgenheit. Auf der Gefühlsebene nennen Appelt & Höllriegl & Logar (vgl. 2001  : S. 415) weiter ständige Angstgefühle, Wut, Depression und in extremen Situationen sogar Suizidgedanken, ein geringes Selbstwertgefühl und die Tendenz, dass Kinder sich zurückziehen, als Nachwirkungen von Gewalterlebnissen. Wenn der primäre Ort von Sicherheit und Vertrauen für Kinder zugleich einer ist, der von Gewalt dominiert wird, kann es leicht zu Traumatisierungen in den Beziehungen kommen, wie ebenso durch Miterleben und Beobachten von bedrohlichen oder gewalttätigen Situationen und Handlungen. Reddemann und Dehner-Rau (2004) definieren Trauma wie folgt  :

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Trauma heißt Verletzung. Dies kann sowohl körperlich als auch seelisch sein. Definitionsgemäß erfüllt ein traumatisches Ereignis folgende Kriterien  : Die Person war selbst Opfer oder Zeuge eines Ereignisses, bei dem das eigene Leben oder das Leben anderer Personen bedroht war oder eine ernste Verletzung zur Folge hatte. Die Reaktion des Betroffenen beinhaltete Gefühle von intensiver Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen (Reddemann & Dehner-Rau, 2004  : S. 18). Traumatische Ereignisse zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Verarbeitungsfähigkeit von Menschen übersteigen. Traumen, die Menschen anderen Menschen zufügen, werden auch als »Man-made-Traumata« bezeichnet. Neben dieser Art gibt es die zweite Kategorie mit Naturkatastrophen oder schweren Schicksalsschlägen, und als dritte Kategorie gelten kollektive Traumatisierungen, die nicht im individuellen Kontext geschehen (vgl. Reddemann & Dehner-Rau, 2004  : S.  15). Wenn ein Kind durch Erwachsene, von denen es abhängig ist, Gewalt erfährt, wird es in seinem Vertrauen, Sicherheits- und Schutzbedürfnis erschüttert. Ob Gewalterfahrungen nun für ein Kind so Angst machend und verletzend wirken, dass es Gefühle von Ohnmacht, Angst und Hilflosigkeit nicht mehr bewältigen kann und somit traumatisiert wird, hängt von den Umständen der Intensität, Häufigkeit und Dauer der Gewalterfahrungen, vom Alter und dem Entwicklungsstand des Kindes ab. Auch die inneren und äußeren Schutzfaktoren spielen eine bedeutende Rolle. Zu einer traumatischen Erfahrung kann ebenso eine Vielzahl von unerträglichen Situationen oder belastenden Lebensbedingungen führen. Diese Form wird als kumulatives Trauma bezeichnet. 3.3 Verhalten der Kinder und Eltern

Auch in der Einzelfallstudie zeigt sich, dass sich Kinder um den betroffenen Elternteil sorgen und diesen beschützen möchten. Die Wahrnehmung ihrer kindlichen Bedürfnisse tritt in den Hintergrund  ; in einer Rollenumkehr nehmen sie eine erwachsene, schützende und sorgende Rolle ein. Aufgrund der Zerstörung des Selbstwertgefühls und Selbstbewusstseins klammern sich Eltern häufig an ihre Kinder. Dies führt so weit – wie dies auch der untersuchte Fall zeigt –, dass das Kind als Schutzschild für seine Mutter da ist, sie in der Nacht vor den Übergriffen des Vaters beschützt. Die Rollenumkehr besteht darin, dass Kinder sich aktiv in die Gewaltsituation ihrer Eltern einbringen und versuchen, das Opfer bzw., wie in diesem Fall, die Mutter zu schützen. Sie klammern sich an sie, gehen dazwischen oder rufen die Polizei. Kinder sind diesen Gewaltsituationen hilflos ausgeliefert und daher als Opfer von Gewalt anzuerkennen, die intensive Hilfe und Unterstützung benötigen, um Erlebtes zu verarbeiten. Das Kind ist zudem Schutzschild und Ersatz für die fehlende Partnerbeziehung der Mutter. Frauen sind als Mütter nicht nur Opfer, sondern werden häufig zu Mittäterinnen

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von Männergewalt oder offenen Täterinnen ihren Kindern gegenüber. Verschweigen der Gewalt führt zu sozialer Isolation und zum Schweigen auch innerhalb der Familie. So wird es den Kindern schwer gemacht, sich offen mit dem Erlebten auseinanderzusetzen. Das hinterlässt häufig Verletzungen, Gefühle von Ohnmacht und Schuld, Wut und Hass bei den Kindern. Strasser (vgl. 2007  : S. 53) hat in den Jahren 1997 und 1998 eine qualitative Studie mit Kindern und Müttern in österreichischen Frauenhäusern durchgeführt. In dieser Studie beschreibt sie die Umkehr der Rolle der Eltern und Kinder, welche als Parentifizierung bezeichnet wird. Die Kinder versuchen von sich aus aktiv die Mutter zu schützen, wenn Angst unerträglich wird und sie um deren Leben fürchten müssen. Diese Verhaltensweisen finden sich in den Erzählungen der interviewten Personen wieder  : Die Kinder gehen dazwischen, um sie vor der Gewalt zu schützen. Oder die Kinder wollen im selben Zimmer oder im selben Bett schlafen, um sie zu schützen. Strasser (vgl. 2007  : S. 54 ff.) berichtet in ihren Untersuchungen, dass die Rolle der Kinder, die für den Schutz der Mutter sorgen, durch die Mutter gefördert wird. Diese Rollen benötigen die Kinder für das eigene Überleben und zum Schutz vor der Gewalt des Partners der Mutter bzw. des Opfers. 3.3.1 Erziehungsverhalten des betroffenen Elternteils

Tschöpe-Scheffler (2005) beschreibt in ihren Ausführungen zu entwicklungsförderndem und entwicklungshemmendem Erziehungsverhalten das Modell der »Fünf Säulen der Erziehung«. Die Autorin unterscheidet Eltern, die dem Kind entwicklungsfördernde Unterstützung geben können, und elterliches Verhalten, das entwicklungshemmend wirkt. Das Modell der »Fünf Säulen« soll als Orientierung und diagnostisches Instrument eingesetzt werden, um Missachtung, Demütigung und seelische Verletzungen erkennen zu können. Entwicklungsförderndes Verhalten basiert auf einer Ebene, in der es ein eindeutiges »Ja« zum Kind und zur Verantwortung und Zuständigkeit sowie zur Übernahme der Mutter- und Vaterrolle kommt. Die Säulen sind Liebe, Achtung, Kooperation, Struktur und Förderung. Ist die Basis der Beziehung zwischen dem Kind und dem Erwachsenen hingegen rigide und durch Desinteresse geprägt oder gar feindselig, tritt an die Stelle der Zustimmung zum Kind eher Ablehnung oder eine ambivalente Haltung, und es wird kaum eine sichere Bindung zwischen Mutter und Kind bzw. Vater und Kind entstehen (vgl. Tschöpe-Scheffler, 2005  : S. 305 ff.). Entwicklungshemmendes Verhalten zeigt sich in einem Zuviel oder Zuwenig an emotionaler Wärme, Schutz, Sicherheit und Struktur. In einer Interview­ passage erzählt die Mutter  : »Ja, was sie wollen, ja. Manchmal kaufe ich ihnen […] ein Playstation-Spiel. Ja, also ich versuche, soweit es mir möglich ist, wirklich alles zu tun für sie.« Kennzeichen einer entwicklungshemmenden Erziehung sind emotio-

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nale Kälte oder Überfürsorge, Missachtung, Dirigismus, Chaos und mangelnde Forderung oder Überforderung. Zu den entwicklungshemmenden Aspekten gehören bei der emotionalen Kälte, ebenso wie bei deren Gegenteil, der emotionalen Überhitzung, Ablehnung, Distanz, Zurückweisung, Überbehütung, Abhängigkeit und besitzergreifende Liebe. Achtung, Anerkennung, Lob und Respekt stärken die Persönlichkeit des Kindes, wohingegen Geringschätzung, Missachtung, Desinteresse und Demütigungen das Kind schwächen. Anhand dieses Modells kann elterliches Verhalten reflektiert werden. Mithilfe einer fördernden Erziehung ist das Kind in der Lage, Selbstwertgefühl und Selbstregulation aufzubauen(vgl. Tschöpe-Scheffler, 2005  : S. 308 f.). Kindler (2002  : S. 43) stellt sich die Frage, ob die Gesundheit und die psychische Verfassung der Mutter und ihre Fähigkeit zur Fürsorge einen negativen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes ausüben könnten. Aufgrund der direkten Belastung der Mutter ist anzunehmen, dass diese den Bedürfnissen der Kinder nach Fürsorge, Trost und Anleitung nicht mehr ausreichend nachkommen kann und dies dann in weiterer Folge die Entwicklung des Kindes ungünstig beeinflusst. 3.3.2 Psychosoziale Schutzfaktoren

Partnerschaftsgewalt gilt als Belastungsfaktor im Leben von Kindern. Zu den wichtigen Maßnahmen zur Verringerung des Risikos, an einer psychotraumatischen Belastungsstörung zu erkranken, gehören die Förderung und Herausbildung von Schutzfaktoren. Miterlebte Gewalt geht auch dann mit wesentlichen Beeinträchtigungen kindlicher Entwicklung einher, wenn andere mögliche Belastungen nicht vorliegen. Untersuchungen dazu, welche Umstände Kinder vor schädigenden Auswirkungen schützen, gibt es noch nicht sehr viele. Der Gewaltbericht 2001 (vgl. Appelt & Höllriegl & Logar, 2001  : S. 415 f.) nennt drei wesentliche Merkmale. Das erste Merkmal umfasst Charakter und Wesen des Kindes. Kinder, die sich gut anpassen können und intelligent sind und/oder über Talente oder andere innere Ressourcen verfügen, bewältigen Gewalterfahrungen leichter. Innere Kraftquellen und Überlebensenergien, mit deren Hilfe Kinder trotz schwieriger Lebensumstände oftmals den negativen Gewalt­ erfahrungen positive Kräfte entgegensetzen können, tragen wesentlich zu den psychosozialen Schutzfaktoren bei. Zu diesen Ressourcen zählen Kreativität, Spiritualität und Glaube sowie Tagträume und Fantasien. Durch kreative Prozesse, wie zum Beispiel durch Malen, Schreiben und Zeichnen, kann Gefühlen und Fantasien Ausdruck verliehen werden. Psychische Ressourcen können gestärkt und Erholungsprozesse von den Gewalterfahrungen in Gang gesetzt werden. Auch Musik und Rhythmus können dabei unterstützend sein. Die Psychologin des Kindes im untersuchten Fall beschreibt, wie das Kind durch Zeichnen, Formen und Spiel seine Gefühle zeigt. Durch Bewe-

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gung können Kinder wieder ihr eigenes Körpergefühl stärken und körperliche Kraft und Kompetenz erfahren. Hierzu zeigt sich, dass Buben Kampfsport, Selbstverteidigung oder Fußball bevorzugen, Mädchen hingegen andere Sportarten. Auch Orte in der Natur und die Beziehung zu Tieren können die Bildung guter innerer Objekte festigen und aktivieren. Die Lehrerin wie auch die Psychologin und die Mutter beschreiben im Interview die Hobbys und Tätigkeiten eines Buben, die sich sehr stark auf Natur und Tiere beziehen  : »Ja, also, er geht also wahnsinnig, er liebt Wasser. Also, ein Bach muss in der Nähe sein mit Fischen drinnen, also, da hat er auch ein Referat gehalten über Aquarium und so, also, da erzählt er jeden Tag. Also, er ist am Bach, und dann baut er sich Tümpel, und dann setzt er sich seine Fische ein, das ist einmal wichtig […]« (Lehrerin  : S. 6) Als zweites Merkmal wird die Qualität der Unterstützung durch Bezugspersonen genannt. Dies bedeutet ein Eingebundensein in ein soziales Umfeld wie Familie, Freundeskreis etc. Unterstützung durch Freundinnen und Freunde, Lehrerinnen und Lehrer oder andere wichtige Personen können Schutzfaktoren sein. Die Einzelfallstudie skizziert, dass das Kind aufgrund der familiären Situation zu Hause kaum Freundinnen und Freunde zu sich eingeladen hat. Nach der Trennung von der gewalttätigen Person können Selbstwertgefühl und innere Sicherheit durch den Aufbau erneuter Vertrauensbeziehungen wiederhergestellt werden. Eine positive Beziehung zu FreundInnen kann erst nach dem Aufdecken der familiären Gewalt entwickelt werden, wenn Gefühle von Scham und Tabu nicht mehr belasten und neue Freundschaftsbeziehungen aufgebaut werden können (vgl. Strasser, 2001  : S. 242 ff.). Das dritte Merkmal beschreibt die Qualität der Unterstützung durch die Familie, in der gleichzeitig Gewalt miterlebt oder erlebt wird und sie sich dadurch nicht als Schutzfaktor erweist (vgl. Appelt & Höllriegl & Logar, 2001  : 415–416). Die aufgezählten psychosozialen Schutzfaktoren können verhindern, dass einzelne Gewalterfahrungen traumatisieren oder langfristige schädigende Auswirkungen haben. 4. Die Bindungstheorie In den ersten Lebensjahren entstehen verschiedene Bindungsqualitäten, wobei unterschiedliche emotionale Verfügbarkeiten der Bezugspersonen eine bedeutende Rolle spielen. Der englische Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby begründete in den 1950er-Jahren die Bindungstheorie, nach der der Säugling im Laufe seiner ersten Lebensjahre auf der Grundlage seines biologisch angelegten Verhaltenssystems eine starke emotionale Bindung zu einer Hauptperson entwickelt (vgl. Brisch, 2000  : S. 91). Bowlbys Konzept basiert auf dem Hintergrund der Erfahrungen mit Heim-

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kindern und dem Phänomen des Hospitalismus sowie den Reaktionen von Kindern, die von ihren Eltern längere Zeit getrennt waren (vgl. Julius, 2009  : S. 13). Als Bindung versteht man das imaginäre Band, das in den Gefühlen einer Person verankert ist und welches sich über Raum und Zeit hinweg an eine andere Person bindet (vgl. Grossmann & Grossmann, 2006  : S.  72). Das grundlegende Band, das einen Menschen mit einem anderen verbindet, wird bei der Trennung von Eltern und Kindern gelöst. Bowlby ging in seinen Untersuchungen deshalb der Frage nach, welchen Charakter diese Bindungen haben und wie sich diese entwickeln. Bindung wird durch Sehen, Hören und Halten vermittelt und ist ein allgemeiner Begriff, der sich auf den Zustand und die Qualität individueller Bindungen bezieht. Einzelne Interaktions­ erfahrungen der Kinder mit ihren Bezugspersonen gestalten sich unterschiedlich. Bindungen können in sichere und unsichere unterteilt werden. Bindungsverhalten wird durch eine drohende oder tatsächliche Trennung von der Bindungsfigur ausgelöst und meint Formen von Verhalten, durch welche eine Person Nähe zu einem bevorzugten Individuum herstellt oder aufrechterhält. Für die Bindungstheorie von Bedeutung ist die Ansicht, dass sich Bindung auf eine Figur bezieht. Bindung ist laut Bowlby ›monotrop‹ und heißt, dass sie nur bei einer einzigen Figur vorkommt, die meistens die Mutter ist. Dies hat tiefgreifende Folgen für die psychische Entwicklung und die Psychopathologie des ganzen Lebenszyklus (vgl. Holmes, 2006  : S.  87 ff.). Die Bindungstheorie charakterisiert das Bild der Mutter anders als jenes der KindVater-Bindung. Die Mutter wird als zuverlässige und feinfühlige Sicherheitsbasis gesehen, wogegen der Vater als vertrauter Begleiter und starker und weiser Gefährte wahrgenommen wird (vgl. Grossmann & Grossmann, 2006  : S. 221). »Die Bindung eines Kindes zum Vater könnte sich also aus der Qualität seiner Unterstützung der kindlichen Exploration parallel zur Mutter-Kind-Bindung entwickeln« (Grossmann & Grossmann, 2006  : S. 222). Unter dem Bindungsverhalten versteht man das Verhalten mit dem Ziel, Nähe zur Bindungsperson zu erlangen, um das Gefühl der Sicherheit zu gewinnen. Dies begleitet den Menschen von der Geburt bis zum Tod. Hierzu zählt man Kommunikationsverhalten, welches die Distanz zur Bindungsperson verringern soll, oder auch das Verhalten, das die Bindungsperson in der Nähe hält bzw. eine Trennung verhindern soll. Dies äußert sich in Festhalten, Anklammern und auch im Verhalten der Person, die die Nähe sucht. Das Verhaltenssystem reguliert in der Bindungstheorie die Bindungsprozesse und wird als eigenständiges System gesehen. Diese Emotionen steuern Gefühle, Motive, Verhaltensweisen, Wahrnehmungs- und Denkprozesse mit ihren jeweils eigenen Zielen (vgl. Grossmann & Grossmann, 2006  : 72 ff.).

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164 4.1 Vier internale Arbeitsmodelle der Bindung

Internale Arbeitsmodelle beinhalten Gefühle, Vorstellungen und Wissen über sich und die Bindungsperson inklusive der Erwartungen, wie die Bindungsperson auf die eigenen Bindungs- und Explorationswünsche reagieren wird. Diese Arbeitsmodelle werden als Erklärung der Steuerung des Bindungs- und Explorationsverhaltenssystems und von Verhalten, Emotion und Kognition von emotional belastenden Situatio­ nen herangezogen (vgl. Grossmann & Grossmann, 2006  : S. 72). Die Bindungstheorie besagt, dass ab dem Kleinkindalter »ein inneres Arbeitsmodell der Bindung oder ein mentales Bindungsmodell« (Gloger-Tippelt & König, 2005  : S.  349) aufgebaut wird. Das bewusste und unbewusste Wissen über Beziehungserfahrungen in der Herkunftsfamilie, über diesbezügliche Bewertungen und Gefühle sind im Zusammenhang mit den Erfahrungen und bindungsbezogenen Gedächtnisinhalten zusammengefasst. Vorstellungen relevanter Bezugspersonen und der eigenen Person sind darin vorhanden (vgl. ebd., 2005  : S. 347). Je nach der Qualität von Beziehungserfahrungen entwickeln Kinder ein sicheres, ein unsicher-vermeidendes, ein unsicher-ambivalentes oder ein desorganisiertes Arbeitsmodell von Bindung. 4.1.1 Das sichere Bindungsmodell

Das sichere Bindungsmodell beschreibt, dass das Kind die Erfahrung einer verlässlichen Bezugsperson macht und dadurch ein liebenswertes Selbstbild aufbauen kann, welches auf die Umwelt auch so wirkt. Im Arbeitsmodell sicher gebundener Kinder suchen diese in belastenden Situationen aktiv Nähe, Trost und Unterstützung bei Bezugspersonen, da sie feinfühlige, zuverlässige, unterstützende und verfügbare Bindungsfiguren erlebt haben. Sie sind sich ihrer Bezugspersonen sicher und können emotionale Betroffenheit ausdrücken, indem sie ihre negativen Gefühle wie Angst oder Ärger äußern können. Das Gefühl von Sicherheit ist gegeben. Diese Personen verfügen über ein gutes Selbstkonzept. 4.1.2 Das unsicher-vermeidende Bindungsmodell

Beim unsicheren Bindungsmodell erfährt das Kind Ignoranz oder das Zurückweisen der Bindungsbedürfnisse. Durch die fehlende Aufmerksamkeit konstruiert sich das eigene Selbst als nicht beachtenswert und nicht liebenswert. Diese unterschiedlichen Bindungsmuster können zu unsicher-vermeidenden oder ambivalenten Bindungen führen. Kommt es in den familiären Beziehungsmustern zu einer Veränderung, wie zum Beispiel Trennung und Gewalt, dann kann dies auch zu Veränderungen der Bin-

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dung führen. Ihre Bezugspersonen als zurückweisend und nicht unterstützend empfunden haben Kinder, die zum Arbeitsmodell der unsicher-vermeidenden Bindungsmodelle zählen. Um in der konkreten belastenden Situation weitere Zurückweisungen zu vermeiden, verhalten sich diese Kinder eher beziehungsvermeidend und suchen in belastenden Situationen nicht die Unterstützung der Bezugsperson. Ihr Verhalten wird auf andere Objekte umgelenkt, um sich von der emotional belastenden Situa­ tion zu distanzieren. Diese Kinder haben einen eingeschränkten Zugang zu ihren Gefühlen (vgl. Julius, 2009  : S. 14) und die Strategie der Vermeidung entwickelt und können negative Gefühle nicht in eine positive Erwartungshaltung integrieren. Negative Gefühle gegenüber der Bindungsperson werden im Gegensatz zum unsicherambivalenten Modell gegen die Bindungsfigur nicht mehr ausgedrückt. Kinder bauen sich eine Art unsichtbare Mauer auf, hinter der sie nicht hervorkommen und über die die Bindungsfigur auch nicht hinweg kann. 4.1.3 Das unsicher-ambivalente Bindungsmodell

Unsicher-ambivalent gebundene Kinder haben ihre Bindungsfiguren als unberechenbar in ihrer Verfügbarkeit erlebt. In belastenden Situationen können sie sich nicht sicher sein und suchen daher ständig deren Nähe. Dies äußert sich in anhänglichem Verhalten, welches auf Kosten des Explorationsverhaltens geht. Die Ambivalenz manifestiert sich darin, dass diese Kinder Ärger gegenüber ihren Bindungsfiguren äußern, wenn diese sie nicht beachten. »Die innere Einstellung, die diese Kinder in die fremde Situation mitbringen, macht sie unruhig und aktiviert ihr Bindungssystem allein schon wegen der fremden Umgebung und der fremden Person« (Fremmer-Bombik, 1999  : S. 114). Trennungen belasten diese Kinder besonders stark, die sich auch sehr ambivalent ihren Bezugspersonen gegenüber verhalten. Da auch keine positive Erwartungshaltung aufgebaut werden kann, können negative Gefühle nicht auf ein positives Ziel hin integriert werden (vgl. Fremmer-Bombik, 1999  : S. 115). 4.1.4 Das desorganisierte Arbeitsmodell von Bindung

Solomon und George (vgl. Julius, 2009  : S.  15) haben neuerdings noch ein viertes Bindungsmuster hinzugefügt, welches beschreibt, dass das Kind selbst verletzlich und hilflos in den Angst auslösenden Situationen ist. Dieses Modell ist charakteristisch für Kinder, die von ihren Eltern zurückgewiesen oder vernachlässigt werden, denn solche Bindungsfiguren sind oftmals Quelle der Angst.

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166 4.2 Umwelteinflüsse und Persönlichkeitsentwicklung

Unter den Aspekten der Umwelteinflüsse sprach Bowlby den Persönlichkeitsentwicklungen in den Beziehungen eine wichtigere Rolle zu als dem Instinkt oder der genetischen Ausstattung (vgl. Holmes, 2006  : S. 130). Bowlby (2006  : S. 176) beschreibt, dass sich die Psychoanalyse darüber einig ist, dass die erste menschliche Beziehung des Kindes der Grundstein zu seiner Persönlichkeit ist. Die Entwicklung des Verhaltens eines Individuums muss aufgrund zweier unterschiedlicher Aspekte betrachtet werden, welche in der Psychoanalyse von großer Bedeutung sind. Der eine Teil beschäftigt sich damit, wie sich ein aktiver Verhaltensapparat von einer Phase zur anderen im Lebenszyklus verändert, und der andere damit, wie jeder Teil dieses Apparates seine eigene Ausprägung findet (vgl. Bowlby, 2006  : S. 144). Bowlby weist darauf hin, dass, je größer die Abweichung der sozialen Umwelt, in der ein Kind aufgezogen wird, ist, desto größer ist das Risiko, dass es schlecht angepasste Verhaltensmuster entwickelt (vgl. Bowlby, 2006  : S. 167). Beide Veränderungen erfordern eine Anpassungsleistung sowohl von den Kindern als auch von den Eltern. Bowlby bezeichnet dies als »Strukturveränderung« (Bowlby, 2006  : S. 60), da jede neue Person und jede neue Umwelt ihre eigenen Strukturen aufweisen und andere Verhaltensweisen verlangen. Daraus entsteht ein andauernder »Prozess der Anpassung« (ebd.), der immer wieder Unsicherheiten und Instabilität mit sich bringt. In der Einzelfallstudie ist die Mutter die Bindungsperson, und in einem Interview mit der Lehrerin kommt das Festhalten und Klammern an die Bindungsperson zum Ausdruck. »Das hat schon begonnen bei der Schülereinschreibung, dass er also in Tränen ausgebrochen ist, wie die Mutter fortgegangen ist, wie wir alleine waren,… ah das war am ersten Schultag noch so, und am zweiten Tag habe ich, wie auch immer, weiß ich nicht, also, sein Vertrauen schon gehabt, sodass er also irgendwie eine Bindung an mich gefunden hat, und er ist dann auch immer freiwillig Förderunterricht gegangen. […] Das Zweite war, dass, wenn er andere Lehrer hatte, Werken und so, die Mama anrufen wollte, sie soll ihn holen, es tut ihm was weh, also, wenn so die Bezugsperson weg war, dann wollte er halt unbedingt immer die Mama haben« (Lehrerin  : S. 1). Der Frankfurter Psychoanalytiker Erik Erikson bezieht soziale und individuelle Entfaltungsmöglichkeiten in die individuelle Entwicklung mit ein. Einzelne Lebensabschnitte werden als Lebensaufgaben gesehen, die gelingen können oder auch nicht. Dies beginnt im Säuglingsalter mit dem Urvertrauen, dessen Ausformung mit der sicheren und unsicheren Bindungsqualität in der Bindungstheorie verglichen werden kann. In der mittleren Kindheit entwickeln sich nach Erikson Entwicklungsaufgaben der Schaffensfreude und ein Sinn für Werte. Es geht hierbei um ein Vermitteln der Kultur sowie um einen konstruktiven Umgang mit schwierigen Anforderungen, die

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eigene Leistungsbewertung und die Fähigkeit, um Hilfe zu bitten (vgl. Grossmann & Grossmann, 2006  : S. 359 ff.). John Bowlby hat die Rolle von Emotionen im Bindungsprozess erkannt und bezeichnet sie für das Individuum als eine Art Warnsystem für die inneren Zustände und Situationen. Die Fähigkeit, dies bei Kummer, Angst oder Ärger den Bezugspersonen mitzuteilen und zu zeigen, ist für die Entwicklung einer sicheren Bindung im Kindesalter ganz entscheidend (vgl. Magai, 1999  : S. 140). 4.3 Schutzfaktoren und Sicherheit

Die Beziehungsqualität zwischen dem Kind und der Bezugsperson ist von der Kontinuität oder Diskontinuität abhängig. Die Kontinuität des Bindungsverhaltens von der Kindheit bis zum Jugendalter ist einerseits von der Stabilität der Beziehungsqualität zwischen dem Kind und der Bindungsfigur und andererseits von den Internalisierungen der Interaktionserfahrungen mit den Bindungspersonen zu internalen Arbeitsmodellen abhängig. Es gibt wenige Langzeituntersuchungen, die auf eine mögliche andauernde Wirkung früher Bindungserfahrungen hindeuten. Nachgewiesen werden konnte, wie sehr sich die Qualität der elterlichen Akzeptanz und Unterstützung des Kindes, die sich positiv wie auch negativ äußern kann, auf die weitere Bindungsentwicklung auswirkt. Traumatische Ereignisse wie Trennung, Tod oder Krankheit einer nahestehenden Person haben ebenfalls Auswirkungen auf die Bindungsentwicklung und die verinnerlichten Abläufe mit dem Umgang von großen Belastungen. Kontinuität zeigt sich nach Bowlbys Überlegungen vor allem in günstigen und wenig traumatischen Lebensumständen, die in den Lebensläufen zu einer normalen Entwicklung beitragen. Bei einschneidenden, traumatischen Ereignissen und Lebensumständen führt dies mit großer Wahrscheinlichkeit zu Abweichungen (vgl. Grossmann & Grossmann, 2006  : S. 495 ff.). Nach Bowlbys Modell kann die Bindungsentwicklung dann Stabilität zeigen, wenn die Interaktionserfahrungen mit den Bezugspersonen konstant bis zum Jugendalter bleiben. Diskontinuität in der Bindungsorganisation ist durch die Verfügbarkeit der Bindungspersonen, ihre emotionale Unterstützung und Zugänglichkeit beeinflusst (vgl. Zimmermann & Spangler & Schieche & Becker-Stoll, 1999  : S. 311 f.). Die Entwicklung eines sicheren Beziehungsmusters in der frühen Kindheit wird als Schutzfaktor angesehen, der eine gesunde psychische Struktur und Widerstandskraft fördert. Eine sichere Bindung kann konstruktivere und soziale Bewältigungsstrategien in Notsituationen aktivieren, schützt aber nicht vor Traumatisierungen. Ihr wird jedoch eine primär präventive Funktion zugeschrieben, da das Kind sich in Notsitua­ tionen Hilfe holen kann und sich an Bindungspersonen wendet (vgl. Brisch, 2000  : S. 100). Als Entwicklungsaufgaben werden in den Forschungen der Entwicklungspsy-

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chologen Karl und Charlotte Bühler sowie Erik Erikson der Aufbau eines positiven Selbstbildes sowie die Entwicklung sozialer Kompetenzen gesehen. Eine wesentliche Aufgabe ist auch der Erwerb von Sachkompetenzen und Schaffensfreude mit einem Sinn für Ziele, die verfolgt werden wollen. Diese erfolgreiche Bewältigung der Entwicklungsaufgaben ist an eine schützende und wertschätzende Haltung der Eltern zum Kind gekoppelt. In der mittleren Kindheit des Volksschulalters stehen die Selbstständigkeit und die Gestaltungsmöglichkeiten im Vordergrund. Ein wichtiger Aspekt in der Bindungstheorie ist, dass Bindungsforschung nicht primär Risiko- und Schutzfaktoren sowie ihre Einflüsse auf die seelische Gesundheit von Menschen untersucht, sondern die Auswirkungen der Bindungserfahrungen im Mittelpunkt stehen. In der heutigen Bindungsforschung liegt die Stärke wohl in den umfangreichen Einzelbeobachtungen und auch in der Erfassung und Begründung mentaler-geistiger Organisationsstrukturen, die späteren Verhaltensmustern in Bindungen zugrunde liegen (vgl. Grossmann & Grossmann, 2006  : S. 413). Entscheidend für die größere oder geringere Verletzlichkeit gegenüber traumatischen Lebensereignissen oder Situationen ist, ob das Lebensgefühl und die Ereignisse reich an erfreulichen und emotionalen Inhalten sind, für die man sich gerne anstrengt und die wertgeschätzt werden. Die negative Seite wäre, dass das Leben als Last und ohne lohnenswerte Ziele gesehen wird. Ob psychische Sicherheit das eigene Leben dominiert, hängt davon ab, ob die Bereitschaft und die Möglichkeit zu sicheren Bindungen besteht (vgl. Grossmann & Grossmann, 2006  : S. 612). Viele Grundannahmen der Bindungstheorie sind durch empirische Untersuchungen belegbar, jedoch ist die Bindungstheorie eine Theorie, die lebendig ist und die sich weiterentwickeln und konkretisieren lässt. 5. Verhaltensdimensionen von Kindern bei miterlebter Gewalt Die Kernaussagen der Einzelfallstudie zeigen, dass sich miterlebte Gewalt auf unterschiedlichen Ebenen bei Kindern auswirkt, und stellen die Frage, welche Relevanz sich daraus für die Sozialarbeit ergibt. Der Beitrag skizziert, dass es Auswirkungen miterlebter Gewalt auf Kinder gibt, welche das Verhalten des Kindes zu sich und seiner Umwelt, zu Mutter und Vater, zu Gleichaltrigen betreffen. Das Miterleben von Gewalt wurde lange Zeit nicht in diese Systematik der Formen von Gewalt miteinbezogen. Kinder sind anwesend, wenn der Gewalttäter das Opfer, hier der Vater die Mutter, beschimpft, Gegenstände nach ihr wirft, sie zusammenschlägt, vergewaltigt oder sie mit dem Umbringen bedroht. Kinder sind häufig direkte ZeugInnen von Misshandlungen an einem Elternteil oder erleben die Auswirkungen dieser mit. Sie

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sehen und hören die Gewalt mit an oder sehen die Verletzungen. Im vorliegenden Fall war das Kind bei direkten Übergriffen des Vaters auf die Mutter anwesend und wurde Zeuge von Auseinandersetzungen. Diese Verhaltensdimensionen von Kindern miterlebter Gewalt lassen sich für deren Beschreibung folgendermaßen visualisieren (siehe Abb. 1). Abb. 1  : Fünf Verhaltensdimensionen von von Kindern miterlebter Gewalt

  5.1 Verhalten des Kindes und zu seiner Umwelt

Das Verhalten des Kindes, welches Zeuge der Gewalthandlung des Vaters gegenüber der Mutter geworden ist, lässt sich mit Weinen und Zittern am ganzen Körper beschreiben. Im Interview beschreibt die Mutter das direkte Miterleben der Gewalt der Kinder  : »Er soll mich gehen lassen, ich meine, jetzt nicht so gewalttätig, dass er – also wie er mich das letzte Mal bei den Haaren gezogen hat, ich meine, weiß nicht, wie ich das bezeichnen kann, das haben alle Kinder, außer der Große hat es nicht gesehen […]« (V1  : S. 5). Weiter sagt sie über die miterlebte Situation der Gewalt  :

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»[…] ja, die Kinder haben dann […] geweint, beide, der Name des Bruders [Anm. d. Verf.] und selbst auch, …aah ich bin dann zu den Kindern hingegangen, weil er hat mich – er ist dann hinausgegangen oder was, ich weiß nicht mehr, aber ich bin dann zu den Kindern hingegangen und habe sie halt genommen, und uns hat […] alle drei am ganzen Körper gerissen, und wir haben geweint alle drei, und bis ich dann den Entschluss gefasst habe – ich habe gesagt […]  : ›So, jetzt gehen wir […] hinüber und erzählen ihm das Ganze  !‹ Und sie haben dann richtig reagiert und die Polizei angerufen« (Mutter  : S. 5 f.). Solche akuten Krisensituationen lösen lebensbedrohliche Angst und Unsicherheit aus. Verhaltensauffälligkeiten können im Bereich des Schlafverhaltens festgestellt werden, indem das Kind Albträume hat und nicht alleine im Bett schläft. Wenn Kinder von miterlebter Gewalt betroffen sind, schildern sie Angst, Mitleid, Erstarrung sowie auch Hilflosigkeit. Im Hinblick auf das Verhalten von Kindern wird aggressives und unruhiges Verhalten beobachtet. Auch eine übersteigerte »Wildheit« kann festgestellt werden, die sich oftmals in aggressiven Äußerungen oder Handlungen äußert. Die Mutter sagt von ihren Kindern, »sie haben eben das Problem, dass sie nicht reden können. Also, das haben sie – sie tun halt gleich zuschlagen« (Mutter  : 2). Kinder haben Angst um den betroffenen Elternteil und wollen diesen mit unterschiedlichen Handlungen schützen. Dies lässt sich aufgrund der gewünschten Kontaktaufnahme des Kindes in der Schule zur Mutter, der Schulverweigerung sowie des gemeinsamen Schlafens in einem Bett aufzeigen. Die Mutter (Interview Mutter  : 6) beschreibt, dass der Bub einige Male unfähig war, in die Schule zu gehen. Er hat gebettelt, daheim bleiben zu können. »Und wenn er [der Bub, Anm. d. Verf.] sich dann überwunden hat und in die Schule gegangen ist, dann ist ihm in der Schule schlecht gewesen und Bauchweh, weil er eben nicht gewusst hat, was mit mir ist und weil er Angst gehabt hat, ja« (Mutter  : S. 6). Das Kind mischt sich auch aktiv in die Gewaltsituation ein und versucht die Mutter zu schützen, indem es sich an sie klammert oder dazwischengeht und Hilfe holt. Wichtiges Ziel in der Arbeit mit Kindern, die von miterlebter Gewalt betroffen sind, ist es, dass sie lernen, Gefühle auszudrücken, ihr Konfliktverhalten zu ändern und andere Konfliktlösungsmuster zu finden. Eine schützende und wertschätzende Haltung der Eltern zum Kind ist wesentlich. Auch die inneren Schutzfaktoren tragen zu einem gelingenden Leben und zu positiven Handlungsstrategien von Kindern bei. Das Kind, das von miterlebter Gewalt betroffen ist, zieht sich zurück und versucht erst, wenn es sich in Sicherheit weiß, Kontakte zur Umwelt herzustellen und sich zu öffnen. Die Umwelt des Kindes bekommt aggressives Verhalten zu spüren, oft auch ohne ersichtlichen Auslöser. Familiäre und soziale Beziehungen können dem Kind psychosoziale Schutzfaktoren sein. Hierzu zählen die Unterstützung der Bezugsper-

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sonen und die Qualität der Bindung. Auch Bezugspersonen, wie zum Beispiel die Lehrerin, können zu einer sicheren Bindung zum Kind und einer positiven Erfahrung der Verlässlichkeit beitragen. Psychosoziale Schutzfaktoren zeigen sich in einem guten sozialen Umfeld wie Familie, Freundeskreis sowie SchulkollegInnen. Hinzu zählen auch Hobbys in der Natur und der Umgang mit Tieren, welche positive Erlebnisse fördern können. 5.2 Verhalten zur Mutter und zum Vater

Die Grundlage psychischer Sicherheit bildet das Vertrauen in die schützende Nähe und den emotionalen und unterstützenden Beistand bei psychischen Belastungen in eine Bindungsperson. Die Mutter stellt für das Kind, welches von miterlebter Gewalt betroffen ist, eine wichtige Bezugsperson dar. Die Mutter sorgt sich um ihr Kind und widmet ihm intensive Aufmerksamkeit. Sie wünscht sich für ihr Kind ein besseres Leben und versucht, die Situation mit materiellen Dingen auszugleichen und Wünsche zu erfüllen, was im Erziehungsverhalten seinen Ausdruck findet. Die enge Bindung des Kindes an die Mutter und die Umkehr der Rolle der Eltern und Kinder kann entwicklungshemmend sein. Die Kinder sorgen sich um den betroffenen Elternteil und beschützen ihn. Sie werden nicht mit ihren Bedürfnissen wahrgenommen und müssen eine erwachsene und schützende Rolle einnehmen. Aufgrund der Zerstörung des Selbstwertgefühls und Selbstbewusstseins klammern sich Eltern häufig an ihre Kinder. Für die Kinder verursacht die Traumatisierung der Mutter den Verlust einer sicheren Bindung und der Erfahrung von Geborgenheit, Wertschätzung und Vertrauen (vgl. Strasser, 2001  : 145 ff.). »Er, er liegt zwar immer noch bei mir [lacht] im Bett, aber das ist eine ganz eine andere […]. Mir ist das schon immer egal gewesen, wenn er im Bett liegt, aber, aber hat nur immer, er was immer dagegen gehabt, der Vater was dagegen gehabt und ›Ich kann nicht schlafen, ich habe keinen Platz, und ich habe Kreuzweh  !‹, und das waren seine Ausreden, ich meine, das habe ich auch gehabt – aber man kann sich ja so – es war ja ein großes Doppelbett, was wir gehabt haben, und das waren immer seine Ausreden, und auch das Ganze mit dem Sexuellen, das war ihm nämlich schon immer egal« […] (Mutter, S. 7). Diese Interviewpassage zeigt, dass der Bub oftmals als Schutzschild für seine Mutter da war, sie in der Nacht zu beschützen, insbesondere vor Übergriffen des Vaters auf die Mutter. Solche Erfahrungen und Verhaltensweisen werfen Fragen bezüglich des Loslösens und der Potenziale für einen Prozess eines gelingenden Erwachsenenwerdens auf. Das Bild des Vaters und damit oftmals des Täters ist sehr negativ geprägt. Diese negative Sichtweise kommt auch immer wieder verbal oder in aggressiven Handlungen

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zum Ausdruck. Das Bild des Vaters ist bei dem Buben in der Einzelfallstudie sehr negativ geprägt, »[…] was er nicht gerne sieht, den Papa, worüber er nicht gerne spricht, den Papa, wen er nicht gerne mag, den Papa, … ah und wo er nicht gerne hingeht, ins Haus vom Papa« (Psychologin  : S. 7). »Ja, es kommt schon, also, ein ziemlicher Hass gegenüber dem Vater, das kommt schon, also, wenn wir auch so ansprechen, dass eventuell ein Besuchskontakt anstehen würde, dass er das vielleicht machen muss mit Begleitung, also, da kommt extremer Hass, also, und nur Aggression. Also, da würde er davonlaufen oder, ja, was weiß ich, eben auch wieder mit Aggression reagieren und sonst halt« (Psychologin  : S. 4). Hierzu berichtet die Psychologin davon, dass der Bub im Rahmen einer Therapiestunde die Aufgabe hatte, eine verzauberte Familie zu zeichnen. »Also, da zeichnet er sich zum Beispiel als Tiger und Löwe und die Mama dann als Elfe oder Schutzengel, und sie sind dann gemeinsam stark gegen den Vater« (Psychologin  : S.  3). In dieser Zeichnung stellt er den Vater als Schneemann dar, und im Vergleich zu allen anderen Gestalten hat er dem Vater schwache und starre Begrifflichkeiten zugeschrieben. Auf Nachfragen der Psychologin, warum er den Vater als Schneemann zeichnet, erklärte Max  : »Weil dann kommt die Sonne, und dann schmilzt er, und dann ist er weg [lacht]« (Psychologin  : S. 3)  ! Die Angst des Kindes besteht darin, dass irgendwann etwas passieren könnte, sodass er derjenige ist, der die Mutter beschützt (vgl. Psychologin  : S. 3). Die Mutter berichtet davon, dass »gegen den Vater, ja, dass da richtige Mordgedanken da sind gegenüber ihm […]« (Mutter  : S. 13). Kinder leiden unter physischen Belastungen, wenn die Eltern nicht in der Lage sind, ihnen Trost, Halt und Verständnis entgegenzubringen, und der betroffene Elternteil oftmals erschöpft und traumatisiert ist. Darüber hinaus sind es psychische Belastungen, die auf die Entwicklung des Kindes einwirken und das Wohlbefinden behindern. Kinder haben oftmals existenzielle Angst um die Mutter, um sich und um die Zukunft und empfinden dem Vater gegenüber Hass. Der Wunsch nach Distanz wird durch die Ablehnung des Kontaktes deutlich. 5.3 Verhalten mit Gleichaltrigen

Die Beziehung zu Gleichaltrigen ist für den Schutz und für soziale Beziehungen von großer Bedeutung. Familiäre und soziale Beziehungen sind ein wesentlicher Schutz für Kinder, die von miterlebter Gewalt betroffen sind. Eine positive Beziehung zu Freundinnen und Freunden kann allerdings oftmals erst nach dem Aufdecken der familiären Gewalt entwickelt werden. Gefühle von Scham und Tabu wirken im sozialen Netz mit Gleichaltrigen weniger belastend, und neue Freundschaftsbeziehungen können aufgebaut werden. Die Mutter beschreibt die aktuelle Situation folgendermaßen  :

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»Ja, also, er ist wirklich glücklich, dass er, dass er jetzt da ist und dass er sich Kinder einladen kann, […] haben sie das schwer vermieden, unsere Kinder, weil sie haben sich einfach geschämt. […] ich glaube, die haben sich geschämt mit der Großmutter, mit dem Vater, die haben das alles vermieden […]« (Mutter  : S. 9). Einladungen und Kontakte zu Gleichaltrigen fördern die psychosoziale Gesundheit des Kindes und sind wesentliche Bestandteile für ein gelingendes Leben. Zusammenfassend wird festgestellt, dass schützende Lebensumstände verhindern können, dass einzelne Gewalterfahrungen traumatisieren oder langfristige schädigende Auswirkungen haben. 6. Relevanz für die Sozialarbeit und Unterstützungsangebote Ein gesundes Aufwachsen von Kindern und deren Schutz und Sicherheit entsprechen dem Recht jedes Kindes auf eine gesunde Entwicklung und Entfaltung. Kinder werden eindeutig auch dann Opfer von Gewalt, wenn sie zwar nicht unmittelbar selbst Ziel der Gewalt sind, doch ZeugInnen von Gewalt werden. Die von Kindern empfundene Belastung, Überforderung und Verunsicherung angesichts der miterlebten Gewalt sind bislang kaum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Diskussion. Eine wichtige Maßnahme, Kinder vor miterlebter Gewalt zu schützen, sind Förderung und Stärkung psychosozialer Schutzfaktoren. Ein wesentlicher Schutzfaktor liegt dabei in einer sicheren Bindung zu einer Bezugsperson. Ziel in der Sozialarbeit mit von Gewalt Betroffenen ist, dass die Bezugsperson des Kindes nicht nur um ihrer selbst willen unterstützt wird, sondern auch um des Kindes willen, denn sie kann dieses nur schützen, wenn sie selbst handlungsfähig bleibt. Deshalb gehen Unterstützung und Schutz der betroffenen Person mit dem Schutz der Kinder einher. Der Elternteil, der von Gewalt betroffen ist, steht in einem Spannungsfeld. Auf der einen Seite stehen die Gewaltbeziehung und die eigene Betroffenheit, und auf der anderen Seite gilt es die Kinder zu schützen und zu stärken und für sie eine Bezugsperson darzustellen. Drei Ebenen konkreter Unterstützungsmöglichkeiten können hervorgehoben werden. Persönliche, rechtliche und materielle Unterstützungen können in aufrechter oder auch getrennter Beziehung von unterschiedlichen Einrichtungen gegeben werden und müssen auf den konkreten Fall abgestimmt sein. Auf persönlicher Ebene können Eltern- und Erziehungsberatungen, Paargespräche, Mediation, psychologische oder therapeutische Maßnahmen o.Ä. unterstützen. Das Aufzeigen und Zugänglichmachen von materieller Hilfe in Form von finanziellen Mitteln oder Sachspenden sind ebenso ein notwendiger Baustein. Auf rechtlicher Ebene können Informationen eingeholt und Schritte gesetzt werden. Beispielsweise können

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durch die Polizei eine Wegweisung und ein Betretungsverbot ausgesprochen werden. Durch einen gerichtlichen Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung (§§ 382b, 383e oder 382g Exekutionsordnung) kann dieses verlängert werden (vgl. www. ris.bka.gv.at, Stand  : 06.08.2010). Diese Anträge sind auch dann möglich, wenn vorher noch kein polizeiliches Betretungsverbot verhängt wurde, und können in unterschiedlichen Formen vom Gericht erlassen werden. Die einstweilige Verfügung kann vom Gericht als Auftrag zum Verlassen der Wohnung und deren unmittelbaren Umgebung oder auch für die Rückkehr in die Wohnung und deren unmittelbaren Umgebung erlassen werden. Ebenso kann die einstweilige Verfügung ein Kontaktverbot beinhalten. Sind Minderjährige von Gewalt betroffen, so muss der Antrag von ihren gesetzlichen VertreterInnen gestellt werden. Auch die Jugendwohlfahrtsbehörde ist ermächtigt, einen solchen Antrag auf einstweilige Verfügung für ein gefährdetes Kind zu stellen (vgl. Bauer, 2007  : S. 23 ff.). Jugendamt, Frauen- und Mädchenberatungsstellen, Gewaltschutzzentren, Männerberatungsstellen und andere psychosoziale Zentren sind gefordert, um Menschen im Spannungsfeld häuslicher Gewalt und ihren Erziehungsaufgaben zu unterstützen und ein Unterstützungsnetzwerk aufzubauen. Gerade Kinder, häufig das schwächste Glied in Gewaltverstrickungen, dürfen in Situationen der Partnergewalt nicht aus den Augen verloren werden. Eine sichere Bindung und andere Schutzfaktoren, wie ­soziale Kontakte, FreundInnen und Unterstützung von Bezugspersonen, sind Voraussetzungen, um belastende Situationen meistern zu können. Auch innere Ressourcen des Kindes, wie das Ausdrücken von Gefühlen im Spiel und in kreativen Prozessen, als auch die Bindung zu Tieren und das Aufhalten in der Natur tragen zu einem Leben in Sicherheit bei und sind somit Schutzfaktoren. Die Einzelfallstudie verdeutlicht, wie wichtig für Kinder Unterstützungen sind, wenn sie ZeugInnen von Gewalt wurden. Die Etablierung der Angebote für Kinder, welche Gewalt miterleben, wird noch andauern. Ausgehend davon ist eine Kooperation der einzelnen Institutionen notwendig. Dabei muss in Betracht gezogen werden, dass der Elternteil, der von Gewalt betroffen ist, oftmals bereits Hilfsangebote in Anspruch nimmt bzw. genommen hat. Die polizeiliche Intervention im Rahmen häuslicher Gewalt kann als ein Einstieg in die Hilfe gesehen werden, da die Polizei verpflichtet ist, den Vorfall an Opferschutzeinrichtungen und an das Jugendamt zu melden. So ist die Polizei meist die erste Akteurin, die Kontakt zur Familie bekommt und wesentliche Weichen für den weiteren Ablauf darstellt. Durch ihr Handeln oder auch Nichthandeln wird die Haltung gegenüber des Miterlebens häuslicher Gewalt und deren schwerwiegende Effekte sichtbar. Für alle beteiligten Einrichtungen und Organisationen ist es wichtig, das Wohl des Kindes zu fördern und es vor Gewalt zu schützen, um Sicherheit und Orientierung zu gewährleisten. Dies kann nur durch

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wache Augen und Ohren sowie mit einem sensibilisierten Blick und einem fundierten theoretischen Wissen aller beteiligten Personen sichergestellt werden. Als »die vergessenen Opfer« werden Kinder von Elternteilen bezeichnet, die von Gewalt betroffen sind. Deshalb ist es wichtig, bei Beratungen des Elternteils auch an die Kinder zu denken und eigene Angebote für diese zu finden. Ein geeignetes Angebot ist die Gruppenarbeit zur Aufarbeitung der Gewalterfahrungen. Kinder bekommen die Möglichkeit, in einem geschützten Raum ihre Gewalterfahrungen zu verarbeiten und in ihre Biografie zu integrieren. Sie haben die Chance, Gefühle auszudrücken, Fragen zu stellen und Informationen zum Thema der Gewalt zu bekommen. Solche Gruppenangebote können das Selbstbewusstsein und den Selbstwert des Kindes stärken und zu einer Identitätsbildung beitragen. Im Umgang mit anderen Kindern können neue Konfliktlösungsstrategien erlernt und angeeignet werden. Kinder lernen sich zu schützen und zu entscheiden, welches Verhalten ihnen gegenüber richtig ist und welches nicht. Elterngespräche und auch die gemeinsame Arbeit von Kindern und von Gewalt betroffener Elternteile können zur Stärkung einer sicheren Beziehung beitragen. Was nicht außer Acht gelassen werden darf, ist die behutsame und sensible Auseinandersetzung mit der Gewalt ausführenden Person, die ja auch Bezugsperson und Elternteil ist. Die Angebote haben die Aufgabe zu erarbeiten, wie in Zukunft die Beziehung zwischen Kind und der gewalttätigen Person aussehen kann. Diese Angebote tragen zur Enttabuisierung der häuslichen Gewalt in der Gesellschaft bei und schützen vor erneuter Gewalt. Weiter kann hier ein Betätigungsfeld für Sozial­ arbeit und Sozialpädagogik intensiviert und erweitert werden. Die Autoren Kindler & Werner (2005  : S. 104) beschreiben, dass sowohl in Deutschland als auch in Österreich generell eine unzureichende Datenlage vorhanden ist, um Schätzungen zum Thema der miterlebten Gewalt zu machen. Offenkundig ist, dass von Partnergewalt betroffene Kinder eine bedeutende Gruppe darstellen. Das Miterleben von Gewalt wurde lange Zeit nicht in die Systematik der Formen von Gewalt miteinbezogen, und auf weitere Untersuchungen und Auseinandersetzungen hierzu ist zu hoffen. Die hier vorgelegte Einzelfallstudie ist sich ihrer Grenzen bewusst, gerade auch deshalb interessieren weitere Untersuchungen für die Sozialarbeit und andere pädagogische und soziale Berufe. Eine bislang wenig genutzte Möglichkeit und um sich mit dem Thema der miterlebten Gewalt von Kindern zu beschäftigen, wäre die Dokumentenanalyse. Die Dokumentenanalyse will Material erschließen, welches nicht erst von ForscherInnen durch Datenerhebung geschaffen werden muss. Zu untersuchen wäre, ob Kinder in Betretungsverboten bei der Polizei, der einstweiligen Verfügung und Dokumentationen einzelner Einrichtungen als Opfer definiert und beschrieben werden, wenn sie Gewalt miterleben. Hier könnten Dokumente des Jugendamtes, der Polizei, von Opferschutz- und Kinderschutzeinrichtungen und jene des Gerichts herangezo-

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gen werden. Interessant ist, ob Kinder als Opfer beschrieben und beachtet werden oder ob sie außer Acht gelassen werden, wenn sie nicht direkt von Gewalt betroffen sind. Auf den Punkt gebracht, kann man festhalten, dass Kinder Gewaltsituationen hilflos ausgeliefert sind. Auch wenn sie nicht direkt von Gewalt betroffen sind, wirken die Beobachtung der Gewalt und das Miterleben nachhaltig auf das Kind. Kinder sind auch in solchen Fällen als Opfer von Gewalt zu erkennen, die intensive Hilfe und Unterstützung benötigen, um Erlebtes verarbeiten zu können. 7. Literatur Appelt, Birgit & Höllriegl, Angelika & Logar, Rosa (2001)  : Gewalt gegen Frauen und ihre Kinder. In  : Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen (Hg.), Gewaltbericht 2001 (S.  377–498). Wien  : Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen. Abteilung V/7. Bauer, Thomas (2007)  : Exekutionsordnung. In  : Thomas Bauer & Rudolf Keplinger & Maria Schwarz-Schlöglmann & Marina Sorgo, Gewaltschutzgesetz. Recht & Praxis (S. 19–78). Linz  : ProLibris Verlag. Bowlby, John (2006)  : Bindung. Bindung und Verlust  ; Band 1. München  : Reinhardt Verlag. Brisch, Karl Heinz (2000)  : Bedeutung von Vernachlässigung und Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen aus der Sicht der Bindungstheorie. In  : Urte FingerTrescher & Heinz Krebs, Mißhandlung, Vernachlässigung und sexuelle Gewalt in Erziehungsverhältnissen S. 91–104). Gießen  : Psychosozial-Verlag. Buchner, Gabriele & Cizek, Brigitte & Gössweiner, Veronika & Kapella, Olaf & Pflegerl, Johannes & Steck, Maria (2001)  : Gewalt gegen Kinder. In  : Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen (Hg.), Gewaltbericht 2001 (S. 75–270). Wien  : Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen. Abteilung V/7. Fremmer-Bombik, Elisabeth (1999)  : Innere Arbeitsmodelle von Bindung. In  : Gottfried Spangler & Peter Zimmermann (Hg.), Die Bindungstheorie. Grundlagen, Forschung und Anwendung (3. durchges. Auflage) (S. 109–119). Stuttgart  : Klett-Cotta. Gloger-Tippelt, Gabriele & König, Lilith (2005)  : Bindungsentwicklung bei Kindern und Jugendlichen mit Misshandlungs- und Missbrauchserfahrung. In  : Günther Deegener & Wilhelm Körner (Hg.), Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Ein Handbuch (S. 347–366). Göttingen  : Hogrefe. Gloor, Daniela & Meier, Hanna (2007)  : Zahlen und Fakten zum Thema häusliche Gewalt. In  : Fachstelle für Gleichstellung Stadt Zürich & Frauenklinik Maternité

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Kindler, Heinz (2007)  : Partnergewalt und Beeinträchtigungen kindlicher Entwicklung  : Ein Forschungsüberblick. In Barbara Kavemann & Ulrike Kreyssig (Hg.), Handbuch Kinder und häusliche Gewalt (2., durchgesehene Auflage) (S.  36–53). Wiesbaden  : VS Verlag für Sozialwissenschaften. Kindler, Heinz & Werner, Annegret (2005)  : Auswirkungen von Partnerschaftsgewalt auf Kinder  : Forschungsstand und Folgerungen für die Praxis. In  : Günther Deegener & Wilhelm Körner (Hg.), Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Ein Handbuch (S. 104–127). Göttingen  : Hogrefe. Klees, Katharina (2001)  : Beratung für Kinder in Not. Kindzentrierte Hilfeplanung der Kinderschutzdienste. Gießen  : Psychosozialer Verlag. Lamnek, Siegfried & Luedtke, Jens & Ottermann, Ralf (2006)  : Tatort Familie. Häusliche Gewalt im gesellschaftlichen Kontext (2., erweiterte Auflage). Wiesbaden  : VS Verlag. Lamnek, Siegfried (2005)  : Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch (4. vollst. überarb. Auflage). Weinheim  : Beltz Verlag. Magai, Carol (1999)  : Bindung, Emotionen und Persönlichkeitsentwicklung. In  : Gottfried Spangler & Peter Zimmermann (Hg.), Die Bindungstheorie. Grundlagen, Forschung und Anwendung (3., durchges. Auflage) (S. 140–148). Stuttgart  : Klett-Cotta. Mayer, Horst O. (2006)  : Interview und schriftliche Befragung. Entwicklung, Durchführung und Auswertung (3. überarbeitete Auflage). München, Wien  : R. Oldenbourg Verlag. Mayring, Philipp (2002)  : Einführung in die qualitative Sozialforschung. Eine Anleitung zum qualitativen Denken (5. Auflage). Weinheim  : Beltz Verlag. Pantuček, Peter (1998)  : Einige methodische Konsequenzen des lebensweltorientierten Zugangs. In  : Pantucek, Peter & Vyslouzil, Monika (Hg.), Theorie und Praxis Lebenswelt-orientierter Sozialarbeit (S. 87-103). St. Pölten  : Sozialaktiv. Pantucek, Peter (2006)  : Soziale Diagnostik. Verfahren für die Praxis sozialer Arbeit. Wien  : Böhlau Verlag. Reddemann, Luise & Dehner-Rau, Cornelia (2004)  : Trauma. Folgen erkennen, überwinden und an ihnen wachsen. Stuttgart  : Trias Verlag. Schmidt-Grunert, Marianne (Hg.) (1999)  : Sozialarbeitsforschung konkret. Problemzentrierte Interviews als qualitative Erhebungsmethode. Freiburg  : Lambertus. Strasser, Philomena (2001)  : Kinder legen Zeugnis ab. Gewalt gegen Frauen als Trauma für Kinder. Innsbruck – Wien – München  : Studien-Verlag. Strasser, Philomena (2007)  : »In meinem Bauch zitterte alles.« Traumatisierung von Kindern durch Gewalt gegen die Mutter. In  : Barbara Kavemann & Ulrike Kreyssig (Hg.), Handbuch Kinder und häusliche Gewalt (2., durchgesehene Auflage), (S. 53–67). Wiesbaden  : VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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Tschöpe-Scheffler, Sigrid (2005)  : Erziehungsstile und kindliche Entwicklung  : entwicklungshemmendes versus entwicklungsförderndes Erziehungsverhalten. In   : Günther Deegener & Wilhelm Körner (Hg.), Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Ein Handbuch (S. 304–316). Göttingen  : Hogrefe. Zimmermann, Peter & Spangler, Gottfried & Schieche, Michael & Becker-Stoll, Fabienne (1999)  : Bindung im Lebenslauf  : Determinanten, Kontinuität, Konsequenzen und künftige Perspektiven. In  : Gottfried Spangler & Peter Zimmermann (Hg.), Die Bindungstheorie. Grundlagen, Forschung und Anwendung (3. durchges. Auflage) (S. 311–332). Stuttgart  : Klett-Cotta.

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Der Ohnmacht entfliehen Fallstudie zur Betrachtung der Handlungsmuster von Partnergewalt betroffener Frauen anhand des Habituskonzepts von Pierre Bourdieu

Frauen in Gewaltbeziehungen gelingt es oft lange nicht, sich von ihrem gewalttätigen Partner zu trennen. Dieser Beitrag betrachtet die Handlungsmuster solcher Frauen und die Art, wie ihre Handlungsmuster ihr Verbleiben in oder auch ihr Verlassen der Beziehung bedingen. Der theoretische Teil führt kurz in das Thema Gewalt ein und setzt sich mit dem Habituskonzept Pierre Bourdieus auseinander, anhand dessen die Handlungsmuster der Frauen beschrieben werden. Die empirische Untersuchung besteht aus einer Fallstudie, für die vier von Gewalt betroffene Frauen – die Fokuspersonen der Fallstudie – und Personen aus deren Umfeld interviewt wurden. Als Ergebnis werden verschiedene Handlungsmuster aufgezeigt, die eine gewalttätige Beziehung und deren Aufrechterhaltung begünstigen. Vielfach begleiten diese Habitusformen die betroffenen Frauen bereits ihr Leben lang. Ihre Versuche, gegen den eigenen Habitus anzukämpfen, blieben erfolglos. Und dennoch kann ihnen der Ausstieg aus ihrer »Ohnmacht« und das Verlassen ihres gewalttätigen Partners gelingen – und zwar mittels ihrer Ressourcen, die Bourdieu als Kapital bezeichnet. 1. Risiken und Muster in Gewaltbeziehungen und die Entscheidung »zu gehen« Dieser Beitrag behandelt Gewalt an Frauen in heterosexuellen Beziehungen, also Gewalt, die Frauen durch ihren Partner erleben. Die Wahl dieses Themas erfolgte aufgrund der häufigeren Konstellation dieser Form in Gewaltbeziehungen mit weiblichen Opfern und männlichen Tätern. Dem Umstand, dass Männer Opfer von Gewalt in Partnerschaften bzw. im sozialen Nahraum sind und Frauen als Täterinnen auftreten, kommt der Beitrag nicht nach. Für männliche Opfer in solchen Gewaltbeziehungen werden Ressourcen und Kapitalien im bourdieuschen Sinn andernorts zu diskutieren sein.

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182 1.1 Ausgewählte Risikofaktoren für das Erleben von Partnergewalt

Zentral in der Ausübung von Gewalt ist es, Macht und Kontrolle zu schaffen und zu erhalten. Soziale Macht wird definiert als »die aufgrund ihrer Verfügungsgewalt über Ressourcen von den Partnern zugeschriebene Fähigkeit von Personen oder Gruppen, auf kognitive oder Verhaltensaspekte dieser Partner einzuwirken« (Schneider, 1977  : 35, zit. n. Büttner, 1997  : S.  48). Macht ist in einer Beziehung also zugunsten desjenigen Partners verteilt, der die größeren Ressourcen hat  – bei gleichen Ressourcen kommt es eher zu einer Machtgleichverteilung. Als besonders wichtige Ressourcen werden Berufstätigkeit, Prestige und Geld gesehen. So kann beispielsweise bei ökonomischer Abhängigkeit der mächtigere Partner durch finanzielle Sanktionen seine Interessen gegen die seiner Partnerin durchsetzen. Die Gefahr, misshandelt zu werden und Gewalt zu erleben, nimmt mit der sozialen und ökonomischen Abhängigkeit vom Partner zu (Büttner, 1997  : S. 49 f.). Viele Studien kommen zu dem Ergebnis, dass zwischen in der Kindheit erlebter bzw. beobachteter Gewalt und der eigenen späteren Gewaltausübung ein Zusammenhang besteht. Allerdings scheint der Zusammenhang in dieser Form bei Männern deutlich häufiger zuzutreffen. Frauen hingegen, die in ihrer Kindheit Gewalt erlebt oder beobachtet haben, üben selten Gewalt gegenüber ihrem Partner aus. Vielmehr erhöht sich für sie offenbar die Wahrscheinlichkeit, durch ihren Partner zu Gewalt­ opfern zu werden. Untersuchungen haben gezeigt, dass bei Frauen hinsichtlich ihrer Gewaltprävalenz ein Zusammenhang dahin gehend besteht, dass jene, die in ihrer Kindheit Gewalt erfuhren, später mit einer doppelt so hohen Wahrscheinlichkeit von ihrem Partner Gewalt erfahren als jene Frauen, die auf keine Gewalterfahrungen in ihrer Kindheit zurückblicken. Einer repräsentativen Studie Duttons (1988, zit. n. Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen, 2002  : S. 393) zufolge hat Alkoholkonsum etwa in 15 % der Fälle Einfluss auf Gewaltausübungen, weshalb der Konsum von Alkohol auch im Zusammenhang mit der Misshandlung von Frauen betrachtet wird. Alkohol wirkt als Risikofaktor oder sogar Auslöser für Gewalthandlungen, er stellt aber keineswegs die Ursache von Gewalt dar (Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen, 2002  : S. 391 ff.). Der Alkoholkonsum des Mannes kann aber auch zu einer Koabhängigkeit der Frau führen (vgl. Rennert, 1990  : S. 137 ff.). 1.2 Vier Muster von Gewaltbeziehungen

Um unterschiedliche Muster in Gewaltbeziehungen zu identifizieren, wird auf eine Diagnostik von Helfferich (2006) zurückgegriffen, in der die Handlungsmacht der

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Gewalt erlebenden Frauen ausschlaggebend ist. Die Zuordnung zu den vier verschiedenen Mustern erfolgt anhand dreier Faktoren  : •• Wie viel Handlungsmacht schreibt sich die Frau während der Beziehung und heute zu  ? Erlebt sie sich als handelnde Person mit Kontrollmöglichkeiten und Entscheidungsspielräumen  ? •• Wie verhält sie sich zu ihrer Vergangenheit  ? Hat sie diese abgeschlossen, oder dauert diese in der Gegenwart noch an  ? Welche Perspektive hat die Frau  ? •• Welche Möglichkeiten der Entwicklung sieht sie  ? Welches Verlaufskonzept hatte die Beziehung  ? Diese Faktoren können zwar mit objektiven Merkmalen der Gewaltbeziehung verknüpft werden (z.B. Dauer der Gewaltbeziehung, Gewaltformen etc.), im Wesentlichen geht es jedoch darum, wie das Opfer selbst die Gewalt erlebt (hat) und wie es damit umgeht (Helfferich, 2006  : S. 32 ff.). Die folgende Abbildung stellt eine Übersicht über die drei Indikatoren und ihre jeweilige Ausprägung dar  : Abb. 1  : Darstellung der Ausprägung der drei Indikatoren (nach Helfferich, 2006  : S. 41) Handlungsmacht

Perspektive

Verlaufskonzept

Rasche ­ rennung T

aktiv, initiativ

klare Trennung von Vergangenheit und Gegenwart

kurze Eskalation, dann Ende

Neue Chance

stark aktiv und initiativ, aber ineffektiv, aktuell delegierend

erwünschte Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart

Wellen  : Episoden unterbrechen Normalität

Fortgeschrit­ tene Trennung

Veränderung von erleidend bis klare Trennung von aktiv oder durchgehend aktiv Vergangenheit und Gegenwart

lange Steigerung der Gewalt, sukzessiv wachsende Trennungsintention, abruptes Ende nach Intervention von außen

Ambivalente Bindung

chronisch erleidend und ineffektiv

Kreislauf, Wiederholungen, Verschlimmerungen ohne Veränderungen

Vergangenheit ragt in Gegenwart hinein, Vermischung der Zeiten

1.2.1 Typ »Rasche Trennung«

Handlungsmacht  : Die Frau erlebt sich selbst als aktiv handelnd und handlungsfähig. Sie fühlt sich dem Mann teilweise überlegen, sie ist selbstbewusst und informiert und hat klare Vorstellungen von einer Beziehung.

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Perspektive  : Die Frau trennt die Vergangenheit klar von Gegenwart und Zukunft. Die Beziehung zu ihrem gewalttätigen Partner ist bereits abgeschlossen und Teil der Vergangenheit. Verlaufskonzept  : Die Beziehung verschlechterte sich stetig (eventuell in Kombination mit Drogen- oder Alkoholkonsum des Partners). Das Ende der Beziehung trat aufgrund der Gewalttätigkeit des Mannes (wenn auch nur auf wenige Vorfälle beschränkt) und des anschließenden Platzverweises1 ein. Was zukünftig passieren wird, ist zum Teil noch ungeklärt, unter bestimmten Bedingungen wäre auch eine Versöhnung denkbar. 1.2.2 Typ »Neue Chance«

Handlungsmacht  : Auch hier handelt die Frau durchgehend aktiv, zum Teil allerdings ineffektiv, denn ihre bisherigen Versuche, die Beziehung zu ändern, verliefen meist erfolglos. Durch Einbeziehung von Polizei oder Beratung sollen nun Dritte aktiv werden und durch Einwirkungen auf den Mann eine Veränderung herbeiführen. Perspektive  : Die Frau wünscht sich, dass die bisherige Beziehung weiter anhält, und denkt nicht an eine Trennung. Verlaufskonzept  : Die Beziehung verlief wellenförmig  : Meist herrschte »Normalität« (Helfferich, 2006  : S. 38), die allerdings zeitweise von Gewaltepisoden unterbrochen wurde. Um zu einer Normalität ohne Gewalt zurückkehren zu können, ist es aus Sicht der Frau nötig, dass sich der Mann einer Therapie oder Beratung unterzieht. 1.2.3 Typ »Fortgeschrittener Trennungsprozess«

Handlungsmacht  : Hier gibt es zwei Möglichkeiten bzw. Ausformungen dieses Typus. Ein Teil der Frauen erlebt sich erst als nicht handlungsmächtig, sondern als erleidend und ineffektiv. Mit der Zeit wird die Entscheidungsmacht aber immer größer, spezielle Wendepunkte tragen dazu bei. Der andere Teil der Frauen ist von Beginn an aktiv handelnd, allerdings vor allem als Reaktion auf das Verhalten ihrer Partner. Mit der Zeit wird aber ihr Handeln immer mehr von Eigeninitiative geprägt. Perspektive  : Die Beziehung und mit ihr die Vergangenheit werden nach einem langen Trennungsprozess endgültig und unwiderruflich abgeschlossen. Verlaufskonzept  : Die Gewalttätigkeit in der Beziehung spitzte sich zu, immer häufiger kam es zu Ausfällen vonseiten des Partners. Der Entschluss zur Trennung wurde 1 Als »Platzverweis« ist in einigen deutschen Bundesländern die in Österreich als »Wegweisung« bezeichnete Maßnahme der Polizei bekannt (Grieger & Kavemann & Rage, 2005  : S. 12).

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mit der Eskalation konkret. Häufig bereitete die Frau die Trennung schon im Vorhi­ nein vor, die dann mithilfe von Interventionen von außen vollendet wurde. 1.2.4 Typ »Ambivalente Bindung«

Handlungsmacht  : Der Mann wird als übermächtig und unberechenbar wahrgenommen, die Frau erlebt sich selbst als hilflos und reagiert lediglich auf sein Verhalten. Aktives Handeln bleibt meist gänzlich aus. Perspektive  : Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermischen sich. Die Erzählungen der Frau sind sprunghaft, da die Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht. Verlaufskonzept  : Bereits früh im Verlauf der Beziehung kam es zu Gewalt, die sich wiederholte und zunahm. Dies führte zu einer Reduktion der Handlungsfähigkeit der Frau, während die Hilflosigkeit und die Bindung zum Partner zunahmen. Um auf das unberechenbare Verhalten des Partners zu reagieren, strebte die Frau danach, die Situation – wenn auch nur in kleinstem Maße – zu kontrollieren. Sie versuchte, seine Stimmung zu erahnen, empfand Mitleid mit dem »›bedürftigen‹ Partner« (Helfferich, 2006  : S. 40) und solidarisierte sich mit ihm. Ein möglicher Platzverweis konnte die Angst nicht vermindern, eine Trennung wurde dadurch auch nicht herbeigeführt. Vielmehr hob die Frau nach wenigen Tagen den Platzverweis wieder auf, und ihr Partner kehrte zu ihr zurück (ebd.: S. 37 ff.). Diese Dynamik wird Gewaltspirale genannt und zeichnet sich dadurch aus, dass immer wieder dieselben vorhersehbaren Phasen durchlaufen werden. 1.3 Die Entscheidung »zu gehen«

Viele Frauen, die Gewalt in ihrer Beziehung erleben, treffen irgendwann die Entscheidung zu gehen und sich aus der oft jahrelangen Abhängigkeit und Unterdrückung zu befreien. Wenn sie diesen Entschluss für sich gefasst haben, wissen sie sehr oft noch nicht, wie sie die Trennung konkret durchführen oder woher sie die Kraft dafür nehmen sollen  – wie sie aktiv »heraustreten« sollen. Mit oder auch ohne speziellen Anlass finden schließlich aber viele von ihnen die Kraft und den Mut zu gehen. Dieser Zeitpunkt stellt einen Wendepunkt dar. Die Frauen treten – meist entgegen ihrer bisherigen Gewohnheit  – sehr klar und überzeugend auf und sind oft selbst davon überrascht, welche Ressourcen und Willenskraft in ihnen stecken. Um diese Energie freizusetzen, brechen sie mit ihrem bisherigen Selbstbild. Sie erkennen, dass ihre bisherige Situation – das Ausharren in der Gewaltbeziehung – nur eine mögliche Entscheidung ist, neben der es noch andere gibt. Diese Erkenntnis ist auf der einen Seite schmerzhaft, denn die Frau stellt fest, dass ihre Wahl bisher immer auf diese eine qual-

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volle Möglichkeit gefallen ist. Auf der anderen Seite weckt die Erkenntnis meist neue Hoffnung, und Aufbruchsstimmung entsteht/kommt auf. An einem solchen Wendepunkt hat die Frau Hoffnung und Kraft, gleichzeitig aber auch vielleicht Angst und einen Mangel an Perspektiven. Sie verlässt das Altbekannte und Schmerzhafte, das ihr gleichzeitig Sicherheit geboten hat, um mit viel Unsicherheit etwas Unbekanntes zu wagen (Brückner, 1998  : S. 60 ff.). So können die Anstrengungen dieses Aufbruchs unter Umständen die Kraft und das Durchhaltevermögen der Frau übersteigen und sie zum Aufgeben zwingen, was meist die Rückkehr zum gewalttätigen Partner bedeutet (Brückner, 1987  : S. 119). Unterstützung und Hilfeleistungen sind in dieser Zeit von besonderer Bedeutung, um die Frauen auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit und zur Gewaltfreiheit zu begleiten. 2. Zur Theorie von Pierre Bourdieu 2.1 Habitus und ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital

In Bourdieus Werken gibt es einen zentralen Begriff  : den des Habitus. Der lateinische Ausdruck »habitus« kann mit Haltung, Gestalt, Verhalten übersetzt werden (Stowasser & Petschenig & Skutsch, 1997  : S. 321), im alltäglichen Sprachgebrauch versteht man darunter die äußere Erscheinungsform und das Erscheinungsbild eines Menschen. Bourdieu erweitert diesen Begriff dahin gehend, dass im Habitus eines Menschen zwar die Besonderheiten des persönlichen Stils deutlich werden, jedoch auch das zum Vorschein kommt, was ihn zu einem Mitglied der Gesellschaft macht  : die Tatsache, zu einer bestimmten Klasse oder einem bestimmten sozialen Raum zu gehören und dadurch eine gewisse Prägung erfahren zu haben (Treibel, 2004  : S. 226). Die Zugehörigkeit zu einem sozialen Raum und die jeweilige damit verbundene Machtposition hängen von der Verfügung über Kapital ab, wobei Bourdieu zwischen drei Kapitalformen unterscheidet. Das Kapital sorgt dafür, »daß nicht alles gleich möglich oder gleich unmöglich ist« (Bourdieu, 1983  : S. 183). Die Art und Weise, wie und in welchem Ausmaß Kapital bzw. die verschiedenen Kapitalarten verteilt sind, entsprechen der Struktur der gesellschaftlichen Welt. Diese Struktur stellt die Zwänge dar, nach welchen die gesellschaftliche Wirklichkeit funktioniert und wie die Erfolgschancen Einzelner verteilt sind (ebd.). Im allgemein verbreiteten Verständnis bedeutet der Begriff Kapital den materiellen Besitz von Geld und Eigentum. Diese Form von Kapital bezeichnet Bourdieu als ökonomisches Kapital. Da die gesellschaftliche Welt jedoch nicht auf den Austausch von Waren reduziert werden kann, müssen auch Formen des sozialen Austausches be-

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rücksichtigt werden (ebd.: S. 184). Das ökonomische Kapital bleibt zwar die primäre Kapitalform (Bourdieu, 1985  : S.  11), gewährleistet aber noch keine Macht. Erst in Kombination mit anderen Kapitalformen kann Macht verwirklicht werden (Treibel, 2004  : S. 229). Darunter versteht Bourdieu vor allem Bildung. Kulturelles Kapital eignet man sich durch die schulische Ausbildung an  : Je höher der Bildungsgrad, über umso mehr kulturelles Kapital verfügt man. Vom Ausmaß des kulturellen Kapitals hängt ab, welche unterschiedlichen Habitusformen Menschen aufweisen. Auch Sprache und Kleidung werden von dieser Kapitalform beeinflusst (Treibel, 2004  : S. 229). Mit sozialem Kapital bezeichnet Bourdieu Ressourcen, die auf der »Zugehörigkeit zu einer Gruppe« (ebd.: S. 190) beruhen. Ursprünglich sind die meisten Beziehungen zufällig (z.B. im Zuge der Ausbildung, am Arbeitsplatz, am Wohnort usw.). Diese Zufallsbeziehungen können aber eine Umwandlung in »besonders ausgewählte und notwendige Beziehungen« (ebd.: S. 192) erfahren, die mit bestimmten Verpflichtungen (wie z.B. Freundschaft, Respekt, aber auch Rechtsansprüchen) verbunden sind. Um Beziehungen – und damit Sozialkapital – aufzubauen und aufrechtzuerhalten, ist es nötig, unaufhörlich Beziehungsarbeit zu leisten. Dies erfolgt durch Austauschakte, wodurch die gegenseitige Anerkennung immer wieder aufs Neue bestätigt wird (ebd.: S. 190 ff.). Der Umfang des sozialen Kapitals hängt nun davon ab, wie groß das Netz an Beziehungen ist und wie viel (ökonomisches oder kulturelles) Kapital diejenigen Personen besitzen, zu denen man eine Beziehung hat. 2.2 Das Habituskonzept als Struktur, seine Beständigkeit und seine Geschlechterdimension

Bourdieu beschreibt Habitusformen als »strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken« (Bourdieu, 1976  : S. 165). Demnach hat der Habitus zwei Seiten. Bourdieu geht davon aus, dass frühere Bedingungen und Erfahrungen, wie z.B. die soziale Herkunft und der bisherige Lebenslauf, großen Einfluss auf jeden Menschen ausüben (Bourdieu, 1987  : S.  98). Diese eigene Geschichte hat sich der Mensch einverleibt, sie wurde ihm zur zweiten Natur und findet Ausdruck in einem bestimmten Habitus. Die Geschichte selbst wurde vergessen, doch durch den Habitus wirkt die Vergangenheit auch in der Gegenwart und ist damit – unbewusst – »wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat« (ebd.: S.  105). In Auseinandersetzung und Interaktion mit der Umwelt und mit anderen Menschen nimmt jeder Mensch die grundlegenden Strukturen und Ordnungen der Gesellschaft wahr und konstruiert daraus Schemata. Diese Schemata strukturieren und ordnen nun unsere Begegnungen mit der Umwelt und stellen den jeweiligen Habitus einer Person

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dar (ebd., 1987  : S.  101). Dieser Habitus funktioniert in seiner zweiten Wirkweise auch als Erzeugungsprinzip  : Die durch die Vergangenheit angeeigneten Schemata prägen die aktuellen Handlungsweisen und Praktiken einer Person und ermöglichen es ihr, »unvorhergesehenen und fortwährend neuartigen Situationen entgegenzutreten« (Bourdieu, 1976  : S. 165). Der Habitus hält die Vergangenheit in der Gegenwart präsent, wodurch abgesichert wird, dass Praktiken im Zeitverlauf übereinstimmen und konstant bleiben. Über diese Weise wird eine Gesellschaftsordnung abgesichert, denn sie existiert in unseren Köpfen und in unserem Habitus und wirkt wie ein kollektives Gedächtnis  : Was sich eine Gruppe aneignet, wird auch von ihren Nachfolgern reproduziert (Bourdieu, 1987  : S. 101 f.). Die dadurch entstandenen Regeln und Werte sind aber nicht statisch, sondern entstehen durch die Handlungen immer wieder neu (Gebauer & Krais, 2002  : S. 33). Dadurch wird klar, dass der Habitus kein »abgeschlossenes Handlungsprogramm« (ebd.: S. 79) mit festen und unabänderlichen Regeln sein kann. Vielmehr ist er kreativ und kann in neuen Situationen anders reagieren als in bereits bekannten. Die Variationen, in denen der Habitus agiert, sind unbegrenzt, dennoch stimmen sie immer mit den grundlegenden Regeln der Gesellschaftsordnung überein (ebd.: S. 32). Handeln selbst findet hauptsächlich spontan statt  : Ohne darüber nachdenken zu müssen bzw. zu können, folgt man einer intuitiven Logik und handelt »automatisch« adäquat. Dabei soll der Habitus stets »vernünftig« sein und dem Alltagsverstand entsprechen. Menschen wenden Verhaltensweisen an, die eine Anerkennung oder gar Belohnungen einbringen, da sie an die für das bestimmte Feld typische Logik angepasst sind. Was gesellschaftlich unerwünscht ist, versucht der Habitus zu vermeiden, um so auch einer Maßregelung zu entgehen. Die aktuellen Praktiken einer Person können also weder allein durch die gegenwärtigen Bedingungen (die sie augenscheinlich hervorgerufen haben) noch allein durch die früheren Bedingungen (die den Habitus als Erzeugungsgegenstand hervorgebracht haben) erklärt werden. Dies gelingt nur, wenn man diese beiden Bedingungen zueinander in Beziehung setzt. Daraus ergibt sich, dass die Vergangenheit so großen Einfluss auf unsere Praktiken hat, dass diese relativ unabhängig sind von gegenwärtigen Gegebenheiten. Welche Variante der möglichen Praktiken aber gewählt wird, hängt von der gegenwärtigen spontanen und unbewussten »Entscheidung« der Person ab (Bourdieu, 1987  : S. 104 f.). Der Habitus sucht seine eigene Beständigkeit zu gewährleisten und Veränderungen abzuwehren, indem die Konfrontation mit Informationen, die den Habitus infrage stellen könnten, hintertrieben wird. Konnte eine Konfrontation nicht verhindert werden, so werden die Informationen sofort verworfen, denn der Habitus sucht nach Informationen und Erfahrungen, die ihn bestärken, und versucht, sich vor Krisen und kritischen Befragungen zu schützen. Danach wählt der Habitus Orte, Ereignisse und Personen des Umgangs aus und schafft sich ein Milieu, an das er bereits angepasst

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ist und das seine Dispositionen verstärkt. Diese Vermeidungsstrategien werden durch ein meist unbewusstes und gar nicht gewolltes Meidungsverhalten gebildet und ergeben sich aus der Existenzbedingung  : Etwa kann das Vorhandensein einer räumlichen Trennung dazu führen, dass das, was man nicht kennt, gemieden wird (Bourdieu, 1987  : S.  113 f.). Wird der Habitus unter den Bedingungen angewandt, die mit den Bedingungen seiner Erzeugung identisch sind, kann man vorhersagen, was passieren wird. Denn unter diesen Voraussetzungen weist der Habitus Praktiken und Erwartungen auf, die objektiv zu diesen Bedingungen und Erfordernissen passen. Daraus ergibt sich eine enge Korrelation zwischen den subjektiven Erwartungen und dem Ergebnis (z.B. den tatsächlichen Chancen des Zugangs zu einem bestimmten Gut). Max Weber nannte dies die »verstehbare Kausalitätsbeziehung« (Weber, 1973, zit. n. Bourdieu, 1987  : S. 118)  : Die subjektiven Erwartungen stimmen mit den typischen und durchschnittlich vorhandenen Chancen überein – und das, obwohl die Personen ihre objektiven Chancen nicht kennen (ebd.: S. 117 f.). Um die tatsächlichen Chancen nutzen und dadurch die/die eigene Zukunft selbst gestalten zu können, sind besondere Dispositionen notwendig, die man nur unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen erwerben kann. Zum einen muss man über ein Mindestmaß an ökonomischem und kulturellem Kapital verfügen, zum anderen müssen aber auch notwendige Informationen vorhanden sein bzw. beschafft werden. Die Bereitschaft, diese einzuholen, ist dann höher, wenn die erfolgreiche Verwertung der Information wahrscheinlich ist. Ist eine Verwendung der Information jedoch unwahrscheinlich, so ist das Interesse gering, die Informationen zu beschaffen und diese Chance überhaupt zu nutzen. Vielmehr wird versucht, aus der Not eine Tugend zu machen, indem Unwahrscheinliches und Unerreichbares als undenkbar und ungewollt verworfen werden und das Unvermeidliche gewünscht wird. Durch dieses Verhalten tragen Individuen mehr als die Strukturen selbst dazu bei, dass ihre Erwartungen eintreffen  ; und dem zugrunde liegt die Frage nach der Macht  : »Das Verhältnis zu Möglichkeiten ist ein Verhältnis zu Machtbefugnissen« (ebd.: S. 120). Um also Zugang zu Chancen zu bekommen und diese auch zu nutzen, ist ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital nötig. Und diejenigen, die dieses Kapital besitzen, verfügen über Macht (ebd.: S. 112, S. 119). Der Habitus nimmt Indizien selektiv wahr, und zwar so, dass diese ihn bestätigen und bekräftigen und nicht zu einer Verwandlung inspirieren. Außerdem dient der Habitus als Matrix zur Erzeugung von Reaktionen, die an alle Bedingungen vorangepasst sind, die mit den Bedingungen seiner Erzeugung übereinstimmen. Natürlich werden nicht ständig dieselben Handlungen wiederholt. Durch neue Erfahrungen und ständige Anpassung an die sich wandelnden Bedingungen im Umfeld verändert sich der Habitus, der dynamisch und beweglich ist (Wigger, 2006  : S.  107). In neuen Situationen findet er neue Mittel für seine Hervorbringungen, allerdings stets innerhalb der historischen

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und sozialen Grenzen der Erzeugung des Habitus (Bourdieu, 1987  : S. 103), denn der Habitus ist ja im Unbewussten verankert. Durch Bewusstwerdung kann der Habitus zwar aus dem Unbewussten geholt und zu einem bestimmten Maße verändert werden, da dieser jedoch auch im Körper integriert ist, ist selbst die »Waffe des Bewußtseins« (Bourdieu, 1997d  : S. 228) nicht immer ausreichend (ebd.). Die Trägheit des Habitus (Hysteresis) kann sogar bewirken, dass er, selbst wenn er unerwünscht und unangepasst ist, aufrechterhalten bleibt. Die Veränderungen zeichnen sich also »durch eine Verbindung von Beharren und Wechsel aus, die je nach Individuum und der ihm eigenen Flexibilität oder Rigidität schwankt« (Bourdieu, 2001  : S. 207). Meist kann die Anpassung an neue bzw. andere Bedingungen nur langfristig erfolgen (Vogt, 2007  : S. 64 f.). Eine wesentliche Dimension des Habitus ist das Geschlecht (Bourdieu, 1997d  : S. 222). Die verschiedenen Dispositionen eines Menschen, seine Körperhaltung und sein Verhalten, aber auch seine sexuelle Disposition entstehen durch die gesellschaftliche Ordnung, die individuelle Stellung im sozialen Raum und das Verhältnis zum eigenen Körper. Damit wird gleichzeitig die geschlechtliche Identität begründet und zwischen Männlichem und Weiblichem unterschieden (Bourdieu, 1987  : S. 132). Dass Menschen nicht nur ein Geschlecht haben oder sind, sondern auch danach handeln, beschreibt der Begriff »doing gender«. Geschlecht ist also in allen Interaktionen präsent (Krais, 2001  : S.  319), aber nicht nur aufgrund der Handlungen des einzelnen Menschen, sondern auch aufgrund der Strukturen in der Gesellschaft (ebd.: S. 323), denn es ist »keine individuelle Eigenschaft« (Meuser, 1998  : S.  113). Trotz Veränderungen unserer Gesellschaft wird männliche Herrschaft immer noch geduldet, und zwar – neben der nicht selten vorkommenden physischen Gewalt – vor allem aufgrund der symbolischen Gewalt (Krais, 1993  : S.  232). Diese Form der Gewalt, die über Kommunikation, über Anerkennung bzw. fehlende Anerkennung und über Gefühle nur symbolisch ausgeübt wird, ist sanft und für ihre Opfer unmerklich und unsichtbar (Bourdieu, 2005  : S. 8). Symbolische Gewalt kann nur dann auf einen Menschen wirken, wenn dieser von seinem Habitus her dafür auch empfänglich ist. »Denn sowohl ›Herrscher‹ als auch ›Beherrschte‹ müssen sich selbst und ihr Gegenüber als über- bzw. unterlegen begreifen« (Weinbach, 2004  : S. 168). Worte wirken nur auf diejenigen als Befehle oder Verbote, die disponiert sind, sie zu verstehen. Bourdieu bezeichnet sie als »Komplizen« (Bourdieu, 1997c  : S. 82 f.), denn Herrschaft kommt nicht einfach von außen auf einen Menschen zu. Vielmehr ist sie auch in diesem Menschen selbst vorhanden bzw. angelegt, und zwar über seinen Habitus (Gebauer & Krais, 2002  : S. 79). Das bedeutet, dass die herrschende und die beherrschte Person dieselbe soziale Ordnung in sich tragen müssen. Wenn also Frauen von Männern unterdrückt werden, identifizieren sie sich selbst mit dem Bild eines minderwertigen und unterlegenen

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Subjekts (ebd.: S. 52 f.) und erteilen ihre Zustimmung, beherrscht zu werden. Diese Zustimmung beruht natürlich nicht auf einer freiwilligen und bewussten Entscheidung, sondern auf nichtreflektierten Denkschemata durch die Einverleibung dieser Machtverhältnisse (Bourdieu, 1997b  : S.  164 f.). Sich gegen diese Machtverhältnisse und die damit verbundene Unterwerfung und Diskriminierung zu wehren ist äußerst schwierig, da es heißt, sich nicht nur gegen etwas »Äußeres«, sondern auch gegen »Inneres«, gegen eigene tradierte Denk- und Handlungsschemata zu stellen. 3. Die Fallstudie als Forschungsdesign – Fokuspersonen, Interviews und qualitative Analyse Die als Untersuchungsdesign ausgewählte Fallstudie stellt keine spezielle Erhebungsmethode dar, sondern einen Forschungsansatz (Lamnek, 2005  : S. 328), bei dem die Wahl eines speziellen Untersuchungsobjekts von zentraler Bedeutung ist. Für eine Fallstudie wird ein einzelnes soziales Element gewählt, das das Untersuchungsobjekt darstellt. Durch die Beschränkung auf einzelne Untersuchungsobjekte kann sich der/ die Forschende mit größerer Intensität dem einzelnen Fall widmen, mehr Untersuchungsmaterial erheben (und damit das Argument der Methodentriangulation aufgreifen), sich genauer damit auseinandersetzen und komplexere und umfassendere Ergebnisse erzielen (ebd.: S.  300). Dieser Ansatz soll dem Anspruch nahekommen, das Untersuchungsobjekt möglichst ganzheitlich und dadurch realistisch abzubilden. Es gibt unterschiedliche Typen von Fallstudien  : Das Untersuchungsobjekt kann entweder eine Gruppe oder eine Einzelperson sein und der/die ForscherIn kann das Augenmerk entweder auf die Binnenstruktur oder auf die Außenkontakte des Forschungsobjekts legen. Da in der vorliegenden Fallstudie die Handlungsweisen von Gewalt betroffener Frauen untersucht werden, kommt der folgende Typ infrage  : Außenkontakte einer Einzelperson. Dieser Typ untersucht die Interaktion einer einzelnen Person mit anderen Personen oder Gruppen (ebd.: S. 322 f.). Die Einzelperson, im Folgenden Fokusperson genannt, wird nicht als austauschbar angesehen, sondern als Expertin ihrer Lebenswelt (ebd.: S. 300). Die empirische Forschung zielt darauf ab, typische Handlungsmuster der Fokusperson zu rekonstruieren. Die Handlungsmuster sind zwar für diesen einen Fall individuell, dabei aber nicht einzigartig. Auch andere Personen weisen solche Handlungsmuster auf, da sich generelle Strukturen darin widerspiegeln (ebd.: S. 312). Hier kann man eine Verbindung zu Bourdieus Habituskonzept herstellen, der auch von durch die Gesellschaft und ihre Strukturen geprägten Habitusformen spricht (Bourdieu, 1987  : S. 101). Durch die intensive Beschäftigung mit Einzelfällen können demnach konkrete Aussagen über die Wirklichkeit und das

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Wahrnehmen dieser Wirklichkeit durch die Fokuspersonen gemacht werden (Lamnek, 2005  : S. 311). Des Weiteren widmet sich eine Fallstudie entweder einem extremen, abweichenden oder einem idealen, »typischen« Typ (ebd.: S. 314). Weil diese Arbeit die Handlungsmuster von Frauen in Gewaltbeziehungen ohne irgendwelche Extremfälle beschreiben will, wurde der »Idealtyp« gewählt. Da es auch um den Ausstieg aus Gewaltbeziehungen und um die Änderung von Handlungsmustern geht, wurden als Fokuspersonen Frauen gewählt, die für einige Zeit in einer Beziehung zu einem gewalttätigen Mann gelebt haben und diese Beziehung inzwischen – wenn auch nach einigen Schwierigkeiten – beenden konnten. Da Gewalt an Frauen meist innerhalb der eigenen vier Wände stattfindet, sind Auffinden und Mitteilungsbereitschaften einigermaßen schwierig. Von Gewalt betroffene Frauen sind schwer als Interviewpartnerinnen zu gewinnen. Für die Untersuchung hieß das, mit einer Institution Kontakt aufzunehmen, die mit dieser Klientel arbeitet. Ein Gewaltschutzzentrum und eine Interventionsstelle werden ausgewählt, da diese durch das Gewaltschutzgesetz und die verpflichtenden Meldungen durch die Polizei bei Wegweisungen mit sehr vielen Frauen in Berührung kommen und sie  – im Gegensatz zu anderen Beratungseinrichtungen – häufig längerfristigen Kontakt mit den Frauen haben, sie also deren Beziehungen über eine Zeit lang mit begleiten und beobachten können. Mithilfe des Gewaltschutzzentrums und der Interventionsstelle konnten vier Frauen gefunden werden, die zu einem Interview bereit waren. Um auch die Fremdwahrnehmung der Fokuspersonen einbeziehen zu können, wurden über die Fokusperson weitere Interviewpartnerinnen gesucht. Auf der professionellen Seite war dies die jeweilig zuständige Mitarbeiterin des Gewaltschutzzentrums bzw. der Interventionsstelle. Um eine Person aus dem persönlichen Umfeld der Fokusperson zu finden, wurde im Anschluss an das Interview mit der Fokusperson nach einer Vertrauensperson aus ihrem persönlichen Umfeld gefragt, die eventuell für ein Interview bereit wäre. Im Zuge der empirischen Untersuchung wurden für vier Fokuspersonen insgesamt elf Interviews durchgeführt. Für jeden der vier Einzelfälle ab es ein Tiefeninterview mit der Fokusperson und ein Expertinneninterview mit einer Mitarbeiterin des Gewaltschutzzentrums bzw. der Interventionsstelle. In drei der vier Fälle konnte auch eine Person aus dem persönlichen Umfeld der Fokusperson für ein Tiefeninterview gewonnen werden. In einem Tiefeninterview wurden die Interviewpartnerinnen gebeten, ihre persönlichen und »subjektiven Bedeutungszuweisungen« (Lamnek, 2005  : S. 371) zu einem bestimmten Thema zu erklären. Die durchgeführten Interviews, zu verstehen als freie Gespräche in möglichst vertrauensvoller Atmosphäre, fragten danach, wie die Fokusperson die Gewaltbeziehung erlebt und wahrgenommen hat. Ge-

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rade auch Bourdieu (1997a  : S. 13) betont die Notwendigkeit eines »verständnisvollen und verstehenden« (ebd.) Blickes  : »Nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen« (Spinoza, zit. n. Bourdieu, 1997a  : S. 13) lautet sein Credo. Ziel des Tiefeninterviews ist es, Bedeutungsstrukturierungen, denen sich die Interviewpartnerinnen unter Umständen selbst nicht bewusst waren, aufzufinden. Honig (1992  : S. 139) suchte in den Erklärungen, Rechtfertigungen und Entschuldigungen seiner InterviewpartnerInnen (von Partnergewalt betroffene Paare) nach Codes, die die Gewaltanwendung tolerierten oder sogar dazu ermutigten. Die im Tiefeninterview gewonnenen Bedeutungsstrukturierungen wurden dann vor einem spezifischen theo­ retischen Hintergrund beobachtet  – in diesem Beitrag ist dies das Habituskonzept Bourdieus. In ExpertInneninterviews wurden Personen interviewt, die nicht selbst das zentrale Forschungsobjekt waren, sondern Wissen über dieses Forschungsobjekt hatten. Die Mitarbeiterinnen des Gewaltschutzzentrums und der Interventionsstelle sind solche Expertinnen  : Sie haben besonderes Wissen über die Fokuspersonen – nämlich im Allgemeinen (zum Thema) wie auch im Speziellen (zum Fall). Dieses Wissen beinhaltet Kenntnisse der Handlungsmuster und Handlungsweisen ihrer Klientinnen, die für diesen Beitrag relevant sind (Gläser & Laudel, 2004  : S. 9 ff.). Die Interviews wurden mit Leitfaden durchgeführt, da verschiedene Themen behandelt wurden und keines davon ausgeklammert werden sollte (ebd.: S. 107). Um die Daten zur Beschreibung der Biografie zu erhalten, war eine Dokumentenanalyse notwendig, die in drei von vier Fällen möglich war. Im vierten Fall war eine solche zwar nicht möglich, die Informationen wurden dann ersatzweise durch das ExpertInneninterview erhoben, was auch in diesem Einzelfall eine genauere zeitliche Eingliederung der Erzählungen der Fokusperson ermöglichte. Die Objektive Hermeneutik, von Ulrich Oevermann begründet, strebt danach, latente Sinnstrukturen, die hinter den Handlungsweisen einer Person liegen, herauszuarbeiten (Lamnek, 2005  : S.  532). Diese Sinnstrukturen sind häufig unbewusst und zeitlos und entwickelten sich im Prozess der Sozialisierung (ebd.: S. 212 f.). Da auch Bourdieu davon ausgeht, dass die Habitusformen in den meisten Fällen unbewusst sind und im Laufe des Sozialisationsprozesses entstehen, scheinen sein Habituskonzept und die Objektive Hermeneutik für eine Kombination von Erhebungs- und Auswertungsmethode gut geeignet. Der Analyseablauf setzt sich nur mit geringen Textmengen auseinander. Diese werden aufgrund des Forschungsinteresses ausgewählt und anschließend extensiv und genau analysiert (Wernet, 2006  : S. 31)  : Eine kurze Textsequenz wird abseits vom Kontext, in dem die Äußerung tatsächlich stattfand, betrachtet. Nur auf die vorliegende Sequenz bezogen werden nun unterschiedliche »Geschichten« erzählt, in denen der Textabschnitt vorkommen könnte. Diese Geschichten betrachtet man anhand verschiedener Lesarten. Daraus kann eine Bedeutung für den Text ge-

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funden werden, die nichts mit dem spezifischen Fall zu tun haben muss. Anschließend wird geprüft, welche Geschichten mit dem zu interpretierenden Text übereinstimmen könnten. Schließlich werden diese Lesarten mit dem Kontext der Sequenz, also mit der tatsächlichen Situation, konfrontiert und mit den bisherigen Interpretationen vorhergehender Sequenzen in Beziehung gesetzt (ebd.: S. 39 f.). Anhand dieser Methode werden latente Sinnstrukturen herausgearbeitet und wird untersucht, ob diese Sinnstrukturen durchgängig sind  – also in unterschiedlichen Situationen immer wieder vorkommen (Lamnek, 2005  : S. 214). Anhand der Objektiven Hermeneutik werden die vier Tiefeninterviews mit den Fokuspersonen analysiert und deren Habitusformen herausgearbeitet. Aus den anderen sieben Interviews werden Aspekte herausgefiltert, die ebenfalls Aussagen über die Handlungsweisen der Fokuspersonen beinhalteten, und mit dem Ergebnis der Analyse zusammengeführt. Dabei können die Deutungen verstärkt, modifiziert oder auch widerlegt werden. Die Ergebnisse der Analyse werden anschließend mit dem Habituskonzept zusammengeführt. Diese erneute Verknüpfung von Theorie und Empirie erscheint schon deshalb adäquat, da dies auch für Bourdieus Arbeiten charakteristisch ist (Gebauer & Krais, 2002  : S. 14). 4. Die Gewaltbeziehung begünstigende Handlungsmuster der Frauen im Fall der Frau Noll2 In diesem Kapitel werden zunächst Handlungsmuster beschrieben, die eine Gewaltbeziehung begünstigen, wobei nach Möglichkeit geschildert wird, wann und unter welchen Umständen diese Habitusformen entstanden sind. Anschließend geht es darum, ob und wie es gelingen kann, den Habitus zu ändern, um aus der Gewaltbeziehung auszubrechen. Aufgrund der Darstellungsweise der empirischen Ergebnisse konnte aus Platzgründen für diesen Beitrag nur einer der vier Fälle exemplarisch gewählt werden. Viele der Handlungsmuster, die hier betrachtet werden, decken sich aber mit jenen der anderen Fälle. 4.1 Die Handlungsmuster der Frauen am Fall der Frau Noll

Die Fokusperson des Falles B ist Frau Noll. Sie war zum Zeitpunkt des Interviews 36 Jahre alt, klinische Psychologin und eine große, schlanke und  – gemeinhin gesehen – attraktive Frau. Auf den ersten Blick fällt es schwer, sich Frau Noll als Opfer einer Gewaltbeziehung vorzustellen. Doch im Zuge des Gespräches wird klar, wie viel 2 Die Namen aller Interviewpartner/innen sind geändert.

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Traurigkeit, Verzweiflung und Leid sie in sich trägt. Frau Noll hatte bereits in ihrer Kindheit das Gefühl, nur geliebt zu werden, wenn sie alle Erwartungen ihres Vaters erfüllte. Sie bemühte sich sehr, durch Fleiß und Ordentlichkeit seinen Forderungen und Erwartungen zu entsprechen, erhielt von ihm aber weder Liebe noch Zuneigung. Vielmehr behandelte er sie geringschätzend und abwertend, weshalb sie heute zutiefst enttäuscht von ihm ist  : »Und Liebe, und Zuneigung, das hat es nie gegeben, und egal, was ich gemacht habe, und wie lieb ich gewesen wäre, der Mann war eine einzige Enttäuschung« (IV1, S. 23, Z. 1026 ff.). Dennoch fühlt sich Frau Noll auch heute noch von Männern angezogen, um deren Liebe und Zuneigung sie kämpfen muss  : »Aufgrund meiner Kindheit fühle ich mich in so einer, und ohne … Therapie, ja, … fühle ich mich in so einer Situation wohl, weil ich es kenne  ! […] Ich kenne mich einfach dort aus  ! […] Das ist mei-, mein Leben, ja  ! Ein Mann, der nicht verlässlich ist, ah, und der, der halt so ist, wie, wie ich es, wie ich es jetzt beschrieben habe. Das ist mein Leben  ! So glaube ich halt, ge-…« (mit Tränen in den Augen) (IV1, S. 23, Z. 1064 ff.). Einer solchen Dynamik entsprach auch die Beziehung zu ihrem Ehemann Herrn Noll. Frau Noll kämpfte um seine Liebe, indem sie sich seinen Forderungen anpasste und ihre eigenen Bedürfnisse zurücknahm. Da ihr Mann nicht wollte, dass sie ausging, verzichtete sie darauf, um Konflikte und Eskalationen zu vermeiden  : »Weil er hätte ihr das so knüppeldick zurückbezahlt, dass sie gesagt hat  : ›Du, das zahlt sich nicht aus‹« (IV3, S.  1, Z. 34 f.), berichtet Frau Fink, eine Freundin von Frau Noll. Wollte Frau Noll also ihren Wunsch durchsetzen und sich zum Beispiel mit FreundInnen treffen, hätte sie einen so großen Aufwand auf sich nehmen müssen, dass sie lieber darauf verzichtete und sich selbst davon überzeugte, es gar nicht mehr zu wollen  : »Es ist schon, dass ich, wenn man Mutter ist und ein kleines Kind hat, es war mir das Fortgehen ja eh nicht wichtig.« (IV1, S. 16, Z. 718 f.). Herr Noll setzte seine Frau auch auf sexueller Ebene unter Druck. Wollte er Geschlechtsverkehr mit ihr haben, und sie weigerte sich, »dann hat er gesagt  : ›Ja, wenn du das jetzt nicht tust, muss ich jetzt aufstehen und zu einer Hure fahren, oder was  ?  !‹ […] Und dadurch war sie schon wieder so unter Druck, dass sie das halt getan hat dann.« (IV3, S. 4, Z. 165 ff.), schildert Frau Fink die Geschehnisse. Tat Frau Noll in geringfügigem Ausmaß nicht das, was ihr Mann verlangte, so verschwand er häufig, ohne ein Wort zu sagen, für unbestimmte Zeit und meldete sich tage- oder wochenlang nicht. Frau Noll ließ sich von den Forderungen ihres Mannes dermaßen unter Druck setzen, dass sie sehr viel akzeptierte. Sie hatte das Gefühl, ihrem Mann gegenüber verantwortlich zu sein – d. h. Verantwortung für sein Wohlbefinden und seine Zufriedenheit zu tragen. Im Laufe der Jahre wurde die Machtdifferenz zwischen den beiden immer größer. Die Hemmschwelle Herrn Nolls

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sank, während Frau Nolls Toleranz zunahm. Herr Noll demütigte und bedrohte seine Frau immer intensiver und in immer kürzeren Abständen. Die Schuld daran schreibt Frau Noll dem Alkohol zu  : »Es ist nur der Alkohol  ! Und er hätte auch nie … in dieser Stresssituation, in diesen, mit seinen vier Promille, die er wahrscheinlich gehabt hat, nie auf mich sonst eingedroschen [für eingeschlagen, Anm. d. Verf.]. […] Das ist einfach eine schwere Krankheit« (IV1, S. 21, Z. 952 ff.). Frau Noll litt unter der psychischen und sexuellen Gewalt ihres Partners, doch erst nachdem er das erste Mal physisch gewalttätig geworden war, trennte sie sich von ihm. Sie lebten auch tatsächlich ein Jahr lang getrennt, doch er hörte nicht auf, sich bei ihr zu entschuldigen und ihr seine Liebe zu gestehen. Daraufhin beschloss Frau Noll, in die Beziehung zurückzukehren  – in dem Bewusstsein, dass er erneut gewalttätig werden könnte  : »Dann habe ich schon gewusst, ok, es ist einmal ein Mann, der sehr wohl gewalttätig sein kann, und auszucken kann. Also, das Risiko bin ich dann trotzdem eingegangen« (IV1, S. 1, Z. 40 ff.). Frau Noll erzählt im Interview nur von dieser einen Trennung. Frau Fink berichtet aber, dass es auch weitere Trennungen gegeben hat, in denen sich das oben beschriebene Muster wiederholte  : Frau Noll trennte sich nach einem Vorfall, in dem ihr Gewalt widerfuhr, von ihrem Mann, sie suchte sich eine neue Wohnung, einen neuen Arbeitsplatz und einen neuen Kindergartenplatz für ihren Sohn. Meist hatte sie zu dieser Zeit auch einen neuen Partner, manchmal ging es ihr psychisch sehr schlecht  : Dann nahm sie stark ab, trank viel Alkohol, nahm Antidepressiva. Jeweils nach kurzer Zeit bat ihr Mann sie, doch wieder zurückzukommen. Er beteuerte, sie zu lieben, dass ihm leid tue, was passiert sei, und dass dies nie wieder vorkommen würde  : Nur der Alkohol sei daran schuld. Daraufhin gab Frau Noll wiederholt Wohnung, Arbeits- und Kindergartenplatz auf und zog zu ihrem Mann zurück. Sie vertraute ihrem Mann immer wieder und glaubte seinen Versprechungen. Jedes Mal aufs Neue hoffte sie, dass es dieses Mal funktionieren würde, und war jedes Mal aufs Neue enttäuscht  : »Eigentlich … war sie jedes Mal wieder fix und fertig. […] Sie ist jedes Mal wieder aus allen Wolken gefallen« (IV3, S. 9, Z. 374 ff.). Frau Noll befand sich bereits inmitten einer Gewaltspirale. Da Frau Noll in der Alkoholsucht ihres Partners den Grund für seine Gewalttätigkeit und die Probleme in ihrer Beziehung sah, ermutigte sie ihn zum Entzug und unterstützte ihn dabei. Er schaffte diese Entzüge auch immer wieder, was Frau Noll sehr freute. Sie war der Meinung, dass er es ohne sie bestimmt nicht geschafft hätte und auf ihre Hilfe angewiesen war – sie hatte das Gefühl, für ihn sorgen zu müssen. Nach einigen Wochen wurde Herr Noll aber wieder rückfällig und begann erneut zu trinken.

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»Er hat gesagt  : ›Ich weiß, es tut mir so leid. Ich bin so schwer alkoholkrank, und, und ich kann mit mir nichts anfangen, und wenn ich dich nicht hätte, tät ich jetzt sterben, und ich bin so dankbar, dass es dich in meinem Leben gibt‹« (IV1, S. 6 f., Z. 276 ff.)  ! Durch Aussagen wie diese erlebte Frau Noll ihren Mann als einsichtig und reflektiert, als hilflos und auf ihre Unterstützung angewiesen. Aus diesen Gründen vertraute sie ihm dann, nahm ihn in Schutz und half ihm immer wieder. Gleichzeitig setzte Herr Noll seine Frau mit solchen Geständnissen aber auch unter Druck  : Frau Noll bekam den Eindruck, dass sie ein großes Ausmaß an Verantwortung für ihn trage, denn ohne ihre Hilfe würde er nicht überleben können. Nach weiteren, zum Teil sehr schweren Übergriffen durch Herrn Noll reichte Frau Noll schließlich die Scheidung ein. Zwei Tage vor der Scheidung kam es zum bisher schwersten Vorfall körperlicher Gewalt, bei dem Herr Noll das erste Mal auch seinen damals vierjährigen Sohn verletzte. Für Frau Noll überschritt er damit eine weitere Grenze, was sie darin bestärkte, die Scheidung nun wirklich durchzuführen. Aufgrund der Tatsache, dass Herr Noll die im Zuge der Scheidung ausgesprochene Wegweisung aber ignorierte, brach der Kontakt zwischen den beiden nie wirklich ab. »Es ist für mich auch überhaupt nicht leicht, weil ich diesen Menschen irrsinnig gern habe […] Und er ja in Wahrheit nicht nur ein bösartiger Mensch ist  ! […]  … sondern ich erlebe ihn halt auch als völlig hilflos, ja  ? Er ist in der Situation so hilflos, und, und, und ahm … hilfesuchend … ja. … Aber er jagt mir ja, ich habe irrsinnige Angst vor ihm« (IV1, S. 5, Z. 194 ff.). Im Zuge der Beratung im Gewaltschutzzentrum erkannte Frau Noll das Ausmaß der Gewalttätigkeit und ihrer verzerrten Situationswahrnehmung. Ihre Erfahrungen mit der psychischen Gewalt hatte sie verdrängt, indem sie sie verharmloste. Erst im Gespräch wurde ihr bewusst, welche menschenverachtenden Dinge sie erlebt und mit welchen Mustern sie darauf reagiert hatte. So hatte sie zum Beispiel nur noch mit einem Messer neben dem Bett geschlafen, aus Angst vor ihrem Mann. »Solche Strategien sind ihr in den Alltag so übergegangen, dass sie das gar nicht mehr als außergewöhnlich wahrgenommen hat« (IV2, S. 3, Z. 117 ff.), erklärt die Sozialarbeiterin. Und obwohl Frau Noll bereits wusste, dass sie von ihrem Mann abhängig war, konnte sie sich zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht aus der Abhängigkeit lösen  : »Ich meine, ich bin ja sehr weit, ich verstehe diese Zusammenhänge, aber, ah, lebe einmal so, ja. […] Ich bin ja zu diesem Exmann, der mich so verprügelt hat, koabhängig  ! […] Ah, er ist ja für m-, er ist ja, er ist ja meine Sucht  ! … […] Er ist ja meine Flasche  ! […] Weil ich will, ich will, ich will ja deswegen dorthin, weil er der Nährboden ist, den ich von der Kindheit her kenne, nicht  ? […] Dieses Kämpfenmüssen, dieses Sich-immer-unsicher-sein-Müssen, ja  ? Ah, und kaum, ah, gibt es so viel Liebe von diesem Menschen, dann ist das ein, das ist ein … Flash, ja  ! […] Das ist k-, leider ganz

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traurig, ge  ? [..] Aber das, das flasht  ! Wenn so ein Mensch, der so unsich-, der dir so viel Unsicherheit gibt, und der gemein sein kann, dich so liebt, ja, das ist … wow, ja  ! […] Die ärgste Droge« (IV1, S. 24, Z. 1075 ff.)  ! Und da Frau Noll nach ihrem Exmann »süchtig« war, sehnte sie sich auch danach, mit ihm Kontakt zu haben. Sie war unruhig, wenn sie nicht wusste, was er tat, wo er war und was er vorhatte. Um dies zu erfahren, nahm sie nur einen Tag vor diesem Interview von sich aus wieder Kontakt zu ihm auf  : Nun hatte sie das Gefühl, ihn einschätzen und abschätzen zu können, was er als Nächstes tun würde. Es erleichterte sie, wenn sie das Gefühl hatte, ihn ein bisschen kontrollieren zu können  : »Ich bin dann aber beruhigt, ähm, wenn er dann so wie gestern sagt  : ›Du, ich will ja gar nichts, um Gottes willen.‹ … und ich glaube ihm das auch […] Und er beruhigt sich auch deshalb, wenn ich mit ihm spreche, ge. […] Es ist halt so eine Gratwanderung  ! […] Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, und vielleicht stille ich auch nur meine Sehnsucht, die ich nicht haben sollte, zu so einem … kranken Mann […] ja, indem ich auch mit ihm spreche« (IV1, S. 15, Z. 681 ff.). 4.2 Welchem Muster entspricht die Gewaltbeziehung  ?

Bezugnehmend auf Helfferichs Diagnostik erlebte Frau Noll sich und ihre Handlungsmacht in ihrer Beziehung zuerst als erleidend  : Sie passte sich den Forderungen ihres Partners an und stellte ihre eigenen Wünsche zurück. Herrn Noll erlebte sie als mächtig und unberechenbar, sah ihn jedoch auch noch aus einem zweiten Blickwinkel  : als den hilflosen und armen Alkoholiker, der auf sie angewiesen war und sie liebte. Frau Noll akzeptierte und erduldete seine psychischen Gewalthandlungen, erst mit dem Einsetzen der physischen Gewalt zog sie Konsequenzen  : Sie rief die Polizei, sie trennte sich, sie baute sich ein neues Leben auf. Auch die Sozialarbeiterin beschreibt Frau Noll als »sehr aktiv im Handeln« (IV2, S. 4, Z. 156). Im Interview wird allerdings auch ersichtlich, wie lange Frau Noll nicht fähig war, aktiv und effektiv etwas gegen die Gewalt ihres Partners zu unternehmen. Betrachten wir Frau Nolls Perspektive, so hat sie zum Zeitpunkt des Interviews noch keine Distanz zu ihrem Exmann aufgebaut und mit der Beziehung zu ihm keineswegs abgeschlossen. Immer wieder vermischt sie Vergangenheit und Gegenwart, wenn sie beispielsweise ihren Exmann als »mein Mann« (IV1, S. 6, Z. 138) bezeichnet. Außerdem sind Muster, die während der Beziehung entstanden, weiterhin aufrecht  : So fühlt sich Frau Noll für ihren Mann immer noch verantwortlich und übernimmt auch tatsächlich noch ihre schützende Rolle ihm gegenüber. Auch die Sozialarbeiterin ist der Meinung, »dass zwischen den beiden noch eine sehr starke emotionale Bindung besteht« (IV2, S. 4, Z. 176 f.).

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Bezüglich des Verlaufskonzepts beschreibt die zuständige Sozialarbeiterin, dass sich Frau Noll in einer »Gewaltspirale« (IV2, S.  6, Z. 241) befand, und auch Frau Fink rekonstruiert »ein ewiges Hin und Her […]. Sie waren zusammen, auseinander, zusammen, auseinander« (IV3, S. 2, Z. 58 f.) – zum Schluss hin von immer stärkerer Gewalt begleitet. Psychische und sexuelle Gewalt waren bereits sehr früh in der Beziehung ausgeübt worden, was aber nicht zum Beziehungsabbruch, sondern zu einer immer stärkeren Bindung geführt hatte. Mit Zunahme der Gewalt verstärkten sich auch die Hilflosigkeit und das Gefühl der Ohnmacht bei Frau Noll. Sie versuchte ein Mindestmaß an Kontrolle über die Situation zu bewahren, indem sie Mitleid mit ihrem Mann hatte, ihn als hilflos ansah und bis zuletzt die Hoffnung auf Besserung nicht aufgab. Selbst nach der Trennung und Scheidung fühlt sich Frau Noll immer noch zu ihrem Exmann hingezogen, hat aber gleichzeitig Angst, die weder durch die Wegweisung noch durch die einstweilige Verfügung gemildert werden konnte. Auch wenn einzelne Aspekte der Fortgeschrittenen Trennung zu erkennen sind, befindet sich Frau Noll zum Zeitpunkt des Interviews aufgrund des nicht vorhandenen Abschlusses mit der Vergangenheit und den andauernden Wiederholungen im Verlauf der Beziehung in einer ambivalenten Bindung mit deutlichen Hinweisen auf eine Gewaltspirale, verbunden mit einer Traumatisierung durch chronische Gewalt. 4.3 Die Risikofaktoren der Frau Noll

Macht und Kontrolle  : Herr Noll hatte in der Beziehung ganz offenkundig die mächtigere Position inne und besaß mehr Ressourcen. Neben seinem großen Prestige besaß er als anerkannter Geschäftsmann im Ruhestand immer noch viel Geld. Frau Noll war zwar lange berufstätig, blieb ab der Geburt ihres gemeinsamen Kindes aber zu Hause. Des Weiteren übte Herr Noll seiner Frau gegenüber große Kontrolle aus  : Er isolierte sie, drohte ihr und ließ sie beobachten, war also jahrelang psychisch, physisch und auch sexuell gewalttätig. In der Kindheit erlebte/beobachtete Gewalt  : Dem Interview zufolge erlebte oder beobachtete Frau Noll in ihrer Kindheit zwar keine physische Gewalt, ihr Vater war aber sowohl ihr als auch ihrer Mutter gegenüber psychisch gewalttätig gewesen. Frau Noll stellt ihren Vater, einen ehemaligen Alkoholiker, unter anderem als beziehungsunfähig dar und schreibt der Beziehung zu ihm den Grund dafür zu, sich auch heute nur von Männern angezogen zu fühlen, deren Liebe und Zuneigung sie sich nie sicher sein kann. Alkohol und Gewalt  : Herr Noll ist stark alkoholabhängig. Alkohol gilt zwar als Risikofaktor oder sogar Auslöser für Gewalthandlungen, nicht aber als deren Ursache. Frau Noll hingegen sieht in der Alkoholabhängigkeit ihres Exmannes den alleinigen

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Grund für seine Gewalttätigkeit, was auf eine Koabhängigkeit Frau Nolls hinweisen könnte. 5. Habitusänderung, Ressourcen und Unterstützungsangebote 5.1 Die Schwierigkeiten der Habitusänderung

Der Habitus kann nur schwer verändert werden, denn selbst wenn sich die Bedingungen ändern, bewirkt dies vielfach immer noch eine Bestärkung der ursprünglichen Handlungsmuster. Auch die Erwartungen der Gesellschaft spielen eine große Rolle. Welche Handlungsformen eine Person hat, hängt davon ab, auf welches Verständnis man in seiner Umwelt stößt. Wird zum Beispiel von der Umgebung eine bestimmte Handlungsweise als objektiv richtig angesehen, wird diese zusätzlich verstärkt (Bourdieu, 1987  : S. 108 ff.). Die Gesellschaft erwartet und fordert beispielsweise die Aufrechterhaltung von Beziehungen und Ehen. Dafür erhalten Frauen häufig Bestätigung und Wohlwollen in ihrer Umgebung, während eine Trennung mitunter zu Ablehnung führen kann – vor allem dann, wenn die Gewalttätigkeit des Partners nicht bekannt ist. Dadurch wird deutlich, dass Gewalt nicht nur ein personelles, sondern auch ein strukturelles Problem ist (Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen, 2002  : S. 387). Die Praktiken der Fokuspersonen in den vier untersuchten Fällen setzen sich aus früheren und aus gegenwärtigen Bedingungen zusammen. Die früheren Bedingungen sind Erlebnisse und Forderungen, die die Frauen in ihrer Kindheit erlebten und die lange Zeit ihren Habitus prägten. Recht einheitlich berichten die vier Fokuspersonen beispielsweise, dass sie ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse hinter die ihrer Partner zurückstellten, weil sie dies bereits in ihrer Kindheit so gelernt hätten. Gegenwärtige Bedingungen (die Gewalttätigkeit des Partners, die Ressourcen der Frauen, etwaige Hilfsangebote etc.) wirken jedoch auf diesen Habitus ein, wodurch sich neue Praktiken und Habitusformen bilden können. Unter Umständen ermöglicht dieser geänderte Habitus den Frauen, ihre eigenen Bedürfnisse besser zu verfolgen. Frau Noll ist sich vieler ihrer Verhaltensmuster bewusst und versucht, diese zu durchbrechen. Mithilfe von Psychotherapie möchte sie es beispielsweise schaffen, nicht mehr ständig den Erwartungen und Forderungen anderer entsprechen zu wollen. Frau Noll weiß, wo diese Handlungsmuster entstanden sind, doch sie sagt selbst, dass das Wissen allein noch nicht genüge  ; es falle ihr extrem schwer, sich von bestimmten Handlungsweisen zu verabschieden. Grund dafür ist das Bestreben des Habitus, seine eigene Beständigkeit zu gewährleisten und Veränderungen abzuwehren. Da der

Der Ohnmacht entfliehen

Habitus nach Personen, Orten und Ereignissen sucht, die ihn bestärken, ist es auch verständlich, warum Frau Noll die Beziehung zu Herrn Noll begann  : In dieser Beziehung wurden die Habitusformen, die während Frau Nolls Kindheit geprägt wurden, gefestigt. Die Handlungsmuster, die ihr Mann an den Tag legte, zeigten von Anfang an Tendenzen psychischer Gewalt. Frau Noll passte sich mit ihren Handlungsmustern an ihn an, wodurch sie sich gegenseitig in ihren Mustern verstärkten und ein Verlassen oder Ändern derselben immer schwieriger wurde. Seine Gewalttätigkeit und ihre Toleranz wuchsen. Auf Trennungsversuche reagierte Herr Noll mit Entschuldigungen, die Frau Noll stets von ihren Vorhaben abbrachten. Als ihr Partner jedoch eine neue Handlungsweise einführte  – schwere körperliche Gewalt, auch ihrem Sohn gegenüber –, konnte Frau Noll dieses System durchbrechen. Angst und Verantwortungsgefühl ihrem Sohn gegenüber ermöglichten es ihr schließlich, ihre Handlungsweisen zu ändern bzw. eine Änderung zu versuchen. Im Interview formuliert Frau Noll, unter welchen Voraussetzungen ihr das gelingen könnte  : Da sie eine bestimmte Rolle im Leben ihres Mannes übernommen hat, braucht sie selbst jemanden, der diese Rolle weiterhin übernimmt. Sie fühlt sich ihm gegenüber verantwortlich, und sie kann sich nicht lösen, solange sie diese Verantwortung trägt. Weiter hofft sie, in ihrer Therapie durch Aufarbeitung ihrer Vergangenheit die Muster durchbrechen zu können. Dass Frau Noll überhaupt Hilfe annehmen konnte, begründet sie mit ihren positiven Erlebnissen im Gewaltschutzzentrum. Dort war sie auf Verständnis gestoßen, man hörte ihr zu, glaubte ihr und war entsetzt – so von Frau Noll wahrgenommen – darüber, was sie alles hatte mitmachen müssen. Dies bestärkte sie darin, einzelne Teile ihres »alten« Habitus zu durchbrechen und neue Tendenzen – z.B. Hilfe in Anspruch zu nehmen – zu festigen. 5.2 Die Ressourcen der Frauen und die Bedeutung von Hilfsangeboten

Frau Noll hat trotz ihrer Isolation eine gute Freundin, die sie immer wieder unterstützt – ein Indiz, dass soziales Kapital, wenn auch nur in geringem Ausmaß, verfügbar ist. Das ökonomische Kapital ist für Frau Noll kein großes Problem, da sie dank ihrer Ausbildung jederzeit berufstätig sein könnte. Eine große Ressource von Frau Noll sind ihre Selbstständigkeit und ihre Reflexionsfähigkeit  : Sie ist sich der Tatsache bewusst, dass sie von ihrem Exmann abhängig und koabhängig ist. Zwar ändert das Bewusstsein darüber noch nicht die Situation, es ist aber ein erster Schritt dazu. Die Handlungsmuster der anderen Fokuspersonen weisen ebenfalls Ressourcen auf. Im Falle einer Fokusperson war dies zum Beispiel die Bereitschaft, hart und fleißig zu arbeiten und Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen, um Ziele zu erreichen. Auffällig

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waren die von den interviewten Frauen aufgewiesene Hartnäckigkeit und Konsequenz, die notwendig waren, um die Beziehung tatsächlich zu beenden. Hilfreich dabei war der positive Blick nach vorne, um die Beziehung und ihre Schwierigkeiten hinter sich lassen zu können. Interessant an der Betrachtung der Ressourcen war vor allem das Vorhandensein von ökonomischem Kapital. Jede der Frauen hatte ein eigenes Einkommen und wäre eigentlich finanziell unabhängig von ihrem Partner gewesen. Dennoch war es möglich, dass die Männer ihre Partnerinnen finanziell abhängig machten und diese dann unter der ökonomischen Gewalt ihres Partners litten. Das soziale Kapital der Frauen war in den Fällen in nur geringem Ausmaß vorhanden. Aufgrund der weitgehenden Isolation verfügten sie lediglich über ein sehr kleines soziales Netz und erhielten dadurch auch kaum Unterstützung durch Menschen aus ihrem Umfeld, die ihnen während der Beziehung oder in der Trennungsphase hätten beistehen können. Umso mehr waren diese Frauen auf professionelle Hilfe angewiesen. In allen vier Fällen holten sich die Frauen selbst professionelle Unterstützung, was ebenfalls eine große Ressource darstellt. Im Zuge der Untersuchung beschrieben die Frauen den Kontakt zum Gewaltschutzzentrum bzw. zur Interventionsstelle als für sie lohnend, da sie dort die benötigte Hilfe finden konnten. Aufgrund des Umstandes, dass alle Fokuspersonen in ihrem eigenen Haus bleiben konnten, benötigten sie lediglich (langfristige) Beratung und Unterstützung, die ihnen Gewaltschutzzentrum und Interventionsstelle boten. Auch die Prozessbegleitung war  – unter anderem für Frau Noll  – von großer Hilfe. Frau Noll hatte beispielsweise vor dem Kontakt zum Gewaltschutzzentrum noch keine andere professionelle Hilfe in Anspruch genommen, sie wurde erst durch die aufsuchende Vorgangsweise des Gewaltschutzzentrums (nach der Wegweisung ihres Mannes) erreicht. Eine andere Fokusperson nutzte die langfristige Begleitung des Gewaltschutzzentrums nicht – sie benötigte lediglich dessen Intervention bei der Polizei, damit diese eine Wegweisung aussprach. 6. Schlussfolgerung und weiterführende Gedanken Natürlich gelangt die Verknüpfung von Bourdieus Theorie mit dem Thema Gewalt an bestimmte Grenzen. Beispielsweise behandelt der Soziologe Bourdieu das Thema Abhängigkeit und deren Auswirkung auf Handlungsmuster kaum, welche im Bereich der Gewalt eine große und nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Anzumerken ist auch, dass der Habitus Bourdieu zufolge aus Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata besteht. Demnach müsste man alle diese Schemata erfassen, um den Habitus einer Person gänzlich begreifen zu können. In dieser Untersuchung werden

Der Ohnmacht entfliehen

aber lediglich die Handlungsschemata bzw. -muster betrachtet, was bereits in der Analysemethode begründet ist  : Die Objektive Hermeneutik versucht nicht, die Absichten und Motive, die die Handelnden selbst sehen, herauszuarbeiten, sondern zielt darauf ab, objektive Deutungsmöglichkeiten der Handlungsweisen und Interaktionen zu rekonstruieren. Weiter setzt sich die vorliegende Untersuchung aufgrund ihres Designs nicht mit der Langfristigkeit des Habitus auseinander. Zwar können aus den Erzählungen der Interviewpartnerinnen und den verfügbaren Falldokumenten einige Informationen zu überdauernden, wiederkehrenden Handlungsschemata gewonnen werden. Dennoch kann nicht beurteilt werden, welche der hier vorgefundenen und beschriebenen Handlungsmuster vorrangig situativ oder dauerhafter sind bzw. ob die Handlungsmuster auch generationenübergreifend auftreten. Eine der Fokuspersonen beispielsweise, die unter der Gewalt ihres Partners litt, war ihrer Tochter gegenüber physisch und psychisch gewalttätig. Hierzu berichten Lamnek & Luedtke (2005  : S. 46), dass in den meisten Fällen, in denen Partnergewalt vorliegt, auch Gewalt gegenüber den Kindern ausgeübt wird. In einer empirischen Untersuchung könnte man generationenübergreifende Gewalt anhand des Habituskonzepts betrachten und fragen, wie der Habitus innerhalb der Familie weitergegeben wird. Viele weiterführenden Fragestellungen und Überlegungen bleiben, doch können die von Bourdieu argumentierten Thesen und das Phänomen Gewalt und Gewaltbeziehung sehr wohl zusammengeführt werden  : die Bildung des Habitus in der Vergangenheit und seine Wirkung in der Gegenwart  ; der Habitus als unbewusste Strategie  ; die Orientierung an den gesellschaftlichen Erwartungen etc. Interessant an der bourdieuschen Theorie ist die darin enthaltene Möglichkeit der Habitusänderung. Auch wenn diese als schwierig beschrieben wird, ist sie dennoch durchführbar, vor allem durch den Einsatz von Ressourcen, welche bei Bourdieu als Kapital bezeichnet werden. Für Helfferich spielt die von der Frau subjektiv wahrgenommene Handlungsmacht eine wichtige Rolle, hat diese doch großen Einfluss auf den Verlauf der Gewaltbeziehung. Wie die Fallstudie zeigt, stellt für die betroffenen Frauen ein hohes Ausmaß an Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit die entscheidende Ressource dar, die für das Verlassen des gewalttätigen Partners und das Heraustreten aus der gegenwärtigen Gewaltbeziehung notwendig ist. Als weitere Ressource wird die Fähigkeit genannt, sich von der Vergangenheit zu lösen, was eine Erneuerung der Handlungsweisen und in weiterer Folge eine Habitusänderung bedeutet. In Ableitung aus dem ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital im Verständnis von Bourdieu stellen die beiden Ressourcen subjektive Handlungsmacht und Fähigkeit der Habitusänderung einen wesentlichen Faktor für das Beenden einer Gewaltbeziehung dar.

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Sabine Hötzl

Nutzung und Handhabung des Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrtsbehörden Gegenstandsbezogene Thesenbildung im Forschungsfeld familialer Gewalt

Das österreichische Bundesgesetz zum Schutz vor Gewalt in Familien hat in Europa Vorbildcharakter und gilt als innovative Gesetzgebung. Die dadurch geschaffenen Rahmenbedingungen beabsichtigen, die Zusammenarbeit staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen zu begünstigen und Sicherheit und Schutz von Opfern familialer Gewalt zu optimieren. Den Jugendwohlfahrtsbehörden werden durch das Gewaltschutzgesetz Instrumente zur Verfügung gestellt, Kinder zu schützen, welche direkt oder indirekt von familialer Gewalt betroffen sind. Der Beitrag geht von der Beobachtung aus, dass die gesetzlich angelegten Möglichkeiten bisher jedoch in geringem Ausmaß genutzt werden. In seiner empirischen Vorgehensweise lehnt er sich an das Modell der »gegenstandsbezogenen Theorieentwicklung« nach Strauss und Corbin (1996) an. Mittels dieses Ansatzes werden erklärende Thesen für die derzeit geringe Nutzung des Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrtsbehörden erarbeitet. Der empirische Teil umfasst eine dreistufige Erhebung und Analyse von insgesamt 35 Interviews – in der dritten Stufe kombiniert mit einem Visualisierungsverfahren (Struktur-Lege-Technik) nach Scheele & Groeben (1988) – und bezieht sich auf das Bundesland Steiermark, mit Schwerpunkt Graz. 1. Die Jugendwohlfahrtsbehörden und ihre Möglichkeiten durch das Gewaltschutzgesetz Die Entstehung des Gewaltschutzgesetzes in Österreich im Jahr 1997 basierte auf einer europaweiten, gesellschaftlichen Entwicklung in den vorangegangenen Jahrzehnten. Der internationale Diskurs betonte den gesellschaftspolitischen Auftrag, Opfer familialer Gewalt zu schützen. Mit der Erlassung des österreichischen Bundesgesetzes zum Schutz vor Gewalt in Familien, kurz Gewaltschutzgesetz (GeSCHG), im Jahr 1997 stellte sich der österreichische Staat seiner Verantwortung, gefährdete Personen zu schützen und zu unterstützen. Familiale Gewalt wird mit Erlassung des Gesetzes offiziell nicht mehr als Privatsache betrachtet.

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Das österreichische Gewaltschutzgesetz stellt kein in sich geschlossenes Gesetz dar, sondern novelliert in drei Artikeln das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB), die Exekutionsordnung (EO) und das Sicherheitspolizeigesetz (SPG) (vgl. Bauer et al, 2007  : S. 15). Es bietet drei grundlegende Elemente, um gefährdete Personen zu schützen und zu unterstützen. Dies sind 1. das polizeiliche Betretungsverbot mit oder ohne Wegweisung, 2. die zivilrechtliche einstweilige Schutzverfügung und 3. die Einrichtung von Interventionsstellen zur Unterstützung der Opfer (vgl. Logar, 2005  : S. 92 ff.). Den Jugendwohlfahrtsbehörden werden mit der Erlassung des Gewaltschutzgesetzes und im Zuge seiner Weiterentwicklung neue Interventionsmöglichkeiten in Fällen familialer Gewalt zur Verfügung gestellt. So werden die zuständigen Jugendwohlfahrtsbehörden umgehend über polizeiliche Wegweisungen und Betretungsverbote informiert, wenn minderjährige Kinder im Haushalt leben oder während eines Gewaltvorfalls anwesend waren. Dies bietet den Jugendwohlfahrtsbehörden die Möglichkeit, Kontakt mit den betroffenen Familien aufzunehmen und eine mögliche Gefährdung der Minderjährigen einzuschätzen. Bei Bedarf können Interventionen gesetzt werden, um das Wohl der betroffenen Minderjährigen zu gewährleisten. So wurden, beispielsweise für die Stadt Graz, im Jahr 2007 durch das Amt für Jugend und Familie in Graz 125 polizeiliche Meldungen über Betretungsverbote bearbeitet (vgl. Stadt Graz – Amt für Jugend und Familie, 2008  : S. 9). Auch wenn zivilrechtliche Schritte eingeleitet werden, um Kinder vor direkter und indirekter Gewalt zu schützen, ist eine Mitteilung an die Jugendwohlfahrtsbehörden vorgesehen. Sie sind unverzüglich über Beschlüsse der Gerichte zu informieren, wenn Anträge auf eine einstweilige Schutzverfügung nach § 382 b EO bearbeitet werden, sollte eine der Parteien minderjährig sein. Auch über die Aufhebung einer einstweiligen Schutzverfügung wird die Jugendwohlfahrtsbehörde umgehend informiert (vgl. § 382c Abs 3 EO)1. Mit 1.7.2001 wurden die Möglichkeiten der Jugendwohlfahrtsbehörden, in Fällen familialer Gewalt zu agieren, durch das Gewaltschutzgesetz nochmals erweitert. Mit der Einführung des § 215 Abs 2 ABGB erhalten die Jugendwohlfahrtsbehörden die Möglichkeit, in Vertretung betroffener Minderjähriger eine einstweilige Schutzverfügung bei Gericht zu beantragen. Basierend auf dieser gesetzlichen Grundlage haben die zuständigen Jugendwohlfahrtsträger die Möglichkeit, Minderjährige, die aufgrund familialer Gewalt in ihrer Entwicklung gefährdet sind, zu schützen und sie weiter in ihrem gewohnten Umfeld zu belassen. Der Gesetzgeber schafft durch diese Regelung 1 Die in dieser Arbeit angeführten Paragrafen sind dem Rechtsinformationssystem des Bundeskanzleramtes Österreich entnommen und finden sich mit der angeführten Bezeichnung unter  : http://www.ris.bka. gv.at/bundesrecht Zitationsdatum  : 30.7.2007

Nutzung und Handhabung des Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrtsbehörden

eine besondere Sachwalterschaft der Jugendwohlfahrtsbehörden, wenn der sonstige gesetzliche Vertreter, zum Beispiel die Mutter eines Minderjährigen  – häufig selbst Opfer familialer Gewalt –, nicht bereit ist, einen entsprechenden Antrag einzubringen. Ergibt die Einschätzung der Fachkräfte der Jugendwohlfahrtsbehörden, dass das weitere Aufeinandertreffen des Minderjährigen mit dem/der GewalttäterIn gefährdend für das Kind sein könnte, so ist es dem Amt möglich, den Antrag auch ohne Zustimmung der Erziehungsberechtigten zu stellen. Es ist nicht ausschlaggebend, ob das minderjährige Kind Opfer direkter oder indirekter Gewalt ist. Dies ermöglicht, dass auch Kinder, die Opfer miterlebter Gewalt sind, vor einer gewalttätigen häuslichen Atmosphäre geschützt werden. Dementsprechend können die Jugendwohlfahrtsbehörden diese Schutzmaßnahme auch in Vertretung des betroffenen Elternteils setzen, wenn dieser Angst hat oder zögert, einen Antrag einzubringen. Im Hinblick auf Gewaltbeziehungen und deren Dynamik (vgl. Schwarz-Schlöglmann & Sorgo, 2007  : S. 138 ff.) kann dies aus Sicht der Gewaltschutzgesetzgebung zu einer wesentlichen Entlastung für Kinder und Erziehungsberechtigte führen. Vor allem der Schutz minderjähriger Opfer indirekter Gewalt ist hier von großer Bedeutung. So verdoppelt sich das Risiko von elterlicher Gewalt gegen Kinder, wenn Partnergewalt ausgeübt wird  ; bei schwerer und regelmäßiger Gewaltausübung verfünffacht es sich sogar (vgl. Bauer et al., 2007  : S. 128). Die Erkenntnisse der Gewaltforschung und der Gewaltschutzarbeit sprechen eindeutig für die Sinnhaftigkeit der gesetzlichen Möglichkeiten und deren Anwendung. Dahin gehend verwundert es doch, dass diese bisher kaum genutzt werden. Evident wird die geringe Anwendung in einschlägigen Statistiken im Bereich der Gewaltschutzarbeit. So ist den Tätigkeitsberichten des Gewaltschutzzentrums Steiermark zu entnehmen, dass in den letzten Jahren nahezu keine Anträge der Jugendwohlfahrtsbehörden auf eine einstweilige Verfügung zum Schutz eines Minderjährigen bekannt sind (vgl. Gewaltschutzzentrum Steiermark, 2007  : S. 35  ; Gewaltschutzzentrum 2010  : S. 39  ; Gewaltschutzzentrum 2011  : S. 35)  ; Ausnahmen bilden das Jahr 2008 mit zwei bekannten Anträgen und 2011 mit drei Anträgen auf eine einstweilige Schutzverfügung durch die Jugendwohlfahrtsbehörden (vgl. Gewaltschutzzentrum 2009  : S.  33  ; Gewaltschutzzentrum 2012  : S.  35). Dies spiegelt eine äußerst geringe Nutzung wider, ein Umstand, der ernüchtert und die Frage virulent werden lässt  : Warum werden die gesetzlichen und sicherheits- sowie schutzfördernden Interventionsmöglichkeiten nicht genutzt  ? Was hemmt die Nutzung des Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrt  ?

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210 2. Die Grounded Theory im Forschungsfeld familialer Gewalt

Um Einflussfaktoren auf die Nutzung des Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrtsbehörden zu ergründen, wird in der vorliegenden Studie der Forschungsansatz der Grounded Theory oder gegenstandsbezogenen Theorieentwicklung nach Strauss und Corbin (1996) gewählt. Ausgangspunkt dieser soziologischen Forschungsmethode ist die von den beiden US-amerikanischen Soziologen Barney Glaser und Anselm Strauss schon in den 1960er-Jahren kritisierte »große Kluft zwischen Theorie und empirischer Forschung« (Lamnek, 1995  : S. 111), die es zu überbrücken gelte. Der Forschungsansatz zielt darauf ab, ein Phänomen  – im vorliegenden Fall die Nutzung des Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrt  – aus möglichst vielfältigen verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und dadurch eine gegenstandsbezogene Theorie zu entwickeln, welche das Phänomen auf- und erklären kann. Dieses Ziel wird mithilfe der mehrfachen Analyse möglichst vielfältigen Datenmaterials verfolgt. In den meisten Anwendungen dieses Ansatzes, so wie auch in der gegenständlichen Studie, werden weniger Theorien als vielmehr Thesen entwickelt, reformuliert oder präzisiert. Die empirische Methode der Grounded Theory (vgl. Strauss & Corbin, 1996) oder gegenstandsbezogenen Theorieentwicklung beruht darauf, »Phänomene im Licht eines theoretischen Rahmens zu erklären, der erst im Forschungsverlauf selbst entsteht« (ebd.: S.  32). Zu Beginn des Forschungsprozesses wird nach Möglichkeit bereits bestehendes Datenmaterial zur Analyse herangezogen. Basierend auf den Ergebnissen der ersten Forschungsschritte wird neues Datenmaterial beigezogen oder gegebenenfalls erhoben. Im Zuge der Untersuchung werden Konzepte erstellt, welche sich in der weiteren Forschung wiederum an den Daten bewähren oder aber verworfen werden. So können gewonnene Annahmen und Theorien im Zuge des Forschungsprozesses weiterbearbeitet, ergänzt oder auch widerlegt werden. Die/Der Forschende reagiert auf neue Erkenntnisse und Fragen, die sich aus den Analysen ergeben, mit möglichst großer Offenheit und lässt sich von ihnen leiten. Die Methode der Grounded Theory erlaubt es nicht, starr vorgeschriebenen, im Vorfeld geplanten Forschungsschritten zu folgen. Auswahl, Erhebung und Analyse des Datenmaterials werden im gesamten Forschungsverlauf miteinander verschränkt und bestimmen sich gegenseitig. Die Analyseverfahren unterteilen Strauss und Corbin (1996) in verschiedene Formen des Codierens, welche sich im Zuge der Untersuchung abwechseln. Die Autoren weisen darauf hin, dass Beachtung und Anwendung der entworfenen Methoden notwendig sind, um den Ansprüchen wissenschaftlicher Arbeit zu entsprechen, beschreiben aber die Kreativität der/des Forschenden als »unverzichtbare Komponente« (Strauss & Corbin, 1996  : S. 12), um die Instrumente der Grounded Theory adäquat zu nutzen.

Nutzung und Handhabung des Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrtsbehörden

2.1 Analyse vorhandenen Datenmaterials

Die Ausgangssituation der Forschung für diese Untersuchung basiert auf der fachpraktischen Beobachtung und statistischen Kenntnis, dass Teile des Gewaltschutzgesetzes nur sehr selten durch die Jugendwohlfahrt angewandt und zum Schutz des Kindeswohles genutzt werden (vgl. Gewaltschutzzentrum Steiermark, 2007  : S. 35). Dieses Phänomen wird in der einschlägigen Literatur beschrieben. Gründe und Erklärungsansätze für die geringe Nutzung der gesetzlichen Möglichkeiten sind hingegen nicht bekannt und wenig erforscht. Um die Potenziale der Grounded Theory für einen Einstieg in das Thema zu nutzen, nähert sich diese Studie dem Forschungsgegenstand von Beginn an auf empirischem Wege. Basierend auf dem Konzept der Grounded Theory werden als Ausgangspunkt verschiedene Datenquellen, die sich mit den Themen Gewaltschutzgesetz, Jugendwohlfahrtsbehörden und Fremdunterbringung beschäftigen, ausgewählt. Zu Beginn der Forschung steht die Analyse vielfältigen, bereits vorhandenen Datenmaterials. Als erster Schritt wird Originalmaterial in Form von originalen Interviewtranskripten aus einer bereits vorliegenden Studie (Sorgo, 2007) herangezogen. Das vorhandene Datenmaterial beschäftigt sich mit dem Thema der Zusammenarbeit verschiedener Institutionen im Sinne des Schutzes vor Gewalt in Familien. Zur Verfügung stehen Transkripte von sieben ExpertInneninterviews mit Fachkräften aus der Gewaltschutzarbeit in Österreich. Fachkräfte der Jugendwohlfahrtsbehörden wurden in der Forschung von Sorgo (2007) nicht direkt befragt, die erhobenen Daten beschäftigen sich jedoch auch mit diesen potenziellen KooperationspartnerInnen (ebd.). Die Analyse des vorhandenen originalen empirischen Materials konzentriert sich auf die Frage, ob die Jugendwohlfahrtsbehörden als Kooperationspartner innerhalb der Gewaltschutzgesetzgebung betrachtet werden und in welcher Form die Zusammenarbeit erfolgt. Auch Aussagen der InterviewpartnerInnen über deren Ansprüche an potenzielle KooperationspartnerInnen werden analysiert. Durch die mehrfache Analyse, Kategorisierung und Interpretation des Datenmaterials im Sinne der Grounded Theory werden Kategorien entwickelt, die als theoretische Konzepte und Erklärungsansätze für den Nutzungsgrad der rechtlichen Möglichkeiten der Gewaltschutzgesetzgebung durch die Jugendwohlfahrtsbehörden zu betrachten sind. Die Ergebnisse dieses ersten Forschungsschrittes bestimmen die Auswahl weiteren Datenmaterials. Um die ersten gewonnenen Konzepte zusammenzuführen und die Erklärungsansätze für den geringen Nutzungsgrad der Gewaltschutzgesetzgebung durch die Jugendwohlfahrtsbehörden zu verdichten, ist es unerlässlich, die Sicht der Jugendwohlfahrtsbehörden mit einzubeziehen. Adäquates empirisches Originalmaterial stellen die Interviews und deren Transkripte aus einer anderen Studie – der Arbeit »Das Entscheidungsproblem Volle Erziehung« (Moser, 2007) – dar, welche für

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die vorliegende Studie herangezogen wurden. Die Arbeit von Moser (2007) beschäftigt sich mit der Fremdunterbringung von gefährdeten Minderjährigen, welche häufig notwendig ist, um Kinder vor gewalttätigen Elternteilen zu schützen. Insgesamt stehen zwölf narrative Interviews und drei ExpertInneninterviews mit SozialarbeiterInnen der Jugendwohlfahrtsbehörden zur Verfügung. Diese gewähren Einblick in Handlungslogiken, Sichtweisen und Meinungen der Fachkräfte der Jugendwohlfahrt. Vor allem der Bezug und die Sichtweise auf alternative Interventionsmöglichkeiten zum Schutz gefährdeter Minderjähriger werden in der Analyse in den Blickpunkt gerückt. Aus Sicht der Gewaltschutzgesetzgebung kann ein Rückkehr- und Betretungsverbot für Gewalttäter ebenfalls Schutz vor familialer Gewalt bieten. Diese Interventionsmöglichkeit kann als gelinderes zum Ziel führendes Mittel betrachtet werden, da es den Minderjährigen die Möglichkeit gewährt, im gewohnten familiären Umfeld zu verbleiben und dort vor weiteren Gewalteskalationen geschützt zu sein. Die Datenanalyse erschließt – neben dem Einblick in Entscheidungswege, Orientierungen und Handlungslogiken –, ob die Möglichkeit nach § 215 Abs 2 ABGB als Alternative zur Fremdunterbringung in Betracht gezogen wird. Auch die Sicht der SozialarbeiterInnen auf ihre Kooperationsstrategien und -partnerInnen findet in der Analyse ausreichend Beachtung. In der Analyse dieser Daten werden neue Thesen entwickelt und bereits bestehende Erklärungsansätze aus dem ersten Forschungsschritt überarbeitet und teilweise erweitert. Die Ergebnisse der Analysen liefern in erster Linie neue Hinweise für die unterschiedlichen konzeptuellen Grundlagen und Orientierungen von Jugendwohlfahrtsbehörden und der Gewaltschutzgesetzgebung. Erwähnenswert ist hier die gleichzeitige Analyse von Handlungsvorgaben bzw. Qualitätskriterien der Jugendwohlfahrt in Graz und der Steiermark. Grundlage dafür ist das Handbuch »Sozialarbeiterische Hilfe und Abklärung bei vermuteter Gefährdung des Kindeswohls« (Bezirksverwaltungsbehörden Steiermark, 2007) und der Qualitätskatalog der Grazer Jugendwohlfahrt (Magist­ rat Graz – Amt für Jugend und Familie, 2007). Die analysierten Qualitätskonzepte bilden die Grundlage für Interventionen der Fachkräfte der Jugendwohlfahrtsbehörden. Dieser Forschungsschritt erlaubt einen umfassenderen Einblick in Handlungslogiken und Entscheidungswege der Jugendwohlfahrtsbehörden in Fällen familialer Gewalt und dient der Verdichtung der Erklärungsansätze. Der Nachteil einer solchen Forschungsanlage und Vorgehensweise besteht potenziell in einer hinsichtlich der neuen Forschungsfrage thematischen Passungenauigkeit bzw. Weite  – im vorliegenden Fall wird dies durch das Heranziehen von zwei existierenden Studien mit insgesamt 22 Interviews und Volltranskripten einerseits und Dokumenten aus der Jugendwohlfahrt aufgegriffen und thematisch umfasst. Der methodologische Vorteil einer solchen Datenverwendung liegt dagegen darin, dass das

Nutzung und Handhabung des Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrtsbehörden

erhobene Material (Interviews, Interviewtranskripte) sich bezüglich der nun neuerlich durchgeführten Analyse nicht reflexiv verhält – das Material kam ohne Beeinflussung der neuen Durchführung zustande. 2.2 Aufbauende Datenerhebung und -analyse

Um die im ersten Forschungsschritt erarbeiteten Erklärungsansätze zu präzisieren und zu verdichten, werden weitere Erhebungen im Forschungsfeld angestrengt. Die bereits erarbeiteten Kategorien und Dimensionen bestimmen die Auswahl und Durchführung der folgenden Forschungsschritte. Die Interviews mit ExpertInnen aus dem Gewaltschutzbereich und von betroffenen SozialarbeiternInnen der Jugendwohlfahrtsbehörden orientieren sich an den Kategorien aus den ersten Forschungsschritten. Die qualitativen Erhebungsschritte zielen darauf ab, die bisher entwickelten Erklärungsansätze zu explizieren, zu überdenken, zu verfeinern, zu präzisieren, zu ergänzen und weiterzuentwickeln. Dementsprechend stellen ExpertInneninterviews mit Fachkräften aus dem Gewaltschutzbereich in der Steiermark den nächsten Forschungsschritt dar. Es handelt sich dabei um acht Interviews mit ExpertInnen des Frauenhauses, des Gewaltschutzzentrums, der Exekutive, eines Bezirksgerichtes und des Kinderschutzzentrums. Die qualitativen Erhebungen werden in Form von themenzentrierten ExpertInneninterviews durchgeführt, und ein teilstandardisierter Leitfaden orientiert sich an den bisher gesammelten Erklärungsansätzen. Ziel der Interviews sind die Verdichtung und prüfende Aktualisierung der bisherigen Thesen mithilfe der sachverständigen InterviewpartnerInnen. Ausgehend von den Analysen der Experteninterviews und der Themenstellung wird es notwendig, ExpertInnen aus dem Bereich der Jugendwohlfahrt zu interviewen. Die Fragestellungen und Leitfäden für die folgenden problemzentrierten Interviews mit fünf SozialarbeiterInnen aus der Jugendwohlfahrt orientieren sich, im Sinne der Grounded Theory, an den bisher gewonnenen Erklärungsansätzen. Die InterviewpartnerInnen stehen in diesem Forschungsschritt als Betroffene im Mittelpunkt der Betrachtungen. Sie sind potenzielle NutzerInnen des Gewaltschutzgesetzes, die entweder derzeit keinen oder kaum Gebrauch von den Möglichkeiten dieser gesetzlichen Regelungen machen, oder deren Nutzung der gesetzlichen Möglichkeiten nicht in den Statistiken festgehalten ist. Als eigenständiger Teil aller erhobenen 13 Interviews stehen Visualisierungsverfahren zur Verfügung, welche es erlauben, subjektive Theorien der interviewten Fachkräfte abzubilden und zu konkretisieren. Da sich die Forschung vor allem mit den Handlungslogiken und Orientierungen von Gewaltschutzgesetzgebung und Jugendwohlfahrtsbehörden beschäftigt, ist es zielführend, die subjektiven Theorien der InterviewpartnerInnen zu dieser Thematik möglichst umfassend abzubilden. Das Visuali-

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sierungsverfahren wird entlang der sogenannten Struktur-Lege-Technik nach Scheele & Groeben (1988) durchgeführt. Die Visualisierung findet im Anschluss an alle 13 Interviews statt, den interviewten Personen stehen Papier, Schreib- und Zeichenmaterialien und verschiedene Kärtchen zur Verfügung, die die Inhalte des vorangegangenen Interviews darstellen. Die Wahl der Materialien obliegt den InterviewpartnerInnen. Die Visualisierung der subjektiven, teils unbewussten Theorien der Interviewten erlaubt eine Vertiefung der vorangegangen Interviewinhalte und liefert ebenfalls neue Erkenntnisse. Die Ergebnisse sind in Wort und Bild festgehalten. Sie stellen weiteres Datenmaterial dar, welches analysiert und in die Entwicklung der gegenstandsverankerten Thesen miteinbezogen wird. Jedes Interview baut auf Analyseergebnissen der vorangegangenen Interviews auf. Die Analyse des Datenmaterials findet fortwährend statt, und Fragen oder neue Informationen, die sich aus den bereits geführten Interviews ergeben, bestimmen die nachfolgenden Erhebungen. So fällt die Wahl auf die problemzentrierten Interviews mit SozialarbeiterInnen der Jugendwohlfahrt aus steirischen Bezirken nicht allein aufgrund von Kriterien, die im Vorfeld schon festgelegt sind, sondern orientiert sich an den Aussagen der interviewten ExpertInnen. Die ausgewählten Bezirke werden im Zuge der Interviews als besonders aktiv im Umgang mit dem Gewaltschutzgesetz beschrieben  : »Und in [..] [Ort durch Autorin anonymisiert] sage ich eben durch diesen […] Informationsaustausch, dass es bestens läuft, gell  ? Für alle Beteiligten bestens. Da geht es nicht, ob ein Akt gut geschrieben ist, es geht darum, für alle Beteiligten das Beste zu erreichen« (INT_04, S. 38, Z. 1031 ff.)2. Im Gegenzug dazu werden andere InterviewpartnerInnen gewählt, da ihre auftraggebende Jugendwohlfahrtsbehörde als passiv im Bereich der Arbeit mit dem Gewaltschutzgesetz und der Kooperation beschrieben werden. So beschreibt ein Präventionsbeamter aus einem anderen Bezirk  : »[…] mit den Jugendwohlfahrtsträgern natürlich haben wir auch Kontakt, aber nur dann, wenn wir dafür sorgen sollten, dass das Kind eine andere Obsorge […] erfahren muss, weil eben in der Familie das nicht gegeben ist« (INT_03, S. 3, Z. 78 ff.). Diese Aussagen beeinflussen die Wahl der weiteren InterviewpartnerInnen und weisen zugleich darauf hin, dass sich in der Kooperation innerhalb des Gewaltschutzes regionale Unterschiede zeigen. Die Fragen der aufbauenden Interviews werden den gewonnenen Erkenntnissen entsprechend modifiziert, um die 2 Die zitierten Interviewpassagen entstammen dem Originalmaterial der Interviews aus der unveröffentlichten Diplomarbeit »Nutzung und Handhabung des österreichischen Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrtsbehörden. Gegenstandsbezogene Theorieentwicklung im Forschungsfeld familialer Gewalt« (Hötzl, 2008).

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entwickelten Kategorien und Subkategorien zu bearbeiten und zu verdichten und eine »theoretische Sättigung« der jeweiligen Kategorien (Strauss & Corbin, 1996, S. 165) anzustreben. Dieses Vorgehen erfordert größtmögliche Offenheit in der Forschung und erlaubt die Entwicklung und Überprüfung eigenständiger Erklärungsansätze. Durch die Verschränkung der Ergebnisse der Datenanalyse und der theoretischen Zugänge wird Einblick in handlungsleitende Orientierungen und Entscheidungswege der Fachkräfte aus dem Jugendwohlfahrts- und dem Gewaltschutzbereich gewährt. So lassen sich Konzepte skizzieren, welche die derzeitig geringe Nutzung des Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrtsbehörden erklären und Anregung für die Weiterentwicklung der bereits bestehenden Möglichkeiten geben können. 3. Kinderschutz und Frauenschutz – Unterschiedliche theoretische Zugänge in der Gewaltschutzarbeit Fachkräfte, die Aufgaben im Bereich des Gewaltschutzes übernehmen, gehen – wie die Erhebungen verdeutlichen – unterschiedlich auf die Thematik zu. So zeigen Arbeitsansätze von Institutionen des Kinderschutzes andere Grundlagen als von jenen Institutionen, die sich auf den allgemeinen Schutz vor Gewalt in Familien spezialisierten. Frauenschutzbewegungen wie auch Kinderschutzbewegungen markieren Entwicklungen, die seit dem letzten Jahrhundert erheblich zum Schutz gewaltbetroffener Menschen beitragen. Sie weisen unterschiedliche theoretische Zugänge und Handlungslogiken auf, die aus historischen Entwicklungsprozessen innerhalb der Opferschutzarbeit resultieren. Die Gewaltschutzgesetzgebung beruht auf jahrzehntelangen Bemühungen vorrangig von Frauenschutzeinrichtungen, den Opferschutz – für Frauen – in Österreich zu verbessern. Diese Entwicklung begründet sich in der feministischen Frauenbewegung, welche die familiale Gewalt als Gewalt von Männern gegen Frauen und als massivste Form der Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen sieht und sich daher das Ziel setzte, den betroffenen Frauen und Kindern zu helfen und ihnen eine Möglichkeit zu geben, den gewalttätigen Partner/(Stief-)Vater zu verlassen (Appelt & Höllriegl & Logar, 2001  : S.  439). Ziel dieserart Interventionen ist es, das Machtungleichgewicht zwischen Männern und Frauen zu bearbeiten. Einrichtungen, die auf Grundlage der Gewaltschutzgesetzgebung in Gewaltfällen intervenieren, konzentrieren sich auf die parteiliche Sozialarbeit. Dabei ist die Unterstützung inzwischen nicht mehr ausschließlich weiblichen Opfern von Gewalt vorbehalten  ; auch Männer und Kinder werden durch diese Einrichtungen beraten und unterstützt. Prädeterminierender Ansatzpunkt der Intervention ist dabei nach wie vor der gleiche  : die Annahme des Macht­

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ungleichgewichts zwischen TäterIn und Opfer. Eine Trennung der Gewaltopfer von den TäterInnen im räumlichen Bereich, vor allem in den Interventionen, wird hier als absolut notwendig erachtet. Dies bezieht sich auf minderjährige wie auch erwachsene Opfer von Gewalt. Rosa Logar, Mitbegründerin des ersten Frauenhauses in Wien, beschreibt dazu  : »Gewalttätige Männer disqualifizieren sich auch als Väter und müssen sich erst neu qualifizieren, damit dem Kind der Umgang mit dem Vater zugemutet werden kann und seine Sicherheit und sein Wohl gewährleistet sind« (Logar, 2005  : S. 105). Diese Aussage wird in den Visualisierungsverfahren im Zuge der Forschung mit den Experten und Expertinnen thematisiert. Die Fachkräfte aus dem Bereich des Gewaltschutzes, die intensiv mit dem Gewaltschutzgesetz arbeiten, identifizieren sich mit diesem Zitat, wie eine Interviewpartnerin betont  : »[…] ist ganz klar, gewalttätige Männer disqualifizieren sich, auch als Väter, sie geben ein Bild ab, ja  ? Ein Rollenbild, ja  ?« (INT_06, S. 10, Z. 285 ff.). Die Notwendigkeit, mit allen Beteiligten zu arbeiten, bleibt unbestritten. Gewaltbeschützende Arbeit mit den Betroffenen ist allerdings in zwei institutionelle Sphären geteilt  ; d. h. die Arbeit mit TäterInnen und Opfern wird von unterschiedlichen Institutionen getragen. In der Konsequenz wird eine gelingende Kooperation der Einrichtungen miteinander bedeutsam, sie wird zum erheblichen Faktor für eine misslingende oder gelingende Gewaltschutzarbeit insgesamt. Die Fachkräfte der Jugendwohlfahrt beschreiben einen grundsätzlich anderen Zugang zur Opferschutzarbeit. Die Geschichte der Jugendwohlfahrt führt in den letzten Jahrzehnten hier- und andernorts über den Weg des bestrafenden Eingriffes durch die Fürsorge hin zu einem familienorientierten Ansatz. Die Arbeit einer modernen Jugendwohlfahrt beruht auf dem Prinzip der familienorientierten Sozialarbeit  ; also im Falle von familialer Gewalt auf der gleichzeitigen Arbeit mit GewalttäterInnen und -opfern. Im Fokus der Interventionen steht das Kind mit seiner Familie und den Beziehungen, in denen es aufgehoben ist. Einflussreich für die »neue« Kinderschutzarbeit ist die Annahme, dass familiale Gewalt gegen Kinder besonders in Familien stattfindet, welche geringe Teilhabe an Besitz, Bildung und sozialem Prestige haben und damit zu Opfern struktureller Gewalt werden (vgl. Pflegerl & Cizek, 2001  : S.  112). Die erlebte strukturelle Gewalt und die dadurch verursachten Lebensbelastungen lösen Frustratio­nen aus, welche in Form von Gewalt an Kinder weitergegeben wird. Diese Erklärung für Gewalt indiziert die Notwendigkeit, bei familialer Gewalt gegen Kinder mit der gesamten Familie zu arbeiten und eine Problemlösung im Sinne aller Betroffenen anzustreben (ebd.). Vor dieser Hintergrundposition gehen Angebote und Interventionen der österreichischen Kinderschutzarbeit davon aus, dass Gewalt gegen Kinder nicht Ursache, sondern Ausdruck einer Misslage in der Familie ist. Durch die familienorientierte Arbeit mit Kindern und deren Familie wird darauf abgezielt, Gewalt zu verhindern oder zu beenden, ohne in das Familiengeschehen mit macht-

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vollen Interventionen, wie z.B. der Fremdunterbringung eines Kindes, einzugreifen. Der Blick richtet sich dabei auf die Lebenssituation und die Bedarfe aller Familienmitglieder. »Schutz heißt […] immer zweifach, der Schutz des Kindes (anstelle der Obsorgeberechtigten) und der Schutz der Eltern vor Scheitern, Schande, Unglück und Strafe« (Magistrat Graz  – Amt für Jugend und Familie, 2001, PPQ 8.2). Die interviewten Fachkräfte beschreiben in ihren Interventionen ihr Bemühen, alle Mitglieder des Familiensystems in Veränderungsprozesse mit einzubeziehen, um gewaltfreie Erziehungs- und Handlungsmuster in und mit den Familien zu erarbeiten. Eine gleichzeitige Zusammenarbeit der Jugendwohlfahrtsfachkräfte mit Gewaltopfern und - täterInnen ist dafür unerlässlich. Ziel ist die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Eltern und Kindern. So betont das Amt für Jugend und Familie der Stadt Graz in seinem Qualitätskatalog  : »Kinderschutz erreicht in der partnerschaftlichen Begegnung mit Eltern und Kindern und deren solidarischer Unterstützung seine Ziele« (Magistrat Graz, 2000, PPQ 8.6). Diese Grundhaltung lässt sich bei den interviewten SozialarbeiterInnen ebenso erkennen, wenn eine Jugendamtsmitarbeiterin meint  : »[…] das […] kenne ich natürlich und … das ist so eher meine Heimat, wo ich mich befinde. Meine gedankliche.« (INT_08, S. 9, Z. 236 ff.). Eine Aufteilung der Interventionen für TäterInnen und Opfer auf verschiedene Institutionen ist in der Konzeption der Jugendwohlfahrtsarbeit nicht vorgesehen. Noch ein Einflussfaktor auf die Nutzung des Gewaltschutzgesetzes findet sich in seiner Entstehungsgeschichte. Das Gewaltschutzgesetz ist vor allem durch die Frauenschutzbewegung geprägt, wurde jedoch in Zusammenarbeit verschiedener Professio­ nen und Disziplinen erarbeitet. Mitarbeiterinnen der autonomen Frauenhäuser, aber auch andere Institutionen, wie Polizei und Gerichte, konnten so ihre theoretischen Zugänge und methodischen Anforderungen in die gesetzlichen Regelungen einbringen. Dadurch wurden ein fachlicher Austausch unterschiedlicher Berufsgruppen sowie Professionen und Perspektiven möglich – eine grundlegende Entwicklung für die gelingende Kooperation der Einrichtungen in der Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes. Fachkräfte der Jugendwohlfahrtsbehörden hatten jedoch keine (formale) Möglichkeit, ihre Bedarfe im Bereich des Gewaltschutzes anzumelden und in die Entwicklung einzubringen. Eine Expertin aus dem Gewaltschutzbereich benennt den Konflikt  : »[…] sie [die Jugendwohlfahrtsbehörden, Anm. der Autorin] sind aufgefordert zu handeln, ohne dass man sie vorher auch gebeten hat mitzugestalten oder eingeladen hat« (INT_05, S. 4, Z. 99 ff.). Die empirischen Belege in der Studie verweisen darauf, dass diese Ausgangssituation noch heute ein eingehenderes Verständnis für die Intention des Gewaltschutzgesetzes und dessen Nutzung hemmt. Die Fachkräfte der Jugendwohlfahrt sind zum Teil nur unzureichend über die gesetzlichen Möglichkeiten informiert. Es besteht Unsicherheit in der Umsetzung der gegebenen gesetzlichen

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Möglichkeiten als auch in Bezug auf die Durchsetzbarkeit und die Wirkung einer einstweiligen Schutzverfügung. Diese wird sogar als Widerspruch zu den eigenen Zielen und Methoden betrachtet, da man keine Möglichkeit sieht, langfristige Lösungen zu erreichen  : »[…] also, das Gesetz […] an sich hat schon seine Berechtigung, aber es löst die Problematik einfach nicht« (INT_08, S. 3, Z. 67 ff.). Die Fachkräfte orientieren sich daher an den ihnen bekannten Möglichkeiten und bevorzugen im Bedarfsfall Interventionsformen, die sie aus ihrer Sicht besser einschätzen können. 4. Unterschiedliche Handlungslogiken der Experten und Expertinnen im Bereich des Gewaltschutzes In der Studie interessiert besonders der Einfluss handlungsleitender Orientierungen der Gewaltschutzgesetzgebung und der Jugendwohlfahrt. Die unterschiedlichen Orientierungen der Jugendwohlfahrtsbehörden und der Gewaltschutzgesetzgebung, die durch die feministische Bewegung geprägt ist, beeinflussen die Interventionen und Entscheidungen innerhalb der Unterstützungsangebote. Es stellt sich die Frage, welche Handlungslogiken hinter den Entscheidungen für oder gegen den Antrag einer einstweiligen Verfügung durch die Jugendwohlfahrtsbehörden stehen. In den Orientierungen der Jugendwohlfahrtsbehörden und der Einrichtungen des Gewaltschutzes lassen sich Unterschiede erkennen, welche die Nutzung der gesetzlichen Instrumente beeinflussen. Im Zuge einer wertfreien Gegenüberstellung der unterschiedlichen Handlungslogiken werden Gründe und Motive für die derzeit geringe Nutzung des Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrtsbehörden deutlich und nachvollziehbar. Der familienorientierte Ansatz der Jugendwohlfahrtsbehörden wird in seinen Ausprägungen mit der parteilichen Sozialarbeit für Gewaltopfer verglichen und gegenüberstellend abgewogen. 4.1 Parteilichkeit versus Allparteilichkeit

Die Arbeit der Frauenschutzbewegung ist durch das Prinzip der Parteilichkeit gegenüber Frauen geprägt. Parteiliche Arbeit wird beschrieben als »eindeutig auf der Seite der Opfer zu stehen und ihnen zu einem unabhängigen, von männlichen Bedrohungen freien Leben zu verhelfen« (Kuhlmann, 2000, S. 12). Auch die Kinderschutzbewegung spricht von Parteilichkeit, allerdings ist diese Parteilichkeit geschlechtsunspezifisch, da potenzielle TäterInnen sowie Opfer beiden Geschlechtern angehören. Die Aufgabe, parteilich für Kinder einzutreten, beinhaltet aus Sicht der Kinderschutzbewegung die Notwendigkeit, auch das soziale Umfeld miteinzubeziehen und mit diesem in Ko-

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operation zu treten. Aus diesem Grund wird der Begriff der Parteilichkeit zu einem Begriff der Allparteilichkeit umformuliert, der beschreiben soll, dass sich der Kinderschutz allen Familienmitgliedern gegenüber parteilich verpflichtet. Dies schließt – im Bereich des Schutzes vor familialer Gewalt – Parteilichkeit für Opfer und TäterInnen gleichermaßen ein. Dieser Zugang unterscheidet sich grundlegend von der parteilichen Haltung der Frauenschutzbewegung. Für sie ist mit der Entscheidung, Partei für Frauen und Mädchen als Opfer zu ergreifen, die Notwendigkeit verbunden, eine gegnerische Position zu benennen, »gegen die sich parteiliches Handeln notwendigerweise ebenso richtet, wie es für die eigene Seite eintritt« (Biermann, 2000  : S. 76). Dies offenbart eine Haltung, die aus Sicht der Jugendwohlfahrt nicht umsetzbar ist, da die Zusammenarbeit mit den Erziehungsberechtigten oder anderen nahen Bezugspersonen des Kindes angestrebt wird. So schildert eine interviewte Expertin aus dem Jugendwohlfahrtsbereich ihre Überzeugung, dass eine Missachtung oder der Ausschluss der Eltern aus dem Geschehen auch einen Teil der Persönlichkeit des Kindes abspalten würde (vgl. INT_07, S. 18). Diese Haltung mag mit erklären, warum Neutralität und Allparteilichkeit als wichtige Beratungskompetenz der Mitarbeiter der Jugendwohlfahrtsbehörden betrachtet werden. »Neutralität […] bedeutet, dass der Berater sich nicht auf die Seite einer Person des Familiensystems stellt« (Magistrat Graz – Amt für Jugend und Familie, 2000  : PPQ 6.6). Das gesamte Familiensystem wird geachtet, und nach Möglichkeit werden alle Mitglieder in Entscheidungen und Interventionen mit einbezogen. Der Begriff von Allparteilichkeit stößt in feministischen Kreisen auf Ablehnung. Sie betrachten dies als Versuch, Konflikten mit potenziellen Gegnern aus dem Weg zu gehen und damit die parteiliche Arbeit für Kinder falsch zu interpretieren. »Parteinahme für die Opfer von Gewalt wird glaubwürdig erst durch Bekämpfung, nicht durch verstehende Einbeziehung der Täter, […]. Parteilichkeit zwingt also, wenn sie nicht leeres Bekenntnis bleiben soll, zu erklärter und spezifizierter Gegnerschaft« (Biermann, 2000  : S. 76). Die unterschiedlichen Zugänge zu dem Begriff der Parteilichkeit gegenüber Opfern von familialer Gewalt prägen die Interventionen der Fachkräfte und sind Grundlage für Diskussionen. Auch die folgende Gegenüberstellung zwischen dem Begriff der Schuldzuweisung und der Garantenstellung ist durch die Haltung von Parteilichkeit oder Allparteilichkeit geprägt. 4.2 Schuldzuweisung versus Garantenstellung

Die Gewaltschutzgesetzgebung und ihre Regelungen folgen dem Prinzip, TäterIn und Opfer innerhalb der Gewalttaten zu identifizieren. Die Reaktion des Staates auf die Gewalttat beruht auf dieser Rollenverteilung und der klaren Schuldzuweisung an die

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gewaltausübende Person bzw. hinsichtlich der ausgeübten Gewalttat. Ziel der Gewaltschutzarbeit ist nicht in erster Linie die Verurteilung dieser Person, sondern der Schutz des Opfers. Damit die Exekutive ein Betretungsverbot aussprechen kann, ist es notwendig festzustellen, von welcher Person die Gefährdung ausgeht. Mit dem Ziel der Deeskalation wird diese Person der Wohnung verwiesen und darf für 14 Tage nicht zurückkehren. Hier wird klar der Standpunkt vertreten, dass die Schuld an einer Gewalttat allein bei dem/der TäterIn zu suchen ist und dass die Opfer davor zu schützen sind. Die polizeiliche Wegweisung an sich hat keine strafrechtlichen Konsequenzen. Die Opfer erhalten dadurch die Möglichkeit, in ihrer gewohnten Umgebung zu verbleiben und nicht vor weiteren Gewalttaten flüchten zu müssen. In weiterer Folge werden getrennte Unterstützungsangebote an Opfer und TäterInnen gerichtet. In der Gewaltschutzarbeit wird das Ziel verfolgt, die Opfer zu schützen und zu stärken, um das Machtungleichgewicht zwischen TäterIn und Opfer auszugleichen. Dagegen sehen die Jugendwohlfahrtsbehörden die strikte Rollenverteilung Opfer–TäterIn für die Arbeit in Fällen von familialer Gewalt sehr kritisch  : »[.,.] es bietet meiner Meinung nach keinen Lösungsansatz, wenn man so ganz klar diese Schwarz-Weiß-Verteilung macht … Opfer, Täter …« (INT_08, S. 9, Z. 259 ff.). Die Fachkräfte der Jugendwohlfahrt sehen sich in einer Garantenstellung für alle Familienmitglieder und befürchten, mit einer Trennung von Opfer und TäterIn falsche Signale zu setzen  : »Auch was das Bild für die Kinder und so, ich denke mir, das hat ja Auswirkungen auf die Kinder, was die Kinder da mitbekommen, nicht  ? Wenn sie das Selbstbild der Mutter, die Mutter ist die arme Geschlagene, die sich verstecken muss. Und mein Vater, von dem ich ja auch bin, von dem ich ja auch zur Hälfte herkomme, ist der böse Gewalttäter. … Fürchterlich« (INT_08, S. 13, Z. 358 ff.). Haltungsprägend ist hierbei wiederholt die Ansicht, dass familiale Gewalt nicht das eigentliche Problem in betroffenen Familien darstellt, sondern vielmehr Problemstellungen strukturellen und gesellschaftlichen Ursprungs ausdrückt. Überforderung der Erziehungsberechtigten, finanzieller oder gesellschaftlicher Druck werden hierfür als Ursachen in Betracht gezogen. Durch die Unterstützung sollen demnach diese Einflussfaktoren bearbeitet werden, um nach Möglichkeit ein gemeinsames gewaltfreies Weiterleben der Familie zu erreichen. Das heißt, Interventionen werden mit allen Familienmitgliedern erarbeitet und durchgeführt. Die Gewalthandlungen selbst werden in der Jugendwohlfahrt keineswegs akzeptiert, sind sie ja Ursache für das Einschreiten der Fachkräfte. Sie werden jedoch als Konfliktlösungsstrategien und Handlungsmuster der betroffenen Familien betrachtet, an welchen es gemeinsam zu arbeiten gilt. Eine Haltung, die auf Kritik von ExpertInnen des Gewaltschutzbereichs stößt, wie eine Interviewpartnerin es auf den Punkt bringt  : »Da ist auch die Frage, wie definiere ich familiäre Gewalt, ja  ? Und wenn ich es als Kommunikationsprobleme und Bezie-

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hungsprobleme und -konflikte sehe, dann … habe ich natürlich lieber alle vor mir und kläre das, als wie dass ich Einzelne, mit Einzelnen arbeite« (INT_05, S. 13, Z. 361 ff.). Nur in besonderen Krisensituationen sieht die Jugendwohlfahrt eine Trennung der Familienmitglieder voneinander vor. Hier führen die Jugendwohlfahrtsbehörden meist sogenannte Krisen- oder Fremdunterbringungen durch, um betroffene Kinder zu schützen. Weshalb eine einstweilige Schutzverfügung, also die Wegweisung und das Betretungsverbot dem/der TäterIn gegenüber, nicht als Alternative genutzt wird, ist Inhalt der folgenden Ausführungen. 4.3 Einstweilige Verfügung versus Fremdunterbringung

Die Durchsetzung einer Fremdunterbringung in Krisenfällen und der Antrag auf eine einstweilige Schutzverfügung sind in ihren Grundzügen vergleichbar. Beide Interventionen bedürfen der Entscheidung des Familiengerichtes. Vorteil der einstweiligen Verfügung ist, dass die Gewaltopfer in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können, während über weitere Interventionen entschieden wird. Die Gewaltschutzgesetzgebung meint, dass diese Form weniger negative Auswirkungen auf das Wohl betroffener Opfer hat. Die Fachkräfte der Jugendwohlfahrtsbehörden hingegen bezweifeln die Sinnhaftigkeit einer einstweiligen Verfügung für betroffene Kinder. Sie gehen davon aus, dass eine einstweilige Verfügung nicht richtig durchgesetzt wird, wenn sich der verbliebene Elternteil weigert, einen Antrag zu stellen. Die JugendamtsmitarbeiterInnen fragen sich in solchen Situationen, »ob sie [die Mutter, Anm. der Autorin] wohl genügend in der Lage ist, das Wohl der Kinder zu sichern, wenn sie nicht einsteigt, wenn es wirklich Gründe gibt, dass man so etwas beantragt, und sie hat eigentlich die Partnerbeziehung vielleicht. Es ist ja oft so, dass er ihr dann wieder leidtut« (INT_10, S. 24 f., Z. 713 ff.). Auch die Fähigkeit des Opfers, das Kind umfassend zu schützen, wird angezweifelt. Wenn das Gewaltopfer nicht imstande ist, einen Antrag zu stellen, so wird daraus geschlossen, dass auch der Schutz des Kindes nicht gewährleistet ist. Die fehlende Entscheidungskraft wird als Indikator für einen allgemein labilen Zustand betrachtet, der über kurz oder lang zu weiteren Krisensituationen und einer Gefährdung des Kindeswohles führen wird, wie eine Interviewpartnerin darstellt  : »[…] somit ist das Kindeswohl nicht nur dahin gehend gefährdet, […] dass der andere Elternteil es misshandelt oder was auch immer, sondern dass der andere Elternteil auch so schlecht beinander ist [ungefähr für  : in schlechtem Zustand, Anm. der Autorin], dass er keine Entscheidungen treffen kann, und somit auch ein Weiterverbleib in der Familie im Augenblick vielleicht nicht so günstig wäre. Also diese Entscheidung für einen Elternteil zu treffen [seufzt], dass der [seufzt]  … das ist keine geeignete Maßnahme der Jugendwohlfahrt« (INT_08, S. 15 f., Z. 437 ff.).

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Bei einer Fremdunterbringung sehen die Fachkräfte die Möglichkeit, eine geeignete Einrichtung zu wählen, mit der sie in engem Kontakt stehen und die für den Schutz des Kindes sorgt. Zeitgleich kann während der Zeit der Fremdunterbringung eine Stärkung bzw. Stabilisierung in der Stammfamilie angeregt und erarbeitet werden, um die gesicherte Rückführung des Kindes zu gewährleisten. Fachkräfte aus dem Bereich des Gewaltschutzes gehen davon aus, dass der Antrag auf eine einstweilige Schutzverfügung durch die Jugendwohlfahrtsbehörden eine große Unterstützung für die Opfer von Gewalt darstellen kann. Oft sind erwachsene Gewaltopfer zu geschwächt oder verängstigt, um diesen Antrag zu stellen, sie wünschten sich Unterstützung. Eine Einschätzung durch die Jugendwohlfahrt und die Entscheidung, einen Antrag zu stellen, können die betroffenen Personen stärken. Eine Expertin aus dem Gewaltschutzbereich betont, »[…] dass sehr wohl viele Frauen das ernst nehmen und vielleicht sogar erleichtert sind, dass sie selber nicht diesen Antrag stellen müssen, sondern dass das von Amts wegen gemacht wird. Weil sie selbst nicht so handlungsfähig sind, das zu tun, ja  ?« (INT_05, S. 6, Z. 183 ff.). Als wichtiger Einflussfaktor taucht wiederholt die Erfahrung mit den unterschiedlichen Interventionsmöglichkeiten auf. Auffallend, wenngleich wenig überraschend ist, dass Fachkräfte der Jugendwohlfahrt, welche schon positive Erfahrungen mit einer einstweiligen Verfügung gemacht haben, diesem Instrument offener gegenüberstehen. Diejenigen hingegen, die damit noch nicht in Berührung gekommen sind, bevorzugen Interventionen, die ihnen bekannt sind und mit deren Beantragung und Durchführung sie vertraut sind, sie tendieren also zur Durchführung einer Fremdunterbringung betroffener Kinder und Jugendlicher. Aufgrund der geringen Nutzung des Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrtsbehörden fehlt es den Handelnden an Erfahrung mit der Beantragung einer einstweiligen Verfügung und mit deren Intention, Möglichkeit und Wirkung. Es kommen hier Erwartungen und Befürchtungen zum Tragen, die auf Annahmen der Fachkräfte beruhen, jedoch durch die praktische Anwendung kaum belegt sind – eher im Gegenteil. 4.4 Verantwortung abnehmen versus Verantwortung stärken

Ein gemeinsames Ziel der Jugendwohlfahrtsbehörden und des Gewaltschutzgesetzes ist die Ermächtigung der Gewaltopfer  – das Empowerment. Gerade dieser gemeinsame Ansatz schränkt jedoch die Nutzung der derzeitigen gesetzlichen Möglichkeiten offenbar ein. Während eines polizeilichen Betretungsverbotes übernimmt der Staat die Verantwortung für den Schutz der Betroffenen. Die Entscheidung, dass der/die TäterIn nicht in die betreffende Wohnung darf, wird unabhängig vom Wunsch des Opfers getroffen. Nach Ablauf des Betretungsverbotes, nach 14 Tagen, obliegt es den

Nutzung und Handhabung des Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrtsbehörden

Opfern selbst, über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Sind keine Minderjährigen in den Gewaltvorfall involviert, so erlischt damit auch die Verantwortungsübernahme des Staates. Um eine einstweilige Verfügung nach § 215 Abs 2 ABGB zu beantragen, bedarf es nicht der Zustimmung der betroffenen Erziehungsberechtigten. Das bedeutet, wenn zum Beispiel eine Mutter und deren Kinder Opfer familialer Gewalt wurden und sich der/die zuständige SozialarbeiterIn entscheidet, eine einstweilige Verfügung in Vertretung der Minderjährigen zu beantragen, wird auch den erwachsenen Opfern die Verantwortung für einen längeren Zeitraum, im Falle eines Kontaktverbotes bis zu zwölf Monate (vgl. § 382 e EO), abgenommen. Die Fähigkeit bzw. Möglichkeit, Kontrolle wiederzugewinnen und selbst Entscheidungen zu treffen, wird damit eingeschränkt. Ein Schritt, der für MitarbeiterInnen des Jugendamtes auch Bedenken aufwirft  : »[…] das haltet auch die Eltern in der Opferrolle, also die Betroffenen […]« (INT_08, S. 16, Z. 449 ff.). Mit einem Eingreifen der Jugendwohlfahrtsbehörden nach § 215 Abs 2 ABGB wird also die Eigenverantwortung der betroffenen Opfer eingeschränkt. Dem Ziel der familienorientierten Sozialarbeit, alle Familienmitglieder zu stärken und gewaltfreie Handlungsalternativen zu erarbeiten, würde dadurch entgegengearbeitet. Anstelle einer gemeinsamen Arbeit an Veränderungsmöglichkeiten agiert die Fachkraft der Jugendwohlfahrt alleine und stellt den Gerichtsantrag auf eine einstweilige Schutzverfügung. Die ExpertInnen der Jugendwohlfahrt wehren sich gegen eine erzwungene Form der Beantragung der einstweiligen Verfügung, da sie die Verantwortung der Familienmitglieder nicht übernehmen, sondern deren Verantwortung für eine gewaltfreie Erziehung fordern und fördern möchten. Einstweilige Verfügungen werden meist über einen Zeitraum von sechs bis zwölf Monate verhängt. Dieser lange Zeitraum der Entmachtung der Betroffenen widerspricht sowohl den Intentionen des Gewaltschutzgesetzes als auch der Jugendwohlfahrtsbehörden. Erkennbar wird, dass auch Handlungslogiken, die den Einrichtungen gemeinsam sind, die Nutzung der derzeitigen Gesetzgebung einschränken. Erarbeiten die Jugendwohlfahrtsbehörden gemeinsam mit dem verbleibenden Elternteil den Antrag auf eine einstweilige Schutzverfügung und reicht dieser dann den Antrag ein, so tritt § 215 Abs 2 ABGB nicht in Kraft, und die besondere Sachwalterschaft durch den Jugendwohlfahrtsträger ist hinfällig. Diese Form der Intervention wird allerdings in den Statistiken nicht erfasst. Es ist also nicht möglich, Aussagen zu treffen, wie häufig es aufgrund von Interventionen der Jugendwohlfahrt zur Beantragung einer einstweiligen Verfügung durch einen erziehungsberechtigten Elternteil kommt.

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224 4.5 Jugendwohlfahrtsgesetz versus Gewaltschutzgesetz

Die vorliegende Studie fragt weiter danach, ob sich Fachkräfte des Jugendamtes mit den Regelungen des Gewaltschutzgesetzes identifizieren können und diese als Instrument in ihrem Interventionsrepertoire betrachten und in ihr Handlungsportfolio integrieren. JugendamtsmitarbeiterInnen sind vor allem mit den Bundes- und Landesjugendwohlfahrtsgesetzen vertraut und wenden deren Regelungen in ihrer alltäglichen Arbeit an. Das Gewaltschutzgesetz stellt hingegen eine vergleichsweise junge Gesetzeslage dar, welche noch wenige Erfahrungswerte für die Jugendwohlfahrt birgt. Wie erwähnt, erfolgte die Entwicklung der Gewaltschutzgesetzgebung ohne Einbindung der Jugendwohlfahrtsbehörden. Auch die Einführung der neuen gesetzlichen Möglichkeiten fand ohne einheitliche Regelungen statt, sie wurde in den einzelnen Bezirkshauptmannschaften auf unterschiedlichen Wegen durchgeführt. Eine Klärung der Zielsetzungen und Grundgedanken des Gewaltschutzgesetzes blieb dabei weitgehend aus. Diese Umstände mögen erklären helfen, weshalb eine Identifikation mit dem Gewaltschutzgesetz für die Fachkräfte der Jugendwohlfahrt kaum möglich ist. Der Einsatz von Interventionsmöglichkeiten, deren Durchführung und Wirkung den Fachkräften fremd ist, birgt nur wenig Reiz, wie sich in den Interviews mit den Experten und Expertinnen des Jugendamtes zeigt. Die Instrumente des Gewaltschutzgesetzes werden von einer Interviewpartnerin als »Rand-Rand-Randbereich« (INT_08, S. 15, Z. 415) beschrieben  : »Ich möchte nicht sagen, dass es nie notwendig wäre, aber wo man das einfach so als Hilfskrücke auch heranziehen kann, aber als Grundlage würde ich es überhaupt nicht sehen« (ebd., Z. 415 ff.). Ein anderer Interviewpartner betont hingegen, dass er die Möglichkeiten des Gewaltschutzgesetzes als unbedingt notwendig erachtet und immer in seine Überlegungen mit einbezieht (vgl. INT_09, S. 13). Allerdings betont dieser Interviewpartner auch, dass diese Lösung undenkbar wäre, wenn der/die verbleibende Erziehungsberechtigte dem Antrag nicht zustimmt (vgl. ebd., S.  17), was eine Antragstellung nach § 215 Abs 2 ABGB wiederum ausschließt. Ein Grundtenor zieht sich jedenfalls durch  : Die InterviewpartnerInnen der Jugendwohlfahrtsbehörden verwehren sich entschieden gegen die Instrumente und gehen davon aus, dass die gesetzlichen Regelungen für eine Nutzung durch die Jugendwohlfahrtsbehörden in ihrer derzeitigen Form völlig ungeeignet sind. Sie heben hervor, dass sie die Regelungen des Gewaltschutzgesetzes keineswegs in ihre Interventionsplanung einbeziehen  : »[…] also, diese Themen filtere ich aus, weil sie einfach für mich als Möglichkeit … bislang nicht zur Diskussion gestanden sind. Und auch bei uns kann ich sagen, im Team nicht, also das ist keine Diskussion wert, sage ich jetzt einmal. Oder ist keine, ist keine Möglichkeit« (INT_08, S. 18, Z. 527 ff.).

Nutzung und Handhabung des Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrtsbehörden

Die Erhebungen in der Fachpraxis verdeutlichen zudem Bedenken der Fachkräfte der Jugendwohlfahrtsbehörden, die mit der Formulierung eines Antrages auf einstweilige Verfügung einhergehen. Sie befürchten, dass der Antrag auf eine einstweilige Schutzverfügung tendenziell weniger gerichtlich befürwortet wird als der Antrag auf eine Fremdunterbringung der betroffenen Kinder. Die Fachkräfte fühlen sich mit den bekannten Regelungen vertrauter und entscheiden sich so eher diese anzuwenden, anstatt Gefahr zu laufen, ihre Intervention schlägt aufgrund des richterlichen Beschlusses fehl. Negative Erfahrungen in der Antragstellung führen zu weiterer Frustration und machen das Instrument noch unattraktiver für die Fachkräfte  : »[…] wir haben da einmal einen Fall gehabt, wo wir abgewiesen worden sind. Und das ist natürlich dann frustrierend, weil dann, weil die Kinder nicht direkt betroffen gewesen sind. Da muss man ja von den Formulierungen total aufpassen, auch wenn die Kinder jetzt nicht direkt körperlich betroffen waren, dass man diesen psychischen Druck so formuliert, dass das reicht, dass der Antrag durchgeht« (INT_11, S.  11, Z. 318 ff.). Die Schwierigkeit in der Formulierung und die Frustration, wenn Anträge durch das Gericht abgelehnt werden, tragen offenbar zur geringen Antragstellung durch die Jugendwohlfahrtsbehörden bei. Der Befürchtung, dass Anträge der Jugendwohlfahrt auf eine einstweilige Verfügung tendenziell abgelehnt werden, widersprechen jedoch ExpertInnen, die mit dem Gewaltschutzgesetz vertraut sind. So betont eine interviewte Familienrichterin, dass ein Antrag, der von Amts wegen eingebracht wird, auch die Glaubwürdigkeit der Betroffenen erhöhen kann. Sie geht davon aus, dass das Jugendamt einen objektiven, professionellen Blick einbringt, der sich von dem subjektiven Blick des Erziehungsberechtigten unterscheidet, welcher im Regelfall den Antrag im Namen des betroffenen Kindes einbringen kann (vgl. INT_01, S. 8). 4.6 Zur Vereinbarkeit der handlungsleitenden Orientierungen

Die Gegenüberstellung ergibt, dass die Handlungslogiken der Jugendwohlfahrt zum Teil kontrovers zu den handlungsleitenden Orientierungen der Einrichtungen, die vor dem Hintergrund des Gewaltschutzgesetzes arbeiten, stehen. Würde man die handlungsleitenden Richtlinien in Konkurrenz zueinander betrachten und versuchen, einen »richtigen« Ansatz für die Opferschutzarbeit zu identifizieren, so würde dies misslingen. Die unterschiedlichen Handlungslogiken sind durch die historischen Wurzeln der Kinder- und der Frauenschutzbewegung bestimmt. Aus der Erfahrung in der Arbeit mit Opfern familialer Gewalt entwickelten die Einrichtungen ihre Handlungslogiken, welche sich stark voneinander unterscheiden und die Arbeitsweise der Fachkräfte bestimmen. »Da beide Gruppierungen mit unterschiedlichen Theoriekonstrukten ar-

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beiten und unterschiedliche Arbeitsansätze haben, machen sie in der Analyse im Einzelfall unterschiedliche Erfahrungen« (Hege 1999, zit. nach Cizek & Buchner, 2001, S. 29). In den durchgeführten Interviews ist auf beiden Seiten eine Abwehrhaltung der »anderen Orientierung« gegenüber erkennbar  ; die jeweils andere wird als inadäquat, weniger zielführend und nicht nutzbar für den eigenen Bereich beschrieben. Eine Annäherung der beiden Richtungen Kinderschutz und Gewaltschutz zeigt sich in den Erhebungen kaum. Eine strikte Trennung der Zuständigkeitsbereiche scheint als Strategie angewandt zu werden, um Konflikte zu vermeiden und die eigenen Arbeitsansätze nicht infrage zu stellen. Das gemeinsame Ziel, Opfer von Gewalt bestmöglich zu schützen, sie und ihr soziales Umfeld zu stärken und ihnen ein selbstbestimmtes Leben ohne Gewalt zu ermöglichen, wird auf getrennten Wegen verfolgt. Unterschiedliche institutionelle Zugänge und Verfahrensweisen im Umgang mit Gewalt- und Opferschutz werfen die Frage auf, was solcherweise getrennte Sphären aus der Sicht der Betroffenen bedeuten und ob es nicht notwendig und sinnvoll wäre, die Handlungslogiken der Einrichtungen anzunähern, um den Opferschutz in Österreich effektiver zu gestalten. Eine Expertin aus dem Gewaltschutzbereich meint  : »[…] da geht es schon auch um das gemeinsame Ziel, das zurzeit nicht vorhanden ist. Gemeinsame Ziele und Intentionen […]. Ich glaube, dass das ziemlich auch Hand in Hand laufen muss, weil ja auch die Erwachsenen und Kinder ein Recht haben auf dieselben Handlungslogiken […]« (INT_05, S. 25, Z 735–738). Die Gewaltschutzgesetzgebung und die Jugendwohlfahrtsbehörden sind sich dahin gehend einig, dass Kinder auch dann als Gewaltopfer zu betrachten sind, wenn sie Gewalt in der Elternbeziehung miterleben. In jedem Fall ist eine Gefahr für das Wohl des Kindes gegeben, und es bedarf der Interventionen des Jugendwohlfahrtsträgers. Einrichtungen des Gewaltschutzes arbeiten mit erwachsenen Opfern von Gewalt, den Erziehungsberechtigten der betroffenen Kinder. Unter diesem Aspekt erscheint eine völlige Trennung der Arbeit mit den betroffenen Frauen und den betroffenen Kindern weder sinnvoll noch zielführend. Vielmehr legt sie den Bedarf nahe, zu einer gemeinsamen Arbeitsstrategie und gegenseitigen Unterstützung der Einrichtungen zu finden. Das empirische Material zeigt, dass aufgrund der unterschiedlichen Handlungslogiken die Nutzbarkeit des Gewaltschutzgesetzes für die Jugendwohlfahrt eingeschränkt ist. Die gesetzlichen Möglichkeiten bieten Interventionen, die sich mit den theoretischen Zugängen und Methoden der SozialarbeiterInnen des Jugendamtes derzeit kaum vereinbaren lassen. Die Regelungen des Gewaltschutzgesetzes werden, wenn überhaupt, dann nur als »Notfalllösung« für besondere Fälle betrachtet. Für die alltägliche Arbeit der Jugendwohlfahrtsbehörden hat das Gewaltschutzgesetz nach wie vor wenig Bedeutung. Die gegenüberstellende Darstellung der Handlungslogiken in der vorliegenden Arbeit möchte auf Bewertungen verzichten. Ziel ist vielmehr, das gegen-

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seitige Verständnis der potenziellen Kooperationspartner im Opferschutz zu fördern und damit eine Annäherung zu ermöglichen. Die vorhandene Methodenvielfalt und die unterschiedlichen handlungsleitenden Orientierungen können so als Ressource in der Arbeit für und mit Gewaltopfern betrachtet und genutzt werden. 5. Kooperation als Ziel und nicht als Lösung Die gegenwärtige Zusammenarbeit der Jugendwohlfahrtsbehörden mit Einrichtungen des Gewaltschutzes beruht auf einem geringen Repertoire allgemeingültiger Regelungen. Erwartungen der Fachkräfte an eine Kooperation im Opferschutzbereich sind unterschiedlich und wiederum durch die jeweiligen Handlungslogiken beeinflusst. Wie in anderen Bereichen auch stellen sich die Beteiligten gelingende Kooperation unterschiedlich vor, gehen von anderen Vorbedingungen aus. Institutionen des Gewaltschutzes sehen Kooperation und Austausch mit anderen Einrichtungen als wichtigen Teil ihrer Arbeit. Für einige Kooperationen bestehen »Schienen«, die gesetzlich geregelt sind, wie beispielsweise für die Übermittlung der Dokumentation von Wegweisungen und Betretungsverboten durch die Exekutive an die Gewaltschutzzentren. Andere Wege der Zusammenarbeit hingegen beruhen auf der Initiative der Einrichtungen und einzelner AkteurInnen. Die in den Jahren seit Bestehen des Gewaltschutzgesetzes gewachsenen Kooperationsschienen werden durch die interviewten ExpertInnen des Gewaltschutzbereichs als sehr effizient dargestellt  : »Weil ja ein Grundstein, eine Grundidee von dem Gesetz ist oder ein Standard, das ich ja nicht alleine agieren kann. Ich brauche immer andere Berufsgruppen, um auch wirklich das nutzen zu können. Und ich brauche die anderen Berufsgruppen, um an einem Strang zu ziehen. Das vermittle ich dann ja auch den Betroffenen, und das ist sehr relevant« (INT_05, S. 27, Z. 793 ff.). Die Qualität der Zusammenarbeit wird als wesentlicher Bestandteil der Unterstützung Betroffener betrachtet. Im Vordergrund steht die Vernetzung zwischen Gewaltschutzzentren, Gerichten und Exekutive. Die Fachkräfte der Jugendwohlfahrtsbehörden werden als wichtige Ansprechpartner betrachtet, wenn »[…] Kinder betroffen sind, also wenn sie in der Wohnung anwesend sind oder wenn Kinder überhaupt vorhanden sind« (INT_03, S. 7, Z. 190 ff.). Eine wertschätzende Haltung gegenüber kooperativen Beziehungen in Form von Information, Austausch, Koordination und Vernetzung sticht in allen Interviews hervor und zeigt den Erfolg der Gewaltschutzgesetzgebung in diesem Bereich. Die Wichtigkeit der Kooperation ist auch aus Sicht der Jugendwohlfahrtsbehörden unumstritten. »Nur wer in der Lage ist zu kooperieren, kann auch im Dialog mit den

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Familien die passenden Hilfen erschließen« (Magistrat Graz – Amt für Jugend und Familie, 2008, PPQ 17.1). Jedoch beschreiben die Fachkräfte der Jugendwohlfahrt ihre Möglichkeiten des Austausches mit anderen Institutionen als sehr eingeschränkt. Vor allem der Datenschutz wird hier als hemmender Faktor für tiefergehenden Austausch vorgebracht  : »Es sind grundsätzlich schon einmal formal geregelte Kontakte, denn mit Austausch tun wir uns da schwer, weil da ist der Datenschutz doch sehr hoch, und wir beschränken uns da schon auf die notwendigsten Informationen« (INT_11, S.  4 f., Z. 112 ff.). Diese Aussage beschreibt die engen Grenzen der Kooperationstätigkeiten der Jugendwohlfahrt. Strukturierte Zusammenarbeit besteht vorrangig mit sozial­päda­gogischen und therapeutischen Einrichtungen, die im Auftrag der Jugendwohlfahrt tätig sind. Die Fachkräfte sehen sich mit einer hohen Anzahl an Fällen konfrontiert und betonen ihre große Arbeitsbelastung. Sie sehen die zusätzliche Arbeit der Kooperation, welche nicht als eigentlicher Auftrag betrachtet wird, als Belastung. Zeitliche Ressourcen für Kooperationstätigkeiten sind aus Sicht der Jugendwohlfahrt nicht vorhanden. Auch die Teilnahme an Vernetzungstreffen und Fortbildungen im Bereich des Gewaltschutzes ist nicht verpflichtend vorgesehen, so ist der Informationsfluss über mögliche Kooperationsangebote und -beziehungen ebenfalls eingeschränkt. Die Arbeit an gelingender Kooperation beruht meist auf der Entscheidung der einzelnen MitarbeiterInnen und deren direkter Vorgesetzter. In einem Interview wird die Jugendwohlfahrt als »bunter Haufen« (INT_05, S.  11, Z. 300) bezeichnet, in dem es einmal so, das andere Mal so laufe. Die Form der Kooperation ist aus ihrer Sicht auch regional sehr unterschiedlich (vgl. INT_05, S. 10 f., Z. 292 ff.). Dies erklärt auch die unterschiedlichen Ausprägungen informeller Kooperationsschienen mit Einrichtungen des Gewaltschutzes, die sich im Laufe der Erhebungen zeigen. Formell geregelte, standardisierte Kooperation beschränkt sich auf die Informationspflicht von Exekutive und Gericht an die Jugendwohlfahrt, wenn Minderjährige von einem Betretungsverbot oder einer einstweiligen Verfügung (mit)betroffen sind. Kenntnis geht Nutzung voraus. Mit der Absicht der Erklärung von Nutzungsweisen bzw. der Nichtanwendung der durch das Gewaltschutzgesetz ermöglichten Interventionen fällt in den Interviews diesbezüglich ein doch erheblicher Informationsmangel von in der Jugendwohlfahrtsbehörde beschäftigten MitarbeiterInnen auf. Selbst wenn sich dieser Befund nicht quantifizieren lässt, so stellt sich in den Interviews mehrfach heraus, dass es seitens der MitarbeiterInnen der Jugendwohlfahrtsbehörde kaum oder gar keine Kenntnis über die vorhandenen Möglichkeiten des Gewaltschutzgesetzes gibt. Eine behördeninterne Information über die »neuen« gesetzlichen Regelungen hat nach Aussagen der Fachkräfte nicht stattgefunden, es wird vielmehr erwartet, dass sie sich selbst informieren und die neuen Instrumente dementsprechend genutzt werden (vgl. INT_10, S. 1).

Nutzung und Handhabung des Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrtsbehörden

Mit Van Santen und Seckinger (2003) ist davon auszugehen, dass es für gelingende interinstitutionelle Kooperation auf Ebene der Individuen und der Herkunftsorganisation unverzichtbar ist, dass alle Beteiligten von dem Nutzen der Kooperation überzeugt sind und dieser auch erfahrbar ist (vgl. ebd., S. 425 ff.). Diese Voraussetzungen lassen sich in den Erhebungen nicht ausmachen, vielmehr sind die Vorstellungen und Erwartungen der Einrichtungen und der einzelnen Fachkräfte an Kooperation sehr unterschiedlich. Beschreibt Sorgo (2007  ; siehe auch Beitrag in diesem Buch) die Kooperation mit der Jugendwohlfahrtsbehörde als Problembereich der Kooperation innerhalb des Gewaltschutzes (ebd.: 109), so bezweifeln die interviewten Jugendwohlfahrtskräfte die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit einer intensiven Kooperation mit Einrichtungen des Gewaltschutzes. Sie beschreiben den aktuellen Stand der Kooperation als ausreichend  : »[…] würde ich jetzt nicht sehen, wozu […], also, die Informationen gibt es eh, die polizeilichen Informationen, inwieweit sonst  – sonst muss die Lösung in der Familie passieren […]« (INT_08, S. 7, Z. 183 ff.). Die Forschung belegt, dass Fachkräfte der Jugendwohlfahrt, die informelle Kooperationen zu Einrichtungen des Gewaltschutzes pflegen, auch positiv gegenüber dem Gewaltschutzgesetz und dessen Nutzung eingestellt sind. Es zeigen sich tendenziell weniger Ängste und Befürchtungen, die Möglichkeiten des Gewaltschutzgesetzes zu nutzen, und die Entscheidungsfindung beinhaltet durchaus die Überlegung, das Gewaltschutzgesetz zum Schutz des Kindeswohls zu nutzen. Auch das Angebot der Gewaltschutzeinrichtungen, in der Arbeit mit gewaltbetroffenen Familien zu unterstützen, wird von diesen Fachkräften eher angenommen. Als hilfreiche und förderliche Ressource zeigen sich regionale Vernetzungstreffen der Gewaltschutzeinrichtungen, an denen zum Teil VertreterInnen der Jugendwohlfahrtsbehörden teilnehmen. Ein Ausbau dieser Vernetzung in weiteren Bezirken und die Teilnahme an Schulungsmaßnahmen der Gewaltschutzzentren können zu einer Öffnung der Institution Jugendwohlfahrtsbehörde gegenüber dem Gewaltschutzgesetz beitragen. Die große Abhängigkeit von dem guten Willen und dem Informationsstand einzelner Fachkräfte erweist sich als wunder Punkt einer umfassenderen und sichernden Gewaltschutzarbeit, welcher die Einführung formeller Kooperationsschienen zwischen Jugendwohlfahrt und Gewaltschutzarbeit hemmt. Schon zu Beginn einer Kooperation ist es notwendig, dass sich potenzielle KooperationspartnerInnen über ihre Ziele, ihre gegenseitigen Erwartungen und ihre Arbeitsformen austauschen, um Unterschiede in den Erwartungen bearbeitbar zu machen (vgl. Van Santen & Seckinger, 2003, S. 425 ff.). Demnach ist es unerlässlich, den Austausch zwischen Einrichtungen des Gewaltschutzes und den Jugendwohlfahrtsbehörden zu forcieren, um gelingende interinstitutionelle Kooperation zu ermöglichen. Die Installation strukturierter Kooperation kann also nicht als Lösung für eine vermehrte Nutzung des Gewaltschutz-

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gesetzes durch die Jugendwohlfahrtsbehörden betrachtet werden, sondern vielmehr als Ziel im Sinne der erfolgreichen Gewaltschutzarbeit für erwachsene und minderjährige Opfer mittelbarer und unmittelbarer Gewalt. 6. Schlussfolgerungen Eine Annäherung der unterschiedlichen Positionen und Einrichtungen ist im untersuchten Fall nicht erkennbar. Kontakte und Austausch beschränken sich vielfach auf die fallbezogene Arbeit – die Fachkräfte konzentrieren sich auf die ihnen überantworteten Bereiche. Die Jugendwohlfahrtsbehörden arbeiten nach dem familienorientierten Ansatz mit den betroffenen Familien. Die Gewaltschutzeinrichtungen konzentrieren sich auf die parteiliche Sozialarbeit mit Gewaltopfern. Austausch und Kooperation werden tendenziell vermieden oder nicht in Betracht gezogen. Die Gewaltschutzgesetzgebung und die Jugendwohlfahrtsbehörden sind sich dahin gehend einig, dass Kinder auch als Gewaltopfer zu betrachten sind, wenn sie Gewalt in der Elternbeziehung miterleben. In diesem Fall ist eine Gefahr für das Wohl des Kindes gegeben, und es bedarf der Interventionen des Jugendwohlfahrtsträgers. Die Unterstützung von erwachsenen Opfern im Sinne der Gewaltschutzgesetzgebung erfordert auch den Blick auf minderjährige Kinder, wenn diese im selben Haushalt leben. Eine Meldung an das Jugendamt über die Gefährdung eines Kindes kann dann notwendig werden. Unter Beachtung der Schnittpunkte von Gewaltschutzeinrichtungen und Jugendwohlfahrtsbehörden innerhalb der Fallarbeit erscheint eine völlige Trennung der Arbeit mit betroffenen Frauen und (mit)betroffenen Kindern wenig sinnvoll. Vielmehr legt es den Bedarf nahe, zu einer gemeinsamen Arbeitsstrategie und gegenseitigen Unterstützung der Einrichtungen zu finden. Zwar sind die Aufträge und Handlungslogiken der Institutionen unterschiedlich, doch gibt es ein gemeinsames Ziel, das die Sinnhaftigkeit einer Annäherung betont – direkte und indirekte Gewaltopfer zu schützen. Basis für eine erfolgreiche Weiterentwicklung der gesetzlichen Möglichkeiten ist der gemeinsame Auftrag, Gewalt zu verhindern und Opfer zu schützen. »Familiale Gewalt« ist ein zentrales Aufgabenfeld der Sozialen Arbeit, Schutz und Sicherheit betroffener Personen stehen dabei im Vordergrund. Die Arbeit mit GewalttäterInnen und Opfern stellt die ExpertInnen immer wieder vor schwierige Aufgaben. Gerade aus diesem Grund ist es wichtig, jedes Instrument, das diese Aufgabe erleichtert und unterstützt, aufzugreifen und für die Soziale Arbeit nutzbar zu machen. Unter diesem Aspekt erscheint es sinnvoll, die bisher wenig beachteten Fachkräfte der Jugendwohlfahrtsbehörden in die Weiterentwicklung der Gesetzesregelungen mit

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einzubeziehen und unter Berücksichtigung ihrer handlungsleitenden Orientierungen eine Adaptierung des Gewaltschutzgesetzes zu initiieren. Die Intention des Gewaltschutzgesetzes ist es, den Opferschutz zu optimieren und eine Zusammenarbeit der Institutionen zu fördern. Wie die Studie zeigt, existieren viele Unterschiede in den Handlungslogiken von Gewaltschutzeinrichtungen und Jugendwohlfahrt. Diese Unterschiede können jedoch für alle Beteiligten als Ressource genutzt werden. Interins­ titutioneller Austausch und verbesserte Kooperationsschienen ermöglichen, geteilte und verbesserte Sichtweisen zu entwickeln. Ein noch umfassenderer Blick auf die betroffenen Familien und Minderjährigen wird möglich. Methoden und Handlungslogiken der professionellen Sozialarbeit orientieren sich an den Bedürfnissen und Lebenssituationen der Betroffenen, und die gesetzlichen Möglichkeiten sind an diese Anforderungen anzupassen, um erfolgreiche Soziale Arbeit im Bereich des Gewaltschutzes zu gewährleisten. »Soziale Arbeit hat es mit einer Vielzahl von Lebenslagen, Arbeitsfeldern und Problemen zu tun. Die Suche nach einer einzigen und einheitlichen ›Super-Methode‹, die diesen Facettenreichtum abdeckt, ist weder hilfreich noch sinnvoll« (Galuske, 1998, S. 50). Interinstitutionelle Kooperationen verlangen Verständnis und Wertschätzung der Opferschutzbewegungen. Die betroffenen Fachkräfte müssen von der Sinnhaftigkeit der Kooperation überzeugt sein, damit sie gelingend kooperieren. Basis dafür kann der Austausch der Institutionen und Fachkräfte des Gewaltschutzes und der Jugendwohlfahrtsbehörden in Bezug auf ihre Handlungslogiken sein. Nicht, um die eigenen Prinzipien einer Bewertung zu unterziehen, sondern im Hinblick auf die Möglichkeit, von den Erfahrungen und Handlungslogiken der jeweils anderen Einrichtung zu profitieren. Stellen sich die Fachkräfte dieser Herausforderung ohne Furcht, die eigenen Prinzipien und handlungsleitenden Orientierungen zu verlieren, so kann an gemeinsamen Strategien für den Schutz vor familialer Gewalt gearbeitet werden. Ziel und Sinn einer Zusammenarbeit im Gewaltschutzbereich sind nicht, einen »richtigen« Arbeitsansatz für alle Zielgruppen zu etablieren, sondern vielmehr, die vorhandenen Ansätze und Handlungslogiken als gleichwertige Strategien im Opferschutz aufeinander abzustimmen und gegenseitig nutzbar zu machen. Ein Aufwand, der sich lohnen kann, wie vom Berliner Kooperationsprojekt BIG3 berichtet wird. Die anstrengenden Prozesse des Austausches und der gemeinsamen Zielfindung werden mit Erfolgen und Weiterentwicklung im Gewaltschutzbereich belohnt, die Grund zur Hoffnung lassen, dass ähnliche Projekte in Österreich folgen werden. 3 BIG steht für Berliner Interventionszentrale bei häuslicher Gewalt. Nähere Informationen zu dem Präventionsprojekt und dem multiprofessionellen Steuerungsgremium Kinder/Jugendliche finden sich in Kreyssig (2007).

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Die Erkenntnis, wie eng Kinderschutz und Frauenschutz verbunden sind und verbunden werden müssen, um der Verwobenheit und Komplexität des Themas gerecht zu werden, wird sich weiter durchsetzen. Multiprofessionelle Ansätze und eine gute Kooperation der an der Intervention beteiligten Berufsgruppen verändern und verbessern die Chancen für Kinder, für ihre Mütter und letztlich auch für gewalttätige Männer, den Kreislauf von Gewalt zu unterbrechen (Kreyssig, 2007, S. 241). Erfahrungswerte wie diese ebenso wie die Ergebnisse dieser qualitativen Studie betonen die Notwendigkeit einer Annäherung von Einrichtungen des Gewaltschutzes und der Jugendwohlfahrtsbehörden. Auf diesem Wege kann der Schutz von Opfern familialer Gewalt in Österreich weiter optimiert und damit der europaweite Vorbildcharakter der österreichischen Gewaltschutzgesetzgebung eingelöst und eventuell ausgebaut werden. 7. Literatur Appelt, Birgit & Höllriegl, Angelika & Logar, Rosa (2001)  : Gewalt gegen Frauen und ihre Kinder – Von der Enttabuisierung zur Professionalisierung. In  : Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen (Hg.)  : Gewaltbericht 2001 (S. 377–502). Wien  : Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen, Abt. V/7. Bauer, Thomas & Keplinger, Rudolf & Schwarz-Schlöglmann, Maria & Sorgo, Marina (Hg.). (2007)  : Gewaltschutzgesetz Recht & Praxis. Linz  : Pro Libris. Bezirksverwaltungsbehörden Steiermark. Fachabteilung 11b  – Sozialwesen (2007)  : Handbuch Sozialarbeiterische Hilfe und Abklärung bei vermuteter Gefährdung des Kindeswohls. Beratung – Soziale Anamnese – Soziale Diagnose. Biermann, Benno (2000)  : Parteilichkeit in sozialen Berufen. In  : Luise Hartwig & Joachim Merchel (Hg.), Parteilichkeit in der Sozialen Arbeit (S. 69–92). Münster, New York, München, Berlin  : Waxmann Verlag. Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen (2001)  : Gewaltbericht 2001. Von der Enttabuisierung zur Professionalisierung. Wien  : Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen, Abt. V/7. Galuske, Michael (1998)  : Methoden der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Weinheim und München  : Juventa Verlag. Gewaltschutzzentrum Steiermark (2007)   : Tätigkeitsbericht 2006. Graz   : Gewaltschutzzentrum Steiermark. Gewaltschutzzentrum Steiermark (2008)   : Tätigkeitsbericht 2007. Graz   : Gewaltschutzzentrum Steiermark.

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Gewaltschutzzentrum Steiermark (2009)   : Tätigkeitsbericht 2008. Graz   : Gewaltschutzzentrum Steiermark. Gewaltschutzzentrum Steiermark (2010)  : Tätigkeitsbericht 2009. Graz  : Gewaltschutzzentrum Steiermark. Gewaltschutzzentrum Steiermark (2011)  : Tätigkeitsbericht 2010. Graz  : Gewaltschutzzentrum Steiermark. Gewaltschutzzentrum Steiermark (2012)  : Tätigkeitsbericht 2011. Graz  : Gewaltschutz­ zentrum Steiermark. Hartwig, Luise & Merchel, Joachim (Hg.) (2000)  : Parteilichkeit in der Sozialen Arbeit. Münster, New York, München, Berlin  : Waxmann Verlag. Hötzl, Sabine (2008)  : Nutzung und Handhabung des österreichischen Gewaltschutzgesetzes durch die Jugendwohlfahrtsbehörden. Gegenstandsbezogene Theorieentwicklung im Forschungsfeld familialer Gewalt. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Fachhochschule Joanneum Graz, Studiengang Sozialarbeit und Sozialmanagement. Kavemann, Barbara (1997)  : Zwischen Politik und Professionalität  : Das Konzept der Parteilichkeit. In  : Carol Hagemann-White & Barbara Kavemann, & Dagmar Ohl, Parteilichkeit und Solidarität. Praxiserfahrungen und Streitfragen zur Gewalt im Geschlechterverhältnis. Theorie und Praxis der Frauenforschung, Band 27 (S. 179– 224). Bielefeld  : Kleine Verlag. Kuhlmann, Carola (2000)  : Parteilichkeit in der sozialpädagogischen Tradition – Alice Salomons Position zu professionellen Standards und ethischer Verantwortung. In  : Luise Hartwig & Joachim Merchel (Hg.), Parteilichkeit in der Sozialen Arbeit (S. 11–23). Münster, New York, München, Berlin  : Waxmann Verlag. Lamnek, Siegfried (1995)  : Qualitative Sozialforschung. Band 1. Methodologie (3., korrigierte Auflage). Weinheim  : Beltz Psychologie-Verlags-Union. Logar, Rosa (2005)  : Die Praxis – bisherige Erfahrungen. Nicht nur wegweisen, sondern auch den Weg weisen – Erfahrungen mit dem Gewaltschutzgesetz in Österreich. In  : Helmut Kury & Joachim Obergfell-Fuchs (Hg.), Gewalt in der Familie. Für und Wider den Platzverweis (S. 89–110). Freiburg im Breisgau  : Lambertus Verlag. Magistrat Graz – Amt für Jugend und Familie (2000)  : Qualitätskatalog der Grazer Jugendwohlfahrt. Graz  : Medienfabrik Steiermärkische Landesdruckerei GmbH. Magistrat Graz – Amt für Jugend und Familie (2008)  : Jahresbericht des Amtes für Jugend und Familie 2007. Graz  : Amt für Jugend und Familie. Moser, Siegfried (2007)  : Das Entscheidungsproblem Volle Erziehung. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Fachhochschule Joanneum Graz, Studiengang Sozialarbeit und Sozialmanagement. Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Jugendwohlfahrt (17.6.2008)   : Gewalt-

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Gefährdete Kinder – Schutz durch Kooperation Eine qualitative Studie zur Kooperation von Kindergarten und Jugendamt im Feld der Kindeswohlgefährdung

Ist das Wohl von Kindern gefährdet, sind sowohl Fachkräfte als auch Facheinrichtungen im Feld des Kinderschutzes vor allem zu einer dem Kindeswohl förderlichen Zusammenarbeit gefordert. Gerade am Prozessbeginn von Hilfen bedeutet die Kooperation der betreffenden Organisationen viel, insbesondere von Kindergarten und Jugendamt sowie Schule und Jugendamt. Umso mehr gilt dies dann, wenn erste Anzeichen von Kindeswohlgefährdung wahrgenommen und fachliche Unterstützungen abund eingeleitet werden sollen. Eingebettet in das Handlungsfeld Kinderschutz befasst sich die qualitativ angelegte Studie mit Kooperationszusammenhängen von Kindergarten und Jugendamt und geht den sie fördernden oder hemmenden Dimensionen nach. Interviews mit KindergartenpädagogInnen und SozialarbeiterInnen erschließen konkrete Kooperationsbezüge sowie Verbesserungspotenziale und Problemkreise der Zusammenarbeit und zeigen, dass Kooperation primär anlassbezogen stattfindet und kaum institutionalisierte Strukturen aufweist. 1. Kinderschutz – eine Frage der Kooperation Schutz und Wohlergehen von Kindern sind gesellschaftlich höchst wünschenswerte und zugleich funktionale Größen, die über normgebende Instanzen, wie die Menschenrechtskonvention, ins Leben gerufen werden sollen. Jedes Kind hat diesen normativen Konventionen nach ein Recht auf eine gesunde und jedenfalls gewaltfreie Entwicklung. Zuallererst liegt diese im Verantwortungsbereich der Eltern, das Nötige zur Pflege und Erziehung von Kindern zu unternehmen. Vernachlässigen Eltern ihre Erziehungspflichten, und ist das Wohl von Kindern gefährdet, greift der Staat in Elternrechte und -pflichten ein und übernimmt die Sorge für den erforderlichen Schutz von Kindern. Kinderschutz umfasst Maßnahmen und rechtliche Bestimmungen, die die Entwicklung von Kindern fördern, Gefährdungen reduzieren und Folgen von Gefährdungen verringern sollen. Aufsehen erregende Fälle von verwahrlosten, misshandelten

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Kindern erschüttern und sensibilisieren die Öffentlichkeit in den Medien, und sie führen auch in Expertenkreisen vermehrt zu Diskussionen über Möglichkeiten und Grenzen von Kinderschutz. Die Praxis belegt vielfach, dass Kindern und Familien nur dann eine effektive und differenzierte Hilfe angeboten werden kann, wenn die im Hilfsprozess engagierten Institutionen und Personen über ihren oft eng definierten Zuständigkeitsbereich hinaus einrichtungs- und fachübergreifend kooperieren. So sind im Feld der Kindeswohlgefährdung mehrere Institutionen mit spezifischen und im Detail mit unterschiedlichen Arbeitsaufträgen bestellt  ; das sind neben den Kinderschutzzentren, Krankenhäusern und der Polizei insbesondere Kinderbetreuungseinrichtungen und Jugendämter. Gemeinsames und institutionenübergreifendes Ziel ist der »Schutz gefährdeter Kinder« und die Gewährleistung desselben. Effektiver Kinderschutz erfordert ein Ineinandergreifen der unterschiedlichen bereitgestellten Unterstützungen, wobei im Zusammenwirken vielfältige Herausforderungen und potenzielle Kooperationskonflikte aufeinandertreffen, die sich aus unterschiedlichen Herangehensweisen, Organisationsstrukturen, institutionellen Gepflogenheiten und Zielsetzungen der Beteiligten ergeben. Des Weiteren wirkt sich die begriffliche Mehrdeutigkeit von »Kindeswohl« und »Kindeswohlgefährdung« erschwerend auf das ohnehin komplexe Handlungsfeld Kindesschutz aus. Im Speziellen mangelt es an Anhaltspunkten und Maßstäben, um den auch rechtlich unzureichend definierten Begriff »Kindeswohl« auszumachen (vgl. Bürgin, 2001  : S. 337). »Wo schlägt überstrenges Erziehungsverhalten in körperliche und seelische Misshandlung um, wo wird eine sehr ärmliche Versorgung in materieller und emotionaler Hinsicht zur Vernachlässigung […]« (Schone, 2007  : S. 111)  ? In der Praxis zeichnen sich zwischen Fachpersonal und Organisationen Schwierigkeiten hinsichtlich einer einheitlichen Gefährdungseinschätzung und der Verständigung über Kindeswohlgefährdungen ab. Die Akteure im Kinderschutz sind daher aufgefordert, gemeinsame Definitionslinien zu entwickeln, wenn das Handlungsmaß im Hilfsprozess am Wohl des Kindes bzw. an seiner möglichen Gefährdung angelegt wird. Die genauere Betrachtung der Kooperation von Kindergarten und Jugendamt im Anlassfall einer Kindeswohlgefährdung bedarf zuvor der Erläuterung, welche Rolle die jeweiligen Organisationen aufgrund gesetzlicher Aufträge im Kontext Kinderschutz einnehmen. 1.1 Die Rolle von Kindergarten und Jugendamt im Kinderschutz

Das Jugendamt, je nach Region »Jugendwohlfahrtsbehörde« oder »Amt für Jugend und Familie« genannt, ist jene Behörde, der die Durchführung der öffentlichen Jugendwohlfahrt obliegt, und die sich selbst als »als DIE öffentlichen Kinderschutzeinrichtungen« (Magistrat Graz, 2007  : S. 7) versteht. Gesetzliche Basis für die Gesamt-

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heit der Jugendwohlfahrtsmaßnahmen in Österreich sind das Jugendwohlfahrtsgesetz des Bundes ( JWG 1989) sowie die jeweiligen Jugendwohlfahrtsgesetze der Länder – wie z.B. das Steiermärkische Jugendwohlfahrtsgesetz (StJWG 1991), welches exemplarisch herangezogen wird, da es den konkreten Rahmen für die in der Empirie erhobenen Daten bildet. Nach § 2 Abs 3 StJWG hat das Jugendamt jeder Meldung, die auf Kindeswohlgefährdung hinweist, nachzugehen und die Umstände abzuklären. Das Land Steiermark entwickelte in einer Absicherungsabsicht eine einheitliche rechtliche und fachliche Vorgehensweise in einem Handbuch (»Sozialarbeiterische Abklärung bei vermuteter Gefährdung des Kindeswohls«) und erließ Prozessstandards, die dem Jugendamt als Orientierung im Hilfsprozess dienen. Bestimmte einst das Vormundschaftswesen das Hauptaufgabengebiet des Jugendamtes, so steht heute ein dienstleistungsorientiertes Anbieten und Gewähren von Hilfe im Mittelpunkt. Man spricht von einem Orientierungswechsel von der Ordnungsbehörde zur Leistungsbehörde  : »Leistung statt Eingriff, Prävention statt Reaktion, Flexibilisierung statt Bürokratisierung, Demokratisierung statt Bevormundung sind […] die neuen Handlungsmaximen« (Schmidt, 2001  : S.  834). Nichtsdestotrotz bleiben die Ziele »Hilfe und Kontrolle« ambivalent und prägen nach wie vor die Struktur des Jugendamtes, und vielerorts überwiegt dessen Negativimage als Einrichtung, die die Kinder »wegnimmt«. Ambivalenzen zeigt sich etwa in der Haltung von Familien, die einerseits Hilfe erwarten, andererseits Misstrauen gegen das Jugendamt aufrechterhalten (vgl. Pantuček, 1996  : S.  17). Überraschenderweise ist das Jugendamt sogar in Fachkreisen, im Speziellen auch unter KindergartenpädagogInnen, nach wie vor als Fürsorge bekannt – eine Bezeichnung, die den präventionsorientierten Bereich der Behörde überschattet und zu einer Fehlwahrnehmung von Sinn und Funktion des Jugendamtes führt (vgl. Schmidt, 2001  : S. 838). Die Rolle des Kindergartens im Kinderschutz ist weniger gesetzlich begründet, als vielmehr durch die tägliche pädagogische Arbeit mit den Kindern bestimmt. KindergartenpädagogInnen verbringen zum Teil mehr Zeit mit den Kindern als ihre Eltern und vermögen Signale eines gefährdeten Kindes in der Regel gut zu erkennen (vgl. Rametsteiner, 2006  : S.  103). Sie sind aufgefordert, das Verhalten von Kindern aufmerksam zu beobachten, richtig zu deuten, Gefahrensituationen zu erkennen und auffällige Situationen zu dokumentieren (vgl. Affolter, 2001  : S. 322). In weiterer Folge sind sie verpflichtet, Meldung beim zuständigen Jugendamt zu erstatten. Gemäß § 37 JWG muss – in der Praxis  : müsste – der Kindergarten alle bekannt gewordenen Tatsachen melden, die zur Vermeidung oder Abwehr konkreter Gefährdungen erforderlich sind. Dem Kindergarten kommt demnach vor allem bei der Erfassung gefährdeter Kinder eine zentrale Rolle zu, und er kann in weiterer Folge als wichtige Brücke zwischen Betroffenen und dem Hilfssystem fungieren (vgl. Borris, 2006  : S. 324).

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Handbücher oder Leitfäden, die – ähnlich wie beim Jugendamt – das Vorgehen des Kindergartens bei konkretem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung standardisieren, gibt es nicht. Fehlen regulative als auch normative Handlungsanweisungen, so werden die Rolle der Profession und der professionale Handlungsrahmen zu wesentlichen Elementen. Damit aufgeworfen wird die Frage nach der eigenen professionellen Identität und persönlichen Auslegung der ausgeübten Profession, und in erster Linie steht dadurch die persönliche Klärung im Vordergrund. Um die notwendige Distanz für professionelles Arbeiten zu gewinnen, gilt es zu eruieren, was der Verdacht einer möglichen Gefährdung bei einem selbst auslöst. Danach erfolgen die Beobachtung und Einschätzung des Verhaltens des Kindes über einen eingegrenzten Zeitraum. Mittels Elterngespräche können KindergartenpädagogInnen zusätzliche Informationen erheben und weitere Handlungsschritte planen und reflektieren. Nach Abklärung der eigenen Verantwortungsbereiche ist die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen, insbesondere mit dem Jugendamt, erforderlich (vgl. Rametsteiner, 2006  : S. 102 f.; Amt der Steiermärkischen Landesregierung, 2006  : S. 10 ff.). 1.2 Kooperation im Kinderschutz

Ziel der Kooperation im Kinderschutz ist der »Schutz gefährdeter Kinder«. Den einzelnen KooperationspartnerInnen, das heißt Fachkräften und Einrichtungen, stehen dafür unterschiedliche Handlungsspielräume und Interventionsmöglichkeiten zur Verfügung. Gehen wir von einem institutionenübergeordneten Ziel für die Kinder aus, dann sind institutionenspezifische Aktionen diesem untergeordnet, und die Einrichtungen müssten nicht nur ihre Handlungsräume und -grenzen deutlich definieren, sondern ihre Aktionen konstruktiv über diese Schnittstellen hinaus zusammenführen – anstelle einer Zugangsweise, Betroffene bloß an die nächste Einrichtung weiter zu verweisen. Dies erfordert gesetzliche und institutionelle Aufträge zu klären sowie einzelne Hilfskonzepte zu diskutieren und aufeinander abzustimmen (vgl. FrenzkeKulbach, 2000  : S. 170 f.). Von Bedeutung sind laut Bartels (2005) im Speziellen •• der Austausch von Informationen und Arbeitserfahrungen, um die Wertvorstellungen, Methoden und Arbeitsweisen der anderen kennenzulernen, •• ein persönliches Kennenlernen formeller und informeller Art, •• gemeinsame Fallbesprechungen in interdisziplinären Arbeitskreisen, •• gemeinsame Planung und Durchführung von Maßnahmen, •• gemeinsame Fort- und Weiterbildung sowie •• Öffentlichkeitsarbeit und regionale Kooperationsaktivitäten.

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Darüber hinaus erscheint es sinnvoll, qualitative Kooperationsstandards festzulegen und in informellen Vereinbarungen, formalisierten Kooperationsverträgen oder Leitlinien festzuschreiben (vgl. ebd.: S. 455). Kinderschutz ist geprägt von Interdisziplinarität. Während verschiedene AkteurInnen mit der Aufgabe befasst sind, Kinder zu schützen, prallen gleichzeitig unterschiedliche Auffassungen und Vorstellungen von Kinderschutz aufeinander. Primär unterscheiden sich die KooperationspartnerInnen hinsichtlich ihrer (vgl. Bartels, 2005  : S. 447 ff.)  : •• Grundhaltungen (unterschiedliche Überzeugungen und Normen), •• Aufgaben und Ziele (aufgrund fach- und berufsspezifischer Bearbeitung von Teilbereichen), •• Rahmenbedingungen (materielle und personelle Ausstattung) sowie •• Handlungsformen (unterschiedliche Standards aufgrund verschiedener Bezugswissenschaften und historischen Gegebenheiten). Diese Unterschiede erzeugen unweigerlich Spannungen, die sich wie folgt äußern können (vgl. Magistrat Graz, 2000  : S. 17.3ff )  : •• •• •• •• •• ••

Missverständnisse durch fehlendes Wissen über KooperationspartnerInnen Mangelnde gegenseitige Anerkennung und Konkurrenz Machtambivalenz und Identitätsunsicherheit Zeitprobleme Widerstand und Übertragung Datenschutzprobleme

Hinzu kommt, dass Kooperation über engere Berufsgrenzen hinweg oft nicht gelehrt wird oder es an transdisziplinären Ausbildungsveranstaltungen fehlt. Zusätzlich erschweren isolierte Ausbildungen die Zusammenarbeit unter Fachleuten (vgl. Eggler, 2001  : S. 364). Formen der Zusammenarbeit in der Sozialarbeit im Allgemeinen und im Kinderschutz im Speziellen werden in fallspezifische und fallunspezifische Kooperation unterschieden. Ein Beispiel für fallspezifische Kooperation sind Helferkonferenzen, mittels derer und in denen unterschiedliche Erwartungen und Interessen aller Beteiligten offen angesprochen sowie verschiedene Hilfsangebote und Abläufe aufeinander abgestimmt werden sollen (vgl. Amt der Steiermärkischen Landesregierung, 2006  : S. 14). Um in der konkreten Fallarbeit schnell und adäquat handeln zu können, müssen Rahmenbedingungen und Abläufe bereits im Vorfeld fallunspezifisch geklärt und

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von allen Beteiligten geteilt werden. Kritische Situationen, in denen Kinder gefährdet sind, lassen keinesfalls Raum für grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Aushandlungsprozesse. Solche fallunspezifische Kooperation findet z.B. in Form von regelmäßigen runden Tischen, Arbeitskreisen, Vernetzungstreffen oder auch durch Konzeptarbeit zu kinderschutzrelevanten Themen statt (vgl. Sommerfeld, 2007  : S. 95). Fragt man nun speziell nach den Kooperationen und hierin den Kooperationsvorgaben von Kindergarten und Jugendamt, so findet man auf rechtlicher Ebene kaum verbindliche Kooperationsvorgaben. Dieser Umstand verwundert, da Aufträge und Abläufe von Kindergarten als auch Jugendamt mehrmals implizit auf die Kooperation zwischen den beiden Organisationen hinweisen. Die Amtshilfe, verankert im Bundes-Verfassungsgesetz Artikel 22, verpflichtet beispielsweise alle Organe des Bundes, der Länder und Gemeinden zur wechselseitigen Hilfeleistung und sichert somit die Zusammenarbeit aller öffentlichen Bediensteten, also grundsätzlich auch die von KindergartenpädagogInnen und SozialarbeiterInnen. Konkreter verpflichtet § 3 StJWG öffentliche JugendwohlfahrtsträgerInnen und KindergartenerhalterInnen zur Zusammenarbeit, soweit es das Wohl der Minderjährigen erfordert. In § 39 StKBBG (Steiermärkisches Kinderbildungs- und Betreuungsgesetz) heißt es, der Kindergarten habe bei Vermutung von Gewalt und sexueller Misshandlung an Kindern das Einvernehmen mit dem Jugendamt herzustellen. An dieser Stelle kommt auch die bereits ausgeführte Mitteilungspflicht des Kindergartens nach § 37 JWG zu tragen. Gesetzliche Vorgaben dieser Art räumen der Kooperation im Kinderschutz eine zunehmende Bedeutung ein, sie bilden allerdings immer nur ein Teilstück der Zusammenarbeit, keinesfalls aber hinreichende Bedingung für Kooperation (vgl. Santen & Seckinger, 2003  : S. 109). Welche Rahmenbedingungen braucht nun effektive Kooperation auf Ebene von Organisationen  ? Welche Dimensionen fördern bzw. hemmen konstruktive Zusammenarbeit  ? Nachfolgend werden theoretische Wissensbestände zur Kooperation erarbeitet und in einem Kooperationsmodell zusammengefasst, auf Grundlage dessen die Kooperation von Kindergarten und Jugendamt zum Umgang mit Kindeswohlgefährdungen diskutiert wird. 2. Kooperation Kooperation finden wir in allen Lebensbereichen und als Thematik in zahlreichen Wissenschaften. Als organisatorischer Zusammenhang ist sie in der Praxis ein mit vielen positiven Erwartungen und Ideologien besetzter Vorgang. Folgt man den kritischen Bemerkungen von Santen und Seckinger (2003), so möge man meinen,

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»[a]lle reden über Kooperation, in der festen Überzeugung genau zu wissen, was damit zum Ausdruck gebracht wird, aber jeder meint etwas anderes und manchmal bedeutet die Rede über Kooperation auch gar nichts« (ebd.: S. 26). Wann also spricht man von Kooperation, und was zeichnet eine solche aus  ? Definitionsvorschläge laufen darauf hinaus, dass sie als Kooperation stets die ziel- und konsensorientierte Zusammenarbeit zwischen PartnerInnen, die unterschiedliche Teilleistungen erbringen und diese am Ende in mehr oder weniger abgestimmter Weise zusammenführen, bezeichnen. Charakteristisch dabei sind die wechselseitige Inanspruchnahme von Leistungen und die damit verbundene gegenseitige Abhängigkeit der KooperationspartnerInnen. Kooperation findet in und zwischen Teams, Organisationen sowie zwischen Mitgliedern von Organisationen und Organisationsumwelten statt. Die vorliegende Untersuchung bezieht sich auf organisationsübergreifende Kooperation, auch interorganisatorische Kooperation genannt, d. h. auf die Kooperation zwischen Organisationen wie hier Kindergarten und Jugendamt (vgl. ebd.: S. 27  ; Wunderer, 2007  : S. 26, S. 468). 2.1 Dimensionen von Kooperation

Zur Analyse von Kooperation, um über ein intentionales Eingehen von Kooperation und deren Gelingen oder Scheitern etwas auszusagen und um mögliche Konfliktfelder in Kooperationen rechtzeitig zu erkennen, werden der Kooperationstheorie Analysedimensionen entnommen und auf das Feld Kindeswohlgefährdung und darin auf die Kooperation Kindergarten und Jugendamt angewendet. Diese Analysedimensionen dienen als Raster, um aufzuzeigen, in welchen der Dimensionen Kooperation in der Praxis förderlich oder hemmend ausgestaltet und gelebt wird. Kooperationsnutzen  : Der intentionalen Entscheidung für oder gegen Kooperation gehen Aufwand-Nutzen-Überlegungen voraus  ; sei der Benefit der Kooperation ein strategischer Nutzen für die KooperationspartnerInnen, die Qualitätsverbesserung für Adressaten oder die Verbesserung hinsichtlich der Leistungserbringung allgemein. Kurzum  : Gelingender Kooperation liegt in der Regel ein Kooperationsnutzen zugrunde (vgl. Santen & Seckinger, 2003  : S. 220 ff.). Information und Wissen über Kooperationspartner  : Eine genaue Kenntnis des Aufgaben- und Angebotsprofils von KooperationspartnerInnen ist grundlegend für gelingende Kooperation. Oftmals werden Aufgaben, Zuständigkeiten und Handlungsmöglichkeiten von Organisationen in der Zusammenarbeit nicht explizit thematisiert und sind folglich nicht ausreichend bekannt (vgl. Santen & Seckinger, 2003  : S. 232 ff.). Ziel- und Interessenabgleich  : Ziele von KooperationspartnerInnen müssen nicht identisch, aber zumindest kompatibel sein. Folgt man Aderhold (2005), geht es um Institutionalisierung und Abstimmung einer gemeinsamen Vorgehensweise, was er-

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fordert, Organisationsgrenzen neu zu definieren und interorganisatorische Strukturen zu entwickeln (vgl. ebd.: S. 122). Organisationskulturen  : Organisationskultur umfasst die Fülle an Zielen, Überzeugungen, Werten, Symbolen, Normen und Verhaltensmuster, die einer Organisation ihre Eigenart verleiht und die Gestaltung und Wahrnehmung von Prozessen, Strukturen und Strategien beeinflusst. Unterschiedliche Organisationskulturen werden vor allem in der Kooperation von Organisationen sichtbar und sind vielfach Anlass für Konflikte (vgl. Endruweit 2004  : S. 139 ff.). Entscheidend ist darüber hinaus auch die Interaktions- und Beziehungsgrundlage, auf der die Zusammenarbeit beruht. Normen, Wertvorstellungen und Gefühle verweisen eher auf eine freiwillige Kooperationsethik, auf deren Basis oftmals Sympathien und Freundschaften angesiedelt sind. Dagegen deuten Macht, konkrete Rollenvorgaben und formaler Zwang vermehrt auf Kooperation hin, die stark an der Ablauforganisation von Organisationen orientiert ist. Organisationsstrukturen  : Neben formellen beeinflussen informelle Organisations­ strukturen die Kooperation zwischen Organisationen. Unterschiedliche Institutio­ nalisierungsgrade geben an, inwieweit Kooperation auf Grundlage formeller oder informeller Strukturen basiert. Während stark formell geprägte Strukturen zu Büro­ kratisierung führen, begünstigen informell dominierte Strukturen die Bildung von Seilschaften und die Emotionalisierung von Konflikten (vgl. Bauer, 2005  : S.  37 f.; Schreyögg, 1999  : S. 14 ff.). Zeit und räumliche Nähe  : Zeit stellt eine bedeutende Komponente für die Aufnahme von Kooperation dar. Oftmals werden Arbeitsintensität und damit verbundener zeitlicher Aufwand als Argumente gegen Kooperation benutzt, wobei das Zeitausmaß häufig unangemessen hoch im Verhältnis zum erwarteten Ergebnis bewertet wird. Gleichermaßen sind räumliche Nähe und Erreichbarkeit oft entscheidend in der Abwägung von Aufwand und Nutzen einer Kooperation (vgl. ebd.: S. 218 ff.). Kommunikation  : Kooperation umfasst sowohl formelle Kommunikation (normativ, konzipiert, dem Ideal entsprechend) als auch informelle Interaktion (freiwillig, spontan, auf privaten Initiativen beruhend). Kommunikativer Austausch ist einerseits unbedingt erforderlich, um Informationen auszutauschen, andererseits aber auch anfällig für Dysfunktionalitäten, beispielsweise wenn starke Spezialisierung, Macht- und Hie­ rarchieeinflüsse zu Verständigungsproblemen führen (vgl. Endres & Wehner, 2003  : S. 222  ; ebd.: S. 180 f.). Personenbezogene Dimensionen  : Lernen sich Personen kooperierender Organisationen persönlich kennen, wirkt sich das meist günstig auf die Ausgestaltung und Produktivität der Kooperation aus. Sympathie und gegenseitige Wertschätzung können helfen, negative Zuschreibungen, Statusunterschiede und professionelle Schranken zu reduzieren. Andererseits laufen Kooperationen, die primär über persönliche Bezie-

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hungen hergestellt sind, Gefahr, fachliche Qualitäten aus dem Auge zu verlieren (vgl. Bauer, 2005  : S. 237 ff.). Vertrauen  : Vertrauen zählt zu den förderlichsten Bedingungen von Kooperation und gewährt den KooperationspartnerInnen gegenseitige Berechenbarkeit und Sicherheit. Ein wichtiger Aspekt für den Aufbau von Vertrauen ist personelle Kontinui­ tät (vgl. Santen & Seckinger, 2003  : S. 425 f.). Fachliche Beziehungsintensität  : Mit der Anzahl gemeinsamer Berührungspunkte und Erfahrungen steigt auch die Intensität fachlicher Beziehungen. Bei sozialen Organisationen kann z.B. die Zahl gemeinsamer Fälle ausschlaggebend für die Effektivität von Kooperation sein (vgl. ebd.: S. 222). 2.2 Kooperationskonflikte und mögliche Ursachen

Kooperation zeichnet sich durch eine Vielzahl potenzieller Konflikte aus, die als Spannungszustände zwischen Organisationen sichtbar werden und nicht mit dem Mittel direkter Weisung, sondern über Konsensfindung gelöst werden müssen. Schweitzer (1998) führt Kooperationsproblempotenziale auf vier Charakteristika entwickelter Gesundheits- und Sozialsysteme zurück  : Hyperkomplexität verbunden mit weitreichender Problemorientierung und Interventionsdruck sowie Auftragsvermischung (vgl. ebd.: S. 215). Weitere Erklärungsansätze für Kooperationsprobleme liefert Wunderer (2007), indem er Konfliktpotenziale auf unterschiedlichen Ebenen identifiziert (vgl. ebd.: S.215)  : Individuelles Konfliktpotenzial   : Anerkennungsbedürfnis, Konkurrenz, Wettbewerbs- und Vorteilsorientierung sowie mangelnde Einsicht in die Notwendigkeit von Kooperation sind Beispiele für individuelle Konfliktdispositionen beteiligter Personen. Interpersonelles Konfliktpotenzial  : Sowohl Unvereinbarkeit als auch Ähnlichkeit von Charakterzügen provozieren Probleme. Außerdem sind auf dieser Ebene interpersonelle Beurteilungskonflikte (Uneinigkeit über Wege), Bewertungskonflikte (Uneinigkeit über Ziele) und Verteilungskonflikte (Uneinigkeit über Ressourcen) angesiedelt. Organisatorisches Konfliktpotenzial  : Diese Ebene umfasst beispielsweise Zielund Interessengegensätze sowie Informationsasymmetrien und Ressourcenprobleme von Organisationen. Umfeldbezogenes Konfliktpotenzial  : Jede Organisation ist von einer Umwelt umgeben, die sich nicht nur positiv, sondern auch negativ auf die Zusammenarbeit auswirken kann. Obwohl vorwiegend als störend erlebt, weisen Kooperationskonflikte auch positive Funktionen auf, indem sie beispielsweise Störfelder anzeigen, zur Reflexion und zum Nachdenken und Lösen verdrängter Konflikte anregen und auf diese Weise Stagna-

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tion und Erstarrung verhindern bzw. zur langfristig existenzsichernden Erneuerung einer Organisation beitragen (vgl. ebd.: S. 488). 2.3 Zusammenführung – Ein Kooperationsmodell

Das folgende Kooperationsmodell von Santen und Seckinger (2003) fasst einige der erläuterten Kooperationsdimensionen zusammen und ergänzt die bisherigen Überlegungen mit weiteren Hinweisen. Berücksichtigt werden dabei drei Ebenen  : Voraussetzungen bezogen auf den Kooperationszusammenhang, auf das Individuum und auf die Herkunftsorganisation (vgl. ebd.: S. 424 ff.). 2.3.1 Voraussetzungen bezogen auf den Kooperationszusammenhang

Zu Beginn der Kooperation  : Die KooperationspartnerInnen befinden sich in der Phase der Selbstvergewisserung und Identitätsbildung (auch »Norming-Phase«), und sie müssen sich am Anfang ihrer Zusammenarbeit über gegenseitige Erwartungen, Ziele und Arbeitsformen verständigen. Dadurch werden Unterschiede im Kooperationsverständnis sichtbar und bearbeitbar. Außerdem ist es wichtig, sich über zur Verfügung stehende Ressourcen im Kooperationszusammenhang zu einigen. Ressourcen können z.B. Arbeitszeit, Informationen, Eigenständigkeit, Geldmittel oder Einflussmöglichkeiten sowie Kompetenzen oder Zuständigkeiten sein. Während der Kooperation  : Im Verlauf der Zusammenarbeit ist die Bildung von Vertrauen und Kontinuität essenziell. Weiter gilt es zeitliche Perspektiven der Zusammenarbeit zu klären, da sie die Kooperationsbereitschaft stark beeinflussen. Die Bildung erkennbarer Kooperationsstrukturen ist förderlich, um die Kooperation gegebenenfalls in ein größeres Netzwerk zu integrieren. Wenn Zusammenarbeit als solche für Außenstehende erkennbar ist, können Kooperationsergebnisse nach außen aktiver dargestellt werden und erfahren in Folge mehr Anerkennung. Ferner ist sicherzustellen, dass Informationen über Kooperation an Informationsknotenpunkten gesammelt, weitergeleitet und von den entsprechenden Personen zur Kenntnis genommen werden. Letztlich sollen komplexe Aufgaben im Sinne der Arbeitsplanung in Einzelschritte zerlegt und dadurch bearbeitbar gemacht werden, was vor Überforderung schützt. Erfolgreiche Zusammenarbeit macht den Kooperationsnutzen unmittelbar erfahrbar und trägt zur Motivation der Kooperationspartner bei. Ende der Kooperation  : Am Schluss des Kooperationsprozesses steht die Ergebnissicherung. Um den Erfolg von Kooperation feststellen zu können, müssen adäquate Strategien entwickelt werden. In diesem Zusammenhang gilt es auch, die Qualität der Kooperationsarbeit selbstkritisch zu überprüfen.

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2.3.2 Voraussetzungen bezogen auf das Individuum

Interorganisatorische Kooperation bezieht immer die personelle Ebene der Zusammenarbeit ein und fordert deshalb bestimmte Voraussetzungen von den jeweiligen Mitgliedern kooperierender Organisationen. Sie müssen in erster Linie zur Zusammenarbeit bereit sein und über die notwendigen Fähigkeiten verfügen, insbesondere über Kommunikationskompetenz, Offenheit und Empathie. Weiter sollten die Beteiligten vom Nutzen der Zusammenarbeit überzeugt sein, um entsprechende Motivation zur Zusammenarbeit aufzubauen. Wichtig ist dafür die gegenseitige Anschlussfähigkeit individueller als auch fachlicher Ziele. Da falsche Erwartungen die Zusammenarbeit erheblich behindern, müssen die Personen Wissen über die eigene Herkunftsorganisation in den Kooperationszusammenhang einbringen und die Zuständigkeiten der jeweiligen anderen kennen. Personelle Kontinuität trägt darüber hinaus wesentlich zur Stabilität von Kooperation bei. 2.3.3 Voraussetzungen bezogen auf die Herkunftsorganisation

Die Ziele der am Kooperationsprozess beteiligten Organisationen müssen kompatibel sein. Häufig macht interorganisatorische Kooperation auch organisationsinterne Abstimmungs‑ und Klärungsprozesse notwendig. Ebenso wie einzelne Organisationsmitglieder muss auch die Gesamtorganisation vom Nutzen der Kooperation überzeugt sein. Eine Individualisierung interorganisatorischer Kooperationsbeziehungen ist weitestgehend zu vermeiden, damit Kooperation tatsächliche Beziehungen zwischen Organisationen und weniger zwischen einzelnen Individuen darstellt. Institutionelle Verankerung fördert zudem die Verbindlichkeit und Kontinuität der Zusammenarbeit. Der benötigte Arbeits‑ und Zeitaufwand für Kooperation muss als eigenständiger Arbeitsbestandteil in der Organisation anerkannt und den Beteiligten als solcher zugestanden werden. Auch auf Ebene der Organisation ist Ergebnissicherung wichtig, nur so wird fachliche Weiterentwicklung durch Kooperation möglich. 3. Methodischer Zugang zur qualitativ angelegten Studie Kooperation und Zusammenarbeit finden sich als Schlagworte in vielen Konzepten und Zielkatalogen von Kindergärten und Jugendämtern wieder. Sie rücken die Notwendigkeit von Kooperation in den Mittelpunkt und fordern alle Beteiligten auf, zusammenzuwirken. Doch welches Verständnis von Kooperation bringen Kindergar-

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tenpädagogInnen und SozialarbeiterInnen in der Praxis tatsächlich mit  ? Und wie arbeiten sie bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung zusammen  ? Ausgehend von der Frage, in welcher Form Kindergarten und Jugendamt im Fall von Kindeswohlgefährdung kooperieren, gilt es zunächst Detailfragen zu entwickeln. Es interessiert zum einen, wie KindergartenpädagogInnen und SozialarbeiterInnen gegenwärtige Kooperationszusammenhänge erleben und welche Dimensionen sie als fördernd bzw. hemmend wahrnehmen. Zum anderen ist zu erheben und klären, wie denn Kindeswohl und mögliche Gefährdungen überhaupt wahrgenommen und eingeschätzt werden. Der Blick richtet sich im Speziellen darauf, worin die Kooperationspartner ihren Auftrag im Kinderschutz sehen und welchen Nutzen sie durch die Kooperation für ihre Arbeit erfahren. Letztlich zielt die Studie darauf, Problemkreise in der Zusammenarbeit zu identifizieren und Verbesserungspotenziale ausfindig zu machen. Die Überlegungen führen schließlich zu folgenden Leitfragen  : •• Worin sehen die KooperationspartnerInnen ihren Auftrag im Kinderschutz  ? •• Welche Erfahrungen liegen über die Kooperation im Einzelfall vor  ? (Fallbeispiel) •• Welchen Nutzen erfahren die KooperationspartnerInnen durch die Zusammenarbeit  ? •• Wie gestalten sich die Abläufe innerhalb der Kooperation  ? •• Was fördert und was hemmt die Kooperation aus Sicht der Beteiligten  ? •• Welche Erwartungen haben die KooperationspartnerInnen an die Zusammenarbeit  ? Mit der Studie wird eine qualitative Forschungsmethode gewählt, da das soziale Handeln der KindergartenpädagogInnen und SozialarbeiterInnen eingehend aufgezeigt werden soll und darauf aufbauend Thesen zur Kooperation von Kindergarten und Jugendamt entwickelt werden sollen. Innerhalb des theoretisch vorformulierten Kategorienrahmens sollen die Betroffenen zur Sprache kommen (vgl. Mayring, 2002  : S. 66). Das methodische Vorgehen, sowohl theoretisch Inhalte vorweg zu formulieren als auch Betroffene mit ihrem Erleben ausreichend einzubinden, findet seine Entsprechung im themenzentrierten Interview. Dieses ermöglicht, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Themeninhalte zu lenken, ohne sich aber aufkommenden, neuen Aspekten zu verschließen. Es handelt sich dabei um ein halb offenes Interviewverfahren, bei dem methodisch betrachtet Deduktion und Induktion Hand in Hand gehen. Charakteristisch ist, dass das wissenschaftliche Konzept nicht – wie bei anderen qualitativen Ansätzen – nachträglich aufgebaut, sondern bereits ein theoretisches Vorverständnis in die Erhebungsphase mitgebracht wird. Das Prinzip der Offenheit ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung, schließlich sollen theoretische Vorstrukturie-

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rungen durch unerwartete, erklärende Informationen erweitert und modifiziert, aber auch revidiert werden können (vgl. ebd.: S. 28  ; Lamnek, 2005  : S. 21  ; S. 364 ff.). Eine teilweise Standardisierung erfolgt durch die Entwicklung eines Interviewleitfadens. Dazu werden zentrale Leitfragen aus dem zuvor erarbeiteten wissenschaftlichen Konzept abgeleitet, die sowohl im Interview mit den KindergartenpädagogInnen als auch mit den SozialarbeiterInnen angewendet werden. Die Fragen des Interviewleitfadens ordnen sich insgesamt vier Themenkreisen zu  : •• •• •• ••

Gegenwärtige Kooperationssituation Nutzen und Stärken der Kooperation Probleme und Verbesserungspotenziale der Kooperation Kooperationsverständnis

Nachdem der Interviewleitfaden in einer Pilotphase auf Verständlichkeit, Angemessenheit, Reihenfolge und Formulierung der Fragen getestet und anschließend adaptiert wurde, steht das »Theoretical Sampling« im Mittelpunkt. Da sich qualitative Untersuchungen an typischen und exemplarischen Fällen orientieren und vorrangig mit geringen Fallzahlen arbeiten, gilt es entsprechende InterviewpartnerInnen auszuwählen. Vor diesem Hintergrund werden Personen ausgesucht, die Auskunft zu den dargestellten Fragen geben können. Im Speziellen erfordert es, dass die KindergartenpädagogInnen und SozialarbeiterInnen in ihrem beruflichen Alltag einerseits zumindest mit einem Fall von Kindeswohlgefährdung befasst waren und andererseits im Umgang mit diesem Fall mit der jeweils anderen Organisation in irgendeiner Weise zusammengearbeitet haben. Die Kontaktaufnahme zu den InterviewpartnerInnen erfolgt telefonisch bzw. über E-Mail und grenzt sich regional auf Einrichtungen der Stadt Graz und des Bezirks Graz-Umgebung ein. Vor diesem Hintergrund wurden im Zeitraum Mai bis Juli 2008 zwölf themenzentrierte Interviews geführt, sechs mit KindergartenpädagogInnen und sechs mit SozialarbeiterInnen. Im Interviewsetting wurden die KindergartenpädagogInnen und SozialarbeiterInnen aufgefordert, ihr Handeln bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung anhand eines Fallbeispiels darzustellen und hinsichtlich der Kooperation mit der jeweils anderen Berufsgruppe zu reflektieren. Für den Gesprächseinstieg bewährte es sich, die Personen zu ihrem Auftrag im Rahmen des Kinderschutzes zu interviewen. Dadurch erfolgt eine erste Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand, und das Interview kann an das Thema Kooperation herangeführt werden. In weiterer Folge werden die InterviewpartnerInnen gebeten, ihre Erfahrungen hinsichtlich einer konkreten Fallgeschichte zu schildern und besonders auf den Aspekt der Kooperation mit der jeweils anderen Berufsgruppe einzugehen. Entlang des Leitfadens werden die Sichtweisen,

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Meinungen, Handlungsbegründungen und Interpretationen erhoben, um die unterschiedlichen Aspekte der Kooperation möglichst authentisch abzubilden. Alle Interviews werden mit dem Einverständnis der interviewten Personen und nach Zusicherung der Anonymisierung mit digitalem Diktiergerät aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Nach der Transkription lag ein Datenmaterial von 214 Seiten vor, welches mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring (2002) ausgewertet wurde. Dabei handelt es sich um ein neunstufiges Ablaufmodell, anhand dessen das Datenmaterial systematisch entlang eines Kategoriensystems analysiert wird (vgl. ebd.: S. 114 ff.). Zentrale Forderungen sind in diesem Zusammenhang Offenheit und Interpretativität  : Zum einen sollen die Analyseeinheiten aus den Inhalten heraus entwickelt und nicht vorab auf die zu untersuchenden Kommunikationsinhalte angelegt werden. Zum anderen geht es darum, Kommunikationsinhalte deutend zu verstehen und begründete Muster und Strukturen herauszuarbeiten (vgl. Lamnek, 2005  : S. 508 ff.). Durch die Anwendung des Interviewleitfadens wird das Datenmaterial bereits vorstrukturiert, es konnte auf die Leitfragen bezogen und so leichter ausgewertet, miteinander verglichen und zusammengeführt werden. 4. Interorganisatorische Kooperation von Kindergarten und Jugendamt – Ergebnisse und Thesen aus der qualitativen Studie Die folgenden Ausführungen fassen die Ergebnisse der qualitativen Untersuchung zusammen. Die Kapitel knüpfen an die der Kooperationstheorie zur Frage der interorganisatorischen Kooperation entnommenen Kategorien an. Strukturgebend dabei sind die fünf Themenbereiche  : Auftrag und Zuständigkeiten, Kooperationsnutzen, Ziele und Interessen, Dimensionen der Kooperation und Kooperationsformen. 4.1 Auftrag und Zuständigkeiten

Funktionierende Zusammenarbeit setzt die Klärung von Aufträgen kooperierender Organisationen voraus. Doch worin sehen Kindergarten und Jugendamt ihre Zuständigkeit im Kinderschutz  ? Aufgezeigt werden kann, dass Aufträge und Zuständigkeiten des Kindergartens und Jugendamts im Bereich des Kinderschutzes überwiegend klar gesehen werden. Es besteht weitestgehende Kongruenz zwischen dem, was die jeweilige Organisation selbst als ihren Auftrag erkennt, und dem, was ihr von den jeweiligen KooperationspartnerInnen zugeschrieben wird. So sehen beide Organisationen die Aufgaben des Kindergartens in erster Linie im Beobachten, Wahrnehmen und Einschätzen von kindlichen Verhaltensänderungen. Darüber hinaus nimmt das

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Jugendamt den Kindergarten insbesondere als Informationsträger und Helfer wahr, der in gewissen Maßen Zeugenfunktion besitzt und Beweise zum Tätigwerden des Jugendamtes liefert. Weiter schätzen SozialarbeiterInnen das Vertrauensverhältnis des Kindergartens zu betroffenen Familien. Ihrem gesetzlichen Auftrag nach sieht sich das Jugendamt in seiner Selbstwahrnehmung dafür zuständig, Kinder zu schützen, sofern dieser Schutz nicht von den Eltern gewährleistet wird. Hierfür, so die Aussagen weiter, übernimmt das Amt das »CaseManagement« und fungiert im gesamten Hilfsprozess als Drehscheibe zwischen den Fachleuten und Fachorganisationen. Im Gegensatz dazu stellen VertreterInnen des Kindergartens den Auftrag der Jugendämter weit weniger deutlich oder homogen dar, sodass sich hierzu sogar einigermaßen Wissens- und Informationsdefizite abzeichnen. Die KindergartenpädagogInnen erklären, Tätigkeitsbereiche von SozialarbeiterInnen nicht ausreichend zu kennen, und wünschen sich diesbezüglich mehr Aufklärung. Sie bemängeln, kaum über Handlungsmöglichkeiten des Jugendamtes informiert zu werden und deshalb im konkreten Fall die Vorgehensweisen des Jugendamtes nicht abschätzen zu können. Diese Informations- und Aufklärungsarbeit wird als Aufgabenbereich des Jugendamtes definiert  ; nur teilweise sieht es der Kindergarten als seine Pflicht, selbst Informationen einzuholen. Durch Unwissenheit entstehen mitunter falsche Vorstellungen von den KooperationspartnerInnen und deren Zuständigkeiten (Santen und Seckinger, 2003), die sich in Vorurteilen manifestieren und dem Image von Organisationen schaden. Im untersuchten Fall liegen verzerrte gegenseitige Wahrnehmungen der KooperationspartnerInnen vor, divergierende und potenziell kooperationseindämmende Effekte folgen, die sich beispielsweise auch im jeweiligen Berufsbild und Organisationsimage von Kindergarten und Jugendamt – von sich und vom Gegenüber – erschließen lassen. Ein intensiverer Austausch zwischen den KooperationspartnerInnen könnte offensichtlich das gegenseitige Wissen, Verständnis und letztlich auch das Vertrauen zueinander begünstigen. Das Kooperationserfordernis der beiden Organisationen zueinander ist an der Schnittstelle definiert, an der der Auftrag des Kindergartens endet und der des Jugendamtes beginnt. Den Fallschilderungen der interviewten Personen zufolge sind die Schnittstellen in der Praxis undeutlich. Es komme zu Verantwortungsüberschreitung sowie vermischter Auftragserfüllung, was die Kooperation in weiterer Folge erschwere. Vor allem für KindergartenpädagogInnen erscheint in diesem Zusammenhang Abgrenzung als wesentliche, jedoch vielfach nicht ausreichend wahrgenommene Notwendigkeit. Demgegenüber neigt das Jugendamt dazu, seine zentrale Stellung im Bereich Kinderschutz im Sinne einer Alleinzuständigkeit zu beanspruchen – so die Sicht einer Sozialarbeiterin  : »[Kinderschutz], das ist ein ganz klarer Auftrag, und der bleibt im amtlichen Jugendwohlfahrtsbereich. Für meinen Begriff hat das nicht mit einer Kindergärtnerin

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oder mit einer Lehrerin oder auch mit einer Hortnerin zu tun, sondern das ist unser Auftrag« (SA4, S. 1, Z. 26 ff.). 4.2 Kooperationsnutzen

Die Kooperation miteinander ist für Kindergarten und Jugendamt von unterschiedlicher Bedeutung. So stehen für KindergartenpädagogInnen die Aspekte Absicherung und Unterstützung durch das Jugendamt im Vordergrund, während SozialarbeiterInnen den Kooperationsnutzen in erster Linie im Zugang zu den Familien und in weiterer Folge im Informationsgewinn für die Gefährdungseinschätzung sehen. Durch die Meldung an das Jugendamt gibt der Kindergarten im Fall von Kindeswohlgefährdung die Verantwortung an das Jugendamt weiter, was KindergartenpädagogInnen überwiegend als Entlastung erleben. Das Jugendamt seinerseits ist auf Meldungen angewiesen, um überhaupt seinem Auftrag nachkommen zu können. Vielfach ist es der erste Schritt, durch den das Jugendamt mit Familien Kontakt aufnimmt. Schließlich werden innerfamiliäre Probleme oftmals erst mit Kindergarteneintritt sichtbar und bearbeitbar  : »Sobald ein Kind in einer öffentlichen Institution ist, hat man einen Zugang, und darum sind Kindergärten für mich so wertvolle Kooperationspartner, weil da kommen wir vielleicht in Familien hinein, die von sich aus keine Hilfe holen würden, aber wo es dringend notwendig ist, dass Unterstützung passiert« (SA4, S. 13, Z. 9 ff.). Fallweise coachen SozialarbeiterInnen PädagogInnen und stehen ihnen als Ansprechpersonen zur Verfügung. Allerdings muss jeweils im Einzelfall beurteilt werden, ob Kindergärten diese Beratung auch als solche erfahren und inwieweit sie diese als nützlich empfinden. Die Auffassungen diesbezüglich divergieren. Jedenfalls als Nutzen erlebt das Jugendamt den Austausch mit dem Kindergarten hinsichtlich neuer Vorfälle, welche KindergartenpädagogInnen im Zuge ihrer Tätigkeit bekannt werden. Das Jugendamt kann dadurch leichter seinem Kontrollauftrag nachkommen. Neben dem spezifischen Nutzen für die jeweilige Arbeit weisen sowohl Kindergarten als auch Jugendamt auf die allgemeine Bedeutung von Kooperation im Bereich des Kinderschutzes hin. Aufgrund zunehmender Problemlagen, die vor allem unter KindergartenpädagogInnen häufig zu Überforderungssituationen führen, steigt der Bedarf an interorganisatorischer Kooperation. Zusammenarbeit etabliert sich auf diese Weise als wirksame Strategie, neuen Anforderungen zu begegnen, fordert jedoch gleichzeitig beide Seiten auf, etwas aus dem eigenen beruflichen Kontext herauszutreten. Kindergarten und Jugendamt betonen den Nutzen für betroffene Kinder und deren Familien. Ihren Erfahrungen zufolge entspannt sich durch gute Zusammenarbeit auch die Familiensituation schneller, und Eskalationen können besser vermieden werden. Institutionelle Kooperation erleichtert den betroffenen Eltern den Zugang zu Hilfe.

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4.3 Ziele und Interessen

Kindergarten und Jugendamt verbindet das gemeinsame Ziel »Schutz gefährdeter Kinder«, welches durch die Kooperation bei Kindeswohlgefährdung erreicht werden soll. Als unverzichtbare Grundbedingung gelingender Kooperation erachten die interviewten Fachkräfte die explizite Verständigung über Erwartungen und Wünsche. Die Praxis zeigt allerdings, dass die Erwartungen der beiden Organisationen erheblich divergieren  ; besonders hinsichtlich des Hilfsansatzes zeichnet sich Uneinigkeit ab. Während das Jugendamt im Sinne des gelindesten Mittels Beziehungsabbrüche und Fremdunterbringungen zu vermeiden versucht, drängt der Kindergarten auf klare und rasche Interventionsschritte, wenn notwendig auch in Form einer Kindesabnahme. Vielfach erwarten KindergartenpädagogInnen eine umgehende Verbesserung der Situation, sie beklagen das langsame Voranschreiten des Hilfsprozesses und fordern, »dass das dann wirklich Hand und Fuß hat, dass der Sozialarbeiter zum Beispiel sagt  : ›Sie, wir werden das und das jetzt unternehmen. Das muss sich ändern.‹ Und nicht in einem Jahr oder sonst wann, sondern das muss sich so bald, so schnell wie möglich ändern. Weil die Kinder leiden darunter. Aber für mich ist das alles so »latschert« [ugs. für schleppend oder zäh] gewesen, so … nein, nein, es geht nichts weiter« (KP3, S. 11, Z. 3 ff.). Aus Sicht der SozialarbeiterInnen würden vielfach übersteigerte Vorstellungen bezüglich der Interventionsmöglichkeiten des Jugendamtes kursieren. Anstelle eines Dialoges über Möglichkeiten und Grenzen werden die Erwartungen von KindergartenpädagogInnen zunehmend enttäuscht. Frustration und Resignation, die sich in separaten Arbeitshaltungen widerspiegeln, folgen, und personalisierte Konflikte entstehen. Statt die Hintergründe von sozialarbeiterischen Interventionen zu hinterfragen, fühlen sich KindergartenpädagogInnen persönlich im Stich gelassen und gekränkt. Sie beklagen, nur unzureichend in den Hilfsprozess eingebunden zu werden, und agieren als Konsequenz im Alleingang. Eine grundsätzliche Klärung von Interessen, Möglichkeiten und Rahmenbedingungen der Kooperation würde die Situation entspannen und die Entwicklung einer für eine Kooperation erforderlichen gemeinsamen Arbeitshaltung begünstigen können. In der Praxis wird dies allerdings nur vereinzelt realisiert. 4.4 Dimensionen der Kooperation

Im Folgenden werden Aspekte ausgeführt, die Kindergärten und Jugendämter als fördernd oder hemmend für ihre Zusammenarbeit erleben. Die Dimensionen gewähren Einblick in Rahmenbedingungen, Stärken und Problemkreise der Kooperation sowie damit verbundene Erwartungen der in diesen Organisationen Tätigen.

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252 4.4.1 Zuständigkeiten, Abläufe und Informationsflüsse

Das Wissen der Kooperierenden über die Zuständigkeiten und Aufgaben der jeweils anderen reicht zum Gelingen von Kooperation in der Regel nicht aus. Ebenso bedeutend wäre es, Abläufe und Vorgehensweisen eingehender zu klären und aufeinander abzustimmen. Die Koordination von Informationswegen und -inhalten ist dabei genauso wichtig wie die Verteilung von Verantwortung. Gerade in akuten »Gefahr in Verzug« -Situationen sind KindergartenpädagogInnen emotional stark in die Fälle involviert, und es ist wichtig, Zeiträume und weitere Handlungsschritte des Jugendamtes abschätzen zu können. Wie erfolgt die Klärung von Abläufen und Vorgehensweisen nun in der Praxis  ? Basis sind zumeist individuelle, mündliche oder schriftliche Arbeitsvereinbarungen. Während diese Vereinbarungen idealerweise unabhängig von einem Fall getroffen werden, arbeiten Kindergarten und Jugendamt meist ohne vorherige Klärung zusammen. Konsequenzen sind enttäuschte Erwartungen und Konflikte, die im besten Fall mittels gemeinsamer Reflexion oder Supervision bearbeitet werden. Den Berichten der Fachkräfte zufolge bleiben Probleme oftmals ungelöst und hemmen auf Dauer das Kooperationsverhältnis. Berechtigt ist nun die Frage, woran sich die beiden Organisationen in der Kooperation überhaupt orientieren. Das Vorgehen des Jugendamtes ist einerseits durch gesetzliche Regelungen bestimmt, und andererseits gibt es Arbeitsbehelfe, die den SozialarbeiterInnen in ihrer Arbeit den Weg weisen und für Handlungssicherheit sorgen sollen. Der Kindergarten hingegen verfügt außer seiner gesetzlichen Meldepflicht über keine Anhaltspunkte im Umgang mit gefährdeten Kindern. Einerseits führen KindergartenpädagogInnen selbstkritisch ihre unzureichenden Kenntnisse für das Verhalten bei Kindeswohlgefährdung darauf zurück, dass sie diese in zu geringem Ausmaß in ihrer Ausbildung erworben hätten. Andererseits fordern sie von organisatorischer Ebene eindeutige Handlungsleitlinien im Sinne eines Maßnahmenkatalogs ein. Eine Pädagogin schlägt hierzu vor, ein aufeinander abgestimmtes Handlungsprogramm zu erstellen, das gezielte Regelungen zur Kooperation enthält und sowohl das Jugendamt als auch den Kindergarten zu einer einheitlichen Vorgehensweise verpflichtet. Der Bedarf an einer Orientierungshilfe ist stark, wenngleich rezeptartige Vorgehensweisen für die Problemlagen der Kindeswohlgefährdung zu hinterfragen sind. Notwendiger erscheint eine tragfähige Kooperationsbasis, die richtungsweisend für die Arbeit im Einzelfall ist. Auf Basis der qualitativen Befunde zeichnet sich Folgendes zum Institutionalisierungsgrad der Kooperation zwischen Kindergarten und Jugendamt ab  : Offensichtlich ist die Kooperation von Kindergarten und Jugendamt ein individueller, im Anlassfall immer wieder neu auszuhandelnder Prozess, der kaum verfestigte Handlungsmuster hervorbringt. Beide Organisationen nehmen Kooperation lediglich als randständigen

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Teil ihrer Arbeit wahr. Weder im Kindergarten noch im Jugendamt werden ausdrücklich eigene Zeitressourcen für Kooperationstätigkeiten zur Verfügung gestellt. Infolgedessen kann der Institutionalisierungsgrad der Kooperation von Kindergarten und Jugendamt als gering eingestuft werden. Die Informationsflüsse innerhalb der Kooperation sind von Fall zu Fall unterschiedlich. Im untersuchten Fall – der als diesbezüglich üblicher eingeschätzt wird – fließen jedenfalls mehr Informationen vom Kindergarten an das Jugendamt als umgekehrt. Die erste Mitteilung ergeht grundsätzlich in Form einer Gefährdungsmeldung von KindergartenpädagogInnen an das Jugendamt, wobei diese meist erst in äußerst akuten Situationen erfolgt. Die Kindergartenpädagogik steht hier in einem widersprüchlichen Rollenkonflikt  : Zum einen befürchten Kindergärten durch ihre Meldung das Vertrauensverhältnis zu den Eltern zu gefährden, andererseits möchten sie nicht die Verantwortung für den Fall verlieren  : »Mit dieser Information gibst du dann den Fall aus der Hand, und deswegen ist es auch oft, glaube ich, so, dass du sehr lange wartest – sehr lange wartest, klingt jetzt so unprofessionell, aber, dass man doch länger wartet und beobachtet, weil man eigentlich weiß, sobald man jetzt informiert, dass jetzt etwas drastisch ist, der Fall einem aus der Hand genommen ist und man selber für das Kind eigentlich nichts mehr tun kann« (KP1, S. 9, Z. 41 ff.). Kooperation wird hier nicht als gemeinsame Stärke, sondern als Konkurrenz wahrgenommen. Das Jugendamt fordert frühzeitige Meldungen und erklärt es für problematisch, wenn Kindergärten lange zuwarten, schließlich an ihre Grenzen stoßen und dann rasche Lösungen von diesem fordern. Hätte man Probleme durch frühzeitiges Einbeziehen der Eltern und Vorbereitung der Kinder noch abwenden können, ist das Jugendamt schließlich gezwungen, massive Interventionen zu setzen. Starke Kritik üben KindergartenpädagogInnen auch an den mangelnden Rückmeldungen und Informationen des Jugendamtes. Zum Teil gelangt der Kindergarten erst nach mehrmaligem Nachfragen an Informationen und nimmt notgedrungen zur Kenntnis, dass wesentliche Schritte im Hilfsprozess ohne sein Wissen vonstattengegangen sind. Vielfach fühlen sie sich hintergangen, da sie – wenn überhaupt – über wichtige Entscheidungen erst durch die Eltern Kenntnis erlangen. Die SozialarbeiterInnen kennen in der Regel den Unmut und die Vorwürfe aus den Kindergärten. Sie nehmen dazu jedoch die Position ein, dass es keine umgekehrte Meldepflicht gäbe und viele Informationen aufgrund von Datenschutz schlichtweg nicht mitgeteilt werden dürften. Für die Kooperation bedeutet dies eine heikle Gratwanderung. Ein durchgehender Unterstützungsprozess im Sinne des Kindes ist jedenfalls mangels eines Ineinandergreifens der beteiligten Organisationen nicht gewährleistet. Wie viele Informationen sind für das Verständnis der Kindergärten und eine konstruktive Zusammenarbeit erforder-

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lich  ? Welche Details dürfen aufgrund datenschutzrelevanter Regelungen nicht preisgegeben werden  ? Und bezahlen nicht die Kinder den Preis für Kooperationsdefizite  ? Als Maß gelten fachlich relevante Informationen, d. h. rückgemeldet wird das, wovon Kindergärten in der Arbeit unmittelbar betroffen sind. Die enttäuschten Erwartungen aufseiten des Kindergartens erlauben die Annahme, dass Kooperationskonflikte häufig auf falschen Annahmen hinsichtlich der Informationsweitergabe basieren und eine grundlegende Klärung der Kooperationsbasis erfordern. 4.4.2 Zeit und Erreichbarkeit

Ausreichende Zeitressourcen sind eine Grundvoraussetzung gelingender Kooperation. Den Interviews zufolge findet Zusammenarbeit aufgrund des knappen Zeitbudgets nur dann statt, wenn es dringend erforderlich ist. Bleibt zu fragen  : Wann ist eine Situation dringend genug und Kooperation akzeptiert, eingefordert und legitimiert  ? Vor allem SozialarbeiterInnen beklagen enorme Personalknappheit in ihren Zuständigkeitsbereichen. Die Kooperation von Kindergarten und Jugendamt ist offensichtlich noch unzureichend als eigenständiger Arbeitsbestandteil in den Organisationen anerkannt, weshalb den MitarbeiterInnen die benötigten Zeit‑ bzw. Personalressourcen nicht im erforderlichen Ausmaß zugestanden werden. Um den Kooperationsaufforderungen entsprechend nachkommen zu können, sind die Leitungsebenen der beiden Organisationen aufgefordert, angemessene Rahmenbedingungen zu schaffen. Frei nach dem Motto »Zeit hat man nicht, die nimmt man sich, wenn es einem wichtig ist« (KP1, S. 14, Z. 21 f.) wird in diesem Zusammenhang auch die persönliche Komponente nicht außer Acht gelassen. Einiges deutet darauf hin, dass die interviewten Fachkräfte fehlende Zeit vielfach als Argument für mangelnden Kooperationsnutzen vorschieben. Wie Santen und Seckinger (2003) mehrfach betonen, wird die Entscheidung für oder gegen Kooperation auf Grundlage einer Aufwand-Nutzen-Überlegung getroffen (vgl. ebd.: S.  221), wie auch folgende Interviewpassage belegt  : »Wenn es von unserer Sicht aus erforderlich ist, kommen wir jederzeit in den Kindergarten und besprechen auch Dinge« (SA5, S. 15, Z. 31 f.). Mangelndes Zeitbudget stellt also einerseits ein strukturelles Problem dar, welches es auf Organisationsebene zu lösen gilt. Andererseits kann angenommen werden, dass die Klage nach knappen Zeitressourcen oftmals auch ein Vorwand für einen als gering eingeschätzten Kooperationsnutzen ist. Hinsichtlich der Erreichbarkeit der jeweils anderen Organisation berichten vor allem KindergartenpädagogInnen von unbefriedigenden Erfahrungen. Zum einen sei es überhaupt schwierig herauszufinden, wer die zuständige Ansprechperson im Jugendamt ist. Zum anderen könne man SozialarbeiterInnen telefonisch nur schwer erreichen. Das Jugendamt kennt diese Kritik und

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bestätigt die eingeschränkte Erreichbarkeit aufgrund von Außendiensten, Sprechstunden und anderen Terminen. Allerdings reagiere man auf jede auf dem Anrufbeantworter hinterlassene Mitteilung mit einem Rückruf, und für akute Situationen sei ohnehin ein Journaldienst eingerichtet. Kongruent sind hier die Erfahrungen der Beteiligten allerdings offenbar nicht. Hoffnung setzt das Jugendamt zukünftig in den Austausch via E-Mail  ; zumindest städtische Kindergärten sollen allmählich flächendeckend mit Computer ausgerüstet werden. Ob und wie sich der Kontakt über das Internet in ländlichen Regionen etabliert, und ob sich die gehegten Hoffnungen hier realisieren lassen, ist noch nicht ersichtlich. Die Bedeutung von örtlicher Nähe und Distanz wird sehr unterschiedlich bewertet. Während einige Interviewte meinen, örtliche Distanz habe keinen Einfluss auf das Gelingen von Kooperation, schätzen andere die örtliche Nähe als wesentlich ein, da der persönliche Austausch erleichtert wird. Generell scheint plausibel, dass die Anzahl persönlicher Kontakte durch örtliche Nähe begünstigt wird – sicher stellt sie sie aber nicht. Örtliche Nähe bringt aus Sicht einer Kindergartenpädagogin Vorteile bezüglich des informellen Austausches und des Aufbaus von Vertrauen. So würde man sich durch örtliche Nähe viel früher über Fälle austauschen  : »Wenn du nur aneinander vorbeigehst und ›Guten Morgen‹ sagst, da hast du dich gesehen, und das ist eine andere Vertrautheit und auch eine andere Hemmschwelle zu sagen  : ›Du, wie schaut es aus  ? Können wir einmal einen Fall diskutieren‹« (KP1, S. 13, Z. 36 ff.)  ? 4.4.3 Personenbezogene Dimensionen

Die Zusammenarbeit von Kindergarten und Jugendamt – so ein Zwischenresümee – ist aufgrund fehlender institutioneller und verbindlicher Gestaltungsvorgaben stark von individuellen Kooperationspräferenzen und -mustern bestimmt. Ausschlaggebend sind sowohl der persönliche Zugang von KindergartenpädagogInnen und SozialarbeiterInnen als auch die Haltung, die die Person der anderen Profession entgegenbringt. »Wie die Person grundsätzlich zur Sozialarbeit in einer Behörde steht, ob sie das als Bedrohung empfindet oder möglicherweise auch als Kritik oder als Kontrolle ihrer eigenen Arbeit. Und welche Erfahrung sie auch hat oder Offenheit, mit kritischen Situationen umzugehen« (SA3, S. 6, Z. 19 ff.). Ein Gutteil der Aussagen weist auf zwischenmenschliche Aspekte hin, die die Art und Form der Zusammenarbeit prägen. Wie Kooperation gelingt, sei vom jeweiligen Gegenüber abhängig, von Sympathien und Antipathien  – so die Interviewten. Neben dem Wert, sich gegenseitig persönlich kennenzulernen, wird personenbezogenen Merkmalen wie Offenheit, Objektivität, Ehrlichkeit sowie Bereitschaft und Engage-

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ment zur Kooperation ein hoher Stellenwert eingeräumt. Die interviewten Personen äußern zudem das Bedürfnis nach Stabilität, Berechenbarkeit und vertrauensvollen Beziehungen, Faktoren, die ihren Angaben zufolge nur durch regelmäßigen, persönlichen Kontakt entstehen können. Dies betont die starke Verknüpfung von personeller Kontinuität und der Bildung von Vertrauen als stabilisierende Aspekte von Kooperation. Kooperation beschränkt sich nicht auf gesetzlich vorgeschriebene Verfahrensabläufe. Kooperation wird durch persönliche Beziehungen zu mehr als einem reinen Zuarbeiten. Auszugehend sein wird offenbar davon, dass Zusammenarbeit auf das Notwendigste reduziert wird, solange keine persönliche Beziehungsbasis besteht, und erst dann intensiviert wird, wenn es auch zu zwischenmenschlichem Austausch kommt. Der Schluss, Kooperation gelinge dann auch automatisch besser, wäre an dieser Stelle jedoch zu weit gegriffen. 4.4.4 Berufsbild und Organisationsimage

Berufsbild und Organisationsimage von Kindergarten und Jugendamt beeinflussen ihre Kooperation erheblich. Zum Image des Kindergartens liefern die Interviews wenig Material, doch lässt sich vor allem aus den Interviews mit KindergartenpädagogInnen das Funktionsimage des Jugendamtes ableiten. Die SozialarbeiterInnen bezeichnen das Kindergartenpersonal durchgehend als KindergartenpädagogInnen und nehmen sie – entgegen dem nach wie vor gängigen Image »die mit Kindern spielenden Tanten« (vgl. Gary, 1996, S. 54) – als kompetentes, pädagogisches Fachpersonal wahr. Demgegenüber sprechen KindergartenpädagogInnen über das Jugendamt oftmals von der »Fürsorge« und bestärken das Funktionsimage des Jugendamtes als eingriffsorientierte Kontrollbehörde  : »Und dann habe ich mir die Mutter geholt und ihr mit der Fürsorge gedroht. Und dann war es eigentlich für längere Zeit vorbei, es hat wirklich auch Wunder gewirkt« (KP5, S. 1, Z. 43 f.) Dem Jugendamt scheint demnach der Orientierungswechsel von der Kontrollbehörde zur Leistungsbehörde noch nicht gesellschaftswirksam gelungen zu sein, trotz großer Bemühungen konnte es den angestrebten sozialpädagogischen Sozialleistungscharakter noch nicht anerkannt realisieren. Vielfach instrumentalisieren Kindergärten die Autorität des Jugendamtes und partizipieren an dessen Status. Für die Praxis ergeben sich wichtige Fragen bezogen auf den Abbau negativer Funktionszuschreibungen und auf die Betonung des Jugendamtes als präventionsorientierte Behörde. SozialarbeiterInnen selbst sind sich ihrer Außenwirkung durchwegs bewusst, staunen aber dennoch über die verbreiteten Mythen und Begrifflichkeiten, mit welchen sie im beruflichen Alltag konfrontiert werden. Anlass zur Sorge geben ihrer Meinung nach die Konsequenzen für betroffene Familien, die sich durch vorgefasste Meinungen und

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die entsprechende Haltung des Kindergartens ergeben. Wie angesprochen, zögern KindergartenpädagogInnen oftmals aus Angst vor sozialarbeiterischen Eingriffen ihre Meldungen lange hinaus, um so Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Mit der Hoffnung, die Familien nicht zu belasten, tritt meist aber genau der gegenteilige Effekt ein  : Die Situation in der Familie spitzt sich zu, und Jugendämter müssen umso rascher und intensiver intervenieren. Wie aber kann das Jugendamt negativen Zuschreibungen effektiv entgegenwirken  ? Ansätze braucht es nach Angaben von Kindergarten und Jugendamt sowohl auf persönlicher als auch auf organisatorischer Ebene. Einerseits ist es die persönliche Verantwortung aller SozialarbeiterInnen, ihre Rolle im Kinderschutz zu klären und über Aufgaben des Jugendamtes zu informieren. Andererseits sind die Organisationen selbst aufgefordert, Informationen in Form von Konzeptschriften oder Qualitätshandbüchern zu entwickeln und für alle KooperationspartnerInnen zugänglich zu machen. Weiter soll die Leitungsebene interorganisatorische Kooperation anregen und dafür notwendige Ressourcen dauerhaft zur Verfügung stellen. Potenzial wird außerdem in Aus- und Weiterbildung gesehen  : Aufgabe von kindergartenpädagogischen Ausbildungsstätten sei es, so die interviewten Personen, das Berufsbild von SozialarbeiterInnen transparenter zu gestalten und das Jugendamt als Organisation verstärkt in den Unterricht einzubinden. Im Rahmen gemeinsamer themenbezogener Fortbildungen könnte man die Aufgaben des Jugendamtes präsentieren und auf diesem Weg ein positives Bild der öffentlichen Jugendwohlfahrt in der Gesellschaft fördern. Hierfür wären eigene Zeitressourcen erforderlich. 4.4.5 Status und Hierarchie

Implizite Bemerkungen zur eigenen Rolle bzw. zum Status sowie zum Thema Macht und Hierarchie verweisen auf Unterschiede zwischen Kindergarten und Jugendamt. Während SozialarbeiterInnen sich in ihrer Rolle und Funktion durchwegs ernst genommen und anerkannt fühlen, treten bei KindergartenpädagogInnen mangelnde Bestätigung und Selbstwertdefizite in den Vordergrund  : »Ich denke, der, der die Möglichkeit hat, den Zeigefinger zu erheben und etwas zu korrigieren, der genießt in vielerlei Hinsicht mehr Anerkennung, und das ist nach wie vor der Sozialarbeiter, weil der könnte ja etwas verbessern oder auch etwas verhindern. Wir hier sind so geschlechtslose Wesen, die eigentlich alles wissen sollten, die selber wenige Ansprüche haben und für alle immer da sein sollten, so sehe ich mich in meinem Berufsfeld« (KP2, S. 15, Z. 20 ff.). »Kindergärtnerinnen sind nirgends gleichwertig, wir sind die unterste Kategorie in der Kinder- und Jugendarbeit, auf jeden Fall« (KP4, S. 23, Z. 20 f.).

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KindergartenpädagogInnen schätzen ihren gesellschaftlichen Status wesentlich niedriger ein als den der SozialarbeiterInnen und erleben sich in der Kooperation nicht als gleichwertige PartnerInnen. Deutlich anders ist die Haltung der SozialarbeiterInnen, die sich weder über- noch untergeordnet fühlen und Respekt sowie gegenseitige Anerkennung als oberste Maxime angeben. »Standesdünkel« (SA4, S. 10/17) wirken hemmend auf die Kooperation, und es müsse gelingen, als KollegInnen auf einer Ebene mit unterschiedlichen Aufgaben zusammenzuarbeiten. Nichtsdestotrotz bleibt die Selbstwahrnehmung der KindergartenpädagogInnen nicht ohne Konsequenz für das Erleben von Macht und Hierarchie. Verdeutlicht wird, dass Kindergärten die Entscheidungskompetenzen des Jugendamtes eher als Machtdemonstration als in dessen Auftrag und Zuständigkeit begründet wahrnehmen  : »[Es wäre wünschenswert], dass man auf einer Ebene miteinander umgehen kann, und nicht die Sozialarbeiter sind jetzt die Entscheidungsträger und die, die das entscheiden können, sondern, dass man einfach auch, wie mit anderen Professionen, sozusagen, einfach zusammenarbeiten kann auf einer Ebene« (KP1, S. 10, Z. 30 ff.). Auch in diesem Zusammenhang ist anzunehmen, dass die Klärung von Zuständigkeiten und Verantwortungsbereichen die Entwicklung einer gemeinsamen Arbeits­ basis begünstigt und letztlich hilft, Macht‑ und Hierarchieaspekte zu entschärfen. 4.4.6 Arbeitsansatz und Problemsicht

Während der Handlungskontext von SozialarbeiterInnen weitestgehend sachlich, strukturiert und anhand klarer Vorgaben definiert ist, zeichnet sich jener der KindergartenpädagogInnen durch starke Gefühlsbetonung und das besondere Naheverhältnis zu Kindern und Eltern aus. Zudem sind die Fallschilderungen des Kindergartenpersonals von großer persönlicher Betroffenheit und Mitleid geprägt. Eine Kindergartenpädagogin reflektiert den gegensätzlichen Arbeitsansatz  : »Er war sehr sachlich in der Situation, und ich glaube, er hat es gut geschafft, das Persönliche, was die Pädagogen anlangt, hinten anzustellen, sondern nur die Familie als Sache zu sehen. Also, dafür habe ich ihn fast bewundert, dass er das sehr klar gesehen hat, wie das ist. Und er hat das sehr, sehr strategisch irgendwie abgefertigt, wo bei uns sehr viel mehr die emotionale Ebene mitgespielt hat und wir persönlich fast mehr gelitten haben mit dem Kind« (KP2, S. 16, Z. 1 ff.). Der Aspekt der Bewunderung, der in dieser Passage zum Ausdruck kommt, eröffnet einen weiteren Aspekt, nämlich jenen, dass die Nähe zum Fall und die Betroffenheit auch als Belastung erlebt werden können. Vielfach sind die MitarbeiterInnen des Kindergartens mit den Eltern per Du und kennen sich aus privaten Zusammenhängen, was eine Abgrenzung erschwert und das Personal an die Grenzen ihrer Belastbarkeit

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bringt. Dies ist einer der Gründe, weshalb PädagogInnen verstärkt Supervision fordern, wobei eine solche in Kindergärten im Unterschied zu Jugendämtern nicht Standard ist. Unterschiede im Herstellen und Organisieren von Kooperationen zeigen auf, dass das Handeln von SozialarbeiterInnen vorwiegend nach Gesetzen und klaren Handlungsabläufen ausgerichtet ist und KindergartenpädagogInnen aufgrund beschränkter formaler Vorgaben aufgefordert sind, ihrem Gefühl zu vertrauen. Im Hinblick auf Kooperation machen sich unterschiedliche Herangehensweisen in Uneinigkeiten über Ziele, Missverständnisse und enttäuschte Erwartungen bemerkbar. Differente Zugänge und Sichtweisen erschweren Kooperationen und erhöhen den Bedarf an Abstimmung einerseits, andererseits sind Unterschiede in der Problemsicht und im Arbeitsansatz von Kindergarten und Jugendamt im Sinne von Multiprofessionalität für effektiven Kinderschutz unbedingt erforderlich. Kooperation ist dann zielführend, wenn es den KooperationspartnerInnen gelingt, einen gemeinsamen Zugang in Form einer tragbaren Arbeitsbasis zu entwickeln. 4.5 Kooperationsformen

Je nach Ausgestaltung der Kooperation werden in der Sozialarbeit und Sozialpädagogik »Fallspezifische Kooperation« und »Fallunspezifische Kooperation« unterschieden. Die Zusammenarbeit von Kindergarten und Jugendamt ist überwiegend anlassbezogen, jeder Fall von Kindeswohlgefährdung fordert eine individuell abgestimmte Vorgehensweise. Die Praxis zeigt, dass Abläufe und Vorgehensweisen nur selten abgestimmt werden  : Die KooperationspartnerInnen arrangieren sich, wenn es der Fall verlangt, immer wieder aufs Neue. Demnach variieren auch Regelmäßigkeit und Häufigkeit der Kontakte von Fall zu Fall, von Einrichtung zu Einrichtung. So berichten die Interviews von heiklen Fällen mit dreimal wöchentlichem Austausch ebenso wie von Kooperationen mit nur einem Kontakt im Jahr. Für Konfliktpotenzial sorgt teilweise die Form der Kontakte. Während der Großteil der Kontakte telefonisch erfolgt, wünschen sich vor allem KindergärtnerInnen mehr persönlichen Austausch. Kommt es zu persönlichen Treffen, so finden diese vorwiegend im Kindergarten statt. Von beiden Seiten als sinnvoll erachtet werden Helferkonferenzen, die meist vom Jugendamt einberufen werden, wenn eine Reihe von Fachleuten und Einrichtungen in den Fall involviert ist. Die Untersuchung gibt außerdem Grund zur Annahme, dass die Intensität der Zusammenarbeit mit der Anzahl gemeinsamer Fälle wächst. Auf Dauer entwickelt sich eine gewisse Routine, wodurch Rahmenbedingungen nicht mehr immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden müssen. Richtet man nun den Blick auf fallunspezifische Kooperation, so wird diese von Kindergarten und Jugendamt als wichtig erachtet, um Rahmenbedingungen der Zu-

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sammenarbeit zu klären und eine gemeinsame Arbeitsbasis zu entwickeln. Beide Organisationen verstehen Kooperation als voraussetzungsvollen Prozess, der nicht automatisch gelingt, sondern immer wieder gepflegt und ausgehandelt werden muss. Ambivalente Haltungen gibt es betreffend informeller Kontakte  : Während eine Sozialarbeiterin informellen Austausch grundsätzlich nicht forciert, damit der Kontakt nicht in einen »Tratsch« (SA6, S.  9) ausartet, sind andere InterviewpartnerInnen durchwegs bemüht, sich z.B. beim gemeinsamen Kaffeetrinken auszutauschen und in Kontakt zu bleiben. Dennoch findet regelmäßiger Austausch unabhängig vom Fall in der Praxis nur marginal statt. Für die Interviewten wird es zu einer Frage der Zeit. Das knappe Zeitbudget reiche gerade aus, um aktuelle Fälle einigermaßen zufriedenstellend zu bearbeiten. »Wir haben wirklich so einen Druck, ich muss das anbringen, weil den Druck, den wir jetzt hatten, hatten wir noch nie. […] Also, wir spielen Feuerwehr, und es ist, ich kann nur sagen, im Moment ist es Einschätzung der Sozialarbeiterin, ob sie es für notwendig erachtet oder nicht. […] Aber nicht, weil es jetzt ein Wunsch des Kindergartens wäre, also dem können wir einfach nicht nachgehen« (SA6, S. 11, Z. 12 ff.). Zudem schwingt in den Aussagen von SozialarbeiterInnen die Befürchtung, dass fallunspezifische Kooperation zu einer Fallproduktion führt, die im Rahmen der aktuellen Zeitressourcen nicht zu bewältigen ist. Generell liege es in der Verantwortung der Führungsebene, ausreichende Strukturen für interorganisatorische Kooperation zur Verfügung zu stellen. Sowohl Kindergärten als auch Jugendämter sehen die Chance, durch verpflichtende Kooperationszusammenhänge die Verbindlichkeit der Zusammenarbeit zu steigern. 5. Kooperation im Spannungsfeld Mythos und Praxis – Ein Ausblick Ein Befund zur Kooperation zieht sich durch die Erhebungen  : Kooperation von Kindergarten und Jugendamt »passiert« überwiegend anlassbezogen, fallspezifisch und wenig institutionalisiert. Eine Reihe fördernder und hemmender Dimensionen erschließt die Beschaffenheit der interorganisatorischen Kooperation bei Kindeswohlgefährdung. Diese werden zusammengefasst, abschließend wird auf den Kontext gegenwärtiger Entwicklungen und in der Sozialarbeit referiert. Für das Zustandekommen von Kooperationen ist der Nutzen relevant, den KooperationspartnerInnen durch die Zusammenarbeit erfahren. Konsens besteht bei Kindergarten und Jugendamt darüber, dass Kooperation sinnvoll und zweckmäßig ist, um gefährdete Kinder zu schützen. Bezogen auf den Nutzen für die eigene Arbeit stehen für den Kindergarten die Aspekte Verantwortungsabgabe und Arbeitser-

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leichterung im Vordergrund, während das Jugendamt den Nutzen von Zusammenarbeit in erster Linie im Zugang zu den Familien und im Informationsgewinn für die Gefährdungseinschätzung begründet. Da beide Organisationen Kooperation nahezu ausschließlich im Sinne der Angemessenheit für ihre eigene Funktion thematisieren, stellt sich die Frage, ob die Interaktionen der beiden Organisationen nicht möglicherweise zu Unrecht die Etikette Kooperation tragen. Etwas überspitzt dargestellt, reduzieren sich die Prozesse von Kindergarten und Jugendamt nämlich vielfach auf die gesetzlich verankerten Kooperationszusammenhänge bei Kindeswohlgefährdung (vgl. § 3 StJWG, § 39 StKBBG) und auf das Zuarbeiten für die eigene Organisation. Für die Rekonstruktion des Kooperationsverständnisses heißt das, dass Zusammenarbeit für Kindergarten und Jugendamt eher den Charakter von eigensinniger Unterstützung besitzt und weniger als Arbeitsteilung zur Erfüllung von stellen- und institutionenübergreifenden Aufgaben verstanden wird (vgl. Wunderer, 2007, S. 26, S. 468). Die vorgefundene Kooperation von Kindergarten und Jugendamt ergibt sich in hohem Maße aus situationsabhängigen und kontextgebundenen Anforderungen und weist einen geringen Formalisierungs‑ bzw. Institutionalisierungsgrad auf. Fälle von Kindeswohlgefährdung laufen nicht immer nach dem gleichen Muster ab und lassen sich auch nicht in konstant bleibende Aufgaben zerlegen. Die KooperationspartnerInnen arrangieren sich, wenn es der Fall verlangt, und gestalten die Zusammenarbeit entsprechend situationsbedingter Erfordernisse. Grenzen der Objektivierbarkeit und Formalisierbarkeit von Handlungsmustern zeichnen sich ab und schränken die Festlegung, Planung und Kontrolle der Kooperation ein (vgl. Bolte & Porschen, 2006, S. 11). Die Bedeutung von persönlichen Beziehungen steigt, da keine formalen oder anderen normativen Regeln zur Zusammenarbeit bestehen (vgl. Santen & Seckinger, 2003, S.  241). Vielfach gehen die überwiegend informellen Kooperationsstrukturen daher mit der Überbetonung persönlicher Beziehungen einher und begünstigen das Entstehen von Seilschaften und emotionalisierten Konflikten (vgl. Bauer, 2005, S. 37). Zudem besteht die Gefahr, dass fachliche Kriterien an Bedeutung verlieren und die Qualität im Kinderschutz beeinträchtigen. Verbesserungen könnten durch die Entwicklung formaler Kooperationsvorgaben sowie die Ausdifferenzierung gesetzlicher Kooperationsaufforderungen erzielt werden, was besonders vonseiten des Kindergartens gefordert wird. Wie in anderen Beispielen auch wird davon auszugehen sein, dass institutionelle Verankerung von Kooperationszusammenhängen die Verbindlichkeit und Kontinuität der Zusammenarbeit begünstigt und zu mehr Handlungssicherheit bei den Beteiligten führt. Laut Bauer (2005) bleibt ein Erfordernis bestehen  : Gelingende Kooperation benötigt stets die Balance zwischen formellen und informellen Strukturanteilen (vgl. ebd., S. 38).

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Interorganisatorische Kooperation wird für die betroffenen KooperationspartnerInnen zur Überforderung, wenn einzelne KooperationspartnerInnen zu wenig über Aufgaben, Funktionen und Handlungsabläufe der anderen wissen (vgl. Seckinger & Santen, 2003, S. 237). Obwohl größtenteils Klarheit über Zuständigkeiten und Aufträge von Kindergarten und Jugendamt herrscht, zeigt sich aufseiten des Kindergartens ein erstaunlich hohes Ausmaß an Wissensdefiziten bezüglich Interventions- und Handlungsmöglichkeiten des Jugendamtes. Häufig führen falsche Annahmen dabei zu enttäuschten Erwartungen und Missverständnissen. Diese verstärken sich besonders durch vorgefasste Meinungen, welche dem Jugendamt nach wie vor häufig die Rolle der eingriffsorientierten Behörde zuschreiben. Für das Jugendamt ergeben sich daraus Fragen bezogen auf seine Außenwirkung. Potenziale und Ansätze zur Imagepflege lassen sich sowohl auf persönlicher als auch auf organisatorischer Ebene verorten. Konflikte manifestieren sich außerdem durch unterschiedliche Arbeitsansätze und Problemsichten, die zwar im Sinne von Multiprofessionalität für effektiven Kinderschutz erforderlich sind (vgl. Bartels, 2005, S.  447 ff.; Santen & Seckinger, 2003, S. 237), von Kindergarten und Jugendamt aber noch zu wenig abgestimmt werden. Konstruktive Kooperation von Kindergarten und Jugendamt wird weiter durch Zielformulierungsdefizite erschwert. Die beiden Organisationen verfolgen zwar grundsätzlich dieselbe Intention – »Schutz gefährdeter Kinder« –, haben aber gegensätzliche Erwartungen und Interessen hinsichtlich der Umsetzung. Folgt man Aderhold (2005), so geht es in diesem Zusammenhang um gemeinsame Verständigung und Abstimmung von Zielen, die zwar nicht identisch, sehr wohl aber kompatibel sein müssen (vgl. ebd., S. 122). Schließlich treten in der Kooperation von Kindergarten und Jugendamt auch Macht- und Hierarchieaspekte hervor, die einerseits den Aufbau von Vertrauen und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit hemmen, andererseits die Ausbildung von Konkurrenz begünstigen. Wodurch Macht und Hierarchie genau bedingt sind, konnte im Rahmen der Studie nicht ausreichend geklärt werden. Vieles deutet auf Statusunterschiede zwischen Kindergarten und Jugendamt sowie die Tendenz hin, formale Entscheidungskompetenzen als Demonstration von Autorität und Überlegenheit wahrzunehmen anstatt als Teil institutioneller Aufträge. Informationsasymmetrien, die sich z.B. aus Datenschutzbestimmungen ergeben, können Konflikte zusätzlich verstärken und dazu führen, dass Kooperation nicht als gemeinsame Stärke erlebt, sondern auf das Notwendigste reduziert wird (vgl. Wunderer, 2007, S. 483 ff.). Die Herausforderung von Kooperationskonflikten liegt darin, dass sie nicht mittels direkter Weisung, sondern nur über Konsensfindung gelöst werden können (vgl. ebd., S. 481). Fallunspezifische Kooperation wird in diesem Zusammenhang von beiden Organisationen als wichtig erachtet, um Kooperationszusammenhänge in ihren

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Grundlagen zu klären und eine gemeinsame Arbeitsbasis zu entwickeln. Situationen, in denen Kinder gefährdet sind, bieten keinesfalls Raum, um grundsätzliche Rahmenbedingungen auszuhandeln. Um im konkreten Fall schnell und adäquat handeln zu können, müssen sich die beiden Organisationen bereits im Vorfeld über Erwartungen und Ziele verständigen sowie gemeinsame Vorgehensweisen sichern. Die Erhebungen zeigen überdies, dass – entgegen allen positiven Erwartungen an fallunspezifischer Zusammenarbeit – die Kooperation von Kindergarten und Jugendamt meist nicht über den Einzelfall hinausgeht. Nur selten werden die Ausgestaltung und Zweckmäßigkeit der Zusammenarbeit in Form regelmäßiger Treffen reflektiert bzw. wird über mögliche Verbesserungen nachgedacht. Schließt man sich Santen und Seckinger (2003) an, dann stellt sich die Frage, warum KindergartenpädagogInnen und SozialarbeiterInnen, deren berufliche Sozialisation auf die Rekonstruktion von Beziehungen und auf das Erkennen von Kommunikationsschwierigkeiten ausgerichtet ist, diese Kompetenzen nicht auch zur Evaluation eigener Kooperationserfahrungen nutzen (vgl. ebd., S. 250). Um die Zusammenarbeit zu verbessern, wäre es wichtig, Kooperation als eigenständigen Arbeitsbestandteil zu begreifen und nicht mehr länger als etwas Randständiges zu betrachten. Dazu müssten auch Verantwortliche auf Ebene der Organisation den Nutzen interorganisatorischer Kooperation erkennen, entsprechende Strukturen und Rahmenbedingungen schaffen und den MitarbeiterInnen im erforderlichen Ausmaß zugestehen. Mit der Frage nach Kooperation und seinen gelingenden Dimensionen treten im Laufe der qualitativen Studie einige neue Einflussgrößen hervor, die eingangs wenig konturiert waren. Es handelt sich dabei um Themen wie Macht und Hierarchie, Status und Rollenbilder, die im Zuge dieser Arbeit schließlich nur ansatzweise behandelt werden konnten. Sie geben Anlass für weitere Forschungsarbeiten und müssten an anderer Stelle intensiver diskutiert werden. Bei der unternommenen Forschung handelt es sich um eine qualitative Fallstudie, weshalb über Ausmaß und Verteilung der vorgefundenen und untersuchten Praxis im Organisations- und Kooperationsfeld von Kindergärten und Jugendämtern zwar nichts ausgesagt werden kann, allerdings kommen die vorgefundenen Dynamiken, Verständnisse, Auslegungen, erwarteten und realisierten Kooperationsformen vor. Anzunehmen ist, dass einige Untersuchungsergebnisse als Grundtendenzen auch für andere Kooperationsbeziehungen gültig sind, vor allem für jene innerhalb des Netzwerkes Kinderschutz. Wie Vergleiche1 zeigen, gibt es Beispiele dafür, dass die Ko1 Vgl. z.B. Amt der OÖ Landesregierung, Abteilung Jugendwohlfahrt (2005)  : Zusammenarbeit macht Schule. Diese Publikation dokumentiert zwei Projektverläufe und stellt eine Reihe von Kooperationsund Vernetzungsaktivitäten zwischen Schule, Jugendwohlfahrt und Gemeinwesen dar.

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operation von Jugendamt und Schule bereits weiter institutionalisiert ist  ; es gibt z.B. regelmäßige, verpflichtende Treffen, klare Kommunikationsstrukturen und spezifische Leitfäden für die Zusammenarbeit. Kooperationsmuster von Jugendamt und Schule könnten demnach richtungsweisend für die Weiterentwicklung der Kooperation von Kindergarten und Jugendamt sein, wobei eine unreflektierte Übernahme von Strukturen und Abläufen selbstverständlich wenig zielführend wäre. Ähnliches gilt für die Übertragung der Ergebnisse auf bzw. die Übernahme von Kooperationskonzepten aus anderen Handlungsbereichen der Sozialarbeit. Modellcharakter für Kooperation und Vernetzung im Kinderschutz haben die unterschiedlichen Kooperationsmodelle der Stadt Heidelberg, welche Armbruster (2000) in einer Publikation zusammenfasst. Einzigartig für den deutschsprachigen Raum ist beispielsweise das 2007 initiierte Heidelberger Kooperationsmodell »HEIKO«2, das alle bei Trennung und Scheidung in familiengerichtlichen Verfahren beteiligten Professionen einbindet und verhindern soll, dass Kinder zu Streitobjekten bei Scheidungen werden. Abschließend bleibt zu hoffen, dass sich die Erkenntnis weiter durchsetzt, dass Kindergarten und Jugendamt eng miteinander verbunden sind, und zwar durch und für das Kindeswohl und zum Schutz vor Gefährdungen. Anzunehmen ist, dass die komplexen Anforderungen im Kinderschutz umfassende und institutionenübergreifende Regeln und Kooperationen erfordern, damit Sicherheit und Schutz nicht an den Grenzen einer jeweiligen Einrichtung enden, sondern darüber hinaus realisiert werden. Es gilt nicht, eine rezeptartige Anleitung für gelingende Kooperation vorzustellen, sondern über Zusammenarbeit im Kinderschutz nachzudenken und anzuregen, um Probleme, die durch unkooperative, eben nicht zusammenarbeitende Vorgehensweisen entstehen, zu erkennen und nach neuen Wegen einer verbesserten interorganisatorischen Kooperation zu suchen. 6. Literatur Aderhold, Jens (2005)  : Unternehmen zwischen Netzwerk und Kooperation. Theoretische und pragmatische Folgerungen einer übersehenen Unterscheidung. In  : Modernes Netzwerkmanagement. Anforderungen  – Methoden  – Anwendungsfelder. Herausgegeben von Jens Aderhold & Matthias Meyer & Ralf Wetzel. Wiesbaden  : Gabler S. 113–142. Affolter, Kurt (2001/4)  : Zivilrechtlicher Kindesschutz im Spannungsfeld von Fami­ 2 Vgl. http://www.anwaltsverein-heidelberg.de/aktuell_heiko.php  ?PHPSESSID= 8c6aeeea9ac96b2b9 af 56eaa8ec0b18f, abgefragt am 15.08.2008.

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lien­autonomie und staatlicher Eingriffspflicht. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN), 70 (S. 313–335). Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Fachabteilung für das Sozialwesen (Hg.) (2006)  : Kooperation. Hilfe bei Gewalt an Kindern. Graz. Bartels, Verena (2005/6)  : Krisenintervention bei sexualisierter Gewalt gegen Mädchen und Jungen. Praxis der Kinderpsychologie und Psychiatrie. Ergebnisse aus Psychoanalyse, Psychologie und Familientherapie, 54. Jahrgang (S. 442–456). Bauer, Petra (2005)  : Institutionelle Netzwerke steuern und managen. Einführende Überlegungen. In  : Mit Netzwerken professionell zusammenarbeiten. Band 2  : Institutionelle Netzwerke in Steuerungs- und Kooperationsperspektive. Herausgegeben von Petra Bauer & Ulrich Otto. Tübingen  : dgvt (S. 11–52). Bolte, Annegret & Porschen, Stephanie (2006)  : Die Organisation des Informellen. Modelle zur Organisation von Kooperation im Arbeitsalltag. Wiesbaden  : Verlag für Sozialwissenschaften. Borris, Susanne (2006)  : »PräGT« – Das Projekt der Arbeiterwohlfahrt zur Prävention von häuslicher Gewalt durch kooperative Arbeitsansätze in Tageseinrichtungen für Kinder. In  : Handbuch Kinder und häusliche Gewalt. Herausgegeben von Barbara Kavemann & Ulrike Kreyssig. Wiesbaden  : Verlag für Sozialwissenschaften (S. 321–328). Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG 1930), BGBl 1/1930 in der Fassung BGBl I 2/2008. Bürgin, Dieter (2001/4)  : Kindesrecht, Kindesschutz und Kindeswohl – Anmerkungen aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN), 70 (S. 336–352). Eggler, Maria Magdalena (2001/4)  : Kinderschutz  – insbesondere bei sexueller Ausbeutung – aus Sicht einer Kinder und Jugendpsychiaterin. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN), 70 (S. 363–373). Endres, Egon & Wehner, Theo (2003)  : Störungen zwischenbetrieblicher Kooperation. Eine Fallstudie zum Grenzstellenmanagement in der Automobilindustrie. In  : Management von Netzwerkorganisationen. Beiträge aus der »Managementforschung«. Herausgegeben von Jörg Sydow. Wiesbaden  : Gabler (S. 215–260). Frenzke-Kulbach, Annette (2000)  : Probleme institutioneller Kooperation bei sexuellem Missbrauch. In  : Netzwerkökonomie im Wohlfahrtsstaat. Wettbewerb und Kooperation im Sozial- und Gesundheitssektor. Herausgegeben von Heinz-Jürgen Dahme & Norbert Wohlfahrt. Berlin  : Rainer Bohn (S. 169–182). Gary, Gisela (1996/3)  : Kindergärtnerin  : Ein Berufsbild mit Geschichte oder sozial­ geschichtliche Aspekte eines Imageproblems. Unsere Kinder. Fachzeitschrift für Kindergarten und Kleinkindpädagogik (S. 54–56). Jugendwohlfahrtsgesetz (Bundesgesetz, mit dem Grundsätze über die Mutterschafts-,

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Säuglings- und Jugendfürsorge aufgestellt und unmittelbar anzuwendende Vorschriften in diesem Bereich erlassen werden, 1989 – JWG 1989), BGBl 161/1989 in der Fassung BGBl I 41/2007. Lamnek, Siegfried (2005)  : Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch (4., vollständig überarbeitete Auflage). Weinheim  : Beltz. Magistrat Graz, Amt für Jugend und Familie (Hg.) (2000)  : Qualitätskatalog der Grazer Jugendwohlfahrt. Graz. Mayring, Philipp (2002)  : Einführung in die qualitative Sozialforschung (5., überarbeitete und neu ausgestattete Auflage). Weinheim  : Basel. Pantuček, Peter (1996)  : Familiensozialarbeit. Skriptum zur Lehrveranstaltung an der Bundesakademie für Sozialarbeit in St. Pölten. Rametsteiner, Waltraud (2006)  : Gewalt gegen Kinder. Was kann ich tun  ? In  : Unsere Kinder. Herausgegeben von Unsere Kinder. Linz  : Verlag der Fachzeitschrift Unsere Kinder (S. 100–103). Santen, Eric van & Seckinger, Mike (2003)  : Kooperation  : Mythos und Realität einer Praxis. Eine empirische Studie zur interinstitutionellen Zusammenarbeit am Beispiel der Kinder- und Jugendhilfe. München  : Deutsches Jugendinstitut. Schmidt, Mathias (2001)   : Jugendamt. In   : Handbuch Sozialarbeit, Sozialpädagogik. Herausgegeben von Hans-Uwe Otto & Hans Thiersch. Kriftel  : Luchterhand (S. 831–839). Schreyögg, Georg (1999)  : Organisation. Grundlagen moderner Organisationsgestaltung. Mit Fallstudien (3., überarbeitete und erweiterte Auflage). Wiesbaden  : Gabler. Steiermärkisches Jugendwohlfahrtsgesetz (Gesetz vom 16.Oktober 1990 über die Jugendwohlfahrtspflege in Steiermark – StJWG 1991) LGBl 93/1990 in der Fassung LGBl 78/2005. Steiermärkisches Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz (Gesetz vom 14. Dezember 1999 über die Kinderbetreuungseinrichtungen in der Steiermark) LGBl 22/2000 in der Fassung LGBl 69/2007. Trinkl, Marianne (2008)  : Gefährdete Kinder – Schutz durch Kooperation. Eine qualitative Studie zur Kooperation von Kindergarten und Jugendamt am Beispiel Kindeswohlgefährdung. Unveröffentlichte Diplomarbeit an der Fachhochschule Joanneum, Graz. Wunderer, Rolf (2007)  : Führung und Zusammenarbeit. Eine unternehmerische Führungslehre (7., überarbeitete Auflage). Köln  : Luchterhand.

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Gewaltschutzarbeit als eine organisationsübergreifende Aufgabe Eine qualitative Studie zur Rolle interorganisatorischer Kooperation staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen im Rahmen des Opferschutzes bei häuslicher Gewalt Österreich erfährt seit Mitte der 1990er-Jahre bemerkenswerte Fortschritte im Bereich der Bekämpfung häuslicher Gewalt. Die im Gesetz vorgeschriebenen Kooperationsregelungen von staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen sind ein Kernstück der Maßnahmen und weisen internationalen Modellcharakter auf. Dieser die Arbeit von Sorgo (2007) aktualisierende Beitrag beleuchtet die Gestaltung der Kooperation staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen im Rahmen des Opferschutzes bei häuslicher Gewalt. In Bezug auf Organisations-, Netzwerk- und Kooperationstheorien (Mayntz, 1964  ; Endruweit, 2004  ; Etzioni, 1967) wird auf Voraussetzungen, Ausprägungen, Gestaltungsfaktoren und Bedingungen, die für Kooperation notwendig sind, eingegangen. In qualitativen Interviews mit sieben Expertinnen und Experten in zwei Bundesländern werden die realisierte Kooperation und die Kooperationserfordernisse empirisch untersucht. Ein komplexer Leistungsbereich wie der des Schutzes bei häuslicher Gewalt bedarf des Ineinandergreifens der beteiligten Organisationen. Interorganisatorische Kooperationen, so zeigen die Ergebnisse, wirken kollektivierend und strukturierend für die Organisationen und befähigen sie zu besser koordinierten gemeinsamen Leistungen. Diese beruhen auf abgestimmten Zieldefinitionen, der Ordnung von intraorganisatorischen und organisationsübergreifenden Aufgabenstellungen, der Klärung von Schnittstellen im Leistungs- und Bearbeitungsprozess, dem Schaffen unterstützender formaler als auch informeller Kommunikations- und Austauschstrukturen sowie auf der Entwicklung gegenseitigen Vertrauens. Gewalt- und Opferschutz, verstanden als gemeinsame und organisationsübergreifende Aufgabe, kann dadurch für die KlientInnen effektiver sowie auch für das Leistungssystem effizienter gestaltet werden. 1. Opferschutz bei häuslicher Gewalt Um die Notwendigkeit der Kooperation zu verdeutlichen, werden im Folgenden das Handlungsfeld »Opferschutz bei häuslicher Gewalt« erläutert und Begriffe der Opfer-

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schutzarbeit beschrieben. Die Annäherung an die Problematik der häuslichen Gewalt bedingt zunächst eine inhaltliche Begriffserklärung. Es gibt keine allgemeingültige oder gesetzliche Definition des Begriffs der häuslichen Gewalt. Das Phänomen der häuslichen Gewalt erfasst die Gewalt unter Erwachsenen und die Gewalt gegenüber Kindern sowie die Gewalt erwachsener Kinder gegenüber (alten) Eltern. Sie kann alle Personen betreffen und von allen ausgehen. Konkret spricht man von häuslicher Gewalt, wenn Personen innerhalb einer bestehenden oder aufgelösten familiären oder partnerschaftlichen Beziehung psychische, physische oder sexuelle Gewalt ausüben oder androhen, unabhängig davon, ob diese strafrechtliche Konsequenzen haben oder nicht. Das Verständnis von häuslicher Gewalt bliebe jedoch unvollständig, ohne die geschlechterspezifische Dynamik der Gewalt zu betrachten. Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass Gewalt als systematisches Kontrollverhalten (vgl. Gloor & Meier, 2003), ausgeübt von Männern an Frauen und deren Kindern1, im Vordergrund2 der häuslichen Gewalt steht. Gewalt und Abhängigkeit sind bei häuslicher Gewalt eng miteinander verknüpft. Opfer werden systematisch eingeschränkt, ihre Eigenständigkeit wird Stück für Stück zerstört. Isolation, wirtschaftliche und soziale Kontrolle, aber auch die Hoffnung zum Besseren hindern Frauen oftmals daran, sich von ihren gewalttätigen Männern zu trennen (vgl. Jurtela, 2007, S. 22 ff.). Häusliche Gewalt unterscheidet sich grundlegend von anderen Gewaltdelikten, bei denen Täter und Opfer sich nicht näher kennen. Gloor & Meier (2003) teilen gewalttätige Beziehungen in »Gewalt als systematisches Kontrollverhalten« und in »Gewalt als spontanes Konfliktverhalten« ein. Während erstere Form immer in ein Muster von Macht und Kontrolle eingebettet ist, um damit die andere Person systematisch in eine unterlegene Position zu versetzen, und sich wiederholt, handelt es sich bei der zweiten Form um Gewalthandlungen in einzelnen eskalierenden Konfliktsituationen. Im Kontext einer Auseinandersetzung wird dabei dem Ärger, dem Stress oder der Frustration des einen oder der anderen mittels emotionaler Gewalthandlung Ausdruck verliehen, ohne dass dieser Übergriff indessen die andere Person systematisch in eine unterlegene 1 Ich schließe die Kinder von gewaltbetroffenen Frauen mit ein, da diese, auch wenn ihnen gegenüber nicht unmittelbar Gewalt ausgeübt wird, Gewalt dennoch miterleben und die Erlebnisse die gleichen Auswirkungen auf sie haben wie direkt ausgeübte Gewalt. 2 Aufgrund von Studien aus Deutschland (vgl. »Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland.« Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland, im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004, www.bmfsfj.de) ist evident, dass bei Gewalt in der privaten Sphäre die Täter in der Regel Männer und die Opfer Frauen und Kinder sind. Die von der Polizei aus der Wohnung weggewiesenen Gewalttäter in Österreich sind zu über 95 % männlich und die von den Gewaltschutzzentren Österreichs und der Interventionsstelle Wien betreuten Personen sind zu über 90 % weiblich.

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Position versetzt. Nicht zuletzt deswegen ist »Gewalt als spontanes Konfliktverhalten« ein Gewaltverhalten, das von beiden Seiten, von der Frau oder vom Mann, ausgehen kann (vgl. Gloor & Meier, 2003). Beide Gewaltformen haben unterschiedliche Auswirkungen und sollten daher getrennt voneinander durchleuchtet werden. Die Dunkelziffer betreffend häusliche Gewalt ist hoch. Häufig schämen sich die Opfer oder haben Angst davor, das Problem öffentlich zu machen. Für viele Betroffene, vor allem im ländlichen Raum, ist es noch immer eine Schande, mit familiären Problemen nach außen zu gehen. Die Folge  : Gewalttaten im Familienkreis kommen sehr häufig nicht zur Anzeige und bleiben unerkannt. Repräsentative, verlässliche Zahlen über die Verbreitung von Gewalt im häuslichen Bereich in Österreich existieren nicht. Die letzten größeren Studien diesbezüglich gab es 1991 (Bernard & Schlaffer). Aufgrund ähnlicher demografischer Gegebenheiten ist jedoch anzunehmen, dass die Situation jener in Deutschland ähnelt. Eine 2003 in Deutschland durchgeführte repräsentative Studie zeigt auf, dass 25 % der über 10 000 befragten Frauen angaben, körperliche oder sexuelle Gewalt mindestens einmal durch einen männlichen Beziehungspartner erlebt zu haben (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004). Eine 2011 erstellte Prävalenzstudie (vgl. Österreichisches Institut für Familienforschung, 2011) zur Gewalt an Frauen und Männern besagt, dass 40 von 1 292 befragten Frauen (das sind 3,1 %) in den letzten drei Jahren körperliche Gewalt primär in der aktuellen Partnerschaft erlebten. Von den 1 041 befragten Männer erlebten sechs (0,6 %) Gewalt durch die derzeitige Partnerin. Etwa drei Viertel der befragten Personen waren als Kind durch Familienmitglieder mit körperlicher und psychischer Gewalt konfrontiert. 17 % der befragten Frauen und 8,7 % der befragten Männer gaben an, körperliche Gewalt in der Familie sogar häufig erlebt zu haben. Seit in Österreich am 1. Mai 1997 das Gewaltschutzgesetz3 in Kraft getreten ist, wurde bis Ende 2011 gegen 73 491 Personen aufgrund ihres gewalttätigen Verhaltens ein Betretungsverbot ausgesprochen. Von den Weggewiesenen waren 96 % männlichen und vier Prozent weiblichen Geschlechts.4 Im Jahr 2010 haben 1 733 Frauen und 1 715 Kinder in den 25 österreichischen Frauenhäusern Zuflucht gefunden (vgl. Aktionsgemeinschaft der autonomen Frauenhäuser, 2010). Die Gewaltschutzzentren aller Bundesländer sowie die Interventionsstelle Wien5 berichten im Jahr 2011 von 3 Bundesgesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie – GeSchG, BGBl. Nr. 759/1996, novelliert durch BGBl. I Nr. 146/1999 (in Kraft seit 1.1.2000) und BGBl I Nr. 40/2009 (2. Gewaltschutzgesetz, in Kraft seit 1.6.2009). 4 Quelle  : Zusammenfassung aller Statistiken der Gewaltschutzzentren Österreichs von 1998 bis 2010. 5 Der Name »Interventionsstelle« wurde ab 2006 in allen Bundesländern außer in Wien in »Gewaltschutzzentrum« umgeändert. In Vorarlberg nennt sich die vormalige Interventionsstelle Gewaltschutzstelle.

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15 515 Fällen (überwiegend Frauen), die persönlich, telefonisch oder durch Informationsbriefe betreut werden. Das Grundrecht auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit ist ein allgemeines Menschenrecht. Demgemäß befasst sich der Opferschutz in erster Linie damit, mit Beistand staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen, den Schutz und die Sicherheit für Gewaltopfer zu erhöhen. Ein anderer, aus fachlicher Sicht allerdings irrtümlicherweise oft synonym verwendeter Begriff, ist der Begriff der Opferhilfe. Dieser Begriff beinhaltet den Aspekt der Sicherheit, die im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt im Vordergrund stehen muss, nicht. »Dem Anspruch des Opfers auf Sicherheit kommt Priorität zu  ; die Intervention ist so zu konzipieren, dass dem Anspruch des Opfers, von weiteren Verfolgungen verschont zu bleiben, vorrangig Rechnung getragen wird« (Dearing, 2006, S. 31). 1.1 Polizeilicher Opferschutz

Eine bedeutende Regelung für den Opferschutz kommt den polizeilichen Maßnahmen, die im mit 1997 in Kraft getretenen Gewaltschutzgesetz6 ermöglicht werden, zu (vgl. Haller, 2004, S.  19). Die Polizei erhält die Befugnis, eine gewalttätige Person für die Dauer von 14 Tagen7 aus der Wohnung, in der das Opfer lebt, zu weisen und ein Betretungsverbot8 zu verhängen. Darüber hinaus ist es der Polizei möglich, eine gewalttätige Person zu inhaftieren. Zusätzlich schuf man die Bestimmung, nach einem Antrag der gewaltbetroffenen Person diese Verbannung mittels einstweiliger Verfügung des Familiengerichtes bis zu sechs9 Monate zu verlängern. Ein weiterer zentraler Bestandteil des Gewaltschutzgesetzes sind die Errichtung von sogenannten Gewaltschutzzentren (vormals Interventionsstellen) und die Verpflichtung der Polizei zur Kooperation mit diesen Opferschutzeinrichtungen. Seit Inkrafttreten des Gewaltschutzgesetzes am 1. Mai 1997 sind die Sicherheitsbehörden verpflichtet, die Jugendwohlfahrtsbehörden (wenn Kinder im Haushalt leben), die Gewaltschutzzentren in den Bundesländern und für das Bundesland Wien die Interventionsstelle Wien über jedes ausgesprochene Betretungsverbot zu informieren. Darüber hinaus erhalten die Gewaltschutzzentren und die Interventionsstelle Wien alle Anzeigen bezüglich Stal6 Bundesgesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie – GeSchG, BGBl. Nr. 759/1996, novelliert durch BGBl. I Nr. 146/1999 (in Kraft seit 1.1.2000) und BGBl I Nr. 40/2009 (2. Gewaltschutzgesetz, in Kraft seit 1.6.2009). 7 Ursprünglich waren es nur sieben Tage (1997), ab 2000 zehn Tage und nun seit 1. Juni 2009 zwei Wochen. 8 Gemäß § 38a SPG, Sicherheitspolizeigesetz, BGBl. Nr. 566/1991 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl I/Nr. 40/2009. 9 Seit 1.7.2009 sind es sechs Monate, vorher waren es nur drei Monate.

Gewaltschutzarbeit als eine organisationsübergreifende Aufgabe

king. Die Gewaltschutzzentren Österreich bzw. die Interventionsstelle Wien nehmen (in Fällen von Wegweisung) Kontakt zu den Gewaltbetroffenen auf mit dem Ziel, deren Sicherheit zu erhöhen und ihnen Unterstützung zukommen zu lassen (vgl. Gewaltschutzzentrum Steiermark, 2011  : 11). 1.2 Opferschutz im Rahmen der Justiz

Im Rahmen zivilrechtlicher Maßnahmen kann auf Antrag der gefährdeten Personen oder der Jugendwohlfahrtsbehörde eine einstweilige Verfügung gem. § 382 b und e EO mit dem Auftrag an die gefährdende Person, die Wohnung zu verlassen und nicht wieder zurückzukommen, erlassen werden. Diese einstweiligen Verfügungen können bis zu sechs Monate dauern und aufgrund weiterer Gewaltvorfälle auch verlängert werden. Im Zuge der Strafprozessreform wurde für Opfer bestimmter Straftaten ein Rechtsanspruch auf psychosoziale und juristische Prozessbegleitung geschaffen (§ 66 Abs. 2 StPO). Seit 1. Juni 2009 gilt der Anspruch auf psychosoziale Prozessbegleitung unter bestimmten Voraussetzungen auch für einen zwischen dem Opfer und dem Beschuldigten des Strafverfahrens geführten Zivilprozess (§ 73b ZPO). Die Exekutive, die Staatsanwaltschaft sowie die RichterInnen der Strafgerichte sind dazu verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass alle Opfer die notwendigen Informationen über psychosoziale und juristische Prozessbegleitung erhalten. 1.3 Opferschutz im Rahmen der Jugendwohlfahrtsbehörde

Bei häuslicher Gewalt gegen Kinder hat die Jugendwohlfahrtsbehörde im Rahmen des Gewaltschutzgesetzes die Möglichkeit, beim Zivilgericht eine einstweilige Verfügung nach § 382b und e EO zu beantragen. Diese Maßnahme bewirkt einen gerichtlichen Auftrag an die gefährdende Person, die Wohnung bis zu sechs Monate zu verlassen. Darüber hinaus hat die Jugendwohlfahrtsbehörde die Möglichkeit, den teilweisen Entzug des Obsorgerechts oder die sogenannte volle Erziehung durch den Jugendwohlfahrtsträger, d. h. die Pflege und Erziehung in einer Pflegefamilie, einem Heim oder in einer sonstigen Einrichtung, beim Pflegschaftsgericht gemäß § 176 ABGB zu beantragen. Diese Maßnahmen können mit Zustimmung des Erziehungsberechtigten auch ohne gerichtliche Anordnung getroffen werden (vgl. §§ 29f JWG  ; vgl. Drobesch, 2004, S. 128).

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272 1.4 Opferschutz und Opferhilfe durch nichtstaatliche Einrichtungen

Das vorrangige Ziel von Opferschutzeinrichtungen10 ist die Erhöhung der Sicherheit für gefährdete Personen. Dieses wird mit unterschiedlichen Maßnahmen angestrebt. Zum einen geht es darum, gefährdeten Personen eine vorübergehende sichere Unterkunft anzubieten, zum anderen werden Gefährlichkeitseinschätzungen und individuelle Sicherheitspläne mit den Betroffenen erarbeitet, die als Grundlage für aktive Unterstützungsmaßnahmen dienen. Zur Umsetzung dieser Maßnahmen ist die Koordination mit allen beteiligten Organisationen notwendig. In Österreich gibt es ein im urbanen Bereich dichtes – in den ländlichen Regionen weniger dichtes – Netz an Opferschutz- und Opferhilfseinrichtungen. Dessen ungeachtet ist die Kooperation in ländlichen Regionen überschaubarer zu gestalten, zumal die informelle Zusammenarbeit durch das persönliche Kennen stärker greift. Zu den Opferschutzeinrichtungen gehören die Gewaltschutzzentren Österreich, die Interventionsstelle Wien sowie die Frauenhäuser und Kinderschutzzentren. In Wien gibt es auch eine Interventionsstelle für Betroffene des Frauenhandels. Zu den Opferhilfeeinrichtungen, bei denen die finanzielle, therapeutische, sozialarbeiterische und juristische Unterstützung von Gewaltopfern im Vordergrund steht, gehören Einrichtungen wie der Weiße Ring, Notrufe für vergewaltigte Frauen, sonstige Beratungsstellen und therapeutische Unterbringungsstätten, die Frauen und Kindern oder auch Männern bei häuslicher Gewalt beistehen, sowie bundesweite Opferhotlines. 2. Kooperation in organisationalen Netzwerken – Theoretische Rahmung Um Sicherheitsmaßnahmen, Aufdeckung von Misshandlungen, effektive Unterstützung für Opfer und die Verhinderung erneuter Gewalttaten zu gewährleisten, spielen gemeinsam entwickelte Strategien aller Beteiligten und so weit wie möglich aufei­ nander abgestimmte Vorgehensweisen eine entscheidende Rolle. Die Kooperation von Organisationen verfügt über eine hohe Komplexität. Um dieser gerecht zu werden, ist es notwendig, sich mit dem Wesen von Organisationen und mit dem Handeln der verschiedenen AkteurInnen zu befassen. Daher werden nachfolgend Theorien von Organisationen sowie kooperationstheoretische Inhalte kurz eingebracht. Dabei sind 10 Diese Definition ist keine rechtstechnische, die in § 25/2 SPG festgelegte Definition von Opferschutzeinrichtungen ist enger gehalten.

Gewaltschutzarbeit als eine organisationsübergreifende Aufgabe

die Organisations- und Entscheidungsstrukturen der beteiligten Organisationen, interorganisatorische Beziehungen und Kooperationen von großer Bedeutung. 2.1 Organisations- und Entscheidungsstrukturen prägen Netzwerkkooperationen

Die Organisationssoziologie versteht unter dem Begriff »Organisation« ein soziales Subjekt, das sozial handeln kann. Dazu werden u. a. Behörden, Vereine und Betriebe gezählt (vgl. Endruweit, 2004, S. 18 ff.). Organisationen beinhalten eine Orientierung auf bestimmte Ziele und Zwecke. Organisationsziele und -zwecke beeinflussen das Verhalten der Individuen, und die Strukturen von Organisationen, die zur Erreichung dieser Ziele geschaffen werden. Hierbei kann man Organisationen im Hinblick auf ihre •• Rollenstruktur, d. h. die arbeitsteilig differenzierten Tätigkeiten sind durch Regeln festgelegt und den InhaberInnen bestimmter Positionen als Aufgaben zugeteilt (vgl. Endruweit, 2004, S. 151), und ihre •• Regelungsstruktur, d. h. Formalisierung und Bürokratisierung drückt aus, wie stark die Tätigkeiten und Beziehungen in einer Organisation von festgelegten Regeln bestimmt werden (vgl. Mayntz, 1964, S. 86 ff.), unterscheiden. •• Zentrale Kennzeichen jeder Organisation sind weiter die Kommunikationsstruktur und die •• Autoritätsstruktur. Die Frage in einer Organisation nach Unter- oder Überordnung der Mitglieder führt zum Blick nach der Leitungsstruktur. In oberster Ebene werden Entscheidungen über die Ziele getroffen. Eine Stufenleiter von Instanzen besitzt die legitime Autorität, um Entscheidungen zu fällen und für die Akzeptanz sowie Vollziehung der angeordneten Tätigkeiten nach unten zu sorgen (vgl. Endruweit, 2004, S. 157). Organisationen als zielgerichtete soziale Systeme enthalten u. a. Personen bzw. Personengruppen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben, interagieren und diesbezüglich bestimmte Gefühle und Vorstellungen haben. Wenn man diese im Zusammenhang mit dem Ziel und Zweck einer Organisation betrachtet, werden sie als Instrument der Organisation gesehen (vgl. Endruweit, 2004, S. 121). Die Ausgeprägtheit einer oder mehrerer dieser Strukturformen sowie die Individuen beeinflussen Wesen und Handlungen einer Organisation. Die Ausprägung der informellen Kooperation, im Gegensatz zur strukturierten Kooperation, weist hingegen auf den Stellenwert des Menschen innerhalb von Organisationen hin.

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274 2.2 Interorganisatorische Beziehungen und Kooperation

Organisationen haben in ihrer Umwelt mit anderen Organisationen zu tun. Diese Kooperation wird durch die Gestaltung der interorganisatorischen Beziehungen beeinflusst und kann unter allen Organisationstypen bestehen. Um nicht stets aufs Neue die Zusammenarbeit auf ihre Gewährleistungsfähigkeiten hin überprüfen zu müssen, ermöglichen verallgemeinerte Koordinationsstrukturen Standardisierungen zur Bewältigung von relativ gleichförmigen Anforderungen. Die Ereignisse müssen hierfür jedoch klassifizierbar und gedanklich vorwegnehmbar sein. Wenn Organisationsablaufstrukturen nicht mehr exakt und angemessen genug die Gesamtheit der Ereignisse antizipieren (konzeptuell vorwegnehmen), kommt es zur Kooperation (vgl. Endres & Wehner, S.  225 ff.). Voraussetzung für interorganisatorische Kooperation ist eine zumindest teilweise Übereinstimmung der Ziele und Werte der Organisa­ tionen. Ziele und Werte werden einerseits durch sogenannte Steuerungsmedien, wie Vertrauen und Macht, andererseits durch Steuerungsinstrumente, wie Regeln, Verträge, Übereinkünfte und Ressourcen, geschaffen. Interorganisatorische Kooperation findet im Spannungsfeld von Kooperation, Aushandlung und Wettbewerb statt (vgl. Müller-Jentsch, 2003, S. 133). Grundsätzlich kann unter Kooperation ein abgestimmtes Verhalten von natürlichen oder juristischen Personen mit dem Merkmal der Harmonisierung oder der gemeinsamen Erfüllung von Aufgaben verstanden werden. Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob diese zielgerichtete Zusammenarbeit nur kurzfristig oder auf Dauer geschieht, ob sie die gesamte Wirtschaftseinheit oder nur Teile davon einbezieht, oder ob es aufgrund von Rechtslagen geschieht (vgl. Zentes, Swoboda & Morschett, 2005, S. 5). Um langfristig in Prozessen kooperieren zu können, ist es notwendig, dass die grundsätzlichen strategischen Entscheidungen für eine zwischenbetriebliche Zusammenarbeit  – wie im Fall der strukturierten Kooperation im Gewaltschutzgesetz – bereits gefallen sind (vgl. Endres & Wehner, 2003, S. 221ff ). »Auf prozessualer Ebene haben zwischenbetriebliche Kooperationen zwei wichtige Ziele  : Zum einen finden interpersonale Abstimmungen statt, um Störungen schnell und nach Möglichkeit umfassend zu bewältigen. Die Störungsbewältigung bezieht sich dabei auf solche Ereignisse, die sich nicht standardisieren und, das heißt auch nur schwer antizipieren lassen. […] Zum anderen ist das Ziel der Kooperationen, neue und damit verbesserte Organisationsablauf- und gegebenenfalls Organisationsaufbaustrukturen zu entwickeln« (ebd., S. 225). Im Gegensatz zur prozessorientierten Kooperation gehen AkteurInnen von Organisationen bei situativen Kooperationsbeziehungen aufeinander ein, ohne dazu aufgrund strukturierter Vorschriften dazu gezwungen zu sein. Sie tauschen Erfahrungen

Gewaltschutzarbeit als eine organisationsübergreifende Aufgabe

aus, entwickeln gemeinsame Strategien zur Lösung von Problemen oder diskutieren über Verbesserungsmöglichkeiten von Arbeitsabläufen. Das ergibt sich aufgrund der Anforderungen und Problemstellungen, die in hohem Maße situationsabhängig und kontextgebunden sind. Grund für das (notwendige) Informelle sind Grenzen der Objektivierbarkeit und Formalisierbarkeit von Handlungsweisen, die dem Informellen in der Praxis zugrunde liegen (vgl. Bolte & Porschen, 2006, S. 11). »Ein solches erfahrungsgeleitetes kooperatives Handeln ergibt sich aus den konkreten Erfahrungen in der alltäglichen Arbeit  ; es ist eng mit persönlichen Beziehungen und dem Rückgriff auf gemeinsame Erfahrungen und Erlebnisse verknüpft« (ebd., S. 13). Kooperatives informelles Handeln erweist sich als Notwendigkeit, um auftretende Störungen zu bewältigen, oder auch zur Verstärkung formaler Kooperationsstrukturen. Persönliche Kontakte und Beziehungen sind neben dem Vertrauen entscheidende Schlüsselfaktoren der Kooperationen. Sie dürfen nicht mit Seilschaften oder »Freunderlwirtschaften« verwechselt werden. Informelle Kooperationen berücksichtigen den auch für die Abwicklung von Arbeitsaufgaben hohen Wert der persönlichen Kontakte, ohne die reibungslose Arbeitsabläufe kaum möglich wären (vgl. Bolte & Porschen, 2006, S. 80). Damit es gelingt, verschiedene Teilsysteme oder AkteurInnen in einem Interdependenzgefüge zuverlässig und dauerhaft zu koordinieren und ihnen gleichzeitig die Selbstständigkeit und Entscheidungsfreiheit zu belassen, »[…] ist ein gleichberechtigtes, partnerschaftliches Miteinander nicht erforderlich – solange der Leistungsaustausch nach dem Reziprozitätsprinzip erfolgt, das heißt, für eine Vorleistung wird eine Gegenleistung erwartet, die jener nicht unbedingt voll entsprechen muss« (Müller-Jentsch, 2003, S. 137). Darüber hinaus ist Vertrauen eine soziale Tauschform, die es ermöglicht, den nicht spezifizierbaren Teil von Handlungen auszufüllen. Vertrauensbeziehungen lassen sich nur wechselseitig ausbilden und setzen darauf, persönlich ausgehandelte Verbindlichkeiten einzuhalten (vgl. Endres & Wehner, 2003, S.  224). Vorschläge für das individuelle Entscheidungsverhalten, die auch als wertvolle Regeln im Zusammenhang mit interorganisatorischer Kooperationen gesehen werden können, beschreibt Axelrod (2000, S. 99) folgendermaßen  : 1. Sei nicht neidisch auf den Erfolg des anderen Spielers. 2. Defektiere11 nicht als Erster. 3. Erwidere sowohl Kooperation als auch Defektion. 4. Sei nicht zu raffiniert. 11 Nichtkooperation nennt Axelrod Defektion.

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Da Vertrauen eine risikoreiche Vorleistung darstellt, kann sich »Systemvertrauen« am ehesten entfalten, wenn es durch institutionelle Machtstrukturen abgesichert und gestützt wird. Weniger anfällig und bescheidener im Anspruch als Vertrauen erscheint Verlässlichkeit. Vertrauen ließe sich demnach nur als ein Sonderfall von Verlässlichkeit verstehen (Müller-Jentsch, 2003, S. 135). Bei Kooperationskonzepten stehen in der Regel Organisations- und Entscheidungsstrukturen im Mittelpunkt, was auch bei Netzwerken der Fall ist. Das Ziel der Netzwerkbildung besteht in erster Linie darin, Ressourcen zu bündeln sowie Kapazitäten und Leistungsspektren von Unternehmen zu erweitern. Die beteiligten AkteurInnen in den Netzwerken haben ein spezifisches Wissen und Erfahrung sowie eigene Ressourcen und Fähigkeiten. Dieses implizite Wissen ist in den jeweiligen Organisationen und Personen verkörpert. Ein Austausch dieser Wissensgrundlage kann über eine direkte, horizontale Kommunikation und Zusammenarbeit erreichbar gemacht werden. Durch die Bildung von Netzwerken bleiben Unternehmen formal unabhängig, geraten aber in eine funktionale Interdependenz (vgl. Hartmann, 2001, S. 14). 3. Methodischer Hintergrund und empirische Vorgehensweise Opferschutz und sein funktionales Gelingen weisen sich dadurch aus, dass staatliche und nichtstaatliche Organisationen – charakterisiert durch verschiedenartige Ziel- und Handlungsstrukturen – kooperieren und kooperieren müssen. Solche Kooperationen erfordern von den kooperierenden Organisationen die Entwicklung von Netzwerken. Die Frage, wie diese netzwerkartige Kooperation im Handlungsfeld häuslicher Gewalt praktiziert wird und welche Formen sie in der Fachpraxis annimmt, wird empirisch in sieben qualitativen ExpertInneninterviews aufgegriffen (vgl. Lamnek, 2005, S. 349). Von Interesse ist, wie sich die interorganisatorische Kooperation bewährt, was daran veränderungswürdig wäre, wie strukturelle und organisatorische Bedingungen für das Gelingen von Kooperation gestaltet sein sollten und wie Kooperation aus der Sicht staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen bewertet wird. Untersucht wird auch, ob gesetzlich strukturierte Kooperation zwischen den involvierten Organisationen die Handlungsfähigkeit im Gewaltschutzbereich erweitern und verbessern kann. Dabei wird in themenzentrierten Interviews versucht, anhand von Erfahrungen und Einstellungen die Gestaltung der Kooperation authentisch abzubilden. Bei der Wahl des Bundeslandes wurde entschieden, dass es zwei Bundesländer sein sollen, die in ihrer Ausprägung bezogen auf das Erkenntnisinteresse folgende Kriterien erfüllen  :

Gewaltschutzarbeit als eine organisationsübergreifende Aufgabe

•• Die Niederschwelligkeit des Zugangs für Opfer von häuslicher Gewalt soll gewährleistet sein. •• Der Zugang soll für weibliche und männliche Opfer möglich sein. •• Die Qualität der Opferschutzarbeit soll fachliche und gesetzlich vorgeschriebene Standards erfüllen. •• Die Kooperation der einzelnen Behörden und Einrichtungen soll seit vielen Jahren bestehen. •• Das Bundesland soll aufgrund seiner Größe repräsentativ für den österreichischen Föderalismus und sowohl urbanen als auch ländlichen Anforderungen gewachsen sein. •• Eine fortschreitende Entwicklung der Opferschutzarbeit in den letzten Jahren soll nachvollziehbar sein. Ausgewählt wurden daraufhin in Oberösterreich und der Steiermark drei Mitglieder nichtstaatlicher Organisationen, die mit unterschiedlichem Strukturierungsgrad in Kooperation mit staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen stehen, sowie entsprechend dazu vier InterviewpartnerInnen staatlicher Einrichtungen. Diese entstammen den Arbeitsfeldern Polizei, Strafjustiz und Ziviljustiz. Im April 2007 wurden männliche und weibliche Expertinnen und Experten mit langjähriger Berufspraxis interviewt. Der Bereich der Jugendwohlfahrtsbehörde konnte nicht abgedeckt werden, weil sich kein/e InterviewpartnerIn zur Verfügung stellte. Als Interviewform wurde ein Leitfadeninterview (vgl. Mayer, 2006, S.  36) gewählt, bei dem es sich um eine offene Interviewform handelt, sodass die InterviewpartnerInnen ohne vorgegebene Antwortkategorien verbalisieren können, was für sie bedeutungsvoll und wichtig ist. Schwerpunkte der Fragestellungen für das themenzent­rierte Interview sind insbesondere die persönlichen Erfahrungen im Rahmen der beruflichen Tätigkeit (direkter KlientInnenkontakt im Bereich häuslicher Gewalt) sowie praktische organisatorische Erfahrungen mit anderen KooperationspartnerInnen. Die Auswertung erfolgte mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse. Die folgende Analyse war danach ausgerichtet, wie sich die Kooperation im Bereich der häuslichen Gewalt darstellte, was sich bewährte und was veränderungswürdig wäre. Davon ausgehend, waren die Bereiche der interorganisatorischen Kooperation, ihre Bedingungen sowie die Strukturierungsgrade zu beleuchten. Die Hauptkategorien wurden zu Beginn der Auswertung anhand des verwendeten Interviewleitfadens gebildet. Zur Bildung neuer Kategorien führten Aussagen bzw. Antworten der sieben ProfessionistInnen von staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen, die der Leitfaden nicht enthiet. Die Hauptkategorien wurden zusammengefasst und komprimiert, sodass sich

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im Laufe der Bearbeitung fünf Kategorien herauskristallisierten (vgl. Meuser u. Nagel 1991, S. 452, zit. n. Mayer, 2006, S. 46). Dieser Kategorienraster mit den Themen •• •• •• •• ••

KooperationspartnerInnen, Kooperationsziele, Kooperationsformen, Problembereiche der Kooperationen, Auswirkungen und Bewertung der Kooperationen

ermöglichte es Querverbindungen herzustellen und Themen in Bezug auf die Forschungsfragen hervortreten zu lassen. Anhand dieser Schwerpunkte wurden die Aussagen der InterviewpartnerInnen wiedergegeben und interpretiert. 4. PartnerInnen und Ziele der Kooperationen Für nichtstaatliche Einrichtungen nimmt die Polizei als Kooperationspartnerin eine bedeutsame Rolle ein. Begründet wird dies damit, dass die Polizei zu den Einsatzorganisationen gehört, die wie Rettung und Feuerwehr rund um die Uhr im gesamten Bundesgebiet erreichbar ist und rasch, niederschwellig und unentgeltlich interveniert. Weiter ist die Polizei im Krisenfall meist eine der ersten Anlaufstellen, die von der Bevölkerung aus eigenem Antrieb aufgesucht wird. Sie ist an »vorderster Front« mit dem Themenkomplex häuslicher Gewalt beschäftigt und mit Befugnissen ausgestattet, gegen den Willen des Gewalttäters/der Gewalttäterin zu intervenieren, um diesen/ diese von weiterer Gewaltausübung abhalten zu können (vgl. Dearing 2005, S. 73). Das Gewaltschutzgesetz und die Einführung themenzentrierter Schulungen in der Grundausbildung, laufende Angebote in der berufsbegleitenden Fortbildung und die Schaffung besonderer PräventionsbeamtInnen haben darüber hinaus zu einer Einstellungsänderung beigetragen. Diese Entwicklung ist für nichtstaatliche Opferschutzeinrichtungen sichtbar geworden und hat die Zusammenarbeit mit der Exekutive wesentlich erleichtert (vgl. Gewaltschutzzentrum Steiermark, 2006, S. 31). Staatliche Einrichtungen, wie Exekutive, Straf- und Zivilgerichte, kooperieren bei häuslicher Gewalt untereinander überwiegend im Rahmen gesetzlicher Regelungen. Wenn es um erwachsene Opfer häuslicher Gewalt geht, arbeiten Exekutive und Zivilgericht mit den Gewaltschutzzentren zusammen. Im Bereich der Gewalt an Kindern ist die Jugendwohlfahrtsbehörde eine notwendige Ansprechpartnerin. Was genau Kooperation ist, wie weit sie reicht, was sie beinhaltet, oder ob sie als solche erlebt wird, ist nicht durchgehend klar. So versteht sich das Strafgericht offenbar

Gewaltschutzarbeit als eine organisationsübergreifende Aufgabe

weniger als »Kooperationspartner« denn als »Kontaktstelle«. Eine interorganisatorische Kooperation mit dem Strafgericht findet kaum statt. »Also, nein, Zusammenarbeit ist gesetzlich nicht vorgeschrieben, es ist nur vorgeschrieben, dass ich sie verständige, aber es empfiehlt sich halt, gelegentlich« (IP3, S. 4). »Es sind Kontakte und keine Kooperationen. […] Also mir gefällt da das Schlagwort Kooperation nicht. […] Im Zuge der Verhandlungen werden dann auch diese Personen angehört, oder wenn es irgendwelche Gespräche gibt, da entstehen eben Kontakte mit diesen Organisationen« (IP3, S. 2). Die Polizei weist zur Kooperation mit dem Frauenhaus auf eine marginale, lose Kooperation hin. Ähnliches gilt für den Verein Neustart, die Männerberatungsstelle und den Weißen Ring  : Ihnen wird derzeit eine geringe Bedeutung als KooperationspartnerInnen gegeben. Zwischen Polizei und Gewaltschutzzentrum besteht eine ausgeprägte Kooperations­ struktur, die sich aus den gesetzlichen Kooperationsaufträgen (bzw. -ermächtigungen) ableitet. »Ja, wenn es um Gewalt geht, ist unsere Arbeit eigentlich beschränkt darauf, dass wir, wenn es um Erwachsene geht, an und für sich eh mit dem Gewaltschutzzentrum kooperieren […], und das reicht für die Kooperation auf jeden Fall aus hier, was Erwachsene betrifft. Bei Kindern arbeiten wir jetzt auch mit dem Jugendamt zusammen« (IP7, S. 3). Bezüglich Ziel- und Wertübereinstimmungen in interorganisationalen Kooperationen werden im Netzwerk kongruente Bestimmungen der beteiligten AkteurInnen vorgefunden. Primäres Ziel des Kooperationszusammenhangs ist der »reibungslose Ablauf« der Opferschutzmaßnahmen zur Gewährung des Schutzes und zur Sicherheitsherstellung für die Gewaltopfer. Ein »reibungsloser Ablauf« steht dabei für ein prioritäres und institutionellen Grenzen vorgeordnetes, gemeinsames Kooperations­ ziel. Dieses Kooperationsziel beinhaltet neben dem Opferschutz die Sicherstellung für Opfer, ausreichend und bessere Versorgung zu erlangen, die Situation von Opfern für andere Berufsgruppen nachvollziehbar zu machen sowie eine gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit in Bezug auf Prozessbegleitung zu forcieren. »Das ist meine Haltung dazu. Ich mache eine Kooperation immer deshalb, weil das Ergebnis für die Betroffenen passen muss und verbessert werden muss. Und es ist im Interesse der Betroffenen, ein reibungsloses Verfahren zu bekommen. Vor allem das Verfahren so zu bekommen, dass die Fristen eingehalten werden, dass keine Schutzlücken entstehen, und es ist im Interesse der Betroffenen, dass […] Das muss insgesamt ein Regelwerk sein, eine Vereinbarung und eine Koordination sein, die den Schutz gewährleistet, der notwendig ist« (IP5, S. 11).

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»Ziel und Zweck ist es einerseits für die Klientinnen und Klienten eine bessere Versorgung zu erreichen oder mehr Verständnis in Richtung Justiz, zum Beispiel, sozusagen, in welcher Lage Opfer sind. Und warum die wie wann reagieren oder nicht reagieren. Das ist vor allem bei der Justiz sehr wichtig« (IP2, S. 3). Bemerkenswert ist, dass die Ziele der gesetzlichen Regelungen des Gewaltschutzgesetzes sich mit den Zielen der Kooperation zum Teil deckungsgleich darstellen. Dies würde darauf schließen lassen, dass die Ziele der Kooperation bereits durch die Entstehungsgeschichte des Gewaltschutzgesetzes beeinflusst wurden. Durch die Einbeziehung interdisziplinärer AkteurInnen aus dem Gewaltschutzbereich konnte die Intention des Gesetzes von den meisten Organisationen von Beginn an mitgetragen und nachvollzogen werden. Die nachfolgende Passage bestätigt, dass sowohl die Gesetzesvorlage an sich als auch die Umsetzung in der Praxis gelungen sind  : »Also, das Ziel dieser Zusammenarbeit ist ein reibungsloser Ablauf der Verfahren. Es war ja schon bei der Entstehungsgeschichte des Gewaltschutzgesetzes so, dass, meiner Meinung nach, das Gesetz schon selber eine gute Leistung war in der Frage der Zusammenarbeit. Durch verschiedenste Ministerien einerseits und andererseits war die Frage dann, wie setzt man das erfolgreich in die Praxis um  ? Und da ist die eigentliche Arbeit getan worden« (IP5, S. 2). Ein übergeordnetes Ziel der Netzwerkbildung besteht in erster Linie darin, Ressourcen zu bündeln sowie Kapazitäten und Leistungsspektren zu erweitern. Das war auch die Intention des Gesetzgebers, um Opfern von Gewalt den bestmöglichen Schutz zu gewährleisten. Zur Bekräftigung wird an dieser Stelle noch einmal Dearing zitiert  : »Insgesamt dient die enge Kooperation von Sicherheitsbehörde und Familiengericht vor allem der Verfahrensbeschleunigung und dem Ziel eines lückenlosen Schutzes der gefährdeten Person. Sie hat sich praktisch gut bewährt. Es besteht eine ausreichende Übereinstimmung in den Zielsetzungen. Auch zeigen die Familiengerichte in die Vorarbeit der Sicherheitsexekutive hohes Vertrauen  : Es geschieht eher selten, dass einem während der Geltung eines Betretungsverbotes gestellten Antrag auf eine einstweilige Verfügung nach § 382b EO nicht stattgegeben wird« (Dearing, 2005, S. 58). Betreffend der Ziele und des Zweckes der Kooperation im Gewaltschutzbereich zeichnet sich eine einheitliche Linie der staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen klar ab. Diese Gemeinsamkeit dient als Voraussetzung, den komplexen Themenbereich der familiären Gewalt effizienter und effektiver bearbeiten zu können. Im Sinne der Gewaltprävention sind nun gesetzliche und organisatorische Rahmenbedingungen geschaffen, die es erlauben, dass alle beteiligten Stellen an einem Strang ziehen. Diesbezüglich wird auch auf die Bedeutung der Jugendwohlfahrtsbehörde hingewiesen.

Gewaltschutzarbeit als eine organisationsübergreifende Aufgabe

5. Kooperationsformen Staatliche und nichtstaatliche Organisationen sind mit unterschiedlichen formalen Strukturen ausgestattet, wie auch die Beschaffenheit der interorganisatorischen Kooperation zwischen den einzelnen Organisationen verschieden ausgeprägt ist. Zu den strukturierten Kooperationsformen gehören gesetzlich geregelte Kooperationen, die durch verwaltungsinterne Organisationsnormen festgelegt sind, sowie Kooperationsnetzwerke. Darüber hinaus ergeben sich informelle kooperative Verhaltensweisen aus engen persönlichen Beziehungen in der alltäglichen Arbeit und in losen Kooperationen. 5.1 Strukturierte Kooperationsformen

Strukturierte Kooperationsformen sind gesetzlich geregelte Kooperationen oder solche, die durch Verordnungen oder Erlässe (verwaltungsinterne Organisationsnormen) festgelegt sind. Strukturiert vorgesehene Kooperationen finden im Rahmen des Gewaltschutzgesetzes, bei der Durchführung von Prozessbegleitung, bei der Bekämpfung von Stalking und im Rahmen des Tatausgleichs statt. In diesen Bereichen ist eine strukturierte Kooperation zweckmäßig, da die hohe Anzahl von Anlassfällen eine vermehrte Aufeinanderfolge an Wiederholungsvorgängen erfordert und es daher zweckmäßig ist, diese dauerhaft und generell zu regeln. Die Gestaltung der strukturierten Kooperationen hängt stark mit den innerorganisatorischen Strukturen der einzelnen Organisationen zusammen. Für die Exekutive erweist sich der hierarchische Aufbau zur Umsetzung von Kooperation im Rahmen des Gewaltschutzgesetzes als Vorteil. Die Kooperation wird nicht nur als Verpflichtung, sondern auch als Entlastung und sinnvoll empfunden. »Die Kooperation ist schon vorgeschrieben, aber wie gesagt, es ist für unsere Polizeibeamten grundsätzlich aber überhaupt kein Problem, sich damit zu identifizieren« (IP7, S. 6). So ermöglicht es die eindeutige Leitungsstruktur der Exekutive, dass angeordnete Tätigkeiten, wie die Zusammenarbeit mit einer nichtstaatlichen Einrichtung, auch von untersten Ranggruppen vollzogen werden müssen. Diese hierarchische Durchdringung wird eher als positiv bewertet, wenn es sich dabei um staatliche Einrichtungen mit ausgestatteter Staatsgewalt handelt. »Wobei die hierarchische Organisation der Polizei da besser ist, weil sich da leichter etwas durchsetzen lässt, im Sinne ›von oben nach unten, das muss jetzt gemacht werden‹« (IP2, S. 9). Problematisch wird aber die Kommunikationsstruktur gesehen, die erschwerend für den notwendigen Informationsfluss innerhalb der Organisation der Polizei wahrgenommen wird. »Das ist unser Hauptproblem, die Information da an die Basis zu

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bringen. Und nur mit Schriftlichkeiten gehen die Dinge nur beschränkt« (IP7, S. 17). Diese Aussage zeigt sehr deutlich das Kommunikationsproblem großer komplexer Organisationen  : Durch den Einsatz moderner elektronischer Informationstechnologien ist die Übertragung von Inhalten kein Problem, sondern die Konstituierung von Sinn bzw. die Generierung von einheitlicher Bedeutung der übermittelten Inhalte erfordert zusätzliche institutionelle Aufmerksamkeit. Ausreichende Informationen und deren Entschlüsselung sind nötig, um selbstständig zu handeln, zweckorientiert zu entscheiden oder Anordnungen treffen zu können. Dieses Informationsmanko kann sich als Störung in der Kooperation mit anderen Organisationen auswirken. 5.1.1 Kooperation im Rahmen des Gewaltschutzgesetzes

Diese Art der Kooperation beinhaltet kooperationsverpflichtende Gesetzesregelungen, die staatliche Einrichtungen zur Kooperation verpflichtet. Ausgestattet mit klar definierten Kommunikationsstrukturen, die einen reibungslosen Ablauf zur Erhöhung der Sicherheit für Betroffene gewährleisten, können die beteiligten Organisationen miteinander Kontakt aufnehmen. Diese kommunikativen Rahmen sind verankert in Gesetzen und internen Erlässen. »Verbindlichkeiten können wir nur dann eingehen, wenn das gesetzlich geregelt ist. Das ist unsere Vorgabe vom Gesetzgeber her, das heißt, unser Einschreiten muss gesetzlich geregelt sein oder mit einem Auftrag, der auf einem Gesetz, einer Verordnung beruht« (IP7, S. 8). Die Zusammenarbeit der einzelnen Behörden und Institutionen ist als besonderes Merkmal zur Vollziehung des Gewaltschutzgesetzes hervorzuheben. »Das Gewaltschutzgesetz drängt ja förmlich die Zusammenarbeit auf, geht ja nicht anders. Also, das ist ein in sich verschränktes Zusammenwirken verschiedenster Aufgaben, die koordiniert werden müssen, und das ist einmal wichtig, dass man das bei Inkrafttreten eines Gesetzes einmal gut organisiert und sich dann auch regelmäßig austauscht. Wobei natürlich jetzt die Themen weniger werden, das ist klar, das läuft« (IP5, S. 2). Hierin zeigt sich, dass das ursprünglich aufwendige »Absprachenmanagement« Früchte trägt und dass die eingeschlagenen Kommunikationskanäle eine akzeptierte Praxisrelevanz erreicht haben. Dadurch wird der Aufwand für die interorganisatorische Kommunikation verringert und zielorientierte Kommunikation vereinfacht. Die dafür geschaffenen gesetzlichen Grundlagen unterstützen diese Vorgehensweise derart, dass eine wesentlich höhere Anzahl von Gewaltopfern seit Inkrafttreten des Gesetzes unterstützt werden konnte.

Gewaltschutzarbeit als eine organisationsübergreifende Aufgabe

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Abbildung 1  : Fallzahlenstatistik der Gewaltschutzzentren und der Interventionsstelle Wien seit Bestehen des Gewaltschutzgesetzes (eigene Zusammenstellung) 19 9 9

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2003

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2 0 10

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B

19 9 7

19 9 8

49

204

254

287

330

368

370

428

451

521

566

532

648

V

50

210

295

321

394

443

454

432

513

612

876

616

713

K

2001 2002

64

285

255

336

383

416

480

486

525

646

690

614

717

T

138

264

269

311

342

338

624

813

726

999

1088

1281

1192

1092

S

215

322

420

441

495

531

668

702

818

840

998

1190

1006

1011

71

471

511

652

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676

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908

1137

1360

1421

1588

1924

90

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412

478

633

671

775

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1067

1252

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1568

1719

295

486

726

682

936

1001

1259

1336

1508

1695

1713

1808

1950

2116

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658

1166

1622

2477

3656

3687

3941

4775

5758

5633

5998

5914

5575

1157

2347

4163

4849

6479

7942

8916

9773

11148

13170

14059

15467

NÖ OÖ ST

179

W ∑

179

14983 15515

 

Die Polizei als eine Akteurin im Kooperationsnetz kann durch die neu geschaffenen Handlungspotenziale ihren Aufgabenbereich und ihr Handeln als den Beginn von komplementären und passgenau ausgerichteten Interventionen, die zur Erhöhung der Sicherheit für Gewaltopfer notwendig sind, erkennen. »Aber es muss dann eine Kette folgen, die eben das entsprechende Auffangbecken für die gefährdete Person darstellt, damit sie wirklich aus dem Teufelskreis herauskommt […]« (IP7, S. 10). Für eine klientInnenzentrierte Problemlösung bei familiärer Gewalt ist es notwendig, interinstitutionelle InteraktionspartnerInnen möglichst auf egalitärer Ebene anzusiedeln. Die Bedeutung nichtstaatlicher Einrichtungen wurde daher bereits im Ministerratsvortrag vom Juni 1994 hervorgehoben, in dem vorgeschlagen wurde, eine Stelle mit der Beratung von Frauen und der Koordination von Hilfsmaßnahmen zu betrauen  : »Mit der Beratung und Unterstützung der Frau sowie mit der Koordination der sozialen und rechtlichen Hilfsmaßnahmen sollte eine Stelle betraut werden, die über Erfahrungen in der Arbeit mit Opfern verfügt und die betroffene Frau dabei unterstützen kann, rechtliche Schritte zu unternehmen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich betroffene Frauen oft weniger scheuen, Beratung und Unterstützung in Anspruch zu nehmen, wenn diese von einer privaten Einrichtung angeboten werden. Eine weitere wichtige Aufgabe dieser Stelle könnte darin bestehen, auf eine enge Zusammenarbeit der mit den Problemen der Gewalt gegen Frauen befassten Institutionen hinzuwirken« (Bundesministerium für Frauenangelegenheiten  ; Bundesministerium für

Marina Sorgo

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Inneres  ; Bundesministerium für Justiz  ; Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie, 1994, S. 9). Bei der ersten Evaluierung des Gewaltschutzgesetzes wird ein wesentliches Novum darin gesehen, dass das Gesetz die Kooperation von AkteurInnen aus den verschiedensten Bereichen vorsieht und mit den Gewaltschutzzentren und der Wiener Interventionsstelle auch nichtstaatliche Einrichtungen in die Zusammenarbeit mit staatlichen Einrichtungen eingebunden werden (vgl. Haller & Liegl, 2000, S. 232). 5.1.2 Kooperation im Rahmen der Prozessbegleitung

Im Rahmen der Prozessbegleitung gibt es eine einseitige strukturierte Kooperationsschiene vonseiten der nichtstaatlichen Einrichtungen mit den Strafgerichten  ; umgekehrt gibt es von den Strafgerichten mit den Prozessbegleitungseinrichtungen eine lose Kooperation. Kooperation als solche wird im Rahmen der Prozessbegleitung vom Strafgericht dezidiert nicht wahrgenommen, vonseiten der nichtstaatlichen Einrichtungen aber besonders betont. Diesbezüglich wird eine Diskrepanz zwischen der Notwendigkeit der Kooperation seitens der Strafjustiz und der Prozessbegleitungseinrichtungen bemerkbar. Der Interviewpartner nimmt weiterhin wahr, dass es eine »einseitige Kooperation« aufgrund interner Regelungen gibt  : »Also, die machen es sicher aufgrund ihrer eigenen Verträge, die sie da haben« (IP3, S. 2). Grund dieser einseitigen Kooperation kann die fehlende »aus Verhandlungen hervorgegangene formelle oder informelle, jedenfalls bindende Vereinbarung« (Schimanke, 2002, S.  31), die mit VertreterInnen der Strafgerichte nicht erarbeitet wurde, sein. Oder sie lässt sich mit der Unabhängigkeit der Gerichte in Verbindung bringen. Für einen Prozessbegleiter/eine Prozessbegleiterin ist es meist erforderlich, bereits vor der Verhandlung Kontakt mit dem Richter/der Richterin aufzunehmen. Dies geschieht mit dem Ziel, das Opfer so schonend wie möglich während des Zeitraumes bis zur abgeschlossenen Strafverhandlung zu begleiten. Für die RichterInnen kann es, muss es aber nicht, von Vorteil sein, von einer geplanten Prozessbegleitung zu erfahren. Anzumerken ist, dass die Strafjustiz nicht in das Gewaltschutzgesetz eingebunden wurde und hinsichtlich der Prozessbegleitung auch keinen festgehaltenen Kooperationsregelungen unterliegt. Diese Vereinbarungen werden juristisch unterschiedlich interpretiert und angewandt. Die Zusammenarbeit umfasst die Anerkennung der Begleitung durch psychosoziale sowie juristische ProzessbegleiterInnen und die Kostenübertragung an den Verurteilten/die Verurteilte. Diese Regelungen drücken sich auch dahin gehend aus, dass die Opferschutzeinrichtung der Prozessbegleitung auf dem Aktendeckel zu vermerken ist. Hier kommt zum Ausdruck, dass keine Kooperation vorgeschrieben wird, sie daher auch nicht Bestandteil eines Regelablaufes ist oder als

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Unterstützung für die Justiz wahrgenommen wird. Dessen ungeachtet gibt es aber zur Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit vonseiten der Oberlandesgerichte seit 2009 die Möglichkeit für RichteramtsanwärterInnen ein Praktikum in einer Opferschutzeinrichtung zu absolvieren. 5.2 Kooperationsnetzwerke

Netzwerktreffen haben eine große Bedeutung in der Gewaltschutzarbeit. Die beteiligten Personen haben spezifisch entwickelte Ressourcen und Fähigkeiten sowie ein Fachwissen und persönliche Erfahrungen, die sie aus den stattgefundenen Netzwerktreffen herausgefiltert haben. Der Austausch über die Kooperation ist erforderlich, um die vorgegebenen Regelungen zu gestalten, zu koordinieren und um Aufgaben, Grenzen und Ziele zu klären. »[…] Es gibt schon mit verschiedenen Gruppen mehr oder weniger ausgeprägte Vernetzungstreffen. Und da wird versucht gewisse Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit abzuklären« (IP4, S. 5). Durch Kooperationsnetzwerke entsteht wichtiges interinstitutionelles Know-how, das der Problemlösung im Einzelfall dienen kann. Sie sind als ein Steuerungselement von Beziehungen zwischen Organisationen zu sehen. Dabei richtet sich der Blick auf die soziale Beziehung und nicht auf das Verhalten Einzelner. »[…] Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass man sich persönlich kennt. Wenn man sich kennt, tut man sich auch leichter, wenn man zum Telefon greift, wenn man sich bei Besprechungen trifft, wenn man einfach weiß, wer da an der anderen Leitung sitzt. Das vereinfacht sehr viel« (IP1, S. 5). Die zur Sprache gekommene »strategische Netzwerkbeziehung«, die aufgrund eines verwaltungsinternen Erlasses12 eingerichtet wurde, formiert sich in den sogenannten »Vernetzungstreffen«. Dabei veranstalten Bezirks- oder Stadtpolizeikommanden einmal jährlich eine Tagung zum Thema »Erfahrungen mit dem Gewaltschutzgesetz«. VertreterInnen der Exekutive, der Jugendwohlfahrtsbehörde, der Bezirksgerichte, der Schulbehörde und ansässiger Hilfseinrichtungen sowie die Gewaltschutzzentren werden dazu eingeladen. Ziel dieser Tagung ist es, Probleme beim Vollzug des Gewaltschutzgesetzes zu diskutieren und Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten. Weiter dient die Regionaltagung der Fortschreibung der Vernetzung sämtlicher Behörden und Einrichtungen, die im jeweiligen Bezirk oder der jeweiligen Stadt mit der Thematik der familiären Gewalt befasst sind (vgl. Gewaltschutzzentrum Steiermark, 2011  : S. 31). Diese Form der Netzwerkbildung zeigt eine starke Orientierung an territorialen Notwendigkeiten. 12 Erlass des Bundeskriminalamtes vom 22.9.2010 (GZ.: BMI-EE1500/0107-II/2/a/2010).

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Ein weiterer Erlass des Bundesministeriums für Justiz13 regelt zur Effektuierung des Opferschutzes die Vernetzung aller beruflich mit Opfern von Straftaten konfrontierten Personen und Stellen einer Region. Die Durchführung von sogenannten runden Tischen obliegt den Landesgerichten. Durch die Einrichtung sollen ein multiprofessioneller Austausch in der Opferarbeit und das gegenseitige Kennenlernen der Beteiligten erreicht werden. 5.3 Informelle Kooperationsformen

Wie die InterviewpartnerInnen zur alltäglichen Kooperation darlegten, kann es für sie ohne informelle Kooperation im Gewaltschutzbereich keine effektive Unterstützung für Betroffene geben. Verbindlichkeiten zusätzlich zu den gesetzlichen Regelungen einzugehen ist jedoch für staatliche Organisationen sehr schwer. Sie können dies nur dann, wenn solche Verbindlichkeiten gesetzlich geregelt werden oder zumindest auf einer Verordnung beruhen. Diesbezüglich wird vonseiten der Polizei der Begriff »Unterstützung« verwendet, die außerhalb der gesetzlichen Rahmenbestimmungen angeboten werden kann, soweit es die Ressourcen ermöglichen. Auch beim Zivilgericht gibt es informelle Handhabungen ungeregelter Abläufe. Sie spielen in der Praxis für Interventionsmöglichkeiten auf personenbezogener Ebene eine Rolle, sie werden als »Dinge, die nicht so im Gesetz stehen, die man aber macht, im Sinne eines reibungslosen Ablaufes« (IP5, S. 3), gehandhabt. In einer solchen Situation besteht kein Grund für eine Intervention, doch belegt die Interviewpassage das Prinzip des sinnverarbeitenden und darauf reagierenden Handelns. Informelles kooperatives Verhalten ergibt sich aus engen persönlichen Beziehungen in der alltäglichen Arbeit und ist meist mit gemeinsamen langjährigen Erfahrungen verbunden. Zudem ist das persönliche Kennen der AnsprechpartnerInnen in anderen Organisationen bedeutsam, es erleichtere die Bereitschaft, Kooperationsbeziehungen einzugehen, die Ausgestaltung und Produktivität von Kooperation sowie ein positives Ergebnis. »[…] es ist halt manches Mal einfacher, wenn man die Leute gut kennt, wenn man weiß, wer dort ist, und dann ruft man an, und es geht manches einfacher, als wenn man den offiziellen Weg gehen würde« (IP2, S. 9). »Und dass man sich kennt, erleichtert die Kooperation. Diese ganzen persönlichen Bekanntschaften, das ist einfach menschlich« (IP7, S. 14). »Es ist einfach für den Opferschutz ganz, ganz wichtig. Der Opferschutz hat einfach Vorrang vor institutionellen Grenzen. Ich glaub, das kann man so am besten sagen. Um das Opfer zu schützen, können wir nicht sagen  : ›Und jetzt ist da Pause, 13 Erlass des Bundesministeriums für Justiz vom 13.1.2009 (GZ.: BMJ-A306.200/0031-III 4/2008).

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und wir sagen der nächsten Institution nichts.‹ Das ist wichtig, dass man das macht« (IP1, S. 3). Zwar sieht sich der interviewte Vertreter des Strafgerichts offenbar  – aufgrund seiner Rolle bzw. seines Funktionsverständnisses  – mit Kooperationen nicht befasst, doch misst er andererseits der informellen Kooperation eine große Bedeutung bei. »[…] und da werden eben Probleme besprochen. Das ist informell, aber natürlich sehr nützlich« (IP3, S. 4). Der informellen Kooperation wird vom Strafgericht ein Nutzen zugeschrieben, sie wird als hilfreiche Unterstützungsform zur Bewältigung von beruflichen Alltagssituationen erlebt. »Ich würde gerne im Vorfeld schon erfahren, vor der Verhandlung gerne wissen, dass das Opfer begleitet wird. Das kann nur von dieser Organisation ausgehen, weil ja das Opfer mit diesem Kontakt aufnimmt. Und sobald ein Kontakt hergestellt wird, wäre es gut, einfach bloß informiert zu werden, dass man da tätig ist. Dann kann man auch diese Stelle informieren, wenn eine Verhandlung stattfindet« (IP3, S. 7). Das Strafgericht als Partner verdeutlicht hiermit sein Kooperationsangebot zur informellen Kooperation, es ist offenbar in den Anforderungen und Problemstellungen begründet, die in hohem Maße situationsabhängig und kontextgebunden sind, und es wird daher vor allem in der Einzelfallarbeit genutzt. Kooperationsförderlich sind zudem gemeinsame Schulungsveranstaltungen. »Unsere Leute [vom Strafgericht] haben es wesentlich leichter durch die Schulung. Sie erhalten einen ganz klaren Einblick, was das Gewaltschutzzentrum macht. […]« (IP7, S.  18). Wissen um andere Organisationen im Kooperationsnetzwerk macht Organisationen in den Handlungen kalkulierbarer, führt zu mehr Handlungssicherheit und stellt einen interorganisatorischen Vertrauensaufbau dar. Ängste und Vorurteile werden abgebaut, Kontakte für die weitere Zusammenarbeit geknüpft. Kooperatives informelles Handeln ist im Unterstützungs- und Hilfeprozess zur Bewältigung von Störungen notwendig und führt zu schnelleren Problemlösungen – dass dadurch ungünstige Folgeeffekte der Gefährdungen möglichst verhindert werden können, ist evident. »Daten geben wir nicht weiter in dem Sinn, aber was ich zum Beispiel sehr oft mache, das kann man sicher auch als informell sehen, wenn Frauen bei mir sitzen, die sehr dringend Hilfe brauchen, das habe ich sehr oft, dass ich sofort selber anrufe und die Damen sehr schnell einen Termin bekommen. Damit der Mann nicht gleich wieder vor der Türe steht, da oft eine sehr große Gefahr von ihm ausgeht, vom Mann« (IP1, S. 6).

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288 6. Grenzen und Problembereiche der Kooperation

Informelle Kooperation hat Grenzen, so erleben und sehen es die Interviewten eindeutig. Bei den AkteurInnen der staatlichen Einrichtungen ist sie dort limitiert, wenn »… alles, was gegen das Amtsgeheimnis verstößt, oder gegen das Datenschutzgesetz, was dem widersprechen würde« (IP1, S. 5). Bei den nichtstaatlichen Einrichtungen wird ohne die Zustimmung der Klientin bzw. des Klienten keine Information an andere Personen oder Einrichtungen weitergegeben. »Dass auf informeller Ebene manches gesagt wird, ist klar, aber man muss da sehr aufpassen. Verletzung des Amtsgeheimnisses ist für einen Polizeibeamten keine Kleinigkeit, und sehr wichtig ist der Datenschutz, der verfassungsrechtlich verankert ist. Datenschutz in Österreich wird extrem hoch geschrieben« (IP7, S. 14). »In der Regel ist es, dass wir zu Verschwiegenheit verpflichtet sind, das ist ein relativ starkes Prinzip, das wir auch versuchen nicht zu brechen. Das heißt, wir müssen uns im Einzelfall immer vergewissern oder absichern mit der betroffenen Frau. Das heißt, dass wir auch die Ermächtigung, Erlaubnis, wie auch immer, dazu einholen […], ich würde sagen es ist Standard, dass man nicht über oder über Belange von einer Klientin von uns mit jemandem redet, auch wenn er noch so nahe ist als Kooperationspartner. […] Das wird, glaube ich, durchgehend sehr stringent gehandhabt« (IP6, S. 9). Besonders hervorzuheben ist die Unterscheidung der informellen Kooperation mit Seilschaften oder sogenannten »Freunderlwirtschaften«. Diese dienen nicht dem Opferschutz und würden die Grenzen der Kooperation überschreiten. »Ich sage es einmal umgekehrt  : Kooperationen dürfen sich nicht aufgrund unseres Berufsauftrages in irgendeiner Entscheidung im Einzelfall auswirken. Da können wir uns noch so gut kennen und noch so viel kooperieren, wenn ich der Meinung bin, eine einstweilige Verfügung ist nicht zu erlassen, erlasse ich sie nicht. […] Egal, mit wem ich irgendwelche Kooperationen eingehe, die können mich nicht daran hindern, trotzdem das Verfahren objektiv zu führen« (IP5, S. 4). Einer der vorrangigsten Kritikpunkte, der in den Erhebungen vorgebracht wird, betrifft die Kooperation mit der Jugendwohlfahrt und dem Strafgericht, die viel zu gering ausfällt und kaum gestaltet ist. Diese Kooperationen sind notwendig, um einerseits gesetzlich vorgegebene Kooperationshandlungen in eine fließende Kooperationsschiene umwandeln zu können, andererseits um das Netz der Sicherheit noch enger zu knüpfen und Angebote untereinander abstimmen zu können. Konkret kritisiert wird beispielsweise, dass kein Austausch über notwendige Fallinformationen zwischen der Polizei und der Jugendwohlfahrtsbehörde erfolgt. »Und beim Jugendamt reißt das natürlich ab, und man weiß natürlich nicht, was ist wirklich mit dem Kind da gemacht worden, kommt es jetzt von zu Hause weg, wird es

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woanders untergebracht, kommt es ins Heim, kommt es zu den Großeltern  ? Das ist alles weg, da weiß man nichts« (IP7, S. 19). »Das Jugendamt weiß schon, dass, wenn es um massive Probleme geht, nur durch unsere Zusammenarbeit gewisse Dinge für sie lösbar werden. Das heißt, sie brauchen Informationen von uns, über gewisse Problemstellungen, sie können von sich aus nicht alle Probleme erkennen und auch nicht auf den Hintergrund kommen, das ist klar« (IP7, S. 7). Die Kooperation wird als zu schwach empfunden. Auch wenn es gesetzliche Vorgaben gibt, fehlt die konkrete Umsetzung in Form von informeller Kooperation. »Ja, da ist noch einiges zu tun, aber das ist dadurch, weil es nicht so permanent ist. Beim Gewaltschutzzentrum findet das auf einer klaren geregelten Ebene statt« (IP7, S. 18). Aus Sicht des Vertreters des Zivilgerichts wäre eine strukturierte interorganisationale Kooperation besonders dort nötig, wo Belange das Zivilgericht und die Jugendwohlfahrtsbehörde betreffen. »Das Jugendamt ist eine spannende Geschichte im Zusammenhang mit Gewalt gegen Kinder, Gewaltschutz EV, im Zusammenhang damit, was dürfen die Jugendwohlfahrtsträger im Rahmen des Entzuges der Obsorge, welche Untersuchungsmöglichkeiten haben sie, wann wird das Gericht benötigt, was dürfen wir, und was dürfen wir vielleicht nicht, was die Jugendwohlfahrtsträger dürfen. Im Bereich der Unterhaltsvereinbarungen und Durchsetzungen und wie werden Unterhaltsvergleiche bei Jugendwohlfahrtsträgern protokolliert, und […] was sollte in einem Vergleich stehen, damit man ihn problemlos weiterbearbeiten kann bei Gericht  ? Und ob wir uns nicht koordinieren und ein mehr oder weniger aufwendiges Ermittlungsverfahren einleiten müssen oder ein Beweisverfahren  ? Und um überhaupt zu klären, ob der Vergleich jetzt in Ordnung ist für das Kind. Das sind für mich alles Koordinationsfragen, die aber nichts mit dem Einzelfall zu tun haben. […] Da gibt es x-Themen« (IP5, S. 7). Ausschlaggebend für diesen Umstand und hinderlich für eine strukturierte und dauerhaft angelegte Kooperation scheint eine gewisse gegenseitige Fremdheit der Organisationen (Zivilgerichte, Exekutive und Jugendwohlfahrtsbehörde) zu sein. »Die sind den Umgang mit der Polizei nicht so gewohnt. […] Das Jugendamt ist schwierig« (IP7, S. 17 ff.). Das defizitäre Verständnis für die Sichtweise der anderen Berufsgruppe und der jeweiligen Organisationseinheit schränkt die Wertschätzung und nutzbare Umsetzung von professionellem Handeln in der konkreten Alltagsarbeit ein. Betreffend die Kooperation mit den Jugendwohlfahrtsbehörden wird weiter kritisch bemerkt, dass das Gewaltschutzgesetz nicht angewendet wird. Dabei kann dargestellt werden, dass es unterschiedliche Handlungstheorien im Umgang mit häuslicher Gewalt gibt. Eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Inneres macht dies evident. »Leider machen die Jugendämter von der mit dem Gewaltschutzgesetz ge-

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schaffenen Möglichkeit der Antragstellung kaum Gebrauch« (Dearing, 2005, S. 65). Im folgenden Zitat wird die Komplexität umrissen, deren Bearbeitung und Einschränkung eine Vorbedingung für eine gelungene Kooperation ist. »Aber insoweit ist die Materie, mit der sich ein Jugendamt beschäftigen muss, natürlich schwieriger. Man muss schon sagen, vom Ziel her ist das zwar klar, aber vom Weg her noch viel schwieriger als wie beim Gewaltschutzzentrum« (IP7, S. 19). Die Problemvielfalt der Funktion der Jugendwohlfahrtsbehörde wird von den KooperationspartnerInnen also durchaus wahrgenommen. Bedauerlich für die vorliegende qualitative Studie ist zu diesem Punkt, dass keine Vertreterin bzw. kein Vertreter der Jugendwohlfahrtsbehörde für ein Interview zu gewinnen war. Wie die erste Evaluierung des Gewaltschutzgesetzes zeigt, dürfte erstens durchaus von einer Kooperationsbereitschaft und davon auszugehen sein, dass in der Jugendwohlfahrtsbehörde Beschäftigte die Notwendigkeit von Kooperation erkennen. Zweitens scheint es hierzu innerhalb der Organisation der Jugendwohlfahrtsbehörde unterschiedliche Auffassungen zu geben. »Besonders Sozialarbeiterinnen auf den Jugendämtern kritisierten, daß Informationen von Polizei und Justiz nicht immer an sie weitergegeben würden, und wünschten sich eine engere Kooperation. Ein solcher gegenseitiger Austausch scheint vor allem ein Bedürfnis von direkt mit der Fallarbeit betroffenen Personen zu sein, weniger eines der Leitungsebene« (Haller & Liegl, 2000, S. 258). Der gegenseitige Wunsch der Jugendwohlfahrtsbehörde sowie der Polizei nach mehr Austausch und Information lässt annehmen, dass die Voraussetzung für eine spannungsfreie Kooperation in noch nicht ausreichender Form erarbeitet werden konnte. Als nicht gerade vertrauensbildende Maßnahme wird mitunter auch die historische Tatsache zu sehen sein, dass die Jugendwohlfahrtsbehörde bei der Gesetzesentstehung nicht eingebunden war (vgl. Haller & Liegl, 2000, S. 257). Aussagen des Interviewpartners des Strafgerichtes zeigen einerseits eine Unwissenheit über Kooperationsnetzwerke und die Notwendigkeit von Kooperationen, die sich eventuell mit der Gestaltung der Strafgerichtsbarkeit und den beruflichen Rahmenbedingungen einer Richterin bzw. eines Richters erklären lassen. Andererseits wird deutlich, wie sehr persönliche Einstellungen und das berufliche Selbstverständnis den Handlungsspielraum beeinflussen können. Die Unabhängigkeit einer Richterin bzw. eines Richters äußert sich in der Weisungsungebundenheit (sachliche Unabhängigkeit) und in ihrer Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit (persönliche Unabhängigkeit) (vgl. Bundesministerium für Justiz, S.  27). RichterInnen sehen sich aufgrund ihrer Weisungsungebundenheit offenbar weitgehend als EinzelarbeiterInnen und müssen im Gegensatz zu PolizeibeamtInnen auch an keinen verpflichtenden Schulungen und Fortbildungsveranstaltungen teilnehmen.

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»[…] Das ist bei den Richtern, die sind unabhängig und meinen  : ›Habe ich mein Leben noch nie gemacht und muss ich auch bis zur Pension nicht machen‹ oder so irgendwie, die sind viel, viel schwieriger zu handlen, die Richter« (IP2, S. 9). »Bei der Justiz, da kommen diese Grundsätze diese Unabhängigkeit der Gerichte durch. Die Personen, die sind so für sich, für die ist es ein hoher Wert, sich möglichst abzugrenzen, und die Zusammenarbeit ist nur dort wirklich von Wert und Bedeutung und wird gesucht, wo sie für die eigene Arbeit wichtig ist. […] Da habe ich so den Eindruck, das ist die schwierigere Berufsgruppe« (IP6, S. 9). Im Sinne der Kooperation würde das bedeuten, dass RichterInnen eine Kooperation als Bedrängnis für ihre Unabhängigkeit wahrnehmen könnten und darin die Notwendigkeit begründet sehen, nicht zu kooperieren. Anscheinend kann Kooperation daher nur in loser Form bestehen. Infolgedessen ergeben sich für die Praxis neue Fragen bezogen auf eine lose Kooperation mit den Strafgerichten. Das Verständnis für die unterschiedlichen Hintergründe kann durch regelmäßigen Austausch zwischen den Organisationen gefördert werden. »Ja, da würde ich schon sagen, dass da noch sehr viel an Kooperationsbedarf besteht, also auch quasi als Bringschuld von der Justiz. Nicht, dass wir immer nur anklopfen und sagen, das gehört so und so verbessert von der Justiz her. […] Da wissen, habe ich den Eindruck, im Bereich der Bewusstseinsbildung oder Sensibilisierung, Richter und Richterinnen sehr wenig in der Regel über Hintergründe. Die bräuchten einfach die Vermittlung von Information. Das fängt schon in der Ausbildung an. Einfach auch das Wissen über […] Opfer, sei es über Traumatisierungen, sei es über die Gewaltdynamik, die Gewaltspirale, die sind ihnen einfach kein Begriff. Verschiedenes, wo man eigentlich denkt, das ist Alltagswissen. Die Justiz erkennt nicht, und es wird vor allem auch nicht zu erkennen versucht« (IP6, S. 13). 7. Auswirkungen und Bewertung der Kooperation Die Auswirkungen der Kooperation von staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen werden in der Fachpraxis in erster Linie durchgehend als Nutzen für die Opfer häuslicher Gewalt dargestellt. Opfer häuslicher Gewalt erhalten durch einen geregelten, strukturierten Ablauf der Sicherheits- und Unterstützungsangebote Klarheit über die komplexen und für NichtexpertInnen oftmals undurchsichtigen Vorgänge innerhalb eines Betreuungsprozesses. »[…] man kann die Beratung auch dahin gehend ausrichten, dass man sagt  : ›Es gibt den und den und den Weg‹, und wenn sie den gehen will, dann ist das und das zu erwarten, der Antrag ist zu übermitteln, die Richterin schaut sich den an, und in der Regel kommt es in ein paar Tagen zur Einvernahme, das weiß man dann. Es sind

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eigentlich relativ viele eingespielte Routinen, die man auch vermitteln kann, das ist da konkret so und so zu erwarten. Das wirkt sich aus, das gibt einfach eine gewisse Sicherheit, als wie wenn man sagen muss  : ›Keine Ahnung, was da jetzt da passieren wird.‹ […]« (IP6, S. 12 f.). Den Klientinnen und Klienten wird so vermittelt, dass alle Berufsgruppen im Sinne der Unterstützung für Gewaltopfer an einem Strang ziehen, und infolgedessen wird ein gemeinsames Unrechtsverständnis gegen Gewalt im häuslichen Bereich demonstriert. Diese Haltung stärkt in Folge gewaltbetroffene Personen. »Das Opfer wird wahrgenommen, sehr wahrgenommen, gerade auch von den Rechtsanwälten. Das ist eine sehr positive Veränderung« (IP1, S. 9). Gerichtsverläufe können durch gute Vorbereitung und insbesondere durch Beratung und Betreuung für die Opfer meist schon vorher abwägbarer werden. Dadurch werden Opfer in ihrer Rolle und in ihren Rechten gestärkt, sie erhalten die Möglichkeit, mündige Entscheidungen zu treffen. »[…] sicher von Vorteil ist, wenn es sich an eine Stelle wenden kann, von der sie aufgeklärt wird. Was wird jetzt im Verfahren auf sie zukommen, welche Möglichkeiten hat sie, auch ihre Ansprüche geltend zu machen  ? Also, das ist sicher von Vorteil. Sie wird zwar in der Verhandlung vom Richter entsprechend aufgeklärt, aber erstens wahrscheinlich verkürzt, und zweitens ist es immer besser, wenn sich das Opfer vorbereiten kann« (IP3, S. 6). Die Kooperationsregelungen erleichtern die konkrete Arbeit der AkteurInnen im Gewaltschutzbereich. Die Polizei fühlt sich entlastet und betont, »mit der [Einrichtung] sind wir in ganz enger Kooperation. Das erleichtert für unsere Beamten draußen wesentlich die Arbeit. Also, mit dem Gewaltschutzzentrum selber ist es unproblematisch« (IP7, S. 17). »Da kommt auch eine Rückmeldung, da weiß man, was jetzt passiert« (IP7, S. 18). Auch vonseiten der Zivilgerichte wird geregelte Kooperation als Erleichterung angesehen. Für den Strafrichter gibt es keinerlei Auswirkungen der Kooperation für die eigene Berufsgruppe zu spüren. Jedoch schätzt er die Zusammenarbeit mit Einschränkungen als »gut« ein. »Mit gut nur deshalb, weil es verschiedene Opferschutzeinrichtungen gibt, die mit uns vor der Verhandlung keinen Kontakt aufnehmen. Ich weiß oft nicht bei Beginn der Verhandlung, dass das Opfer bereits vertreten ist, das heißt Prozessbegleitung hat oder nicht. Ich vermisse da rechtzeitigen Kontakt« (IP3, S. 5). Kooperation wird als zweckmäßig bewertet, als »absolut unerlässlich, also das ist absolut notwendig« (IP2, S. 9). »Also, ich finde, das wird absolut positiv gesehen« (IP7, S. 8). Zusammengefasst werden kann, dass der Zweck der Kooperation allen Beteiligten klar und die Implementierung des Gesetzes gelungen ist.

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»Ich glaube, dass das sehr gut geglückt ist und von der Umsetzung gut geplant war. Da kann man nur sagen ›Hut ab‹. Ich bin im Trainerbereich dazugekommen, da wurde aber vorher schon sehr viel gemacht, und das war wirklich, meiner Meinung nach, ein Vorzeigebeispiel für gute Koordination« (IP5, S. 9). Kooperation wird speziell dann positiv erlebt und bewertet, wenn Übereinstimmungen zwischen den beteiligten Organisationen Verständigungs- und Kooperationsprozesse ermöglichen bzw. erleichtern. Eine regelmäßige Reflexion dient zur Prüfung, ob die KooperationspartnerInnen noch gemeinsame Ansichten über Sinn und Zweck der Kooperation haben. »Die Zusammenarbeit in der Praxis funktioniert sehr gut. Es gibt einen entsprechenden Erfahrungsaustausch durch die Einladung zu gewissen Fortbildungsveranstaltungen, der halbjährlich stattfindet, wo der Horizont unserer Fachbeamten erweitert wird« (IP7, S. 15). Darüber hinaus wird die Kooperation auch dahin gehend beurteilt, dass sie beispielhaft auf andere Bereiche übertragen werden könnte. »Unbedingt notwendig  ! Sollte in viel mehr Bereichen gemacht werden. Ich mache es auch in verschiedenen Bereichen, wenn es auch der Klärung dient. Gerade auch die Verschränkung der Aufgaben der Polizei und des Gerichtes sind schwierig. […] Bei einer Kindesabnahme wirkt die Polizei auch mit, und dort sind die Aufgabenstellungen nicht ganz klar geregelt. Da gäbe es noch einige Beispiele, wo ich der Meinung bin, dass eine Koordination der Stellen im Sinne einer abstrakten Abklärung – Wer hat welche Aufgaben und Arbeit  ? –, der gegenseitigen Information – Was dürfen wir, und was dürfen wir nicht  ? Und was dürfen die anderen, und wie fügt sich das Ganze […] zu einem vernünftigen Zusammenspiel  ? – auf vielen Gebieten sehr wichtig wäre« (IP5, S. 7). »Die Zusammenarbeit ist enorm wichtig und ist mit Sicherheit auch in allen Bereichen ausbaubar und ausbaufähig. […] Es gibt sicher ganz viele Bereiche, wo sie mit Sicherheit weit stärker sein sollte. […]« (IP4, S. 11). 8. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Die Kooperation im Gewaltschutzbereich in Österreich weist in vielen Bereichen Modellcharakter auf sowie auf Fehler und Versäumnisse hin, die im Zuge der Entwicklung und Implementierung dieser Gesetzesprojekte für die Einrichtung und Gestaltung von Kooperationen in anderen Handlungsfeldern der Sozialarbeit von allgemeiner Bedeutung sein könnten. KooperationspartnerInnen im Bereich des Opferschutzes bei häuslicher Gewalt setzen sich aus der Exekutive, dem Zivilgericht, der Staatsanwaltschaft, dem Strafge-

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richt, der Jugendwohlfahrtsbehörde, den Frauenhäusern, den Prozessbegleitungseinrichtungen sowie den Gewaltschutzzentren und der Interventionsstelle Wien zusammen. Opferunterstützung betrifft einen Fachbereich und wird hier nicht untersucht. Die in den Kooperationsdimensionen vorgefundenen Verschiedenheiten verweisen vorwiegend auf unterschiedliche Beschaffenheit der interorganisatorischen Kooperation zwischen den einzelnen Organisationen. Hierzu ist in strukturierte, informelle und lose Kooperationsformen zu differenzieren. Strukturierte Kooperationsformen sind gesetzlich geregelte Kooperationen oder solche, die durch Verordnungen oder Erlässe festgelegt sind. Strukturierte Kooperation ermöglicht vor allem staatlichen Einrichtungen, wie z.B. der Polizei, die Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Einrichtungen. Die Gestaltung der strukturierten Kooperation hängt eng mit den innerorganisatorischen Strukturen der einzelnen Organisationen zusammen. So gestattet z.B. eine eindeutige Leitungsstruktur, dass angeordnete Zusammenarbeit auch von untersten Ranggruppen vollzogen werden muss. Im Zusammenhang mit strukturierter Kooperation ist die Bedeutung der Kooperation im Rahmen des Gewaltschutzgesetzes hervorzuheben. Sie wird als zielgerichtete und zweckorientierte Zusammenarbeit gesehen. Gesetzliche Kooperationsaufforderungen, Richtlinien und andere Kooperationsempfehlungen können bewirken, dass die Schwelle, sich auf Kooperationen einzulassen, sinkt. Diesbezüglich wird die klare Zielvereinbarung wiederholt als Kernstück der Entwicklung des Gewaltschutzgesetzes dargestellt. Zu Beginn wurden hiermit die Grundlagen zur Bewältigung der eigentlichen Kooperationsaufgaben geschaffen. Der Prozess der Angleichung von möglicherweise sehr stark voneinander abweichenden Vorstellungen kann mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein bzw. zu kooperationshemmenden Folgeeffekten führen. Sollen diese potenziell eingedämmt werden, so sollte allen beteiligten KooperationspartnerInnen bereits im Zuge der Entstehung des Normenwerkes ermöglicht werden, sich an der Erarbeitung des Projektes zu beteiligen, sodass schon in dieser Phase der Entwicklung Ziele und Zwecke der Zusammenarbeit ausgehandelt und abgestimmt werden können. Werden potenzielle KooperationspartnerInnen im Zuge der Festlegung der gesetzlich strukturierten Kooperation nicht einbezogen, ist es später nur sehr schwer möglich, dieses Manko wieder auszugleichen. So hat etwa die fehlgeschlagene Einbeziehung der Strafjustiz in das Gewaltschutzprojekt dazu geführt, dass sich diese erst mit der Einführung der Prozessbegleitung in das Kooperationsprojekt langsam integrieren. Diese Erkenntnisse könnten auch in Bezug auf die Beteiligung der Jugendwohlfahrtsbehörden gelten. Dabei ist jedoch zu bemerken, dass von Anfang an verabsäumt wurde, VertreterInnen dieser staatlichen Einrichtung in die Gestaltung der strukturierten Kooperation einzubeziehen.

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Als primäres, übereinstimmendes Ziel interorganisatorischer Kooperation wird der reibungslose Ablauf aller Maßnahmen zur Gewährleistung des Schutzes und der Sicherheit für Gewaltopfer genannt. Sekundäre Ziele sind eine ausreichende und bessere Versorgung für Opfer, die Nachvollziehbarkeit der Situation von Opfern für andere Berufsgruppen sowie das Forcieren einer gemeinsamen Öffentlichkeitsarbeit. Die Bewertungen zur Kooperation aus der untersuchten Praxis verweisen darauf, dass gesetzliche Vorgaben ein starkes Argument für Kooperation sind. Allerdings werden solche Vorgaben nur ein Teilstück zur Etablierung einer lebhaften Kooperation sein  : Sowohl Kooperationstheorie als auch Kooperationspraxis zeigen an, dass gesetzliche Regelungen oder Empfehlungen für Kooperationen förderliche, aber keine hinreichenden Bedingungen für eine effektive Kooperation sind. Voraussetzungen dafür sind die Schaffung von Lösungsansätzen für Steuerungsfragen sowie die Klärung von Macht- und Ressourcenfragen. Neben der Bewältigung von Komplexität und der Erhaltung der Wandlungs- und Lernfähigkeit (vgl. Müller-Jensch, 2003, S. 131), sind die Sicherung von Vertrauen und das Einhalten des Prinzips der Gegenseitigkeit (vgl. Axelrod, S. 106) eine der wichtigsten Maßnahmen zur Bewahrung und zum Gelingen von Kooperation. Wenn staatliche Einrichtungen mit nichtstaatlichen Einrichtungen auch ohne bestehende gesetzliche Grundlage informell kooperieren, dann aus der Notwendigkeit heraus, weil ganz offenkundig nicht alle relevanten Themen gesetzlich abgehandelt werden können und weil strukturierte Kooperation einen Raum des Austausches über Steuerungsprozesse benötigt. Dieser Austausch ist erforderlich, um die vorgegebenen Regelungen zu gestalten, zu koordinieren sowie Aufgaben, Grenzen und Ziele zu klären. Sie unterstützt die Implementierung der strukturierten Zusammenarbeit, fördert den für eine dauerhafte Kooperation notwendigen Vertrauensaufbau und deckt darüber hinaus Schnittstellenbereiche ab, die unstrukturiert sind. »Ihre Handlungen müssen sowohl an der Opfersicherheit orientiert als auch so organisiert sein, daß sie sich ergänzen und nicht etwa gegenseitig aushöhlen. Mit diesem Ziel vor Augen sollten die Entscheidungen und Aktionen der Handelnden von einem Katalog an Absprachen und Verfahrensweisen der Institutionen und Einrichtungen geleitet sein. Dieser Katalog wird als ›Best Practice‹ bezeichnet« (Pence & Mc Mahon, 1998, S. 162). Die Intensität der Zusammenarbeit auf informeller Ebene variiert stark, da sie u. a. von persönlich aufgebauten Kontakten und gemeinsamen Erfahrungen abhängt. Zu beobachten ist hierbei, dass das Berufs- und Standesbild, dem die betroffenen AkteurInnen zugeordnet werden können, eine Rolle zu spielen scheint. Darüber hinaus ist zu erkennen, dass Kooperation im Opferschutzbereich nicht automatisch mit einem Verlust von Autonomie einhergeht, sondern auch neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet.

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Kooperationszusammenhänge in der Opferschutzarbeit sind nicht nur von institutionenbezogenen, sondern auch von individuellen Voraussetzungen abhängig. Hierzu gehören persönliche Ressourcen, Lern- u. Kommunikationsfähigkeit, sonstige soziale Kompetenzen sowie Einsatz- und auch Kooperationsbereitschaft. Als Schlüsselfaktoren für die informelle Kooperation werden in der Praxis, gleichermaßen wie in der Theorie (vgl. Bolte & Borschen, 2006, S. 13), persönliche Kontakte und Beziehungen sowie die professionelle Einsicht in Kooperationserfordernisse angesehen. Außerdem kann es im fortgeschrittenen Kooperationsprozess sinnvoll sein, in gewissen zeitlichen Abständen den Stand der momentanen Arbeit mit den ursprünglichen Zielsetzungen zu vergleichen  – etwa durch Schulungen oder gemeinsame Vernetzungstreffen. Besonders erwähnenswert ist die Unterscheidung der informellen Kooperation von Seilschaften oder sogenannten »Freunderlwirtschaften«, wie sie von Bolte & Borschen (vgl. 2006, S.  80) beschrieben werden. Diese dienen nicht dem Opferschutz und würden die Grenzen der Kooperation überschreiten. Die Unterscheidung lässt sich dort feststellen, wo Fallverläufe durch Erbringen von freundschaftlichem, ev. auch grenzüberschreitendem Eingreifen des üblichen interorganisatorisch vereinbarten Verlaufs umgestaltet werden. Die Einmischung ist infolgedessen nicht mit fallspezifischen Besonderheiten, sondern mit dem Verschaffen von gut gemeinten Vorteilen zu erklären. Kooperation ist über den Gewalt- und Opferschutz hinaus in anderen Handlungsfeldern und institutionellen Leistungszusammenhängen ebenso wesentlich, auf die die Erkenntnisse der Studie hinsichtlich der Ausdifferenzierung strukturierter, informeller und loser Kooperation teils übertragen werden können. Mögliche Handlungsfelder, bei denen die Erkenntnisse in Bezug auf das Gewaltschutzgesetz Anwendung finden könnten, sind beispielsweise die Sachwalterschaft und die Flüchtlingsbetreuung. Für die einzelnen Organisationen und die Zielgruppen entstehen durch strukturierte Kooperation sowohl Nutzenaspekte als auch Kosten bzw. Aufwände. Dies könnte dann der Fall sein, wenn es notwendig oder zumindest sinnvoll erscheint, eine strukturierte Kooperation zu errichten, an der staatliche Einrichtungen beteiligt sein sollten und die dabei in hoheitlichen Angelegenheiten tätig werden müssen. Aufgrund der Bindung staatlicher Einrichtungen an das Legalitätsprinzip können diese selbst mit anderen staatlichen und im Besonderen mit nichtstaatlichen Einrichtungen nur dann zusammenarbeiten, wenn hierfür eine ausreichende Regelung durch Gesetze oder Verordnungen besteht. Dabei stellt sich eine möglichst präzise festgelegte Ausführung, wie die Kooperation zu erfolgen hat, und was sie inhaltlich umfasst, als Notwendigkeit heraus. Ein Verabsäumen dieser Regelungen kann auch durch verwaltungsinterne Erlässe nur mehr schwer ausgeglichen werden, zumal Erlässe nur or-

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ganisationsintern, nicht aber interorganisatorisch gelten. Weiter können durch eine möglichst präzise Festlegung der Zusammenarbeit bisher bestehende Grenzen und Hindernisse einer Kooperation, wie z.B. die Pflicht zur Wahrung des Datenschutzes, beseitigt oder eingeschränkt werden. Eine negative Folge von Kooperation wird in dieser Arbeit zwar nur wenig aufgezeigt, muss jedoch bei Kooperationskalkülen ins Feld geführt und kann als offener Diskussionspunkt betrachtet werden. Kooperation kann – für sich genommen – wertneutral betrachtet werden und bezeichnet nichts anderes als eine spezifische Arbeitsweise. Diese soll, so die Diskussion über Kooperation, im Interesse der gewaltbetroffenen Personen eingesetzt werden und helfen, die Qualität der Opferschutzarbeit zu verbessern. Aber Kooperationen unterliegen selbstredend ebenso den Eigeninteressen der beteiligten Personen und Organisationen, sodass Kooperation aus individuellen Interessenslagen heraus vernachlässigt oder gewählt wird, ohne dass dies den von Gewalt betroffenen und Schutz suchenden Menschen dienen würde. Diese Problemlage veranschaulicht sich darin  : »Wenn Reformbemühungen nur darauf ausgerichtet sind, das Vorgehen besser zu koordinieren, anstatt mehr Sicherheitsüberlegungen in die Abläufe einzubauen, dann kann das den Opfern sogar mehr schaden als das alte Vorgehen.« (Pence & McDonnel, 1999, S. 41, zit. n. Fachstelle für Gleichstellung Stadt Zürich et al., 2007, S. 133) Unterscheiden sich nun Eigeninteresse der Kooperierenden und das Interesse der gewaltbetroffenen Personen erheblich, dann können durch Kooperationen aus der Sicht der Betroffenen dysfunkionale Problembearbeitungen aufrechterhalten oder sogar gefestigt werden. Daher wäre eine fortwährende Überprüfung der Kooperationsziele zweckmäßig. Diesbezüglich ergeben sich viele Herausforderungen und Besonderheiten, die Robyn Holder, Pionier der Interventionsarbeit im Rahmen häuslicher Gewalt aus England, folgendermaßen beschreibt  : »Wer sich für die interinstitutionelle Zusammenarbeit im Bereich häuslicher Gewalt einsetzen will, braucht viel Herz, Mut und die Bereitschaft, sich Gefahren auszusetzen. In Gefahr geraten die eigenen Annahmen über andere Leute und Organisationen, die eigenen Vorstellungen von der Welt, und wie sie funktioniert, und das eigene Gefühl für Richtigkeit, Professionalität und Kompetenz. Allianzen einzugehen mit allen möglichen und unmöglichen Leuten und Institutionen ist ebenfalls gefährlich. Doch gerade in diesen ›unheiligen‹ Allianzen liegt das größte Potenzial« (Kelly, 2000, S. 76, zit. n. Fachstelle für Gleichstellung Stadt Zürich et al., 2007, S. 131).

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298 9. Literatur

Aktionsgemeinschaft der autonomen Frauenhäuser http://www.aoef.at/ (eingesehen am 20. 12. 2011) Axelrod, Robert (2005)  : Die Evolution der Kooperation. Oldenbourg  : Scientia Nova. Bolte, Annegret & Porschen, Stephanie (2006)  : Die Organisation des Informellen. Modelle zur Organisation von Kooperation im Arbeitsalltag. Wiesbaden  : Verlag für Sozialwissenschaften. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2004)  : Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Download der Kurz- und Langfassungen unter  : www.bmfsfj.de Stichwort Publikationen. Bundesministerium für Frauenangelegenheiten   ; Bundesministerium für Inneres   ; Bundesministerium für Justiz  ; Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie (1994)  : Gemeinsamer Vortrag an den Ministerrat betreffend Maßnahmen gegen Gewalt in der Familie. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript zum Antrag an die Bundesregierung. Wien. Bundesministerium für Justiz (2006)  : Die Österreichische Justiz. Institutionen – Organe – Leistungen. Wien  : Internetdokument. http://www.bmj.gv.at/_cms_upload/_ docs/broschuere_oesterr_justiz.pdf (eingesehen am 25. 6. 2007). Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen (Hg.). (2001)  : Gewalt in der Familie. Gewaltbericht 2001. Von der Enttabuisierung zur Professionalisierung. Wien  : Eigenverlag. Dearing, Albin (2005)  : Das österreichische Gewaltschutzgesetz als Einlösung der Rechte von Frauen auf Sicherheit in der Privatsphäre und auf Gerechtigkeit (S. 17– 196). In  : Albin Dearing & Birgitt Haller (Hg.). Schutz vor Gewalt in der Familie. Das österreichische Gewaltschutzgesetz. Juristische Schriftenreihe Band 210. Wien  : Verlag Österreich. Dearing, Albin (2006)  : Das Gewaltschutzgesetz  – die stecken gebliebene Reform in Österreich (S. 15–51). In  : Gewaltschutzzentrum Steiermark (Hg.). Liebe geht nicht mit Gewalt. Bewährtes und Neues zu Opferhilfe und Opferschutz. Graz  : Eigenverlag. Drobesch, Heinz (2004)  : Das Recht des Opfers und seiner Angehörigen auf Sicherheit (S. 105–137). In  : Dearing & Löschnig-Gspandl (Hg.). Opferrechte in Österreich. Eine Bestandsaufnahme. Schriftenreihe der Weißer Ring Forschungsgesellschaft. Wien  : Studien Verlag. Endres, Egon & Wehner, Thero (2003)  : Störungen zwischenbetrieblicher Kooperation  – Eine Fallstudie zum Grenzstellenmanagement in der Automobilindustrie

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(S.  215–260). In  : Jörg Sydow (Hg.). Management von Netzwerkorganisationen. Beiträge aus der »Managementforschung«. Wiesbaden  : Gabler Verlag. Endruweit, Günter (2004)  : Organisationssoziologie. Stuttgart  : Lucius & Lucius. Etzioni, Amitai (1967)  : Soziologie der Organisation. München  : Juventa. Fachstelle für Gleichstellung Stadt Zürich & Frauenklinik Maternité, Stadtspital Triemli Zürich & Verein Inselhof Triemli, Zürich (Hg.) (2007)  : Häusliche Gewalt erkennen und richtig reagieren. Handbuch für Medizin, Pflege und Beratung. Bern  : Verlag Hans Huber. Gewaltschutzzentrum Steiermark (2011)  : Tätigkeitsbericht 2010. Graz  : Eigenverlag. Gloor, Daniela & Meier, Hanna (2003)  : Gewaltbetroffene Männer-wissenschaftliche und gesellschaftlich-politische Einblicke in eine Debatte. Sonderdruck aus  : Die Praxis des Familienrechts, Heft 3/2003, Bern. Haller, Birgitt (2004)  : Die Situation der Gewaltopfer in Österreich (S. 19–29). In  : Dearing & Löschnig-Gspandl (Hrsg)  : Opferrechte in Österreich. Eine Bestandsaufnahme. Schriftenreihe der Weisser Ring Forschungsgesellschaft. Wien  : Studien Verlag. Haller, Birgitt & Liegl, Barbara (2000)  : Gewalt in der Familie. Eine Evaluierung der Umsetzung des österreichischen Gewaltschutzgesetzes (S 167–266). In  : Das österreichische Gewaltschutzgesetz. In  : Albin Dearing & Birgitt Haller (Hg.). Das österreichische Gewaltschutzgesetz. Juristische Schriftenreihe Band 163. Wien  : Verlag Österreich. Hartmann, Christian (2001)  : Lernen in Netzwerken (S. 13–25). In  : Christian Hartmann & Walter Schrittwieser (Hg.). Kooperation und Netzwerke. Grundlagen und konkrete Beispiele. Graz  : Mind Consult OEG. Jurtela, Silvia (2007)  : Häusliche Gewalt und Stalking. Die Reaktionsmöglichkeiten des österreichischen und deutschen Rechtssystems. Schriftenreihe der Weißer Ring Forschungsgesellschaft. Innsbruck  : Studien Verlag. Lamnek, Siegfried (2005)  : Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch. 4., vollständig überarbeitete Auflage. Basel  : Beltz Verlag. Mayer, Horst (2006)  : Interview und schriftliche Befragung. Entwicklung, Durchführung und Auswertung. 3., überarbeitete Auflage. München  : R. Oldenburg Verlag. Mayntz, Renate (1963)  : Soziologie der Organisation. Reinbek bei Hamburg  : Rowohlt. Müller-Jentsch, Walther (2003)  : Organisationssoziologie. Eine Einführung. Frankfurt am Main  : Campus Verlag. Österreichisches Institut für Familienforschung (2011)  : Gewalt in der Familie und im sozialen Umfeld. Österreichische Prävalenzstudie zur Gewalt an Frauen und Männern. Wien. Pence, Ellen & McMahon, Martha (1998)  : Das DAIP-Projekt in Duluth/USA

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(S. 155–175). In  : Anita Heiliger & Steffi Hoffmann (Hg.). Aktiv gegen Männergewalt. Kampagnen und Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen international. München  : Frauenoffensive. Schimank, Uwe (2002)  : Organisationen  : Akteurkonstellationen – korporative A ­ kteure – Sozialsysteme (S. 29–55). In  : Jutta Allmendinger & Thomas Hinz (Hg.). Organisationssoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Wiesbaden  : Westdeutscher Verlag. Sorgo, Marina (2007)  : Gewaltschutz braucht Kooperation. Die Bedeutung der Kooperation für das Handlungsfeld »Gewalt im häuslichen Bereich«. Diplomarbeit. Graz  : fh joanneum. Zentes, Joachim, Swoboda, Bernhard & Morschett, Dirk (2005). Kooperationen, Allianzen und Netzwerke  – Entwicklung der Forschung und Kurzabriss (S. 3–32). In  : Joachim Zentes, Bernhard Swoboda & Dirk Morschett (Hg.). Kooperationen, Allianzen und Netzwerke. 2. Auflage. Wiesbaden  : Gabler.

Autorinnen und Autoren

Sabine Hötzl, Mag.a (FH), Sozialarbeiterin. Nach mehrjähriger Praxis als Kindergartenpädagogin Ausbildung am Studiengang Sozialarbeit und Sozialmanagement der fh joanneum Graz. Sozialarbeit am Jugendamt der Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung. Seit 2009 Sozialarbeiterin im Gewaltschutzzentrum Steiermark. Regina Kaufmann, B.A., Sozialarbeiterin und Diplompädagogin. Ausbildung am Studiengang Sozialarbeit und Sozialmanagement der fh joanneum Graz. Sozial­ arbeit in einer Wohngemeinschaft im Auftrag der Jugendwohlfahrt. Seit 2010 Sozialarbeiterin im Gewaltschutzzentrum Steiermark. Rainer Loidl, FH-Prof. Mag.Dr. rer. soc. oec., Soziologe. Vier Jahre sozialpädagogische Arbeit mit Jugendlichen. Seit 2004 Fachhochschulprofessur am Studiengang Studiengang Sozialarbeit und Sozialmanagement der fh joanneum Graz. Inhaber und Geschäftsführer lquadrat Institut für Sozialforschung, Evaluation und Unternehmensberatung seit 1998. Forschungs- und Lehraufenthalte in Deutschland, Kalifornien, Irland, Polen, Bulgarien und Rumänien. Schwerpunkte  : Empirische Sozialforschung, Evaluationsforschung, Gewaltforschung, Lebensqualitätsforschung   ; Wirtschafts-, Management- und Organisationssoziologie, Sozialwirtschaft, Sozialpolitik, Leistungsmessung und Wirkungsforschung in sozialen Diensten. Anna Mokoru, Mag.a (FH), Sozialarbeiterin. Nach dem Studienabschluss an der fh joanneum in Graz psychosoziale Betreuung und sozialrechtliche Beratung in der mobilen Palliativarbeit. Seit 2009 sozialpädagogische Arbeit mit fremduntergebrachten Jugendlichen. Wilfried Nutz, Mag. (FH), Studium der Sozialarbeit. Tätigkeiten  : gfsg, Psychosoziales Zentrum Graz Ost, Beratungsstelle und mobile sozialpsychiatrische Betreuung sowie Männerberatung Graz, Clearingstelle für männliche Gewaltopfer. Andrea Schober, Mag.a (FH), Studium der Sozialarbeit mit Schwerpunkt Sozialmanagement an der fh joanneum. Zwei Jahre in der Integrationsbetreuung, seit

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Aurorinnen und Autoren

2010 als Integrationskoordinatorin in der Beratung von zugewanderten Menschen und im Projektmanagement tätig. Marina Sorgo, M.A., Master of Arts in Social Sciences, Diplomsozialarbeiterin, Supervisorin, Mediatorin, zwölf Jahre im Grazer Frauenhaus tätig, seit 1995 Geschäfts­führerin des Gewaltschutzzentrums Steiermark, seit 1994 Schulungstätigkeit im Rahmen der Aus- und Fortbildung von ExekutivbeamtInnen, RichterInnen und StaatsanwältInnen, seit 2003 Lehrauftrag an der fh joanneum für Sozialarbeit in Graz. Corinna Stark, Mag.a (FH), Sozialarbeiterin. Seit 2009 als Schulsozialarbeiterin bei isop tätig. Referentin für den Lehrgang zum/zur diplomierten JugendarbeiterIn nach stjwg bei der Familienakademie der Kinderfreunde Steiermark. Doktoratsstudium der Philosophie/Pädagogik seit 2010. Marianne Trinkl, Mag.a (FH), Kindergarten- und Hortpädagogin, Sozialarbeiterin. Vier Jahre Arbeit als Kindergartenpädagogin, zwei Jahre sozialpädagogische Arbeit mit Jugendlichen und Menschen mit Behinderungen. Seit 2010 Familienberaterin im Rahmen der Familienintensivbegleitung im SOS-Kinderdorf Stübing.

PETER PANTUČEK

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Sozialarbeit beschäftigt sich mit der „Person in der Situation“. Sie interveniert in komplexe Systeme und benötigt zur Situationseinschätzung spezifische Verfahren, die Interventionsentscheidungen vorbereiten und begründen können. Der Band beschäftigt sich mit den spezifischen Anforderungen an sozialarbeiterische Diagnostik und stellt Praktikerinnen und Praktikern zahlreiche Verfahren zur Verfügung, von Strukturierungshilfen für die Eigendiagnostik der KlientInnen über dialogische Verfahren bis zur Lebenslagendiagnose. Probleme und Möglichkeiten der Anwendung und Interpretation werden praxisnah beschrieben. 3. AUFL. 2012. 389 S., ZAHLR. TABELLEN UND GRAFIKEN. 148 X 210 MM. ISBN 978-3-205-78888-1

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JAHRBUCH MENSCHENRECHTE

HEINER BIELEFELDT, ULRIKE DAVY, VOLKMAR DEILE, STEFANIE DÖRNHÖFER, CHRISTOPH GUSY, BRIGITTE HAMM, FRANZ-JOSEF HUTTER, HANNES TRETTER (HG.)

MEINUNGSFREIHEIT/MEDIENFREIHEIT (JAHRBUCH MENSCHENRECHTE 2012/2013) 2013. CA. 300 S. BR. | ISBN 978-3-205-78914-7

Das aktuelle Jahrbuch befasst sich mit Formen, Gefährdungen und Chancen der Meinungsfreiheit, der Situation in ausgewählten Staaten sowie mit Struktur und Verantwortung von Medien.

HEINER BIELEFELDT, VOLKMAR DEILE, BRIGITTE HAMM, FRANZ-JOSEF HUTTER, SABINE KURTENBACH, HANNES TRETTER (HG.)

NOTHING TO HIDE – NOTHING TO FEAR? DATENSCHUTZ – TRANSPARENZ – SOLIDARITÄT (JAHRBUCH MENSCHENRECHTE 2011) 2011. 430 S. BR. | ISBN 978-3-205-78668-9

Unter dem Motto „Nothing to hide – nothing to fear?“ befassen sich die Autoren im Jahrbuch 2011 mit Ansätzen für ein neues Verständnis hinsichtlich Zweck und Bedeutung des Datenschutzes, akuten Gefährdungslagen und gezielten Gegenmaßnahmen. böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar